Literarisches Leben in Österreich 1848–1890
 9783205126232, 3205990285, 9783205990284

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böhlauWien

Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 1

Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Literarisches Leben •• in Osterreich 1848-1890

Herausgegeben von

Klaus Amann Hubert Lengauer Karl Wagner

Gedruckt mit der Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-99028-5

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Inhalt 11 Vorwort

Historische und literaturgeschichtliche Voraussetzungen 19 Hubert Lengauer Literatur und Revolution: 1848 42 Madeleine Rietra Osterreich und dessen Zukunft. Zur Österreich-Utopie des Freiherrn Viktor Franz von Andrian-Werburg (1813-1858) 60 Peter Sprengel Darwin oder Schopenhauer? Fortschrittspessimismus und Pessimismus-Kritik in der österreichischen Literatur (Anzengruber, Kürnberger, Sacher-Masoch, Hamerling) 94 Werner Michler Zwischen Minna Kautsky und Hermann Bahr. Literarische Intelligenz und österreichische Arbeiterbewegung vor Hainfeld (1889) 138 Karlheinz Rossbacher Von der liberalen Ära zur Jahrhundertwende. Literatur und Bourgeoisie in Wien

Literarischer Markt 171 Murray G.Hall „Fromme Wünsche": Zur Situation österreichischer Autoren und Buchhändler im 19. Jahrhundert 200 Sybille Gerhard „Vogelfrei" - Die österreichische Lösung der Urheberrechtsfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 250 Markus Knöfler Die Schmach dieser bauernfeldpreisgekrönten Zeit. Literaturpreise 319 Norbert Bachleitner Ubersetzungsfabrik C. A. Hartleben. Eine Inspektion

Zeitschriften und Feuilleton 343 Kai Kauffinann „Narren der modernen Kultur". Zur Entwicklung der Wochenplauderei im Wiener Feuilleton 1848-1890 359 Oliver Bruck Die Gartenlaube fiir Österreich. Vom Scheitern des Projekts einer österreichischen Zeitschrift nach Königgrätz 395 Hildegard Kernmayer Genre mineur oder Programm der literarischen Moderne? Zur Ästhetik des Wiener Feuilletons 414 Hermann Schlösser Der Einzug des Feuilletons in die kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung. Eine pressegeschichtliche Fallstudie

Gattungen und Genres 433 Günter Häntzschel Osterreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien. Zur Sozialgeschichte der Literatur im politischen Spannungsfeld zwischen Osterreich und Deutschland 455 Johann Holzner / Elisabeth Neumayr / Wolfgang Wiesmüller Der Historische Roman in Österreich 1848-1890 505 Johann Sonnleitner Abschreibungen der Märzrevolution. Zu einem Aspekt liberaler Autobiographik nach 1848 523 Juliane Vogel Das Wolterdrama. Dramaturgie zwischen Phidias und Michelangelo 546 Ralf Georg Bogner Dichter-Totenlob und Staatsräson. Leichenreden und Nekrologe auf österreichische Schriftsteller des Nachmärz (Lenau, Halm, Grün, Bauernfeld)

Fallstudien 561 Alexander Ritter Charles Sealsfields frühe Publizitätssuche bei den Verlegern Cotta (Stuttgart) und Murray (London). Biographische und buchgeschichtliche Umstände als Ursachen des Publizitätsverlustes nach 1848 601 Mira Miladinovic Zalaznik Das Revolutionsjähr 1848 in den Laibacher Blättern Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt und Kmetijske in rokodelske novice

624 Andrea Rudolph Ein norddeutscher Dramatiker in Wien. Friedrich Hebbels Neubewertung von Ferdinand Raimunds Edelsteinallegorie und Johann Nepomuk Nestroys Travestie der Hebbelschen Judith 657 Jiri Munzar Zur Hebbel-Rezeption in Böhmen 672 Monika Ritzer Weltlauf und Schicksal. Spätrealismus im Drama Ferdinand von Saars 690 Regina Fasold Ferdinand von Saars Novelle Leutnant Burda im Kreuzungspunkt des Diskurses über Traum, Wahn, Sexualität und Dichtung 1885/1887 in Wien 705 Norbert Gabriel Autorrolle. Schreibbedingungen und Selbstverständnis von Schriftstellerinnen in der österreichischen Literatur am Beispiel Marie von Ebner-Eschenbachs 730 Jürgen Thaler „Für Felder war Lob in Leipzig Tadel in Wien". Zur Rezeption und Funktionalisierung des literarischen Werkes von Franz Michael Felder 755 Herlinde Aichner „Neue Bauern aus dem alten Rezept". Der „jüdische Bauer" als innerjüdische Diskussionsfigur zwischen Emanzipation und Zionismus 786 Primus-Heinz Kucher Aufbruch aus dem Ghetto? Zu Leopold Komperts Roman Am Pflug (1855)

805 Roland Innerhofer „Julius" Verne in Österreich. Produktion und Rezeption eines Erfolgsautors 828 Milan Tvrdik Mitte des 19. Jahrhunderts Das Ende der friedlichen Koexistenz der tschechischen und deutschen Kultur in Böhmen

Panorama 843 Christiane Zintzen Das Kronprinzenwerk Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Ein deliberater Rund- und Umgang mit einem enzyklopädischen Textkosmos 859 Gerhard Renner Die Deutsch-österreichische Literaturgeschichte

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Autorinnen und Autoren

Vorwort

And there was another reason for mistrust. If a memory wasn't a thing but a memory of a memory of a memory, mirrors set in parallel, then what the brain told you now about what it claimed had happened then would be coloured by what had happened in between. It was like a country remembering its history: the past was never just the past, it was what made the present able to live with itself. (Julian Barnes) Die hier vorgestellte Epoche hat in der Literaturgeschichte eine wechselvolle Beurteilung erfahren: pejorativ gekennzeichnet durch Hermann Broch als Epoche des Unernsts, des Werteverlusts, als Operettenära. Aus der detaillierten Analyse und Umwertung der Operette hat Moritz Csäky essayistisch diese Gattung als Ideologieträger einer ,österreichischen Identität' entwickelt. Es ist die Frage, ob eine solche Identitätssuche und -findung nicht das kompensierend auf der kulturhistorischen Ebene nachholt, was nach dem Ende der großdeutschen Hoffnungen (Königgrätz 1866) die langwierige Identitäts- und Legitimationskrise der Habsburgermonarchie erst auslöste: den Nationalismus. Das italienische Risorgimento, ein ungarischer Nationalismus, der sich auf die Revolution von 1848 berief, die Gründung eines deutschen Reiches, das die „katilinarischen Existenzen" (Bismarck) aus Vormärz und Revolution mundtot machte und Blut und Eisen verschrieb, erzeugten jenen Druck von außen, der die ,inneren', ,cisleithanischen' Verhältnisse dauernd instabil machte, politische Lösungen aussichtslos werden ließ, sodaß die bürokratische Verwaltung der einzig gangbare Weg schien. Jedenfalls zog er sich. Die Karriere des „folgenreichen Konzepts" Nation (Benedict Anderson im Untertitel der deutschen Ubersetzung seiner Imagined Communities) setzt sich in der Literaturgeschichtsschreibung, so scheint es, fort und hat nichts von ihrem Faszinosum eingebüßt. Die Frage nach einer österreichischen' Literatur geht tendenziell in Richtung einer,nationalen Identität', nationalen Literaturgeschichte, einer solchen nationalen „imagined community" (Anderson), also nicht in Richtung dessen, was die Habsburgermonarchie nach dem Willen und Verstand eines ihrer vehementesten Verteidiger, gewiß in schwerer Zeit, war:

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Vorwort

„Ihr habt ja keine Ahnung da draußen in Eurem geschichtslosen, ganz monotonen Dasein, was in diesem Osterreich jetzt vorgeht", schreibt Hofmannsthal an Eberhard von Bodenhausen während des Ersten Weltkriegs (10. Juli 1917), dies ist jetzt die Agonie, die eigentliche Agonie des tausendjährigen heiligen römischen Reiches deutscher Nation, und wenn aus diesem Kataklysma nichts hervorgeht und in die Zukunft hinübergeht in das neue Reich, vermehrt um ein paar Millionen Deutsch-Österreicher, nichts als ein glatter, platter Nationalstaat - was das alte Reich nie war, es war unendlich mehr, es war ein heiliges Reich, die einzige Institution, die auf Höheres als auf Macht u. Bestand und Selbstbehauptung gestellt war - dann ist, für mein Gefühl, der Heiligenschein dahin, der noch immer, freilich so erblichen und geschwächt, über dem deutschen Wesen in der Welt geleuchtet hat.

Einer literaturhistorischen Revision der Epoche sollte es aber nicht angelegen sein, den Heiligenschein zu wechseln, und aus ihr das zu machen, was ,wir' in der Einbildung gerne wären oder gewesen wären, ein „polyethnisches und multikulturelles Gebilde" (Peter Sprengel). Falls wir das ererbt hätten von unsern Vätern, wir müßten es erwerben, um es auch zu besitzen. Das in der historischen Einbildung geschönte Gebilde war kein Bild von einem Staat, geschweige denn eine Nation. Und der Literatur dieser Zeit, in diesem Gebilde, schien es, hatte es die Sprache verschlagen durch die (wie Hofmannsthal es sieht) „Grimasse von 1848, das Unheil von 1859, das dumpfe Unheil von 1866". Der Staat hat gegen die Grimasse der Revolution und die militärischen oder politischen Niederlagen in der Auseinandersetzung mit den sich neu formierenden Nationalstaaten eine Staatsideologie, manche nennen es eine Mythisierung gesetzt, die auf Kaiser, Militär und Bürokratie gegründet war. Die Revolution von 1848, der doch die nachfolgende bürgerliche Gesellschaft viele ihrer (dann im Staatsgrundgesetz festgeschriebenen) Prinzipien verdankt, verschwindet in der vaterländischen Erinnerung, sie wird „abgeschrieben", wie es die doppelsinnige Formel Johann Sonnleitners andeutet: was sich politisch erledigt hatte durch die Stabilisierung einer verfassungsstaatlichen Praxis, konnte literarisch den Memoiren anheimgegeben werden, welche die Versöhnung und Integration der ehedem Aufrührerischen besiegelten. In einer Betrachtung des literarischen Lebens ist aber die einschneidende Bedeutung dieser Revolution wiederherzustellen, weil die Ermöglichung eines solchen literarischen Lebens

Vorwort

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eines ihrer ersten Ziele war und die Schriftsteller, selbst die honorigsten unter ihnen, zur Mitwirkung an der Revolution motiviert hatte. Das andere Erbteil der Revolution, oder: ein anderer Aspekt desselben Erbes, mit anderem Verständnis der ,Volkssouveränität', einem Akzent auf dem ,Völkischen', dem jeweils Nationalen der Teile der Monarchie, bescherte ihr jene langwierige Identitäts- und Legitimationskrise, die partiell (und zusammen mit der ökonomischen Krise von 1875) lähmend wirkte, anderseits die Bedingungen für den Einsatz der Moderne in den Neunzigerjahren darstellte. Momente der Kontinuität wie der Abstoßung, der ,Sezession' aus den stabilisierenden Traditionen, sind hier gleichermaßen zu beobachten. Der kreative Entwicklungsschub der Wiener Jahrhundertwende verdankt sich so in vielem der hier beschriebenen Ära, auch und gerade wenn die nachfolgende ihre Bestimmungen aus der Ablehnung der eben abgelaufenen Phase bezieht. Wenn sie Rückversicherung oder Selbstvergewisserung in der Tradition sucht, dann überspringt die Wiener Moderne nicht selten die Zeit der Vätergeneration; so Hofmannsthal in seinem Grillparzer- und Stifter-Verständnis, die Wiener Werkstätten in einem den Historismus überspringenden Rückgriff auf das Design des Biedermeier. Die Versuche, den Begriff der Moderne in einzelnen Genres (Operette, Feuilleton) zurück zu dehnen und den Beginn dieser Moderne partiell vorzuverlegen, deuten auf Vielfalt und Relevanz dieser Epoche des Ubergangs. Anderseits ist die soziale Fundierung dieser Moderne in einer Bourgeoisie evident, die ihre ideellen und ökonomischen Wurzeln tief in der liberalen Ära und damit, in gewisser Weise, in der Revolution von 1848 hatte. Die integrative Leistung im Sinne einer „Erfindung der Tradition" (Eric Hobsbawm) war so allerdings erst jenseits der Epoche selbst möglich, in ihr selbst sind die divergierenden Momente, Ängste, Phobien, Konflikte, beherrschend oder lebendig, auch in der Literatur, sodaß der Begriff des ,Literarischen Lebens' treffend die Unordnung der Zeit zusammenfassen mag. Auf dem Feld der Literaturgeschichte wurde eine integrative Erfassung der Epoche erstmals versucht in der Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte von Nagl, Zeidler und Castle; sie ist inzwischen ein Monument der Literaturgeschichtsschreibung geworden, unerreicht in ihrer Material- und Detailfülle. In ihrer zersplitternd-parteilichen Anlage der späteren, in der Ersten Republik verfaßten Teile zeigt sie aber deutlich die Resignation vor der ursprünglich erstrebten Synthese. Sie kann also von den hier gesammelten Beiträgen nicht überholt werden, sie wird selbst Objekt einer wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion.

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Vorwort

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis von Projektstudien zum trilateralen Schwerpunkt des Osterreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und den Referaten internationaler Experten, die für spezielle Themen eingeladen wurden. Der Titel beharrt auf der Unschärfe, gleichzeitig aber alltagssprachlichen Verständlichkeit gegenüber den in der wissenschaftlichen Diskussion auch verwendeten Schematisierungen (Gattungsgeschichte, geistes- und formgeschichtliche Kategorien wie Realismus' etc.). Das schließt solche Kategorien nicht aus, faßt sie jedoch als Teilmomente des umfassenden Vorgangs, und dies läßt der Sammelband auch in seiner Disposition erkennen. Auch Autoren sind - als einzelne nicht primärer Gegenstand der Betrachtung, wiewohl das ,Literarische Leben' nur in einzelnen (Schreibern, Verlegern, Buchhändlern, Lesern etc.) und durch sie ,lebt'. Die Schriftsteller erscheinen so als „Ausübende einer institutionellen Tätigkeit betrachtet, die sie als Individuen überschreitet" (Roland Barthes), sie sind Beispiele für das ,literarische Leben', zu dem sie in je unterschiedlicher Intensität und Repräsentativität Beiträge liefern. Die vor allem in der österreichischen Germanistik traditionelle Spekulation über das ,Für und Wider' eines Begriffs der österreichischen Literatur' wird nicht weiter getrieben, die Ansätze möglicher Synthetisierungen liegen in dem Material, das in großer Breite präsentiert wird; der Rahmen ergibt sich durch den Geltungsbereich der beschriebenen und diskutierten Institutionen in der Habsburgermonarchie. Die Begrenzungen durch die historischen Einschnitte von 1848 und 1890 (Jahrhundertwende) werden in ihren problematischen Aspekten diskutiert (H. Lengauer, K. Rossbacher) und, obwohl Impulse aus dem Vormärz herüberreichen (M. Rietra) und solche in die Glanz-Epoche des Fin-de Siècle entlassen werden, in ihrer traditionellen Geltung bestätigt. Bürgertum und später dann auch die Arbeiterschaft sind die dominanten gesellschaftlichen Kräfte und eignen sich die Wirklichkeit mit den Instrumenten philosophischer, naturwissenschaftlicher oder politischer Theorie an. Literatur übernimmt dabei eine wichtige Vermittlungsfunktion (P. Sprengel, W. Michler). Unter den Bedingungen des literarischen Marktes, der in Osterreich aus historischen Gründen anders gestaltet ist als in Deutschland bzw. im Deutschen Reich und hier erstmals in dieser Spezifik an Beispielen beschrieben wird (M. G. Hall, S. Gerhard, M. Rnöfler, N. Bachleitner), entfaltet sich eine Literatur, die zu großen Teilen nicht kanonisch geworden ist, aber eine breite gesellschaftliche Wirkung erzeugt hat. Für Wien ist das literarische Feuilleton eine Leitgattung geworden und, mit bodenständigen Ursprüngen

Vorwort

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und externen Einflüssen, in dieser Art in der deutschsprachigen Literatur einmalig (K. Kauffmann, H. Kernmayer, H. Schlösser). Den Versuchen der Imitation erfolgreicher Modelle des Unterhaltungsschrifttums (Die Gartenlaube, O. Bruck) steht die Fortführung traditioneller einheimischer Genres (Historischer Roman, Wolterdrama, Nekrolog in den Arbeiten von J. Holzner et al., J. Vogel, R. G. Bogner) gegenüber, in der Autobiographie und in der Lyrik hallen die politischen Ereignisse nach oder es werden nationale Sehnsüchte wachgerufen (J. Sonnleitner, G. Häntzschel). Der Bereich der Fallstudien sucht der Vielfalt des Uterarischen Lebens durch repräsentative oder lokalspezifische Beispiele gerecht zu werden und geht dabei über die Grenzen der Wiener literarischen Szene und überhaupt der deutschsprachigen Literatur hinaus (vgl. etwa M. Miladinovic, M. Tvrdik, J. Munzar). Der österreichische ,Realismus' tritt nach der Gründerzeit und unter anderen staatlich-politischen und gesellschaftlichen Bedingungen hervor als der in Deutschland (Raabe, Fontane) und in der Schweiz (Keller). Seine Programmatik ist eine schmale (Anzengruber, Rosegger, Ebner-Eschenbach), wenig begrifflich explizit formuliert und dient eher als nachträgliche Rechtfertigung der Praxis. Die Arbeiten zu Saar (R. Fasold, M. Ritzer) zeigen die Besonderheit des späten österreichischen Realismus, während an Autoren wie Kompert die Entstehung realistischer Schreibweisen aus der gesellschaftlichen Randstellung und den daraus entstehenden Sehnsüchten und Ansprüchen gezeigt werden kann (H. Aichner, P.-H. Kucher). Am Ende steht das Panorama, oder zumindest der Versuch des Staates, sich seiner Tradition zu vergewissern: zum einen im dynastisch-repräsentativen ,Kronprinzenwerk', dessen Publikationsschicksal kennzeichnend ist (C. Zintzen); zum andern in der Literaturgeschichte, die - zu einem großen Teil von Beamten des Staates und in loyaler Absicht geschrieben - in der späteren parteilichen Aufsplitterung der Darstellung deutlich genug die Ursachen des Zerfalls der Monarchie zur Geltung bringt. In dieser wissenschaftsgeschichtlichen Rückwendung der Literaturgeschichtsschreibung auf sich selbst wird abschließend noch einmal die unabschließbare Problematik der Rekonstruktion, Konstruktion oder Erfindung von Tradition anschaulich gemacht. Klagenfurt und Wien im Herbst 1999 Die Herausgeber

Hubert Lengauer

Literatur und Revolution: 1848

VORAUSGESETZT

Die Revolution von 1848 ist als literarhistorischer Terminus, das heißt als Epochenbegrenzung, nach wie vor begriindungspflichtig.1 Dieser Begründungspflicht versucht die folgende Darstellung nachzukommen, indem das Datum der Revolution von zwei Seiten her betrachtet wird, vom Vormärz und vom Nachmärz. Es wird also der Terminus nicht ,in sich', nur durch die Literatur des Revolutionsjahrs begründet, was unzureichend erscheint, sondern durch Antizipation und Folge. Dadurch erhalten die kommenden Ausfuhrungen, wie Luhmann sagen würde, strukturell ein „Verhältnis zur Sphäre organischen Zusammenlebens", nämlich in der Abfolge ,Vorspiel - Aktion Nachspiel/Katzenjammer', ohne daß dabei intendiert ist, die dem Vergleich zugrundeliegenden psycho-somatischen Techniken mit zu diskreditieren.2 Es handelt sich, leicht zu erraten, um Vorgänge der Interpénétration von Systemen, konkret: um die Austauschbeziehungen von Literatur und Politik.

DIE

ERWARTUNG

Am Ende seines Gedichts Warschau (1851) ruft Franz Grillparzer der Freiheit nach, die - nach der Kapitulation Warschaus (9. September 1831) wieder in die kalte Gruft steigt: 1 Obwohl Fritz Martini mit den ersten Sätzen und dem ersten Zitat in: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart: Metzler 4 1981, S. 1, gestützt auf Theodor Ziegler, 1899, und die Arbeiten von Georg Lukacs keinen Zweifel an der Begründetheit seiner Epochentrermung läßt und lediglich eine bisher unzureichende Herausarbeitung dieser Schwelle bemängelt. 2 Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: N. L . : Soziologische Aufldärung 2. Opladen 1975, S. 170-192, Zit. S. 181.

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Doch hüte dich, zu fest, zu lang zu schlafen, Hat ja kein Winter ewig noch gethront, Und wenn im Mai erst laue Strahlen trafen, Kömmt Juli auch, der holde Erntemond.5 Die Prophezeiung einer erneuten Julirevolution sollte sich in gewisser Weise erfüllen, wenn es schließlich auch der März wurde, mit dem Grillparzer dann allerdings nicht mehr einverstanden war. Die Stimmung vom Sommer 1830, sich „für eine interessante Sache totschießen zu lassen" 4 , wollte bei Grillparzer 1848 nicht mehr aufkommen; nur dem Leipziger Schillervereinsgründer Robert Blum, dem literarisch inspirierten Stadtkommandanten von Wien, Cäsar Wenzel Messenhauser und den Journalisten Hermann Jellinek und Alfred Julius Becher wurde der heroische Abgang von der politischen Bühne zuteil. Die Revolution von 1848 ist, das sollte dieser Einstieg andeuten, eine zumindest seit 1850 realistische und von der Literatur so erwartete Möglichkeit der geschichtlichen Veränderung. Die für den weiteren politischen Fortgang eher belanglosen Ereignisse (man lese Ludwig Börnes Häme über die Auswirkungen der Julirevolution für Deutschland schon im November 18315) wirken als momentane Herausforderung der Literatur, sodaß selbst Grillparzer überlegt, seinen Status zu verändern, auszuwandern und den ihm gebührenden Platz unter den Dichtern der Deutschen einzunehmen.6 In dieser angespannten Erwartung ist der Epochenbegriff,Vormärz' termi3 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. 4 Bde. Hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher. München: Hanser 1969 (2. Aufl.), Bd. 1, S. 200-204, Zit. S. 204. 4 Grillparzer (Anm. 3), Bd. 4, S. 462. 5 Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Sechsundfünfzigster Brief, vom 10. 11. 1831. In: L . B.: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Inge und Peter Rippmann, 3. Bd., S. 337: „Die Verkleinerung des Tuileriengartens, das wäre also die einzige Folge der Französischen Revolution, die sich mathematisch bezeichnen läßt. Die Folgen, welche die Julirevolution für Deutschland gehabt, sind viel deutlicher. 1. die Cholera. 2. In Braunschweig hatten sie sonst einen Fürsten, der es wenigstens nicht mit dem Adel hielt; jetzt haben sie einen, der sich vom Adel gängeln läßt. 3. Die Sachsen haben statt einen Fürsten jetzt zwei. 4. Die Hessen haben statt der alten fürstlichen Mätresse eine junge bekommen. 5. In Baden konnte man früher eine Zeitung schreiben ohne Kaution, jetzt muß man eine leisten. 6. Wer in Bayern den König beleidigte, mußte früher vor dessen Olbilde Abbitte tun; jetzt kommt der Beleidiger auf fünf Jahre in das Zuchthaus. Da weiß man doch wenigstens, woran man ist." 6 Grillparzer (Anm. 3), Bd. 4, S. 462.

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nologisch begründet, und für die ,Epoche danach' ergibt sich aus dem definitiven Ende dieser Erwartungen logisch die Notwendigkeit eines Neuansatzes. Gleichzeitige Revolutionsskepsis, für die sich Grillparzer-Zitate in großer Zahl finden lassen, ändert nichts an diesem Befund: auch in der Ablehnung ist die Epoche auf den Leitbegriff fixiert, der, wie Reinhart Koselleck anhand einer breiten Materiallage für die Zeit nach 1789 und vor 1848 nachweist, „den grundsätzlich notwendigen Zwang zum Wandel oder zur Anpassung ausübte. [...] Revolution blieb entweder die erhoffte oder die gefürchtete und zu vermeidende Herausforderung. Der Zwang zum Wandel gewann - entgegen aller vorrevolutionären Zeit - eine erhöhte Beweiskraft und wurde durch die temporal auseinandergezogenen Gegenbegriffe zum semantischen Grundmuster von Erfahrung und Erwartung." 7 Durch ,Reaktion' wird - als Gegenbegriff - „von der semantischen Struktur her [...] eine dauerhafte Zwangs alternative formuliert, die der Revolution indirekt ein größeres Legitimationspotential zumißt. Im Unterschied zu Evolution und Reform bleibt der Reaktion eine entwicklungswidrige, antiprogressive, antidemokratische und antisoziale Macht zugewiesen, die auf der temporalen Wertskala nur dem Untergang geweiht sein kann." (760) Die hier vorgenommene Anwendung des Revolutionsbegriffs der Epoche auf die Literatur enthält allerdings Vorentscheidungen und Beschränkungen, die kurz erörtert sein sollten. Peter Stein hat in einem noch unpublizierten Vortrag die Jaußsche Phrase einer , Julirevolution der Literatur' für 1830 diskutiert und schließlich verworfen. Dem politischen Vorgang entspricht keiner in der Literatur, jedenfalls nicht in unmittelbar kausalem Verhältnis. Dies auch gegen die bekannten Äußerungen etwa Georg Herweghs, die neuere Literatur sei ein Kind der Juliusrevolution. Die aus späteren und unterschiedlichen Quellen rekonstruierte Epochenzäsur ist fragwürdig, was die Techniken und Formen des Schreibens betrifft, das proklamierte ,Ende der Kunstperiode' hat mit der Julirevolution wenig zu tun: , Julirevolution der Literatur' „paßt nicht auf das operative Konzept Börnes, weil Börne zufolge nicht die Literatur, sondern die politische Wirklichkeit revolutioniert werden muß. Sie paßt aber auch nicht auf das Konzept Heines, weil es nicht der politische Prozeß 7 Reinhart Koselleck: Revolution. Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett 1972-1992, Bd. 5 (1984), S. 655-788, Zit. S. 759. Seitenzahlen zu den Zitaten künftig in Klammem.

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ist, der die Literatur steuert." 8 Die Julirevolution bleibt jedoch als ,Chiffre' f ü r die Literatur über die unmittelbare politische Bedeutung hinaus erhalten, als ein Signalwort, das in undeutlicher u n d unterschiedlich interpretierbarer Weise den Anteil der Literatur an der historischen Veränderung versprach. Anlaß (die Juli-Ordonnanzen Karls X. mit Aufhebung der Pressefreiheit und Einrichtung der Zensur) und eine zu 1789 vergleichsweise zivile Durchführung machten sie als praktikables Modell revolutionärer Veränderung breit annehmbar. „Das Ereignis der Julirevolution erhielt also seine Eindrücklichkeit daraus, daß es als historischer Prozeß erfahren wurde. D e m entspricht der historiographische Befund, daß die symbolische Bedeutung der Revolution von 1830 größer war als ihre realhistorischen Folgen." Sie wird zur „Chiffre für einen künftigen Befreiungskampf 1 '. 9 Die „symbolische Bedeutung" für die Literatur besteht darin, daß Literatur einen Status als Institution der Ausübung von Freiheit festigt, als Vorgriff, Vorschule der allgemeinen Freiheit, daß sie, wie Lothar Baier zu einer anderen Epoche, aber in ähnlichem Zusammenhang schreibt, „vor allem deshalb ein ungetrübtes Freiheitsversprechen [enthielt], weil sie reales Symbol bedrohter Freiheit war." 1 0 So wird sie zum literarisch-politischen Movens der Lenau, Meißner, Hartmann und so weiter. Die Fragestellung der Revolution in der Literatur ist auch auf das Thema Literatur und Revolution 1848 anzuwenden, wenn dort eine Epochenzäsur genauer begründet werden soll. Bedeutet die Revolution von 1848 eine Revolution in der Literatur? Wenn ja, welche; wenn nein: ist dann die Periodisierung überhaupt haltbar und sinnvoll? Ist sie, wie für 1830, realhistorisch und literarhistorisch wenig relevant, sondern ebenso bloß symbolisch'? Ein Wandel im Literatursystem, so ist neueren Vorschlägen zu einer „integrativen Literaturgeschichte" zu entnehmen, wäre genauer so zu beschreiben: „Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt t(i) hat eine M e n g e von Subjekten Texte produziert, aus denen sich ein System(zustand) A abstrahieren läßt, das [sie!] bis zu einem bestimmten Zeitpunkt t(j) (t(i) = t(j) oder t(i) * t(j)) dominant ist; ab einem bestimmten Zeitpunkt t(k) (wobei 8 Peter Stein:, Julirevolution der deutschen Literatur'? Politisches Ereignis und literarischer Prozeß - literarisches Werk und politischer Prozeß. Vortrag im Rahmen des DFG-Projekts ,Vormärzliteratur in europäischer Perspektive'. Augsburg 1994, S. 9. 9 Ebd., S. 4. 10 Lothar Baier: Was wird Literatur. Wespennest-Essay. Wien 1993, S. 12.

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t(k) = t(i), oder t(k) * t(i) oder t(j)) hat eine Menge von Subjekten Texte produziert, aus denen sich ein System(zustand) B abstrahieren läßt, das ab einem bestimmten Zeitpunkt t(l) (t(l) = t(k) oder t(l) * t(k)) dominant ist."11 Auf dieser Ebene ist das Problem, bei allem Respekt vor den Anwendungsversuchen der Systemtheorie, wohl kaum lösbar, weder für die Revolution von 1830, wie schon durch Stein demonstriert, noch für die von 1848. Vielmehr scheint die Systemtheorie der Vorstellung eines revolutionären Wandels überhaupt abhold. In den Arbeiten von Jörg Schönert12 und Georg Jäger spielen die Epochengrenzen von 1850 und 1848 denn auch keine Rolle. Schönert setzt unter dem Aspekt der Modernisierung „Schübe" der literarischen Entwicklung (ohne nähere Begründung) um 1800, 1880 und 1910 an, bei Georg Jäger ist das avantgardistische Literatursystem die Grenze und der Umschlagpunkt, bis zu dem ein bis dahin im wesentlichen identisches „bürgerliches Sozialsystem Literatur" reicht. Dieses bürgerliche Sozialsystem Literatur „rekonstruiert die Differenz von Kunst und Politik in der Autonomieästhetik, die wohl deshalb so erfolgreich ist, weil sie die Differenz zum politischen Handeln im weitesten Sinne, nämlich zu allem unmittelbar gesellschaftsbezogenen Handeln, zur Grundlage der eigenen Identität macht. Kunst erscheint insofern als Reich der Freiheit, als sie von politischen Wahlzwängen, von praxisrelevanten Entscheidungen entbindet." 15 Wenn das nicht ganz anders gemeint ist, als es gesagt wird, muß man - aus systematischen, systemtheoretischen Gründen - einen guten Teil der Vormärzliteratur, Heine und Börne inklusive, und der Literatur des Jahres 1848, aus dem „bürgerlichen Sozialsystem Literatur", das sich insoweit über die „Handhabung der Differenz" reproduziert, „als es seine Leistun-

11 Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. v. Michael Titzmann. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 395-438, Zit. S. 431. 12 Jörg Schönert: Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen. In: Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozeß der Modernisierung. Mitteilungs-Bulletin Nr. 2. Berlin, September 1992, S. 30-53. 13 Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und des avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. v. Michael Titzmann. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 221-244, Zit. S. 231-32.

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gen [...] auf der Grundlage der Funktionslosigkeit des Schönen erbringt" 14 , ausschließen und woanders einordnen. Auch über die „Leistungen des Schönen", das „sozial [...] die Bildung eines autonomen Subjekts und darüber hinaus oft einer freien Gesellschaft, kognitiv eine wie immer geartete begrifflose Erkenntnis, eine letzte Sinnvergewisserung, ermöglichen" soll15, kann aus dieser generalisierten Rede wenig Auskunft über die Spezifik der hier betrachteten, sehr bewegten Zeiten gewonnen werden. Es regt sich der Verdacht, daß hier, unter der Camouflage eines neuen Vokabulars, die alten Prioritäten einer,literaturimmanenten' Literaturgeschichtsschreibung reproduziert werden und die sogenannte ,Umwelt' des Systems systematisch ausgegrenzt wird. Jörg Schönerts (und anderer) Unterscheidung des ,Sozialsystems Literatur' vom ,Symbolsystem Literatur' bietet hier größere Offenheit und zusätzliche Möglichkeiten begründeter Periodisierung. Als „Handlungssystem" umfaßt die Literatur „die Handlungen der Sinnverständigung mit Hilfe von Literatur und die literaturbezogenen Handlungen" 16 , das „Symbolsystem" Formen, Stile, Gattungen. Während Veränderungen im System der Gattungen und Genres (als Prozesse im Symbolsystem) nicht sehr klar mit den politischen Ereignissen, den Revolutionen von 1830 und 1848 synchronisierbar sind, sind es solche des Sozialsystems Literatur sehr wohl. Fragen der Ausweitung der Leserschaft, der öffentlichen Geltung von Literatur, der Publikationsmedien, Zensur etc. sind auf dieser Ebene zu verhandeln und auf ihre Brauchbarkeit zur literarhistorischen Gliederung zu überprüfen. Auf eine weitere Differenzierung des Sozialsystems Literatur in Handlungsebenen (literarische Handlungen, meta-literarische Handlungen, meta-metaliterarische Handlungen, die ihrerseits wieder zu gliedern sind in Aktionen, Interaktionen und Kommunikationen), wie das Achim Barsch vorschlägt17, soll hier verzichtet werden, weil für den Vorgang der Interpénétration mit dem System der Politik - falls ein solcher stattgefunden hat - dieselbe Subtilität auch dem anderen Bereich zuteil werden müßte. Auch nach dem Eingeständnis der Systemtheoretiker fehlt ihnen nach wie vor ein „Konzept in14 15 16 17

Jäger (Anm. 15), S. 232. Jäger (Anm. 13), S. 227-228. Schönert (Anm. 12), S. 40. Achim Barsch: Handlungsebenen, Differenzierung und Einheit des Literatursystems. In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. Opladen 1993, S. 144-169.

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tersystemischer Relationen", weil die Theorie nach Luhmann vor allem auf Prozesse der Systembildung und -abgrenzung (also System-Umwelt-Beziehungen) fokussiere, und nicht auf System-System-Beziehungen. 18 Es sei also im folgenden vereinfachend wieder zur verständlichen Undeutlichkeit der Alltagssprache und gleichzeitig zum Beispiel Grillparzer zurückgekehrt. Die revolutionsgewisse Apotheose der Freiheit aus Anlaß ihres Abstiegs in die Gruft in der zitierten letzten Strophe ist bei Grillparzer, wie könnte es anders sein, ausgewogen durch eine starke Skepsis in den vorderen Strophen. Der aus literarisch-bildungsmäßigen Illusionen („Man hatte schulweis den Homer gelesen") entspringende politische Wahn anläßlich des griechischen Freiheitskampfes wird entschieden in die Schranken gewiesen und der Interessenspolitik der Großmächte entgegengesetzt. Die mangelnde Unterstützung Frankreichs wird gerügt, der Julirevolution wird die universelle Geltung abgesprochen: O Frankreich, Frankreich! konntest du verkennen Den Platz, auf den ein Gott dich hingestellt? Bist stolz, der Freiheit Bräutgam dich zu nennen, Und zeugst mit ihr nicht Kinder für die Welt? [•••] Auf Polens Flur erschlägt man Frankreichs Kinder, In Warschaus Angeln klirrt die Pforte von Paris.19

Als politische Rüge der Großmächte durch fünfhebige Jamben ist der Text freilich auch eine Donquichotterie, und Grillparzer mag sich dieser Tatsache bewußt gewesen sein; sie hat ihn nicht davon abgehalten, bis an sein Lebensende politische Gedichte und Glossen zu verfassen, allerdings nur zum eigenen Gebrauch, für die Schublade. Schaffenskrise und Kränkung in seiner Beamtenkarriere veranlassen ihn aber 1836 zu einer Reise nach Paris und London. In Paris sucht er - unter gewissen Risken der polizeilichen Beobachtung, der Bundestagsbeschluß gegen die Jungdeutschen ist noch kein halbes Jahr alt - alsbald die literari18 Claus-Michael Ort: Sozialsystem ,Literatur' - ,Symbolsystem Literatur'. In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie (Anm. 17), S. 269-294, bes. S. 278 f. 19 Grillparzer (Anm. 5), S. 201.

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sehen Revolutionshüter auf. Der Besuch bei Börne war (wie der spätere bei Heine) ein demonstrativer politischer Akt, wenn auch Grillparzer den Gesprächen - aus eigener politischer Resignation - wenig abgewinnen konnte. „Das Gespräch wendete sich um staatsrechtliche Fragen, Politik, Literatur. Wunderte mich, wie dieser eigentlich gescheite Mensch sich noch immer in dem Kreise von Bestrebungen herumtreiben mag, die mit der letzten Spur der Möglichkeit gewissermaßen ihren Gegenstand verloren haben." 20 Nach der Revolution von 1848, in der Autobiographie, schien es dem Dichter nötig, sich stärker davon zu distanzieren und mögliche eigene Kompromittierungen, damals (1836) wie 1848 abzuweisen: Das Schlimmste für unsere Zusammenkünfte war, daß man bei Börne immer deutsche Flüchtlinge antraf, die ihren Unsinn im Tone von anno Achtundvierzig anbrachten. So geschah es mir einmal, daß als ich einmal meiner Unzufriedenheit über die damaligen östreichischen Zustände in Gegenwart eines solchen Exilierten Luft machte, des nächsten Tages unser ganzes Gespräch mit Nennung meines Namens in einer Pariser Zeitung erschien. Ich weiß nicht ob die österreichische Gesandtschaft von dem Blatte Notiz genommen hat.21

Bedeutsamer - sowohl für den reisenden Dichter selbst wie für unseren Zusammenhang - als der Kontakt mit den Schriftstellern (in London wird Bulwer-Lytton aus einer Parlamentssitzimg herausgeholt) sind für Grillparzer die Exkursionen zu Einrichtungen des Rechtswesens und der Politik in Paris wie in London. Die gewonnenen Erfahrungen mochten ihm Stoff für die Debatten im Juridisch-politischen Leseverein gegeben haben, für die interpenetrierende Dreierkombination der Gebiete Jus, Politik und Literatur, Ein der er bezeugtermaßen beteiligt war. Ein Rückblick Grillparzers auf die Revolution, geschrieben im Jahre 1850, entledigt sich allerdings dieser Teilnahme durch ironische Distanz zu dieser „Pulvermühle für eine künftige Explosion". 22 Unter den ,Autoren' der Revolution werden „der juridisch-politische Leseverein und sämtliche 20 Grillparzer (Anm. 3), Bd. 4, S. 535. 21 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. 43 Bde. Hrsg. v. August Sauer u. Reinhold Backmann. Wien 1909-1948.1. Abteilung, 16. Bd., S. 219; ein Zeitungsbericht ist laut Kommentar nicht nachgewiesen. 22 Grillparzer (Anm. 3), Bd. 4, S. 215.

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schlechte Schriftsteller, die das aktive Kontingent stellten"23, genannt, und in der Folge wird über den Anteil und die Verantwortung der Literatur am Geschehen moralisch abgerechnet. Die Revolution erscheint also, da soziale und ökonomische Motive nicht in Betracht gezogen werden, als ,literarisches' Ereignis, oder zumindest als Uterarisch angezetteltes, und dann ,moralisches', vielmehr unmoralisches Ereignis. Der Zeitpunkt der Freiheit scheint Grillparzer ungünstig, weil der geistige Zustand im argen liegt: In Deutschland, das immer von Fortschritten träumte, hatte die ganze Bildung einen solchen Charakter von Unfähigkeit, Unnatur, Übertreibung und zugleich von Eigendünkel angenommen, daß an etwas Vernünftiges und Maßhaltendes gar nicht zu denken war und doch war hundert auf eins zu wetten, daß die Literatur wenigstens anfangs an der Spitze der Bestrebungen stehen werde, ich sage: Anfangs, weil gerade durch das Unausführbare ihrer Theorien der im zweiten Gliede stehenden Schlechtigkeit Tür und Tor geöffnet werden mußte. 24

Diese „Schlechtigkeit" konnte zudem, das ist das österreichische Spezifikum, mit nachträglichem Landesverweis und Abschiebung belegt werden: als ,deutsche' literarische Absurditäten, welche die (von Grillparzer jetzt gutgeheißene) vormärzliche Zensur des Metternichstaates nicht abdämmen hatte können.

DIE

AKTION

Die unmittelbare Auswirkimg der Märzereignisse auf die Literatur bestand, wie bekannt, in einer schlagarügen Veränderung der Rahmenbedingungen und, damit verbunden, in einer explosionsartigen Vergrößerung und zugleich Veränderung des literarischen Marktes. Die Daten dazu sind bekannt und sollen hier nicht wiederholt werden.25 Auch sollen nicht literarische Gattungen oder Einzelwerke diskutiert werden, die das Geschehen kommentieren. Es werden vielmehr beispielhaft ei23 Ebd., S. 216. 24 Ebd., S. 220. 25 Vgl. u. a. auch: Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Wien: Bühlau 1989, S. 187 f.

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nige Daten und Äußerungen auf einer allgemeineren Ebene über Funktion und Leistung der Literatur bzw. der Schriftsteller diskutiert. Ferdinand Kürnberger etwa, dem die Revolution auch die Herstellung seiner akademischen Würde als Student ermöglichte 26 , gab schon in den Anfangstagen der Revolution ein Votum für die Aufstellung eines Schriftsteller-Corps ab und feiert das Zustandekommen einer solchen Korporation innerhalb der akademischen Legion als „nach innern Naturgesetzen" politischer Assoziation erfolgendes Ereignis.27 Der Schriftsteller-Verein wird staatstragend: er kooptiert einen Minister.28 Eine Deputation des Schriftsteller-Vereins (Friedrich Hebbel, M. G. Saphir, Wildner von Maithstein und Ersatzmann Adolf Neustadt) reist nach Innsbruck, mit einer Adresse des Volks von Wien (90.000 Unterschriften), das den Kaiser um Rückkehr bittet. Inmitten dieser Geschäftigkeit der Schreiber als „Geschichtstreiber" 29 entsteht die Frage nach einer angemessenen Literatur der Revolution. Kürnberger versucht, sie vom Shakespeare-Drama aus und in der Terminologie der Ästhetik zu beantworten: Woher kommt es, daß in den Epochen aller Revolutionen und großartigen Welterschütterungen gerade auch der Humor am muthwilligsten seine Schellenkappe schüttelt, und der Witz der Scherz= und Zerrbilder in üppigster Blüthe steht? [...] Wie nun der Dichter [Shakespeare, H. L.] die volle, derbe Gegenwart seiner Helden dadurch hob, daß er ihnen links und rechts das Verlebte und das Unreife auf einer tieferen Stufe zur karrikirten Geleitschaft gab, so macht es die Zeit mit ihren Helden, den Revolutionen. Jede Revolution kennt nichts Größeres und Erhabeneres, als sich selbst, als die Gegenwart. [...] Ist aber die Revolution sich selbst das Erhabene, so folgt wohl natürlich,

26 Wegen ungenügender Leistungen in Mathematik hatte er keine reguläre Universitätszulassung; im Artikel ,Frequentations=Zeugnisse' forderte er eine Art pauschaler Zeugniserteilung für Teilnahme an der Revolution als „schuldige Auszeichnung [...] für alle Zeiten", Wiener Abend-Zeitung 1848, S. 216. 27 Artikel,Schriftsteller-Corps', Wiener Abend-Zeitung 1848, S. 118-119, am selben Tag, an dem die Ankunft Metternichs in London bekannt wird; nach dem 12. April. 28 Eine Schriftsteller-Deputation (Dr. Alfred Julius Becher, Otto Prechtler, Ludwig August Frankl) informiert den Minister von Baumgartner von seiner Wahl zum Komitteemitglied, er nimmt an; ebd., S. 215. 29 Ein Ausdruck Ludwig Börnes, vgl. Stein (Anm. 8), S. 5.

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daß links und rechts Vergangenheit und Zukunft ihr das Lächerliche sein muß. Dieses Selbstbewußtsein ist es nun, was in Revolutionen das Feld der Karrikatur so wuchernd anbaut. Weniger spricht eine Revolution in ernsten Kunstschöpfungen ihre eigene Würde aus, weil sie wohl fühlt, daß der Held in dem Maße verliert, als er sich selbst vergöttert, und daß sie überhaupt zu erhaben ist, um gedichtet werden zu können [...] Alles was verlebt, verbraucht, abgenützt, veraltet, verspätet und vergangen ist, sammelt sie unter dem unerbittlichen Kollektivnamen ,Zopf und überfluthet es mit der scharfen Lauge der zügellosesten Satyre. Alles aber was zukünftig ist [...] ist nicht minder der Gegenstand ihres Spottes [...] es erscheint der allein großen und vernünftigen Gegenwart in der Form des baren Unsinns. Hierher z. B. gehört unsre Auffassung von Communismus, Socialismus u. dgl. Diese Entwürfe seien verkörpert in Caliban, dem ,,unreife[n] Embryo einer noch nicht menschgewordenen Zukunft. [...] Kaliban ist die Frühgeburt eines Menschen." 3 0 Dafür wird gleichwohl Respekt eingefordert, Revolution (vielleicht in Permanenz) ist das Bewegungsprinzip der Geschichte: So möcht ich auch sagen, diejenige Revolution ist die beste, die alle möglichen Revolutionen der Zukunft am leichtesten zuläßt, die am wenigsten eitel auf sich selbst ist, die am meisten Ehrfurcht vor dem Kommenden hat, die nicht alles selbst thun zu können, oder gethan zu haben, sich einredet.31 Für die Literatur ist jedoch unter diesen Umständen die Selbstaufhebung zu befürchten. Kürnberger und Adalbert Stifter, beide Autoren der Constitutionellen Donau-Zeitung, kommen zu sehr unterschiedlichen Diagnosen und Therapien für diesen Zustand. Im Aufsatz Die Poesie und die Freiheit vom 30. Juli 1848 32 kontrastiert Kürnberger die dominante Literatur des Vormärz (Moritz Hartmann und Alfred Meißner als die „poetischen Gegenkönige der Despotie") mit dem ihm gegenwärtigen Mangel einer solchen Literatur und verallgemeinert zur Frage: „Kann die Freiheit Objekt der Poesie seyn oder nicht?" Die Antwort

30 ,Der Mensch und die Zeit.' Wiener Sonntagsblätter 1848, S. 449-452, Zit. S. 450. 31 Ebd., S. 451. 32 Literaturblatt (Beilage zu den Sonntagsblättern) 1848, Nr. 10, S. 45-46.

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ist, daß die erreichte Freiheit Poesie erübrigt. Poesie der Freiheit entsteht aus der Mangelerfahrung, die Ausübung von Freiheit ist „poesielose" Selbstverständlichkeit, selbstverständlich im Gebrauch wie das Wasser und der Atem, wenn es nicht daran mangelt. „Was in seinem Abgang poetisch ist, muß in seinem Besitze prosaisch seyn, und umso prosaischer hier, je poetischer es dort ist."33 Ein solcher Zustand war, ,naturgemäß', nicht auf Dauer zu stellen. Die Rezensionen Kürnbergers im Sommer und im Herbst sprechen wieder eine andere Sprache, die einer erneuten Dissoziation, und auch die Entstehung und Funktionsgebung des ,Feuilletons', einer Leitgattung der folgenden Jahrzehnte, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. 1865, in der Zeit, als sich Kürnberger anschickt, der bedeutendste Feuilletonist in Wien zu werden, heißt es, in Weiterfuhrung dieser Dissoziation, in Abgrenzung von Literatur und Aktion der Revolution: „Es war einmal im Jahre 1848 - ich weiß nicht mehr ob vor oder nach Christi Geburt, jedenfalls ist es schon lange her - eine gewisse Erregung unter den Leuten, und ich war einer von den Millionen Erregten." 34 Von solcher Erregung, solchem Verschwimmen der Grenzen wollte Adalbert Stifter schon damals nichts wissen. Dagegen war Stand und Würde des Schriftstellers abzusichern. Dieser Text ist seine bedeutendste Äußerung im Revolutionsjahr. Der Dämon, das Gespenst der Revolution hatte sich in literarisch-journalistische Aktionen kleinerer Geister aufgelöst, hinter denen eine neue soziale Gewalt als Bedrohung erschien. Die Revolution nach dem Bilde von 1850 war (im März) 1848 schnell erreicht, was darüber hinausging, war für die aus der Literatur kommenden Akteure vielfach unerwartet, erschreckend und literarisch nicht faßbar. Für den „dichtenden Schriftsteller" fordert Stifter äußerste Reinheit und Vollkommenheit des Charakters: Wenn er nur eine, selbst die unbedeutendste Kraft in sich verderben läßt, so rächt sie sich an seinem Werke und macht es einseitig und kränkelnd. Er kann mit aller anderweitigen Begabung, mit dem glänzendsten Geiste und mit der äußersten Bemühung den Fleck nicht vertilgen, der dem Geiste seines Wer-

33 Ebd., S. 46. 34 Aus dem dunkelsten Österreich. Die Fackel 214-215 (22. Dezember 1906), S. 16.

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kes anklebt und namentlich, wenn er ein sittlicher ist, von den begabten Empfangern mit Unlust, oft mit Verachtung empfunden wird.55 Die Werke würden sonst unheimlich, zerfahrend und verderblich. Ja der begabteste Mensch, je mehr er sich selber zu verlieren beginnt, desto unfähiger wird er, der Sache, um die es sich handelt, das Einheitssiegel und das der Vollendung aufzudrücken. Ohne sein Ahnen befleckt er seine Gestalten und seine Dinge mit der eigenen ihm innewohnenden Haltlosigkeit, daß wir uns gerade da, wo er edel sein oder Edles zeichnen will, mit noch größerem Widerwillen abwenden. (158) Solche Werk-Befleckung ist die Verhinderung von Nachkommenschaft, von langfristiger Wirkung, und Stifter fordert eine solche Wirkung selbst für die Journalistik, ja sie ist der eigentliche Adressat seiner Schrift. Was später Karl Kraus beklagen wird, daß das „freie Schriftthum" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „seine besten Säfte an das Feuilleton, hier und dort gar an den Leitartikel abgegeben" hat36, ist hier schon Gegenstand der Befürchtung und Mahnung. Die staatliche Zensur wird zwar abgelehnt, „denn das Reich des Geists ist ein heiteres und freies, daß in ihm eher der Mißbrauch sei als die Fessel" (166), ist aber durch Selbstkontrolle zu kompensieren: „Zeigen wir auch noch durch Männlichkeit und Maßhalten, daß wir der freien Presse würdig sind und daß mancher frühere Mißlaut nur durch die Bande erregt worden ist, welche hemmten." (159) Neben der politischen Sorge um die Führung und Belehrung des Publikums, um die Bildung der Gesellschaft nach dem Bilde des Menschen, zumal des dichtenden, den „zuweilen ein Ubergewicht der niederen Kräfte [...] zu Schöpfungen verführt, während die höhere sittliche Abklärung und Ruhe fehlt, die erst dem Ganzen des Werkes die Weihe, die menschliche Rundung, die Erhebung und Versöhnung (selbst im tragischen Geschicke) gibt" (166), geht es Stifter darum, „die Unberufenen und Unwürdigen hintanzuhalten", er hat aber keine denn internalisierte bzw. internalisierbare Maßnahmen zu Gebote (Erziehung, die eigene Ehre, Scham vor fremder 35 Adalbert Stifter: Über Stand und Würde des Schriftstellers. Gesammelte Werke in 14 Bänden. Hrsg. v. Konrad Steffen. Basel und Stuttgart: Birkhäuser 1972, Bd. 14, S. 1 5 5 - 1 5 6 ; Seitenzahlen im folgenden in Klammer. 56 Karl Kraus: Die Fackel 2, S. 8.

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Mißachtung). Die Regulierung erfolgt also, wenn noch einmal Luhmann und die begeisterte Aufnahme einer seiner Ideen durch Georg Jäger verwendet und der Stifterschen Metaphorik zugeordnet werden darf, durch ein „strategisch placierte[s] Selbstbefriedigungsverbot", wie es für die symbolischen Codes von Medien kennzeichnend ist.37 Georg Jäger sieht die Genielehre als ein solches „Selbstbefriedigungsverbot", das es erlaubt, Gelegenheitspoesie und dergleichen abzuwerten und auszuschließen.38

POST

REVOLUTIONEM

Während für Autoren wie Grillparzer und Stifter die Revolution in ihren positiven Aspekten vorbei war, nachdem sie die Vorgaben des Modells von 1830 überschritten hatte und erneut der „Dämon des Vatermordes" aus 1789 auftauchte, der schon durch die literarischen Salons des Vormärz gegeistert war und dort Befürchtungen über die „tigerartige Anlage" des Menschen erweckt hatte39, hielten die Hoffnungen Kürnbergers noch länger an. Nach der Flucht aus Wien gab die Revolution in Sachsen neuen Auftrieb, und erst die Kapitulation bei Vilagos läßt die Hoffnungen sinken. Görgeys Kapitulation und Ungarns Fall - welch ein Schlag! Wie könnt' ich Euch beschreiben, was nicht zu beschreiben ist. Meine steinharten Augen haben geweint, was ich selbst bei dem Falle Wiens nicht tat, meine Seele lag in einem Starrkrampf des Schreckens. [...] Alle Zeichen der Zeit deuten nämlich daraufhin, daß jetzt eine Epoche der entschiedenen und vollständigen Reaktion eintreten soll. Darin muß ein bestimmter Zweck der Geschichte liegen. [...] Mit dem Falle von Ungarn aber ist jener reaktionäre Gegenschlag, der nun einmal der Charakter dieser Zeit sein soll, erst zu seinem gänzlichen Abschluß gekommen [.. .j 40

57 Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: N. L . : Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975, S. 170-192, Zit. S. 181. 38 Jäger (Anm. 13), S. 230. 39 Adalbert Stifter: Zuversicht (1846). Gesammelte Werke (Anm. 35), Bd. 5, S. 468-74, Zit. S. 474 und 469. 40 Ferdinand Kürnberger: Briefe eines politischen Flüchtlings. Hrsg. v. Otto E. Deutsch. Wien 1920, S. 27-28 (datiert: Dresden, August 1849).

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Knapp davor, in einer Artikelserie des Wiener Boten zwischen 6. Juni und 4. Juli 1849, hatte Stifter eine Warnung vor solchen Sympathien mit der damals noch erfolgreichen ungarischen Sache ausgesprochen, eine Warnung vor den „Völkern auf den Hochebenen in der Mitte Asiens", die aufs Ganze der europäischen Kultur ging. Diese Völker könnten wie ein brausendes Meer, heranrücken. Wenn Europa vernünftig, gesittet, kräftig, männlich und einig ist, hat es von all diesen Schaaren nichts zu fürchten; denn es hat seine alte Tapferkeit [...] Aber wenn Europa thöricht, ungesittet, weichlich, weibisch und uneinig ist, wenn sich die Bösen in seinem Schooße gleich zu dem Feinde schlagen, um mit ihm die Beute zu theilen wie dann?41 Gegen die - nach Stifter - falsch verstandene Freiheit waren auch unsanfte Gesetze zu formulieren: Diese Freiheit wäre so verworren wie der babylonische Turm; sie wäre auch verbrecherisch und würde uns unter die Tiere hinabstürzen. Bei ihr wäre keine Familie mehr möglich und kein Eigentum; denn das Weib könnte beliebig von dem Manne gehen, der Mann von dem Weibe, und der Knecht könnte das Eigentum des Herrn begehren. Diese Freiheit wäre die der Tiere im Walde, die auch tun dürfen, was sie wollen, aber gegen die man auch tun darf, was man will. (195) Generell bleibt freilich, als „heiligste Lehre der Geschichte", die aus dem überstandenen Schrecken gezogen wird: Suche eher auf unermüdliche, aber ruhige Weise die Abhilfe deiner Übel, wenn es selbst jahrelang dauert, eh du dich in Verwirrung und in das Elend einer Revolution stürzest. Man weiß nie, wohin sie führt, die aufgeregten Menschenmengen tun, was sie wollen, sie gehen weit über das Ziel hinaus, das man anfangs gesetzt hatte, und es wird Verwirrung, Not, Angst, Verarmung, Greuel und endlich der Bürgerkrieg, wo ein Teil des Landes gegen den andern ist und sich beide verderben. Ich habe einmal das Gleichnis gesagt: 41 Adalbert Stifter: Über unsere gegenwärtige Lage und unsere sittliche Verbesserung. Gesammelte Werke (Anm. 35), Bd. 14, S. 192-236, Zit. S. 215. Seitenangaben im folgenden in Klammer nach dem Zitat.

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Wer zu einem Zwecke eine Revolution anhebt, der gleicht einem törichten Bauer, welcher sagt, er wolle die Hälfte seiner Scheuer abbrennen - dann kann er das Ding nicht mehr erretten, er sieht die Scheuer, das Haus, den Hof, das Dorf, die Stadt abbrennen und ist in Verzweiflung. (200)

Uber unsere gegenwärtige Lage und unsere sittliche Verbesserung (so der Titel der Stifterschen Schrift), konnte also unterschiedlich befunden werden: entweder in törichten Vergleichen und Ratschlägen zu bürgerlicher Sanftmut oder in den Lamentationen der Gegenseite. In der politischen Analyse Kürnbergers tritt das Arrangement der besitzbürgerlichen Schichten mit dem Staat als der charakteristische Zug der nachrevolutionären Zeit heraus. 1865 schreibt er über die abgelaufene Ära: Dieses Dezennium [zwischen 1850 und 1860, H. L.] atmete einen entschieden konservativen, ja reaktionären Hauch. Erschreckt von einer Revolution, welche sie selbst zugleich gemacht und verraten, schlössen die Besitzenden aller Länder einen Bund der Angst und Feigheit gegen die Nichtbesitzenden. In Staatsstreichen und Konkordaten dankte der Citoyen zugunsten des Bourgeois, das öffentliche zugunsten des Privatrechtes ab, und von all den heiligsten Menschenrechten sollte nichts mehr heilig sein als das Eigentum. Eigentum und Familie war das Feldgeschrei der Gesellschaft, der Götzentempel ihres Egoismus das Haus. 4 2

Es war, auch für ihn selbst, das Jahrzehnt der Demütigungen, Polizeischikanen, Denunziationen, des Duckmäusertums, der erpreßten Versöhnung, des Opportunismus. Es ließe sich diese Darstellung durch Beispiele aus Schriftstellerbiographien weiterverfolgen, und auch an Werkinterpretationen, die ihre Ergebnisse wie auch immer auf die politische Entwicklung beziehen, besteht kein Mangel. Zwei Leitfragen sind dabei entscheidend, und zwar (erstens) die nach dem Fortleben des Begriffs der ,Revolution' und (zweitens) die nach 42 Ferdinand Kürnberger: Aus Kaulbachs Atelier. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Otto E. Deutsch. München 1910 ff., Bd. 2, S. 462; Kürnberger publiziert den Aufsatz in München, nennt aber als Anlaß den Fund von Kaulbachs Goethe-Illustrationen in einem jüdischen Kramladen im „schattenlosen Staub von Nyiregyhäza" (ebd., S. 449), wo er sich von Oktober 1862 bis August 1863 bei seinem jüdischen Freund Samuel Engländer einquartiert hatte.

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dem Status der Literatur nach 1848. Von beidem, Revolution wie Literatur, wurde, grob gesprochen, nachher weniger erwartet als vor 1848. ,Revolution' wird ab den 60er Jahren eher als Katastrophe gedeutet, was der Literatur' zumindest in der generalisierenden Form erspart geblieben ist. Zum ersten, kürzer und vorwiegend an Koselleck43 orientiert. ,Revolution' als politischer Begriff verliert nach 1848 den Charakter der Bezeichnung eines universalen Ereignisses: einerseits durch Historisierung, anderseits durch Aufspaltung in Teil-Revolutionen. „Während Revolution in Permanenz' ein marxistischer Kampfbegriff blieb, der die Zukunft sichern sollte, war der damit erfaßte Sachverhalt - auch deshalb - von den betroffenen Bürgern als ,Revolutionsära' erfaßt worden. Aber deren Zustimmungsbereitschaft schwand dahin, im Maße, als die Furcht vor den Proletariern stieg oder anhielt" (765). Revolution wird, historisch betrachtet, zu einem „Epiphänomen der politischen Nationalgeschichten" (777). 44 Als Ereignis mit politischem Verweischarakter, wie es die Revolution von 1830 für den Vormärz doch geblieben war, verschwindet die Revolution von 1848 aus dem öffentlichen Diskurs. Dieser Befund Kosellecks läßt sich bestätigen: Ferdinand Kürnberger unternimmt kennzeichnenderweise zur Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs eine krasse Umdeutung des Revolutionsbegriffs auf nationalhistorischer, nationalistischer Basis.45 45 Vgl. Anm. 7; Seitenzahlen im folgenden in Klammer. 44 „In der lexikalisch normierten Sprache verliert also der Revolutionsbegriff seine geschichtsphilosophisch und systematisch reflektierte Stoßkraft in die Zukunft, die er bis zur Jahrhundertmitte noch gehabt hatte. Als Alternativbegriff zu ,Reform' hatte er bis dahin eine handlungsweisende Aufgabe, auch wenn der mit Terror und Gewalt assoziierte Begriff selber nur selten zustimmungsfähig war. Nach der 48er Revolution wird der Begriff zunehmend historisiert, seine primär gesellschafts- und verfassungspolitischen Gehalte werden durch nationalstaatliche Sinnvorgaben zurückgedrängt. Er verblaßt lexikalisch in dem Maß, als er in der Sozialdemokratie allein zustimmungsfähig bleibt." Koselleck (Anm. 7), S. 778. 45 Man könnte freilich auch Kümbergers Roman „Der Amerikamüde" als ein Element im literarischen ,Rückbau' oder Abbau des Revolutionsbegriffs bei Kürnberger sehen. Droysen hatte schon 1845/46 in der Vorlesung über das „Zeitalter der Freiheitskriege" die „Freiheitskriege" in semantischer Opposition zu „Revolution" gesehen und eine Epoche vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über die Französische Revolution zur preußischdeutschen Erhebung von 1815/15 gesehen. „Preußen-Deutschland rückte potentiell an die

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Die Ereignisse von 1848 werden dabei nicht genannt, sind aber die Revolutionserfahrung, die autobiographisch im Hintergrund steht. Repräsentativ aber wird eine andere Revolution vernichtet, damit auf den BismarckKurs eingeschwenkt werden kann: die Französische von 1789, und zwar im Feuilleton Redensarten

III, Freiheit,

Gleichheit, Brüderlichkeit

in d e r B e r l i n e r

Börsenzeitung vom 25. 9. 1870. Vielleicht ist der Publikationsort dafür ausschlaggebend, daß Kürnberger auf die Hegeische Interpretation der Französischen Revolution aus dem Jahr 1823/1830 zurückgeht46, um für Deutschland bzw. den Protestantismus die Revolutionsparolen für überflüssig zu erklären: Alle Bände Voltaire's geben noch keine Seite Shakespeare und alle Guillotinen Frankreichs können nicht so viel Gleichheit fabriciren, als die Deutschen schon längst und beßer hatten, wenn man ihr Volksgemüth in solchen Zügen belauschen will. Ich schrieb da nur ein Feuilleton, aber es muß eine ganze Literatur werden, eine ganz neue Literatur, die das sagt. Wir haben weiter nichts zu thun als unsre Geschichtsliteratur der französischen Revolution zu Asche zu verbrennen und eine neue und vernünftigere zu schreiben. Wir waren lange genug die guten Narren der messianischen bösartigen Narren. 4 7

Spitze einer lang angelegten diachronen Bewegung, die in Zukunft eine Synthese der Amerikanischen und der Französischen Revolution bringen werde: das geeinte deutsche Volk in einer freien staatsbürgerlichen Verfassung." Zit. nach Koselleck (Anm. 7), S. 746. Es ist die Frage, welche Rolle die Rheinkrise von 1840-41 für die Relativierung der Französischen Revolution gehabt haben mag. 46 Implizit ist damit auch der Kulturkampf 1 wiederaufgenommen, dem Kürnberger einen großen Teil seiner politischen Feuilletons in den Sechzigerjahren gewidmet hatte. Bei Hegel heißt es: „In den Ländern der evangelischen Kirche ist die Revolution vorbei, weil das Prinzip vorhanden ist, daß durch Einsicht und Bildung zu geschehen hat, was geschehen soll. Es ist hier kein absoluter Widerstand gegen den Gedanken des Staatszwecks. In den andern Ländern aber ist, was den Bestimmungen des Staatszweckes zuwider ist, dennoch auch absolut berechtigt, die Sittlichkeit der Kirche, sodaß es dem Staate Widerstand leistet." Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. v. Georg Lasson, Bd. 4: Die germanische Welt (1825/30). Hamburg 1920 (Ndr. 1968), S. 953. 47 Ferdinand Kürnberger: Gesammelte Werke (Anm. 42), Bd. 1, S. 126-153, Zit. S. 135 (Schluß des Feuilletons).

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Vergessen oder abgeschrieben die Zeiten, in denen Kürnberger in der radikalen Zeitschrift Der Freimüthige.

Für Politik, Tagesereignisse

und Satire pu-

bliziert hatte, deren Motto lautete:,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit'. Im österreichischen Ambiente konnte Kürnberger milder verfahren und gleichzeitig die hier fehlende Revolution zum Unterscheidungsmerkmal zwischen österreichischer und deutscher Literatur machen. So geschieht es im Essay Österreichs Grillparzer. Die Französische Revolution ist da jene traumatische Kindheitserfahrung des Dichters, die seine Handlungsscheu oder Handlungsunfähigkeit und auch die des österreichischen Volks begründet: Seht, das sind die Wege der Aufklärung! Aufklärung heißt es am Anfang, Guillotine heißt es am Ende! Und das Volk, welches nur mit dem Herzen denkt, fand diese Logik leider logisch. Die Denkenden aber, welche es besser wußten, verloren den Boden, geriethen in die Minorität. Die Denkenden Deutschlands wußten aus der Ernte, welche in die scheußliche Blutlache der Revolution gesät war, noch immer einiges Gute, der Zeit und ihren Fortschritten Dienende sich anzueignen. Die Oesterreicher dagegen empfanden einen unüberwindlichen Schauder vor dem Blutgeruch, welchem das Blut ihrer edlen Tochter beigemischt war. Eis war möglich, das josefinische Oesterreich auf die Wege der Reaction zu führen.48

Zugleich sei eben dies die Trennung zwischen Osterreich und Deutschland gewesen: „Das Henkerbeil, welches den Nacken der ersten Wienerin zerschnitten, hat auch eines von den Bändern zwischen Oesterreich und Deutschland durchschnitten." (262) Auch hier spielt im Hintergrund die Revolution von 1848 mit, als - im Bewußtsein Kürnbergers und vieler seiner Zeitgenossen, nicht aber Grillparzers - vertane Chance einer,deutschen Einigung', die nach 1866 irreversibel zunichte schien. Die Erinnerung an 1848 wird aber zugleich verdeckt, indem Grillparzer zum Revolutionär im Sinne der Französischen Revolution von 1789 und des Vormärz erklärt wird: Medea, Ottokar, seine bedeutendsten Typen, fangen an wie leidenschaftliche Jakobiner und enden wie willensschwache Girondisten. Es ist in seiner Poesie etwas, wie eine reuige Revolution, wie eine Revolution auf Umkehr. Seine Poesie fängt an mit deutschem Verständnisse der Zeit und endet mit österreichischer Abwendung von der Zeit. (262-263) 48 Ferdinand Kürnberger: Österreichs Grillparzer. Gesammelte Werke (Anm. 42), Bd. 2, S. 259-266, Zit. S. 261-262. Seitenangabe zu den Zitaten in der Folge in Klammer.

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Trotz seines Konservativismus sei er zeitlebens wie ein verkappter Revolutionär angesehen worden. „Der Mann geht herum wie unser böses Gewissen. Seine Zeit haben wir begraben, aber er lebt. Mag er seine Kräfte mäßigen und herabstimmen wie er will; genug, er hat sie. Das allein ist Revolution. So dachte der Metternichismus, und ,unser' Grillparzer wurde mit Anstand vergessen." (264) - Erst der Deutsche Laube habe den Osterreicher Grillparzer wieder ausgegraben. Mit diesem Spiel der doppelten Botschaften, einem Spiel ,über die Bande', Grillparzer, bearbeitet Kürnberger den Revolutionsbegriff und seine eigene Vergangenheit. Zum zweiten: der Status der Literatur. Es erscheint nicht zufallig und beliebig, daß Kürnberger in seinem zitierten Urteil über die Fünfzigerjahre die Rechtssphäre anspricht. Seine Äußerung hat ein Pendant in den Bemerkungen zum Abgang des Juristen Ihering aus Wien im Feuilleton Von den sozialen Wirkungen des Wiener Börsensturzes. Der Verlust deutscher Rechtsgelehrtheit wird in einem Symptomzusammenhang mit der neuen, für Kürnberger wohl gleichermaßen kapitalistischen' wie ,rassischen' Entwicklung gesehen: Das war symbolisch. Es bezeichnete an einem einzigen Beispiel die soziale Strömung, in welche Wien hineintrieb. Seine junge, fragmentarische und vom asiatischen Nachbartor her beständig gestörte und verwirrte Kultur wird noch auf fünfzig Jahre hinaus mehr als alles andere importierte Wissenschaft brauchen, und - der Faden der Wissenschaft riß ab! Dafür strömte aus Polen und Rumänien eine zweite Völkerwanderung von Börsenelementen zu und krönte unser Gesellschaftsgebäude mit einem Giebeldach von Wohlstand, zu dem nach fünfzig Jahren noch das Fundament fehlen wird. Wien schob sich damals um viele Breiten von Westen nach Osten, von Deutschland nach Syrien; - der Eingeborene fühlte sich nicht mehr in Europa.49

Inhaltlich mag hier Kürnberger mit neuer Asien-Phobie näher an Stifter herangekommen sein, aber das ist hier nicht das Entscheidende. Es geht um die Einschätzung der Rechtssphäre und ihrer Rolle im Gesamtsystem und also auch im Verhältnis zu allen anderen ,Subsystemen' der Gesellschaft. Dabei werden zynischerweise, aber methodisch sauber, die in den Systemen dominanten Inhalte, Ziele etc. außer Betracht gelassen. Von der 49 Ferdinand Kürnberger: Von den sozialen Wirkungen des Wiener Börsensturzes. Gesammelte Werke (Anm. 42), Bd. 1, S. 535-545, Zit. S. 536.

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Seite der Literatur hatte ja Robert Prutz - in einer immer wieder zitatmäßig verwendeten Stelle - 1858 den Geltungsverlust der Literatur beschrieben. Die Literatur fühle eben, „daß sie nicht mehr die erste Stelle einnimmt und findet sich in diese ihre Degradation mit dem Anstände und der edlen Fassung, die man entthronten Königen so allgemein nachzurühmen pflegt." 50 Stifter warnt sogar ausdrücklich vor Schriftstellern in politischen Funktionen: Im 7. Kapitel der Aufsatzserie Uber unsere gegenwärtige Lage und unsere sittliche Verbesserung, Wen man nicht wählen soll nennt Stifter ausdrücklich die schlechten Schriftsteller unter den zweifelhaften politischen Zeitgenossen: „sie haben unter den Torheiten und Fehlern, die das Gute der neuen Zeit verdorben haben, viele auf ihrer Rechnung". 51 Zuverlässigkeit und Pflichterfüllung sieht er an anderer Stelle: „Wir können ohne Übertreibung sagen: bei uns hat eigentlich nur der Kriegerstand allein vom Grunde aus seine Schuldigkeit getan." 52 Trotz neuer Zensur nach 1848 ist der Literatur keine neue ,Imposanz' (Karl Marx) zugekommen, wie sie für Vormärzschriften behauptet wurde, noch hat sich die Expansion des journalistisch-literarischen Marktes positiv auf den Status ausgewirkt, sondern etwas anderes trat ein. Der Systemtheoretiker sagt dazu in verschleiernd-anthropomorphisierender Verkürzung: Während das politische System auf die neu entstehenden Institutionen der Massenkommunikation zurückgreift, schaltet Literatur auf Systemreferenz um. An ihr bleibt kompensatorisch, daß sie - wenn schon nicht die Welt - dann doch zumindest das sich selbst kommunizierende Werk und den Akt seiner Rezeption dem Individuum reserviert.33

50 Robert Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848-1858. 2 Bde., Leipzig 21860, Bd. 1, S. 64. 51 Adalbert Stifter (Anm. 41), S. 211. „Man wähle daher einen Schriftsteller und Künstler nur dann, wenn man mit völliger Gewißheit weiß, daß er ein vortrefflicher ist (natürlich muß man seine Kenntnisse in Staatsdingen auch wissen); sonst aber, wenn man nur den geringsten Zweifel hat, ob er vortrefflich sei oder nicht, wähle man ihn lieber nicht." (Ebd.) 52 Ebd., S. 235. 53 Gerhard Plumpe: Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hrsg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 251-264, Zit. S. 263.

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Es ist ,der Literatur', so muß befürchtet werden, auch nicht sehr viel andres übriggeblieben als ,umzuschalten', wenn auch dieser Euphemismus irrig ist insofern, als nicht ,die Literatur' in freier Entscheidung umgeschaltet hat, sondern Literaten ,ausgeschaltet' wurden, sei es physisch, durch Füsilierung, Vertreibung, oder bloß publizistisch, durch neue Zensur, und dies in Osterreich zumindest für ein Jahrzehnt, wenn nicht überhaupt bis zum Staatsgrundgesetz von 1867. Die ,Interpenetration', das heißt, der Vorgang, daß jedes der Systeme wechselseitig „die eigene Komplexität zum Aufbau des anderen Systems zur Verfügung" stellt54, wirkt sich so aus, daß das politische System die Machtapparaturen ausbaut und so der Literatur verhilft, sich stärker auf sich selbst zu konzentrieren. Auch wenn aus der Selbstreferenz, der Kommunikation mit sich selbst, viel Erfreuliches entstehen mag, sollte der Aspekt der Kompensation, wie ihn Plumpe erwähnt, nicht außer acht bleiben. Ferdinand Kürnberger hat durch seine literarische Karriere erwiesen, daß beides nebeneinander möglich ist, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Die öffentliche Anerkennung auf dem Feld des Feuilletons kompensiert einigermaßen den Mißerfolg im Drama, der literarisch-selbstreferentiell höher eingeschätzten Gattung, die, auch wenn die Beschäftigung mit ihr öffentlich unbedankt bleibt, symbolisch im künstlerischen Selbstwertgefühl für den publizistischen Frondienst entlohnt. Eine Einschätzung des Verhältnisses gesellschaftlicher Bereiche zueinander scheint eine wichtige Voraussetzung für die Darstellung des ,Literarischen Lebens', wenn mit diesem Terminus zumindest eine Art Vektor auf das große Ganze gerichtet sein sollte. Die Rede von der ,Marginalisierung' der Literatur, wie sie wiederholt, zuletzt auch von Lothar Baier für die Literatur nach der Wende von 1989 geführt wird, kann wohl nur als begrifflicher Jolly Joker für näher zu beschreibende Prozesse dienen. Zweifelsohne ist aber der Dissoziationsvorgang zwischen Literatur und Journalistik entscheidend, zugleich wird die Massenkommunikation das Mittel, durch das Literatur überhaupt noch politisch relevant werden kann. Was sich 1848 auf engem Raum und in kurzer Zeit ausbildet, wird nach einer Latenzphase von etwa zehn bis fünfzehn Jahren gewissermaßen schleichend', erregungslos und undogmatisch literarisch-publizistische Normalität. Es sind also diese beiden Felder, Literatur und Publizistik, stärker zu

54 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp 1984, S. 290.

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betrachten, und Kürnberger ist ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, wie eine sehr komplexe, komplex literarische Sprache, eine literaturgesättigte Argumentation, die also, wie erfordert, die ganze Komplexität in das andere System einbringt, dort (in der Tageszeitung) politisch agitiert und gleichzeitig, so ständig die literarische Kompetenz nachweisend, parallel dazu Literarische Herzenssachen, wie sie sich in ihrem literarisch-selbstreferentiellen Zug etwas kokett nennen, ausbreitet. Klar ist auch, daß im ,anderen' Kontext die mitgebrachte Komplexität zwar die Glaubhaftigkeit der Argumentation von anderer Seite hat, zugleich aber für eine gewisse Isolierschicht der eigentlichen Unzuständigkeit sorgt. Der Habitus des Feuilletonisten, des Flaneurs (etwa Daniel Spitzers), des Harlekins, ist der deutlichste Ausdruck davon. In diesem Sinne trägt der Feuilletonist die Fackel intellektueller Verantwortung des Literaten in der Politik weiter, bis ihm Karl Kraus diese Zuständigkeit abspricht.

Madeleine Rietra

Österreich und dessen Zukunft Zur Österreich-Utopie des Freiherrn Viktor Franz von Andrian-Werburg (1815-1858)

Nach einer langen Kriegsperiode entsprach die auf das Jahr 1815 folgende Restaurationsepoche zunächst dem Bedürfnis der Völker Europas nach Frieden. In Osterreich bewährte sich das „Metternichsche System", das von einem leitenden Staatsmann des Vormärz treffend als „ungeschmälerte Aufrechthaltung der Souverainetätsrechte und Verneinung eines jeden Anspruches der Völker auf Theilnahme an jenen Rechten" definiert wurde, aufs beste. 1 Und solange man sich im materiellen Genuß dieser Politik befand, zeigte man kein besonderes Interesse an politischen Fragen. Erst als die Orientpolitik der Regierung versagte, die Verzehrungssteuer 1830 derart verschärft wurde, daß es zu Unruhen in Wien und Prag kam, und die Vorbeugungsmaßnahmen der Behörden gegen die ein Jahr später ausbrechende Cholera sich als unzulänglich erwiesen, wurde das Vertrauen zu ihr erschüttert. Im Unterschied zu Deutschland, wo die demokratische Bewegung unmittelbar nach den Befreiungskriegen einsetzte, kam es in Österreich erst in den dreißiger Jahren zur Opposition. Auch hier förderte die französische Julirevolution die Verbreitung des liberalen Geistes, wenn auch ihr Einfluß auf die Volksstimmung infolge der starken Überwachung des gesellschaftlichen Lebens nicht gleich jedem sichtbar wurde. Das erste Werk, das von einem Umbruch in dieser Stimmung zeugte, die Spaziergänge eines Wiener Poeten des Anastasius Grün (Graf Anton Alexander von Auersperg), erschien 1851 in Hamburg beim Verlag Hoffmann und Campe. Es eröffnete die politische Dichtung in Österreich und regte viele Dichter in und außerhalb der Monarchie an. Wohl waren schon früher der Schriftsteller Charles

1

[Franz Graf von Hartig:] Genesis der Revolution in Österreich im Jahre 1848. 5., mit vielen Zusätzen vermehrte Auflage. Leipzig 1851, S. 38.

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Sealsfield, dessen 1828 in London erschienenes Buch Austria as it is die österreichische Regierung heftig angriff, und der ehemalige Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Joseph Freiherr von Hormayr, wie der Historiker Julius Schneller aus Protest gegen die Zensur ausgewandert, doch blieben diese Proteste vereinzelt und ohne Einfluß auf die Entwicklung des geistigen und politischen Lebens in der Heimat. Erst gegen Ende der dreißiger Jahre, nachdem die Hoffnung auf eine freiheitlichere Gestaltung der Dinge durch den Thronwechsel 1835 zerschlagen worden war, läßt sich eine größere politische Bewegung wahrnehmen, die durch die Verschärfung der Zensur, das immer stärkere Auftreten nationaler Tendenzen und die Anleihen der Regierung verstärkt wurde. Zwei Wirtschaftskrisen, Mißernten, Teuerung, Hungerrevolten, Massenarbeitslosigkeit, Arbeiterunruhen, Robotverweigerung, die polnische Revolution des Jahres 1846 und nicht zuletzt das politische Engagement der Stände kamen im folgenden Jahrzehnt noch hinzu. Nicht zufallig stammt die erste Kritik £tn den damaligen Verhältnissen, die in breiten Kreisen rezipiert wurde, von der Hand eines hohen adeligen Regierungsfunktionärs, des Freiherrn Viktor von Andrian-Werburg, dessen 1840/1841 verfaßtes, aber erst 1843 bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienenes Büchlein Österreich und dessen Zukunft großes Aufsehen erregte. Das außerordentlich große Interesse, das dieser Schrift zuteil wurde, rief eine Flut von Broschüren hervor, von denen allerdings keine das hohe Niveau der Andrianschen Schrift erreichte.2 Über Viktor Franz Freiherrn von Andrian-Werburg (1813-1858), der Vorbild und Anregung für den Großteil der politischen Literatur des Vormärz wurde und deswegen als der bedeutendste österreichische Vormärzpublizist gilt, ist wenig bekannt. Dies hat seinen Grund darin, daß Andrians wichtigster Lebensabschnitt im Zeichen der Opposition gegen die Regierung stand und er aus Sicherheitsgründen lange Zeit anonym bleiben mußte. Auch nach der Revolution des Jahres 1848, in der Ara Bach, gab es für ihn keine Möglichkeit, seine Ideen politisch durchzusetzen. Enttäuscht zog er sich ins Privatleben zurück und verbrachte seine Tage notgedrungen in ziemlicher Untätigkeit und Einsamkeit. Dennoch gibt es eine kurze biographische Notiz seiner Hand im Brockhaus aus dem Jahre 1851. Der 2

Siehe hierzu: Jung Österreich. Dokumente und Materialien zur liberalen österreichischen Opposition 1835-1848. Hrsg. von Madeleine Rietra. Amsterdam: Rodopi 1980. ( = Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Bd. 43).

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Nachwelt wäre die Person Andrians weitgehend unbekannt geblieben, wenn nicht seine Tagebücher entdeckt worden wären. 5 Diese Tagebücher werfen ein interessantes Licht auf den engen Zusammenhang von Andrians Biographie und Schriften. Darüber hinaus sind sie eine wichtige Quelle für den Historiker, handelt es sich doch um Aufzeichnungen politischer Natur, welche besonders die letzten Jahre vor der Revolution des Jahres 1848 beleuchten. 4 Andrian-Werburg stammt aus einem altadeligen freiherrlichen Geschlecht lombardischer Herkunft, von dem sich im 16. Jahrhundert eine innerösterreichische Linie abspaltete, die sich weit verzweigte. Andrian, der diesem österreichischen Zweig angehörte 5 , wurde am 17. September 1813 in Görz geboren und studierte Jura an der Wiener Universität. Er sprach Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, besaß eine gründliche Kenntnis der Geschichte und war in der Innenpolitik, besonders auf dem Gebiet der Verfassung und Verwaltung, bewandert. Von wesentlichem Einfluß auf seine geistige Formung und die Bildung seines Charakters war die ihn umgebende adelige Welt mit ihren spezifischen Anschauungen und Lebensformen. Daß Andrian später das Ständewesen reformieren wollte, hängt mit dieser Abstammimg zusammen. Sein ganzes Leben blieb Andrian von diesem Standesbewußtsein erfüllt, sah er im Adel etwas Besonderes, eine Institution, die zwar durch die Zentralisierung des Staates und den wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums an politischer Bedeutung verloren hatte, die aber nach einer gründlichen zeitgemäßen Reorganisation „das repräsentiren könne, wozu er seinem Wesen nach berufen ist: das Prinzip einer vernünftigen Stabilität, die Garantieen eines geregelten, besonnenen Fortschrittes -," 6 Dem damaligen schulmäßigen Studiengang an den österreichischen Universitäten, der Geist und Verstand eher drosselte als aktivierte, und der anschließend genau vorgeschriebenen langwierigen Beamtenlaufbahn konnte ein kritischer Kopf wie Andrian wenig Freude 3 Siehe Fritz Fellner: Die Tagebücher des Viktor Franz von Andrian-Werburg. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs. 26 (1973) S. 328-341 und Friederike Glanner: Viktor Franz von Andrian-Werburg. Ein Lebensbild. Diss. [Masch.] Wien 1961. 4 Heute befinden sich Andrians Tagebücher im Archiv der Stadt Brno, Tschechien. Sie sind lückenhaft erhalten und beziehen sich auf die Periode Oktober 1839 bis März 1858. 5 Siehe Carl Freiherr von Andrian-Werburg und Klaus Freiherr von Andrian-Werburg: Stammreihe und Nachkommen des Freiherm Ferdinand (1742-1802). München 1959. 6 Osterreich und dessen Zukunft. 3. Auflage. Hamburg: Hoffmann und Campe 1843, S. 36. Alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.

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abgewinnen. Und so wundert es nicht, wenn auch diese Erfahrungen in seine Kritik am „Metternichschen System" eingingen. Seinen Weg als Beamter begann Andrian um 1833 als Konzeptspraktikant im Gubernium in Venedig. In dieser Stellung kam er zur Provinzialdelegation in Udine und dann, um 1837, zum Görzer Kreisamt. Wie verhaßt ihm der Staatsdienst war, geht deutlich aus seiner Kritik an der Bürokratie hervor. So notierte er am 14. 2. 1842 in seinem Tagebuch: „Ich kann es nicht sagen, welche Marter es ist, so mit innerem Widerwillen ein Handwerk zu treiben, über welches man sich in jedem Augenblicke schämt u. ärgert." Andrian, der die Bürokratie zum Sündenbock des ganzen „Systems" machte, nannte sie: eine beispiellos komplicirte Regierungsmaschine, ohne alle geistige, überhaupt ohne irgend eine andere Richtung, als die der möglichsten Erhaltung des status quo, welche alle selbstständige Entwickelung des öffentlichen Lebens und der Gemeinden hemmt, und die geringste ihrer Thätigkeiten an tausend Förmlichkeiten, Schreibereien und Plackereien bindet - welche alle Bewegung im Staate an sich gerissen hat, und die geringste, unbedeutendste Handlung der Bürger auf jede nur mögliche Weise überwacht, controllirt, und in den Bereich ihrer Oberaufsicht zieht.7

Dazu kam, daß er verschiedene Male bei einer Beförderung übergangen wurde. Er entschließt sich, den Staatsdienst zu quittieren und Diplomat zu werden. Seine Bitte um Verwendung in der Diplomatie wird ihm aber abgeschlagen. Gegen seinen Willen wird er im November 1839 zum unbesoldeten Kreiskommissär in Pisino, Istrien, ernannt. Um diese Zeit faßt er den Plan für eine oppositionelle Schrift. Am 13. 12. 1839 heißt es in seinem Tagebuch: Schon seit längerer Zeit und noch ehe ich den Gedanken der Diplomatie aufgeben mußte, trage ich einen Plan mit mir herum, der mich ausschließend und mächtig anregt. - und dieser ist ungekannt ein Werk in die Welt zu lanciren, welches Österreichs Lage und wahrscheinliche Zukunft von einem neuen Gesichtspunkte darstellen soll - Ich will Österreich schildern, wahrhaft und sans rancunne, im Gegentheil mit Liebe und Anhänglichkeit an das Land us.

7 Ebd., S. 65-64.

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auch an dessen Herrscherhaus - denn beides liebe ich wirklich, aber als aufgeklärter, sorgsamer in die Zukunft blickender Freund - .

Im Oktober 1840 erlangt Andrian erneut eine Rangerhöhung. Er wird als unbesoldeter Delegationsadjunkt nach Mailand versetzt. Hier entsteht der Hauptteil seiner Schrift Osterreich und dessen Zukunft, der 1847 ein zweiter Teil folgt. Im ersten Kapitel dieses Teils faßt Andrian seine Kritik an den Verhältnissen in Osterreich wie folgt zusammen: Die Schrift: „Osterreich und seine Zukunft", sollte auf die Wunden hinweisen, an welchen unser Vaterland sich zu verbluten droht, - sie sollte darthun, daß das gegenwärtige Regierungssystem zur Auflösung und zum Untergange führe, und den Boden unter unsern Füßen untergrabe - daß die Regierung sich freiwillig aller der Stützen begeben, ja sie planmäßig geschwächt und von sich gestoßen habe, an welche sie durch die Natur der Dinge, durch historisches und positives Recht gewiesen war, um sich auf Institutionen zu fußen, welche aller Garantieen der Fortdauer und der innern Kraft und Berechtigung entbehren Wir sind zu diesem Ende die verschiedenen Stände und Gewalten im Staate ob rechtliche oder faktische - einzeln durchgegangen; wir haben sie nach gewissenhafter Prüfung einzeln auf die Wagschale gelegt und zu leicht befunden Wir haben den Adel in Osterreich gezeichnet, wie er gedrückt, verfolgt, aller politischen Rechte beraubt, gewaltsam zu einer sträflichen und unnatürlichen Gesinnungslosigkeit hingedrängt, erstickt wird von einer übermächtigen Bureaukratie - und dieses Alles im Namen der Legitimität und des historischen Rechtes Wir haben diese Bureaukratie geschildert, wie sie uns erschien, eine verderbliche parasitische Schlingpflanze, eine rein negative Kraft, ohne Wurzel im Volke, ohne eine höhere Bildung, ohne eine andere Gesinnung als die des Egoismus, ohne die Kraft und den Willen, die Regierung im entscheidenden Augenblicke zu stützen Wir haben ferner darzustellen versucht, wie die Armee in Osterreich, welches nie ein Militärstaat gewesen, überdies noch des Bandes einer gemeinschaftlichen Nationalität ermangle, um für sich allein eine hinreichende Garantie für die Stabilität der Regierung abzugeben - wie die finanziellen Zustände Österreichs von der Art seien, daß eine Krisis von dieser Seite in kürzester Zeit bevorstehe, falls in dem gegenwärtigen Systeme beharrt würde - und wie, als natürlicher Folge aller dieser Übelstände, auch die materielle Wohlfahrt des

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Landes den Anforderungen bei weitem nicht entspreche, welche unter den obwaltenden günstigen Verhältnissen und nach Ablauf einer dreißigjährigen Friedensperiode billigerweise gestellt werden können. Nach Erörterung aller dieser Prämissen blieb uns noch übrig die Schlußfolgerung zu ziehen, und wir haben uns nicht gescheut, dieselbe offen auszusprechen: daß eine totale Veränderung des Regierungssystems in Osterreich dringend nothwendig sei, um die Monarchie vor dem Untergange zu bewahren. Die allgemeine Zustimmung hat unsern Ausspruch bekräftiget, - und wir nehmen für uns bloß das bescheidene Verdienst in Anspruch: eine Wahrheit zuerst öffentlich ausgesprochen zu haben, welche längst in den Herzen unserer Mitbürger anerkannt war - ,8 Obwohl Österreich und dessen Zukunft sofort von der Regierung verboten und beschlagnahmt wurde, war die Schrift in allen Kreisen bekannt. Sie hatte eine ungeheuere Wirkung, die durch zahlreiche Reaktionen überliefert ist. Selten [so schreibt ein Zeitgenosse] wird wohl ein Buch so viel Sensation erregt haben, als die in Hamburg vor zwei Jahren erschienene Broschüre: Ostreich und seine Zukunft. - Namentlich in den östreichischen Staaten selbst, war das Interesse, mit welchem dieses Buch gelesen und wieder gelesen wurde, ausserordentlich, und von den höchsten Klassen der Gesellschaft bis zu den niedersten herab, haben die Gegenstände, von denen dasselbe handelt, und die Ansichten, Befürchtungen und Vorhersagungen des Verfassers, den Stoff des Tagsgespräches gebildet.9 Daß diese Wirkung nicht auf Österreich und Deutschland beschränkt blieb, belegen die Übersetzungen ins Französische und Italienische.10 In der Vorrede zur italienischen Ubersetzung wird Andrians Kritik sogar noch gesteigert und das Volk zum Aufstand aufgerufen. Auch in England zeigte man Interesse für die Schrift. Hier wollte Lucy Gordon 1854 eine englische

8 9

Österreich und dessen Zukunft. Zweiter Theil. Hamburg: Ludwig Giese 1847, S. 4 - 6 . [Anonym:] Schattenseiten der östreichischen Staats-Verwaltung und gesellschaftlichen Zustände. Hamburg 1846, S. I.

10 De l'Autriche et de son avenir. Traduit de l'allemand sur la dernière édition. Paris o.J. [1847] enthält eine Übersetzung des ersten und zweiten Teils von „Österreich und dessen Zukunft". L'Austria e il suo avvenire. Bastia 1847 ist eine Ubersetzung des ersten Teils.

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Übersetzung des ersten Teils herausgeben. Diese Übersetzung lehnte Andrian aber mit der Begründung ab, daß der Inhalt mittlerweile veraltet sei,.11 Weil der Verfasser von Osterreich und dessen Zukunft anonym bleiben mußte, sah Andrian sich genötigt, äußerste Vorsicht zu beobachten. So gab er sich nicht einmal dem Mailänder Buchhändler Tendier, den er bat, das Werk in Osterreich zu verlegen, als Autor bekannt. Tendier lehnte aber ab und schlug vor, die Broschüre bei der Firma Hoffmann und Campe, einem bekannten Verlag liberalen Schrifttums in Hamburg, unterzubringen. 12 Nachdem Campe Tendier im Januar 1842 positiv geantwortet hatte15, ließ er eine Weile nichts mehr von sich hören. Erst im August 1842, fast ein Jahr nachdem die Schrift fertiggestellt worden war, meldete er sich wieder.14 Anfang November 1842 kam die erste Auflage von Österreich und dessen Zukunft mit dem Impressum 1843 in den Handel, wobei alle Exemplare nach Osterreich gingen. Dies erfährt man u.a. aus einem Schreiben des österreichischen Schriftstellers Uffo Horn an Campe.13 Mit diesem Trick wollte der Verleger die österreichische Polizei auf die falsche Spur bringen. Bereits nach vier Monaten erlebte die Broschüre eine zweite Auflage und noch im Erscheinungsjahr eine dritte, die ein interessantes Vorwort enthält. Campe beabsichtigte, die erste Auflage zur Leipziger Ostermesse 1842 herauszubringen, gab aber diesen Plan auf, weil er ungünstige Nachrichten über die zu dieser Zeit in Osterreich herrschenden Zensurverhältnisse erhalten hatte. So wurde das Werk erst im November auf den Markt gebracht. Da diese Verzögerung jedem aufmerksamen Leser auffallen mußte - das Büchlein behandelt ja die Zustände in Osterreich bis zum Jahre 1840 - bat Andrian Campe, „er möge in einem kurzen Buchhändler Vorworte dieses Aufschubes als durch eine Reihe von Zufälligkeiten veranlaßt erwähnen." 16 Dieser kam Andrians Bitte nach und teilte in einem Vorwort zur dritten Auflage mit, daß er das Manuskript zwar schon im Spätherbst 1841 erhalten habe, die gesamte Produktion des Verlages aber beim großen Hambur11 12 15 14 15

Tagebuch vom 27. 7. 1854. Ebd., 15. 11. 1841. Ebd., 17. 1. 1842. Ebd., 26. 8. 1842. Vgl. Arnold Winkler: Das Buch der Achtundvierziger Revolution in Osterreich. In: Deutsches Volksblatt Wien vom 25. 12. 1921 und: Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz. Hrsg. v. Karl Glossy (Separatabdruck aus dem Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. Jg. 21-25). Wien 1912, Teil 1, S. 560. 16 Tagebuch vom 14. 1. 1842.

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ger Brand am 5. Mai 1842 vernichtet worden sei. Wie Campe die erste Auflage unbemerkt nach Osterreich schaffte, ist nicht bekannt. In einem solchen Fall schmuggelte man die Contrabande meistens direkt über die Grenze. Man versah sie mit einem harmloseren Titelblatt oder brachte sie in plombierten Transitballen für Firmen in Mailand oder Triest unter, die dann in Osterreich heimlich geleert und mit erlaubten Waren wieder gefüllt wurden.17 Seine Mailänder Beamtentätigkeit befriedigte Andrian nicht sonderlich. Er plante deshalb im November 1841 ein neues Projekt, für dessen Verwirklichung er jahrelang umsonst kämpfen sollte. Er wollte eine Reise nach Mittel- und Südamerika unternehmen, um die dortigen Handelsverhältnisse zu erforschen und zugunsten Österreichs auszuwerten. Es gelang ihm aber nicht, Geldgeber für diese Reise zu finden und er mußte den Plan letzten Endes aufgeben. Inzwischen ging die Verbreitung von Osterreich und dessen Zukunft trotz der Maßnahmen der Polizei weiter. Andrians Avancement vom Delegationsadjunkten zum unbesoldeten Gubernialsekretär beim Mailänder Gubernium am 23. September 1843 deutet daraufhin, daß man ihn nicht als den Autor dieser Schrift verdächtigte. Nachdem ein erneuter Versuch, im diplomatischen Dienst Fuß zu fassen, mißlang, sehen wir ihn 1844 in Wien, wo er zunächst in der Studienhofkommission und dann im italienischen Departement der Hofkanzlei tätig ist. Ende 1845 nimmt Andrian seine publizistische Tätigkeit wieder auf und schreibt neben der anonymen Broschüre HerrM. A. Thiers und seine Geschichte des Consulats und Kaiserreichs (Leipzig 1846) Artikel für Zeitungen, deren Veröffentlichung aber in den meisten Fällen durch die Zensur unterbleibt.18 Im Herbst des Jahres 1846 wird der Autor von Österreich und dessen Zukunft entdeckt. Die Zensur fangt ein Schreiben Andrians an Campe ab, in dem er eine Reise nach Deutschland ankündigt und den Verlag in Hamburg zu besuchen verspricht.19 Zugleich bezeichnet ein Artikel in der Zeitschrift Die Grenzboten Andrian als den Verfasser der verpönten Schrift.20 Dennoch

17 Siehe Hfeinrich] H[ubert] Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftstellerund Verleger. Bd. 1. 2, verbesserte Auflage. Dessau 1925, S. 24. 18 Tagebuch vom 2 5 . 2 . 1846. 19 Ebd., 15. 7. 1846. 20 Die Grenzboten. 5 (1846) II. Sem., Bd. 3, S. 318.

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sandte Metternich erst am 6. April 1847 dem Polizeipräsidenten Sedlnitzky eine Note, in der er um Maßnahmen gegen Andrian bat.21 Andrian wurde verhört und mußte sich zu seinen Schriften bekennen, blieb aber trotz der ihm „zur Last gelegten vereinigten Opposition der Stände von Böhmen und Niederösterreich" unbehelligt. 22 Sedlnitzky, der natürlich schon viel früher von Andrians Tätigkeit wußte, meinte, daß Maßnahmen gegen ihn sinnlos seien. Ahnlich reagierte Hofkammeipräsident Kübeck von Kübau auf Metternichs Bitte u m eine Liste mit Stellen aus beiden Teilen, die ein gerichtliches Vorgehen gegen Andrian rechtfertigen könnten. 25 Kübeck antwortete Metternich im August 1847 in dieser Angelegenheit wie folgt: Es wird immer große Schwierigkeiten darbieten, dem Verfaßer mit solchen herausgerissenen Sätzen mit Erfolg zu Leibe zu gehen. Er kann und wird sich dagegen verwahren, daß man aus einzelnen Stellen seine Gesinnung angreife und wird sich auf zahlreiche, in den zwei Bändchen zerstreut vorkommende Stellen berufen, worin die wärmste Anhänglichkeit an das Kaiserhaus und die wohlklingendsten Wünsche für Österreich's Wohl zu lesen sind. Was diese Pamphlets nach meiner Ansicht als böslich darstellt, ist nicht diese oder jene Phrase, sondern ihre destruktive Tendenz, die ganz ausgesprochen darauf hinausgeht, die Centraigewalt der Regierung in ihrem Organismus aufzulösen, aus der monarchischen Verfaßung eine Art ständischer Republiken zu schaffen, und zu diesem Zwecke das Vertrauen in die Regierung zu schwächen und zu erschüttern, gleichzeitig aber die Stände in eine konjuratorische Verbindung zu setzen.24 Als Maßnahmen gegen Andrian schlug Kübeck vor: Es scheint mir [...] nicht nur keinem Anstände zu unterliegen, sondern im Interesse des Staates dringend geboten zu seyn, den B. Andrian aus der Liste der Kammerherren zu streichen, ihm den Kammerherrnschlüßel abzuneh-

21 Siehe Glanner (Anm. 3), S. 58-59. 22 Zitiert nach Glanner (Anm. 5), S. 61. 23 Siehe Ronald E. Coons: Kübeck and the pre-revolutionary origins of austrian neoabsolutism. In: Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830-1918. Hrsg. von Ferenc Glatz und Ralph Melville. Stuttgart 1987. ( = Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte. Beiheft 15), S. 55-86. 24 Ebd., S. 76.

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men, ihm das Hoflager zu verbieten, und diese Maßregel in der Art kundzumachen, daß Sr. Majestät sich dazu wegen unwürdigen und treuverletzenden Benehmens des B. Andrian bewogen gefunden haben. Diese Verfügung würde ich rathen, so schnell als möglich zu veranlaßen [...] B. Andrian ist ein eitler, dabei ganz verschuldeter Mensch. Gerade auf seine gesellschaftliche Stellung insbesondere bei Hofe, thut er sich unendlich viel zu Gut. Er beutet sie durch seine konjuratorischen Umtriebe bei dem opponirenden ständischen Adel und durch seine Schmähschriften aus, um sich Geldzuflüße zu verschaffen. Ein solches Subjekt wird durch Schande, die verdient über ihn verhängt wird, selbst am empfindlichsten gestraft, und sein Beispiel dadurch am wirksamsten abschreckend erhoben. 23

Allgemein wird eingenommen, daß Andrian zum zweiten Teil der Schrift Osterreich

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von d e n niederösterreichischen S t ä n d e n

veranlaßt wurde, bringt doch dieser Teil im Anhang historische Aktenstücke zur Geschichte des Ständewesens in Österreich. Die Idee für diesen Teil kam aber nicht von den niederösterreichischen Ständen, sondern von dem in Hamburg im Exil lebenden österreichischen Schriftsteller Franz Schuselka und Andrians Verleger Julius Campe.26 Den letzten Anstoß gab ein ungerechtes Vorgehen in der Dienstrangbeförderung. Andrian, der eine Beförderung zum Regierungsrat bei der Hofkammer beantragt hatte, erfuhr, daß sein Hintermann, Leo Graf Thun, befördert worden war. Nachdem Andrian im Juli 1846 den Verlag Hoffmann und Campe in Hamburg besucht hatte, reiste er nach Helgoland weiter. Auf Helgoland machte er Bekanntschaft mit Anton Freiherrn von DoblhoffDier, einem der führenden Köpfe der niederösterreichischen Stände, der sich zufällig auch auf der Insel aufhielt. Hier begann er die Arbeit am zweiten Teil von Österreich

und dessen Zukunft,

f ü r den i h m n e b e n D o b l h o f f

Anton Schmerling, Eduard von Bauernfeld und Egbert Belcredi, ein Verwandter Andrians, das Material lieferten.27 Doblhoff bekam das Kapitel über das Ständewesen sogar zur Durchsicht.28 Im September kehrte And-

25 Ebd., S. 77. 26 Tagebuch vom 15. 7. 1846. 27 Vgl.: Aus Bauernfelds Tagebüchern. 2 Bde. Hrsg. v. Karl Glossy (Separatabdruck aus dem Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 1894). Wien 1895-1896, Bd. 1, S. 132 und Andrians Tagebuch vom 22. 10. 1846. 28 Tagebuch vom 22. 9. 1846.

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rian nach Wien zurück, wo er die Schrift beendete. Sie erschien zu Beginn des Jahres 1847. Die Herausgabe des zweiten Teils komplizierte sich durch das plötzliche Gesamtverbot aller Campeschen Verlagsartikel für Osterreich. Campe ließ den zweiten Teil von Österreich und dessen Zukunft deshalb unter dem Namen der fingierten Firma Ludwig Giese in Hamburg erscheinen. Während die Polizei die Fahndung nach Ludwig Giese in Hamburg aufnahm, brachte Campe die Broschüre über die Grenzen nach Osterreich. Als sie nach Monaten hinter die Wahrheit kam, mußte sie einsehen, daß ein Verbot zwecklos geworden war. Noch im selben Jahr folgte eine zweite Auflage bei Hoffmann und Campe, doch hatte die Schrift nicht mehr die Wirkung wie der vier Jahre vorher erschienene Teil. Dies hängt u.a. damit zusammen, daß Andrian jetzt die Reformen beschreibt, die nach seiner Meinung notwendig waren, den signalisierten Mißständen abzuhelfen. Der breiten Masse, die sich 1843 für die Broschüre interessiert hatte, weil man darin ausgesprochen fand, was jeder dachte, war der zweite Teil dadurch weniger zugänglich. Damals hatte vor allem Andrians detaillierte Darstellung der Finanzlage Österreichs Aufsehen erregt. Hiermit hatte das Volk zum ersten Mal Einsicht in die erschreckend hohe Staatsschuld und deren Ursachen bekommen. Dennoch gelang es Andrian, mit Teil zwei von Österreich und dessen Zukunft die politische Debatte wirksam zu beeinflussen. So machten die niederösterreichischen Stände, die sich besonders in den letzten Jahren vor der Revolution des Jahres 1848 stets stärker gesellschaftlich und politisch engagierten, seine Vorschläge zum Parteiprogramm. 29 Andrians Reformvorschläge lassen sich, wie er schreibt, in „der uralten Panazee", „der ewigen Trias jeder wohlgeordneten Staatsverfassung" zusammenfassen: „Aristokratie, Intelligenz und Munizipalfreiheit." 30 Er wollte nicht auf den Adel in seiner damaligen Form aufbauen, sondern auf eine reformierte Aristokratie nach englischem Vorbild. Diese sollte, durch Reichtum, Macht und fortschrittlichen Geist ausgezeichnet, Kern der nationalen Notabilitäten sein und auch dem Bürger- und Bauernstand offen stehen. Hierdurch sollten die Landstände den Charakter von Volksrepräsentanten

29 Siehe hierzu Viktor Bibl: Die niederösterreichischen Stände im Vormärz. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution des Jahres 1848. Hrsg. von der Gesellschaft fur neuere Geschichte Österreichs. Wien 1911. 50 Österreich und dessen Zukunft (1847), S. 14.

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gewinnen. Die Bürokratie sollte durch begüterte adelige Funktionäre ersetzt und dem Adel so seine ehemalige politische und gesellschaftliche Stellung wiedergegeben werden. Daß dieser die Wiederherstellung seiner einstigen Stellung aus Eigennutz anstrebe, wird von Andrian bestritten. Nach seiner Auffassung ist es die Aufgabe der Führungsschichten, die nun einmal gegebene Ungleichheit der Menschen ins Positive zu wenden und die Interessen der gesellschaftlich Schwachen zu wahren.31 Trotzdem geriet Andrian schon einige Jahre nach dem Erscheinen von Österreich und dessen Zukunft mit dem liberalen Bürgertum, das sich anfangs für ihn begeistert hatte, in Widerspruch. Dieser Umschwung fand seinen Niederschlag erstmals in einem Artikel in den Grenzboten vom Jahre 1845. Darin heißt es: Die Folgen des famosen Buches: „Osterreich und seine Zukunft", zeigen sich jetzt erst. Der liberale, reformatorische Zuckeraufguß, mit welchem jenes Buch seine Mandeln zu versüßen wußte, hat die deutsche Presse verfuhrt; sie hat des Pudels Kern nicht erkannt, die aristokratischen Reactionsprincipien, die darin gepredigt wurden, übersehen. Aber die Auserwählten, die Aristokratie haben das Stichwort darin wohl verstanden, und nun sehen wir in Niederösterreich und Böhmen eine größere Adelsbewegung als seit fünfzig Jahren stattgefunden.32

Die Angriffe gegen Andrian blieben nicht vereinzelt und erreichten ihren Höhepunkt bei Matthias Koch, der in seinem Buch Österreichs innere Politik mit Beziehung auf die Vetfassungsfrage Andrian wie folgt kritisiert: Dreist und zuversichtlich ist in dieser Schrift die so lange festgehaltene Maskenverhüllung aristocratischer Tendenzen abgestreift. Wir schauen das enthüllte Antlitz. Es ist das wohlbekannte des mittelalterlichen Feudaldespoten und Rebellenvasalls, mit den Flammenzügen kupferrother Zornesglut ob der noch immer nicht erfolgten Planverwirklichung seiner Parthei.33 [...] „Osterreich und dessen Zukunft" gehört in die Kathegorie jener frechen Absage-

31 Österreich und dessen Zukunft (1843), S. 27 ff. 32 Die Grenzboten. 4 (1845) I. Sem., Bd. 2, S. 579-580. 33 [Matthias Koch:] Österreichs innere Politik mit Beziehung auf die Verfassungsfrage. Stuttgart 1847, S. 20.

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briefe, welche die trotzigen Vasallen und hohnschnaubenden Raubritter der Feudalzeit an die Landesherren sandten.34

Später wird der Historiker Robert Kann anläßlich der Vorschläge Andrians bemerken, [...] daß viele Reformversuche in Österreich mit der Absicht begannen, die Stände als Mittel und Garanten bürgerlicher und nationaler Freiheiten neu zu beleben und zu modernisieren. Alle diese Bewegungen aber trugen bewußt oder unbewußt zu dem völlig Entgegengesetzten bei - zu der Erstickung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Reformen und zu der Ablenkung nationaler Forderungen in die Sackgasse mittelalterlicher Staatsbegriffe.53

1850 änderte Koch seine Meinung zugunsten Andrians 36 , und schon 1846 hatte einer der wichtigsten Vertreter des liberalen Bürgertums, Franz Schuselka, seine antiaristokratische Haltung aufgegeben. In der Schrift Deutsche Volkspolitik sieht Schuselka - ebenso wie Andrian - im reformistisch gesinnten Adel den Ansatzpunkt gesellschaftlicher Entwicklung und Integration. 37 Verwunderlich ist dies nicht, unterschied sich doch das Programm der niederösterreichischen Stände nicht wesentlich von dem der bürgerlichen Liberalen. Die niederösterreichischen Stände setzten sich aus (wohlhabenden) Gutsbesitzern zusammen, die der Geburt nach adelig waren, der Erziehung und dem Beruf nach oft bürgerlich. Umgekehrt waren in der Bürokratie viele Bürgerüche tätig, die nach entsprechender Dienstzeit geadelt worden waren und es zu wichtigen Staatsmännern gebracht hatten, wie zum Beispiel der Hofkammerpräsident Carl Friedrich Freiherr Kübeck von Kübau. Die Kritik der bürgerlichen Intelligenz an Andrians Reformen betraf im Grunde nur die Wiederbelebung des Ständeinstituts. Ständische Forderun34 Ebd., S. 21. 35 Siehe Robert A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. Bd. 1. 2, erw. Auflage. Graz, Köln 1964, S. 67. 36 Vgl. Mfatthias] Koch: Genesis der Wiener Revolution. Wien 1850, S. 19. 37 Noch 1843 schrieb Schuselka in „Deutsche Worte eines Österreichers" (Hamburg 1843, S. 132): „Der Adel als solcher ist nie eine politische Notwendigkeit gewesen und ist heutzutage das äußerste Gegentheil einer Notwendigkeit"; Franz Schuselka: Deutsche Volkspolitik. Hamburg 1846, S. 78-79.

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gen wie Ablösung von Robot und Zehent und die dafür erforderliche Errichtung von Kreditanstalten, Verminderung der Grund-, Stempel- und Verzehrungssteuer, die vor allem die Bauern und Arbeiter trafen, Einführung einer allgemeinen Einkommenssteuer, Abschaffung der Lotterie, Hebung des Bildungsniveaus der Beamten, Erleichterung der Zensur, Munizipalfreiheit, Gewerbefreiheit und Aufhebung der Schutzzölle dagegen wurden von ihr begrüßt. Seine Interessen setzte der Adel aber nicht freiwillig aufs Spiel. Hinter den Forderungen der Stände, die von der Regierung ignoriert oder abgelehnt wurden und die in breiten Kreisen unbekannt waren - die ständischen Verhandlungen waren ja nicht öffentlich - stand eine wirtschaftlich-soziale Krise des in den Landständen vertretenen Adels und Grundbesitzes.38 Dadurch daß der Grundbesitz in der Ära des mobilen Kapitals ständig im Wert zurückging, ging es dem begüterten Adel wirtschaftlich schlecht. „Viele alte und hohe Familien fielen und verloren sich im Dunkeln der Armuth, durch Glück und Arbeit emporgekommene Bürgerliche traten an ihre Stelle. Schlösser mit berühmten historischen Namen waren Fabriken geworden, in anderen ruhten Kaufleute von den Mühen der Börsenthätigkeit aus." 39 Zwischen zwei Parteien geraten, von oben durch die zentralistisch-bürokratische Struktur des modernen Staates ausgeschaltet, von unten durch das aufstrebende Bürgertum wirtschaftlich überholt und durch einen sich emanzipierenden Bauernstand bedroht, sah der Adel keine andere Möglichkeit, als sich politisch zu engagieren. Nichts konnte die Unhaltbarkeit der damaligen Verhältnisse deutlicher beweisen, „als daß selbst in den todten ständischen Körpern der Geist der Unruhe sich regte und auch Männer, die bei jeder politischen Veränderung an ihren Privilegien verlieren mußten, auf die Beseitigung des herrschenden Systems drangen."40 Ein wichtiger Ausgangspunkt der nationalen und politischen Reformbestrebungen im österreichischen Vormärz bildet das Bestreben der Deutschen in der Monarchie, die historischen Stände zu umfassenden und

38 Siehe hierzu Bibl (Anm. 29) und Jerome Blum: Noble landowners and agriculture in Austria, 1815-1848. A study in the origins of the peasant emancipation of 1848. Baltimore 1948. ( = The Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science. Series LXV, Nr. 2). 39 Anton Springer: Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809. 2 Bde. Leipzig 1863-1865, Bd. 1, S. 165. 40 Ebd., S. 510.

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repräsentativen Institutionen im politischen und nationalen Sinn umzuwandeln. Von der josefinischen Tradition des deutschen Zentralismus geprägt und durch seine Verbundenheit mit dem System der Stände war Andrian ein typischer Vertreter dieser Idee. Nach Andrian führte ein extremer Föderalismus zum Zerfall des Reiches und ein zu strenger Zentralismus zu einer Revolution. Ein Ausgleich zwischen beiden Konzepten war deshalb notwendig. Einerseits sollte es eine starke Zentralgewalt geben, andererseits sollten die einzelnen Kronländer im Reichsrat vertreten sein. Nur so hätten die Autonomie der Kronländer und die Einheit der Monarchie gewährleistet werden können. Osterreich und dessen Zukunft baut auf konservativem wie liberalem Ideengut auf. Diese Ambivalenz setzt sich in der Rezeption der Schrift fort. Sie umfaßt die ganze Bandbreite der politischen Meinungen und spiegelt namentlich in der Bejahung wie Ablehnung der Andrianschen Vorschläge den Kampf zwischen Konservativ-Liberalen (Adel) einerseits und Demokraten und Radikalen (Bürgertum) anderseits um eine zeitgemäße, gesellschaftliche und verfassungsmäßige Reform der Donaumonarchie im Vormärz. Die bürgerlichen Liberalen, die sich für Andrians Forderungen nach Geistesfreiheit, Öffentlichkeit, Selbstverwaltung und Verbesserungen im wirtschaftlichen wie materiellen Bereich begeistern konnten, lehnten ihn als Vorkämpfer einer wiedererstehenden Feudalherrschaft ab. Ein solcher Vorkämpfer war Andrian nur bis zu einem gewissen Grade. Vielmehr sah er im Ständeinstitut ein Mittel zum Zweck, ein Mittel, Fortschritt zu verwirklichen.41 „Und schließlich hänge ich nicht wie Doblhoff am ständischen Princip quand même", stellte Andrian 1847 fest. „Fällt dies über den Haufen, so kömmt etwas anderes, - jedenfalls aber Fortschritt wenn auch ein bißchen stoßweise. Für mich fürchte ich selbst eine Revolution nicht."42 Möglicherweise sah Andrian die Ständeverfassung nur als Uberleitung vom Alten zum Neuen, vom Absolutismus zu einer konstitutionellen Monarchie. So ist zum Beispiel in Österreich und dessen Zukunft die Rede von einer „gegenwärtigen Übergangs-Periode" 43 und von „Selbstregierung".44 Andrian wollte mit seinen Reformplänen das Volk stufenweise mit der Politik vertraut machen und so einer Revolution vorbeugen. Für die Verwirkli41 42 43 44

Vgl. Glanner (Anm. 3), S. 107-108. Tagebuch vom 20. 4. 1847 und vom 7. 3. 1847 - 9. 8. 1847. Österreich und dessen Zukunft (1847), S. 63. Österreich und dessen Zukunft (1843), S. 187.

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chung solcher Pläne war es im Jahre vor der Revolution, in dem die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sich zuspitzten, leider schon zu spät. In allen Schichten der Bevölkerung spürte man, daß es so, wie es war, in der Donaumonarchie nicht lange mehr weitergehen konnte. Die Uberzeugung, daß die Revolution nur noch eine Frage der Zeit sei, steht hinter der Beobachtung des Fürsten Schwarzenberg aus dem Jahre 1846: Die modernen Staatskünstler und Diplomaten kommen mir vor wie Leute, welche emsig bemüht sind, an einem baufälligen Hause, dessen Dachstuhl brennt, in welchem alle Fugen krachen und die Keller voll Wasser stehen mit rastloser Emsigkeit die Fensterläden zu putzen und die Jalousien schön grün zu färben.45

Und ein Jahr später warnte Schuselka: Der Widerspruch zwischen den Grundsätzen der Regierung und den Wünschen und Forderungen der Völker ist in Österreich so groß und umfassend, daß die gefährlichsten Erschütterungen zu befürchten sind, wenn nicht bald eine zeitgemäße und lichtfreundliche Ausgleichung und Versöhnung stattfindet.46

Wie u. a. aus den Tagebüchern des Freiherrn Kübeck von Kübau hervorgeht, war Metternich sich dieser Problematik durchaus bewußt, nur unterließ er es, in der gegebenen Situation das Passende zu tun.47 Die Bereitschaft zum Umbruch des Bestehenden war da. Allein, als die Revolution 1848 ausbrach, arrangierte sich die Bourgeoisie aus Angst vor der Arbeiterklasse, obwohl diese im Vormärz in der Monarchie noch völlig unbedeutend war, mit dem „System". Dadurch, daß die verschiedenen Gesellschaftsschichten theoretisch und politisch so gut wie ungeschult in den Kampf gegangen waren, standen sie den Problemen machtlos gegenüber. In dieser Weise gewann die zunächst überrumpelte Reaktion Zeit für das Entwickeln einer Strategie, die schließlich die Revolution zu Fall brachte. Die nachrevolutionäre Periode war für Andrian eine Zeit der Zuriickset45 Zitiert nach Horst Belke: Autobiographie und Zeitkritik. Friedrich Fürst zu Schwarzenberg als Schriftsteller. Düsseldorf 1971. (= Literatur in der Gesellschaft. Bd. 5), S. 56. 46 Franz Schuselka: Österreichische Vor- und Rückschritte. Hamburg 1847, S. 189. 47 Carl Friedrich Freiherr Kübeck von Kübau: Tagebücher. Hrsg. u. eingel. von seinem Sohne Max Freiherrn von Kübeck. Bd. I. 2, Wien 1909, S. 439.

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zung, des Verkennens seiner loyalen, österreichischen Gesinnung und der gesellschaftlichen und politischen Isolation. Zwar war er durch seine oppositionelle Schrift nach wie vor so bekannt, daß er problemlos ins Frankfurter Parlament gewählt wurde und am 31. Mai 1848 zum zweiten Vizepräsidenten der Nationalversammlung erkoren werden konnte, aber um in diesem Medium zur Geltung zu kommen, war Andrian zu wenig Politiker. Dazu hatte er die aussichtslose Situation in der Paulskirche bereits zu einem Zeitpunkt erkannt, wo es praktisch als Verrat galt, auf die Eingliederung Österreichs im Deutschen Staate verzichten zu wollen. Für Andrian, der während seiner Frankfurter Tätigkeit stets die Osterreichidee über die Idee der deutschen Einheit gestellt hatte, war es eine Erleichterung, als er im August 1848 zum diplomatischen Vertreter des Reichsverwesers und der Frankfurter Regierung in London ernannt wurde.48 In London, wo er wenig ausrichten kann, hält sich Andrian bis Ende des Jahres 1848 auf. Im Januar 1849 zurück in Frankfurt schließt er sich den sogenannten „Kleindeutschen" an, die für ein Nebeneinander von Deutschland und Osterreich eintraten, und entzweit sich dadurch mit den meisten seiner Landsleute. Im März 1849 kehrt er endgültig nach Wien zurück und lebt von da an gesellschaftlich wie politisch isoliert. In Andrians Abwesenheit war der Neoabsolutismus in Österreich zur Blüte gekommen. Trotz seiner Kontakte zu Politikern wie Schwarzenberg, Stadion, Schmerling, Bruck und Bach gelingt es ihm nicht, eine passende Arbeit im Staatsdienst zu finden. Auch mißlingt sein Versuch, dem Kaiser in Olmütz einen Plan über eine neue Bundesakte zu unterbreiten. Diese Erfahrungen drängen ihn erneut in die Opposition. Er schreibt kritische Artikel für den Wiener Wanderer49 und verfaßt die Broschüre Centralisation und Decentralisation in Osterreich, die 1850 in Wien erscheint. Hierin äußert er sich zur oktroyierten Märzverfassung, in der er das zentralistische Element zu stark vertreten findet. In dieser Schrift, die in gewisser Hinsicht als der dritte Teil von Österreich und dessen Zukunß gelten kann, verlangt Andrian den gesamten Apparat einer Föderatiwerfassung und die Sicherung der Selbständigkeit Österreichs als ein eigenes Reich. Schon im Dezember 1848 hatte er seinen Wählern in Wiener Neustadt in einem Sendschreiben vorgehalten: Ich hege die feste Uberzeugung, daß ein großes einiges Ostreich im europäischen und besonders im deutschen Interesse unumgänglich notwendig ist 48 Tagebuch vom 8. 8. 1848. 49 Siehe Glanner (Anm. 3), S. 199.

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und daß dieses Ostreich nicht auf Einer vorherrschenden Nationalität, sondern auf der Gleichberechtigung aller Nationalitäten begründet sein müsse.50 Wie sehr Andrian in Osterreich in Ungnade gefallen war, zeigt u.a. das Urteil der Kammerherrpurifikationskommission, vor der Andrian zu erscheinen hatte. Am 17. Mai 1853 wird ihm die Würde des Kammerherrns abgenommen, allerdings nur wegen seiner vormärzlichen Tätigkeit.51 Gegen seine Arbeit im Frankfurter Parlament und in London konnte nichts vorgebracht werden. Nach einer längeren Reise in den Orient kann er sich schließlich durch die Vermittlung Brucks bei mehreren neuen industriellen Unternehmen beteiligen. Andrian übernimmt die Aufgabe, im Namen der österreichischen Regierung englische Bankiers fiir die Finanzierung der Eisenbahnlinie Wien-Salzburg zu interessieren, kommt 1856 in den Verwaltungsrat für den Bau dieser Bahn und im selben Jahr in den Verwaltungsrat der italienischen Eisenbahngesellschaft, in dem er es zum Vizepräsidenten bringt. Am Ende wird der Verfechter einer feudalen, am Grundbesitz orientierten, ständischen Gesellschaftsordnung ganz im Geist der Zeit ein Exponent des modernen kapitalistischen Industrierittertums, das er 1843 noch kritisiert hatte.52 Im Mai 1858 wird ihm die Kammerherrwürde wiederverliehen, doch bleibt diese Rehabilitierung ohne gesellschaftliche Folgen. Ein halbes Jahr später stirbt Andrian am 25. November 1858 plötzlich an einem Gehirnschlag in Wien und wird auf dem Friedhof von St. Marx begraben. Er ist dann erst 45 Jahre alt. Von den Zeitgenossen wie von der Forschung sind seine politischen Ideen unterschiedlich bewertet worden. Immerhin war Andrian „der erste, der die Idee der,Befreiung' der lokalen Verwaltung von dem Imperium der büreaukratischen Zentralregierung als die wichtigste Maßregel zur Gesundung des geistigen, wirtschaftlichen und nationalen Lebens der österreichischen Völker erkannte und in den Vordergrund politischer Denkweise stellte."53 Deswegen verdient Viktor Franz von Andrian-Werburg als einer der kräftigsten Mitschöpfer des modernen Österreichs anerkannt zu werden.

50 51 52 53

Dieses Sendschreiben ist abgedruckt in der Wiener Zeitung vom 22. 12. 1848. Siehe Glanner (Anm. 5), S. 181-182. Österreich und dessen Zukunft (1843), S. 122 ff. Siehe Josef Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. Bd. I. 2, Exkurse und Anmerkungen. Leipzig 1920, S. 21.

Peter Sprengel

Darwin oder Schopenhauer? Fortschrittspessimismus und Pessimismus-Kritik in der österreichischen Literatur (Anzengruber, Kürnberger, Sacher-Masoch, Hamerling)

JAGGERNAUT

Karlheinz Rossbachers Buch Literatur und Liberalismus (1992) hat einen wenig bekannten Text Ludwig Anzengrubers in Erinnerung gerufen, sein prähistorisches' Märchen Jaggernaut (entstanden vermutlich 1865).1 Darin wird die Vision eines rituellen Massenselbstmords geschildert: im gleichnamigen indischen Heiligtum werfen sich Tausende von Gläubigen, die „Menschenwoge Ein Menschenwoge" herandrängen, vor einen Streitwagen, auf dem das kolossale Kultbild der Göttin daherrollt: Ich sah, wie sie herandrängten an die Räder, wie manche in die Speichen griffen, und wie ein Ruck sie zermalmte, wie andere an dem Rade schoben, und wie sie das herumriß; Blut, Schweiß und Gehirn netzten die Radnaben des furchtbaren Wagens, der in der Furche von zermalmten Leibern unhörbar und erschreckend schnell herankam. Tiefer Schauer ergriff mich, ich taumelte und hielt mich an die Nächsten, die drängend und schiebend vorüberkamen. Wie heißt die Gottheit? fragte ich wirre. Freiheit! Fortschritt! Das klang weich und mild. Ich taumelte an einen dritten und frug ihn das gleiche, und er gab in germanischer Zunge Bescheid, das Wort klang ehern, und es war, als wüchse eine Silbe aus der andern heraus: Entwicklung! 2

1 Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien: J & V 1992, S. 234-237. 2 Ludwig Anzengruber: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Rudolf Latzke u. Otto Rommel. Kritisch durchges. Gesamtausgabe in 15 Bänden. Wien: Schroll 1920-1923, Bd. 14, S. 6 f.

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Mit dieser wissenschaftlich eingefärbten Benennung vollendet sich die Vorwegnahme von Scherers (1870 publiziertem) Diktum, wonach die Naturwissenschaft „als Triumphator auf einem Siegeswagen einher [zieht], an den wir Alle gefesselt sind". 3 Rossbacher nun interpretiert den dunklen und durch die Zusätze der Erstveröffentlichung 4 von 1880 nicht unbedingt aufgehellten Text Anzengrubers als Zeugnis für die Krise des Fortschrittsdenkens, das das Wiener Bürgertum in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfüllt habe. Schon durch den Börsenkrach von 1873 erschüttert, sei dieser Fortschrittsoptimismus spätestens mit dem Ende der liberalen Ära (1879) einer zunehmenden Skepsis gewichen, die im Pessimismus von Schopenhauers Philosophie eine willkommene Stütze gefunden habe. Unter der Überschrift Veränderung, Angst, Skepsis. Schopenhauer in Osterreich bringt Rossbacher in einem früheren Kapitel seines Buchs zahlreiche Hinweise auf eine schon mit den 50er Jahren einsetzende (durch das Erscheinen der Parerga und Paralipomena 1852 ausgelöste) besonders lebhafte regionale Rezeption 5 , die ihr Sprachrohr in Hieronymus Lorm findet, von Rossbacher „das geistige Standbein des Frankfurter Philosophen in Wien" genannt. 6 In seinem Buch Der grundlose Optimismus (1894) sollte L o r m alias Heinrich Landesmann späterhin die Rede vom Fortschritt als eine „Melodie" bezeichnen, die man der „Menschencreatur" zu

5 Wilhelm Scherer: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin: Weidmann 1874, S. 411 (zuerst: Neue Freie Presse 19.6.1870). Vgl. Werner Michler: An den Siegeswagen gefesselt. Wissenschaft und Nation bei Wilhelm Scherer. In: Literatur und Nation. Die Gründung des deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner. Wien: Böhlau 1996 (Literatur in der Geschichte - Geschichte in der Literatur 36). 4 Die letzten drei Absätze, in denen eine Nutzanwendung auf den Sprachenkonflikt in der österreichisch-ungarischen Monarchie gezogen wird („Jaggernaut sei ... ein slavisches Dorf'), datieren vom Februar 1880; vgl. Anzengruber (Anm. 2), Bd. 14, S. 367. 5 Rossbacher (Anm. 1), S. 223-229. Keine näheren Hinweise dazu finden sich in: Bernhard Sorg: Zur literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 1975 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3.F., Bd. 21). 6

Rossbacher (Anm. 1), S. 228. Als Repräsentant des Pessimismus in der damaligen Literatur wird Lorm angeführt in: Realismus und Gründerzeit. Hrsg. v. Max Bucher u.a. Bd. 1.2, Stuttgart: Metzler 1976 (Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880), Bd. 1, S. 127 u. Bd. 2, S. 543-549 (Abdruck seines Essays Contemplative Lyrik von 1874).

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bestimmten Zeiten vorpfeife, um Geschichte, „das Rad der Tretmühle", in Bewegung zu setzen. 7 Anzengruber antizipiert diese Verbindung von Fortschrittskritik und Schopenhauer-Rezeption, denn fraglos ist sein allegorisches Märchen, das so pointiert mit der Nennung des Götzen Fortschritt endet, durch Schopenhauer inspiriert. Das läßt sich an einzelnen Formulierungen ablesen wie der von den „Tausenden von Willen", die die Natur besitze, aber auch schon am indischen Milieu und insbesondere an der Bereitwilligkeit, mit der hier das prinicipium individuationis einer übergeordneten Objektivation des Willens zum Opfer gebracht wird. Rossbacher benennt diesen Zusammenhang auch ausdrücklich, sieht aber zugleich eine andere Verbindung am Werk, diejenige zum damals noch brandaktuellen Darwinismus. 1859 hatte Darwin sein Hauptwerk On the Origin ofSpecies publiziert, die erste deutsche Ubersetzung erschien 1860, und 1863 sollte Haeckel mit seinem Bekenntnis zu Darwins Lehre die Gemüter der in Stettin versammelten deutschen Naturforscher und Arzte erregen. 8 Rossbacher schreibt: „Die Erzählung beginnt mit einer Nachtszene am Ganges, in der eine friedliche Szenerie durch den ,Jagdschrei der verfolgenden und das Aufstöhnen der verfolgten Kreaturen' belebt wird. Das ist ein Aufmerksamkeitswecker und -lenker, ein Hinweis auf das Leben als Kampf ums Dasein im Sinne Charles Darwins". Am Ende seiner Interpretation nimmt Rossbacher nochmals den Bezug zum Darwinismus auf, indem er eine Frage Wilhelm Bölsches zitiert, der ja einen der eifrigsten Propagatoren der Evolutionslehre auf deutschem Boden darstellte. Ist mit dem anderen („germanischen") Namen des Götzen, ist mit dem Schlagwort „Entwicklung" bei Anzengruber auch der Entwicklungsbegriff der Evolutionstheorie gemeint? Wahrscheinlich nicht, doch geht es hier weniger um die Entscheidung dieser Einzelfrage als um die Klärung des grundsätzlichen Problems, das damit verbunden ist. Welche Koalitionen ergeben sich in der zweiten Hälfte 7

Hieronymus L o r m : Der grundlose Optimismus. E n Buch der Betrachtung. Wien: Breitenstein 1894 (Publikationen der literarischen Gesellschaft in Wien 1,4), S. 220. 8 Noch vierzehn Jahre später sollte er den entschiedenen Widerspruch Virchows erfahren. Vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Jürgen Link u. Wulf Wülfing. Stuttgart: Klett-Cotta 1991, S. 212-256.

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des 19. Jahrhunderts zwischen Darwinismus und Schopenhauer-Rezeption als den vielleicht signifikantesten geistigen Strömungen der Epoche, die in ihrer grundsätzlichen Tendenz - pauschal formuliert: Optimismus versus Pessimismus - doch so deutlich auseinanderklaffen? Eine andere Differenz braucht hier nicht sonderlich betont zu werden: die nämlich zwischen Fachwissenschaft und Philosophie. Tatsächlich hatte der Darwinismus zumal in seiner deutschen Vermittlung durch Ernst Haeckel schon bald weltanschaulichen Charakter angenommen. 9 Es ging nicht nur um die Abstammung des Menschen vom Affen, wie sie die Kritiker (aber auch Haeckel selbst) in den Vordergrund rückten, sondern um die grundsätzliche Anerkennimg der Natur als den Menschen übergreifendes, sich selbst regulierendes System. Die Annahme eines externen Gottes war ebenso überflüssig wie ein Begriff des autonomen Geistes; das war die Botschaft jenes Monismus, zu dessen Propheten sich Haeckel aufwarf und mit dem er nicht nur bei der Arbeiterbewegung, sondern auch bei großen Teilen der literarischen Moderne um 1900 starken Anklang fand. In erster Linie natürlich bei den sogenannten Friedrichshagenern. Für Bölsche10, Wille und die Brüder Hart (in ihrer späteren Entwicklung) war Haeckels Aufbereitung des Darwinismus Anlaß für eine zunehmend religiös eingefärbte Feier der Einheit der Natur, der Einheit des Menschen mit der Natur und der Einheit des Menschen selbst als leibgeistiges Doppelwesen. Monika Fick hat die weitere Ausstrahlung des „psychophysischen Monismus" in der Literatur der Jahrhundertwende untersucht: von Hauptmann 9 Vgl. Fritz Bolle: Darwinismus und Zeitgeist. In: Das Wilhelminische Zeitalter. Hrsg. v. Hans-Joachim Schoeps. Stuttgart: Klett 1967 (Zeitgeist im Wandel 1), S. 255-287; Der gerechtfertigte Haeckel. Einblicke in seine Schriften aus Anlaß des Erscheinens seines Hauptwerkes „Generelle Morphologie der Organismen" vor 100 Jahren. Hrsg. v. Gerhard Heberer. Stuttgart: G. Fischer 1968; Walter Gebhard: „Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichms und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1984 (Hermaea 47), S. 299-529; Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte. Hrsg. v. Bodo-Michael Baumunk u. Jürgen Rieß. Berlin: Akademie-Verlag 1994, S. 119-122. Jetzt auch: Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. 10 Vgl. Gebhard (Anm. 9), S. 550-428; Antoon Berentsen: „Vom Urnebel zum Zukunftsstaat". Zum Problem der Popularisierung der Naturwissenschaften in der deutschen Literatur. 1880-1890. Berlin: Oberhofer 1986; Wolfgang Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995.

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bis Rilke, von Hofmannsthal bis Musil.11 Dieter Kafitz ist den ideologischen Implikationen des „Naturmonismus" bei Johannes Schlaf nachgegangen.12 Arno Holz wäre ein weiteres dankbares Untersuchungsobjekt. Man denke nur an den Satz, mit dem sein lyrisch-episches Hauptwerk beginnt: „Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt / war ich eine Schwertlilie." 13 Man denke aber auch an die Beschwörungsformel vom „Zusammenhang der Dinge", auf deren Bedeutung für Philosophie und Literatur des späten 19. Jahrhunderts Walter Gebhard hingewiesen hat. 14 Neben und vor dieser pantheistisch geprägten Naturfreudigkeit oder Naturfrömmigkeit - als direkter Folge der Darwinismus-Rezeption - läßt sich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine andere Linie der Naturauffassung verfolgen. Es ist die Sicht auf die Natur als Kriegsschauplatz, wie sie schon Werthers Brief vom 18. August mit der Formulierung von der „verzehrende[n] Kraft der Natur" eröffnet, „die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte".15 Die romantische Naturphilosophie spricht geradezu vom „bösen Princip" in der Natur; Henrich Steffens rechnet dazu die „furchtbare Leidenschaftlichkeit", den „Zorn, die unbändige Wuth" vieler Säugetiere: „Vor allem aber muß der nachdenkliche Mensch erstaunen über die Grausamkeit, über den Genuß des Zerfleischens, über die furchtbare Lust der mächtigen Raubthiere, wenn sie mit der schwachen und ohnmächtigen Beute ein höhnendes Spiel treiben, und an der verlängerten Qual, an der Angst ein schauderhaftes Vergnügen finden". 16 Aus solchem Natur-Verständnis heraus erneuert Annette von Droste-Hülshoff in einem umfangreichen Gedicht von 184617 das Paulus-Wort

11 Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993 (Studien zur deutschen Literatur 125). 12 Dieter Kafitz: Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Tübingen: Niemeyer 1992 (Studien zur deutschen Literatur 120). 15 Arno Holz: Phantasus. Leipzig: Insel 1916, S. 7. Mit dem gleichen Satz begann das Zweite Heft der Erstausgabe (Berlin: Sassenbach 1899), faksimiliert in: A. H.: Phantasus. Hrsg. v. Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 (Universal-Bibliothek 8549), S. 56 ff. 14 S. Anm.9. 15 Münchner Ausgabe, Bd. 1.2, S. 239 f. 16 Henrich Steffens: Christliche Religionsphilosophie, Zweiter Theil: Ethik. Breslau: Max 1839, S. 76. 17 Annette v. Droste-Hülshoff: Historisch-Kritische Ausgabe, Abt. IV, Bd. 1, hrsg. v. Winfried Woesler, Tübingen 1980, S. 207-209: „An einem Tag wo feucht der Wind", bekannt unter

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vom ängstlichen Harren der Kreatur.18 Wenn Anzengruber vom „Jagdschrei der verfolgenden" und dem „Aufstöhnen der verfolgten Kreaturen" spricht, schließt er hier direkt an. N i e m a n d wohl hat diese naturphilosophisch fundierte Sicht auf die Selbstentzweiung der Natur schärfer formuliert als Schopenhauer, dem sie zum Zeugnis für die eigentlichste Beschaffenheit des „Willens" wurde. Im Zweiten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung heißt es in § 27: So sehen wir überall in der Natur Streit, Kampfund Wechsel des Sieges, und werden eben darin die dem Willen wesentliche Selbstentzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen. Jede Stufe der Objektivation des Willens macht der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig. [...] Die deutlichste Sichtbarkeit ereicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird, d.h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch [...] in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo homini lupus wird. Inzwischen werden wir denselben Streit, dieselbe Ueberwältigung ebensowohl auf den niedrigen Stufen der Objektivität des Willens wiedererkennen. Viele Insekten (besonders die Ichneumoniden) legen ihre Eier auf die Haut, ja, in den Leib der Larven anderer Insekten, deren langsame Zerstörung das erste Werk der auskriechenden Brut ist. Der junge Armpolyp, der aus dem eilten als ein Zweig herauswächst und sich später von ihm abtrennt, kämpft, während er noch an jenem festsitzt, schon mit ihm um die sich darbietende Beute, so daß einer sie dem andern aus dem Maule reißt [...]. In dieser Art liefert aber das grellste Beispiel die Bulldogs-Ameise (bulldog-ant) in Australien: nämlich wenn man sie durch-

dem von Schücking stammenden Titel „Die ächzende Kreatur"; zur Interpretation vgl. Wilhelm Kühlmann: Bibel-Topik und prädarwinistische Naturreflexion in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (1986), S. 417-432. 18 Römer 8, 22.

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schneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- und dem Schwanztheil: jener greift diesen mit seinem Gebiß an, und dieser wehrt sich tapfer, durch Stechen auf jenen: der Kampf pflegt eine halbe Stunde zu dauern, bis sie sterben, oder von anderen Ameisen weggeschleppt werden.19 Man brauchte also gar nicht Darwin zu kennen, u m die lebhafteste Anschauung vom „Kampf ums Dasein" zu haben. So lautete ja die deutsche (vereinseitigende und verschärfende) Version eines zentralen Begriffs der Darwinschen Lehre: „struggle for life". Schon Darwin selbst hatte sich für den uneigentlichen Charakter dieses Ausdrucks entschuldigt. 2 0 Vielleicht war ihm im Ansatz der Übertragungscharakter bewußt, den ihm Marx und Engels zum Vorwurf machen sollten; letzterer notiert in einem seiner Entwürfe zur Dialektik der Natur: „Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes, und der bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz, nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur". 2 1 Wie uns das Schopenhauer-Zitat gezeigt hat, besaß ein solches Verfahren im 19. Jahrhundert durchaus Tradition: mit der Formel „homo homini lup u s " knüpft ja auch Schopenhauer an Hobbes an, und er tut es im Rahmen einer Beschreibung der Verhältnisse in der Natur. Die spätere Analyse des menschlichen Egoismus im 4. Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung vertieft das Hobbes-Zitat und reicht auch die Wendung „bellum omnium contra o m n e s " nach. 22 Sieht man von der entschiedenen Negativ-Wertung ab, mit der dieser Naturzustand bei Schopenhauer versehen wird, so kann man doch eine weitgehende Parallelität im sachlichen Gehalt feststellen: Darwin wie Schopenhauer konstatieren das Walten eines gnadenlosen Konkurrenzkampfs in der Natur, letzterer sieht in der Bestimmung dazu eine natürliche Anlage des Menschen. Indem er somit selbst ausdrücklich den Übergang vom Tierreich auf die menschliche Existenz herstellt, ist Scho-

19 Arthur Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich: Haffinans 1988, Bd. 1, S. 208 f. 20 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Üb. v. Carl W. Neumann. Stuttgart: Reclam 1963 (Universal-Bibliothek 3071), S. 101 f. 21 Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der S E D , Bd. 20. Berlin: Dietz 1962, S. 565. 22 Schopenhauer (Anm. 19), S. 432.

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penhauer - wiederum von der Bewertung abgesehen - den Vertretern des Sozialdarwinismus23 in methodischer Hinsicht näher als Darwin selbst, dem es ja nur um eine Erklärung für die Entstehung der Arten ging. Auch die egoistische Aggressivität in Schopenhauers Naturdeutung findet eher in den zum Klassen- oder Rassenkampf tendierenden Verlautbarungen von Sozialdarwinisten eine Parallele als in Darwins eigener Auffassung des „struggle for life", der die Lebenssituation einer harmlosen Pflanze am Rande der Wüste als Beispiel dient. Das Wirkungspotential der (biologisch gebildeten) Naturphilosophie übersteigt somit in gewisser Weise dasjenige der eigentlichen Naturwissenschaft. In diesem Sinn ist Schopenhauers Naturauffassung folgenreich für die Auffassung des organischen Lebens, auch und gerade des Menschen als Naturwesen bis weit in die Ära der Moderne hinein gewesen. 24 Wir können getrost das Naturbild des Jaggerrtaut-Märchens auf ihre Rechnung setzen, und auch bei den nächsten Autoren, die hier zu erörtern sind, wird sich die Waagschale zugunsten von Schopenhauers Einfluß neigen.

D I E A C H S E N DES OPTIMISMUS UND PESSIMISMUS (UND ANDERE ESSAYS)

Ferdinand Kürnbergers Essay25 Am Grabe eines Selbstmörders oder die Verzweiflung der Heiteren und die Heiterkeit der Verzweifelten (1873) wendet sich gegen einen Optimismus, der von der Wirklichkeit Sinn und die Erfüllung subjektiver Wunschvorstellungen erwartet. Er ist ein Plädoyer für einen lebenspraktischen „Pessimismus", der am Schluß in einem anekdotischen Beispiel erläutert wird. Einem (im obigen Sinn) optimistischen Poeten, der über die Verunstaltung seines Stückes durch den Intendanten verzweifelt,

25 Vgl. Rolf Peter Sieferle: Sozialdarwinismus. In: Darwin und Darwinismus (Anm. 9), S. 154-142; ferner: Bolle (Anm. 9), S. 268-279. 24 So die zentrale These einer 1995 dem Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vorgelegten Habilitationsschrift: Wolfgang Riedel: „Homo Natura". Literarische Anthropologie um 1900. Berlin - New York: de Gruyter 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 7 [241]). Ich verdanke der Lektüre von Riedels Arbeit wesentliche Anregungen. 25 Den Hinweis auf die im folgenden behandelten Essays verdanke ich der Freundlichkeit Hubert Lengauers, der mir auch bei der Textbeschaffung behilflich war.

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wird zur Beruhigung der „schöne pessimistische Gedanke" empfohlen, „daß die Natur im Intendanten waltet, wie sie überhaupt waltet, das heißt dich und deine Zwecke nicht kennt": „Ha, dieser Intendant, wenn du auf einem Balken im Ozean mit ihm triebest, würde dich hinabstoßen, falls er der Stärkere wäre, wie in seiner Kanzlei! In seiner Kanzlei aber hat er dir nur ein paar Szenen gestrichen. Wie glücklich kommst du im Kampfe mit der Naturbestie noch weg!"26 Darwinistische Vorstellungen vom Kampf ums Dasein und dem Uberleben des Stärkeren dienen als Argument für einen Pessimismus, der hier weniger als philosophisches System denn als Lebenseinstellung, ja Lebensklugheit daherkommt. Gleichwohl lassen Kürnbergers Essays der 1860er und 1870er Jahre kaum eine Gelegenheit aus, an die Lehren des „königlichen"27 oder „herrlichen Schopenhauer"28 zu erinnern und „die Lehre des Meisters"29 oder den „geistschweren Wipfel eines Buches wie ,Die Welt als Wille und Vorstellung',,30 zu beschwören. Insbesondere seine Besprechung31 der Wickenburgschen Übersetzung von Shelleys Entfesseltem Prometheus ist angefüllt mit Vergleichen zur Metaphysik und Ethik Schopenhauers, ohne daß doch die fundamentale Verschiedenheit des Dichters und des Philosophen verkannt und die politische Dimension der Tendenzdichtung übersehen würde, als die Kürnberger Shelleys Drama auffaßt und an der er prinzipiell auch nach 1848 - das Datum wird ausdrücklich genannt - festhält. Andererseits gewinnt offenkundig auch die Perspektive Darwins für den Essayisten Kürnberger einige Bedeutung. Obwohl er keines seiner Werke direkt thematisiert und an keiner Stelle zu erkennen gibt, daß er die Evolutionstheorie sozusagen im Urtext studiert hätte, sind verschiedene seiner Feuilletons nur vor dem Hintergrund der Darwinschen Lehre denkbar. Unter der Überschrift Der Mensch und der Ä f f e gibt Kürnberger 1875 einen Überblick über Mythen unterschiedlicher Kulturkreise, die die Verwandlung von Menschen in Affen und umgekehrt zum Gegenstand haben. Er stellt 26 Ferdinand Kürnberger: Fünfzig Feuilletons. Mit einem Präludium in Versen. Wien: Daberkow 1905, S. 540. 27 Ders.: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Wien: Rosner 1877 (Kaysers Bücher-Lexikon), S. 63. 28 Kürnberger, Feuilletons (Anm. 26), S. 221. 29 Ebd. 30 Ferdinand Kürnberger: Gesammelte Werke. Hrsg. v. O. E. Deutsch. Bd. 1-4. München: Georg Müller 1910-1914, Bd. 1, S. 350. 31 Kürnberger, Herzenssachen (Anm. 27), S. 137-147 (Hinweis auf 1848: S. 143).

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dabei fest, daß der erstere Prozeß durchweg schlagartig, der Ubergang vom Affen zum Menschen dagegen als längerer Vorgang vorgestellt wird: „Der Theorie Darwins bleibt dabei fast kaum etwas zu wünschen übrig!" 32 An evolutionsgeschichtliche Fragestellungen erinnert auch Kürnbergers Feuilleton Zur Ethik des Schlachtmessers (1874), das der Frage nachgeht, wie sich der Ubergang zur Tiertötung in der Entwicklung der Menschheit vollzogen habe. Der ethische Blickwinkel freilich, unter dem sich Kürnberger diesem Problem zuwendet, entfernt sich weit von den Bahnen des Darwinismus und lehnt sich eher an die „Philosophie der Weltnot und des Weltelends" an: „Schade, daß Schopenhauer nicht eines seiner stärksten Kapitel aus diesem Thema gemacht hat!" 33 Zweimal hat Kürnberger das Verhältnis von Schopenhauer und Darwin direkt in den Vordergrund gerückt. In seinem Essay Die Achsen des Optimismus und Pessimismus (1867) geht er vom „tragischen Gigantenwitze" aus, mit dem Schopenhauer diese Welt als schlechtestmögliche (d.h. mit einem „Minimum von Gutem und bei einem Maximum von Elend" gerade noch mögliche) gegeißelt habe34, um anschließend einen Passus aus Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866) zu kommentieren. Langes Buch gehörte übrigens zu den wirkungsreichsten zeitgenössischen Multiplikatoren des Darwinismus im deutschen Sprachraum und vermittelte auch Nietzsche die wichtigsten einschlägigen Informationen. 35 Kürnbergers Darwin-Bild dürfte wesentlich durch diese Quelle geprägt sein, wie auch sein halbironischer Ausdruck „der verrufene Materialist Darwin" (s.u.) nahelegt. Im genannten Essay von 1867 nun bezieht sich Kürnberger auf die Erledigung der Teleologie durch die Darwinsche Lehre und das Phänomen einer ungeheuren Verschwendung, das der Biologe beim Studium der Phylowie Ontogenese konstatieren muß: Wenn sich aus tausend Keimen nur ein neues Lebewesen entwickelt und aus tausend Varietäten vielleicht eine auf die Weiterentwicklung der Art Einfluß nimmt, werde das Leben als Zentrum des Naturgeschehens selbst fragwürdig. Eine solche lebenszentrische Perspektive unterstellt Kürnberger aber auch noch dem Schopenhauerschen Pessimisten, der seine Auffassung von der Schlechtigkeit der Welt durch das 52 35 34 35

Kürnberger, Feuilletons (Anm. 26), S. 593. Ebd., S. 382. Ebd., S. 221. Jörg Salaquarda: Nietzsche und Lange. In: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236-255.

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Übermaß des Leidens bestätigt sieht. Eine derartige Sicht werde der Realität ebenso wenig gerecht wie der Egoismus des teleologischen Optimisten, den Kürnbergers Bildsprache mit zeitgenössischer Klassenkampf-Mentalität in Verbindung bringt: „Tausend Proletarier sollten niedergeschossen werden, um den Thron seiner Ichheit zu befestigen. Ganz ernsthaft! Aus dem ungeheuren Keimvorrat der Natur macht man einen Beweis für ihren ungeheuren Lebensdrang, wobei die Eitelkeit die gleichzeitige Vernichtung dieser Keime mit aristokratischer Nonchalance ganz gemütsruhig ignoriert, weil nur ihr eigener Keim zum Leben durchdrang."36 Die Lösung der Aporie findet Kürnberger in einem Indifferentismus jenseits von Schopenhauer und positiven Sinn-Konzepten: „Aus dem heißen Fieber des Optimismus und aus dem kalten Fieber des Pessimismus ist uns gleicherweise Genesung angebahnt in jenem spezifischen Indifferentismus, welchen die Natur gegen uns selbst an den Tag legt [•••]. Abstrahieren wir von uns!" 37 Ein volles Jahrzehnt später geht Kürnberger nochmals auf das Verhältnis von Schopenhauer und Darwin ein, diesmal eher beiläufig und aus äußerem Anlaß, in einer Besprechung (1877) nämlich von Emerich du Monts Buch Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwin's,38 Das Buch gefallt Kürnberger nicht zuletzt wegen seiner lockeren unakademischen Darstellung, die der eigenen feuilletonistischen Schreibart entgegenkommt. Es stammt übrigens - und das scheint nicht unwichtig im Hinblick auf das oben angesprochene Phänomen einer besonderen Schopenhauer-Tradition in Österreich - von einem früheren österreichischen Husarenoffizier. Kürnberger betont diesen Umstand und schreibt dazu: „Die Heimat ist ihm Dank dafür schuldig."39 Wahrscheinlich liegt hier ein Fehler des Setzers oder Vincentis vor, des Herausgebers der Zeitschrift Die Heimat, in der Kürnbergers Rezension erschien. Denn dieser dürfte doch wohl nicht den Dank der Zeitschrift, sondern den des Vaterlands gemeint haben: Osterreich ist seinem Sohn du Mont Dank dafür schuldig, daß er nach seinen militärischen Diensten in so gut lesbarer Form zur Verbreitung Schopenhauerscher Gedanken beitrug!

36 37 38 39

Kürnberger, Feuilletons (Anm. 26), S. 223. Ebd., S. 225. Leipzig: Brockhaus 1876. Ferdinand Kürnberger [Rez.]: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwins. Von Emerich du Mont. In: Die Heimat 1877, II, Nr. 47, S. 775 f., hier: S. 776. Kursiviertes im Original gesperrt.

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Schopenhauers Ansatz steht bei du Mont ebenso wie in Kürnbergers Referat im Vordergrund. Es gibt nur einen äußerlichen Fortschritt der Menschheit, keinen erkennbaren moralischen. In der Gegenwart ist es dem Künstler vorbehalten, auf das Ideal der Gattung hinzuweisen. Sein Idealismus erhält Support durch den „verrufenen Materialisten Darwin" und dessen Lehre, nach der die Gattung sich als ganze weiterentwickle, weshalb das moralische Niveau, das heute nur einzelnen Ausnahmemenschen vorbehalten ist, eines Tages zur Regel werden könne. In pointierter Zuspitzung und nicht ohne ironischen Unterton heißt es: Die Gattungen sind perfectibel! Das ist das große Wort der Darwinschen „Entwickelungstheorie". So wahr die Hypercephalen Schiller, Goethe und Humboldt heute die Minorität, die Börsenagenten aber die Majorität sind, so wahr wird es eines Tages umgekehrt sein. Dann wird ein anderer Diogenes die Gründer, die Jobbers und den ganzen Adam Smith'schen Utilitarier mit seiner Laterne höchstens noch in wenigen Exemplaren finden, wie die Cagots in Frankreich und die Trotteln im Pinzgau; der wirkliche Alltagsmensch aber wird der homme supérieur sein. Kurz, wenn der heutige Künstler der Natur sein Ideal gegenüberstellt, nach Schopenhauer mit dem Worte: Das war es, was du sagen wolltest, so wird er, nach Darwin, dieses Wort stolzer formuliren dürfen: Das ist es, was du sagen wirst! - 4 0

Eine Art Ubermensch Nietzscheschen Zuschnitts scheint sich anzukündigen! Für das moralische Defizit der jetzigen Menschheit dagegen dienen Kürnberger in erster Linie Gründer und Börsenagenten als Beispiel. Er stellt damit selbst eine Verbindung zu einem seiner bedeutendsten Essays her, dem er ein kryptisches Goethe-Zitat zum Titel gab: Ich suche im Nebel meinen Weg (1875).41 Darin setzt sich Kürnberger mit der Zerstörung des alten Wiens durch die Bautätigkeit der Gründerzeit auseinander: im Dialog mit einem imaginären „Master Vorwärts", der gleichsam den internationalen Charakter des Kapitalismus und dessen materiell definiertes - von Kürnberger vehement abgelehntes - Fortschrittsversprechen verkörpert. Und möchtest Du mir sagen, Master Vorwärts, was ist mein Eigentum? Ist nur mein Rock mein eigen oder sind auch meine Empfindungen mein eigen? ver40 Ebd., S. 775. 41 Vgl. die Interpretation Rossbachers (Anm. 1), S. 229-254.

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stehst Du Leben und Eigentum nur im materiellsten Sinne? Wohl! Das ganze Dasein ist ein Stand der Not und die materiellen Interessen sind weitaus die wichtigsten. Aber doch nicht die einzigen? Denn wie sehr das materielle Platzbelegen das Rennen und Jagen unser aller ist, so ist doch immer auch ein kleines fumet von Verruf dabei und es klingt nicht gut, materiell zu sein. 42

Die Ablehnung eines sozialdarwinistischen Materialismus und eines darauf gegründeten Fortschrittsbegriffs ist eindeutig.

DAS VERMÄCHTNISS KAINS ( D E R

WANDERER)

Als „Naturgeschichte des Menschen" hat Kürnberger Leopold v. SacherMasochs Novelle Don Juan von Kolomea (1865) gepriesen. 43 Novelle und Würdigung fanden Aufnahme in Sacher-Masochs großangelegtem, freilich unvollendetem Zyklus Das Vermächtniß Kains. 1870 erschien in zwei Bänden der erste Teil: Die Liebe, 1877 folgte als zweiter und letzter Teil, wiederum zweibändig: Das Eigenthum. Geplant waren weitere Teile über den Staat, den Krieg, die Arbeit und den Tod. Im narrativ gestalteten Prolog mit dem Titel Der Wanderer, den Sacher-Masoch seinem Zyklus voranstellte, ist von sechs „Todsünden" die Rede: Und diese sechs: die Liebe, das Eigenthum, der Staat, der Krieg, die Arbeit und der Tod sind das Vermächtniß Kains, der seinen Bruder schlug und seines Bruders Blut schrie gegen Himmel, und der Herr sprach zu Kain: Du sollst verflucht sein auf der Erde, und unstät und flüchtig.44

Gesprochen wird dies vom „Wanderer" selbst, einer unheimlichen Figur vom Format und mit den Zügen eines alttestamentarischen Propheten: „ein Greis von riesigem Gliederbau, barhaupt, mit wallendem weißen Haupthaar und strömendem weißen Barte und weißen Brauen, und großen, dro-

42 Kürnberger, Feuilletons (Anm. 26), S. 597. 43 Kürnbergers Vorwort bzw. Vorrede ist nachgedruckt in: Leopold v. Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hrsg. v. Michael Farin. Bonn 1985 (Bouviers Bibliothek 5), S. 187-194. Die zitierte Formulierung bildet jeweils die Schlußpointe. 44 Ebd., S. 16.

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henden, finstern Augen". 45 Eine umfangreiche Fußnote nimmt die Aura dieser Erscheinung ins Volkskundlich-Sektengeschichtliche zurück, indem sie über die Lebensgewohnheiten und Anschauungen der russisch-orthodoxen Sekte der „Wanderer" berichtet. Den Reden des Wanderers selbst eignet eine ähnliche Ambivalenz. Neben dem religiösen Pathos, das wir schon kennengelernt haben, beherrscht er auch den rezenten Diskurs des Sozialdarwinismus. Er bezeichnet den Menschen als Bestie, und zwar als „die vernünftigste, blutgierigste und grausamste aller Bestien". 46 „Was ist der Krieg", fragt er, „als der Kampf um das Dasein im Großen"; die rhetorische Frage bildet nur die Konsequenz aus nachfolgender darwinistisch unterfütterter Argumentationskette, die übrigens geeignet ist, uns das unterschwellige kolonialistische Bedeutungspotential des scheinbar so freundlichen Worts „Entwicklungsland" zu Bewußtsein zu bringen: Die Völker, die Staaten sind große Menschen, und gleich den kleinen beutelustig und blutgierig. Freilich - wer kein Leben schädigen will - kann ja nicht leben. Die Natur hat uns Alle angewiesen vom Tode anderer zu leben, sobald aber nur das Recht auf Ausnützung niederer Organismen durch die Nothwendigkeit, den Trieb der Selbsterhaltung gegeben ist, darf nicht allein der Mensch das Thier in den Pflug spannen oder tödten, sondern auch der Stärkere den Schwächeren, der Begabtere den minder Begabten, die stärkere weiße Race die Farbigen, das fähigere, gebildetere, oder durch günstige Fügungen mehr entwickelte Volk das weniger entwickelte.47

Keine Frage also, Sacher-Masoch kannte, wenn nicht Darwins Schriften selbst, so doch die damals gängigen sozialen Applikationen seiner Lehre. Sie werden jedoch nicht als naturwissenschaftlicher Sachverhalt, sondern als religiös-moralisches Urteil formuliert. Die Position, von der aus hier geurteilt wird, hegt nahe bei der Schopenhauers. Darauf verweisen schon die beiden großen Erkenntnisse, die der Wanderer preisgibt: daß diese Welt eine „schmerzliche Prüfung" sei und der höchste Genuß nicht mehr bedeute als „nur eine Erlösung von nagendem Bedürfniß".48 Schließlich die 45 46 47 48

Ebd., S. 8. Ebd., S . l l . Ebd., S. 14. Ebd., S. 11 f. Vgl. Schopenhauers Feststellungen, „daß der Schmerz als solcher dem Leben wesentlich und unausweichbar ist" und „daß alles Glück nur negativer, nicht positiver

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Figur des Eremiten selbst: als Symbol der Entsagung, der Überwindung des Willens. Zu beachten aber ist auch der Rahmen, in den Sacher-Masoch das Gespräch zwischen Wanderer und Ich-Erzähler einbettet. Die Erzählung beginnt mit der Schilderung eines Jagdausflugs; in dem Moment, als der geschossene Adler zu Boden stürzt, erklingt der Ruf „Kain! Kain!" und tritt der Wanderer aus dem Wald. Nach seinem Weggang wird dem geläuterten Ich-Erzähler ein neues nicht-aggressives, vielmehr mystisches Natur-Erleben zuteil. Mit Schopenhauer begreift er Tod und Leben als „Wandlungen des Daseins", die Pflanzen verraten ihm das Geheimnis von Werden und Vergehen, und schließlich wird er der Gottheit des Lebens (oder des Willens) selbst ansichtig, wie in Jaggernaut vorgestellt als weibliche Gottheit, als Magna Mater: Und mir war als stände ich der finsteren, schweigenden, ewig schaffenden und verschlingenden Göttin gegenüber und sie begann zu mir zu reden: [...] „Ich bin deine Mutter, ewig, unendlich, unveränderlich, wie du selbst durch den Raum begränzt, der Zeit hingegeben bist, sterblich, wandelbar. „Ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben. Ich weiß nichts von deiner Angst und dein Tod oder dein Leben sind mir gleichgültig. [...] Du - wie sie alle, ihr kommt von mir und kehrt zu mir zurück, früher oder später.49

Unversehens sind wir damit mitten in der Thematik der Novellen des ersten Teils dieses Zyklus wie eines Großteils von Sacher-Masochs Erzählwerk überhaupt: Durch das gleichgültige Antlitz der Magna Mater schimmert der Typus der grausamen Frau hindurch, die diesen Autor aufgrund seiner eigenen erotischen Fixierung immer wieder beschäftigt hat, ob sie nun Wanda heißt oder Katharina die Große. 50 Nicht zufällig heißt der ,klas-

Natur ist, daß es eben deshalb nicht dauernde Befriedigung und Beglückung seyn kann, sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst" (Werke, Anm. 19, Bd. 1, S. 411 u. 417). 49 Sacher-Masoch (Anm. 43), S. 17. 50 Seine nachgelassenen Novellen wurden 1901-1905 in 5 Bänden unter dem Titel Grausame Frauen herausgegeben. Die erweiterte Neuauflage von 1907 (Leipzig: Leipziger Verlag) umfaßt 6 Bände.

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sische' Text für die von Sacher-Masoch inszenierte Perversion 51 Venus im Pelz?2 Die vielfach nur mit Pelz, d.h. Raubtierfell, bekleidete Frau erweist sich wieder und wieder als gnadenlose Bestie: „Ihre Pupillen erweiterten sich, ihre Nasenflügel zitterten, und wie sie sich sanft an ihn schmiegte und ihn zu küssen begann, fletschte sie die Zähne, ein graziöses Raubthier in seiner vollen entfesselten Grausamkeit." 53 Der Geschlechterkampf wird zum Modell eines universalen „Kampfs ums Dasein". In Der Capitulant, einer weiteren Erzählung aus dem ersten Teil des Kains-Zyklus, formuliert der Ich-Erzähler die Einsicht: „Alles beugt sich der Nothwendigkeit, jedes Lebendige fühlt wie traurig das Dasein und doch kämpft Jedes verzweiflungsvoll darum und der Mensch kämpft mit der Natur, mit dem Menschen und der Mann mit dem Weibe und ihre Liebe ist auch nur ein Kampf ums Dasein." 54 Im Lichte solcher Verallgemeinerungen wird freilich der Status des Prologs problematisch. Das Sündenfall-Modell, das dem Diskurs des Eremiten zugrunde liegt, setzt grundsätzlich sowohl einen ursprünglichen Zustand der Unschuld wie die Möglichkeit einer künftigen Erlösung voraus. Die Anklänge an den Darwinismus und der Hinweis auf grundlegende Notwendigkeiten der menschlichen Natur stehen in einer unübersehbaren Spannung dazu. Denn wie wäre der Hunger (nach Besitz bzw. Nahrung) oder die Sexualität außer Kraft zu setzen? Nicht zufallig überspringt der Plan des Gesamtwerks, den Sacher-Masoch Anfang 1869 seinem Bruder Karl mitteilt, gleich diese ersten Teile, u m direkt auf die Themenkreise Staat, Krieg und Arbeit einzugehen. 55 Letztere soll in der sittlich organisierten Gesellschaft gerechter verteilt und insgesamt vermindert werden. Ihre Bewertung schwankt zwischen Fatalismus und Leistungsethos: „Die Arbeit ist unser Tribut an das Dasein: wer leben und genießen will, muß arbeiten. Und in der Arbeit und in dem Streben liegt überhaupt alles das, was uns vom Glück gegönnt ist. Nur im männlichen, muthigen Kampfe u m das Dasein kann man es überwinden." 56 51 Vgl. Albrecht Koschorke: Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion. München: Piper 1988 (Serie Piper 928). 52 Die Neuausgabe des Insel-Verlags (Frankfurt a.M. 1968) erschien 1980 als Taschenbuch (mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze). 53 Sacher-Masoch (Anm. 43), S. 149 (aus: Die Mondnacht). 54 Ebd., S. 97. 55 Ebd., S. 177-179. 56 Ebd., S. 15.

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Den Schluß des Ganzen sollte dem Brief an den Bruder zufolge die (ungeschriebene) Novelle Die heilige Nacht bilden. Der Gekreuzigte dient als „Symbol der Erlösung durch die Entäußerung des Egoismus": „Christus, der Mensch ohne Geschlechtsliebe, ohne Eigentum, ohne Vaterland, ohne Streit, ohne Arbeit, der freiwillig stirbt". 57 Auch die beiden vorliegenden Teile des Zyklus werden von Novellen beschlossen, die für das jeweilige Problem eine positive Lösung anbieten: „So endet der Komplex Liebe im Märchen vom Glück, das einen Gutsherrn und eine seelenreine Bauerntochter, die er geistig und moralisch heranbildet, in einer harmonischen und gleichberechtigten Verbindung zeigt. Das Problem des Eigentums wird in der Novelle Das Paradies am Dniester auf dem Weg einer Art staatssozialistischer Arbeitsrepublik unter Aufhebung des Erbbesitzes gelöst." 58 Fortschrittliche Ideale, die doch einer latenten Moderne-Kritik entspringen und deren Verwirklichung anscheinend nur abseits der Zentren der abendländischen Zivilisation möglich ist. In der letztgenannten Erzählung gibt es eine aufschlußreiche Diskussion zwischen einem Franzosen, einem Deutschen und einem Russen, der von seinen Studien in Westeuropa als „vollendeter Nihilist" zurückgekehrt ist. Der Franzose Lenötre äußert sich als Anhänger des zivilisatorischen Fortschritts, der Deutsche Felbe zeigt Bewußtsein für die damit verbundenen Probleme und Interesse am Naturzustand, dem Russen Popiel bleibt es vorbehalten, im Rückgriff auf primitive Sozialformen seines Landes eine zukunftsweisende Perspektive zu entwickeln : Felbe erhob sich ein wenig auf seinem Stuhl. „Erlauben mir, Gräfin, mir scheint daß in dem Maße, in welchem mit der Kultur die Dichtigkeit der Bevölkerung und der Luxus zunehmen, auch um so mehr, ein Mensch dem anderen das Leben streitig macht. Je näher wir uns dem Naturzustande befinden, um so geringer sind die Bedürfnisse, um so weniger giebt es wirkliche Armuth und um so mehr findet der Mensch beim Menschen Hülfe statt Bedrängniß." Lenotre brauste auf. „Loben Sie mir doch nicht den Naturzustand, dieses goldene Zeitalter bestand nur darin, daß Alle gleich roh und gleich arm waren. Die Menschheit ist fortgeschritten, nicht immer gleich rasch, aber wir haben einen ganz respektablen Weg zurückgelegt von der Rohheit, Willkühr, Skla57 Ebd., S. 178 f. 58 Koschorke (Anm. 51), S. 53 f.

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verei, Unsittlichkeit, zur Bildung, zum Rechte, der Freiheit und der Moral." „Wozu ereifern Sie sich," spottete Popiel, „was liegt denn am Ende daran, ob die Menschheit fortschreitet oder zurückgeht? [...] Ich würde alles nach dem Muster der russischen Bauerngemeinde einrichten. [...] „Die Instincte der russischen Race", schrie Popiel auf, „sind mehr werth, als Eure ganze europäische Civilisation. Ueberhaupt haben wir schon zu viel Vergangenheit, Geschichte, Kunst, Alles muß zerstört werden, eine neue, jugendfrische Welt wird entstehen - 1 ' 59

Wie auch immer man zu den Nationalitäten-Klischees steht, die hier abgerufen werden: wir beginnen zu verstehen, warum Sacher-Masoch stets seine - schon durch die Milch der Amme vermittelte60 - Zugehörigkeit zum slawischen Kulturkreis zu betonen pflegte. Angesichts der Alternative von Naturzustand und zivilisatorischem Fortschritt scheint ihm das Slawische einen dritten Weg zu versprechen, der die sinnliche Befriedigung des einen mit der Humanität des anderen verbindet. Soweit er sich auch mit solchen sozialreformerischen, ja -revolutionären Spekulationen von der Position Schopenhauers entfernt, so nahe bleibt er dieser doch in der Thematisierung der Sexualität. Und zwar an beiden Polen des Spektrums: in der Forderung nach Entsagung, wie sie die Figur des Wanderers vorlebt, und in der Darstellung sexueller Exzesse und Abhängigkeiten, wie sie für diesen Erzähler charakteristisch sind. Auch für den Philosophen Schopenhauer ist der Mensch als Naturwesen in erster Linie Geschlechtswesen. Mit einer Rigorosität, die für die Philosophie der idealistischen Epoche bemerkenswert ist, erklärt er in einem der Metaphysik der Geschlechtsliebe vorausgehenden Kapitel seines Hauptwerks, der Mensch sei wie jede Pflanze und jedes Tier „konkreter Geschlechtstrieb": da seine Entstehung ein Kopulationsakt und der Wunsch seiner Wünsche ein Kopulationsakt ist, und dieser Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuirt und zusammenhält. Der Wille zum Leben äußert sich zwar zunächst als Streben zur Erhaltung des Individuums; jedoch ist dies nur die Stufe zum Streben nach Erhaltung der Gattung [...]. Daher ist der Geschlechtstrieb die vollkommenste Aeußerung des Willens zum Leben, sein am deutlichsten ausgepräg59 Sacher-Masoch: Das Eigenthum. Novellen. Bern: Frobeen 1977 (Das Vermächtniß Kains II), Bd. 2, S. 540 f. 60 Vgl. Koschorke (Anm. 51), S. 20.

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ter Typus: und hiemit ist sowohl das Entstehen der Individuen aus ihm, als sein Primat über alle andern Wünsche des natürlichen Menschen in vollkommener Uebereinstimmung.61

HOMUNCULUS

Es ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar zwischen dieser Bestimmung des Menschen als zeugungswütiges Zeugungsprodukt und der Hauptfigur des Textes, der den hier unternommenen Uberblick über die Koalition von Fortschrittskritik, Schopenhauer- und Darwin-Rezeption in der österreichischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschließen soll. Denn Homunculus, der Titelheld von Robert Hamerlings gleichnamigem „modernem Epos in zehn Gesängen" (1888) ist kein Zeugungsprodukt und zu erfolgreicher Fortpflanzung unfähig. Er ist ein Retortenprodukt wie schon sein Namensvetter in Goethes Faust II, auch wenn er beim zweiten und für den Fortgang der Geschichte entscheidenden Experiment von einer,echten' Frau ausgetragen wird. Im außerordentlichen Erfolg, der den vielfaltigen Aktivitäten dieses künstlichen Menschen beschieden ist, spricht sich Hamerlings Todesurteil über die moderne Gesellschaft und die in ihr wirksamen Tendenzen und Mechanismen aus. Dieses Urteil lautet: Seelenlosigkeit. Nur weil Presse und Literaturbetrieb, Kapitalismus und Politik einer echten Fundierung im Seelischen entbehren, kann Homunculus (auch „Homunkel" oder kurz „Munkel" genannt) als Mensch ohne Seele derart reüssieren. Im Laufe des Epos verschiebt sich allerdings die Perspektive: aus einer Universalsatire auf die Moderne wird die Tragödie einer nur-intellektuellen Existenz, die an den Grenzen ihrer eigenen Veranlagung scheitert und erst im Scheitern den Wert dessen, was ihr fehlt, zu begreifen vermag. „Warum konnten wir nicht lieben", 62 sagt Munkel im Sperrdruck zur Leiche der Frau, die ihm der epische Dichter als weibliche Entsprechung zugedacht hat. Denn Lurlei, die Nixe vom Rhein, ist ebenso seelenlos wie ihr Gatte (dem sie übrigens mehrfach untreu wird) und kann ihm nur ein Kind ohne Herz gebären. Als

61 Schopenhauer (Anm. 19), Bd. 2, S. 596 f. 62 Hamerling: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Michael Maria Rabenlechner. Bd. 1-16. Leipzig: Hesse & Becker [1911], Bd. 12, S. 225.

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weitere Untote oder eigentlich Unlebendige bevölkern der Fliegende Holländer und der Ewige Jude das Werk - letzterer natürlich ein Selbstzitat aus Hamerlings Epos Ahasverus in Rom (1866). Man hat die „Mythisisierung der Gründungsidee" als zentrale Tendenz des Homunculus bezeichnet.63 Tatsächlich ist Munkel in jedem Gesang mit einem neuen Projekt beschäftigt, das auf seine eigene Initiative zurückgeht. Der 3. Gesang Der Billionärbeginnt sogar mit dem Wort „Gründer": G r ü n d e r eines U n t e r n e h m e n s , Welches großen A u s f u h r h a n d e l Trieb m i t irischen R e g e n w ü r m e r n N a c h d e m steinigen Arabien, W u r d e M u n k e l . E i n e Zeit w a r ' s W o es schneite W e r t p a p i e r e ,

Hamerling spielt hier offenbar auf den sog. Gründerschwindel an. Eine engere Beziehung auf das zentrale ideologische Projekt der deutschen Gründerzeitliteratur: die Mythisierung der Reichsgründung von 1871, scheint mir dagegen problematisch. Das Charakteristische an der Inszenierung dieses Ereignisses - vom offiziellen Zeremoniell bis hin zu den diversen Verklärungen in bildender Kunst und Literatur - war ja gerade die Behauptung einer substantiellen Kontinuität, die Illusion von einer translatio der mittelalterlicher Reichstradition in die Gegenwart oder gar einer Weiterführung altgermanischer Selbstherrlichkeit (wie in Freytags Ahnen oder in Dahns Kampf um Rom). Nichts davon findet sich in Homunculus; die Hauptfigur des Epos bekennt sich geradezu als „Reinste Stoff- und Kraftnatur / [ . . . ] / Frei vom Wüste des Vererbten".65

63 Hugo Aust: Die Mythisierung der Gründungsidee. Robert Hamerlings ,Homunculus' auf dem Hintergrund der epischen Produktion um 1870. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Helmut Koopmaim. Frankfurt a. M.: Klosteimann 1979 (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts 36), S. 263-275. Vgl. auch Catrin Seefranz: Die schöne Nation. Robert Hamerlings ästhetische Reichsgriindung. In: Literatur und Nation (Anm. 3). 64 Hamerling, Werke (Anm. 62), Bd. 12, S. 30. 65 Ebd., S. 220.

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In enger Verbindung mit der faustischen Unrast dieses traditionslosen Helden steht auch die Thematisierung des Darwinismus in Hamerlings Epos. Einmal wird direkt eine Namensreihe gebildet: „Darwin" „Haeckel" - „Büchner" (gemeint ist natürlich Ludwig Büchner, der Verfasser von Kraft und Stoff) - und abschließend: „Faust". 66 Der spektakuläre Luftschiff-Flug Munkels, mit dem das Werk endet, ist angeblich nur möglich aufgrund von Erkenntnissen des Darwinismus: Und die Taue, die den Luftball Mit dem Riesenschiff verbanden, Diese waren das Erzeugnis Einer Art von Riesenspinnen, Welche Munkel unverdrossen Allgemach im Lauf der Jahre Nach Darwinschen Prinzipien Aus der stärksten Art von Spinnen, Die wir kennen, aufgezüchtet Bis zu einer Riesenrasse, Welche Riesentaue spann, Dick und stark und unzerstörbar. 67

Strenggenommen liegt hier natürlich eine Verwechslung der „künstlichen" mit der „natürlichen Zuchtwahl" vor. Hamerlings Anspielungen auf Darwin und seine Lehre erweisen sich insgesamt als recht oberflächlich und durch keinerlei nähere Kenntnis getrübt. Darwinismus reduziert sich im Homunculus weitgehend auf das, was Benn einmal abfallig „diese alberne Affenabstammungsgeschichte" nannte.68 In dem von Munkel und Lurlei gegründeten Musterstaat Eldorado ist das Familienleben auf „Zuchtwahl" 69 gegründet und sind alle Feiertage abgeschafft - bis auf „das große ,Affenschwanzfest'":

66 Ebd., S. 138. 67 Ebd., S. 209 f. 68 Gottfried Benn: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Dieter Wellershoff. Bd. 1-8. Wiesbaden: Limes 1960-1968, Bd. 7, S. 1639. Thom, der im Gespräch als Sprachrohr des Autors dient, sagt dort: „Laß doch diese alberne Affenabstammungsgeschichte. [...] Der Darwinismus bedeutet ja schließlich etwas ganz anderes." 69 Hamerling, Werke (Anm. 62), Bd. 12, S. 102.

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Einen Tag und eine Nacht lang Tummelte mit aufgebundnen Affenschwänzen in den Wäldern Sich, zum ewigen Gedächtnis Ihrer Herkunft und Verwandtschaft, Fröhlich, fessellos die Menge.70

Nach dem Scheitern seiner Staatsutopie versucht sich Munkel an einem Bildungsprojekt, dem der ganze 7. Gesang gewidmet ist. Die Wahl der Auszubildenden ist von Reminiszenzen an den Darwinismus gesteuert. Denn Munkel gründet eine Affenschule: Zu vernünftigen Geschöpfen Würden sie sich bald entwickeln, Dacht' er, wenn man ihnen gäbe, Was bisher sie schwer entbehrten: Sprache, Wissenschaft, Erziehung! War die Menschwerdung des Affen Denn ein Traum? War dargetan sie Nicht geschichtlich als gelungen In dem Lauf der Jahrmillionen Auf dem Wege der Entwicklung? Jetzt auf kürzerm, rascherm Wege Den Prozeß zu wiederholen, Zu vermenschlichen den Rest auch Dieser altehrwürd'gen Rasse Munkels genialer Plan war's.71

Der Plan geht natürlich schief, jedenfalls letzten Endes. Damit ist gewiß keine Widerlegung des Darwinismus bzw. der Lehre von der Abstammung des Menschen intendiert, zumal ausdrücklich die Verschiedenheit eines sich über Jahrmillionen erstreckenden evolutionären Prozesses von den kurzfristigen Anstrengungen der Pädagogik betont wird. Die Affen, die sich als außerordentlich lernfähig erweisen und bald die Menschen von allen künst-

70 Ebd., S. 100. 71 Ebd., S. 122.

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lerischen und intellektuellen Führungspositionen zu verdrängen drohen, dienen vielmehr als Spiegelbild der besonderen Problematik Munkels und der allgemeinen der Epoche. Intelligenz und Gemüt klaffen in ihrem Entwicklungsstand weit auseinander; die erstaunlichen Fähigkeiten des Verstandes werden durch das Fehlen der Seele radikal entwertet. Nur am Rande sei erwähnt, daß das Affenvolk, das sich bald selbständig macht und im Affen Dr. Krallfratz seinen eigenen „Darwin" findet, einen Versuch zur Selbstaufwertung qua Züchtung unternimmt. Um sich auch den Luftraum anzueignen, kreuzt man einen Affen mit einem Drachen. Die Frucht dieser Verbindung heißt Drako und erweist sich als ausgesprochen unleidlich; als mißlungenes Produkt eines Experiments bildet sie ein Pendant zu Munkel, vielleicht sogar eine Parodie auf ihn, mit dem sie sich zu seinem abschließenden Flug-Unternehmen verbündet. Wir können damit bereits eine erste Zwischenbilanz ziehen. Hamerlings Epos, dessen erstes Teilstück übrigens schon 1883 erschien und das bereits 1887, also vor dem ausgedruckten Erscheinungsjahr, ausgeliefert wurde, erweist sich als eine Generalabrechnung mit den Tendenzen des 19. Jahrhunderts und schließt sich als Manifest einer vehementen Fortschrittskritik direkt an die bisher behandelten Texte an. Auch darin, daß hier auf die zeitgenössische Auffassung der Natur Bezug genommen wird. Während aber Anzengrubers scheinbarer Darwin-Rekurs und Sacher-Masochs offensichtliche Anleihen beim Sozialdarwinismus nur als Argument gegen bestimmte wahrgenommene oder gefürchtete Entwicklungen dienen (und nicht als solche thematisiert werden), rückt der gesamte Komplex des Darwinismus bei Hamerling selbst in den Vordergrund: als Paradigma eben jenes Zeitgeistes, gegen den sich die satirische Tendenz des Epos richtet. Ähnliches widerfahrt nun auch dem zweiten geistigen Bezugsfeld, dessen Ausstrahlung uns hier beschäftigt: der Philosophie Schopenhauers.72 Von ihren Vorgaben ist offenbar der Fortschrittspessimismus in Anzengrubers Jaggernaut und in Sacher-Masochs Der Wanderer bestimmt. Dieser diskreten Wirksamkeit steht in Hamerlings Homunculus die demonstrative Bezugnahme gegenüber. Doch wie im Falle des Darwinismus ist dieser of72 Die prekäre Beziehung Hamerlings zu Schopenhauer, als dessen Schüler der von vielen Zeitgenossen verstanden wurde, zu dem er sich aber durchweg kritisch geäußert hat, referiert Ingrid Krauss: Studien über Schopenhauer und den Pessimismus in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bern: Paul Haupt 1931. Repr. Nendeln/Liechtenstein: Kraus 1970, S. 136-144.

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fene Bezug nicht affirmativer Natur; vielmehr verfällt auch Schopenhauer der satirischen Kritik des Epikers Hamerling. Dabei geht es natürlich nicht um die Person des Philosophen, sondern seine Wirkung. Die Breitenwirkung des „Pessimismus" als Modeströmung wird eingangs des 9. Gesangs in grotesker Überspitzung geschildert: die Bäume hängen voller Selbstmörder, scharenweise ziehen die Lebensmüden zu den Teichen, und auf der Straße ist man nicht sicher, ob sich nicht über einem gerade jemand aus dem Fenster stürzt.73 Auch die Tierwelt wird von der „Blasiertheit" ergriffen: „und die Rinder / Wiederkäuten - Schopenhauer".74 Der Held des Epos kann sich dem „Leid der Welt" und dem „Leid der Zeit" nicht entziehen.75 Er unternimmt eine Reihe von Versuchen, diese Welt zu vernichten, und faßt nach ihrem Fehlschlag den Plan zu einem „Weltkongreß der Seinsverächter".76 An diesem nimmt übrigens auch der Ewige Jude und die gesamte Tierwelt teil; ein Papagei zitiert schnarrend: „Selbstverneinung, allgemeine / Selbstverneinung".77 Die „Verneinung des Willens zum Leben" ist bekanntlich eine zentrale Forderung der Philosophie Schopenhauers78, der zum Schluß des Kongresses nochmals namentlich genannt wird: [...] Unzähl'ge Toaste Wurden ausgebracht: auf Munkel Allvoran, dann auf den greisen Ahasver - auf Schopenhauer Auf den Gott der Weltvernichtung Shiva - auf den Tod - das Nichts. 79

Denn der eigentliche Beschluß des Weltverächter-Weltkongresses postuliert die Selbstaufhebung des ,,blöde[n] unvernünftige[n] Wille[ns]", eine Art Selbstzerstörung der Natur:

73 74 75 76 77 78 79

Ebd., S. 173. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 190. Vgl. u.a. Schopenhauer (Anm. 19), Bd. 1, S. 493 ff. Hamerling, Werke (Anm. 62), Bd. 12, S. 191.

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Ineinander zittern sollten

Aller Willenskräfte Ströme Zu d e m mystisch-metaphysischEinheitlichen Willensschlusse:

Nicht zu wollen ...

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Die geplante Apokalypse findet dann freilich nicht statt. Einfacher Grund: ein Liebespaar küßt sich im entscheidenden Augenblick. Schopenhauer hätte das wohl als Triumph des Willens in der Geschlechtsliebe interpretiert, also sich noch in seiner vermeintlichen Widerlegung bestätigt gesehen. Hamerling dagegen erblickt in der Liebe offenbar ein gegenläufiges Prinzip, eine seelische Kraft, die von den nihilistischen Konsequenzen einer menschenfeindlichen Philosophie erlöst. Sie erscheint als die einzige Alternative zu jener höheren Form des Egoismus, den ein Redner des Kongresses - eingeführt als „spleenbeherrschter Britenlord" - in bedrängenden Worten beschwört: Und dann überhaupt das ew'ge, Unerträgliche Gebanntsein In dies leid'ge Ich - Ich - Ich - ha!

Ich sein müssen, i m m e r Ich, Eingefangen, eingepfercht sein Immer in d e m eignen Selbst - oh! Dieses Selbst, das uns zeiüebens Sitzt als Huckepack im Nacken, Niemals abzuschütteln auch nur Eine flüchtige Minute, Ob m a n seiner noch so sehr auch Überdrüssig - [...] Ist es nicht u m toll zu werden?" 8 1

Tatsächlich verfallt der Redner umgehend dem Wahnsinn. Er fürchtet sich vor seinem eigenen Schatten, den er als ,,überflüss'ge[n] Doppelgänger / Eines überflüss'gen Ichs" und „Spiegelbild des großen Nichts" anredet, um

80 Ebd., S. 192. 81 Ebd., S. 185.

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sich schließlich, Schaum vor dem Mund, wütend auf ihn zu werfen. - Spätestens an dieser Stelle wird das literarische Vorbild deutlich, das dem Epiker Hamerling hier die Feder fuhrt: Jean Paul. In seinem „Kardinalroman" Titan (1800-1805) läßt er den Humoristen Schoppe alias Leibgeber wahnsinnig werden infolge einer allzu ausgiebigen Beschäftigung mit der Fichteschen Ich-Philosophie: „Alles kann ich leiden," (sagte Schoppe) „nur nicht den Mich, den reinen, intellektuellen Mich, den Gott der Götter - [...] aber noch setzt mir der reine Ich merkbar nach. Man sieht das am besten auf Reisen, wenn man seine Beine anschauet und sie schreiten sieht und hört und dann fragt: wer marschiert doch da unten so mit? - Ewig redet er ja mit mir; sollt' er einmal leibhaftig vor mir auffahren: dann war' ich nicht der letzte, der schwach würde und totenblaß. [,..]" 82

Genau das Letztgenannte wird passieren, wenn sein ihm so ähnlich sehender Freund Siebenkäs auftaucht. Schoppe glaubt, den ,,alte[n] Ich" vor sich zu haben, und bricht mit den Worten „Ich gleich Ich" sterbend zusammen.83 Jean Paul hat dieselbe Romanfigur zum fiktiven Verfasser einer pseudo-philosophischen Schrift gemacht, die er in den Komischen Anhang des Romans aufnahm und in der er die Paradoxien des subjektiven Idealismus (oder das, was ihn und seinen philosophischen Gewährsmann Jacobi daran paradox dünkte) in ironischer Übertreibung auf die Spitze treibt. Das Ich setzt sich gleichsam mit der ganzen Welt gleich, Leibgeber verschmilzt somit auch mit dem von ihm kritisierten Fichte (daher der Titel Clavis Fichtiana seu Leibgeberiand) und verfallt überhaupt einer grenzenlosen Einsamkeit und Langeweile: Rund um mich eine weite versteinerte Menschheit - In der finstern unbewohnten Stille glüht keine Liebe, keine Bewunderung, kein Gebet, keine Hoffnung, kein Ziel - Ich so ganz allein, nirgends ein Pulsschlag, kein Leben, nichts um mich und ohne mich nichts als nichts - In mir den stumm, blind, verhüllt fortarbeitenden Dämogorgon, und ich bin er selber - So komm' ich aus der Ewigkeit, so geh' ich in die Ewigkeit — 82 Jean Paul: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. München: Hanser 1959-1985, [Abt.l], Bd. 3, S. 767 (Titan, 152. Zykel). 83 Ebd., S. 800 (Titan, 139. Zykel).

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Und wer hört die Klage und kennt mich jetzt? - Ich. - Wer hört sie, und wer kennt mich nach Ewigkeit? - Ich. -84 Die Langeweile thematisiert ja auch Schopenhauer und nach ihm Hamerlings Satire - bis hin in bildliche Details, die ohne den Hintergrund von Schopenhauers Argumentation unverständlich bleiben oder absurd wirken.85 Entscheidend für Hamerlings Rückgriff auf Jean Paul dürfte die strukturelle Analogie zwischen dessen Kritik am „philosophischen Egoismus"86 Kant-Fichtes und seinen eigenen Vorbehalten gegenüber den solipsistischen Zügen eines Denkens gewesen sein, das die Welt als „Wille und Vorstellung" ansah. Bei Jean Paul wie bei Hamerling ist die Kritik am Subjektivismus nicht frei von einer faszinierten Teilnahme an der verurteilten Position, einer klammheimlichen Identifikation mit dem Kritisierten. Die ambivalente Haltung beider findet ihren Ausdruck in einem suggestiven Bild: dem des Luftschiffers, der sich über die Menschheit erhebt und dafür mit einem schrecklichen Ende büßt. Der einschlägige Text Jean Pauls entstammt gleichfalls dem Komischen Anhang zum Titan-. Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch führt uns die grimmigste Variante des Humoristen-Typus im Werk dieses Autors vor. Aus Giannozzo spricht der ganze Grimm seines Verfassers auf die „aufgeklärten Achtzehnjahrhunderter" vom Schlage Nicolais, auf Kaufmannsgeiz, Kleinstaaterei und jede Form künstlerischer oder moralischer Borniertheit. „Ein Haß gegen alles Dasein kroch wie Fieberfrost an mir heran; ich sagte wieder: ich bin gewiß ein böser Geist."87 Als solcher greift Giannozzo strafend in das menschliche Leben ein, über das er sich mit seinem Ballon doch eigentlich erheben möchte. Zweimal läßt er sich dazu hinreißen, Soldaten auf Schlachtfeldern mit Steinen zu bombardieren: „Jetzt wurd' ich auch von der Wut gepackt, denn ich bin ja auch einer von denen 84 Ebd., S. 1056 (Clavis Fichtiana, § 15). 85 So erklärt sich die merkwürdige Episode von den Stäben, die Munkel nur dadurch in Menschen verwandelt, daß er sie in „raschen Pendeltanz der Schwingung versetzt (Hamerling, Werke, Anm. 62, Bd. 12, S. 203 f.), als erzählerische Umsetzung eines Vergleichs in Schopenhauers Beschreibung der Langeweile: „Sein [sc. des erkenntnislosen Menschen] Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile" (Schopenhauer, Anm. 19, Bd. 1, S. 407). 86 Vgl. Wolfgang Harich: Jean Pauls Kritik des philosophischen Egoismus. Belegt durch Texte und Briefstellen Jean Pauls im Anhang. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1968]. 87 Jean Paul (Anm. 82), Bd. 3, S. 966.

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drunten".88 Unmittelbar nach der zweiten Attacke wird er von einer Gewitterwolke erfaßt, vom Blitz getroffen und zur Erde geschleudert. Hamerling stilisiert seinen Homunkel zum neuen Giannozzo, wenn er ihn im 10. und letzten Gesang das schon erwähnte Riesenluftschiff bauen und besteigen läßt. Der kühnen Konstruktion geht eine Reihe weiterer technischer Wundertaten voran, die unübersehbar auf die Fortschritte der Technik und der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert verweisen. Auch das folgende läßt sich, sowenig man hier auch eine konkrete Vorwegnahme der modernen Aeronautik erwarten oder finden wird, als Gleichnis einer Grundfigur der Moderne lesen; diese läßt sich als „Vernichtimg und Ersatz" beschreiben und u.a. beim britischen Physiker und Wissenschaftshistoriker John Desmond Bernal wiederfinden. 89 Homunkel nutzt das Luftschiff als „Arche"90, die ihm die Welt ersetzen soll, und bückt von oben - wie Giannozzo - „verachtend [...]/ In dieüberwundneTiefe": O w i e scheint i h m a r m d i e E r d e ! O w i e scheint i h m klein d e r M e n s c h ! Klein u n d e l e n d ! U n d d i e g a n z e Kleinlichkeit, die g a n z e Schalheit Aller ird'schen D i n g e steht i h m D o p p e l t w i d r i g n u n vor A u g e n ! „Ich verachte dich, o E r d b a l l , " R u f t er trotzig [.. .] 9 1

Wie Giannozzo verhält sich auch Homunkel aggressiv zur unteren Welt, allerdings eher unfreiwilüg. Ein Bütz trifft sein Luftschiff, das jedoch - anders als bei Jean Paul - dadurch nicht zum Absturz gebracht wird, sondern als eine Art Feuerbombe weiterfliegt, eine Spur der Verheerung hinter sich lassend:

88 Ebd., S. 1007. 89 Vgl. Gudrun Kohn-Waechter: Ersatzwelt, totale Herrschaft, Risikolust - Elemente eines modernen Technikdiskurses am Beispiel von John Desmond Bernal. In: Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära. Hrsg. v. Wolfgang Emmerich u. Carl Wege. Stuttgart - Weimar: Metzler 1995, S. 47-71. 90 Hamerling, Werke (Anm. 62), Bd. 12, S. 220. 91 Ebd., S. 214.

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Städtezinnen, Königsburgen, Dome steckt's in Brand im Fluge, In Friedhöfen aus der Erde Reißt's die Kreuze, Kirchturmspitzen Knickt's wie Halme, knickt die Wälder, Knickt sie schon von fern im Anhauch Durch den Stoß bewegter Lüfte.92 Hamerlings Horror-Phantasie ist durch die Waffensysteme des 20. Jahrhunderts längst eingeholt worden. Die eigentliche Modernität seiner dichterischen Vision liegt wohl in etwas anderem: in der Konsequenz, mit der sich hier ein geniales Subjekt vom Erdboden abnabelt und den Weg in außerirdische Sphären einschlägt. „Ich fühle luft von anderem planeten", sollte zwei Jahrzehnte später Stefan George dichten93; Schönbergs Vertonung vollzieht die Ablösung vom Irdischen - als Annäherung an die Zwölftonmusik - gleichsam nach.94 Adrian Leverkühn wird eine OrchesterPhantasie „Die Wunder des Alls" ausarbeiten, die so etwas wie seine faustische Himmel- und Höllenfahrt zugleich verkörpert.95 Nietzsches Idee der ,Erhebung', die in all dem nachwirkt, findet ihre eindriicklichste Gestaltung im Zarathustra, der zwischen 1882 und 1885 entsteht - also praktisch gleichzeitig mit Hamerlings Homunculus - und sicher nicht als Anregung für den 10. Gesang in Betracht kommt. Die erstaunliche Ubereinstimmung, die wir gleichwohl feststellen müssen, ist allein im Mysterium der Zeitgenossenschaft begründet. Daß sich der alte Hamerling in solcher Weise als hochsensibler Zeitgenosse erweist, sollte übrigens Grund genug sein, diesen oft als Wahlverwandten Makarts und hohlklingenden Epigonen96 abge-

92 Ebd., S. 215. 95 Stefan George: Der siebente Ring. Stuttgart: Klett-Cotta 1986 (Sämtliche Werke, Bd. 6/7), S. 111 (Entrückung). 94 Vgl. Albrecht Dümling: Die fremden Klänge der hängenden Gärten. Die öffentliche Einsamkeit der Neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George. München: Kindler 1981, S. 188 f. (mit Zitat von Schönbergs Selbstinterpretation). 95 Thomas Mann: Doktor Faustus (27. Kapitel). Ich greife hier dankbar auf Anregungen zurück, die ich einem Forschungsprojekt von Gudrun Kohn-Waechter, Berlin, verdanke: Verlassen der Erde - Inhalt und Genese einer modernen Vision. Eine Studie zu Nietzsche, Schönberg und Thomas Manns Doktor Faustus. 96 Vgl. Peter Klimm: Zwischen Epigonentum und Realismus. Studien zum Gesamtwerk Robert Hamerlings. Wien 1974 (Diss. Wien 1974).

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stempelten Autor künftig mit vermehrter germanistischer Aufmerksamkeit zu bedenken. Die Ubereinstimmung mit Nietzsche ist wohlgemerkt nur eine Übereinstimmung in der Negation: eben das, was Nietzsche positiv verkündet, wird von Hamerling als Schreckensvision gestaltet. So gesehen, umfaßt diese Ubereinstimmung noch einen weiteren Punkt. In seinem grundlegenden Buch über das Motiv der Erhebung in der Lyrik hat Karl Pestalozzi Nietzsches Vision der ewigen Wiederkehr als Ziel des Aufstiegs in einen nachkopernikanischen leeren Raum nach dem Tod Gottes gesehen.97 Eben diese Vorstellung des leeren Raums hat Hamerling in seinen philosophischen Schriften aufs entschiedenste bekämpft. In seinen nachgelassenen „Beiträgen zur Kritik der modernen Erkenntniß" mit dem Titel Die Atomistik des Willens (1891) erklärt er, daß „alles Leere durch den Aether ausgefüllt zu denken ist" 98 , und sucht er insgesamt die Vorstellung des Unendlichen zu entschärfen oder zu entkräften. Dabei schreckt er nicht vor so zweifelhaften logischen Manövern zurück wie der folgenden Beweiskette: „Das Unendliche ist nicht endlich - es ist also etwas nicht - es ist nicht alles - folglich ist es doch endlich.—" 9 9 Einer der letzten Versuche eines Gesamtüberblicks über Hamerlings Leben und Werk hat diesen Satz zum Motto und den in ihm sich artikulierenden „horror vacui" zum Titel genommen. 100 Braucht vielleicht nur noch angemerkt zu werden, daß Hamerling die ihn beängstigende Vorstellung des Unendlichen ausdrücklich mit der „idealistisch pessimistischen Weltanschauung Fichtes, Schellings, Hegels und Schopenhauers" verbindet101 und daß er unter den Vertretern des zeitgenössischen Darwinismus potentielle Bündnispartner für seinen Kampf gegen den leeren Raum gefunden hätte. Haeckels Welträthsel (1899) etwa widmen dem Äther einen längeren Abschnitt und erbauen sich an der Vorstellung einer „wunderbaren Materie", die wie Gallert zwischen den Himmelskörpern

97 Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin: de Gruyter 1970, S. 198-230. 98 Robert Hamerling: Die Atomistik des Willens. Beiträge zur Kritik der modernen Erkenntniß. Bd. 1.2. Hamburg: Verlags-Anstalt u. Druck 1891, Bd. 2, S. 84. 99 Ebd., Bd. 1, S. 71. 100 Cornelia Kritsch / Wolfgang Neuber: Horror vacui - Robert Hamerling und die Gründerzeit. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Hrsg. v. Herbert Zeman. Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt 1982, S. 499-512. 101 Hamerling, Atomistik (Anm. 98), Bd. 1, S. 135 f.

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schwappt.102 Auch der Monismus legte Wert darauf, daß das Loch im Himmel gestopft wurde. Der Luftfahrer Homunculus in Hamerlings Epos büßt seine Erhebung über das Irdische mit der schockierenden Erfahrung eines unendlichen Nichts. Aus dem Sonnensystem wird er vertrieben; danach [...] gerät er taumelnd, ziellos, In dem langen Lauf der Zeiten Weit hinein in Sternenwelten, Welche bloß als dünne Nebel Unser Aug' erspäht am fernsten Dämmerrand der Hirnmeiswölbung: Dorthin, wo ein Weiser ragt Mit der Aufschrift: „ Weg ins Nichts!" Doch die Riesenhand des Weisers Ist unendlich - ihre Länge Nicht durch Zahlen auszudrücken.103 Hamerlings Strategie, eben das, was er theoretisch für widerlegt hielt, dichterisch als Schreckensvision zu gestalten, erinnert wiederum an Jean Paul, an den „Experimentalnihilismus"104 von dessen Christus-Rede etwa. Im 1. Blumenstück des Siebenkäs (1796/97) nämlich, der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, wird noch vor Nietzsche der Tod Gottes beschworen und mit der Vorstellung der leeren Unendlichkeit des kopernikanischen Alls verbunden: Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor ge-

102 Ernst Haeckel: Die Welthräthsel. Gemeinverständliche Studie über monistische Philosophie. Mit einem Nachwort: Das Glaubensbekenntnis der Reinen Vernunft. Volks-Ausgabe. 78.-79. Tsd. Bonn: Emil Strauß [o. J.], S. 91-95. 103 Hamerling, Werke (Anm. 62), Bd. 12, S 223 f. 104 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg i. Br. - München: Alter 1975. 258 ff.

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g e n d a s starre Nichts u n d g e g e n die l e e r e U n e r m e ß l i c h k e i t u n d s a g t e : „ S t a r res, s t u m m e s N i c h t s ! Kalte, e w i g e N o t w e n d i g k e i t ! W a h n s i n n i g e r Zufall! [ . . . ] W i e ist j e d e r s o allein in d e r w e i t e n L e i c h e n g r u f t des All! [.. , ] " 1 0 5

Freilich, Jean Paul probiert diese Sicht auf die Welt nur aus. Die beängstigende Vision wird als Traum ausgegeben, mit einem Vorbericht versehen, der auf die Gefahren des Atheismus hinweist, und mit einem Schluß, der das Erwachen des Träumers schildert - ein Erwachen, dessen Glücksgefuhl vor dem Hintergrund der imaginieiten Schrecken nur um so intensiver ausfällt: „Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte - [...] und von der ganzen Natur um mich flössen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken." 106 Die Spannung zwischen Rahmen und Traumdichtung, die bei Jean Paul zu beobachten ist, verlagert sich bei Hamerling gewissermaßen auf das Verhältnis zwischen theoretischen Schriften und epischer Dichtung. Sie ist allerdings auch in letzterer enthalten: als Spannung zwischen satirischer Ironie und positivem Ideal, doch wird diese Spannung nicht konsequent aufrechterhalten; sie lockert sich in dem Maße, als Homunkel - gegen die Absicht des Autors - die Funktion einer Identifikationsfigur übernimmt. Der Katalog von Jean-Paul-Texten, auf die der Schluß von Hamerlings Homunculus Bezug nimmt, gewinnt nachgerade inflationäre Züge. Nicht ohne Befremden registriert man, daß Hamerling derart massive Anleihen bei einem Autor getätigt haben soll, zu dem er sich sonst eher beiläufig oder zurückhaltend äußert.107 Bekanntlich erreicht das literarische Ansehen Jean Pauls in der deutschsprachigen Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen absoluten Tiefpunkt108; Anzeichen für eine österreichische Sonderkonjunktur (wie im Falle Schopenhauers) sind nicht zu entdecken. Noch aus der ersten Jahrhunderthälfte, in der sich Jean Paul - im Zeichen von Biedermeier wie Vormärz - weitester Beliebtheit erfreute,

105 Jean Paul (Anm. 82), Bd. 2, S. 274. 106 Ebd., S. 275. 107 In den Stationen meiner Pilgerschaft heißt es lapidar: „Jean Paul lernte ich ebenfalls früh kennen und lieben", ein Jean Paul gewidmeter Aphorismus erklärt den Titan für „uns nur mehr halb genießbar" (Hamerling, Werke, Anm. 62, Bd. 3, S. 80 u. Bd. 16, S. 266). 108 Vgl. Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. Hrsg. v. Peter Sprengel. München: Beck 1980 (Wirkung und Literatur).

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stammt freilich ein klassischer Text der österreichischen Literatur, der gleich auf zweien der hier genannten Jean-Paul-Texte beruht, ihre Botschaft weiter trug und sie auch für Hamerling aktuell gemacht haben dürfte. Gemeint ist natürlich Stifters Erzählung Condor (1840), die das Motiv der Ballonfahrt (aus dem Giannozzö) mit der Schreckensvorstellung vom Abgrund des Himmels (aus der Rede des toten Christus) verbindet109: Der erste Blick [sc. Cornelias] war wieder auf die Erde - es war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus; in einem fremden goldenen Rauche lodernd, taumelte sie gleichsam zurück [...] überschwimmend in unbekannte phantastische Massen. Erschrocken wandte die Jungfrau ihr Auge zurück, als hätte sie ein Ungeheuer erblickt, - aber siehe, auch um das Schiff walleten weithin weiße, dünne, sich dehnende und regende Leichentücher - von der Erde gesehen Silberschäfchen des Himmels; - zu diesem Himmel nun floh der Blick - aber das Himmelsgewölbe, die schöne blaue Glocke unserer Erde, war ein ganz schwarzer Abgrund geworden, ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend - [...]. Wie zum Hohne wurden alle Sterne sichtbar - winzige, ohnmächtige Goldpuncte, verloren durch die Ode gestreut - und endlich die Sonne, ein drohendes Gestirn [...] glotzte sie mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde - 110

Ahnlich schreckenerregend fallt Stifters Beschreibung der Sonnenfinsternis von 1842 aus.111 Naturwissenschaftliche Interessen verbinden sich auch hier mit intensiven Jean-Paul-Anleihen, aber wohl auch mit der Lektüre Byrons, dessen Gedicht Darkness (1816) gleichfalls die Phantasmagorie einer kosmischen Finsternis entwirft.112 Zurecht wird das Bedrohungspotential der

109 Zur prägenden Bedeutung auch des zweiten Textes vgl. Kurt Mautz: Natur und Gesellschaft in Stifters „Condor". In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emerich. Hrsg. v. Helmut Arntzen u.a. Berlin - New York: de Gruyter 1975, S. 406-435, hier: S. 424 f. 110 Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald. Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz: Kohlhammer 1978 ff., Bd. 1.1, S. 20 f. (Journalfassung). 111 Vgl. Klaus Amann: Adalbert Stifter: „Die Sonnenfinsterniß am 8. July 1842". In: Informationen zur Deutschdidaktik (ide) 19 (1995), H. 2, S. 72-79. 112 Abgedruckt in: Johann Lachinger: Schreiben gegen den ,Weltschmerz'. Adalbert Stifter im Horizont von Byronismus und Skeptizismus. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes 1 (1994), S. 17-29, hier: S. 28 f.

Darwin oder Schopenhauer?

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neuen Astronomie in der eindringlichen Interpretation betont, die Christian Begemann kürzlich der zitierten Passage des Condors gewidmet hat: „Sichtbar werden hier [...] Konsequenzen der kopernikanischen Wende für das religiöse Weltbild. Es ist nicht so sehr ein entgöttertes, sondern ein dämonisiertes Universum, das an die Stelle des schützenden Welthauses tritt, ein Universum, das den Menschen zu verhöhnen und auf seine Vernichtung zu zielen scheint."113 Eine Feststellung, die fast unverändert auf Anzengrubers Jaggernaut zu übertragen wäre! Die Entwicklung der Naturwissenschaft (wie der politischen Lage) wird mit Angst erfahren; sie nährt einen philosophischen Pessimismus, dessen Auffassung der Natur (als Schauplatz eines ewigen Kampfs ums Dasein) und des Kosmos (als unendliches All) schließlich selbst als Bedrohung empfunden wird, so daß sich bei Hamerling gleichsam der Pessimismus gegen sich selbst auflehnt. Die Mittel zur Gestaltung dieser Krise werden nicht zufällig dem ausgehenden 18. Jahrhundert entnommen; sie entstammen der primären Bewältigung jener kopernikanischen Wende der Philosophie 114 , auf die ja letztlich auch Schopenhauers Weltentwurf zurückgeht.

113 Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart - Weimar: Metzler 1995, S. 137 114 Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere in der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, Kap. III: Kosmologie und poetischer Traum (S. 169-229).

Werner Michler

Zwischen Minna Kautsky und Hermann Bahr Literarische Intelligenz und österreichische Arbeiterbewegung vor Hainfeld (1889)

Übrigens bewegen Sie sich in Widersprüchen — Wenn es wahr ist, dass Sie nicht aufgehört haben Socialdemokrat zu sein, so ist es nicht weniger wahr, dass Sie Pflichten zu erfüllen haben. Wenn Sie Ihren Beruf auf künstlerischem Gebiete sehen, so wirken Sie auf diesem für die Sache des unterdrückten Volkes. Sie schimpfen (ganz mit Recht!) über die Unterhaltungsbeilage der Gl[eichheit]. Warum schreiben Sie nicht für diesen Theil des Blattes? Ich bin Ihnen wohl sehr dankbar für Ihren guten Willen die alte Kautsky umbringen zu wollen doch fürchte ich, Sie thun's doch nicht, und wenn diese Gans auch aus der Welt geschafft wäre - so leben ihre geistigen Bastarde doch weiter! Bei dieser Gelegenheit erfülle ich eine traurige Pflicht u. bereite Sie darauf vor, dass nächstens wieder ein Roman von ihr in der Gl. erscheinen wird!!!1

Die Autorin dieser unfreundlichen, wenngleich privat geäußerten Worte ist Emma Adler, Mitarbeiterin der von ihrem Ehemann Victor herausgegebenen Wochenschrift Gleichheit (1886-1889), der Vorläuferin der Wiener Arbeiter-Zeitung,; „in Widersprüchen" bewegt sich der Adressat Hermann Bahr, der sich zum Zeitpunkt des Briefwechsels, Anfang 1889, in Paris befindet und seinen neuen Beruf „auf künstlerischem Gebiete" entdeckt. Bei der ,,alte[n] Kautsky", die beide aus der Welt geschafft sehen wollen, handelt es sich um Minna Kautsky, die Mutter des prominentesten Theoretikers der II. Internationale, die als eine der ersten Romanschriftstellerinnen der deutschsprachigen sozialistischen Literatur gilt. Ihre ,,geistige[n] Ba1

Emma Adler an Hermann Bahr, o. D. („Mittwoch") [ca. Anf. März 1889]. Österreichisches Theatermuseum Wien (i. f. ÖTh), Bahr-Nachlaß A 15040 BaM. Die Fortsetzung des Briefes trägt die Signatur A 15044 BaM.

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starde", Romane, Novellen, Erzählungen, sollten in der Tat noch weiterleben; 1911 erscheint in der Arbeiter-Zeitung ihr letzter Roman. 2 Daß Bahr von seiner neugewonnenen ästhetischen Position um 1890, die als Formulierungs- und Propagandaarbeit an der „Moderne" in die Literaturgeschichte eingegangen ist, Minna Kautskys Erzählwerk nicht schätzen kann, leuchtet ein, galt sie doch - nach dem Zeugnis ihres Sohnes Karl - unter ,,unsere[n] Genossen" als „rote Marlitt" 3 ; und bestand doch andererseits von Seiten Bahrs mit dem Ehepaar Adler mindestens seit 1886, als Victor Adler Bahr als Chefredakteur seiner sozialistischen Wochenschrift zu gewinnen suchte, enger privater Kontakt. In politischer Hinsicht ist dieser Zusammenhang noch älter. Wie Emma Adler in ihrer Typoskript gebliebenen Biographie Victors berichtet, kennen beide den jungen Bahr seit seinem folgenreichen Auftritt am Richard Wagner-Kommers von 1883, der vom Ehepaar Adler besucht wurde und Bahr die Relegation von der Wiener Universität eintrug. 4 Die gemeinsame deutschnationale Politisierung im Umkreis Georg v. Schönerers führt sowohl den jüdischen Armenarzt und Sozialpolitiker Adler als auch den antisemitischen Schläger Bahr auf getrennten Wegen in die sozialistische Bewegung. Aber auch in ästhetischer Hinsicht sind die Welten der drei Bildungsbürger kongruent, Emma berichtet Bahr von ihrer Lektüre, Bahr porträtiert beide in seinen frühen Dramen. Als Adler, mit der Planung seiner Zeitung beschäftigt, bei Karl Kautsky anfragt: „Apropos, hat Ihre verehrte Mutter nicht einen für das Erscheinen in Fortsetzungen geeigneten Roman od. noch besser eine Novelle bereit? Mir ist eine Übersetzung eines Romans von dem Schweden Strindberg angetragen, der der Partei sehr nahe steht; ich möchte aber

2 Minna Kautsky: Die Leute von St. Bonifaz. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 8. 12. 1910-4. 2. 1911. Zu Minna Kautsky vgl. Cacilia Friedrich: Minna Kautsky. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der sozialistischen deutschen Literatur. Diss. Halle 1963 (mit vollständiger Bibliographie), auch Wolfgang Quatember: Erzählprosa im Umfeld der österreichischen Arbeiterbewegung. Von der Arbeiterlebenserinnerung zum tendenziösen Unterhaltungsroman (1867-1914). Wien, Zürich: Europa-Verlag 1988 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 51), S. 121 ff. Jetzt auch: Minna Kautsky. Beiträge zum literarischen Werk. Hrsg. v. Stefan Riesenfellner u. Ingrid Spork. Wien: Vlg. f. Gesellschaftskritik 1996 (= Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 8). 3 Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen. Hrsg. v. Benedikt Kautsky. 's-Gravenhage: Mouton & Co. 1960, S. 302. 4 Dazu Emma Adler: Biographie Victor Adler. (Typoskr.) Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien), Adler-Archiv, M 29/2, S. 110-112 (Wagner-Kommers).

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nicht gerne gerade mit einer Übersetzung beginnen" 5 , so stammt der Hinweis auf Strindberg von Bahr.6 Ist die Verortung Victor Adlers, einer Gründungsgestalt der österreichischen Sozialdemokratie, in der Kultur der Wiener Jahrhundertwende bereits oft vorgenommen worden, so war die sozialistische Periode Hermann Bahrs selten Gegenstand von Erörterungen. 7 Das mag zum einen an den wohl dem Thema fernerliegenden Interessen der Bahr-Forschung liegen, zum anderen aber auch daran, daß in der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung Bahr als Gründungsfigur kein gutes Bild macht. Wenn im folgenden an den Figuren Minna Kautsky und Hermann Bahr das literarische Feld der frühen österreichischen Arbeiterbewegung aufgespannt werden soll, so müssen nicht nur die politischen Biographien der literarischen Intelligenz, die sich der Arbeiterbewegung anschließt, betrachtet werden, sondern vor allem die Funktionen im literarischen Feld, die von Intellektuellen bzw. Literaten besetzt und ausgefüllt werden. Die beiden herangezogenen Figuren können insofern nicht Repräsentativität beanspruchen, als eine sozialistische (Prosa-)Literatur zeitgenössisch erst in den Anfangen steckt. Das Interesse an Hermann Bahr und Minna Kautsky liegt vielmehr darin, daß beide an verschiedenen Feldern gleichzeitig partizipieren oder dies wenigstens versuchen. Beide können Aufschluß geben über den „Raum der Möglichkeiten" (Pierre Bourdieu), in dem sich Literatur im Umfeld der Arbeiterbewegung bewegt hat. In diesem Sinn werden nicht Autoren behandelt, die eigentliche „Arbeiterliteratur" verfassen, Autoren, die im Rahmen der Arbeiterbewegung zum Schreiben kommen und nur innerhalb der Organe der Bewegung publizieren, wie Josef Schiller, Andreas Scheu, Ferdinand Hanusch, Franz Grundmann, Robert

5 Victor Adler an Karl Kautsky, 25. 9. 1886. V. A.: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer u. a. Gesammelt u. erläutert v. Friedrich Adler. Hrsg. v. Parteivorstand der Sozialist. Partei Österreichs. Wien: Wr. Volksbuchhandlung 1954, S. 21. 6 Victor Adler an Bahr, 28. 8. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15097 BaM. 7 Selbst bei Donald G. Daviau: Hermann Bahr and the Radical Politics of Austria in the 1880s. In: German Studies Review 5 (1982), S. 165-185 nimmt Bahrs sozialistisches Engagement nur kleinen Raum ein. Vgl. auch Reinhard Farkas: Hermann Bahr. Dynamik und Dilemma der Moderne. Wien, Köln: Böhlau 1989, S. 18 ff. Von sozialistischer Seite vgl. Julius Braunthal: Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung. Wien: Wr. Volksbuchhandlung 1965, S. 55 f. u. passim; auch Victor Adler, Briefwechsel (Anm. 5), S. 15 f.

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Preußler, Wenzel Breuer und andere. 8 Ihr Status und die pragmatische Dimension ihrer Literatur sind unproblematisch, reichen daher aber auch nicht aus dem Agitations- und Binnenraum der Bewegung heraus; das gilt a fortiori für die mannigfachen (semi-)literarischen Formen der Arbeiterbewegungskultur: Lied, Flugblatt, Agitationsdrama. Hatte Hermann Bahr sich als Student der österreichischen Sozialdemokratie angeschlossen, führte für Minna Kautsky der Weg von der Prager Schauspielerin zur Parteiliteratin über ihre Beteiligung am Leben der Partei im privaten Zusammenhang der Lerngemeinschaft mit ihrem ungleich berühmter gewordenen Sohn Karl. Die zeitliche Einschränkung „vor Hainfeld" läßt aus der Perspektive der Parteigeschichte das folgende zugleich auch als Vorgeschichte erscheinen; der in der Illegalität des sog. „Ausnahmezustands" zur Jahreswende 1888/89 im niederösterreichischen Hainfeld abgehaltene „Einigungsparteitag" gilt als Gründungsdatum der neu konsolidierten Partei, nach einer ersten euphorischen Aufbruchsphase nach dem liberalen Vereinsgesetz von 1867, dem Parteitag von Neudörfl 1874 und der zunehmenden Spaltung zwischen Anarchismus und Reformismus. In die Neugründung durch Adler ist Hermann Bahr bereits involviert. Die Wege von Minna Kautsky und Hermann Bahr, deren literarische und politische Produktion unterschiedlicher nicht hätten sein können, scheinen sich nicht gekreuzt zu haben. Dennoch finden sich beide an ähnlichen Stellen im literarischen Feld: Beide publizieren beim Züricher oppositionellen Verleger Schabelitz, neben Arno Holz (Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen, 1886), John Henry Mackay, August Bebel und Wilhelm Liebknecht 9 ; literarische Texte beider werden in Adlers Gleichheit veröffentlicht, beide schreiben für den Oesterreichischen Arbeiterkalender.

8 Zu Schiller, Scheu, Hanusch, Petzold und Popp vgl. Quatember (Anm. 2); zu F. Hanusch auch Gerhard Botz: F. H., Jugend und literarisches Werk. In: F. H. Ein Leben für den sozialen Aufstieg (1866-1923). Hrsg. v. Otto Staininger. Wien: Europa-Verlag 1973, S. 15-41; Stefan Großmann: Nordböhmische Arbeiterdichter. In: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1901. Hrsg. im Auftrage d. Partei Vertretung der österreichischen Sozialdemokratie. Wien: Wr. Volksbuchhandlung Ignaz Brand 1901, S. 109-113 (Josef Hannich, Wenzel Breuer, Anton Behr, Robert Preußler, Josef Schiller, Franz Grundmann). 9 Ursula Münchow: Arbeiterbewegung und Literatur 1860-1914. Berlin, Weimar: AufbauVerlag 1981, S. 358.

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Verkürzt lassen sich in der österreichischen Arbeiterbewegung vor dem ersten Weltkrieg drei Phasen10 unterscheiden, in denen die Partei erhöhte Attraktivität auf Intellektuelle ausübte. In der ersten Gründungsphase, den Jahren nach dem Vereinsgesetz, das erstmals kontinuierliche Vereins- und Organisationsarbeit zuließ, spielen Angehörige der bürgerlichen Intelligenz eine Rolle als „Hebammen" der neuen Bewegung. Die Richtungsentscheidung zwischen Lassalleanern und Anhängern von Schulze-Delitzsch führt - jedenfalls in Wien - zu einer Trennung von liberalen Honoratioren, die zum Teil in den Kategorien von 1848 als paternalistische Präzeptoren agieren, darunter der Sozialpolitiker Max Menger, der Philologe Theodor Gomperz und der Germanist Wilhelm Scherer.11 Bürgerliche Liberale unterrichten in den Sektionen des Wiener Arbeiterbildungsvereins, in dem zugleich schon die Funktionen der zukünftigen Massenpartei angelegt sind. Die zweite Periode beginnt etwa mit dem Hainfelder Einigungsparteitag 1888/89, als eine kohärente Politik und Organisationsstruktur die Wirren des Fraktionsstreits zwischen Gemäßigten und Liberalen, Marxisten und Anarchisten, Deutschen und Tschechen zunächst beendet und mit der Arbeiter-Zeitung ein Organ von hoher Qualität und mit Victor Adler ein großbürgerlicher Renegat als Identifikationsfigur zur Verfügung steht; erstmals beginnt die Sozialdemokratie Attraktivität auf Gymnasiasten und Studenten auszuüben, darunter der junge Franz Blei und Alfred Adler. 1893 entsteht eine sozialdemokratische Studentenorganisation, intellektuelle Wiener Diskussionszirkel kooperieren und konkurrieren, unter anderem im Literatencafe Griensteidl.12 Eine dritte Phase ist um 1907 anzusetzen, als mit der Zeitschrift Der 10 Vgl. hierzu auch Helmut Konrad: Die Sozialdemokratie und die „geistigen Arbeiter". Von den Anfangen bis zum Ersten Weltkrieg. In: Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Hrsg. v. Gerhard Botz u. a. Wien, München, Zürich: Europa-Verlag 1978, S. 545-560. 11 Theodor Gomperz: Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Joseph-Zeit. Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen, 1869-1912, erl. u. zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft v. Heinrich Gomperz. Neubearb. u. hrsg. v. Robert A. Kann. Wien: Verlag d. österr. Akad. d. Wiss. 1974 ( = Phil.-hist. Kl., Sitzungsb. 295), S. 52 f. 12 Vgl. Helge Zoitl: „Student kommt von Studieren!" Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien. Wien, Zürich: Europa-Verlag 1992 ( = Materialien zur Arbeiterbewegung 62), S. 48 ff.; Karl Leuthner: Die Jungen von damals. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 1 . 1 . 1925, S. 56. Zu A. Adler u. Blei vgl. Alfred Adler: Eine Bildbiographie. Zusammengest. u. verf. v. H. Rüdiger Schiferer unter Mitarb. v. H. Gröger u. M. Skopec.

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Kampf ein eigenes theoretisches Organ der österreichischen Sozialisten begründet wird; der zuvor lockere Zusammenhang der später sog. Austromarxisten um Karl Renner, Otto Bauer und Max Adler formiert sich zu einer Gruppe, die Funktionen einer Elite von Parteiintellektuellen wahrnimmt. Begleitet werden die beiden letzten Phasen von kurzlebigen und politisch wenig dominanten anarchistischen Zirkeln, die sich teils aus Studenten wie Alfred Polgar und Stefan Grossmann, teils aus dem alten Handwerkeranarchismus zusammensetzen; als Linksopposition chancenlos, werden große Teile dieser Kreise in die Partei integriert oder verlassen die Arbeiterbewegung. Die dritte Phase etabliert eine anarchistisch-bohemehafte Subkultur in Tuchfühlung mit dem Frühexpressionismus, ähnlich der in München. 13 Einer ihrer Protagonisten, der Sozialanarchist und Karl Kraus-Anhänger Karl F. Kocmata, wird mit Bahr anläßlich „Hermanneies Himmelfahrt" abrechnen und ihn an seine sozialistische Periode erinnern. 14 Als aber der junge Karl Kautsky Mitte der 1870er Jahre beginnt, in Wien sozialdemokratische Veranstaltungen zu besuchen, bleibt er bis 1880 der einzige Student; nur eine Buchhandlung in Wien führt sozialistische Literatur. 15 Eine ähnliche Situation findet nach 1883 Victor Adler vor. Bereits 1868, im ersten Jahr des Arbeiterbildungsvereins, kommt es zu einer Revolte gegen die bürgerlichen Intellektuellen, die den sozialromantischen Gelehrten Hippolyt Tauschinsky veranlaßt, die Parteiführung zurückzulegen.16

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München, Basel: Reinhardt 1995, S. 55 ff. Blei nahm am Kongreß der Internationale 1893 auf einem Mandat der deutschen „Jungen" teil. Gerfried Brandstetter: Sozialdemokratische Opposition und Anarchismus in Österreich 1889-1918. In: Gerhard Botz, G. B. u. Michael Pollak: Im Schatten der Arbeiterbewegung. Zur Geschichte des Anarchismus in Österreich und Deutschland. M. einem Vorw. v. Karl R. Stadler. Wien: Europa-Verlag 1977 (= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts f. Geschichte der Arbeiterbewegung 6), S. 29-97. Karl F. Kocmata: Hermann Bahr. Österreichs Breitmäul [sie]. Eine Abrechnung. Wien: Vlg. Neue Bahnen - Kocmata 1916 (= Neue Bahnen - Schriften aus der Zeit 1), S. 18. Das Wortspiel „Hermanneies Himmelfahrt" bezieht sich auf Bahrs katholisierenden Roman „Himmelfahrt" (Berlin 1916) und eine ältere Polemik Bahrs gegen Gerhart Hauptmann. Zu Kocmata und Kraus vgl. Martina Bilke: Zeitgenossen der „Fackel". Wien, München: Locker 1981, S. 131 ff., 145 f. Kautsky, Erinnerungen (Anm. 5), S. 232; auch S. 304 ff., 366; 282. In der Buchhandlung Bloch und Hasbach erscheint Kautskys erste Buchveröffentlichung „Der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft" (Wien 1880). Ludwig Brügel: Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Bd. 1. Wien: Wr. Volksbuchhandlung 1922, S. 155-157; S. 155 f. der „Abschiedsbrief" Tauschinskys.

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I. „ I C H LAS

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GERNE"

In der marxistischen Literaturtheorie von Georg Lukäcs bis Fredric Jameson nimmt Minna Kautsky eine prominente Stelle ein: in der Fußnote. Denn eine der wichtigsten Referenzen der Theorie nicht nur des sog. „sozialistischen Realismus" sollte ein Brief Friedrich Engels' an Minna Kautsky werden, den Karl Kautsky 1955 in einer Sammlung von Briefen mitteilte. Als Kautsky im Sommer 1885 seinen dritten Aufenthalt in London antritt, begleitet ihn seine Mutter, die „sich mit Engels sehr befreundete" 17 ; dieser rät ihr zur Lektüre Balzacs. Balzac, wie ihn Engels im Brief an eine andere vergessene Schriftstellerin, Margaret Harkness (der 1952 in der Berliner Linkskurve veröffentlicht wurde), Zola gegenüberstellt, nimmt Stellung gegen seinen Willen; es sei ,,eine[r] der größten Triumphe des Realismus" 1 8 , daß die Figuren Balzacs gegen ihren eigenen Autor und dessen Optionen Zeugnis ablegten von der aufsteigenden Klasse. Der Tendenzroman im schlechten Sinn strebe nicht zum „Typischen", sondern zur Idealisierung, so Engels an Minna Kautsky: Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter für seinen eignen Helden schwärmt, und in diesen Fehler scheinen Sie mir hier einigermaßen verfallen zu sein. Bei Elsa ist noch eine gewisse Individualisierung, wenn auch schon Idealisierung, aber bei Arnold geht die Person noch mehr in das Prinzip auf. 19

Meist übersehen wurde jedoch ein wesentliches Begründungselement der Engelsschen Kritik20, das die pragmatische Situierung von Kautskys Roma-

17 Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky. 2., durch die Briefe Karl Kautskys vervollständigte Ausg. v. „Aus der Frühzeit des Marxismus". Hrsg. u. bearb. v. Benedikt Kautsky. Wien: Danubia 1955 ( = Quellen u. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen u. österr. Arbeiterbewegung 1), S. 182. 18 Friedrich Engels an Margaret Harkness (Entwurf). Anf. April 1888. In: Karl Marx, F. E.: Werke. Hrsg. v. Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK d. SED. Bd. 37. Berlin: Dietz 1974, S. 42-44, Zit. S. 44. Bereits im selben Jahr berief sich Georg Lukäcs auf diesen Brief. Vgl. Lukäcs: Tendenz oder Parteilichkeit? [1932], In: Lukäcs: Werke. Bd. 4: Probleme des Realismus 1. Essays. Über Realismus. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1971, S. 23-34, S. 31. 19 Marx, Engels (Anm. 18), Bd. 36. Berlin: Dietz 1967, S. 393. 20 Vgl. aber Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart: Kröner 1976 ( = K T A 4 3 4 ) , S. 115.

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nen falsch einschätzt und somit die ganze wirkungsvolle Kritik des Briefes - hier ist an Georg Lukacs' literaturpolitische Position zu denken - mindestens hätte relativieren müssen. Denn Engels verweist als Begründung seiner Polemik gegen die offene Tendenzliteratur auf die Rezeptionssituation des Romans in der bürgerlichen Gesellschaft: Dazu kommt, daß sich unter unsern Verhältnissen der Roman vorwiegend an Leser aus bürgerlichen, also nicht zu uns direkt gehörenden Kreisen wendet, und da erfüllt auch der sozialistische Tendenzroman, nach meiner Ansicht, vollständig seinen Beruf, wenn er durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten, ja unter Umständen ohne selbst Partei ostensibel zu ergreifen.

Das ist jedoch bei Kautsky gerade nicht der Fall. Minna Kautskys Romane wenden sich zunächst nicht an „Leser aus bürgerlichen Kreisen", sondern werden sämtlich in Parteiorganen erstveröffentlicht. (Unter den Zensurverhältnissen des „Sozialistengesetzes" wäre es zudem kaum möglich gewesen, „ostensibel" Partei zu ergreifen. Als Minna Kautsky in dem Roman Victoria [1887/1889] nun tatsächlich klassenbewußte Parteikämpfer aufmarschieren läßt, wird während der Publikation das Publikationsorgan, die Parteizeitung Hamburger fflustrirtes Unterhaltungsblatt, verboten. Eine ähnliche Erfahrung macht der junge Karl Kautsky, als er 1875 seinen letzten Roman - der wie andere literarische Jugendwerke ungedruckt blieb - an das sozialdemokratische Hamburg-Altonaer Volksblatt sendet und mit dem Vermerk des Redakteurs: „Es ist ein Wahnsinn, jemandem das, was auf dieser und den folgenden Seiten steht, zur Verantwortung übergeben zu wollen. Da könnte man sich gleich im Zuchthaus begraben lassen" 21 retourniert erhält.) Lukacs' Interventionen in der späteren Debatte um die sozialistische Tendenzliteratur sind ähnlich gelagert. In seinem Aufsatz Tendenz oder Parteilichkeit? (1952 in der Linkskurve) rechnet er mit Willy Bredels Roman Maschinenfabrik N&K ab und entwickelt in Berufung auf Engels die Elemente seiner eigenen Realismustheorie. Das Neue an Bredels Roman lag jedoch

21 Karl Kautsky, Erinnerungen (Anm. 3), S. 299.

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weniger in seiner Schreibweise, sondern in seiner Publikationsform; die Reihe Rote Ein-Mark-Romane war ein Experiment der massenhaften Verbreitung von Arbeiterliteratur, mit Startauflagen um 25.000 Stück.22 Demgemäß wird Lukacs in der Diskussion geantwortet, „besser werden müßte daran [an dem Roman] nur der Vertrieb".23 Die Antwort verweist auf eine literaturpolitische Problemstellung, mit der sich die Sozialdemokratie bereits in der Frühzeit24 auseinanderzusetzen hat und die sich bis in die austromarxistische Massenlektürepolitik der zwanziger und dreißiger Jahre erhält.25 Schon seit dem Parteitag der SDAP 1870 soll zur Verdrängung der Lektüre der unterbürgerlichen Schichten agitatorische und unterhaltende Literatur im Volksstaat abgedruckt werden; mit der Neuen Welt wird 1876 ein eigenständiges Unterhaltungsblatt gegründet.26 Diese frühen Ansätze zur Ersetzung der populären Lesestoffe reagieren auf die in diesen Jahren explosionsartig ansteigende Verbreitung der „Kolportageliteratur"27, durch die evasive Lektüre zum ersten Mal zum Massenphänomen wird. Aus diesem Grund ist die Beschreibung der eigenen Lesesozialisation in didaktischer Absicht ein wesentlicher Bestandteil der frühen Arbeiterautobiographien, zumal jener von sozialistischen Funktionären. Die bekannteste dieser Funktionärsautobiographien, die 1909 mit einem Vorwort August Bebels veröffentlichte Jugendgeschichte einer Arbeiterin von Adelheid Popp, beschreibt eine Wiener Arbeiterkindheit in den 1880er Jahren: 22 Dazu Gerald Stieg u. Bernd Witte: Abriß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. Stuttgart: Klett 1975 (= Literaturwissenschaft - Gesellschaftswissenschaft), S. 123. 23 Lukacs: Gegen die Spontaneitätstheorie in der Literatur [1932]. In: Lukacs, Werke 4 (Anm. 18), S. 19-22, Zit. S. 21. 24 Vgl. -h: Einige Worte zur Volksbildung. In: Gleichheit (Wr. Neustadt), 15. 5., 12. 6., 19. 6., 26. 6., 3. 7. 1875. Auch etwa: Kunst und Sozialismus. In: Arbeiterfreund (Reichenberg), 22. 7. 1880, S. 1 f. („Volksschriftsteller" als „Plusmacher"). 25 Dazu ausführlich Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Locker 1980. 26 Münchow (Anm. 9), S. 19 f.; Kristina Zerges: Sozialdemokratische Presse und Literatur. Empirische Untersuchung zur Literaturvermittlung in der sozialdemokratischen Presse 1876 bis 1933. Stuttgart: Metzler 1982. 27 Vgl. Georg Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163-191; ders.: Medien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Hrsg. v. Christa Berg. München: C. H. Beck 1991 ; Günter Kosch u. Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993.

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Ich las gerne. Neben Räuberromanen, die mich besonders fesselten, interessierte ich mich lebhaft für die Geschicke unglücklicher Königinnen. Neben „Rinaldo Rinaldini" (der mein besonderer Liebling war), die „Katarina Kornaro", neben „Rosa Sandor" die „Isabella von Spanien", „Eugenie von Frankreich", „Maria Stuart" und andere. „Die weiße Frau in der Hofburg" zu Wien, alle Kaiser Josef-Romane, „Die Heldin von Wörth", „Kaisersohn und Baderstochter" vermittelten mir geschichtliche Kenntnisse. Ihnen reihten sich die Jesuitenromane an und in weiterer Folge die 100 bändigen Romane vom armen Mädchen, das nach Überwindung vieler und grauenerregender Hindernisse zur Gräfin oder mindestens zur Fabrikanten- oder Kaufherrnsgattin gemacht wurde. Ich lebte wie in einem Taumel. [...] Heft um Heft verschlang ich; ich war der Wirklichkeit entrückt und identifizierte mich mit den Heldinnen meiner Bücher.28 Diese Passage, ein wichtiges Zeugnis der historischen Leseforschung für die Lektüre der Unterschichten in der zweiten Jahrhunderthälfte 29 , ist jedoch unvollständig ohne den wenig später entstandenen Nachruf Popps auf Minna Kautsky im Wiener Kampf, der die Funktion ihrer Romane im Kontext der sozialdemokratischen Literatur offenlegt: Es möge größere Schriftstellerinnen gegeben haben, ob aber eine andere einen besseren Weg zu dem Herzen vor allem der Frauen gefunden hat, kann wohl bezweifelt werden. Vor allem erschienen ihre Bücher zu einer Zeit, wo das Proletariat erst anfing, sich von der Lektüre der Kolpor-

28 [Adelheid Popp]: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt. Mit einf. Worten v. August Bebel. München: Reinhardt 1909, S. 14. Zur Lektüre von Kolportageromanen in der österreichischen Arbeiterschaft vgl. auch die Autobiographien bzw. die autobiographisches Material verwertenden Werke von Alfons Petzold: Das rauhe Leben. Der Roman eines Menschen (1920); Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1935); Heinrich Holek: Unterwegs. Eine Selbstbiographie (1927). Die von den Autoren erwähnten Kolportageromane können fast sämtlich anhand der Bibliographie von Kosch und Nagl (Anm. 27) bzw. darüber hinausgehend an Material aus der historischen Polemik nachgewiesen werden. Keineswegs war der „Kolportageroman" die einzige Lektüreform des Proletariats; auch Popp berichtet: „Ich las wahllos, was ich in die Hände bekommen konnte. Indianergeschichten, Kolportageromane, Familienblätter, alles schleppte ich nach Hause." Ebd. 29 Vgl. u. a. Ernst Hanisch: Arbeiterkindheit in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg. In: IASL 7 (1982), S. 109-147, S. 143.

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tageromane und süsslicher Familienblätter freizumachen. Klassiker und gute moderne Bücher waren damals den Proletariern nicht so leicht zugänglich wie heute. Auch das Verständnis dafür war noch nicht vorhanden. Da taten Minna Kautskys Bücher gute Pionierarbeit. 30

Popp las Kautskys Romane in den Lesezimmern der Arbeiterbildungsvereine, empfahl sie in den Versammlungen des Arbeiterinnenvereins; erstveröffentlicht in der Neuen Welt, werden sie in Parteiorganen propagiert und in Arbeiterbibliotheken eingestellt. Der Oesterreichische Arbeiterkalender auf 1884 empfiehlt die Neue Welt als „das einzige Unterhaltungsblatt, welches man dem Arbeiter mit gutem Gewissen empfehlen kann und welches die Schundliteratur [d. i. Kolportage, W. M.] aus der Hütte des Proletariers zu verdrängen bestimmt ist", und verweist auf die Buchfassungen der KautskyRomane. 31 Hinsichtlich der Schreibhöhe und der formalen Konzeption lehnt sich die Neue Welt an die Gartenlaube an32, wenngleich die Inhalte spezifiziert werden. In Kautskys Roman Helene (1894), der den Weg einer Kleinbürgerstochter zum Sozialismus beschreibt, wird deutlich auf die Funktionen von Lektüre hingewiesen: Sie las gerne, aber ohne Auswahl Alles, was ihr in die Hand fiel: die Schulbücher der Brüder, die schlechten Romane der Mutter und die Zeitungen des Vaters, so daß in diesem jungen, phantasievollen Kopfe die wunderlichsten und unwahrsten Vorstellungen vom Leben und von den Menschen sich zu entwickeln begannen. 53

Der Erzählerbefund deckt sich fast wörtlich mit Popps Beschreibung ihrer Lesesozialisation (und verweist zugleich auf die Topoi der bürgerlichen Propaganda gegen die sog. „Schmutz- und Schundliteratur", die um 1885 ein-

30 Adelheid Popp: Minna Kautsky. In: Der Kampf (Wien) 6 (1912/13), S. 235 f., Zit. S. 235. 31 Anonym: Was und wie soll der Arbeiter lesen? In: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1884. Redigirt v. E. T. Doleschall. Wien: Hrsg. u. Verl. Josef Bardorf 1884, S. 91-97, Zit. S. 93. 32 Zerges (Anm. 26), S. 35 ff. 33 Minna Kautsky: Helene. Roman in drei Bänden. Stuttgart: Dietz 1894, S. 15.

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setzt34). Die Substitutionsfunktion, die Kautskys Literatur erfüllt, ist den Romanen dazu nicht lediglich äußerlich. In Kautskys Romanwerk werden Strukturelemente von Kolportageroman und bürgerlicher Unterhaltungsliteratur angeboten, um dann zurückgewiesen zu werden. Das märchenhafte Requisit der „unvermuteten Herkunft" etwa, durch deren Offenbarung Handlungsknoten gelöst werden, ein Verfahren, das nicht zuletzt auch die Literatur der Marlitt bestimmt (vom Typ: die Näherin ist eigentlich eine Gräfin) und das Motiv des jähen sozialen Aufstiegs durch Heirat (vom Typ: von der Näherin zur Gräfin) werden bei Kautsky benützt und kritisch gewendet. In Stefan vom Grillenhof (1879/1881), einem Roman, den Karl Marx für die bemerkenswerteste Erzählung der Gegenwart gehalten haben soll35, stellt sich die Mignon-Gestalt Nandl als natürliche Tochter einer Aristokratin (und eines sinnlichen Jesuitenpaters) heraus; Nandl schlägt deren Angebote aus und eröffnet mit dem Bauernsohn Stefan eine Produktionsgenossenschaft. In Die Alten und die Neuen (1884/1885), dem von Engels kritisierten Werk, erweist sich der als Arbeiter aufgewachsene Wissenschaftler und Sozialist Arnold Lefebre als natürlicher Sohn eines reichen liberalen Abgeordneten, schlägt aber dessen Angebote aus und muß vor polizeilicher Verfolgung flüchten. Die Chancen, die den Helden kraft Geburt, und das heißt hier: Klassenzugehörigkeit, zustünden, erscheinen in den Romanen der Kautsky als Verführungen zur Korruption. Von daher steht auch die oft gerügte36 Befassung der Romane mit der Oberschicht (Aristokratenbälle) und das typisierte Personal: weltfremde Gelehrte, finstere Jesuiten, gefährdete Mädchen in anderem Licht; das Substituierte ist im Substituierenden sichtbar. Die Arbeiterkalender37, nach der Neuen Welt zweites wichtiges Publikationsmedium Kautskys, stehen ebenfalls in direkter Konkurrenz mit traditio34 Vgl. Jäger, Schmutz u. Schund (Anm. 27). 55 Briefwechsel Engels - Kautsky (Anm. 17), S. 51. 56 Stieg, Witte (Anm. 22); ähnlich, aber gerechter Ingrid Cella: Die Genossen nannten sie die „rote Marlitt". Minna Kautsky und die Problematik des sozialen Romans, aufgezeigt an: „Die Alten und die Neuen". In: Österreich in Geschichte und Literatur 25 (1981), S. 16-29. 57 Vgl. Cacilia Friedrich / Red.: Kalender der Arbeiterbewegung. In: Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945. Hrsg. v. Simone Barck u. a. Stuttgart: Metzler 1994, S. 255-256; Emst K. Herlitzka: 90 Jahre „Arbeiter-Kalender". In: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien) 2 (1962), H. 2, S. 55-41.

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nellen populären Medien und versuchen die massenhaft verbreitete konfessionelle, ständische und politische Kalenderliteratur zu ersetzen, indem sie Belletristik, Populärwissenschaft und Agitation verbinden, ohne die pragmatischen Funktionen des „Kalenders" zu vernachlässigen. Als kontinuierliche Publikationen innerhalb der anfangs kurzlebigen und schnell wechselnden Parteipresse begründen sie in der Phase der Fraktionskämpfe auch die Kontinuität der österreichischen Partei; auch an den Neue Welt-Kalendern des deutschen Parteiverlegers Dietz ist Minna Kautsky beteiligt. Mit diesem Spektrum von Parteipublikationen entsteht also ein relativ geschlossenes literarisches Feld, eine „sektorale" literarische Öffentlichkeit, in die Minna Kautsky ihre Produktionen einrückt. Das Substitutionsprogramm, das Kautsky vielleicht a m konsequentesten in der frühen Arbeiterbewegung durchführt, trennt dennoch ihre Literatur nicht prinzipiell von der gleichsam allgemeinen, „bürgerlichen" Literatur außerhalb der Distributions- und Rezeptionsgrenzen der Partei. Inhaltlich - und darauf beruht Engels' Mißverständnis - sind Kautskys frühe Romane keineswegs agitatorisch. Die „Tendenz", die Engels in Die Alten und die Neuen findet, unterscheidet sich wenig von bürgerlich-fortschrittlicher Programmatik; wohl zeigt das Werk Bewußtwerdungsprozesse an den Arbeitern der staatlichen Salinen des Salzkammerguts, sozialpolitisierende Intellektuelle (Arnold) und freigeistige Naturkinder (Elsa); aber die Partei tritt nicht in Erscheinung, die Inhalte von Arnolds Broschüre, die ihm die Achtung der Bürgerwelt einträgt, bleiben vage. Die vertretene „Tendenz" wird viel eher durch die Gegner präsent gemacht: den liberalen Abgeordnenten, den konservativen Grafen, die klerikale Gräfin. Durch diese Abgrenzungen bleibt im politischen Feld nur die Sozialdemokratie übrig, zumal die Arbeiter im Roman Gegenstand konkurrierender politischer Interessen sind und nur von Arnold nicht instrumentalisiert werden. Der ideologische Gehalt der frühen Romane Kautskys besteht denn auch weniger in der Agitation für die Partei als in der Bestärkung der Tiefenschicht der Parteiarbeit unter dem „Sozialistengesetz" bzw. dem in Teilen Österreichs herrschenden „Ausnahmezustand", der die politische Bewegungsfreiheit stark begrenzte: in der kognitiven und affektiven Bestärkung der Modelle von „Bildung", „Wissenschaft" und evolutionistisch in Natur fundiertem Fortschritt durch Entwicklung. Von hier aus hat Minna Kautsky teil an der Verfestigung des Sozialismus als Milieu und Weltanschauung in einer gleichsam arbeitsteiligen Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Karl, in dessen theoretischer Zeitschrift Die Neue Zeit sie Essays und Literaturkritik publiziert; die Szenen spontaner Solidarität,

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die häufig die Peripetie ihrer Erzählungen ausmachen, sind „wissenschaftlich" gegengelagert in Karl Kautskys darwinistischem Konzept eines „sozialen Triebs". 38 Dieses politisch nicht einsinnig identifizierte Programm machte die Romane Minna Kautskys prinzipiell also auch als „bürgerliche Literatur" rezipierbar, zumal das Romanwerk deutliche Anleihen bei Autoren wie Ludwig Anzengruber, Paul Heyse und Marie v. Ebner-Eschenbach zeigt. Die Figur des Pechers Poldl in ihrem Roman Victoria trägt unübersehbar Züge von Anzengrubers „Steinklopferhanns"; mit Ebner-Eschenbach verband Minna Kautsky eine langjährige Freundschaft, ihr Bild soll neben dem August Bebels in Kautskys Arbeitszimmer gehangen sein.59 Die sich daraus ergebende doppelte Verwertbarkeit literarischer Arbeiten hat Kautsky auch angestrebt. Der Briefwechsel mit ihren Verlegern, soweit er sich im Nachlaß Minna Kautskys erhalten hat, bietet Gelegenheit, den Problemen sozialistischer Autorschaft in den 1880er Jahren nachzugehen. Eine wesentliche Vorentscheidung über die weitere Verwertung war bereits mit der Wahl des Mediums der Erstpublikation gefallen. Ihr Leipziger Verleger Reissner erkennt erst an Kautskys Bevorzugung der Neuen Welt den sozialistischen Charakter ihrer Werke und auch, daß dies Verlag und Absatz nicht förderlich sein wird: „Ich weiß nicht, ob Sie die Tendenzen der Parthei, von welcher dieses Blatt fast ausschließlich gelesen wird, voll und ganz billigen.'"10 Für Reissner, der sich selbst als „freisinnig" versteht, kommt die idiosynkratische Entscheidung für die Neue Welt einer Selbstausschließung Minna Kautskys aus dem literarischen Distributionsprozeß gleich: Bezüglich meiner Polemik gegen die „Neue Welt" giebt mir Herr Last vollkommen recht. Ihre Bücher sind zu schade für dieses Blatt und dem betr. Publicum nicht einmal gesund. Ich möchte es in Ihrem Interesse dringend wünschen, daß Ihr nächstes Werk nicht in der „Neuen Welt" erschiene, sondern in einem Blatte wo es von einem gebildeten Publicum gelesen und beherzigt wird, denn gerade das gebildete Publicum verhält sich heutzutage unbegreif-

58 Vgl. dazu Verf.: Die „sozialen Triebe". Darwin bei Minna und Karl Kautsky. In: Minna Kautsky (Anm. 2), S. 269-305. 39 Minna Kautsky an Marie v. Ebner-Eschenbach, 3. 11. 1904. Wiener Stadt- u. Landesbibliothek, Handschriftenabteilung, I.N. 57.845. 40 Carl Reissner an Minna Kautsky, o. D. [vor 17. 2. 1882], Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam (i. f. „IISG"), Kautsky-Familiennachlaß 1643.

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licher Weise den großen Fragen der Gegenwart gegenüber ganz apathisch und bedarf der Aufrüttelung, während das Publicum der „Neuen Welt" eher des Zügels bedarf.

Nach Die Alten und die Neuen kommt es zum Bruch mit Reissner, wie Kautsky an Engels berichtet: Mein Verleger, den ich in Leipzig besuchte, hat mir gleichsam die Freundschaft gekündigt. Er sagte mir, ich verstünde zu schreiben, aber ich müßte ganz anders schreiben, wenn meine Bücher Erfolg haben sollten. Meine Tendenz wirke befremdend, ein Schriftsteller aber, der heute ein Publikum haben wolle, müsse Allen zu gefallen suchen. [...] Als Geschäftsmann m a g er aber Recht haben. 41

Albert Last hat sich als größter Wiener Leihbibliothekar gleichfalls für Minna Kautsky interessiert und mit Reissner anfangs größere Abnahmeposten der Auflage vereinbart, eine Beziehung, die langsam erkaltete; von Reissner wechselt Kautsky zum Züricher oppositionellen Verleger Schabelitz, von Schabelitz endlich zum sozialistischen Verleger Dietz, bis dessen Nachfolger und Erbe sie der nach wie vor hohen Lagerbestände und der erwachsenen Defizite wegen schließlich 1904 bittet, sich einen anderen Verleger zu suchen und sie an den Parteiverlag Vorwärts weiterreicht. Dietz wieder versucht über Kautsky mit im bürgerlichen Literaturbetrieb publizierenden Autoren in Kontakt zu treten ( „ D a ich nun nicht weiß, ob Frl. Mataja event. für uns zugänglich ist, so frage ich bei Ihnen [...] an, ob Sie mir Näheres mittheilen können." 4 2 ). Zu den Problemen mit bürgerlichen Verlegern treten von Kautskys Seite Fehleinschätzungen des literarischen Marktes. Für ihren Arbeiterroman Victoria hofft sie auf das Weihnachtsgeschäft und muß sich von Schabelitz im nachhinein sagen lassen, daß sich die Sortimenter bei dieser Gelegenheit lediglich mit „elegant gebundenen Proben sog. Salonbücher" befaßten. 43 Mit dem Wechsel zu Schabelitz irritiert Kautsky wieder Albert Last, der

41 Minna Kautsky an Friedrich Engels, 15. 10. 1885. Briefwechsel Engels - Kautsky (Anm. 17), S. 186. 42 J. H. W. Dietz an Minna Kautsky, 12. 7. 1886, IISG, Kautsky-Fam. 1635. 43 Schabelitz an Minna Kautsky, 16. 12. 1888, IISG, Kautsky-Fam. 1644.

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Schabelitz (wie dieser klagt) boykottiert. 44 Engelbert Pernerstorfer, der damals mit den Deutschen Worten noch über ein linksliberales, nicht aber sozialistisches Blatt verfügt, soll für sie Kontakte mit dem Wiener Verleger Carl Konegen anbahnen, „der ja den österreichischen Autoren seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet". 4 5 Die allgemeine „Fortschrittlichkeit" ihrer Ansprechpartner überschätzt sie; bei Paul Heyse versucht sie „eine meiner Novellen, die keine so ausgesprochene Tendenz besitzen", unterzubringen: „Sie sind sämmtlich in der Neuen Welt erschienen, dem großen Publikum also gänzlich fremd [gestr.: unbekannt]. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie eine derselben zur Herausgabe in Ihrem deutschen Novellen Schatz tauglich fanden." 4 6 Von Philipp Reclams Universal-Bibliothek erhält sie eine herbe politisch motivierte Ablehnung: die „an und für sich meisterhafte[ ]", dennoch reichlich harmlose Novelle Die Brandstatt müsse abgelehnt werden, da er ,,[a]m allerwenigsten [...] der sozialdemokratischen Agitation eine Handhabe bieten" wolle: „Ich beklage es lebhaft, daß Sie Ihr großes Talent in den Dienst einer Propaganda stellen, welche dem wahren Glück des Volkes entgegen steht." 47 Die Novelle war wenige Monate zuvor im Oesterreichischen Arbeiterkalender erschienen. 48 Ebenso entgeht Kautsky die rapide ästhetische Differenzierung innerhalb der bürgerlichen Literatur. Die Buchausgabe von Helene will sie bei S. Fischer unterbringen und geht zugleich Georg Brandes u m eine Rezension an; in beiden Fällen erhält sie höfliche Absagen. 49 Die problematische Erstpublikation im Parteiorgan verbaut also den üblichen Weg der Romandistribution 5 0 von (Vor-)Abdruck in einem Periodi-

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Schabelitz an Minna Kautsky, 2. 11. 1888, IISG, Kautsky-Fam. 1644. Engelbert Pernerstorfer an Minna Kautsky, 11. 1. 1889, IISG, Kautsky-Fam. 1632. Minna Kautsky an Paul Heyse, o. D. [Entwurf], IISG, Kautsky-Fam. 1631. Philipp Reclam an Minna Kautsky, 26. 3. 1889, IISG, Kautsky-Fam. 1643. Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1889. Hrsg. v. d. Redaction des „Volksfreund" in Brünn. Brünn 1889, S. 92-112. Der „Arbeiter-Kalender" erschien gewöhnlich Ende Oktober des Vorjahres, wie aus den Anzeigen in der Parteipresse hervorgeht. 49 Minna Kautsky an Samuel Fischer, 23. 3. 1894, IISG, Kautsky-Fam. 1631; Samuel Fischer, Verlag an Minna Kautsky, 20. 3. [?] 1894, IISG, Kautsky-Fam. 1637; Georg Brandes an Minna Kautsky, 31. 3. 1895, IISG, Kautsky-Fam. 1634. Ein weiterer Absagebrief von Fischer ist erhalten, Samuel Fischer an Minna Kautsky, 17. 3. 1905, IISG, Kautsky-Fam. 1637: der Roman (verm. „Im Vaterhause") sei nicht geeignet. 50 Dazu Reinhard Wittmann: Das Literarische Leben 1848 bis 1880. In: R. W.: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880. Iii-

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kum und darauf folgender Buchausgabe mit Auflagenhöhe in Hinblick auf die Leihbibliothek. Wo Kautskys Werke in Leihbibliotheken eingestellt werden, werden sie der weiblichen Autorschaft wegen als „Damenlectüre" rubriziert, nicht als „moderne" oder „sociale" Romane.51 Dafür tritt unter diesen Umständen eine Variation des gewöhnlichen Publikationszyklus ein: Auf den Vorabdruck in einem sozialistischem Periodikum folgt die Leihbibliothek mit bescheidenem Erfolg, hauptsächlich wieder sozialistische Lesezimmer; darauf Dritt-, Viert- und Fünftabdrucke in sozialistischen Periodika. So kommt Kautsky dennoch auf eine sehr große Leserzahl; die Empathie des Publikums ist hoch, bezieht sich aber wieder auf das eigene Feld: Leser der Neuen Welt lassen im Reichenberger Arbeiterfreund eine Anzeige einrücken, die sich nach Stefan vom Grillenhof bald wieder „dieserlei" wünschen.52 Die Abschließungsmechanismen waren so stark, daß wohl mitunter durchaus wohlwollende Rezensionen in bürgerlichen Zeitungen erschienen, heute aber nur mehr wenige Exemplare der Buchausgaben Minna Kautskys erhalten sind, da sie weder von den Volksnoch von den staatlichen Bibliotheken eingestellt wurden.

hingen: Niemeyer 1982, S. 111-231, bes. 166 ff.; Eva D. Becker: „Zeitungen sind doch das Beste". Bürgerliche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. (FS Fritz Martini.) Hrsg. v. Helmut Kreuzer. Stuttgart: Metzler 1969, S. 582-408. 51 Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. Wiesbaden: Harrassowitz 1990 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 29), s. Reg. In den von Georg Jäger und Valeska Rudek ausgewerteten deutschen Bestandskatalogen scheint Kautsky nicht auf, was auf lokal begrenzte Wirkung schließen läßt (bei Martino - mit Ausnahme der Arbeiterbibliotheken - Nachweise für Budapest und Wien). G. J., V. R.: Die deutschen Leihbibliotheken zwischen 1860 und 1914/18. Analyse der Funktionskrise und Statistik der Bestände. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Tl. II. Hrsg. [...] v. Monika Dimpfl u. G. J. Tübingen: Niemeyer 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 28), S. 198-295. 52 Inserat „An die Autorin des ,Stefan von [!] Grillenhof!" In: Arbeiterfreund (Reichenberg), 9. 9. 1880, S. 4.

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Als Lukacs 1938 im Moskauer Wort mit dem Artikel Es geht um den Realismus die sog. „Expressionismusdebatte"53 autoritativ abzuschließen meint und nach dem Wesen des „Avantgardismus" fragt, kommt er nicht zufallig auf den mittlerweile verstorbenen Hermann Bahr zu sprechen, der vom Naturalismus bis zum Surrealismus vor jeder neuen Mode als Tambourmajor einherstolzierte, um jede Richtung, ein Jahr bevor sie aus der Mode kam, zu ,überwinden' [.] Herr Bahr ist selbstverständlich eine Karikatur. Er ist aber die Karikatur von etwas Wirklichem: nämlich vom formalistischen, inhaltslosen, vom großen Strom der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung abgerissenen Avantgardismus.34

Lukacs wird nicht gewußt haben, daß das Konzept der „Moderne", wie es Bahr bereits 1886 in den Deutschen Worten entwickelt, aus einer marxistischen Ableitung stammt, und zwar aus einer - wenngleich grotesk verzerrten - Widerspiegelungstheorie: Aus einer sensualistischen Erkenntnistheorie wird von Bahr die Forderung abgeleitet, „modern zu sein", „immer modern zu bleiben und das heißt [...] zu jeder Zeit revolutionär zu sein", indem nämlich das „Genie" jede „jähe Aenderung der Oekonomie sofort mit seinem Geiste" „begleiten" können soll, ein Vorrecht der Jugend. Hier fallt auch sein Imperativ, „bis in die Fingerspitzen hinab nervös zu sein"; das Bewußtsein habe dem Stand der Produktivkräfte zu folgen. Der kritische Begriff von „Ideologie" ist schon hier verschwunden in aktualistischer Affirmation.55 Lukacs hat Bahr mit Arno Holz, Karl Henckell, Otto Erich Hartleben, Paul Ernst und Bruno Wille zusammengesehen56, die einen verschwommenen und unklaren, letztlich reaktionären „Sozialismus" vertreten hätten, und hat die „Linksopposition" der „Jungen"57 aus der Anpassungskrise der 53 Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975 (= es 646). 54 Georg Lukacs: Es geht um den Realismus [1958], In: Lukacs, Werke 4 (Anm. 18), S. 315-343, S. 335. 55 Hermann Bahr: Das transzendente Korrelat der Weltanschauungen. In: Deutsche Worte (Wien) 6 (1886), S. 322-551; alle Zitate S. 551. 56 Georg Lukacs: Der deutsche Naturalismus [1944/45]. In: Lukacs: Schriften zur Literatursoziologie. Mit einer Einf. v. Peter Ludz. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1985, S. 451-462, Zit. S. 454. 57 Zu den „Jungen" vgl. Dirk H. Müller: Idealismus und Revolution. Zur Opposition der

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SAPD nach dem Übergang in die Legalität erklärt: „Nach der vergeblichen Revolte der ,Jungen' ist die sozialistische Welle' in der Literatur vorbei."58 Tatsächlich dürfte es sich bei Bahr dennoch um den besten Marx-Kenner unter den linken Naturalisten gehandelt haben59, zumal um einen frühen, da ja die Marx-Rezeption in der deutschsprachigen Sozialdemokratie erst Anfang der achtziger Jahre mit der Zusammenarbeit von Karl Kautsky und Eduard Bernstein einsetzt.60 Bahr hatte dabei unter ihnen auch noch die stärkste Verankerung in einer sozialistischen Partei, in der österreichischen. Bahrs marxistisch inspirierte Literaturkritik, die im großen Ibsen-Essay (1887) kulminiert, dabei auch Aufsätze zur Kunstgeschichte und zur Erkenntnistheorie61 umfaßt, blieb dennoch traditions- und folgenlos; Bahrs Verknüpfung mit ebendiesen „Jungen", mehr noch seine frühe Abwendung vom Sozialismus bei gleichbleibender spektakulärer publizistischer Präsenz ließen Franz Mehring bereits 1895 Bahr in Gemeinschaft mit Otto Erich Hartleben einen „Schlottergeist der,Modernen'" nennen.62

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Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand 1890 bis 1894. Berlin: Colloquium-Vlg. 1975 (= Hist. Komm, zu Berlin, Beih. zur IWK 5), auch Hans Manfred Bock: Die „Literaten- und Studenten-Revolte" der Jungen in der SPD um 1890. In: Das Argument 15 (1971), H. 1-2, S. 22-41. Lukäcs: Überwindung des Naturalismus [1944/45]. In: Lukäcs, Literatursoziologie (Anm. 56), S. 462-468, S. 462. Dietger Pforte: Die deutsche Sozialdemokratie und die Intellektuellen. Aufriß eines fruchtbaren Mißverständnisses. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hrsg. v. Helmut Scheuer. Stuttgart usw.: Kohlhammer 1974 (= Sprache und Literatur 91), S. 175-205, S. 178; vgl. Bahr über seine emphatische Marx-Lektüre noch 1904 in: Das unrettbare Ich. In: H. B.: Zur Uberwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Ausgew., eingel. u. erl. v. Gotthart Wunberg. Stuttgart usw.: Kohlhammer 1968 (= Sprache und Literatur 46), S. 183-192, S. 187. Hans-Josef Steinberg: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg. 5., erw. Aufl. Berlin, Bonn: Dietz 1979 (= Internationale Bibliothek 99); Ernst Hanisch: Die Marx-Rezeption in der österreichischen Arbeiterbewegung. In: Südost-Forschungen (München) 37 (1978), S. 92-121. Hermann Bahr: Henrik Ibsen. (Sonderdruck aus d. 8. u. 9. Heft der „Deutschen Worte"). Wien: Vlg. d. „Deutschen Worte" (Engelbert Pernerstorfer) 1887; Die Weltanschauung des Individualismus. In: Deutsche Worte 7 (1887), S. 59-70; Zur Geschichte der modernen Malerei. In: Deutsche Worte 6 (1886), S. 453-446. Franz Mehring: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Thomas Höhle, Hans Koch u. Josef Schleifstein. Bd. 11: Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel. Berlin: Dietz 1980, S. 411.

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Arno Holz hat für den Weg vom Beginn seines Interesses für die Sozialdemokratie bis zu dessen Erlöschen gerade zwei Jahre benötigt und sich dem Individualanarchismus Max Stirners zugewandt 63 ; Bahr, mit Holz gemeinsam 1884 an der „nationalsozialen" Berliner Kyffhäuser-Zeitung beteiligt, benachrichtigt erst nach vier Jahren seinen Vater vom Nachlassen seiner sozialistischen Begeisterung. Unter Berufung auf Heraklits „Alles fließt", das er sich bei der Lektüre von Engels' Anti-Dühring notiert hatte 64 - also durchaus in Ubereinstimmung mit seiner Lesart der sozialistischen „Klassiker" - , hatte er bereits zuvor diese „Wende" angekündigt. In Bahrs sozialistischer Zeit entstehen sein Erstlingsdrama Die neuen Menschen (1887) und der Einakter La Marquesa d'Amaegui (1888), eine Polemik gegen den ehemaligen österreichischen Handelsminister Schäffle, Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle. Drei Briefe an einen Volksmann (1886) sowie eine reiche Publizistik in Heinrich Friedjungs Deutscher Wochenschrift, Engelbert Pernerstorfers Deutschen Worten und Victor Adlers Gleichheit, dem Wiener Parteiorgan. Bahrs „bürgerliches Trauerspiel" Die große Sünde (1889) markiert nach übereinstimmender Ansicht den „Abfall" von der Sozialdemokratie, ebenso sein Engagement in Otto Brahms Zeitschrift Freie Bühne. Bei der Lektüre des ersten Essaybands Zur Kritik der Moderne (1890), der marxistische und artistische Arbeiten vereint, datiert der im Wiener Landesgericht einsitzende Adler in einem Brief an Bahr dessen „Wende" auf Anfang 1888, wo die „Renommisterei" beginne 65 ; als Adler im Juli 1889 am Pariser Gründungskongreß der Zweiten Internationale teilnimmt und Bahr besucht, tritt ihm anstatt des Marxisten ein „spiritualiste ardent" entgegen. 66

65 Helmut Scheuer: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883-1896). Eine biographische Studie. München: Winkler 1971, S. 185. 64 Hermann Bahr: Briefwechsel mit seinem Vater. Ausgew. v. Adalbert Schmidt. Wien: H. Bauer 1971, S. 155 f. (14. 3. 1887); die Absage an den Sozialismus teilt Bahr am 29. 9. 1888 mit, ebd., S. 196 f. Die Berufung auf Heraklit bzw. die Hegeische Dialektik leitet sich aus Bahrs einseitiger Engels-Lektüre her, vgl. Hermann Bahr: Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte. Bd. 1: 1885-1890. Hrsg. v. Moritz Csaky. Bearb. v. Lotteiis Moser u. Helene Zand. Wien-Köln-Weimar: Bühlau 1994, S. 5. Zu Wolfgang Heine und zum „nationalsozialen" „Kyffhäuser" Bahr: Selbstbildnis. Berlin: S. Fischer 1923, S. 186 f. 65 Victor Adler an Bahr, 6. 6. 1890, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15101 BaM. Bahrs Begegnung mit „Rüssel" habe die Wende gebracht. Der Journalist Russell wird erwähnt in Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater (Anm. 64), S. 188 (20. 5. 1888). 66 Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 250.

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Waren an Minna Kautsky die Schwierigkeiten einer im sozialistischen Feld publizierenden Autorin, die ins „bürgerliche" Feld strebt, zu beobachten, stehen dagegen die linken „Naturalisten" vor dem umgekehrten Problem. (So hätten die Modernen Dichter-Charaktere bei Dietz erscheinen sollen.67) Ihr Erfolg in der Sozialdemokratie beschränkt sich auf den Abdruck agitatorischer Lyrik von Holz, Henckell und John Henry Mackay in einzelnen Parteiblättern. Für Hermann Bahr hingegen ergibt sich aus der spezifischen Konstellation in der österreichischen Arbeiterbewegung die seltene Gelegenheit, kontinuierlich an einem Zentralorgan mitzuarbeiten und sich in einem Diskussionsraum von Intellektuellen zu bewegen, die zugleich die Parteileitung bilden. Die Periode vom Eintritt Victor Adlers bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld (1886-1888/89) konsolidiert die österreichische Sozialdemokratie neu, indem Intellektuelle aus anderen politischen Feldern „mitgenommen" und die alten Fraktionen schrittweise integriert werden. Aus eigener Erfahrung und aus den Erfahrungen der Ressentiments, die ihm anfangs selbst entgegengebracht worden waren, agierte Adler (wie auch Karl Kautsky) später bei der Integration von Intellektuellen sehr restriktiv68, was wesentlich zum bis heute tradierten Victor Adler-Mythos in der österreichischen Sozialdemokratie beitrug: Auf diese Weise blieb die Rolle des bürgerlichen Renegaten heroisiert auf den „Doktor Adler" zentriert; eine intellektuelle Fronde wie die der „Jungen" in der SAPD wurde bereits im Vorfeld verhindert; eine Funktionärsaristokratie, die zum Revisionismus geneigt hätte, bestand nicht. Ein Angriff Max Schippeis auf die Reichstagsfraktion der SAPD erscheint in Adlers Gleichheit, möglicherweise von Bahr vermittelt. 69 Dazu kommt, daß die ideologischen Optionen, die sich den , Jungen' als Alternativen zur scheinbar verbürgerlichten Sozialdemokratie bieten, wie etwa der Nietzsche-Enthusiasmus, für Adler selbst bereits überwunden oder integriert sind. Für die (schwache) Linksopposition der (Wie67 Scheuer (Anm. 63), S. 48. 68 Bahr hielt Adlers Enttäuschung durch ihn selbst für den Grund: ,,[E]r traute seither in der Partei keinem Intellektuellen oder gar Künstler mehr über den Weg." Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 250. 69 Max Schippel: Die Arbeiter, der Parlamentarismus und die bürgerlichen Parteien in Deutschland. In: Gleichheit, 50. 4. 1887. Schippel war einer von Bahrs Berliner Freunden (vgl. Adler, Briefwechsel [Anm. 5], S. 22: „das Trifolium Bahr, Mehner, Schippel", an Karl Kautsky, 16. 11. 1886) und Redakteur der radikalen „Berliner Volkstribüne", dem Sammelpunkt der frühen Opposition gegen die deutsche Reichstagsfraktion; Mitarbeiter wa-

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ner) „Unabhängigen Sozialisten" zeigte Adler 1891/92 mehr Verständnis als die deutsche Parteileitung; in einem dem der „Jungen" vergleichbaren Ton schreibt er an Engels: „Sie müßte erfunden werden, wenn man sie nicht hätte, nur würde man sie um eine Nuance gescheiter und anständiger erfinden. Denn die Kleinbürgerei ist die größte Gefahr für uns [.. ,]."70 Bahrs Artikel in der Gleichheit sind bis jetzt nicht identifiziert worden, obwohl die Frage von Pseudonym und Kürzel im Briefwechsel mit Adler diskutiert wird71 und die Bahrschen Beiträge darüber hinaus in Gestus und Idiomatik deutliche Fremdkörper im Blatt bilden. Mag die sozialistische Publizistik im Gesamtwerk Bahrs vernachlässigbar erscheinen, für die österreichische Partei war sie es nicht: Bahr hat, von der Probenummer an, kontinuierlich große, teils programmatische Artikel verfaßt und von Berlin nach Wien gesandt; bis zum Antritt seines Militärjahres im Oktober 1887 sind 21 solcher Artikel nachweisbar, dazu zwei kleine Prosaskizzen, die später in der Sammlung Fin de Siecle (1891) nachgedruckt wurden. Die Hermann Bahr-Bibliographie erweitert sich ferner um einen Beitrag im Oesterreichischen Arbeiterkalender auf1888, Die Arbeiter und die Cultur.72 Häufig waren ren u. a. der „Friedrichshagener" Schriftsteller Bruno Wille und der Student Hans Müller, Anführer der „Jungen". Möglicherweise hat Bahr auch für die „Volkstribüne", die seit August 1887 erschien, geschrieben; jedenfalls mahnt Victor Adler (an Bahr, 28. 8. 1887), dieser möge für die „Gleichheit" arbeiten, erst dann käme Schippel. 70 Adler an Engels, in: Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. v. Parteivorstand d. Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs. Wien: Wr. Volksbuchhandlung 1929, 1. Heft, S. 43. 71 Victor Adler an Bahr, 17. 11. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15098 BaM. 72 Nicht in Hermann Nimmervoll: Materialien zu einer Bibliographie der Zeitschriftenartikel von Hermann Bahr (1881-1910). In: Modern Austrian Literature 13 (1980), N. 2, S. 27-110 enthalten sind: H-R.: „Worauf es ankommt." Gleichheit (Wien), 17. 11. 1886; HR.: [Zum Jahreswechsel], 1. 1. 1887; „Die soziale Reform" [1-2], 8. u. 15. 1. 1887; „Deutschland vor Auflösung des Reichs", 22. 1. 1887; „Der Terrorismus in Preußen", 5. 2. 1887; „Eine Wette" [Glosse gegen Plener] u. „Rip van Plener", 19. 2. 1887; „Geheimmittelschwindel", 26. 2. 1887; „Potpourri", 5. 3. 1887; „Zum 13. März. (Wien, 11. März.)" [Jahrestag der Wiener Revolution von 1848], 12. 3. 1887; „Zur Kritik der Parteien in Österreich" p-V], 26. 3., 2. u. 16. 4., 28. 5. u. 25. 6. 1887; „Jungdeutsches" [Glosse gegen Conrad Alberti], 16. 7. 1887. Anonym und ohne Kürzel erschien „Unsere Presse" [1—11], 20. u. 27. 8. 1887, die beiden Artikel können aber aufgrund eines Briefes von Victor Adler an Bahr vom 28. 8. 1887, in dem sich Adler für die beiden Artikel bedankt, einen Separatdruck vorschlägt und für die letzten sechs Beiträge ein Honorar von 60 Gulden in Aussicht stellt, zweifelsfrei Bahr zugeordnet werden (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Adler-Archiv, M 68-62); danach erschien noch „Unsere Presse III", 5. 9. 1887 und

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e s B a h r s A r b e i t e n , d i e d i e A u f l a g e g e f ä h r d e t e n 7 3 (in d e n d r e i ß i g M o n a t e n i h r e s B e s t e h e n s w a r d i e Gleichheit

i n s g e s a m t 4 5 m a l Opfer polizeilicher

K o n f i s k a t i o n ) , o b g l e i c h b e r e i t s A d l e r als R e d a k t e u r e i n e g e w i s s e V o r z e n s u r ü b t e . 7 4 A l s A d l e r d a s W o r t „ R e v o l u t i o n " i m T i t e l b e a n s t a n d e t , e r s c h e i n t ein A u f s a t z als Die soziale

Reform. 15

D i e S c h r e i b h ö h e d e r Gleichheit

l e g t A d l e r g l e i c h zu B e g i n n s e i n e r B e -

k a n n t s c h a f t m i t B a h r fest, als d i e s e r als R e d a k t e u r ab-, s e i n e M i t a r b e i t a b e r z u g e s a g t h a t : „ D e r Vergleich m i t F r i e d j [ u n g s ] Wochenschrift paßt k e i n e s w e g s - Ich will u [ n d ] w e r d e e i n e i n f a c h e s Arbeiterblatt, a l l e r d i n g s s o g u t g e m a c h t als i r g e n d m ö g l i c h , h e r a u s g e b e n . " 7 6 A l s B a h r d i e e r s t e n P r o b e a r t i k e l liefert, stellt sich a l l e r d i n g s h e r a u s , d a ß B a h r d i e Stillage u n d d a m i t die R e z e p t i o n s seite d e r n e u e n Z e i t u n g verfehlt: „ D a h a b e ich d e n n v o r A l l e m zu b e m e r k e n , d a ß S i e sich m e h r b e w u ß t s e i n m ü ß e n zu w e m S i e s p r e c h e n - E i n e R e i h e

73

74 75 76

am 1. 10. 1887 „Volksliteratur" (wird in „Unsere Presse III" angekündigt). Bahrs Referenztexte in seinen „Gleichheit"-Beiträgen decken sich weitgehend mit seinen Lektürenotaten in den Tagebüchern (Anm. 64). Zu Bahrs literarischen Skizzen in der „Gleichheit" vgl. Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfange des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 19. In der Autobiographie berichtet Bahr, daß er „als Einjähriger Woche für Woche, bis wir dann ins Brucker Lager kamen, jeden Donnerstag nach dem Befehl in die Berggasse zu Viktor Adler kam, um ihm bei der Redaktion seiner,Gleichheit' zu helfen, in der ich als Freiwilliger eine Reihe der boshaftesten ,Glossen' schrieb." Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 210 f. Im Briefwechsel mit dem Vater (Anm. 64), S. 191, heißt es, mit dem Einrücken ins „Brucker Lager" sei möglicherweise mit Ende April 1888 zu rechnen; somit ein terminus ante quem für weitere Arbeiten Bahrs in der „Gleichheit". „Glossen" war der Titel einer stehenden Rubrik mit kleinen tagesaktuellen Polemiken auf den ersten Seiten des Blattes, die nicht durchgehend mit Kürzeln gezeichnet wurden und somit kaum Bahr zuzuordnen sind, zumal er aus Vorsicht vor den Militärbehörden auf eine Zeichnung verzichtet haben wird. Immerhin hoffte Emma Adler noch im März 1889 auf einen „Märzartikel" Bahrs. Emma Adler an Hermann Bahr, o. D. (Anm. 1) u. Emma Adler an Hermann Bahr, o. D. [verm. Aufl. 1889], ÖTh, Bahr-Nachl. A 15043 BaM. Die Ausgaben vom 19. 2., 5. 3., 12. 3. und 16. 4. 1887 wurden wegen Stellen in Bahrs Artikeln beschlagnahmt, wie aus den Zensurstrichen in den nach Konfiskation zweiten Auflagen und dem amtlichen Vermerk in den Folgenummern hervorgeht. In einigen Artikeln führt Bahr regelrechte Zwiesprache mit dem Zensor. Vgl. z. B. Victor Adler an Bahr, o. D., ÖTh, Bahr-Nachl. A 15096 BaM. Ebs. Victor Adler an Bahr, 17. 11. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15098 BaM. Victor Adler an Bahr, 17. 11. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15098 BaM; vgl. Gleichheit, 8. u. 15. 1. 1887. Victor Adler an Bahr, 28. 8. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15097 BaM, I-II.

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von Wendungen, die mir sehr ergötzend u erquicklich sind, Anspielungen u dergl werden von den Arbeitern einfach nicht capiert - Ebensowenig die Consequenzen Ihres jetzigen sträflichen Umgangs mit der Philosophie u. die vielen Fremdworte [...]", Adler resümiert: „Kurzum, die Sachen sind sehr gut der Sache nach - Im Ton müßen sie populärer werden".77 Bahr hatte also eher an ein theoretisches Organ gedacht; im Jahr zuvor hatte er sich um die Mitarbeit an Karl Kautskys Neuer Zeit beworben78 (der selbst mit den Schwierigkeiten eines populären Tons zu kämpfen hatte79). Das Problem, die eigene akademische und literarische Schreibweise zurückzunehmen, löst sich im Falle Bahrs, indem in der Gleichheit seine Aufsätze mit Fußnoten erscheinen, in denen Begriffe wie „abstrakt", „konkret" und „Ideologie" erklärt werden. Dazu kommt, daß in einigen der Artikel Bahrs ein schreibendes „Ich" auftritt80, das auf eigene frühere Artikel bezugnimmt und im Konversationston die Rolle eines stehenden Kolumnisten zu etablieren scheint, was in der frühen Arbeiterpresse (nicht nur in der Gleichheit) ohne Beispiel sein dürfte. Als Bahr 1889 im Wiener Salonblatt Reisebriefe aus Paris abdrucken läßt, trifft hingegen diese Schreibweise die Anforderungen genau.81 Bahrs literarische Arbeiten aus dieser Zeit stehen vollends außerhalb des Kontexts der Arbeiterbewegung. Bücher publiziert Bahr (bis zum Sammel-

77 Victor Adler an Bahr, 17. 11. 1886, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15098 BaM. 78 Karl Kautsky an August Bebel, 15. 12. 1885. In: August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky. Hrsg. v. Karl Kautsky Jr. Assen: van Gorcum 1971 (= Quellen u. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen u. österr. Arbeiterbewegung NF 2), S. 47 f. 79 „|T]ch stelle mir als Leser meiner Schriften stets einen Proletarier vor, nicht einen ganz primitiven [...] sondern einen, an den Klassenkämpfen seiner Zeit rege teilnehmenden, in ihnen und durch sie gebildeten Proletarier [...]. Solche Arbeiter bildeten in der Zeit von 1875 bis 1880 fast meinen ausschliesslichen Verkehr ausserhalb meiner Familie. Mit ihnen und für sie redete und schrieb ich. Dabei kam ich dazu, stets auf möglichste Einfachheit und Klarheit der Darstellung bedacht zu sein, was mir viel wichtiger wurde als geistreiche Anspielungen und überraschende Wendungen oder gar als tiefsinnige Dunkelheiten." In: Kautsky, Erinnerungen (Anm. 3), S. 366. 80 „Weil wir gerade von Zusammenhang sprechen, fallt mir noch etwas ein." Potpourri. In: Gleichheit, 5. 3. 1887, S. 2-4, Zit. S. 3. 81 Ebenfalls nicht bei Nimmervoll (Anm. 72). Bahr verfaßte zehn „Pariser Briefe" zwischen 3. 3. und 21. 7. 1889 für das „Wiener Salonblatt", 20. Jg. 1889, zumeist über die Pariser Weltausstellung. Emma Adlers Schmerzen steigern sich, als sie im Wartezimmer ihres Zahnarztes im „Salonblatt" auf Bahrs Feuilletons stößt, wie sie diesem nach Paris mitteilt. Emma Adler an Bahr, o. D., ÖTh, Bahr-Nachl. A 15041 BaM.

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band Zur Kritik der Moderne) bei Schabelitz, der auch viele Naturalisten herausgibt; bereits Die große Sünde aber hat Bahr versucht, bei S. Fischer unterzubringen, wo schließlich der Roman Die gute Schule (1890) erscheint, nach Vorabdruck in der Freien Bühne. Damit steht Bahr - anders als Minna Kautsky - in beiden Feldern. Darüber hinaus sind im Ideendrama Die neuen Menschen die Arbeiter keineswegs die Adressaten, sondern vielmehr die Gegenstände der Diskussionen der Protagonisten, die, Intellektuelle bürgerlicher Herkunft, die Ergebnisse ihres politischen Engagements am factum brutum sexueller Liebe zerbrechen sehen. Für die Sexualität steht - wie im Naturalismus nicht selten - eine proletarisierte Prostituierte, die das Ideal einer reinen Politik, einer Mischung von Parteiagitation und Caritas, ad absurdum führt. Das Drama, das also mit Sozialismus wenig zu tun hat, wird dennoch - ablehnend oder zustimmend - von der Kritik genau in diesem Sinn rezipiert: Ehrlich nennt es in der amtlichen Wiener Zeitung ein schlimmes Produkt „einer hochgradigen Ueberreiztheit, wie sie nicht schlimmer und nicht folgenschwerer aus der modernen, von Socialismus, Nihilismus, Darwinismus und Pessimismus gesättigten Philosophie hervorgehen konnte"; nach Müller-Guttenbrunn in der naturalistischen Gesellschaft „tritt uns [darin, W. M.] eine völlig neue dichterische Welt entgegen und die socialistische Weltanschauung hat in dieser Dichtung ihren schärfsten und vornehmsten Ausdruck erhalten." 82 Die neuen Menschen bedienen also nicht die Bewegung, sondern den Begriff, den man sich im bürgerlichen literarischen Feld, das in der literaturkritischen Spitzenrezeption vom Naturalismus polarisiert ist, vom Sozialismus gemacht hat. Die literarische Produktion Bahrs ist auch eine mögliche Quelle für die Befindlichkeiten im Adler-Kreis. In der Marquesa, einer „Plauderei" über die Dialektik von öffentlichem Habitus und privatem Charakter, sind wenig verschlüsselt Emma Adler (die Musset-Allusion des Titels bezog sich auf sie), Bahr selbst (als Schriftsteller) und Pernerstorfer (als Politiker) in der Sommerfrische der Familie Adler in Parschall am Attersee porträtiert. 85 An

82 J. R. Ehrlich in: Wiener Zeitung, 21. 5. 1887; Adam Müller-Guttenbrunn in: Die Gesellschaft. Litterarisch-kritische Rundschau, Nr. 3, Juni 1888, S. 196-201, Zit. S. 200 f. 83 Vgl. Emma Adler, Biographie Victor Adler (Anm. 4), S. 150. Vgl. auch Bahr: Selbstbildnis (Anm. 64), S. 214. Verarbeitet werden Erlebnisse des Sommers 1887; vgl. eine Karte Victor Adlers an Bahr, 12. 7. 1887, ÖTh, Bahr-Nachl. A 15100 B a M : Adler passiere mit Engelbert Pernerstorfer Linz, Bahr solle mit nach Parschall kommen. Den Zusammenstoß von Som-

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d e r Großen

Sünde,

e i n e r Ibsen-Kontrafaktur, rügt E m m a A d l e r : „5 S t e l l e n ,

S i e w i s s e n s c h o n w e l c h e ich m e i n e , hätten S i e sich s c h e n k e n k ö n n e n . Ü b e r h a u p t f i n d e ich, dass S i e I h r e n Z e i t g e n o s s e n viel z u viel E h r e a n t h u n , w e n n S i e i h r e A u s s p r ü c h e d e r M i t - u. N a c h w e l t v o r s e t z e n ! ! " 8 4 Ü b e r d i e s ist Bahrs D r a m e n t i t e l Die neuen Menschen

e i n Selbstzitat. Bahrs

e r s t e r - a n o n y m e r - Artikel i n d e r p r o g r a m m a t i s c h e n P r o b e n u m m e r d e r Gleichheit,

m i t d e m n i c h t u n a m b i t i o n i e r t e n T i t e l Worauf

es

ankommt,

schließt m i t d e m Passus: „ D i e Arbeiter m ü s s e n darum auch allen Plunder d e r Tradition über Bord w e r f e n u n d durchaus n e u e M e n s c h e n w e r d e n , in k e i n e m S t ü c k e d e n a l t e n i r g e n d w i e ä h n l i c h . S i e m ü s s e n aus i h r e n n e u e n proletarischen Interessen auch eine n e u e proletarische Moral schaffen."85 E m m a A d l e r e r i n n e r t s i c h i n i h r e r B i o g r a p h i e Victors a n d i e e r s t e Z e i t i n der Arbeiterbewegung: Victor und ich waren voll Enthusiasmus, wir freuten uns als neue Menschen berufen für eine bessere Zukunft aller zu kämpfen. Iis fehlte uns das richtige Augenmaß - das Leben schien uns endlos, unsere Kräfte unerschöpflich, und unser Glaube war unerschütterlich. D i e Gegner waren uns erwünscht, wir wollten uns gern mit ihnen messen! 8 6

merfrische und ländlicher Arbeitswelt verarbeitete Emma Adler in einer kleinen Erzählung „Bauerndasein". In: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1898. Hrsg. im Auftrage der Parteivertretung der österreichischen Sozialdemokratie. Wien: Erste Wr. Volksbuchhandlung (Ignaz Brand) 1898, S. 48-57. Ein Widmungsexemplar der „Neuen Menschen" an Engelbert Pernerstorfer befindet sich in der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer (Sign. A 30909). Deren Bestände aus den Büchernachlässen von Adler und Pernerstorfer sind in Auswahl verzeichnet in Madeleine Wolensky: Engelbert Pernerstorfers Harem und Viktor Adlers liebster Besitz oder zwei sozialistische Bibliophile, ihre Bücher und die Arbeiterbibliothek. Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien 1994 (= Schriftenreihe der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek). Diese Broschüre bietet auch interessante Aufschlüsse über Umfeld und literarische Interessen Adlers und Pernerstorfers. 84 Emma Adler an Bahr, o. D. [verm. nach 20. 5. 1889], ÖTh, Bahr-Nachl. A 13042 BaM. 85 H-R [d. i. Hermann Bahr]: Worauf es ankommt. In: Gleichheit, 11. 12. 1886 (Probenummer). 86 Emma Adler, Biographie Victor Adler (Anm. 4), S. 129. Zur Psychodynamik dieses Syndroms und zur zit. Stelle vgl. Rudolf G. Ardelt: Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende. Wien: ÖBV 1984, bes. 41 ff.

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So ist Bahrs Drama einigermaßen direkt auf Debatten und Selbstverständnis im Adler-Kreis zu beziehen. Der Artikel Bahrs, der in der Literatur zur Arbeiterbewegung häufig als Beleg für die kulturrevolutionäre Dimension der Gleichheit zitiert wird87 (ohne Kenntnis des Urhebers), schließt also mit einem Appell an die Massen, von außen; aber auch im Drama, das im Kontext nun als Kommentar zum Thema Intellektueller-Masse erscheint, bleiben die Arbeiter aus dem Spiel; das Problem liegt hier lediglich im Versagen sich selbst gegenüber, thematisiert also die Konfliktachse Intellektueller-Masse (wofür es gerade in der österreichischen Bewegung genügend Beispiele gegeben hat) individualisiert im Konflikt Intellektueller-als-Geist (neu) versus Intellektueller-als-Leib (alt), den „die entsetzliche Furcht" plagt, „wir könnten aufhören, wir selbst zu sein, und es könnte ein Tag kommen, da nunmehr unser alter Körper lebte, der neue Geist aber, mit dem wir ihn erfüllt, wäre wieder erstorben."88 Ahnlich wie in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang der Intellektuelle Loth seine Forschungen „vergißt", um deretwillen er in das Kohlenrevier gekommen war, „vergessen" Bahrs „neue Menschen" ihre Aufgabe89; für sie bleibt das Niederreißen des Alten. Prompt erhielt Bahr Applaus von Johann Mösts anarchistischer Freiheit.90 87 Der Artikel wird mit großer Zustimmung zitiert von Klausjürgen Miersch: Die Arbeiterpresse der Jahre 1869 bis 1889 als Kampfmittel der österreichischen Sozialdemokratie. Wien: Europa-Verlag 1969 (= Veröff. der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 6), S. 177; in der Quellensammlung: Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik im Austromanrismus. Mit Beiträgen v. Georg Fischer u. Peter Rosner. Wien: ÖBV 1987 (= Quellen u. Studien zur österr. Geistesgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert 6) zur Gänze nachgedruckt. Bahrs „Die Arbeiter und die Cultur" mit gleichlautenden Thesen ist abgedruckt bei Primus-Heinz Kucher: Zur Vorgeschichte des austromarxistischen Schul- und Bildungsprogramms: Bildungs- und Schulfrage in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung von 1848 bis 1909. In: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Entwicklung und Vorgeschichte. Mit Beitr. v. E. Adam u. a. Wien: ÖBV 1983 (= Quellen u. Studien zur österr. Geistesgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert 3), S. 137-270, S. 224-227. 88 Hermann Bahr: Die neuen Menschen. Ein Schauspiel. Zürich: Verlags-Magazin (J. Schabelitz) 1887, S. 20. Zu den „Neuen Menschen" vgl. auch die - anders pointierte - Interpretation von Svjetlan Vidulic: Hermann Bahrs „Die neuen Menschen". Ein frühes „Abkehrdrama". In: Zagreber Germanistische Beiträge 3 (1994), S. 47-65. 89 Zum „Vergessen" des „Auftrags" im Naturalismus vgl. Klaus-Michael Bogdal: „Schaurige Bilder". Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus. Frankfurt/M.: Syndikat 1978, passim. 90 Freiheit (New York), 8. 6. 1889. Zit. nach der Verlagswerbung in Hermann Bahr: Zur Kritik der Moderne. Gesammelte Aufsätze. Erste Reihe. Zürich: Schabelitz 1890, unpag.

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Bleibt also das „Neue" den „Arbeitern" in den geänderten Verhältnissen, übersieht das Drama, daß „ein Neuer zu sein" lediglich darum zum Problem geworden ist, nicht, weil der Intellektuelle politisch gescheitert wäre, sondern weil seine Liebesbeziehungen scheitern. Durch diese vorgängige vollständige Individualisierung des „Konflikts" erscheint der Intellektuelle letztlich vor allem als Gefährdeter; gefährdet durch das Neue, das Alte, die Politik, die Sexualität. In einer bizarren Wendung wird der Zentralkonflikt, es sei „nichts mit den neuen Menschen in den alten Verhältnissen [...] nichts mit den Bürgern in der großen Freiheitsbewegung unserer Tage: sie werden immer zu Verrätern, so ehrlich sie es auch meinen mögen" 9 1 , gelöst: Georg, der erst Anne mit der ,Gefallenen' Hedwig verlassen hatte, erwägt den Selbstmord, um deren neuem Glück mit einem organisierten Schlossergesellen nicht im Weg zu stehen; das Engagement der „Neuen" wird als raffiniertere Ibsensche „Lebenslüge" demaskiert. Letztlich wird hier die Funktion des Intellektuellen auf eine Hebammenrolle reduziert, der neuen Klasse sollen die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, als letztes Hindernis der Intellektuelle selbst. Dadurch wird dieser aber auch wieder aus der Bewegung herausgelöst; seine Zwischenstellung zwischen „alt" und „neu" ermöglicht neuen Aktionsraum und neue Autonomie. Bahr wird es zwei Jahre später leicht fallen, die Zumutungen Emma Adlers zurückzuweisen, die ihm - in den selben Kategorien formuliert - vorhält, er tue Unrecht, sich aus der Politik zurückzuziehen, denn es sei „die socialistische Partei heute noch darauf angewiesen sich von einigen Bourgeois auf den rechten Weg führen zu lassen. Die Zeit ist für die Arbeiter noch nicht gekommen, wo sie auf diese Führung, besonders auf geistigem Gebiete, verzichten können." 92 Signifikanterweise hat Bahr für die Neuen Menschen - nach eigener Aussage - gerade von zwei Gruppen enthusiastische Reaktionen geerntet: von „Naturalisten" wie Henckell und Hartleben und der Sozialdemokratie nahestehenden Intellektuellen wie Heinrich Braun und Engelbert Pernerstorfer. 93 Wie stark Bahrs Drama im Innenbereich der literarischen Generation verankert ist, zeigt auch die Reaktion John Henry Mackays. Mackay, der die Neuen Menschen „eines der bedeutendsten Dramen der Gegenwart" 9 4 91 92 95 94

Bahr, Die neuen Menschen (Anm. 88), S. 55. Emma Adler an Bahr, o. D. [verm. Anf. 1889], ÖTh, Bahr-Nachl. A 15045 BaM. Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater (Anm. 64), S. 148 f. (Erhalten 19. 2. 1887). Zürcher Post, 16. 7. 1887, wie vorherg. Anm.

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nennt (und als linker Naturalist aus dem Berliner Verein Durch! mit flexiblen Positionen dem Milieu der sozialdemokratischen Opposition nahesteht), hat sich darin wiedererkannt: der Eindruck „den es auf mich machte", war in verschiedenen Stimmungen „ein gleich starker": die „Wahrheit der eigenen Erfahrung, der Mut einer starken Persönlichkeit" liege in Bahrs Worten. Während Mackay Bahr den „Ehrennamen eines Dichters" zuerkennt, ist er mit Minna Kautsky weniger freundlich umgegangen: ihr Herz habe „das Elend der Unterdrückten" mitempfunden, „aber geblutet hat es nicht." 95 In Minna Kautskys Roman Die Alten und die Neuen, in dem das Verhältnis von „alt" und „neu" einprägsamer gelöst ist, indem es auf verschiedene Figuren verteilt wird, ist die Sommerfrische des Salzkammerguts der räumliche Motor des Plots; am selben See liegen die Villen des Gelehrten Marr, der klerikalen Grafen und des liberal-libertinistischen Barons und bilden zugleich die Peripherie des Dorfes. Diese geographische Engführung der politischen Sphäre mit der proletarischen Sphäre der Salzarbeiter setzt den Kampf um die Seelen der Arbeiter und der Intellektuellenfiguren Arnold und Elsa in Gang. Was an Arnold und Elsa als Anfechtung ausgebreitet wird (Arnold soll liberaler Parteiintellektueller, die areligiös erzogene Elsa soll getauft werden), ist für die Arbeiter Bedrohung von außen: Die Gräfin fuhrt mit dem Jesuiten im Haus des Arbeiters Georg Hofer eine Hausdurchsuchung durch, wo sie auf das von Marr ins Volk diffundierte Wissen stößt, den literarisch-theoretischen Kanon der frühen Arbeiterbewegung: Schiller, Darwin, Lassalle. In der Folge werden die Wohnungen der Bergwerksarbeiter nach Arnolds Broschüre durchsucht. Nicht Arnolds soziologische Forschungen sind das Sakrileg, das den Intellektuellen seiner Klasse entfremdet, sondern ihre Popularisierung. Die künstlich erscheinende Konstellation in Kautskys Roman hat eine sehr reale Basis. Nicht nur wußte Kautsky, wovon sie schrieb: Sie hat für den Roman eingehende Literatur- und Feldstudien zur Lage der Salzarbeiter im Salzkammergut betrieben, deren Ergebnisse sie auch in einer ausführlichen Arbeit in der Neuen Zeit niedergelegt hat96, Arbeiten, die dadurch erleichtert werden, daß Kautsky seit den späten siebziger Jahren ihre Sommerfrische in St. Gilgen verbringt; 1888 kauft sie sich dort an (wenige Kilo95 Zürcher Post, 8. 5. 1889 (zu Minna Kautsky: Victoria. Zürich: Schabelitz 1889). 96 Wilhelm Wiener [d. i. Minna Kautsky]: Staatsarbeiter und Hausindustrie im Salzkammergut. In: Die Neue Zeit 5 (1885), S. 22-28 u. 74-85.

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meter entfernt von der Villa der Familie Adler in Parschall). Als ihr Sohn Karl sie dort besucht, agitiert er in der lokalen Konsumgenossenschaft.97 Die Szene der gräflichen Büchersuche im proletarischen Haushalt ist eine getreue Verarbeitung der Ereignisse, die 1853 zur Verhaftung des Goiserner „Bauernphilosophen" Konrad Deubler gefuhrt hatten98, den sie besucht und befragt. 99 Der dokumentarische Aufwand Kautskys hat jedoch mit „Naturalismus" nichts zu tun; und nicht allein der unterschiedliche Gebrauch, den Kautsky und der Adler-Kreis von der Sommerfrische machen, unterscheidet die beiden Zugänge. Im Vollzug einer „freien" Liebesbeziehung im Haus Marrs gehen in Kautskys Roman das sozialistische Wissen: Marrs Schüler Arnold, und Natur: Marrs Tochter Elsa, vielmehr eine allegorische Ehe ein, zugerichtet als „Wissen aus dem Volk für das Volk" und „mit Naturnotwendigkeit fortschreitende Entwicklung"; nach dem Tod Arnolds wird Elsas Sohn das Befreiungswerk vollenden. Kautskys (frühes) Erzählwerk bewegt sich somit im „politisch-allegorischen Bewußtseinsraum" (Frank Trommler) der Sozialdemokratie, wie er für die Arbeiterlyrik festgestellt worden ist100; in den allegorischen Agitationsdramen des nordböhmischen Arbeiterdichters Josef Schiller treten „Kunst", „Arbeit", „Wissenschaft" und der „Volksgeist" auf.101 Es ist dieses allegorische Verfahren, das Engels als Mangel an Realismus in Kautskys Roman gedeutet hat. Bildet bei Bahr letztlich die Sexualität das Zentrum des Stücks, wird sie bei Kautsky allegorisch in Dienst genommen. Auf der „realistischen" Ebene treibt Kautsky zugleich hohen literarischen Aufwand, um Arnold organisch mit der Arbeiterklasse zu verknüpfen. Arnold kommt von außen, aber seine proletarischen Freunde sind ehemalige Berufskollegen; das Bündnis von „Arbeitern" und „Wissenschaft", die „Allianz [...] dieser beiden entgegen-

97 98

Karl Kautsky, Erinnerungen (Anm. 3), S. 320 ff. (1878). Konrad Deubler. Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen. Hrsg. v. Arnold Dodel-Port. 2 Tie. Leipzig: B. Elischer 1886. 99 Deubler (Anm. 98), Bd. 2, S. 233-253; Minna Kautsky: Konrad Deubler. In: Die Neue Zeit 4 (1886), S. 465-474. 100 Trommler, Sozialistische Literatur (Anm. 20), S. 216; ders.: Working-Class Culture and Modern Mass Culture Before World War I. In: New German Critique 10 (1983), S. 57-70; zur Allegorie auch Klaus-Michael Bogdal: Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. 101 Josef Schiller: Selbstbefreiung. Fest-Gedicht für vier Personen. Reichenberg: Selbstverlag [1883],

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gesetzten Pole der Gesellschaft" 102 (Lassalle), die Bahr an den Intellektuellen selbst thematisiert und scheitern läßt, wird bei Kautsky in die Biographie Arnolds integriert. Soweit die Anwesenheit und die Verbundenheit Arnolds in und mit diesem Raum legitimiert werden muß, wird das biographisch erledigt; die in mehrfacher Hinsicht „von außen und oben" kommenden städtischen Eliten der klerikalen Grafen können sich auf die lokalen traditionellen Intellektuellen (wie den Dorfpfarrer) verlassen. Wie sich Arnold mit seiner Broschüre nach „unten" wendet, so wenden sich die Arbeiter mit deren Lektüre nach „oben". So entsteht ein implizites Modell des Ausgleichs, das den Aufgaben des literarischen Autors in der Arbeiterbewegung kongruent ist: Sollten sich die Arbeiter „hinauflesen" 1 0 3 , befördere das der Autor durch sein Schreiben. In der Uberblendung realistischer und allegorischer Schreibweisen, in der Fusion der Darstellung einer abstrakten Doktrin bei deren gleichzeitiger realistischer Motivierung stellt sich jedenfalls weniger die Frage nach dem Realismus, als sich vielmehr in bezug auf das Verhältnis von Literaten und Arbeiterbewegung das Problem abzeichnet, zugleich innen und außen, „oben" und „unten" zu sein.

IN. „ E I N HELLENENGLEICHES D E N K E R N UND

GESCHLECHT

VON

KÜNSTLERN"

In seinen Feuilletons Unsere Presse und „ Volksliteratur" läßt Bahr - unbeschadet des Scheiterns seiner Dramenhelden - eine neue Rollenwahl innerhalb der sozialistischen Bewegung anklingen. Wird unter ,Volksliteratur' in der zeitgenössischen Debatte gemeinhin der Kolportageroman subsumiert, rechnet Bahr unter diesem Titel mit der bürgerlichen Literatur in toto ab. Adam Müller-Guttenbrunn hatte zuvor in der linksbürgerlichen Flugschriftenreihe Gegen den Strom eine aufsehenerregende Broschüre zur Leetüre des

102 Ferdinand Lassalle: Die Wissenschaft und die Arbeiter [1865]. In: F. L.: Ausgewählte Reden und Schriften. Hrsg. u. m. einem Nachwort vers. v. Hans J. Friedend. Berlin: Dietz 1991, S. 173-218, Zit. S. 194. Wie Lassalle an dieser Stelle, beruft sich über fünfzig Jahre später noch Max Adler auf Fichtes „Reden an die deutsche Nation" (1807/08). M. A.: Der Sozialismus und die Intellektuellen. Wien: Wr. Volksbuchhandlung 1910. 103 Zum „Hinauflesen" als Instrument und Wunschvorstellung sozialdemokratischer Bibliothekare vgl. Pfoser (Anm. 25).

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Volkes herausgegeben 104 ; Karl Henckell unter dem Titel Volksliteratur in den kurzlebigen Berliner Monatsheften der Brüder Hart über das Thema gehandelt; im ersten Jahrgang der Freien Bühne erscheint ein einschlägiger Beitrag von Hans Land, dessen Roman Der kommende Gott am Parteitag der SPD 1896 die bekannte Naturalistendebatte auslösen wird.105 1889 konstituiert sich unter Vorsitz von H. Fränkel ein bürgerlicher Vereinfür Massenverbreitung guter Schriften (Weimar)106, der wieder die Sozialdemokratie programmatisch ausschließt. So bildet sich Ende der achtziger Jahre eine scharfe politische Konkurrenz um die Lektüre der Unterschichten mit dem Ziel einer Substitution der populären Lesestoffe heraus. 107 Vertrauen Fränkel und Müller-Guttenbrunn auf eine Kontrafaktur der Kolportageliteratur in Form und Distribution, votiert Henckell für ein „Reichsamt für Volkslitteratur" und schließt mit einer Eloge auf Bismarck. 108 (Die zur Substitution als geeignet vorgeschlagenen Autoren sind dabei oft dieselben. 109 ) Bahr hingegen verbindet in seinem Beitrag zur Debatte eine Schuld104 [Adam Müller-Guttenbrunn:] Die Leetüre des Volkes. Wien: C. Graeser 1886 (= Gegen den Strom. Flugschriften einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft 9). 105 Hans Land: Die Kunst und das Volk. In: Freie Bühne für modernes Leben (Berlin) 1 (1890), S. 257-260. Zu den Naturalismusdebatten in der deutschen Partei vgl. den Abschnitt „Naturalismus und Sozialdemokratie" in: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900. Hrsg. v. Manfred Brauneck u. Christine Müller. Stuttgart: Metzler 1987, S. 510 ff. 106 Nach dessen Liquidation „Verein für Massenverbreitung guter Volksliteratur" (Berlin), beide erwiesen sich als nicht konkurrenzfähig. „Die Zurückdrängung der Schmutz- und Schundliteratur war auch nicht von einer Umfunktionierung, einer Art,Kontrafaktur' des gewerblichen Vertriebsnetzes zu erwarten." Jäger, Schmutz und Schund (Anm. 27), S. 188.

107 Der Redakteur der „Berliner Gartenlaube" Carl Wald sah 1889 in der Verbreitung von guter, d. i. nationaler, christlicher, monarchischer „Volksliteratur" eine Handhabe gegen die Sozialdemokratie (Pforte [Anm. 59], S. 175); eine prosozialistische Variante desselben Motivs bei Land (Anm. 105). Der Markt war jedoch stets schneller als die gute Absicht. So wurde von Müller-Guttenbrunn (Anm. 104, S. 39 f.) ein Substitut von Kleists „Michael Kohlhaas" empfohlen, das später wirklich erscheint, aber bei der Kolportagefirma Weichen in Berlin (das Titelblatt ist abgebildet bei Jäger, Schmutz und Schund [Anm. 27], S. 177). Die „Unzufriedene", die Frauenzeitung der SDAPÖ, druckt Marlins „Das Geheimnis der alten Mamsell" ab (dazu Pfoser [Anm. 25], S. 151). 108 Karl Henckell: Ueber Volkslitteratur. In: Berliner Monatshefte für Literatur, Kritik und Theater [...] hrsg. v. Heinrich Hart (Minden) 1 (1885), S. 559-571. 109 Von Fränkel: Anzengruber, Auerbach, Dickens, Rosegger, Ganghofer (bei Jäger, Schmutz und Schund [Anm. 27], S. 188), ganz ähnlich Müller-Guttenbrunn (Anm. 104), S. 39 f.

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Zuweisung an den bürgerlichen Literaturbetrieb mit dem Appell zur Erneuerung der Literatur. In der Polemik gegen Ebers, Lindau und Freytag arrogiert sich Bahr eine neue Rolle, die des Literaten als Renegaten, der weiß, wie Literatur gemacht werde: Unsere Schriftsteller überbieten sich gegenseitig an Feinheiten und Eigenartigkeiten der Manier. [...] Sie legen so viel Nachdruck darauf, wie sie es machen, daß man gar nicht dazu kommt, aufzumerken, was sie eigentlich machen. Man muß vom Geschäft sein und in der Werkstatt die Kniffe erfahren haben, wenn man sich auskennen soll. [...] Die Unterdrückten, weil sie ihren Widerstand fürchten, weihen sie nicht ein und wer nicht eingeweiht ist, den schelten sie ungebildet. Die eigentlich titelgebende „Volksliteratur" wird mit knappen Strichen abgehandelt: Die „Spekulanten des Bürgertums" gäben dem „Volk" in der „Volksliteratur" nur eine Scheinbefriedigung ihres „literarischen Bedürfnisses". Bahrs Lösung besteht - gegen alle zeitgenössischen bürgerlichen und sozialistischen Substitutionsdebatten - in einem immanenten Projekt zur Erneuerung der Literatur, die allein die Klassentrennung auf literarischem Gebiet aufheben würde: Man entzieht dieser giftigen Scheinbefriedigung den Boden nur, indem man das literarische Bedürfnis wirklich befriedigt. Es ist thöricht und verkehrt, die Läuterung der Volksliteratur zu versuchen: denn eben in der Ausnützung der Verkommenheit der Literatur zur Korruption des Volkes besteht ihr eigentlicher Begriff. An dem Tage, wo es wieder eine Literatur geben wird, wird es keine Möglichkeit einer „Volksliteratur" mehr geben. Aber wann wird es in Deutschland wieder eine Literatur geben?110 Es ist bezeichnend, daß Bahr die Richtung seiner Argumentation nicht ändern muß, als er in seinem Aufsatz Die Alten und die Jungen (!) in der Brünner Modernen Dichtung, also nach dem Verlassen des sozialistischen Binnenbereichs, dieselben Protagonisten des bürgerlichen Literaturbetriebs angreift; der Angriff wird nur entmoralisiert. 111 110 [Hermann Bahr:] „Volksliteratur." In: Gleichheit (Wien), 1. 10. 1887. 111 Hermann Bahr: Die Alten und die Jungen. In: H. B.: Die Uberwindung des Naturalismus. Als zweite Reihe von „Zur Kritik der Moderne". Dresden, Leipzig: Pierson 1891,

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Nach der Konzentration Bahrs auf das Ideologische, für das es jedoch in der sich erst rekonstituierenden österreichischen Partei keine Planstelle gegeben hat, kündigt sich also in den Artikeln zur bürgerlichen Kunst und Öffentlichkeit eine Wendung zur „Kunstideologie" 112 an. Gemeinsam ist beiden Rollenprojekten Bahrs in der Sozialdemokratie der privilegierte Status des Kritikers, der seine Legitimität aus seinem Renegatentum ableitet: „Man muß vom Geschäft sein". Ebenso ist Bahrs Literatur nicht für den Parteigebrauch gedacht, sondern Selbstverständigungsliteratur für die intellektuellen Parteiführer. Die befreite Menschheit hat sich Bahr als „ein hellenengleiches Geschlecht von Denkern und Künstlern" 113 gedacht. Diese Konstellation ist ebenso charakteristisch für die „Jungen", wie das Elemente von Bahrs ideologischen Optionen waren. Mit den „Jungen", den Berliner Naturalisten bzw. der Schnittmenge aus beiden teilt Bahr auch wesentliche Bestandteile seiner Ideologie und seines Marxismusverständnisses: das „soziale Königtum", die Neigung zum Anarchismus 114 , den Verbalradikalismus, den Nationalismus, auch den Hang zur Autobiographie. Schon Bahrs früheste Parteinahme, für den bürgerlichen Sozialreformer Carl Rodbertus, die er noch im Kontext Schönerers entwickelt 115 , ist Ge-

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S. 7-16; der „bürgerliche Idealismus der Epigonen" (darunter G. Freytag) sei „gar so entsetzlich langweilig", S. 15; ebd. eine ironische Allusion an seine frühere Position: „Lügen, allen gemeinen Spießereien fröhnen, bliemelblameln und scharwenzeln und herumeunucheln - alle seine anderen Laster kann ich marxistisch-darwinistisch begreifen. Aber warum, warum denn langweilig, langweilig noch obendrein?" Vgl. Bogdal, Schaurige Bilder (Anm. 89), Kap. 2: Das ideologische Projekt der Naturalisten. Hermann Bahr: Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle. Drei Briefe an einen Volksmann als Antwort auf „Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie". Zürich: Verlags-Magazin (Schabelitz) 1886, S. 47. Zum deutschen Anarchismus vgl. Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871. Berlin: Duncker u. Humblot 1969 (= Beitr. zu einer hist. Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 3), über den Mackay- u. den Gustav Landauer-Kreis S. 80 ff. Auch Bahr hatte Sympathien für die latent anarchistische Fraktion in der SAPD. Aus einem seiner „Gleichheit"-Artikel muß Adler die Empfehlung der geheimen Propaganda entfernen; Adler hofft auf baldige Mitarbeit Bahrs, „aber nicht als ,Anarchist' wenns beliebt!!?" Adler an Bahr, o. D. [verm. April 1887], ÖTh, Bahr-Nachl. A 15096 BaM. Eine scharfe Verurteilung des Anarchismus als „Individualismus" in Bahr, Schäffle (Anm. 113), S. 24 ff. Vgl. Bahrs einzigen Beitrag zu Schönerers „Unverfälschten Deutschen Worten": Uber Rodbertus. 16. 10. 1884, S. 4-8 unter dem Motto „national, sozial, monarchisch".

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meingut der Naturalisten, zugleich charakteristisch für frühe ideologische Abweichung in der SAPD. Mit einem Rodbertus-Artikel gelangt Bahr auch erstmals ins Blickfeld der Parteitheoretiker: mit dem Beifall Engels' wird Bahr von Eduard Bernstein unter dem Titel Höheres Blech abgefertigt. 1 1 6 Seine Option für das „soziale Königtum", d. h. für eine autoritäre Sozialreform unter Leitung der Hohenzollern, erklärt Bahr in einem langen Brief an Friedrich Engels aus seiner politischen Biographie; in einem Schreiben an Karl Kautsky als politischen Schachzug zur Gewinnung der nationalen, „revolutionären" akademischen Jugend Österreichs. 117 Dieses Motiv des „sozialen Königtums", das abwechselnd von Lassalle 1 1 8 oder von der bürgerlichen Nationalökonomie - Bahr war in Berlin Schüler Adolf Wagners abgeleitet wurde, bildete für Naturalisten und „ J u n g e " ein Relais zur Integration von Nietzsche und Stirner; es erleichterte die Wandlung zu „Sozialaristokraten" (Arno Holz), die bei den „Friedrichshagenern", andererseits bei der Münchener Naturalistengruppe u m Michael Georg Conrad zu verschiedenen neuen Ideologemen und Rollenprojekten führte. 119 Bahrs Sozialismus interessiert hier aber nur soweit, als mit ideologischen Optionen Rollenkonzepte verbunden sind. Gerade Bahrs Interesse an Rodbertus wird für Karl Kautsky zum Symptom, als er sich mit Bebel über Bahrs Charakter verständigt:

116 Sozialdemokrat (Zürich), 3. 9. 1884. Dazu Engels (Anm. 18), Bd. 56, S. 206. Ebs. Karl Kautsky an Engels, 22. 10. 1884: „Bahr, der Rodbertusianer, den Ede [Bernstein, W. M.] im Sd. so schön zerzauste, hat jetzt eine Broschüre [...] herausgegeben", Briefwechsel Engels-Kautsky (Anm. 17), S. 153. 117 Bahr an Engels, 30. 7. 1885, IISG, Marx-Engels-Nachlaß L 123; teilw. abgedr. bei Ernst Hanisch: Der junge Hermann Bahr und der alte Friedrich Engels. In: Salzburger Nachrichten 1. 3. 1975, S. 27. Bahr an Karl Kautsky, 11.11. 1885, IISG, Kautsky-Nachlaß D II 386. Zum „sozialen Königtum" bei Bahr vgl. Bahr, Schäflle (Anm. 113), S. 51-53; Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 186 ff. 118 Trotz des lange anhaltenden Lassallekults spielte das „soziale Königtum" in der österreichischen Arbeiterbewegung keine Rolle; einzig der bürgerliche Intellektuelle Heinrich Oberwinder, der Führer der „Gemäßigten" im ersten Richtungsstreit Anfang der siebziger Jahre, sympathisiert mit Lorenz v. Stein. Vgl. Brigitte Perfahl: Marx oder Lassalle? Zur ideologischen Position der österreichischen Arbeiterbewegung 1869-1889. M. Beitr. v. Helmut Konrad u. Hermann Kepplinger. Wien: Europa-Verlag 1982 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 21), S. 127 u. 151. 119 Vgl. auch Helmut Scheuer: Zwischen Sozialismus und Individualismus - Zwischen Marx und Nietzsche. In: Naturalismus (Anm. 59), S. 150-174, bes. 161 f.; zum „sozialen Königtum" auch Pforte (Anm. 59), S. 196.

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Die Elemente, die sich so um Rodbertus scharen, sind die Literaten und sonstigen bürgerlichen Elemente unserer Partei, die die Brücke zur ,guten Gesellschaft' nicht hinter sich abbrechen wollen. Wer aber sich auf den Boden des Kommunistischen Manifests stellt, bricht diese Brücke hinter sich ab. Er kann zur guten Gesellschaft nur als Renegat zurückgelangen. Anders Rodbertus, dessen Sozialismus ja vornehmlich für den aristokratischen Salon berechnet war. Wer auf Rodbertus schwört, kann bei uns mitlaufen und doch gleichzeitig in der guten Gesellschaft eine Rolle spielen.120 Mit dem „Literaten", wie der Begriff von Kautsky als Denunziationstopos121 gebraucht wird, ist Hermann Bahr gemeint; hier ist 1885 schon ein Teil der Kritik, die um 1890 und dann wieder um 1896 dem Naturalismus und den „Jungen" entgegengebracht wird, impliziert. Kautskys Urteil steht dabei im Kontext seines eigenen Durchsetzungskonflikts in der Sozialdemokratie, in dem er die Rolle des „Parteiintellektuellen" etabliert, in Konkurrenz zu Heinrich Braun (eine von Bahrs Bezugspersonen in Berlin), der sich als nicht gebundener „Experte" im Naheverhältnis zur Partei versteht. 122 Kautsky versucht also, von innen das Feld sozialistischer Ideologie und Politik nach außen hin abzuschließen, ein Mechanismus, der seiner Mutter im literarischen Feld entgegengeschlagen war. Zu demselben Schnittbereich von „Jungen" und „Naturalisten" gehört in literarischer Hinsicht Bahrs „bürgerliches Trauerspiel" Die große Sünde, das als „Abkehrdrama" eine Kontrafaktur von Ibsens Volksfeind liefert, einem Schlüsselstück für die Erfahrungen der „Jungen" in der Partei.123 Im IbsenEssay hatte Bahr die Verhöhnung des Politischen und der Masse im Volks-

120 Karl Kautsky an Bebel, 15. 12. 1885. Briefwechsel Bebel - Kautsky (Anm. 78), S. 46. 121 Ingrid Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie. Berlin: Siedler 1986, S. 215. 122 Dazu Ingrid Gilcher-Holtey: Intellektuelle in der sozialistischen Arbeiterbewegung: Karl Kautsky, Heinrich Braun und Robert Michels. In: Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Hrsg. v. Jürgen Rojahn, Till Schelz u. Hans-Josef Steinberg. Frankfurt/M., New York: Campus 1992 (= Quellen und Studien zur Sozialgeschichte 9), S. 375-590. Heinrich Braun war der Bruder Emma Adlers und Jugendfreund Victors; er soll Adler für den Sozialismus gewonnen haben und machte ihn 1882 mit Karl Kautsky bekannt. 123 Vgl. Herbert Scherer: Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Die „Friedrichshagener" und ihr Einfluß auf die sozialdemokratische Kulturpolitik. Stuttgart: Metzler 1974, S. 99-104. Bei aller Skepsis gegenüber

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feind als modernen Individualismus, der „im Grunde eigentlich nichts anderes, als nur die Hülle eines versteckten Sozialismus ist", dargestellt124; in der Großen Sünde erweist sich Bahrs Sozialismus als versteckter Individualismus. Gerade das Offenhalten von Optionen, die gleichzeitige Eignung für den „bürgerlichen Salon" war für Bahr die Strategie auch seiner Literatur; Emma Adlers eingangs zitierter Versuch, Bahr für die Unterhaltungsbeilage der Gleichheit zu gewinnen, war illusorisch. Obgleich sich Bahr gelegentlich vom Naturalismus als dem „jüngsten Deutschland" distanziert hat125, erfolgt die Rezeption seines Frühwerks dennoch in diesem Rahmen; Die neuen Menschen werden in Berlin in einer Reihe mit Stücken von Bleibtreu, Müller-Guttenbrunn, Alberti und Hart aufgeführt.126 Insofern hat sich Bahr die Sympathien der Subkultur erworben und im literarischen Feld wenn nicht reüssiert, so sich jedenfalls positioniert. Als es nach 1890 in der Neuen Zeit zur ersten Naturalistendebatte in der deutschen Sozialdemokratie kommt, mobilisiert Wilhelm Liebknecht den sozialdemokratischen Literaturkanon gegen das „jüngste Deutschland": Leopold Jacoby, Rudolf Lavant, Max Kegel, August Otto-Walster, August Geib, Hermann Greulich, Jakob Audorf und Heinrich Vogeler; von den Alten Freiligrath und Herwegh. In einer Antipolemik der Naturalisten werden

dem Stück berichtet Emma Adler an Bahr in Paris, Victor sei davon begeistert, obgleich eine Figur des Stückes, wie Emma moniert, seine Züge trage (gemeint ist „Baron Schwind"). Emma Adler an Bahr, o. D. [verm. nach 20. 5. 1889, Emma Adlers Geburtstag], ÖTh, Bahr-Nachl. A 15042 BaM. 124 Bahr, Ibsen (Anm. 61), S. 17. 125 „Ibsen, Kretzer, Scholz [der Tolstoi-Übersetzer, W. M.], die ja bei Ihnen verlegen, kennen meine Werke", empfahl sich Bahr bei Samuel Fischer. Samuel Fischer, Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hrsg. v. Dirk Rodewald u. Corinna Fischer. Mit einer Einf. v. Bernd Zeller. Frankfurt/M.: S. Fischer 1989, S. 165 (27. 1. 1889). In den Bahr-Tagebüchern (Anm. 64), S. 89 f. findet sich ein möglicher Vorentwurf zu diesem Brief: „[•••] ich bin modern. [...] Denken Sie darüber, wie Sie wollen - nur bitte verwechseln Sie mich desweg. nicht mit Karlchen Bleibtreu: er wäre gewiß sehr bös darüber und ich - ich rechne mich nicht zum jüngsten Deutschland in keiner Beziehung." Auch Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater (Anm. 64), S. 148 f. (Erhalten 19. 2. 1887). 126 Adalbert v. Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Litteraturgeschichte. Leipzig: Voigtländer 1901, S. 184. „Meine ,Neuen Menschen' wurden aufgeführt und fielen stürmisch durch; ich sah lachend zu, wie die Herrschaften im Parterre sich prügelten." Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 265.

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von Otto Hinrichsen dagegen genannt: Gerhart Hauptmann [Vor Sonnenaufgang), Karl Henckell, Julius Hart; schließlich: „Sind Hermann Bahr's ,Neue Menschen' so gänzlich vom Hauch des Sozialismus verschont geblieben?" Als Liebknecht versetzt, er kenne Bahrs Stück nicht, er wolle es sich aber ansehen, versieht die Redaktion der Neuen Zeit Bahrs Titel mit einer Fußnote, die vermutlich von Karl Kautsky stammt: Das ist Narrheit, nicht urwüchsige Narrheit, sondern gesuchte Narrheit, aber kein Sozialismus. [...] Gelegentlich einer seiner vielen Häutungen ist er auch einmal in eine sozialistische Löwenhaut geschlüpft; [...] er hat sich zwei Jahre lang bemüht, von den „Marxisten" für einen wirklichen Löwen gehalten zu werden, bis er entdeckte, daß mit diesen Leuten nichts anzufangen sei, worauf er sich einer anderen Richtung zuwandte, in der seine besonderen Kennzeichen, als die er selbst angiebt: „sehr eitel, sehr faul, ziemlich frech," genügen, um für ein Genie gehalten und ausposaunt zu werden. Wenn der zweijährig-freiwillige Sozialist Bahr charakteristisch sein soll für den Sozialismus des jüngsten Deutschland, dann ist dieser nicht weit her. Die Redaktion.127

Gerade Liebknecht, aus ähnlichem Milieu wie die Kautskys stammend, war es gewesen, der Minna Kautskys Weg in die Literatur und in die Neue Welt geebnet hat128; Kautskys Literatur hat auch ästhetisch die Proteste der sozialdemokratischen Leser gegen die neue naturalistische Linie der Neuen Welt unter dem Redakteur Edgar Steiger vorbereitet, die am Parteitag von 1896 zur zweiten Naturalismusdebatte führen sollten. Als die Neue Zeit nach dem

127 W. Liebknecht: Brief aus Berlin. Berlin, den 25. März [1891], In: Die Neue Zeit 9/2 (1890/91), S. 41-46, Zit. S. 43. Die Polemik bezieht sich auf Bahrs Text: Servus. Biographisches Kapriccio. In: Die Gesellschaft 7 (1891), S. 335 f., in dem dieser angibt, er habe zwei Jahre „mit den marxistischen Auguren vergaspelt, bis ich sie erkannte". Das Stichwort „Häutungen" fällt in diesem Text nicht, wohl aber in dem Brief Bahrs an Kautsky vom 11. 11. 1885 (Anm. 117); Bahr reagiert hier mit einer Darstellung seiner ideologischen Entwicklung auf einen Vorwurf Kautskys, der sich in einem Brief an Heinrich Braun abfallig über Bahrs „Häutungen" geäußert hatte, d. h. über die mögliche politische Unzuverlässigkeit des ehemaligen Deutschnationalen Bahr. Braun hatte Bahr von diesem Vorwurf unterrichtet. 128 Zu Minna Kautskys Beziehungen zu deutschen Sozialdemokraten vgl. bes. Friedrich, Minna Kautsky (Anm. 2).

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Auslaufen des Sozialistengesetzes mit dem Abdruck von Belletristik beginnt, stammt der erste literarische Beitrag von Minna Kautsky.129 Bahrs Wiener sozialistische Bezugsgruppe ist andere Wege gegangen. Victor Adler steht für eine neue Transzendierung der Intellektuellenrolle: als Arzt und Massenästhetiker, der in Osterreich eine ästhetische Politik mit den Mitteln des Wagnerianismus entwickelt.130 Mit Bahr hatte dieser Kreis dieselben literarischen Wertvorstellungen (Stifter, Musset 131 , Strindberg, Goncourt, Daudet, Zola und Ibsen, während Minna Kautsky Heyses Kinder der Welt für die „herrlichste[ ] und gedankenvollste[ ] Schöpfung der Gegenwart" hielt132) geteilt. Als sich Bahr im Zeichen der „Moderne" von ihnen abwendet, versuchen die Adler, dieses hochliterarische Wissen durch die Literatur-, besonders die Abdruckpolitik der Arbeiter-Zeitung in die Arbeiterbewegung zu diffundieren. Die erste deutschsprachige Ubersetzung der Germinie Lacerteux der Brüder Goncourt stammt von Emma Adler und wird 1896 in der Arbeiter-Zeitung in Fortsetzungen abgedruckt; Bahr sollte Goncourt um die Rechte angehen. 133 Emma Adler gibt auch ein Lesebuch für die proletarische Jugend heraus, mit einem Widmungsgedicht von Henckell.134

129 Minna Kautsky: Später. Soziale Studie. In: Die Neue Zeit 9/1 (1890/91), S. 29 ff. (in Fortsetzungen). 130 Zu diesem Selbstverständnis Adlers vgl. Wolfgang Maderthaner u. Siegfried Mattl: Victor Adler (1852-1918). In: Klassiker des Sozialismus. Hrsg. v. Walter Euchner. 1. Bd.: Von Gracchus Babeuf bis Georgi Walentinowitsch Plechanow. München: Beck 1991, S. 218-232; Siegfried Mattl: Politik gegen den Tod: Der Stellenwert von Kunst und Kultur in der frühen sozialdemokratischen Bewegung. Ein Skizze. In: Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich. Hrsg. v. Erich Fröschl, Maria Mesner u. Helge Zoitl. Wien: Passagen-Vlg. 1990, S. 53-75. William J. McGrath: Dionysian Art and Populist Politics in Austria. New Häven, London: Yale UP 1974. 131 Vgl. Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 214. 132 Minna Kautsky an Paul Heyse, o. D., IISG, Kautsky-Fam. 1631. 133 Emma Adler an Bahr, o. D. („Sonntag") [verm. 1. Hälfte 1889], ÖTh, Bahr-Nachl. A 15034 BaM: Bahr solle wegen der Ubersetzungsrechte an „Germinie Lacerteux" zu Goncourt gehen. Vgl. auch E. A. [d. i. Emma Adler]: Edmond de Goncourt. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 26. 7. 1896, S. 6 f. 134 Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats hrsg. v. Emma Adler. Berlin: Vorwärts 1895. Aufgenommen sind neben Bebel, Liebknecht, Josef Schiller und den wichtigen Fragmenten proletarischer Autobiographie (Anna Altmann) auch Texte von Leo Tolstoi und Ferdinand v. Saar.

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Die Ansätze zu einer ästhetischen Politik, die mit Massen- und Festformen die „Massen" in die bürgerliche Öffentlichkeit fuhren will, wie sie die „Jungen" zu entwickeln beginnen, bleiben mit diesen Kategorien an diese bürgerliche Öffentlichkeit gebunden; während in der SAPD die Feier des Ersten Mai gegen die Widerstände der „Jungen" nicht zum zentralen Agitationsdatum wird, wiederholt sich derselbe Konflikt auf der Internationalen zwischen Bebel und Adler.135 Minna Kautsky selbst hat - wohl nicht nur aufgrund der verbesserten Agitationsmöglichkeiten nach dem Wegfall der staatlichen Repression, sondern auch auf der Basis ihrer Erfahrungen - Reserven aufgegeben und das Proletariat als Handlungsträger in ihren Erzählungen dominieren lassen; das Proletariat als „Masse" spielt darin nie eine tragende Rolle, auch wenn sie in einer gefeierten Erzählung den Wiener Ersten Mai beschreibt.136 Den Abdruck der Romane und Erzählungen von Minna Kautsky in Gleichheit und Arbeiter-Zeitung muß Emma Adler als Kompromiß verstanden haben.

i v . DAS „KUNSTPRINCIP DER

MODERNE"

Minnas Kautskys Mißerfolg im literarischen Leben und in der Nachwelt läßt sich darauf zurückführen, daß sie die Abschließung eines „Sektors" sozialistischer Literatur, die danach längere Zeit stabil geblieben zu sein scheint, nicht wahrhaben wollte. (Die Abschließung des literarischen Feldes dürfte stärker gewesen sein als die des theoretischen. Finden theoreti-

135 Zur österreichischen Maifeier vgl. Harald Troch: Rebellensonntag. Der 1. Mai zwischen Politik, Arbeiterkultur und Volksfest in Osterreich (1890-1918). Wien, Zürich: EuropaVerlag 1991 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 38); Dieter Fricke: Die Maifeiertage in den Beziehungen zwischen August Bebel und der österreichischen Sozialdemokratie im ersten Jahrfünft nach Hainfeld. In: Die Bewegung (Anm. 130), S. 275-286; zur „ästhetischen Politik" der „Jungen" und die Beziehungen zur österreichischen und belgischen Partei vgl. Trommler: Working Class-Culture (Anm. 100); Andreas Huyssen: Nochmals zu Naturalismus-Debatte und Linksopposition. In: Naturalismus/Asthetizismus. Mit Beitr. v. Peter Bürger u. a. hrsg. v. Christa Bürger, P. B. u. Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979 (= Hefte f. Kritische Literaturwissenschaft 1, es 992), S. 244-258. 136 Minna Kautsky: Ein Maifesttag. In: Illustrierter Neue-Welt-Kalender. Hamburg 1907, S. 32-42. Neu abgedr. in M. K. Auswahl aus ihrem Werk. Hrsg. v. Cacilia Friedrich. Berlin: Akademie-Vlg. 1965 (= Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland 4), S. 123-152.

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sehe Debatten innerhalb der Sozialdemokratie auch außerhalb ihres publizistischen Kontextes Beachtung, gilt dies nicht für ihre Literatur; „nach innen" wird Literatur - noch längere Zeit - nicht kritisiert, sondern gelobt und verbreitet, während sie „von außen" nicht wahrgenommen wird.) Die Feldgrenzen wurden transzendiert von seiten der Arbeiterbewegung, durch Hereinholen bürgerlicher Literatur; gerade die Wiener Arbeiter-Zeitung ist ein Relais zur bürgerlichen Literatur, indem sie ab ihrem täglichen Erscheinen eine Kunstredaktion (charakteristischerweise von Pernerstorfer geleitet) mit Rezensionsspalte einführt und im bürgerlichen Sektor weitbeachtet ist; das gilt aber kaum für die anderen österreichischen Arbeiterblätter. 1894 entsteht auch in der „Wiener Volksbuchhandlung" ein sozialistischer Verlag.137 Schon die Tatsache aber, daß Adlers Regeneration der Partei aus einem privaten Zeitungsunternehmen hervorgeht, das jene administrativen Funktionen eines Parteiapparats übernimmt, die zuvor die Arbeiterbildungsvereine vertreten haben, zeigt, wie stark Adlers Intellektuellenprojekt auf einen Kampf um die bürgerliche Öffentlichkeit abhebt.138 Die Funktion moralistischer Kritik an der „Verbürgerlichung" der Partei übernehmen in Wien später nicht innerparteiliche Fraktionen, sondern außenstehende Literaten; wie Karl Kraus, der gerade auf Mitglieder der zweiten Generation in der österreichischen Arbeiterbewegung (wie Karl Adler und Robert Scheu) große Anziehungskraft ausübte.139 Der skizzierte Abschließungsprozeß eines sozialistischen literarischen Feldes setzt zugleich mit den innerliterarischen Gruppenbildungen der da137 Zu ihrem Gründer und - nach Überführung in Parteieigentum - Leiter Ignaz Brand (1844-1916): Arbeiter-Zeitung (Wien), 16. u. 17. 5. 1916 und Oesterreichischer ArbeiterKalender auf das Jahr 1917, Wien 1917, S. 71. Zur Rolle Hugo Hellers, des nachmaligen renommierten Wiener Literaturverlegers, in der Gründungsgeschichte der „Volksbuchhandlung" vgl. Victor Adler, Briefwechsel (Anm. 5), s. Reg. 138 Vgl. Rudolf G. Ardelt: Sozialdemokratie und bürgerliche Öffentlichkeit. Überlegungen zum Hainfelder Parteitag. In: Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift f. R. Neck zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Isabella Ackerl, Walter Hummelberger u. Hans Mommsen. Bd. 1. Wien: Verlag f. Geschichte u. Politik 1981, S. 214-238. 139 Vgl. Alfred Pfabigan: Karl Kraus und der Sozialismus. Eine politische Biographie. Wien: Europa-Verlag 1976. Karl Adler war ein Sohn Victors und gab als Kraus-Apostat dann Gegenschriften zur „Fackel" heraus, vgl. Ardelt, F. Adler (Anm. 86), s. Reg.; Bilke (Anm. 14), S. 137 ff. Robert Scheu, Sohn des Arbeiterkomponisten Josef Scheu („Lied der Arbeit"), hatte eines der bekanntesten sozialistischen Lieder der Wahlrechtsagitation („Man holt das Recht sich von der Gasse") verfaßt und war später mit Karl Kraus befreundet und dessen Mitarbeiter.

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durch wohl erst als literaturhistorisches Phänomen markierten „Moderne" ein, die auf das allgemeine Leserpublikum verzichtet, sehr wohl aber durch keine prinzipiellen Bruchstellen vom „allgemeinen" literarischen Feld getrennt ist. So betreiben die „Naturalisten" eine Art polemischer „Selbstausschließung", die von der „bürgerlichen" Literaturkritik - mit der entsprechenden Öffentlichkeit - entweder entrüstet zurückgewiesen oder aber paternalistisch betreut wird (wie das Hermann Bahr durch Anton Bettelheim widerfahren ist); mit der mit den „Avantgarden" einhergehenden Fragmentierung des Publikums können sie rechnen. Paradoxerweise war der Bruch, den Minna Kautsky im literarischen Feld erlebte, stärker und wirkungsmächtiger als der bewußt herbeigeführte der „Naturalisten". Die Differenz zur „bürgerlichen" Literatur hat Minna Kautsky ab Mitte der achtziger Jahre lediglich in der Opposition „Tendenz" und „Tendenzlosigkeit" beschreiben können 1 4 1 ; Charakteristika der naturalistischen Theoriebildung wie die Polemik gegen die Nivellierung ästhetischer Standards durch die Presse waren innerhalb der Arbeiterbewegung, die auf ihre eigene Presse vital angewiesen war, nicht plausibel. Sozialdemokratische Pressekritik arbeitete daher mit den Kategorien von „ L ü g e " und „Korruption" am konkreten Fall, an der Kritik der „Deformation" des Kunstcharakters von Literatur durch die Multiplikation von Schreibenden im ganzen hatte sie kein Interesse. In dieser Differenz kann eine der Ursachen für Karl Kraus' späteres ambivalentes Verhältnis zur Arbeiter-Zeitung vermutet werden. Den Kampf der Literatur um das Publikum führen die „Naturalisten" nicht im Dienst des Publikums, sondern im Dienst der „Literatur". Insofern hat auch die Konkurrenz um die Substitution der massenhaften Lesestoffe (wie der Kolportage) letztlich den Sinn, Literatur überhaupt - gegen den Markt - als Kunstform zu reetablieren. Jedenfalls ist dieser Aspekt in der Analyse höher zu veranschlagen als der Nachweis eines ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuchs, dadurch die Kontrolle über eine vorgeblich „wilde" (demnach auch wohl zu Unrecht später modisch privilegierte) Lektüre zu erreichen und damit Widerständiges zu pazifizieren. Hingegen dürfte es sich in dieser Debatte vielmehr u m einen Schulfall der von Pierre

140 Anton Bettelheim: Ein österreichischer Ibsen-Jünger [ = Rez. zu H. B.: Die große Sünde], In: Die Nation 6 (1888/89), S. 689-691. 141 Vgl. hierzu Wilhelm Wiener [d. i. Minna Kautsky]: Wassili Wereschagin. In: Die Neue Zeit 4 (1886), S. 27-56 u. dies.: „Schnee" von Alexander Kielland. In: Die Neue Zeit 7 (1889), S. 205-216.

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Bourdieu untersuchten Dialektik der literarischen Sub-Felder der „eingeschränkten" und der „großen" Produktion handeln.142 Die Liaison sowohl der Naturalisten als auch Hermann Bahrs mit dem Sozialismus diente somit als Katalysator eines Prozesses, der in literaturgeschichtlichen Dimensionen eine rasche Abfolge von Positionierungen, Schulen, Gruppen und Stilen in Gang gesetzt hat. Wenn für Kautsky ,,[d]as große Unglück ihres Lebens [...] das Sozialistengesetz [war], das mit der Partei auch den Leserkreis zerstörte, der allein damals Interesse für sozialistische Belletristik hatte" (Karl Kautsky143), so bildete die Verfolgung der Sozialdemokratie für die neue literarische Generation eine Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstartikulation, indem in der Arbeiterbewegung die schärfste verfügbare Dissidenz gegenüber dem „bürgerlichen" Normalbetrieb zu erreichen war. Die historisch nächste Koalition des sozialistischen Literatursektors mit dem „allgemeinen", bereits seinerseits hochgradig fragmentierten literarischen Feld dürfte gleichfalls wieder im Kontext der Avantgardebewegungen, nach der Jahrhundertwende, zu finden sein. Wenn Bourdieu aber gezeigt hat, daß die Marktgesetze gerade für den Literatursektor der „Avantgarde", der ihnen am fernsten zu stehen scheint, in spezifischer, gespiegelter Form Geltung haben, so war Hermann Bahr wohl der erste, der das reine Marktgesetz der Avantgarden formuliert hat. Mit den Denkmitteln seines „Marxismus", den er als Fundierung des Innovationsprinzips verstand, hat sich Bahr von substantialistischen Deutungen der „Moderne" freigehalten und als „Portier der Literatur" (Theodor Wolff144) die Mittel erworben, mit durchaus hoher Sensibilität die einander in Zukunft rasch ablösenden Strömungen begleiten zu können. Mit der Konsolidierung der österreichischen Partei, mit ihrem Eintritt in den „großen Strom der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung" (Lukacs) ist die Liaison mit der Sozialdemokratie freilich zu Ende; die zunächst durchaus nicht deckungsgleichen Rollen von „Renegat" und „Prophet", wie sie die Intellektuellen in der Arbeiterbewegung zu spielen hatten, wurden von Bahr zu einer aktualisierbaren Figur synthetisiert. 142 Pierre Bourdieu: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature. Ed. and introduced by Randal Johnson. Cambridge: Polity Press 1995. Zum Naturalismus in dieser Beziehung vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Fabrikation - Experiment - Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg: C. Winter 1981 ( = Reihe Siegen 28). 145 Briefwechsel Engels - Kautsky (Anm. 17), S. 51. 144 Bahr, Selbstbildnis (Anm. 64), S. 257.

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Es m a g als historische Ironie gewertet werden, daß M i n n a Kautsky - soweit der Nachlaß darüber Aufschluß gibt - nur zweimal von nichtsozialistischen M e d i e n zu Beiträgen aufgefordert wird; einmal, zu Beginn ihrer liAllgemeinen terarischen Karriere, von der demokratischen Wiener Zeitung145; das a n d e r e M a l von E d u a r d Michael Kafka, der mit B a h r gem e i n s a m eine literarische Zeitschrift (die Moderne Dichtung) begründet, die - nach Alifangsschwierigkeiten - z u m S a m m e l p u n k t des sog. „ J u n g e n W i e n " w e r d e n sollte. Als er mit B a h r 1889 Verbindung a u f n i m m t , u m in Osterreich eine Literatur zu begründen 1 '' 6 , hält er diesen allerdings noch für einen Sozialisten, und da Kafka der Konnex von Naturalismus und Sozialism u s evident erscheint, wendet er sich auch an Minna Kautsky: Wir sind nur ein dünnes Fähnlein und wenn wir auch nach dem vorgesteckten Ziele: dem Kunstprincip der Moderne, dem Naturalismus, dem realist. Kunstschaffen endlich auch hüben bei uns in Oesterreich siegreiche Geltung [....] zu erkämpfen, ringen werden mit dem Einsätze unserer ganzen Kraft und unseres ganzen Könnens, mit kühnem Wagemut u. nackensteifer Zähigkeit, - der Sieg wird doch nur unser sein, wenn wir thattüchtige Mitstreiter an unserer Seite finden, wackere Genossen u. Genossinnen, die uns die Bruderhand reichen, mit uns kämpfen, mit uns ausharren, stramm, fest u. treu! Wir erlauben uns auch an Sie, verehrte Gnädige - die wir doch mit vollstem Rechte eine Gesinnungsgenossin nennen dürfen (u. nicht nur eine lit. Gesinnungsgenossin, sondern auch eine Genossin im Kampfe für die Enterbten, für das Proletariat, dem wir uns ja in gleicher Weise zu Kämpfern geweiht!) - unseren ehrlichen Heroldsruf zu richten [...]. Wir werden außer Essays u. Recensionen (der Leitaufsatz des ersten Heftes wird aus der Feder Hermann Bahr's sein und über das „Kunstprincip der Moderne" handeln) natürlich auch eigenschöpferische Leistungen, Novellen, Novelletten, Skizzen, Gedichte etc. bringen. Wir wären über alles Maß erfreut [...], wenn wir bereits im ersten Stück unserer neuen Monatsschrift einen Beitrag - u. wäre es auch nur eine ganz kurze Skizze - auch Ihrer geschätzten Feder zu bringen in der Lage wären. 147

145 A. Groß, Wiener Allgemeine Zeitung an Minna Kautsky, 11. 10. 1883, IISG, KautskyFam. 1638. 146 Vgl. dazu Rieckmann (Anm. 72), S. 17 u. 28 f. 147 Eduard Michael Kafka an Minna Kautsky, 11.8. 1889, IISG, Kautsky-Fam. 1638.

Karlheinz Rossbacher

Von der liberalen Ära zur Jahrhundertwende Literatur und Bourgeoisie in Wien

Im 19. Wiener Gemeindebezirk liegt der Wertheimstein-Park, und beim Eingang steht die Villa Wertheimstein, die das Döblinger Bezirksmuseum beherbergt. Die Letzte der Familie, die unverheiratet gebliebene Franziska von Wertheimstein (1844-1907), vermachte Villa und Park der Gemeinde Wien. Ihr Vater Leopold von Wertheimstein (1801-1885) war die rechte Hand der Bankiers Salomon und Anselm Rothschild. Wertheimstein war verheiratet mit Josephine, geb. Gomperz (1820-1894) aus Brünn. Sie führte den bekanntesten Wiener Salon in der zweiten Jahrhunderthälfte. Sohn Carl von Wertheimstein (1847-1866) war ein vielversprechender Bildhauer, die Büste Gaetano Donizettis in der Staatsoper stammt von ihm. Im Jahre 1866 erkrankte er und starb, noch nicht neunzehn Jahre alt, innerhalb von zwei Tagen; sein Tod stürzte Josephine von Wertheimstein in eine schwere, vier Jahre dauernde Depression. Hugo von Hofmannsthal lernte sie zwei Jahre vor ihrem Tod, im August 1892, in Aussee kennen. In der Kärntnerstraße, gegenüber der Seitenfront der Staatsoper, steht das Palais Todesco. Josephines Schwester Sophie (1825-1895) war mit Baron Eduard von Todesco (1814-1887) verheiratet und führte einen großen Salon. Die Schwestern Josephine und Sophie initiierten im Jahre 1871 zu Franz Grillparzers 80. Geburtstag jene Stiftung, aus der in der Folge der Grillparzer-Literaturpreis finanziert wurde, dessen Kapital in der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zerflossen ist. Im 16. Wiener Gemeindebezirk ist eine Straße nach Theodor Gomperz (1832-1912) benannt. Er war ein Bruder von Josephine und Sophie und wurde als Klassischer Philologe und Philosophiehistoriker einer der renommiertesten Geisteswissenschaftler der Universität Wien. Er war mit Elise, geb. Sichrovsky, verheiratet, der Tochter eines österreichischen Eisenbahnpioniers. Gomperz unterstützte die Habilitationspläne Hugo von Holmannsthals, konnte jedoch ihr Scheitern nicht verhindern (was wahrscheinlich gut war für die österreichische Literatur). Sohn Heinrich Gom-

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perz wurde ein bekannter Universitätsphilosoph, emigrierte schon vor 1958 nach Kalifornien. Sohn Rudolf wurde Schi- und Fremdenverkehrspionier in St. Anton am Arlberg; Felix Mitterers Stück Kein schöner Land behandelt sein Holocaust-Schicksal mit Veränderung seiner Berufsbezeichnung. Tochter Bettina war Bildhauerin und Malerin und starb in der Schweiz. Im 12. Wiener Gemeindebezirk ist eine Straße nach Richard von Lieben (1878-1915) benannt, der als Erfinder eines Grundlagenprinzips für Radio und Fernsehen bekannt ist („Lieben-Röhre"). Seine Mutter Anna von Lieben war eine Tochter Sophie von Todescos. Die Familie Lieben wohnte, zusammen mit der verwandten Familie Auspitz, im Hause Oppolzergasse 6 neben dem Burgtheater. Der Philosoph und Psychologe Franz Brentano heiratete Ida von Lieben und wohnte mit ihr ebenfalls dort. Hugo von Hofmannsthal verkehrte mit seinem Freund Felix Oppenheimer, einem NefFen Anna von Liebens, in diesem Haus. Die Familie Auspitz besaß unter anderem auch eine Villa in Alt-Aussee, Sommerfrischenort für so viele aus dieser sozialen Schicht. Diese Villa diente lange als Kurhaus und Heimstätte für das lokale Heimat- und Literaturmuseum, 1994 wurde sie abgerissen. In allen diesen Familien, und damit sei auch eine Zeitspanne für das Thema angedeutet, verkehrten unter anderem der 1802 geborene Dramatiker Eduard von Bauernfeld, der 1855 geborene Dramatiker, Lyriker und Erzähler Ferdinand von Saar und der 1874 geborene Hugo von Hofmannsthal. Ich verfolge hier zwei Absichten. Zum einen möchte ich die - wenn auch lückenhafte - Blaupause eines größeren Arbeitsvorhabens zeichnen und zeigen, wie ein Familienverband des Wiener jüdischen assimilierten Großbürgertums als eine Nußschale für einige wichtige geistige und kulturelle Strömungen zwischen 1848 und der Jahrhundertwende beschrieben werden kann. Das betrifft sowohl Veränderungen des Menschenbildes, das die Personen von sich selber hatten, als auch Veränderungen in den Erwartungen, die sie an Literatur und Kunst stellten. Mein besonderes Interesse wird Kontrasten und Übergängen gelten. Zum andern möchte ich mein Thema biographisieren und diese Kontraste und Ubergänge an Theodor Gomperz und seiner Tochter Bettina personalisieren. Vater und Tochter darzustellen bietet die Gelegenheit, sowohl von der Ara des Liberalismus und der Gründerzeit auf die Jahrhundertwende zu blicken, als auch von der Jahrhundertwende zurück.

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I 1. Das dominierende Menschenbild in den gebildeten Schichten der Ära war der Individualismus. Er baute auf der Vorstellung von einem substantiellen Ich auf, das durch Naturerfahrung und Kunst, weniger durch Religiosität, entfaltet werden kann und durch Rationalität kontrolliert werden soll. Eng verbunden damit waren für unsere Familien Liberalismus im politischen Denken, eine nach Westen orientierte Internationalität als Perspektive für die Entwicklung der Gesellschaft und, besonders bei Theodor Gomperz, Anglophilie. Sie zeigte sich als wissenschaftstheoretische Ausrichtung am Empirismus und als Verehrung des englischen Sozialphilosophen John Stuart Mill. Gomperz war mit Mill befreundet und hat dessen Werke erstmals in deutscher Sprache herausgegeben. Nicht nur bei Gomperz, sondern auch bei anderen Personen des Verwandtschaftsverbands gibt es Gelegenheit, den Sozialtyp des „homo clausus" (und der „femina clausa") zu studieren 1 , samt den psychischen Kosten, die dieser Sozialtyp, beschrieben von Norbert Elias, zu tragen hat. Die Aspekte Rationalismus und Liberalismus legen es nahe, dem ganzen Familienverband die Frage Gretchens an Faust zu stellen, wie er es denn mit der Religion gehalten habe. Die Antwort lautet: Sie hatten es nicht m e h r mit ihr oder doch n u r kaum. Es begann mit Lazar Auspitz (17721853) in Brünn, d e m als imposant geschilderten Großvater der Familie Gomperz mütterlicherseits. Er erwartete sich nach der Revolution von 1848, daß in Bälde die Formen des Judentums verschwinden 2 und daß überhaupt die Religionen sich in eine höhere humanistische Moral auflösen würden. Es setzte sich als Assimilation fort zu dem Punkt, wo Judentum in Brauch und Religion, wie Theodor Gomperz schrieb, nur m e h r „un pieux souvenir de famille" 3 war. Theodors Sohn Heinrich hat darauf hingewiesen, daß sein Vater „aus vollster Uberzeugung und mit ganzer Seele das, was m a n heute [= 1955] verächtlich einen Assimilanten zu nennen pflegt", war u n d hat hinzugefügt: „und er konnte nichts anderes sein". 4 Im Jahre 1878 erwartete Theodor zwar, daß seine Söhne dereinst Kaddisch für ihn beten werden, im

1 Nach Norbert Elias; vgl. Karlheinz Rossbacher: Der „homo clausus" in der Literatur. (Vgl. Bibliographie am Ende des Beitrages S. 163 ff.) 2 Theodor Gomperz: Essays und Erinnerungen, S. 5. 3 Ebd., S. 197. 4 Gomperz: Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josephs-Zeit, S. 268.

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Testament von 1887 wünschte er jedoch, daß seine Kinder sich nach seinem Tode taufen lassen, und zwar protestantisch. Er schloß sich ausdrücklich der Meinung Theodor Mommsens an - die auch die seines Vorbilds und Freundes John Stuart Mill war „daß alle Juden, die nur dem Namen nach Juden sind, aufhören sollen, es auch nur dem Namen nach zu sein". 5 Der Wunsch, sich zu assimilieren, ging jedoch nicht Hand in Hand mit dem Verlust des Bewußtseins, jüdisch zu sein. Josephine jubelte über die Märzverfassung des Jahres 1849, die die Emanzipation brachte.6 Im Jahre 1855, als die Emanzipation einen Rückschlag erlitt, wurde Leopold von Wertheimstein - und das ist sicherlich als ein religionspolitischer Schritt des Hauses Rothschild zu sehen - zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde gewählt und blieb es über das Reaktionsjahrzehnt hinaus.7 Im Jahre 1861, zu Beginn der liberalen Ära, drängte Josephine ihren Bruder Julius in Brünn, sich einen Sitz im Reichsrat zu erkämpfen, um dort, als Jude, gegen den Judenhaß und für seine „Glaubensgenossen" einzutreten. 8 Die Zeitläufte sorgten bekanntlich dafür, daß die Juden nicht vergessen konnten, auch die assimilationswilligsten nicht, daß sie jüdisch waren. Ein Beispiel: Im August 1858 hielt sich Josephine in Karthaus bei Brünn auf. Von dort schrieb sie ihrem Bruder Theodor, der in Venedig seinen Studien nachging, einen Brief, in dem sich der Gegensatz von Provinz und Stadt und die Zivilisationssehnsucht Josephines, einer Parteigängerin liberaler Urbanität, verbinden : Wenn Du in den hohen Bibliotheks-Sälen stillsitzest und die Überreste 1000jähriger Cultur in pergamentenen Rollen entzifferst und alte Bilder und edle Köpfe auf Dich herabblicken, dann denke an mich - dann rasseln [hier] die Leiterwägen vorüber, die Gänse schreien, die Gassenbuben rufen „Jud, Jud [...]«.»

Natürlich war man in diesen Familien beunruhigt und empört über die unerhörte Schärfe, mit der in den Achtzigerjahren der alte Anti-Judaismus mit dem neuen Antisemitismus verschmolz, z.B. in der Affare von Tisza5 6 7 8 9

Ebd., S. 175. Josephine von Wertheimstein: Briefe, S. 79. Rudolf Holzer: Villa Wertheimstein, S. 24. Wertheimstein (Anm. 6), S. 195. Ebd., S. 179.

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Eszlar10, über die skrupellose Agitation, mit der Karl Lueger Politik machte (einen „Hundemarkt" nannte Josephine die damalige Wiener politische Szene 11 ), über die Dreyfus-Affare. 12 Aber auch etwas anderes zeigte sich: Der Aufklärer und Rationalist Theodor Gomperz wollte seine Vorstellung von einem ansteigend-positiven Verlauf der Geschichte nicht preisgeben. Dem Entsetzen über den Dreyfus-Prozeß fügte er seine Überzeugung vom Fortschritt der Menschheit hinzu, weil der entrüstete Widerhall in den Städten Europas beweise, daß die ganze Welt „eng und einheitlich" geworden sei.13 Dieser Glaube an den Prozeß der Zivilisation führte ihn dazu, zugewanderte Ostjuden abzulehnen. Anläßlich von Ferienaufenthalten in AltAussee und Bad Vöslau hat er dies wiederholt geäußert. 14 Es hat Konsequenz, daß Theodor Gomperz, wie andere Angehörige des Clans auch, z.B. der Literaturhistoriker und Kritiker Anton Bettelheim, den Zionismus ablehnte. 13 Tochter Bettina, die den aus Krakau stammenden mittellosen Rudolf Maria Holzapfel (1874-1930) heiratete, hat die ablehnende Attitüde der jüdischen Bourgeoisie gegenüber Ostjuden mit scharfen Worten bedacht. 16 2. Es gibt im 19. Jahrhundert und zur Jahrhundertwende nicht nur den Sozialtyp des „homo clausus", sondern auch der „femina clausa".17 Beides sind Bilder, die sich Menschen, die den Prozeß der Zivilisation in ihrer Sozialisation wiederholen, von sich selber schaffen. Die Notwendigkeit, Instinktregungen, Impulse und Affekte zu kontrollieren bzw. zu dämpfen, erzeugt in uns das Gefühl, unser Eigentlichstes nicht zeigen zu dürfen, es verschließen zu müssen, von den anderen durch eine Verkapselung unseres Inneren getrennt zu sein. Hugo von Hofmannsthals Prosaskizze Age oflnnocence18 (1891) schildert die Entstehung eines solchen Selbstbildes im kindlichen Alter. Bei der vergleichenden Projektion dieses Menschenbildes auf die Frauen unseres Kreises sollte man nicht, wie es der Ausdruck 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Gomperz (Anm. 4), 21. 6. 1882, S. 152. Wertheimstein (Anm. 6), S. 417. Gomperz (Anm. 4), 17. 8. und 10. 9. 1899, S. 306 f. Ebd. Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 447 ff u. Rossbacher: Mit Wertheimsteins auf dem Lande. Anton Bettelheim: Acta diurna, S. 29. Gomperz (Anm. 2), S. 196. Meyer-Holzapfel: Lebensbild Bettina Holzapfels, S. 157. Rossbacher (Anm. 1). Vgl. dazu Rossbacher (Anm. 1), S. 314 f.

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„femina clausa" nahelegen könnte, als erstes an Küche, Kinder und Kirche, oder an den abgetrennten Platz in der Synagoge und die sozial diktierte Gebundenheit ans Haus denken. Die gab es natürlich auch. Sondern es ist rückzukoppeln an den Individualismus, an eine Art von zwiespältiger sozialer Anforderung an Frauen dieser Schicht: Anders als kleinbürgerliche und mittelständische Frauen sollten sie durchaus Individualität entwickeln, sich seriös an der Literatur und der Kunst bilden, ihr Ich entfalten, ästhetische Verfeinerung entwickeln, die Kultiviertheit des Hauses repräsentieren und die Welt ins Haus holen. Andererseits sollten sie mit diesen Fähigkeiten nicht ins praktische Leben treten, sondern für andere da sein und eigene Wünsche nach lebenspraktischer Entfaltung in sich verschließen. 3. Die Salontradition der Romantik, in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr in ihrer Blüte, existierte in Wien in veränderter Form weiter. Die Soireen der Gründerzeit zählten ihre Gäste nicht m e h r an zwei bis vier Händen, sondern nach Dutzenden. Sophie Todescos Salon war von dieser Art, die Ausmaße des zentralen Saals im Palais zeugen davon. Josephine von Wertheimstein hingegen pflegte die intimere, ältere Tradition der Rahel Varnhagen, Henriette Hertz, Fanny von Arnstein, Henriette von Pereira. Sie führte ihren Salon, mit einigen längeren Unterbrechungen, von der Zeit vor 1848 bis in die Jahre vor ihrem Tod 1894, zum Teil mit ihrer Tochter Franziska. Für Josephine, deren Faszination auf Menschen von vielen Zeitgenossen bezeugt ist, war intellektuelle und vor allem literarische Anregung eine Möglichkeit, die Klausur der Frau zu durchbrechen und in eine halb private, halb öffentliche Geselligkeit zu treten. Für Tochter Franziska, in deren formativen Jahren bereits die Stimmen der Frauenbewegung zu hören waren, scheint der Salon nicht m e h r jene außenweltvermittelnde Wirkung gehabt zu haben. Ihre nervösen Leiden, die am Ende zum Ausbruch einer Geisteskrankheit führten, waren offenbar durch Salongeselligkeit nicht m e h r in Balance zu halten. 4. Ein wichtiger Aspekt in den Familien Gomperz, Wertheimstein und Lieben ist das, was man mit einem alten Wort als „Melancholie" bezeichnet (im 19. Jahrhundert manchmal auch als „Hypochondrie" 1 9 ), mit einem neueren Wort als „Depression". Es gibt Evidenz, daß Depression, die man

19 Vgl. Ernst Freiherr von Feuchtersieben: Zur Diätetik der Seele.

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heute geradezu mit der Metapher „Schwelbrand der Gesellschaft" versehen könnte, im 19. Jahrhundert im Zunehmen begriffen war. Es ist jedoch schwierig, darüber gesicherte Aussagen zu treffen. Einerseits ist Melancholie alt, und es ist auch schon früh versucht worden, sie physiologisch zu diagnostizieren (z. B. mit der Lehre von den vier „Humoren", darunter die „schwarze Galle" als Verursacher der Melancholie), andererseits gibt es einen soziologischen Ansatz, der versucht, sie als historisch-gesellschaftlich bedingtes Phänomen zu beschreiben. Wolf Lepenies hat sie aus der Verhinderung, in der sozialen Welt zu handeln, abgeleitet: Goethes Werther, dem die ständische Gesellschaftshierarchie Handlungshemmung auferlegt, wäre das literarische Modell. 20 Demnach könnte man das Auffalligwerden von Melancholie im 19. Jahrhundert nicht nur auf die wachsende Bevölkerungszahl, sondern auch auf die Brüche und Stockungen im Prozeß der bürgerlichen Emanzipation zurückführen. Aber auch in diesem Fall bliebe ein beträchtliches methodologisches Risiko: die Vermittlung zwischen einem sehr großen, sehr allgemeinen Phänomen - der sozialgeschichtlich zu bestimmenden Klassenlage der Wiener Bourgeoisie - und einem kleinen, sehr spezifischen Phänomen - den biographisch zu bestimmenden, nur in einigen wenigen Fällen quellengesicherten Seelenlagen von melancholischdepressiven Individuen. Ohne methodologisches Risiko hingegen ist der Aufweis einer gewissen Häufigkeit von Melancholie und Depression im Verwandtschaftsverband und dessen Umkreis: Josephine von Wertheimsteins Neigung zu melancholischen Zuständen schon vor ihrer vierjährigen Krankheit; die Berührungsangst und andere ernste psychische Probleme ihrer Tochter Franziska, die sie u.a. bei Jean-Martin Charcot in Paris zu heilen versuchte, ohne Erfolg; „unerklärliche, düstere Anfalle von Schwermut" 21 bei Helene Auspitz, geb. Lieben. Nervöse Leiden und/oder Schwermut finden sich bei: Elise Gomperz, Theodors Frau - Sigmund Freud behandelte sie nicht ohne Erfolg unter Hypnose; bei Anna von Lieben, geb. Todesco, die Peter J. Swales als Sigmund Freuds Hysterie-Patientin Cäcilie M. identifiziert zu haben glaubt22, bei Marie von Gomperz, Tochter von Josephines Bruder Max, befreundet mit Hugo von Hofmannsthal.

20 Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft; vgl. auch Günther Grass: Vom Stillstand im Fortschritt. 21 Josephine Winter: Fünfzig Jahre eines Wiener Hauses, S. 4. 22 Peter J. Swales: Freud, His Teacher and the Birth of Psychoanalysis.

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Es betraf nicht nur Frauen. Blickt man auf den Freundeskreis und die Salongäste der Wertheimsteins, so stößt man auf Selbstaussagen oder Aussagen anderer über Melancholie und Depression beim heute vergessenen Komponisten Joseph Dessauer (1798-1876, Spitzname „Raunzeander"), bei Ferdinand von Saar (1835-1906), der nicht zufallig Anhänger von Arthur Schopenhauers Philosophie war, beim Maler Franz von Lenbach (18561904), beim Rechtsprofessor Joseph Unger (1828-1915), der auch Minister, Mitglied des Herrenhauses und Präsident des Reichsgerichts war; Heinrich Jacques (1851-1894), liberaler Reichsratsabgeordneter, beging in einer Depressionsphase Selbstmord. 5. Dieser ganze Komplex bildet den Anknüpfungspunkt zu dem für einen Literaturwissenschaftler interessantesten Aspekt dieser Familienbiographie, nämlich zur Frage, welche Rolle die Literatur in diesem Verwandtschaftsverband spielte. Ich habe schon anzudeuten versucht, daß meine Studie sich von verschiedenen Seiten auf Hugo von Hofmannsthal hinbewegen wird. Meine Arbeitshypothese lautet, daß dieser Verwandtschaftsverband ein wichtiges inspiratives Milieu für den jungen Hofmannsthal war. Allgemein gesprochen gilt für diese Familien und ihre Freunde, daß für sie die Künste, vor allem Literatur und Theater, Lebens-Mittel waren. Kenntnis der deutschen, aber auch fremdsprachlicher Autoren war für sie mehr als bloß ein Statusausweis für den sozialen Aufstieg jüdischer Familien. So schmal ihre soziale Schicht auch war, sie umfaßte jenes Bürgertum, das den Begriff der Hochkultur des 19. Jahrhunderts und der Jahre bis zum Ersten Weltkrieg mit Inhalt erfüllt hat. Der Historiker Thomas Nipperdey hat in seinem Buch Wie das Bürgertum die Moderne fand davon gesprochen, daß das neunzehnte Jahrhundert und sein Ubergang ins zwanzigste „die Gründungszeit unserer Gegenwart"23 geworden sind. Das gilt auch für die Literatur. Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, daß die formativen Jahre der Fin de Siecle-Generation in die sechziger Jahre zurückreichen. Der Clan und die Literatur: Dieses Thema muß man differenzierend behandeln und vielleicht in drei Angänge gliedern: Was taten sie mit Literatur - lesend, darüber sprechend, Autoren fördernd? Was taten sie mit Literatur - selber schreibend? Und was tat die Literatur, konkret: Hof-

23 Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand, S. 75.

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mannsthal, mit ihnen - als er in ihren (und seinen) Lebensproblemen und psychischen Konflikten Themen suchte? D e r erste Aspekt reicht in die Zeit vor 1848 zurück. Baron Rothschild übertrug gesellschaftliche Verpflichtungen seinem Prokuristen Wertheimstein, und der wiederum seiner Frau Josephine. Der Salon Wertheimstein, zuerst in der Singerstraße 7 im Hause des Deutschen Ritterordens, ab 1870 in der Villa in Döbling, war ein Ort politisch-liberaler und literarischer Geselligkeit, der unlängst, nach einigen vorangehenden Beschreibungen 2 4 , eine umfassende Darstellung erfahren hat. Man kann zeigen, wie der Salon einerseits die Verwurzelung dieser Bourgeoisie in der Kultur der Vernunft u n d des Gesetzes spiegelt, u m mit Carl E. Schorske zu sprechen 25 , mit Nachdruck auf Sprache, Literatur und intellektueller Argumentation 26 , andererseits einer Asthetisierung des Bewußtseins der Damen Wertheimstein Vorschub leistete, die aus ihnen, besonders aus Franziska, jene „femina clausa" machte, die mit dem Leben nicht m e h r zurechtkam. Auch im Haus Lieben-Auspitz rangierte Literatur vor den anderen Künsten 27 , u n d das übertrug sich auf die Kinder (ungefähr im Alter Hofmannsthals), für die das Familienmitglied Franz Brentano ein Lese- und Vorleseprogramm entwarf. 28 Auch lernten die Kinder Balladen auswendig u n d führten sie szenisch auf. „Also spielen wir Theater ..." - so beginnt ein oft zitierter Abschnitt in Hofmannsthals Prolog zu Arthur Schnitzlers Anatol. Zum zweiten Aspekt (Was taten sie mit Literatur - selber schreibend?): In diesem Verwandtschaftsverband gab es, wie ich sie nennen möchte, ,dichtende Nichtdichter und Nichtdichterinnen'. Sie schrieben nicht regelmäßig, belästigten keine Verleger und schielten nicht auf Literaturkritiker, sondern verfaßten in bestimmten Phasen ihres Lebens - meist Krisensituationen - Gedichte. 29 Aus der Zeit der sogenannten Schreibbewegung in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, als das literarische Schreiben als Weg zur Selbstfindung auch Eingang in die Hörsäle der Universitäten fand, weiß man es ge-

24 Kobau: Rastlos zieht die Flucht der Jahre; auch Hölzer (Anm. 7), Johann Bartl: Villa Wertheimstein, Rossbacher (Anm. 11), S. 74 ff. 25 Carl E. Schorske: Fin-de-Siecle, S. 7. 26 Rossbacher (Anm. 11), S. 62 ff. 27 Ebd., S. 60 ff. 28 Winter (Anm. 21), S. 22 f. 29 Dazu Rossbacher: Warum schrieben sie?

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nauer: Es gibt ein hartnäckiges Schreiben, das nicht primär auf Veröffentlichung zielt: „Schreiben geschieht heimlich. Aber heraus muß es doch". 3 0 Ich nenne es das diskrete Schreiben. Bei diesem diskreten Schreiben ist „der Akt des Schreibens [...] wichtiger als das Geschriebene selbst" 51 , der Schreibwunsch ist „Teil einer krisenhaften Persönlichkeitssituation"; der Germanistenkollege Hermann Kinder, selbst Schriftsteller mit Erfahrung in Schreibgruppen, nennt sie auch „biographische Kippsituation". 32 Als Ergebnisse eines diskreten Schreibens in biographischen Kippsituationen bieten sich die Gedichte unserer dichtenden Nichtdichter für eine textbezogene Analyse an, deren erster und wichtigster Kontext die biographisch zu erschließende Seelenlage der Verfasser ist. Das klingt nach positivistischem Biographismus. Aber mein vorrangiges Erkenntnisinteresse ist es, den Zusammenhang von Konfliktbewältigung und Werkstruktur33 so zu erhellen, daß einerseits der hohe Stellenwert von Literatur in dieser Gesellschaft deutlich wird, andererseits das Phänomen Hofmannsthal zumindest zu einem Teil als Hervorbringung einer - wenn der technokratische Ausdruck gestattet ist - geistig-poetischen Infrastruktur erscheint. Theodor Gomperz hat in einer Lebenskrise Gedichte geschrieben; eines davon werde ich hier, zur Illustration meiner Methode, genauer betrachten. Josephine von Wertheimstein schrieb in einer Phase ihrer Genesung, als ihr Zustand noch nicht stabil war, ein Novellenfragment und Gedichte, danach nicht mehr. In einem davon, In der Nachi^, schildert sie einen Alptraum als Rückfall in ihre früheren Wahnvisionen, jedoch, als Spiegelbild ihrer Genesung, mit gutem Ausgang. Franziska von Wertheimstein zeichnete und malte nicht nur, sondern schrieb auch. Zu den ganz wenigen erhaltenen Texten gehört ein Dialektgedicht in der Form eines G'stanzls bzw. Schnadahüpfls, in das sie ihr Lebensproblem - Abkapselung, Hang zu schonungsloser Selbstzergliederung und Kontaktangst, auch sexuelle - verdichtet hat. Die Besonderheit dieses Gedichts 35 liegt darin, daß die Gattung ganz öffentlich und humorvoll ist, das Gedicht hingegen sehr privat und traurig. Leopold Auspitz, einer der Neffen Josephines, erkrankte nach seiner Ma-

50 51 32 55 54 55

Hermann Kinder: Die Schreibgruppe an der Universität, S. 143. Ebd., S. 142. Ebd. Wolfram Mauser: Hugo von Hofmannsthal. Wertheimstein: Konvolut II, 24.4. 1871, S. 88. Felicie Ewart: Zwei Frauen-Bildnisse, S. 84.

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tura, wahrscheinlich an Krebs. Eine Operation blieb erfolglos, und so versuchte er in einem Gedicht36, das an die Herbstlyrik von Nikolaus Lenau und Ferdinand von Saar erinnert, eine Lebensmöglichkeit in der Spannung eines ,Stirb und Werde' zu imaginieren. Anna von Lieben war, wie ihre Kusinen Franziska von Wertheimstein und Marie von Gomperz, der Typ der leidenden Nervosa. Sie schrieb zwar über längere Zeit hin Gedichte, also nicht wie Franziska nur in einer bestimmten Kippsituation, doch in erster Linie für sich, denn ihre Gedichte wurden erst posthum veröffentlicht.57 Bei all diesen Texten kann es uns heute nicht primär um einen vielleicht bislang unbeachteten dichterischen Rang gehen (obzwar einige von ihnen sich in einer zeitgenössischen Lyrik-Anthologie gut ausnehmen würden), sondern es geht um die erschließbare Autorintention, die Textform und die potentielle Wirkung des Schreibens auf die Verfasser/innen selbst. Der dritte Aspekt zum Thema ,der Clan und die Literatur' betrifft die Frage, was die Literatur mit ihnen tat, anders gesagt: Wie griff der junge Hofmannsthal in ihr Leben, um daraus Literatur zu machen? Auf welche Weise waren diese Personen für ihn ein inspiratives oder gar kreatives Milieu? Der Begriff Kreativität ist schwer zu definieren; kommt noch der Begriff des Milieus dazu, wird es nicht leichter. Es erscheint ratsam, ihn nicht zu extensiv zu gebrauchen. Eine Großstadt wie Wien überhaupt als kreatives Milieu zu bezeichnen, wegen bestimmter geistiger Traditionen, ihrer kulturaustauschenden Bezüge zu den Peripherien des Reichs, erscheint nicht ratsam, weil im einzelnen Anwendungsfall nicht hilfreich.38 Man muß sich diesen Fragen von äußeren Aspekten her nähern, um dann zu genuin inneren vorzustoßen. Hofmannsthal hat ein Gedicht ausdrücklich mit An Josephine von Wertheimstein übertitelt. Seine Terzinen über Vergänglichkeit sind unter dem Eindruck ihres Todes geschrieben. Er wollte einige Jahre später unbedingt um ihr Novellen-Fragment herum - „wundervoll" nannte er es39 - eine Erzählung schreiben (die dann nicht ausgeführt wurde). Er hat Texte zu einer Vorführung von tableaux vivantes, organisiert von Yella Oppenheimer im Palais Todesco, verfaßt. Er hat Fragmente eines Romans hinterlassen, der in der Hofmannsthal-Forschung unter dem Titel Roman des inneren Lebens bekannt ist. Sie enthalten ein Personenverzeichnis mit 36 57 38 39

Winter (Anm. 21), S. 78. Anna von Lieben: Gedichte. Allen Janik: Kreative Milieus. Wertheimstein (Anm. 6), 29. 5. 1901, S. 471.

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den Namen Wertheimstein, Gomperz, Todesco, Lieben. Zu Franziska hat er sich z. B. notiert: „lebensunfähig, weiße Wand". 40 Auch kann man zeigen, daß das lyrische Drama Der Tor und der Tod, mit dem Hofmannsthal einen eigenen tiefgreifenden Identitätskonflikt bewältigt hat41, auch den Identitätskonflikt Franziskas enthält. Dies ist deshalb untersuchenswert, weil man dann zeigen kann, daß der Konflikt zwischen ästhetischer und ethischer Existenz nicht erst die Generation Hofmannsthals befallen hat und man bei der Beschreibung der Kultur des Fin de Siècle auf Übergänge aus den vorherigen Jahrzehnten, seien es Kontraste oder Ähnlichkeiten, zu achten hat. (Auch Sigmund Freuds Patientinnen gab es ja nicht erst ab dem Zeitpunkt, als er zu therapieren begann.) Franziskas viel jüngere Kusine Marie von Gomperz, ähnlich asthenisch-nervös, lieferte ihm mit ihren Briefen Sätze, die er der Figur der Gioconda im Fragment des Renaissancedramas Ascanio und Gioconda (1892) in den Mund legte. Dieser Frauenfigur fühlte er sich übrigens stärker verbunden als dem Mann Ascanio. Mit Hugo von Hofmannsthal werden gleichsam das Lesen, das Fördern und das diskrete Schreiben in diesem Verwandtschaftsverband öffentlich.

II Im zweiten Teil möchte ich einen Mann des 19. Jahrhunderts mit einer Frau der Jahrhundertwende kontrastieren und damit die Generationssspannung, die Carl E. Schorske beschrieben hat 42 , auf eine Familie konzentrieren. Vater Theodor Gomperz wurde 1852, seine Tochter Bettina, als drittes seiner drei Kinder, 1879 geboren. Das sind 47 Jahre Unterschied, und man könnte fragen, ob das noch die Differenz von einer Generation ist. Wenn man z.B. den 1862 geborenen Arthur Schnitzler neben Bettina stellt, müßte man zögern, hingegen war Hofmannsthal nur fünf Jahre älter als Bettina. Generationsunterschiede sind allerdings nicht nur eine Sache der Jahreszahlen. Zieht man Wilhelm Diltheys oft zitierte Definition heran, so relativieren sie sich. Die Definition, die Dilthey übrigens innerhalb eines deutlichen geschlechtsspezifischen Zusammenhangs artikuliert - er spricht von 40 Typoskript-Ausschnitt, übermittelt von Ellen Ritter, Bearbeiterin des betreffenden Bandes in der Kritischen Ausgabe, 1.7. 1991. 41 Mauser (Anm. 55). 42 Schorske (Anm. 25).

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Gemeinsamkeiten im „Jünglingsalter" und Zeiträumen gemeinsamer „männlicher Kraft"(-Entfaltung) lautet: Diejenigen, welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen zusammen eine Generation aus. So gefaßt, bildet eine Generation einen engeren Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen, wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeit auftraten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind.45 Nehmen wir als „dieselben großen Tatsachen und Veränderungen" die von Schorske beschriebene Entmachtung des Liberalismus und der Rationalkultur und die Heraufkunft eines psychologischen Menschenbildes und einer neuen Gefühlskultur, dann stellt sich Bettina in eine Reihe mit ,JungWien', allerdings mit einigen Differenzen, die nicht nur ihr Frausein betreffen. Theodor Gomperz besuchte in Brünn nach einigen Jahren Privatunterricht das Gymnasium, erhielt jedoch daneben noch weiter Privatunterricht. Die Revolution von 1848 erlebte er in jugendlich-liberalem Geist, ab 1849 studierte er an der Universität Wien zunächst Jus, dann Philosophie und Philologie, später kamen noch naturwissenschaftliche Fächer dazu. Ein Jahr verbrachte er in Leipzig, einen Teil davon in der Redaktion der Grenzboten, der bedeutenden, u.a. für die Programmatik des bürgerlichen Realismus in der Literatur wichtigen Zeitschrift Gustav Freytags und Julian Schmidts. Entscheidend für seine Universitätslaufbahn wurden seine Arbeiten an herkulaneischen Papyrusschriften, die er emendierte und kommentierte. Er habilitierte sich 1867 an der Universität Wien, ohne jemals ein Doktorat erworben zu haben, wurde 1869 Extraordinarius und 1875 Ordinarius für Gräzistik und Philosophiegeschichte. Sein dreibändiges Hauptwerk Griechische Denker (1896-1909) gilt heute noch als lesenswert. Sigmund Freud nannte es unter jenen zehn Büchern, denen er besonders viel zu verdanken habe 44 , und Karl Popper zählte es zu seinen Lieblingslektüren seit dem Gym-

45 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 5, S. 37; ähnlich Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. 44 Sigmund Freud: Briefe, 1. 11. 1906, S. 267 f.

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nasium. 45 Zusammen mit seinem Sohn Heinrich war Theodor Gomperz maßgeblich an der Berufung Ernst Machs an die Universität Wien beteiligt. Theodor Gomperz war Aufklärer, Empirist, Positivist. Seine wissenschaftliche Leitfigur war John Stuart Mill, den er persönlich kennenlernte und dessen Werke er in der ersten deutschen Ubersetzung in zwölf Bänden herausgab (Leipzig 1869-1880). Mills Logik, die er schon 1854 zu übersetzen begann, war von entscheidender Bedeutung für sein Denken.4^ Seine Zuversicht, Aberglaube und Vorurteile seien durch Wissenschaft zu beseitigen47, seine Lebensmaxime „Beruf, Arbeit, Wissenschaft, Zukunftsstreben" 48 , seine Begeisterung z.B. über die zentralistisch-symmetrische Anlage der Stadt Turin 49 , seine affirmative Position in der sogenannten Frauenfrage (allerdings weniger gründlich als sein Vorbild Mill50), seine Überzeugung, daß Emotionen und Instinkte kontrolliert bleiben müssen 51 : All das macht Theodor Gomperz in seinen frühen und mittleren Jahren zu einem klassischen Rationalisten und Liberalen des 19. Jahrhunderts. Als solchen, und nicht als Fachgelehrten, möchte ich ihn hier darstellen, gleichzeitig als ,dichtenden Nichtdichter'. Wie erlebt ein Rationalist eine geistige und psychische Krise? Theodor Gomperz durchlebte zwei: als 21 jähriger im Jahre 1855 und als 31 jähriger im Jahre 1865. Die zweite Krise hatte einen klaren Auslöser. Theodor glaubte, seine Freundschaft mit John Stuart Mill und Helen Taylor, der Tochter von Mills Frau Harriet aus erster Ehe, vertiefen zu können, reiste im Februar 1865 nach England, machte Helen Taylor, die mit Mill in Avignon weilte, schriftlich einen Antrag, wurde nach vier Wochen unmißverständlich zurückgewiesen. Gomperz schob seine narzißtische Kränkung beiseite und stürzte sich in Oxford in seine Arbeit an den Kopien der herkulaneischen Papyrusschriften. An seine Schwester Minna schrieb er, daß er hart arbeite und daß er seine Gefühle in die „Tiefen seines Wesens" verbanne, wo sie, „wie die gefesselten Titanen in der Unterwelt", rumoren

45 46 47 48 49 50 51

Karl Popper: Unended Quest, S. 118. Gomperz (Anm. 2), S. 33. Gomperz, 1866 in Gomperz (Anm. 2), S. 72-86. Gomperz (Anm. 4), 30. 6. 1869. Ebd., S. 145. Ebd., S. 19fu.286. Ebd., S. 195; vgl. Schorske (Anm. 25), S. 6: „the rule of the mind over the body" als ein Aspekt im Weltbild der Liberalen des 19. Jahrhunderts.

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und „gelegentlich gewaltsam hervorzubrechen versuchen". 52 In der Folge begann er, Wahnvorstellungen zu entwickeln, und schließlich erlitt er einen Zusammenbruch, konnte sich später über die Zeitspanne von mehreren Tagen in Oxford keine Rechenschaft ablegen, wurde umherirrend aufgefunden und mußte nach Wien gebracht werden. Theodor Gomperz hat Jahrzehnte später diese Krise gegenüber seinem Sohn Heinrich rekonstruiert.53 Gedichte scheint er damals nicht geschrieben zu haben, aber ich erwähne diese zweite Krise deshalb, weil sie das Muster der ersten wiederholte: Gefühle stören und sind wegzuschieben. Im Frühjahr 1855, im Alter von 21 Jahren, verschärfte sich bei Theodor Gomperz eine krankhafte Mißstimmung. Die Quellen berichten von „Grübelei" und „Selbstqual", „ja es ängstigten ihn Schreckbilder des Wahnsinns und des Todes".54 In dieser Zeit, Anfang April 1853, trug er einige Gedichte in sein Notizbuch ein, darunter das folgende: Von dumpfen Sinnen ist mein Geist umnachtet, Statt hellen Denkens wirres Schattenspiel Der wüste Trübsinn, der sich selbst verachtet Und doch entbehrt aufraffendes Gefühl. Naht schon die letzte Stunde meinem Leben, Verwelkt die Knospe, eh' sie sich erschloss? Ward eingesargt in dunkles Todesweben Das Licht, das kaum die ersten Strahlen goss? O war' es nicht, könnt ich dich wiederschauen, Du Strahlensonne, die mein Sein entbrannt Könnt' die Gebilde wieder stolz ich bauen, D a sich mein Inn'res fühlt dem All verwandt! Erwache wieder, Gott in meiner Brust, Den nicht der Leidenschaften Glut erstickte, D e n nur mutwillig-schmerzlich-öde Lust Von seinem stolzen Herrscherthron verrückte. 52 Gomperz: Briefe und Aufzeichnungen, 21. 5. 1863, S. 558. 53 Ebd., S. 362 f. 54 Ebd., S. 119.

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Gib wieder Licht, gib Kraft, dass ich mich rette Aus dumpfem Brüten, das mein Mark verzehrt Reiss' mir die Ringe aus der Jahre Kette, Nur sei mir lebend nicht mein Licht zerstört!55

Das Gedicht erinnert an eine Beobachtung Sigmund Freuds in dem Aufsatz Das Ich und das Es56: „Den meisten philosophisch Gebildeten ist die Idee eines Psychischen, das nicht bewußt ist, so unfaßbar, daß es ihnen absurd und durch bloße Logik abweisbar erscheint." Aber nicht nur deshalb ist es nützlich, dieses Gedicht näher zu betrachten. Es verwendet eine hohe Stilebene, wie die Rhetorik sagen würde. Das meint, daß Theodor Gomperz seinem Gegenstand, einem Konflikt zwischen - im Sinne des Freud-Zitats intellektuell unfaßbaren Kräften und seinem rational arbeitenden Geist, einen hohen Stellenwert beimaß. Das Gedicht ist in Metrum und Reim verfaßt, wobei zu erwähnen ist, daß Gomperz zu jenem Zeitpunkt auch freie Rhythmen geschrieben hat. Die Wahl gebundener Rede deutet auf das Bemühen, seinem Ausdruck Ordnung und Halt zu geben. 57 Gomperz schrieb das Gedicht offenbar, um eine tiefgehende geistig-psychische Dissonanz in eine Konkordanz zu zwingen - deshalb Rhythmus, deshalb Reim. Blickt man auf die Metaphern des Gedichts, so entdeckt man sofort, daß sie sich in einem Hell-Dunkel-Gegensatz bewegen. Das hat Gomperz natürlich der Sprachbildlichkeit der Aufklärung entnommen, wobei er Licht, Sonne, Helligkeit und Leben dem vernünftigen Denken, Dumpfes, Dunkles und Nächtiges den Gefühlen, Instinkten und dem Tod zugeordnet hat. Diese Opposition findet sich in jeder Strophe. Geistes- und medizingeschichtlich gesehen dürfte es sich übrigens lohnen, Verbindungen zu den Ideen der Selbsthilfe bei der Herstellung von seelischer Ausgewogenheit und dem Rhythmus von Systole und Diastole (nach Goethe) zu suchen, wie sie sich bei Ernst von Feuchtersieben finden, dessen Werk Zur Dietätik der Seele von 1838 an durch das ganze Jahrhundert populär war. Ich zitiere eine Stelle: „[...] daß Leben, Kunst, Wissen, Strahlen einer Sonne sind, aus deren Lächeln alles Dasein gedeiht". 58 Beherrschung des Unteren durch das Obere, der Wunsch, den Intellekt regieren zu lassen, sind die Wege, auf de-

55 56 57 58

Gomperz (Anm. 52), 1.4. 1853, S. 120. Freud: Das Ich und das Es., S. 172. Vgl. bei Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses, S. 112. Feuchtersieben (Anm. 19), S. 484.

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nen Gomperz hoffte, Ordnung in sein Innenleben zu bringen. Es scheint funktioniert zu haben, denn wenige Wochen später notierte er in sein Tagebuch einige beinahe freudianisch zu nennende Gedanken: „Das kuriose Triebwerk der Gedanken und Empfindungen kenne ich nun sattsam" 59 , und er setzte fort: So weiss ich jetzt aus innerer Erfahrung, dass das Grundstreben unseres Lebens gleich ist der stärksten Entwicklung aller einzelnen Kräfte und daraus entspringender Übereinstimmung. Wo letztere ohne erstere sich herstellen will, tritt sofort oder später unausweichliche Empörung der unterdrückten Kräfte ein - am seltsamsten bei grosser Klarheit des Denkens, wo das Zurückgedrängte in allerhand komischen Vermummungen auftaucht.60

Ich kann hier nicht ausfuhrlich auf die Metapher vom „Triebwerk" eingehen, möchte aber andeuten, daß die Metaphorik der „Maschine" und des „Apparats" für das geistig-psychische Leben sich von John Stuart Mill, der sich einmal als „reasoning machine" bezeichnet hat, über den Wiener Hirnphysiologen und Psychiater Theodor Meynert (ein mit dem Clan befreundeter ,dichtender Nichtdichter' auch er61) bis zu Sigmund Freud reicht. Es ist der Versuch gemacht worden, die Entstehung der psychologischen Metaphorik von Druck und Abfuhr mit der Dampfmaschine, einem Symbol für die Zivilisation des 19. Jahrhunderts, in Verbindung zu bringen. 62 Dazu würde sich eine Information fügen, die Sohn Heinrich über Theodors Krise nachgeliefert hat 65 : Die Arzte diagnostizierten damals eine Leberreizung und schickten ihn auf Kur nach Karlsbad. Sie brachte „scheinbar", so Heinrich, den „glänzendsten Erfolg". „Scheinbar" deshalb, weil Theodor Gomperz selbst Jahrzehnte später eine andere Erklärung geliefert hat: Auf der Anreise nach Karlsbad, in Prag, habe er seine erste sexuelle Begegnung und Befriedigung mit einer Frau erlebt, und darauf sei die Verstimmung „mit einem Schlage" gewichen. Das würde sich zwar in die Metaphorik von Triebwerk, Stau, Druck und Abfuhr fügen, doch scheint uns heute diese rationalisierende Erklärung des Rationalisten für seine Krise doch etwas zu einfach.

59 60 61 62 65

Gomperz (Anm. 52), 14. 5. 1855, S. 120. Ebd., S. 121. Theodor Meynert: Gedichte. Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins. Gomperz (Anm. 52), S. 122.

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Bettina Gomperz, verheiratete Holzapfel (1879-1848) schrieb mit 51 Jahren ihre Autobiographie Reisnerstraße 13.M Als Mädchen mit zwei Brüdern aufwachsend, war sie, doch das sollte sich erst später herausstellen, die Rebellin in der Familie. In der Kindheit scheint sie ganz im Schatten der Brüder gestanden zu sein. Ihr Weg führte sie über die sogenannte Bürgerschule in jenes Mädchengymnasium, an dessen Gründung Vater Theodor beteiligt war. Das Ereignis ihres Lebens trat ein, als sie mit 24 Jahren den Sozialphilosophen Rudolf Maria Holzapfel (1874-1930, das sind fast exakt die Lebensdaten Hofmannsthals) kennenlernte und heiratete. Im Elternhaus genoß sie jene ästhetische Anleitung, die für ihre Generation, in ihrer sozialen Schicht, üblich war: Dichtung, Malerei, Musik. Als „schüchtern und still"65 beschreibt sie sich, als jüngstes Kind eines Vaters, der selbst jüngstes Kind gewesen war, fühlt sie sich im Verwandtschaftsverband in einer „Schar von Alten und Greisen". 66 Mit Fremdheit in einem großen Haus mit Garten, mit ihren Gefühlen allein gelassen 67 , mit einer Mutter, die in ihren philanthropischen Tätigkeiten außer Haus liebenswürdig, zu Hause jedoch tyrannisch war und ohne Einfühlungsvermögen, mit einem Vater, der ganz in seinem Gelehrtendasein aufging: So wird glaubhaft, daß im besonderen das Kapitel „Einsamkeit", das erste in Rudolf Maria Holzapfels Hauptwerk Panideal68, sie sofort angerührt hat. 69 Als die Kinder vier, zwei und ein Jahr alt waren, schrieb Theodor Gomperz an seine Frau: „Küsse mir die Fratzen, nach denen ich mich schon gewaltig sehne [•••]".70 Vier Jahre später, nun waren die Kinder acht, sechs und fünf Jahre alt, schrieb er an seine Frau in Franzensbad: „Sie sind allerliebst, und ich kann ganz und gar nicht klagen". 71 Wie denn auch: Schließlich waren ja noch ein Kammerdiener, zwei Dienerinnen und ein Küchenmädchen u m sie herum. Lieblingssohn Heinrich schrieb später in seiner Autobiographie über seinen Vater: „[...] he was the most kindhearted of

64 65 66 67 68 69 70 71

Holzapfel-Gomperz (Anm. 16). Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 75 ff. Rudolf Maria Holzapfel: Panideal. Holzapfel-Gomperz (Anm. 16), S. 150. Gomperz: Ein Gelehrtenleben, Konvolut X, 14. 7. 1880, S. 1065. Gomperz (Anm. 4), 20. 5. 1884, S. 152.

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men".72 War dieser Rationalist also die Ausnahme zur Regel, die Heidi Rosenbaum für das 19. Jahrhundert so formuliert hat: „Das Verhältnis der Väter zu ihren Kindern war oft distanziert und wenig liebevoll [...]. Tagsüber verschwand der Vater im Büro oder im Arbeitszimmer".73 Fragen wir Tochter Bettina: Der Vater [...] besaß ein allgemeines Wohlwollen den Menschen gegenüber, aber weder Anlage noch innere Möglichkeit, sich mit den Kindern zu verständigen. [...] [Es] beherrschte eine seltsam graue Atmosphäre sein Dasein. In philosophische und philologische Probleme vertieft, von tausend Dingen lesend, stand er den wirklichen Dingen des Lebens im Grunde fremd gegenüber. Irgendwie raschelte es wie Papier durch seine Seele. Darum konnte ein Kind, für das Anschaulichkeit alles bedeutet, ihn nicht verstehen, und bis zu meinem 14. Lebensjahr erschien er mir wie ein Gespenst, das in einer großen Bibliothek haust.74

Mit einem Satz von Günther Anders läßt sich der Generationsgegensatz, der zwischen Theodor und Bettina stand, so beleuchten: „[...] eine Generation dankt nicht ab, wenn ihre Antworten widerlegt, sondern wenn diese als unwichtig erachtet werden".75 Bettinas Tochter Monika Meyer-Holzapfel hat ihren Eltern „tiefe Religiosität" bescheinigt. Bettinas Autobiographie vermittelt das Entstehen und Wachsen dieser Religiosität. In der Schilderung ihrer kindlichen Gefühle im Stephansdom tauchen jene Sprachbilder auf, die sie auch für halbmystische Erlebnisse in der Natur verwendet: „Im Innern des Domes fühlte man sich geborgen, sanft und Hebevoll emporgehoben aus dunkler Meerestiefe; man war wie ein Ton seiner Choräle".76 Eine britische Erzieherin singt Kirchenlieder und mit ihrer Hilfe gerät Bettina ans Neue Testament.77 Während der Sommerfrischenaufenthalte in katholisch-ländlichen Gebieten besucht sie Kapellen, um „vor den Christus- und Marienfiguren beten zu können".78

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Heinrich Gomperz: Autobiographical Remarks, S. 259. Heidi Rosenbaum: Formen der Familie, S. 359. Holzapfel-Gomperz (Anm. 36), S. 14. Günther Anders: Lieben gestern, S. 86. Holzapfel-Gomperz (Anm. 36), S. 64. Ebd., S. 75. Ebd.

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Erinnern wir uns: 1887 hielt Theodor Gomperz in seinem Testament den Wunsch fest, seine Kinder sollten sich nach seinem Tode taufen lassen. Die Beunruhigung ihrer Mutter ob solcher katholischer Anwandlungen und die Versuche rationaler Aufklärungsarbeit ihres Bruders Heinrich, z.B. zu den W u n d e r n Jesu, wehrt Bettina ab. 79 Sie ist nicht bei dieser frühen katholischen Religiosität geblieben, aber mit ihrer Beschreibung wollte sie auch noch im Alter von 50 Jahren auf den emotionalen Mangel in ihrem Zuhause hinweisen. Bettina legte Wert darauf, ihre Besonderheiten als Kind und Jugendliche zu verdeutlichen. Obwohl sie den Begriff ,gender' noch nicht kannte, betont sie Aspekte, die man heute als Durchbrechungen von ,gender'-Prägungen bezeichnen würde: Ihre frühen Interessen für Mathematik, Raumvermessung u n d Konstruktion führt sie unter einer eigenen Kapitelüberschrift aus 80 , einen Onkel habe sie gemocht, weil er ihr von thermodynamischen Untersuchungen erzählt habe 81 , sie betont ihr Interesse für Sphärische Trigonometrie, die es erforderlich mache, ohne Zeichnung sich „Raumbilder n u r in der Phantasie" vorzustellen. 82 Mit 17 Jahren liest sie einen Traktat Leonardo da Vincis über Malerei (es war wohl der Trattato della pittura) und fühlt immer stärker künstlerische Bestrebungen in sich wachsen. Das braucht nicht zu verwundern, gehen doch gerade bei Leonardo die von Bettina geschätzten Disziplinen Mathematik und Geometrie eine Fusion mit bildender Kunst ein. Mit Hinblick auf ihren Beinah-Altersgenossen Robert Musil und dessen forschend-essayistisches Schreiben über Mathematik und Gefühl 8 3 ist einer von Bettinas Kommentaren interessant: Ich fühlte hier, was mir immer als das Wesen der Geometrie erschienen war: daß sie nicht, wie man oft glaubt, ein kaltes, abgezogenes System sei, sondern ein innerer Niederschlag von tausend starken Erlebnissen, ein organisch in der Tiefe gewachsenes und ruhendes Gerüst von unzähligen Empfindungen und Gefühlen, die in jeder kleinen Linie, trotz deren scheinbarer nüchterner Kürze, wie das gesamte Laub um einen Stamm mitzittern.84

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Ebd., S. 79. Ebd., S. 85 ff. Ebd., S. 86 f. Ebd., S. 86. Rossbacher: Mathematik und Gefühl. Holzapfel-Gomperz (Anm. 56), S. 92.

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Ebenfalls interessant im Hinblick auf die Literatur der Jahrhundertwende ist ein gewisser Hang zum Mystischen, den sie schon als Kind empfunden hat. Alles Dunkle zieht sie an, und sei es ein Laden in einem Gewölbe der Innenstadt; er erscheint ihr „wie ein dunkles Meer, auf dessen Grund allerlei unbekannte, aber herrlich glänzende Gebilde ihr Wesen trieben". 85 Wasser zieht sie zeit ihres Lebens magisch an, Wasser, „aus dem die braungoldenen Steine so seltsam heraufschimmerten und auf dessen Grunde vielleicht die wirkliche Heimat versunken lag". 86 Die Metaphorik beider Beschreibungen erinnert an das Motto des Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), das Robert Musil Maurice Maeterlincks Essay-Band Der Schatz der Armen (1896, dt. 1898) entnommen hat. (Allerdings trägt dort die Metaphorik auch noch den sprachskeptischen Aspekt, daß Sprechen entwertend und verblassend auf die gemeinten Inhalte wirke.) Bettinas Beschreibungen des Abstiegs in das Salzbergwerk von Aussee, die Schilderung des unterirdischen Sees, im kristallenen Funkeln der Lichter, ihre kindlichen Fragen nach den Ausdehnungen solcher „Märchenreiche" und „glitzernder Sternengewölbe" erinnern deutlich an Hofmannsthals Das Märchen von der verschleierten Frau (1900) bzw. an das Drama Das Bergwerk zu Falun (1899). Die Beschreibungen des Altausseer-Sees, des Dunkelgrün-Grundlosen und der Sehnsucht, „in ihm unterzutauchen", erinnern an die erotisierende Metaphorik, die einem ähnlichen See in Arthur Schnitzlers Novelle Frau Beate und ihr Sohn (1915) zugeschrieben wird. Auch enthält Bettinas Autobiographie die Beschreibung eines Gartens an einem Sommertag, mit einem Wasserbottich, unter dem Licht eines blauen Himmels. Bettina versucht hier, ein besonderes Ich-Erlebnis zu vermitteln, das an eine berühmt gewordene, oft zitierte Fußnote aus Ernst Machs Die Analyse der Empfindungen erinnert 87 , bei ihr allerdings nicht mit Ich-Auflösung konnotiert ist: Diese wunderbare, warme, farbige und reiche Welt schmolz mit mir in ein Ganzes zusammen. Ich fühlte mich eins mit den grünen Stauden, den roten Äpfeln, dem zitternden Sonnenlicht und dem weiten über uns gespannten Himmel; ein unsagbares Gefühl der Grenzenlosigkeit, des Umfangens, des Glückes überkam mich und ein merkwürdiges Bewußtsein von diesem Vor83 Ebd., S. 57. 86 Ebd., S. 15. 87 Ernst Mach: Antimetaphysische Bemerkungen, S. 145.

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gang. Das Mysterium dieses Augenblickes bedeutete den Eintritt in eine neue Welt. Es war mein Erwachen zum Leben.88 Bettinas Autobiographie ist perspektiviert auf ihren Ausbruch aus der Welt der Eltern. Schon als Kind stellt sie sich die Pendelbewegung einer großen Uhr als ein Vorwärts- und Hinausschreiten „aus einem engen Raum [...] in die weite Welt" vor.89 An den Märchen Frau Holle und Jack and the Beanstalk fasziniert sie besonders die Möglichkeit, „das Alte ganz verlassen" zu können. 9 0 Sie suchte, mit Arthur Schnitzler gesprochen, ihren ,Weg ins Freie', real und geistig-imaginativ. Ein Kapitel der Autobiographie heißt denn auch Am Fenster?1 Sie blickt in den Hof des Elternhauses, erahnt hinter der Mauer einen weiteren, den sie nicht einsehen, aus dem sie aber Stimmen und Schritte hören kann. Diese Situation wird im weiteren symbolisch; sie wünscht sich weg, aber nicht in ein beliebiges Leben: „Ein dunkles Gefühl sagte mir, daß ich warten solle". Die wartende Frau am Fenster ist eine paradigmatische Figur der Jahrhundertwende. Zwar stehen bei Schnitzler (Georg von Wergenthin in Weg ins Freie) und bei Hofmannsthal (Claudio in Der Tor und der Tod) auch Männer am Fenster, aber bei den Frauenfiguren verschmelzen auf eindrucksvollere Weise die reale Situation der eingeschränkten Entfaltungschancen und die symbolischen Entgrenzungswünsche des weiblichen Ich. (Schnitzlers Berta Garlan und die Frau des Schmieds in Hofmannsthals Idylle wären zwei Beispiele.) In der Zeitschrift Ver Sacrum erschien 1902 das Gedicht Frauen von Ilse Mautner 92 : Die Nacht ist so einsam Und alle Fenster Erloschen und schweigend. Aber es lehnen darin Reglose Frauen, Die lautlos ins Dunkel lauschen.

88 89 90 91 92

Holzapfel-Gomperz (Anm. 56), S. 48 f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 45 u. 44. Ebd., S. 32 f. Ver Sacrum, 1902, 14, S. 217.

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Sie warten und lauschen Ganze Nächte lang Ohne Bewegung. Doch ihre Sehnsucht eilt In ungeheure Fernen, Hinaus ins Unendliche. Und jeder Wagen, Der heranrollt, Kann das Wunder bergen. Und jeder Schatten, Der herankommt, Kann der Ersehnte sein. So lehnen Frauen Nächtelang am Fenster Und warten — In diesem Gedicht ist ein grammatischer Wechsel bemerkenswert: Die auf Entgrenzung wartenden Frauen erhoffen in der 5. Strophe „das Wunder", das sie aus ihrer Situation holt. Aber in der 6. Strophe wird daraus nicht das, sondern der Ersehnte, der ihnen den Weg ins Freie bahnen soll. Bettinas Ersehnter war Rudolf Maria Holzapfel, von dessen Ideen sie erfüllt wurde, dem sie, um für seine sozialphilosophischen und sozialpsychologischen Werke Geburtshilfe zu leisten, Geld, Zeit und Arbeitskraft als „supporting wife" opferte und auch ihre eigene künstlerische Arbeit zurückstellte. Ihr Leben mit ihm hat sie jedoch nie als eine Ehefalle empfunden. Nach seinem Tode, 1950 mit 56 Jahren, machte sie die Verbreitung seiner Ideen zu ihrer Hauptaufgabe. Z u m Teil hat Bettina das Wunder, das ins Freie führt, selber herbeigeführt. Ihr Weg in die bildende Kunst, den sie mit 14 Jahren einzuschlagen beschloß, wurde zwar vom Vater vorbereitet, indem er z.B. Franz von Lenbach konsultierte, auf dessen Empfehlung er Bettina eine Kunstreise nach Italien ermöglichte. 9 3 Aber die Intensität, mit der sie sich ein Leben nicht

93 Gomperz (Anm. 4), 16. 8. 1899, S. 304 f.

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nur mit, sondern in der Kunst vornahm, war ihr Werk. Den Wechsel des Lebensparadigmas, der dadurch im Hause Gomperz entstand, illustriert am besten ein kontrastierender Vergleich, den man unter die Fragen stellen könnte: Was tat Kunst mit Theodor Gomperz? Was tat Bettina Gomperz mit der Kunst? Ende des Jahres 1900 fuhr Theodor Gomperz nach München, um sich von Franz von Lenbach porträtieren zu lassen. Zunächst äußerte Lenbach die Idee, ihn als „Denker", als „pensatore", darzustellen.94 (Es wurde dann doch ein anderes Porträt daraus.95) Als Denker hat sich Gomperz selbst gesehen; schon über sein zweites Vorbild neben John Stuart Mill, den englischen Altertumshistoriker George Grote, hatte er geschrieben: „Der bloße Gelehrte (dessen Ideal die zum Selbstbewußtsein gelangte Bibliothek ist) tritt, wenn es sein soll, ganz und gar hinter dem Denker, und zwar dem universellen Denker zurück".96 Nach Theodors Tod entdeckte seine Frau im Winter 1913 mit Sohn Heinrich in einem römischen Antiken-Gipsmuseum den Abguß einer griechischen Stele, auf der ein Mann „sinnend das Haupt nach vorne neigt". Heinrich mutmaßt: „Empfand sie ihn als den griechischen Denker?" und berichtet, sie habe sich sofort entschlossen, eine Marmor-Nachbildung dieses Kopfes auf Theodors Grab zu stellen.97 Bettinas bevorzugte Skulpturen zeigen zwar ebenfalls Köpfe98; doch sind die Antlitze keineswegs griechisch-ebenmäßig modelliert. Sie interessierte, wie sie sagte, der „komplizierte Gesichtsausdruck und die psychologisch motivierte und durchtränkte Gebärde". 99 Die Gesichtsflächen sind gefurcht, auf dem Antlitz ihres Ehemannes z. B. wird denkerische Qual sichtbar. Es offenbart nicht so sehr die brütende Anstrengung von Auguste Rodins Denker (1879-1900), sondern eher den Anteil von Gefühlen am Akt des suchenden Denkens - ein modernes Thema, das z. B. für Robert Musils Denken geradezu konstitutiv ist. Ein Aus der Phantasie geschaffenes Antlitz (nur ein Foto davon ist erhalten) erscheint in seinen Furchen, bei geschlossenen Augen, nach innen gezogen. Ein Sitzender Träumer mit gestütztem Kopf (1912) weckt Assoziationen, die gleichzeitig Schlaf der Vernunft und Ent-

94 95 96 97 98 99

Gomperz (Anm. 4), 29. 11. 1900, S. 324. Gomperz (Anm. 2), Vorsatzblatt. Ebd., S. 186. Gomperz (Anm. 4), S. 485. Holzapfel-Gomperz (Anm. 36), S. 175-187. Ebd., S. 92.

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rückung ins Unbewußte suggerieren. Ein Sitzender Träumer mit gesenktem Haupte (1912) ist so gestaltet, daß schattige Flächen die beleuchteten Konturen, besonders auch im Gesicht, dominieren und den Eindruck von Gelöstheit und Ruhe (vielleicht nach einem Leben in der Qual der Bewußtheit?) vermitteln. Man ist versucht, Robert Walser zu zitieren: „Die Phantasie erlöst uns, und der Traum ist unser Befreier".100 Der Historiker 'Riomas Nipperdey hat seinem hier schon erwähnten Buch den Titel Wie das Bürgertum die Modernefand gegeben.101 Obwohl weder Theodor Gomperz noch Bettina den Begriff der Moderne gezielt gebraucht haben, ist der Generationsgegensatz zwischen ihnen beiden mehr als ein 'normaler' Vater-Tochter-Unterschied. In diesem Unterschied läppt nicht nur das 19. Jahrhundert in das zwanzigste, sondern es werden in ihm sowohl der Bruch als auch der Ubergang sichtbar, der Denken, Menschenbild und Kunstauffassung der in den sechziger und siebziger Jahren Geborenen von den Alteren unterscheidet. Bettina Gomperz hat dem Rationalismus des 19. Jahrhunderts, den für sie ihr Vater - und übrigens auch ihr Bruder Heinrich - verkörperte, hinter sich gelassen (wobei jedoch ihre unkonventionelle Neigung für Mathematik und Geometrie unangetastet blieb). Die Abwendung von der Welt des Vaters teilt sie in einem „Generationszusammenhang"102 mit ,Jung-Wien', ohne deshalb voll in einer „Generationseinheit" mit diesen Autoren zu stehen. Den Naturalismus hat sie, wie der viel ältere Hermann Bahr auch, abgelehnt, vom Symbolismus sagte sie, er habe „keine Knochen" gehabt.103 Als die wesentlichsten schöpferischen Prozesse bezeichnete sie später solche, die „das Aufsteigen und Eindringen kaumbewußter Elemente in das Vollbewußtsein" vollziehen.104 Auch das teilt sie also mit,Jung-Wien', und auch ein Weiteres: eine ödipale Revolte105, die Suche nach einem ,Weg ins Freie', weg von der Welt der Eltern, das heißt auch von der der Mutter, die die des Vaters war. Auf Bettina trifft zu, was Hofmannsthal im Jahre 1907 in seinem Aufsatz Vom dichterischen Dasein schrieb, den sie aber nicht gekannt haben kann, weil er erst aus dem Nach-

100 101 102 103 104 105

Robert Walser: Lektüre für Minuten, S. 94. Nipperdey (Anm. 23). Mannheim (Anm. 43). Holzapfel-Gomperz (Anm. 36), S. 115. Ebd., S. 26. Schorske (Anm. 25), S. 117.

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laß veröffentlicht wurde.106 Die Schilderung ihres Vaters in der Bibliothek hat gezeigt: Ihr war, wie Hofmannsthal, die Welt der Väter „mehr als fremd".107 „Der seltsame Schauder, mit dem wir gegen die halb vergangene Zeit stehen"108, erfaßte auch sie. Auch sie hat gespürt, wenn auch etwas anders artikuliert, daß das 19. Jahrhundert „das Gefühl der Seele [...] mit schrankenloser Empirie überwältigt" hat.109 Auch sie hätte, wie Hofmannsthal es getan hat, kritisch von jener „Mechanik des Denkens" sprechen können, die ihr Vater in seiner Jugend als „Triebwerk" durchschaut zu haben glaubte.

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Murray G. Hall

„Fromme Wünsche" Zur Situation österreichischer Autoren und Buchhändler im 19. Jahrhundert

Wenn im Bereich des literarischen Lebens im weiteren Sinn von jenen Faktoren die Rede ist, die Verbreitung und Produktion im 19. Jahrhundert mitbestimmten, so fallt einem sofort die facettenreiche staatliche Kontrolle ein. Im folgenden geht es um die Zensurbestimmungen, die die Literaturproduktion und -rezeption nachhaltig, d. h. bis ins 20. Jahrhundert hinein, beeinflußten, um gewerberechtliche Bestimmungen, die einen Wettbewerb nicht förderten, sowie um Bemühungen von seiten der Buchhändler-Verleger und Literaten, sich der staatlichen Intervention zu entziehen.

I. D E R B U C H H A N D E L IN D E R

GESETZGEBUNG

Eine auch nur kursorische Darstellung des literarischen Lebens im Osterreich des 19. Jahrhunderts kommt, selbst wenn es sich um einzelne Facetten und Fallstudien handelt, ohne Berücksichtigung der Institutionengeschichte, der Lesekultur, ohne Einbeziehung der Vereinsgründungen, ohne einen Blick auf die außerliterarischen Einflüsse, ohne Kenntnisnahme der Verbreitungsformen und -möglichkeiten der ,Literatur' nicht aus. Dabei gilt es zu bedenken, daß die Produktion von ,Literatur' im Sinne von Belletristik zwar für den Germanisten im Vordergrund stehen mag, daß sie im Grunde genommen nur eine winzig kleine Facette darstellt. Es ist daher nicht unwesentlich festzuhalten, unter welchen äußeren Bedingungen (Stichwort: staatliche Kontrolle, Erteilung von Befugnissen, gewerberechtliche Verhältnisse) die Geschichte des Wiener Buchhandels - und diese ist, wie der Chronist Carl Junker zurecht vermerkt, bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts „fast mit dem österreichischen Buchhandel überhaupt identisch" - sich entwickelte.1 Wien hatte nicht nur eine wirt1 Carl Junker: Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler. 1807-1907.

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schaftliche Vormachtstellung, es war auch der Hauptstapelplatz und das wichtigste Produktionszentrum des österreichischen Buchhandels im 19. Jahrhundert. Die Rolle der,Literaturproduzenten' in der Entwicklung des Verlagswesens im 19. Jahrhundert könnte man noch weiter marginalisieren, wenn man sich der Meinung der Forschung anschließt, wonach die Schriftsteller mit ihrem Kampf gegen die Zensur zwar das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen, daß aber Bedeutungslosigkeit auf politischer Ebene das Charakteristikum der österreichischen Schriftsteller in dieser Entwicklung war. Auf die ,frommen Wünsche' eines österreichischen Schriftstellers (Eduard von Bauernfeld) aus dem Jahre 18422 sowie auf die diversen Petitionen von Buchhändlern und Schriftstellern kommen wir noch zu sprechen. Wenn eingangs von einer staatlichen Kontrolle über den Buchhandel (im fraglichen Zeitraum gleichzusetzen mit Buchhandel und Buchherstellung/Verlag) die Rede war, so ist es unerläßlich, kurz zusammenzufassen, wie der Buchhandel überhaupt staatlich geregelt war und die Entwicklungslinien bis zu der lang geforderten, Ende 1859 publizierten und am 1. Mai 1860 in Kraft getretenen Gewerbeordnung, die eine neue Basis u.a. auch für den Buchhandel schuf, in Erinnerung zu rufen. Die Ecksteine dieser Entwicklung bilden eine Reihe von Verordnungen bzw. Hofdekreten, die festlegten, wer und unter welchen Bedingungen jemand befugt war, Buchhandel zu betreiben. Es wird u.a. von Carl Junker und vor ihm von dem aus einer alten Wiener Buchhändlerfamilie stammenden Franz Gräffer in der von ihm herausgegebenen Osterreichischen National-Encyclopädie (1835) die Auffassung vertreten, daß „ein förmlich organisierter Buchhandel [...] in Osterreich erst gegen die Periode der Kaiserin Maria Theresia" 3 begann. Dieser Buchhandel, der sich unter dem unmittelbaren Schutz der Universität entwickelte, war (und blieb) stark zentralistisch. Wien und auch Prag als Universitätszentren blieben unangefochten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Städte für den von

Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Korporation am 2. Juni 1907. Wien: Deuticke 1907, S. 38f. In Hinkunft kurz zitiert als Korporation mit Seitenzahl. 2 Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers. Leipzig: Otto Wigand 1842. 5 Zit. nach Carl Junker: Die Entwicklung des Buch-, Kunst- und Musikalienhandels in Osterreich und Ungarn 1860-1910. In: Österreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz. Festnummer anläßlich des 50jährigen Bestehens 1860-1910. Wien 1910, Teil I, S. 35. In Hinkunft kurz zitiert als Festnummer 1910 mit Seitenzahl.

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der deutschen Sprache beherrschten Buchhandel. Zur Produktion u n d zum Stellenwert Wiens schreibt Carl Junker: In der Zeit von 1765-1805 erschien Wien bereits als drittwichtigster Verlagsort des deutschen Buchhandels. Nur Leipzig mit über 500 Werken und Berlin mit über 250 Werken durchschnittlich jährlich gingen ihm vor. Wien mit seiner Produktion von durchschnittlich 125 Werken steht im Kaiserstaat an erster Stelle, dann folgen Prag mit zirka 40, Salzburg mit zirka 20, Graz mit zirka 8 und Preßburg mit zirka 5 Werken.4 Eine Reformbewegung setzte knapp nach Mitte des 18. Jahrhunderts ein, u n d von n u n an ging der Einfluß d e r Universität langsam zurück. Durch ein Hofdekret i m Dezember 1755 w u r d e die Universität angewiesen, die Zahl d e r Buchhandlungen in Wien nicht m e h r o h n e kaiserliche Bewilligung zu erhöhen, zumal es ohnehin genug Buchhandlungen gäbe. Sie durfte künftig n u r m e h r die Übertragung von Konzessionen gestatten. Im S o m m e r 1756 reichten die Wiener Buchhändler ein Gesuch bei Kaiserin Maria Theresia ein, m i t der Bitte u m Erlassung einer förmlichen Buchhändlerordnung. Die Kaiserin entschied i m September 1771, daß Buchhandlungsfreiheiten n u r durch Kommerzialkonzesse erteilt w e r d e n durften. Gleichzeitig befahl sie die Ausarbeitung einer eigenen O r d n u n g f ü r den Buchhandel in den Erblanden. U n d sie war es, die d e m Buchhandel 1772 ihre erste „Ordnung" gab. Diese nannte sich „Ordnung für die Buchhändler in den kaiserl. königl. Erblanden vom 28. März 1772". 5 Voraussetzung f ü r die Ergreifung des Buchhändlerberufes (der nach d e m heutigen Verständnis Buchhändler, Sortimenter, Verleger, Buchdrucker umfaßte) war „denselben ordentlich gelernet [zu] haben" 6 , also eine durch Lehrjahre erworbene Befähigung. Die Ordnung regelte das Lehrlingswesen u n d die Beschäftigungsverhältnisse im Buchhandel. Aber das „ordentliche" Erlernen erstreckte sich ebenfalls auf „die genügsame Känntnis von den besten Schriftstellern in den verschiede-

4 Carl Junker: Die Kulturarbeit des deutschen Buchhandels. In: Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hrsg. unter Mitwirkung namhafter Gelehrter und Schriftsteller von Adam Müller-Guttenbrunn. Stuttgart-Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1916, S. 500-508; hier S. 501f. 5 Wiedergabe in Junker: Korporation (Anm. 1), S. 45-47 (= Gesetze Maria Theresia VI, 451). Die nachfolgenden Zitate sind diesem Text entnommen. 6 Ebd.

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nen Wissenschaften", etwas, was von einer Universität in Form einer eigenen Prüfung bescheinigt werden mußte. Der Buchhändler mußte überdies über ausreichendes Kapital („ein genügsames Handlungsvermögen") verfugen. Die Zahl der Buchhandlungen an einem bestimmten Ort sollte zwar nicht ausdrücklich beschränkt sein, doch sollte sie, wie es heißt, „hingegen auch ohne Noth [...] nicht vermehret" werden. Es war dies eine Bestimmung, mit der die etablierten (in den Dekreten heißen sie ,priviligirt') Buchhändler jahrzehntelang gut leben konnten, da sie die Konkurrenz fernhielt. Ein Buchhändler konnte auf Grund der Ordnung mit allen Gattungen der Bücher, außer mit den verbotenen, Handel treiben und auch selbst Bücher verlegen und von anderen kaufen. Wichtig war auch die Bestimmung für eine Art Standesvertretung, wenn mehrere Buchhändler an einem Ort tätig waren. Die etablierten Buchhändler (also auch Verleger) hatten jedoch eine ihnen lästige Konkurrenz wie aus einem 1818 gerichteten Rekurs an den Kaiser hervorgeht, worüber noch zu sprechen sein wird. Es ging u m die Buchdrucker, und die Frage lautete, ob (auch) ihnen der allgemeine freie Buchhandel zu gestatten sei. Kaiser Josef II., der seiner Mutter inzwischen nachgefolgt war, fand in einer Hofentschließung vom 18. Mai 17827 eine nicht nur vom wirtschaftlichen, sondern auch vom aufklärerischen Standpunkt gesehen durchaus pragmatische Lösung, die, und das nicht zum letzten Mal, kaum im Sinne der Buchhändler sein konnte. D e m Buchdrucker (wie dem Buchbinder) sollte der freie allgemeine Buchhandel sowohl mit inländischen als auch mit fremden und auswärtigen Büchern an allen inländischen und ausländischen Orten erlaubt sein. Während der Regentschaft Josef II. wurden die Buchhändler und Buchdrucker der Jurisdiktion der Universität entzogen und als bürgerliche Handelsleute angesehen (Hofentschließung vom 27. November 1786).8 Zwei Jahre später begann mit dem Hofdekret vom 11. August 1788 die kurzlebige ,große Freiheit' im Buchhandel bzw. Verlagsbereich. 9 Da heißt es konkret: Aller Zwang bei dem Buchhandel, und der Buchdruckerei wird aufgehoben, und dieselben als freie Gewerbe und Künste, jedoch dergestalt, erkläret daß: [...] sie den öffentlichen Polizei- und Zensursgesetzen genau zu unterliegen 7 Wiedergabe in Junker: Korporation (Anm. 1), S. 48. 8 Ebd. 9 Wiedergabe in Junker: Korporation (Anm. 1), S. 49-50.

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haben; wodurch dann auch das Hausiren mit Büchern unter den vorerwähnten patentmäßigen Vorsichten gestattet wird. D i e Grundlage für diese Maßnahme bildete eine kaiserliche Resolution, in der es hieß: Ich kann nicht begreifen, wie man immer dem Einfachen vorbeyschießt und in das Vielfache, Beschwerliche und Zwangsvolle geräth, wenn es nicht der persönliche Wunsch der Geschäftsleiter ist, viele Sachen zu thun zu haben, um dadurch ihre Authorität gelten zu machen, und ihre Protektionen austheilen zu können. Obwohl diese Resolution über zwei hundert Jahre alt ist, sind die Argumente, die hier vorgebracht werden, im Zeitalter der langsam verschwindenden geschützten Bereiche ungemein aktuell: Die Buchdruckerey muß frey seyn und so eben der Buchhandel im Laden und im Hausiren. Alle eingekaufte Gewerbe 10 desselben hören also auf, und ist keine Zahl zu bestimmen. Wer sich Lettern, Farbe, Papier und Presse einschaft, kann drucken, wie Strumpf stricken, und wer gedruckte Bücher sich macht oder einschalt, kann selbe verkauffen; jedoch haben alle den öffentlichen Polizey- und Censurs Gesetzen genauestens zu unterliegen. Die lächerliche Attestaten und Prüfungen von Gelehrsamkeit, so der Regierungs Referent von demjenigen, die eine Buchhandlung führen will, fordert11, sind ganz absurd. Um aus der Lesung der Bücher einen wahren Nutzen zu ziehen, da braucht es viel Kopf, und würden wenig die Prüfling aushalten, ob ihnen das Lesen wahrhaft nutzbar sey. Um aber Bücher zu verkauffen braucht es keine mehrere Kenntnisse, als um Käß zu verkauffen: nämlich ein jeder muß sich die Gattung von Büchern oder Käß zeitlich einschaffen, die am mehresten gesucht werden, und das Verlangen des Publikums durch Preise reitzen und benützen.

10 Gemeint sind die sogenannten verkäuflichen Befugnisse aus der Zeit der Jurisdiktion der Universität. 11 Jeder Buchhandlungswerber sollte von dem Laufe der Studien bis zur Gottes- und Rechtsgelehrsamkeit und von der nötigen Handlungswissenschaft Kenntnis haben und hierüber, sowie über die Verwendung im Buchhandel, die Beweise vorbringen können.

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Im Zuge der tiefgreifenden Reformen, die hier ihren Anfang nahmen, wurde somit das Konzessionswesen aufgehoben und die Kolportage sogar freigegeben. Der Buchhandel und die Buchdruckerei erlebten zumindest quantitativ einen ungeahnten Aufschwung. Daß dabei die Qualität der Geistesprodukte mit der Menge nicht Schritt halten konnte, wird immer wieder in der Forschung festgestellt. Man weiß, daß die josephinischen Reformen nicht ganz zeitgemäß waren und daß die Bevölkerung vor der Französischen Revolution, inbesondere in Osterreich, für die großen Ideen des Kaisers nicht reif war. Naturgemäß mußte sich, kaum, daß er die Augen geschlossen hatte, eine scharfe Reaktion geltend machen, die auch den Buchhandel schwer erschütterte. Er geriet nach einer kurzen Zeit lebhafter Unruhe in eine nur immer mehr zunehmende Lethargie, in der er durch drakonische Maßregeln der Zensur und Gewerbepolizei bis zum Jahre 1848 erhalten blieb.12

Mit der Hofentschließung vom 5. Juli 1792 kehrten die alten Zustände zurück: Der Befähigungsnachweis (Erlernen des Berufs, Nachweis über „die erforderliche Wissenschaft und kaufmännische Bildung") wurden wieder eingeführt, und es wurde eine bestimmte Anzahl von Buchhandlungen zwar nicht festgesetzt, doch waren für die Zukunft „Zeit und Umstände zum Maßstabe zu nehmen", wenn eine Vermehrung in Aussicht stand. Wie dies ausgelegt wurde, wird ein Hofrekurs der privilegierten Buchhändler aus dem Jahre 1818 noch zeigen. Jeder befugte Buchdrucker durfte eine Buchdruckerei errichten, jedoch gestattete die Hofentschließung künftighin jenen, die das Gewerbe der Buchdruckerei ergreifen wollten, im Prinzip nur jene Artikel zu verkaufen, die sie selbst verlegten, darunter Schul- und Gebetbücher sowie Kalender, und sonst nichts.13 Drei Jahre später war durch ein neuerliches Hofdekret das Kolportageverbot wieder in Kraft. Die entsprechende Verordnung in Censurssachen § XI war unmißverständlich und symptomatisch für den Zeitgeist: Niemand soll mit Büchern hausiren, solche kolportiren und damit heimlicher Weise Gewerb treiben; die Uebertreter werden nebst Konfiskation aller bey 12 Wilhelm Müller: Der österreichische Buchhandel. In: Österr.-ungar. Buchhändler-Correspondenz, Nr. 58, 18. 9. 1912, S. 530-531; hierS. 550. 15 Hofentschließung vom 5. Juli 1792. Zitiert nach Junker: Korporation (Anm. 1), S. 51.

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denselben vorgefundenen Bücher in Verhaft gezogen, und nach Befund der Umstände, je nachdem die also verkauften Bücher im hohen Grade Sittenverderblich, Religionswidrig, oder Staatsgefährlich sind, mit schwerer angemessenen Strafe, und wenn sie Ausländer sind, mit der Landesverweisung belegt werden. 14

Die „Ordnung für Buchhändler und Antiquare vom 18. März 1806" schrieb die staatliche Kontrolle über Buchhandel und Verlag fort.15 Beide wurden zu Instrumenten des Staates degradiert. Das Diktum lautete einmal mehr: Es ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, wobei anzufügen wäre, daß so manche Verschärfung den „privilegierten", sprich: bereits befugten Buchhändlern nicht ganz so unrecht war, zumal ihre Politik gegenüber möglichen Konkurrenten eine Mischung aus Brotneid und Monopolgeist war. Daß die Zensur und verschiedene handelsrechtliche Bestimmungen für einen Buchhändler ruinös sein konnten, steht auf einem anderen Blatt. Die Präambel zu dieser Ordnung beschreibt den Zeitgeist ziemlich genau, das gedruckte Wort war synonym mit einer Gefahr für den Staat: Da der Buchhandel und die Buchdruckerey auf die National-Bildung, auf Künste und Wissenschaften einen so mächtigen Einfluß haben, Wir aber seit einiger Zeit wahrgenommen haben, daß beyde durch unbefugtes Einmengen anderer Gewerbsleute und Personen gestöret worden, und durch die hierdurch veranlaßte Unordnung dem Staatszwecke nicht mehr entsprechen; so wollen Wir in Rücksicht auf diese wichtigen Handlungszweige die angeschlossene Ordnung für Buchhändler und Antiquare festsetzen, zugleich auch die im Jahre 1771 für die Buchdruckergesellen und Jungen ergangene Ordnung hiermit erneuern; wobey Wir insbesondere noch Folgendes zur allgemeinen Richtschnur und Beobachtung vorzuschreiben befunden haben.15"

Der Buchhandel war somit a priori gefahrlich, eine Eigenverantwortung sollte ihm nicht übertragen werden. Wer daher eine Buch- oder Antiquariatshandlung errichten wollte, mußte zuvor bei der Landesstelle um Er-

14 Hofdekret vom 22. Februar 1795. Zitiert nach Junker: Korporation (Anm. 1), S. 51. 15 Wiedergabe in Junker: Korporation (Anm. 1), S. 52-54. 15aEbd., S. 52.

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laubnis ansuchen. Sonst war der Buchhandel nach wie vor - wie viele Jahrzehnte später - nicht selbstregulierend, sondern ein Appendix des Staates. Die Ordnung von 1806 brachte weitere restriktive Vorschriften mit sich, die die Literaturvermittlung hemmten: § 2. Buchhandlungen, Antiquar-Buchhandlungen, Buch- und Kupferdruckereyen dürfen an keinem andern Orte, als in den Hauptstädten der Provinzen, oder in Städten, wo ein Kreisamt seinen Sitz hat, errichtet werden. § 5. Die Befugnisse der Buchhändler, Antiquare und Buchdrucker sollen nur nach dem genaueren Bedürfnisse des Landes und Ortes ertheilet; daher nicht, ohne daß es nöthig ist, vermehret, vielmehr die übersetzte Anzahl nach und nach zu vermindern Bedacht genommen werden.16 Solche Verringerungen wurden dadurch gefördert, daß Befugnisse nunmehr ad personam verliehen wurden (§ 6) und mit dem Tod des Besitzers (außer im Fall eines Witwenfortbetriebs, § 7) erloschen. Die sogenannten privilegierten Buchhändler und Antiquare konnten im übrigen über die Ausschaltung lästiger Konkurrenz (dazu der Hofrekurs an späterer Stelle) durchaus zufrieden sein. Außer ihnen war es ja „niemanden erlaubt mit Büchern, es sey alten oder neuen, gebundenen oder ungebundenen, zu handeln, sie für Andere aus dem Auslande kommen zu lassen, in Commission zu nehmen, oder darauf Subscription zu sammeln" (§ 9). Die Buchdrucker genossen nicht mehr dasselbe Recht wie Buchhändler mit eigener Druckerei; sie durften nur ihre eigenen Erzeugnisse im eigenen Lokal verkaufen. Schriftsteller, als Selbstverleger von den Buchhändlern als eine fürchterliche Bedrohung empfunden, durften Ausgaben ihrer eigenen Werke, die sie auf eigene Kosten drucken ließen, auf eigene Rechnung „auch in ihrer Wohnung" verkaufen. Buchbinder und Trödler hatten sich des Handels mit Büchern fortan „gänzlich zu enthalten" (§ 15). Die Ordnung aus dem Jahr 1806 brachte eine salomonische Lösung für den Nachdruck. Werke aus dem Ausland waren, was den Nachdruck betrifft, ungeschützt, dafür durfte „kein in den Erblanden aufgelegtes Werk [...] ohne Bewilligung des Verfassers wieder aufgelegt, oder ohne Einwilli-

16 Ordnung für Buchhändler und Antiquare vom 18. März 1806. Zitiert nach Junker: Korporation (Anm. 1), S. 52-54; hier S. 52.

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gung desselben und des Verlegers, wieder nachgedruckt werden" (§ 17). Einen ähnlich merkantilistischen Geist offenbarten die Bestimmungen betreffend ausländische Buchhändler und Bücherkrämer auf dem inländischen Markt. Bevor die Gewerbepolitik weiterverfolgt wird, soll auf die Zensurgesetzgebung hingewiesen werden, die den Anlaß für eine 1842 gegen die Zensur gerichtete anonym erschienene Schrift von Eduard von Bauernfeld lieferte. Der Verfasser argumentiert einleitend, daß die „Schranken der Censur" zu gewissen Zeiten und unter bestimmten Voraussetzungen ihre Berechtigung gehabt haben mögen, daß aber die Notwendigkeit nicht mehr gegeben sei. Er faßt die wesentlichen Punkte der Zensurverordnungen seit dem Jahre 1715 zusammen und verweist auf den seiner Meinung nach wichtigsten Punkt im neuen preußischen Censur-Gesetz. Hier ist die Erlaubnis festgeschrieben, auch über öffentliche Interessen zu schreiben, ja selbst Mißgriffe in der Staatsverwaltung aufdecken zu dürfen, wenn dies in einem anständigen Ton geschieht. Bauernfeld erläutert sodann in konziser Weise das Osterreichische Patent aus dem Jahre 1810, das im Mittelpunkt der Petitionen aus dem Jahr 1845 stehen wird: Das österreichische Patent fiir die Leitung des Censur-Wesens vom 14. September 1810, welches gesetzlich annoch gültig ist, enthält im § 8. wörtlich dieselbe Concession wie das preußische Gesetz. Das österreichische Patent, welches im liberalsten Sinne abgefaßt ist, enthält in der Einleitung die Worte: „Kein Lichtstrahl, er komme, woher er wolle, soll in Zukunft unbeachtet und unerkannt in der Monarchie bleiben." Nur Unsittlichem und durchweg Staatsgefahrlichem ist der Druck zu versagen, dagegen sollen bedeutende gelehrte Werke, ohne äußerst wichtige Gründe nicht verboten werden. Die einzige Beschränkung, welche für bedenklichere Werke dieser Gattung, die ohnehin nicht für das große Publicum bestimmt sind, einzutreten hat, besteht darin, daß sie nicht öffentlich (in den inländischen Zeitungen) angekündigt werden dürfen. Größere Strenge ist auf Broschüren, Jugend- und Volksschriften, Unterhaltungsbücher anzuwenden, die weder auf „Verstand noch Herz" wirken, sondern nur auf die „Sinnlichkeit". Darunter gehören insbesonders die Romane, die „wenigen guten" ausgenommen, wie sich der Gesetzgeber ausdrückt. - Im Ganzen soll kein tüchtiges und geistreiches Werk verboten werden, wenn auch die Grundsätze und Ansichten des Autors von jenen der Staatsverwaltung verschieden sind. - Fühlt sich der Schriftsteller durch die Entscheidimg der Censurbehörde gekränkt, so steht ihm der Recurs an die po-

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litische Hofstelle des Landes (die k.k. vereinte Hofkanzlei) offen, welche darüber an Se. Majestät zu berichten hat. - Dem Bücher-Revisions-Amt so wie den Censoren wird Schnelligkeit bei ihrer Amtshandlung zur Pflicht gemacht. - Gedruckte Bücher (ausländische) werden bezeichnet mit: admittitur transeat - erga schedam concedatur - damnatur. Bücher, welche sich des „admittitur" des Censors erfreuen, dürfen ungehindert öffentlich angekündigt und verkauft werden. Bei Büchern mit dem „transeat" fällt die öffentliche Ankündigung weg; Werke „erga schedam" sollen nur Geschäftsmännern und Gelehrten verabfolgt werden; Bücher zu lesen, über welche das Todes-Urtheil „damnatur" ausgesprochen ist, erlaubt in einzelnen Fällen die Policei-Hofstelle; Professoren und eigentlichen Gelehrten soll diese Erlaubniß niemals versagt werden. - Für Handschriften inländischer Autoren gibt es außer dem „admittitur" und „damnatur" noch ein „toleratur". Die letztere Bezeichnung sollen Manuskripte enthalten, welche bei der Gediegenheit ihres Inhalts, zwar im Inlande gedruckt werden dürfen, die aber, wegen anderer Bedenken (besonders politische Schriften) nur für das gebildete Publicum bestimmt, und daher nicht öffentlich anzukündigen sind. - Auch mit diesem Gesetze, wie mit dem Josephinischen, wurde der Nachdruck ausländischer Werke im Ganzen nicht aufgehoben. Dies sind beiläufig die Grundzüge des öster. Censur-Patents vom Jahre 1810, welches, wie gesagt, Gesetz annoch gültig ist.17 Dieses Gesetz sei, so der Verfasser, „liberal", und er wundert sich, „daß sich der österreichische Schriftsteller der ihm gesetzlich eingeräumten Rechte seit Jahren nicht bedient" (S. 71 f.). Die österreichischen „Literatoren" hätten sich einfach damit begnügt, ,,[d]asjenige, was sich im deutschen Leben, in deutscher Kunst und Wissenschaft zu regen beginnt, im Stillen aufzunehmen [...], ohne die Energie und den Muth zu besitzen, die gewonnene Idee in eigenen Werken abzuspiegeln" (S. 72). Das Fazit des Verfassers: Die Schriftsteller seien zum Teil selber daran schuld, daß die Zensur statt milder, strenger geworden sei:

17 Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers. Leipzig: Otto Wigand 1842, S. 69 f. (Die folgenden Seitennachweise im Text.) Zum Komplex Zensur siehe u.a. Julius Marx: Die österreichische Zensur im Vormärz. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1959 (= Schriftenreihe des Arbeitskreises für österreichische Geschichte).

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Ein liberales Gesetz ist vorhanden, aber Niemand will sich dessen bedienen; ich habe nicht vernommen, daß in den letzten dreißig Jahren ein Fall soll vorgekommen sein, daß ein einziger österreichischer Schriftsteller sich seines Rechtes: des Recurses an die vereinte Hofkanzlei, bedient hätte. Bei dieser Indolenz der Schriftsteller erhoben die Censoren ihr Haupt immer höher, deren Amt einer großen Verantwortlichkeit unterliegt, und die daher ohnehin gewohnt sind, sich mehr an die Tradition der Schlendrians, als an das Gesetz zu halten; Bequemlichkeit auf der einen, Aengstlichkeit auf der anderen Seite führten von Jahr zu Jahr größere Restrictionen herbei. Es ist kein Zweifel, daß denselben Büchern, welche vormals mit Bewilligung der österreichischen Censur gedruckt wurden, gegenwärtig, bei den nämlichen Gesetzen, die Druckbewilligung versagt werden würde. [...] Weder diese Stoffe, noch die Art ihrer Ausführung würden heut' zu Tage gutgeheißen, und doch ist das Jahr 1842 über die Gedanken des Jahres 1814 an Gehalt und Form längst hinausgeschritten! Es liegt also offen, daß nur der Schlendrian und die Gedankenlosigkeit derlei unschädliche Sächelchen verbieten kann, und daß - Gesetze und ihre Ausführung verschiedene Dinge sind. (S. 72 f.) D e r Verfasser weist auf den Widerspruch hin, daß m a n i m L a n d selbst nicht das drucken darf, was i m ganzen L a n d gelesen w e r d e u n d argumentiert zu Recht, d a ß die Censur-Frage auch einen national-ökonomischen Aspekt hat u n d schneidet damit eine Frage an, die noch bis ins 20. Jahrhundert aktuell bleiben w i r d : d e r Autorenexport u n d d e r Literaturimport. D e r Kaiserstaat Österreich importiere Geisteserzeugnisse, f ü h r e sie aber nicht aus. D a s österreichische Zensurverbot habe, so d e r Verfasser, geradezu die W i r k u n g einer Prämie, die d e m nord- o d e r süddeutschen Buchhandel z u m Nachteil des österreichischen bezahlt w e r d e . E r liefert dazu ein konkretes Beispiel: Dem österreichischen Buchhandel, indem er an Lenau und Grün etwa 15 Procent von dem reinen Erlös der im Inlande abgesetzten Exemplare gewann, entgingen mit dem Selbstverlag die weiteren 85 Procent, welche dem ausländischen Verleger zufielen. Das Inland bezahlte, nach mäßiger Berechnung, 4 bis 5000 Gulden baar an das Ausland, um seine vaterländischen Schriftsteller zu lesen, während beim inländischen Verlage 8 bis 10,000 Gulden hereingekommen wären. Dadurch wurden dem inländischen Verkehr 12 bis 15,000 Gulden entzogen, wozu noch kommt, daß der Setzer, Buchdrucker, Buchbinder u.s.w. unbeschäftigt blieb. Allein wichtiger als dieser materielle Verlust ist

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der moralische Nachtheil: wenn der österr. Buchhändler als Selbstverleger nichts als Koch- und Gebet-Bücher zu Markte bringen kann, so macht er sich schlechten Namen in der gelehrten, und überhaupt in der lesenden Welt; kein bedeutender ausländischer Autor, der überdieß die Verstümmlung von Seiten der Censur befürchtet, wird ihm ein Werk in Verlag überlassen. Denn das Zutrauen zu der wiener Firma fehlt, und so fahrt auch der inländische Schriftsteller nicht zum Besten, der sich ihrer bedient. (S. 80 f.) Zu dieser Zeit war der österreichische Buchhandel d e m Ausland gegenüber vollkommen passiv. Ein halbes Jahrhundert später wird die Klage die gleiche sein, mit dem Unterschied, daß die österreichischen Autoren (nach wie vor) im Ausland verlegen, weil ihre Werke ungenügenden urheberrechtlichen Schutz genießen. Der Gewinn aus d e m Verkauf der Werke einheimischer Schriftsteller wird weiterhin ins Ausland fließen. Eine Verbesserung dieser Situation aus der Sicht des Jahres 1842 würde nicht nur einen finanziellen, sondern auch (für den Staat) einen immateriellen Gewinn bedeuten: „die Erweckung des nationalen Sinnes, der Zuwachs an literarischer Ehre, die steigende Achtung des Auslandes" (S. 83). Der Verfasser plädiert nicht für eine generelle Aufhebung der Censur, sondern vielmehr dafür, „daß noch gewisse Beschränkungen aufgehoben werden, die mit einer vorgerückten Zeit längst nicht mehr im Einklänge stehen" (S. 93). Das Resümee des Verfassers der „frommen Wünsche", der für eine Annäherung an das „verbrüderte" Deutschland eintritt: „die Forderung einer liberaleren Censur für dieses, in Industrie und Handel neu aufblühende Land [erscheint] u m so unabweislicher, je m e h r es seine Isolirung, d e m übrigen Deutschland gegenüber, aufzugeben genöthigt ist." (S. 89.) Etwa drei Jahre später gingen sowohl die österreichischen Schriftsteller als auch die Wiener Buchhändler (scheinbar) in die Offensive. Am 11. März 1845 kamen die Wiener Schriftsteller zusammen, u m über eine Petition wegen Milderung der Zensur zu beraten. Es wurde ein umfangreiches Schriftstück erstellt, das von 100 Schriftstellern unterzeichnet und auch in ausländischen Zeitungen mit allen Unterschriften abgedruckt wurde. In der Petition wurden hinsichtlich des Zensurpatents von 1810 drei Hauptforderungen aufgestellt: 18

18 Eine Denkschrift über die gegenwärtigen Zustände der Zensur in Österreich. Petition der Wiener Literaten aus dem Jahre 1845. Textwiedergabe in Adolph Wiesner (Hrsg.): Denk-

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1) Erlassung eines Censur-Gesetzes auf Grundlage der Instruktion vom Jahre 1810, und öffentliche Kundmachung dieses Gesetzes. 2) Verleihung einer unabhängigen Stellung für die Zensoren. 3) Gründung eines wirksamen Rekurs-Zuges in Zensur-Angelegenheiten.

Überraschend mag die Tatsache erscheinen, daß die Schriftsteller hier nicht die Zensurfreiheit fordern, sie bemängeln stattdessen den fehlenden Gesetzescharakter des Patents. Der Grund mag im Realitätssinn der Literaten zu suchen sein.19 Sie wußten wohl, daß sie die Zensur nicht aufheben konnten. Sie versuchten daher einen gangbaren Weg zu finden, der ihnen vielleicht Freiheit gestatten würde und der deshalb als eine Art Zwischenetappe gesetzlich fixiert werden sollte. In diesem Sinne äußerte sich Eduard von Bauernfeld in seinem Tagebuch schon Anfang 1843: Hier geht's etwas vorwärts, die politische Idee keimt nach und nach, die Regierung muß endlich nachgeben, und in Jahr und Tag kann viel geschehen. Aufhebung der Censur wäre freilich die Hauptsache. Wir taufen's einstweilen: Verbesserung der alten Censurgesetze, um nicht damit zu erschrecken.20

In ihrer Petition argumentieren die Schriftsteller ja vielfach ähnlich wie einige Jahre zuvor in den Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers. Der Staat beraube sich durch seine rigorosen Zensurmethoden selbst seiner Intelligenzen bzw. dränge sie in Illegalität und ins Ausland. Das heißt, der Autor gehe dem Land und dessen Volkswirtschaft und Geistesleben verloren. Die Folge lautete „die Ertötung des nationalen Sinns". Die Bittschrift blieb ohne Erfolg. Durch das Beispiel der Wiener Schriftsteller angeregt, überreichten auch die Wiener Buchhändler im August desselben Jahres eine Bittschrift an den Kaiser. Zur Situation der Buchhändler in dieser Zeit schreibt Karl Glossy:

19 20

Würdigkeiten der österreichischen Zensur vom Zeitalter der Reformazion bis auf die Gegenwart. Stuttgart: Verlag Adolph Krabbe 1847, S. 409-422. Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Otto Müller Verlag 1966, S. 95. Karl Glossy (Hrsg.): Aus Bauernfelds Tagebücher I. Wien 1895, S. 100 f. Zit. nach Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien - Köln: Böhlau Verlag 1989, S. 71.

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Man kann sich nach modernen Begriffen nicht vorstellen, welchen Quälereien ein vormärzlicher Buchhändler ausgesetzt war. Fortwährend unter Polizeiaufsicht, mußte er den dickleibigen Index verbotener Bücher stets vor Augen halten, um genau zu wissen, ob ein Buch mit damnatur, transeat oder erga schedam zensuriert worden sei. Denn von diesen Formeln hing das Schicksal eines Buches ab.21 Von den „Quälereien" berichtet Carl Junker wie folgt: Die zahlreichen Bücherverbote in der Zeit des Ausnahmszustandes übertrafen noch die ärgsten Maßnahmen der vormärzlichen Zensur; wurde doch damals selbst Meyers Konversationslexikon verboten. Die Stadthauptmannschaft verlangte zudem von den Buchhändlern, daß sie als unterrichtete, in fortwährender Beziehung zur Literatur stehende Männer die einzelnen Werke auf ihren politischen und religiösen Wert hin prüfen und Einstößige Bücher höchstens mit Auswahl an einzelne Gebildete, keinesfalls aber an jedermann ohne Unterschied verkaufen sollten. Sie drohte, wenn die zu erwartende Selbstüberwachung nicht gehandhabt würde, äußerst strenge Maßregeln gegen jene Buchhandlungen in Anwendung zu bringen, welche diese ihre moralische Verpflichtung gegen den Staat nicht ernst nehmen würden, und stellte in Aussicht, daß, „falls die Verbreitung verderblicher Druckschriften bei ein und derselben Buchhandlung sich wiederholen sollte, die Schließung des Verkaufslokales für die Dauer des Belagerungszustandes, sowie nach Maßgabe des Falles die kriegsrechtliche Behandlung unnachsichtlich verhängt werden würde. 22 Im September 1845 überreichten die Wiener Buchhändler d e m Kaiser eine Petition (genannt „allerunteitänigstes Promemoria"), in der sie auf die wünschenswerte Abänderung der Zensurvorschriften drängten. Sie blieb folgenlos, woraufhin die Wiener Buchhändler Anfang März 1848 eine weitere Petition aufstellten, in der sie die Preßfreiheit forderten. Zu einer Uberrei-

21 Eine Denkschrift der Wiener Buchhändler aus dem Jahre 1845. Mitgeteilt von Karl Glossy. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 14 (1904), S. 224-248; auch abgedruckt in: Österr.-ungar. Buchhändler-Correspondenz, Nr. 46, 16. 11. 1904, S. 723-725, und Nr. 48, 30. 11. 1904, S. 787-789. 22 Junker: Korporation (Anm. 1), S. 25.

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chung kam es nicht. Am 14. März jedoch erteilte der Kaiser die Preßfreiheit. Carl Junker zu den unmittelbaren Folgen: Schon am nächsten Tage verlangen einige Buchhändler im Revisionsamte verbotene Bücher, die ihnen ohne Anstand ausgefolgt werden, und als kurz darauf im Kommissionsverlag von J. Klang das erste Bändchen von Gräffers „Josephinische Curiosa" erschien, prangte auf seinem Titelblatt das lang ersehnte Wort: „Censurfrey". 25

Doch dem „kurzen Freiheitstraume"24 (Junker) folgten die traurigen Oktobertage, danach die Jahre der Reaktion. Die Ereignisse des Jahres 1848 gaben einen Anstoß in Richtung Reform der Befugniserteilung. Das Ziel der Gewerbepolitik über ein Jahrhundert hinweg hatte darin bestanden, staatlichen Einfluß auszuüben und somit die Regierungsgewalt zu stärken. Eine gewisse Selbständigkeit im Gewerbe sollte hintangehalten werden und die allfällige Macht autonomer Körperschaften gebrochen werden. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung des österreichischen Buchhandels hatte die Erlassung einer im Dezember 1859 publizierten und am 1. Mai 1860 in Kraft getretenen Gewerbe-Ordnung.25 Bemühungen um eine Reform hatten von Buchhändlerseite schon 1848 eingesetzt. Mit dieser gesetzlichen Materie wurde die aus dem Jahr 1806 stammende, stark restriktive Buchhändlerordnung zum großen Teil außer Kraft gesetzt. So wurde der Buch-, Kunst- und Musikalienhandel unter das konzessionierte Gewerbe eingereiht und wie alle anderen Gewerbe der Gewerbeordnimg unterstellt. Zwei Bestimmungen scheinen in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Erstens war der Antritt zu einem solch konzessionierten Gewerbe von einer „besonderen Befähigung" abhängig, was an die frühere Bestimmung „ordentlich erlernet" und Prüfung durch die Universität anklingt. Zweitens: bei der Erteilung einer Konzession zum Betrieb des Buch-, Kunst- und Musikalienhandels (vom Begriff „Verlag" ist nicht ausdrücklich die Rede) war fortan „auf die Lokalverhältnisse Bedacht zu nehmen". Mit anderen Worten war festzustellen, ob der Lokalbedarf vorhanden wäre. 25 Ebd., S. 25. 24 Ebd., S. 25. 25 Auf den gesamten Bereich des Urheberrechts wird in einem eigenen Beitrag in diesem Band eingegangen.

186 II. ORGANISATION UND V E R B R E I T U N G DES

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BUCHHANDELS

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Wien kaum 30 Buchhandlungen, in den großen Städten des Kaiserstaates waren es zusammen höchstens drei Dutzend. Nicht zuletzt aufgrund der bereits beschriebenen Buchhändlerordnungen und Hofdekrete existierte der Buchhandel außerhalb der großen Städte so gut wie gar nicht. Das sollte sich etwa ab 1860 entscheidend ändern. Mit Hilfe vorhandener Statistiken soll nun die Entwicklung des österreichischen Buchhandels skizziert werden. Als verläßliche und ausführliche Grundlage dient dem Forscher ein sogenannter Hofrekurs des Gremiums der Wiener Buchhändler aus dem Dezember 1818. Zur Erläuterung dieser Quelle 2 6 sei gesagt, daß der Erlaß Kaiser Josef II. vom April 1788 nicht nur eine starke Vermehrung der Publikationen, sondern auch eine der Wiener Buchhandlungen zur Folge hatte. Dieses ,Wachstum' wurde allerdings schon im Jahr 1792 durch das Hofdekret Leopold II. wieder eingeschränkt. Wie erwähnt, war auch die Buchhändlerordnung vom Jahr 1806 für Neugründungen nicht gerade förderlich. Das Gremium der Wiener Buchhändler, das, laut Carl Junker, wahrscheinlich schon u m das Jahr 1780 gegründet wurde, konstituierte sich nach der Genehmigung einer neuen Ordnung am 8. Mai 1807. 27 Nach Junker kämpfte das Gremium vom Jahre 1790, dem Todesjahr Josef II., ab fortwährend gegen die Ertheilung neuer Befugnisse. Nach den bis zum Inkrafttreten unserer geltenden Gewerbeordnung bestehenden Bestimmungen [1860] hatten nämlich die verschiedenen Innungen das Recht, gegen die Ertheilung eines Gewerberechtes seitens der ersten Behörde den Recurs an die Hofstelle, den sogenannten ,Hofrecurs' zu überreichen. Es ist geradezu unglaublich aber wahr, daß das Wiener Buchhandlungsgremium fast gegen jede Ertheilung eines solchen Befugnisses den mit aufschiebender Wirkung ausgestatteten Hofrecurs überreichte, selbst dann, wenn es sich nur darum handelte, die Handlung eines verstorbenen Buchhändlers auf seinen Sohn zu übertragen. Im Archiv der Korporation der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhänd-

26 Carl Junker: Die Lage des Buchhandels in Wien am Ende des XVIII. und zu Beginn des XIX. Jahrhunderts. In: Osterr.-ungar. Buchhändler-Correspondenz, Nr. 46, 15. November 1901, S. 665-669. 27 Der Text der „Ordnung für das Gremium der Buchhändler und Antiquare" ist in Junker: Korporation (Anm. 1), S. 55-57 wiedergegeben.

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ler entdeckte Junker m e h r e r e solche Rekurse, die die Lage u n d Entwicklung des Wiener Buchhandels (in der eigenen Diktion: die „Ausführung des traurigen Gemäldes") über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten ausfuhrlich dokumentieren. D a ß die privilegierten W i e n e r Buchhändler als a r m e Opfer dastehen, darf vorausgeschickt w e r d e n . Zur Zeit der ersten Buchhändlerordnung von Maria Theresia (1772) gab es in Wien 12 Buchhandlungen, die fremde Bücher verkaufen und eigene Werke verlegen durften. Nach einem magistratischen Dekret vom 19. November 1818 erhielt ein gewisser Friedrich Volke, Gesellschafter der Heubnerschen Buchhandlung in Wien, ein neues Buchhandelsrecht verliehen. Begründet wurde diese Entscheidung nicht nur mit der Erfüllung der „vorgeschriebenen Eigenschaften" des Bewerbers, sondern in Hinblick auf den „gegenwärtig zugenomm e n e n literarischen Verkehr". Mit anderen Worten: das Buchhandlungsgeschäft würde blühen und ein Zuwachs wäre einsichtig und begründet. Dieser Meinung waren die etablierten Buchhändler ganz und gar nicht, sie sahen im Gegenteil jeden neuen Zuwachs als „eine neue erdrückende Last" für sie. Das Gremium sei bereits „übersetzt", wurde argumentiert: „alle Fächer des Buchhandels sind übersetzt, kein Zweig desselben ist uncultivirt". (S. 669) Mittels einer graphischen Darstellung und zur Untermauerung ihrer Argumente verglichen die Buchhändler den Stand im Jahre 1788 mit dem des Jahres 1818 und kamen zum Schluß, daß sich die Anzahl der Befugnisse in den beiden Jahrzehnten mehr als verdoppelt hätte. Stand im Jahre 1788

Stand im Jahre 1818

achtzehn Buchhandlungen

zweiunddreißig privilegierte Buchhandlungen

zweiundzwanzig Buchdrucker ungefähr wie 1818, aber nur einer hatte Verlagshandel

dreiundzwanzig Buchdrucker, acht davon sind bereits Verleger und fünf haben offene Gewölbe

ein Normalschulverschleiß

ein Normalschulverschleiß, ausgedehnt auf Gymnasialbücher

drei Lesekabinette

vier Lesekabinette

vier Kunsthändler

fünfundzwanzig Kunsthändler greifen

wenige Selbstverleger

bereits in den Buchhandel ein eine Staatsdruckerei ein Stereotypenverleger

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In diesen zwei Dezennien war also den 18 Buchhandlungen 28 - nun waren es fast doppelt so viel - in Form zusätzlicher Verkäufer starke Konkurrenz erwachsen. 2 9 Wie diese verschärfte Konkurrenz aussah, soll an ein paar Beispielen aus dem Hofrekurs der Wiener Buchhändler exemplifiziert werden. Der Schulbuchverschleiß zum Beispiel hatte ihnen Kunden weggenommen und den Verlag der Schulbücher für Normalschulen und Gymnasien übernommen. Überdies, liest man in diesem Rekurs, hätten vier bis sechs Kunsthändler bereits Artikel, die zur Buchhandlung gehörten. Weiters heißt es: Die Autoren gehörten ebenfalls zu diesem Bestandtheile des Verkehres, nämlich als Verkäufer; gerad die vortrefflichen Werke sind Verlag der Autoren selbst [...]. Die ausländischen Buchhändler müssen eben als bedeutende unmittelbare Verkäufer an die Particuliers a u f m hiesigen Platze angeführt werden. [...] Alle diese verkaufen noch sicherer als wir, und bei gleichzeitigem Anbote laufen sie uns gewöhnlich den Rang ab. Sie schicken ihre Sendungen an die großen Häuser auf deren Kosten mit der Diligence. [...] Die Autoren und die fremden Buchhändler können nicht in bestimmten Zahlen ausgedrückt werden, wie die Buchhändler, Buchdrucker und Kunsthändler, aber gewiß sind sie sehr bedeutend. Ein Auctionsinstitut; dieses hat im August 1795 angefangen und gibt nun schon die 155. Auction, also im Durchschnitte sieben Licitationen auf ein Jahr. Vielen Liebhabern ist es daher schon zur Natur geworden, daß sie weder bei modernen noch Antiquarbuchhändlern ein Buch mehr kaufen, sondern blos die Auctionen abwarten, um dort zu kaufen. Vier Lesecabinetten, die auf den Verkauf gewaltig Einfluß haben, da die Leselustigen, statt Bücher zu kaufen, für einige Kreuzer ihre Neigung befriedigen

28 Konkret genannt werden die Herren: Binz, Blumauer (jetzt Schalbacher), Camesina (jetzt Heubner), Döbling (jetzt Tauer), Gassler (hat nur Verlag geführt, jetzt Härter), Gerold, Aug. Gräffer (jetzt Rath. Gräffer), Rud. Gräffer (jetzt Armbruster), Härtel (jetzt Kupfer), Hörling (jetzt Geistinger), Kübler (jetzt Franz Gräffer), Mösle, Paulingenius (jetzt Funk), Patzovsky (jetzt Anton Doli), Rötzel (jetzt Kaulfuß), Schmidtbauer (jetzt Mayer), Statzl (jetzt Schaumburg), Trattner (jetzt Tendier), Wappler (jetzt Beck). 29 Die 52 genannten Buchhandlungen sind: Armbruster, Beck, Binz, Bauer, Anton Doli, Alois Doli, Funk, Geistinger, Gerold, Kath. Gräffer, Franz Gräffer, Hafelmayer, Hass, Härter, Heubner & Volke, Kupfer, Kaulfuß, Jakob Mayer, von Mösle, Mörsner (1816, vorher Degen 1790), Rehm, Rath, Sammer, Schalbacher, Schaumburg, Tendier, Tauer, Wallishauser, Wimmer, Zehetmayer, Franz Grund, Philipp Herzl.

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können; auch wird niemand glauben, daß sie den Liebhabern, denen ein gelesenes Buch gefällt und es kaufen wollen, es abschlagen, oder daß sie die Bücher, auf die von Abonennten nicht mehr gefragt wird, nicht so gut wie die privilegirten Sortimentsbuchhändler verkaufen sollten. Die Buchbinder haben nach Buchhändlerpatent § 13 den größten Absatz von Gebetbüchern und Kalendern, und leider ist dieser Punkt durch beständige Klagen und Interpretiren schon sehr ausgedehnt worden, gewiß aber führen sie gerad Artikel des allgemeinen Bedürfnisses mit den Buchhandlungen zugleich. Es sind wohl 60-70 Buchbinder, die alle das Recht haben, und ein großer Theil übt es bereits aus. Um nicht zu weitläufig zu sein, will das Gremium die Mißbräuche, die aus der Übertretung der Schranken und durch den nicht ganz zu verhindernden Winkelhandel entstehen, hier lieber gar nicht berühren. Man sieht also 89 Anstalten zum Verkaufe, davon 50 bereits in Activität sind. Von der einen Seite also der Markt überfüllt, nämlich von Verkäufern. Soweit die Ausführung des „traurigen Gemäldes" aus dem Jahr 1818. Nun ein Blick auf Zahlen, die zwar in ihrer Art mit jenen vom Buchhändlergremium zitierten nicht vergleichbar sind, aber ein Indiz für die Entwicklung des österreichichen Buchhandels ganz allgemein in der Zeit ab 1859 liefern. Zur Erinnerung: In diesem Jahr wurden die Standesvertretung, das ist der Verein der österreichischen Buchhändler (ab 1888: Verein der österreichisch-ungarischen Buchhändler) 3 0 , und sein offizielles Organ, die Österreichische Buchhändler-Correspondenz (ab 1889: Österreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz) gegründet. Die Meßlatte für die Verbreitung von Buchhandlungen (und Verlagen) ist nun die Anzahl der Firmen an soundsovielen Orten. Folgende Aufstellung, die den Aufschwung graphisch darstellt, ist einem Aufsatz Carl Junkers, erschienen in der Festnummer der Buchhändler-Correspondenz 1910, entnommen:

30 Zur Geschichte siehe Der Verein der österreichisch-ungarischen Buchhändler 1859-1899. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Buchhandels. Festschrift anläßlich des vierzigjährigen Bestandes des Vereines im Auftrage des Vorstandes verfasst von Carl Junker. Wien 1899.

190

Murray G. Hall

Entwicklung des Buch-, Kunst- u. Musikalienhandels in Österreich und Ungarn Orte, an welchen Buch-, Kunst- und Musikalienhandlungen

Böhmen Bukowina Dalmatien Galizien Kärnten Rrain Küstenland Mähren Osterreich u. d. Enns Osterreich o. d. Enns Salzburg Schlesien Steiermark Tirol und Vorarlberg

Ungarn Kroatien Bosnien

bestanden

1859

1870

1880

1890

1900

1909

44 1 2 13 2 2 4 10 6 7 1 7 7 8

64 2 3 18 2 2 4 21 12 8 1 7 9 28

94 5 5 21 2 2 4 26 16 12 1 7 13 14

113 78 4 36 4 2 5 32 21 13 2 9 14 17

132 12 4 44 8 4 6 39 35 14 4 11 21 19

172 16 5 67 11 6 12 57 35 15 8 24 34 44

114

181

222

280

353

506

49 5

69 7

100 14

161 14 1

203 21 5

252 24 9

Während in Österreich im Jahr 1859 auf 50.000 Einwohner eine Buchhandlung kam, waren es im Jahr 1909 durchschnittlich nur mehr 13.000. Regelrecht explodiert ist die Zahl der Leihbibliotheken und Musikalienanstalten, die dem regulären Buchhandel traditionell genauso ein Dorn im Auge waren wie später die Buchgemeinschaften. Im Laufe von bloß fünf Jahrzehnten stieg die Zahl solcher Leihanstalten um das 40fache. Dies bestätigt also die Meinung, daß ein wesentlicher Teil des literarisch interessierten Publikums über Jahrzehnte hinweg seinen Lesestoff dort bezog.51 Zum Abschluß dieses Abschnitts wollen wir in Anlehnung an die von Carl Junker für die genannte Festnummer 1910 zusammengetragenen Daten die Entwicklung des Buch-, Kunst- und Musikalienhandels in Osterreich und Ungarn in 51 Dazu Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1991.

191

„Fromme Wünsche"

leicht gekürzter tabellarischer Form verfolgen. Dies nicht zuletzt, weil erstens Orte außerhalb Wiens und zweitens die nichtdeutschsprachige Literatur der Monarchie bisher ausgeklammert wurden. Entwicklung des Buch-, Kunst- u. Musikalienhandels in Osterreich und Ungarn Zahl der Buch-, Kunst- und

Musikalienhandlungen

1859

1870

1880

1890

1900

1909

98 38 60

175 69 106

233 83 150

280 76 204

367 9 275

530 147 383

Bukowina davon in Czernowitz sonst

1 1 -

3 2 1

10 5 5

10 8 11

24 7 17

42 16 26

Dalmatien davon in Zara sonst

4 2 2

5 2 3

9 3 6

8 4 4

13 7 6

15 7 8

Galizien davon in Lemberg sonst

32 13 19

53 18 35

69 23 46

102 26 76

126 36 96

196 41 155

Kärnten davon in Klagenfurt sonst

4 3 1

6 4 2

6 4 2

8 5 3

12 5 7

25 11 14

Krain davon in Laibach sonst

5 4 1

6 5 1

7 6 1

6 4 2

16 6 4

16 10 6

Küstenland davon in Triest sonst

11 7 4

14 10 4

19 13 6

23 15 8

31 19 12

42 20 22

Mähren davon in Brünn sonst

21 7 14

42 9 33

60 13 47

81 16 65

103 17 86

138 19 119

Osterreich u. d. Enns davon in Wien sonst

111 98 13

166 152 14

255 232 23

300 272 23

404 367 37

622 571 51

Osterreich o. d. Enns davon in Linz sonst

14 7 7

21 10 11

30 15 15

33 14 19

37 16 21

48 20 28

Böhmen davon in Prag sonst

Murray G. Hall

192 Fortsetzung

von Seite 191: Zahl der Buch-, Kunst- und

Musikalienhandlungen

1859

1870

1880

1890

1900

1909

Salzburg davon in Salzburg sonst

5 5

8 8

8 8

9 8 1

15 11 4

28 17 11

Schlesien davon in Troppau sonst

12 4 8

15 6 9

24 8 16

28 9 19

55 9 24

50 9 41

Steiermark davon in Graz sonst

25 15 12

51 18 15

42 25 17

44 26 18

64 52 52

90 55 57

Tirol und Vorarlberg davon in Innsbruck sonst

19 8 11

28 10 18

54 10 24

44 10 54

57 14 45

116 24 92

562

565

806

985

1296

1958

102 21 81

171 47 124

255 55 150

579 64 515

577 142 455

844 204 640

8 2 6

15 5 12

24 5 21

29 8 21

58 7 51

59 18 41

5 5

11 7 4

25 10 15

Ungarn davon in Budapest sonst Kroatien davon in Agram sonst Bosnien davon in Sarajewo sonst

-

-

-

-

Aus d e m dürftigen Zahlenmaterial (Literaturstatistik) im fraglichen Zeitraum geht hervor, daß es etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu sprachlichen Gewichtsverschiebungen innerhalb des Kaiserreiches g e k o m m e n ist. Dazu wieder Carl Junker: In der Natur der Dinge liegt es, daß an der Entwicklung des Buchhandels in Österreich-Ungarn während der letzten Dezennien insbesondere die nicht deutschen Nationalitäten den Ausschlag geben, deren Buchhandel zum größten Teil überhaupt erst in diesem halben Jahrhundert entstand. Der deutsche Buchhandel hat aber nichtsdestoweniger ebenfalls einen sehr erfreulichen Auf-

.Fromme Wünsche"

193

schwung genommen; das zeigen schon die Ziffern für Wien und die rein deutschen Kronländer. Die alten, zumeist deutschen Buchhandlungen haben sich auch fast durchweg erhalten, nur sehr wenige darunter haben ihren nationalen Charakter im Laufe der Zeit geändert.52 Junkers Hinweis auf die nichtdeutschen Nationalitäten der Habsburgermonarchie deutet auf eine besondere Schwierigkeit im Umgang mit der Geschichte des österreichischen Buchhandels (die häufig die Kronländer ausklammert), denn diese Geschichte müßte streng genommen alle Völker und Sprachen erfassen. Einen Schritt in Richtung vergleichender Forschung und Auswertung von gesammeltem disparatem Datenmaterial machte Ernst Mischler im Jahre 1886, als er eine von Carl Junker allerdings später heftig kritisierte Abhandlung unter dem Titel Die Literaturstatistik in Osterreich publizierte 35 . Basis seiner Untersuchung ist die Verlagsproduktion für das österreichische Staatsgebiet mit dem Stand des Jahres 1883. Unter „Literatur" versteht er nicht bloß Belletristik im engeren Sinne, sondern „Verlagswerke" im Gegensatz zu den Produkten der periodisch erscheinenden Presse, Publikationen, die, so Mischler, der Bildungssphäre dienen. Er versucht anhand der zusammengetragenen Daten die Verlagsproduktion unter mehreren Aspekten zu erfassen, graphisch darzustellen und zu analysieren. Eine Hauptübersicht soll eine richtige Vorstellung von den erzeugten Verlagswerken in quantitativer Beziehung bieten, eine zweite Tabelle gibt eine Preisübersicht (Ladenpreise) der sprachlich und gegenständlich geordneten Verlagswerke, in einer dritten ist die Verteilung der Verlagswerke nach sprachlicher Scheidung über die österreichischen und ungarischen Länder ersichtlich gemacht. Eine weitere Tabelle ist Ubersetzungen gewidmet und zeigt in plastischer Weise den Prozeß des kulturellen Austausches in der Gestalt von Lehn- und Zielsprachen. So geht daraus hervor, daß die deutsche Literatur, von der nicht einmal zwei Prozent Übersetzungen sind, allen übrigen Literaturen in Österreich die meisten Originale bietet. Ihre wenigen Ubersetzungen sind dem Ungarischen entnommen. Die letzte Tabelle, die Mischler erstellt, gibt eine Ubersicht der Verlagsorte und Verleger nach Idiomen und Ländern geschieden. Da es sich bei der Arbeit Mischlers nicht nur u m eine historische Momentaufnahme handelt, sondern da sie auch ein

52 Carl Junker, Festnummer, Teil I, S. 57. 55 Ernst Mischler: Die Literaturstatistik in Österreich. In: Statistische Monatsschrift [Wien], 12 (1886), S. 1-25. (Die folgenden Seitennachweise im Text).

194

Murray G. Hall

Dokument der Vielfalt der Sprachen, Literaturen und Verlage der Habsburgermonarchie abgibt, sollen einige der Ergebnisse Mischlers hier wiedergegeben werden. Da ist zunächst einmal eine vergleichende Ubersicht der Produktion nach der Sprache der Verlagswerke gegliedert: Ermittelte Zahlen der Verlagswerke in den Jahren Sprache der Verlagswerke

1840

1855

1870

1876

1883

Deutsch Tschechisch Polnisch Kroatisch Serbisch Italienisch Lateinisch

1632 114 ? ? ? ? ?

1598 183 115 29 31 145 105

1271 652 213 ? ? ? ?

1902 369 323 ? ? ? ?

1999 863 329 144 41 32 38

Während die Zunahme der deutschen Verlagswerke eher gering ist, läßt sich ein stetes Anwachsen bei den tschechischen Literaturerzeugnissen bis 1870 feststellen. Nach einem Rückschlag im Jahre 1876 steigt die Produktion wieder an. Dann vergleicht Mischler die drei wichtigsten Literaturen nach inhaltlichen Gesichtspunkten miteinander. waren von je 100 Verlags werken der In den Hauptfächern Encyclopädien, Sammelwerke Theologie und Erbauungsschriften Erziehungs-, Schul- und Jugendschriften Philologie und Philosophie Rechts- und Staatswissenschaften Geographie und Geschichte Naturwissenschaften, Medizin, Mathematik Kriegswesen Land-, Forstwirtschaft, Gewerbe, Handel, Hauswesen Belletristik Kalender Vermischtes (Adressen, Bibliographie usf.)

deutschen tschechischen polnischen Literatur 0,49 2,36 13,32 2,7 12,19 11,3 15,92 3,78 15,09

0,84 2,32 14,24 5,79 4,39 7,64 3,13 5,04

6,69 4,86 1,52 11,86 17,63 8,21 0,3 4,86

10,02 11,01 1,82

51,15 4,76 0,7

35,56 6,38 2,13

195

.Fromme Wünsche"

Nicht uninteressant ist etwa der Stellenwert der Belletristikproduktion in deutscher Sprache, deren Anteil an der Gesamtproduktion die These erhärtet, wonach Osterreich auf Grund der Zensurbestimmungen und des mangelhaften Urheberrechtsschutzes für solche Produkte kein attraktiver Platz war. Mischler kommentiert die Ergebnisse u.a. wie folgt: Die deutsche Literatur verräth den Typus einer hochentwickelten durch die starke Besetzung der wissenschaftlichen und technischen Verlagswerke bei Zurücktreten der Schulbücher, Belletristik und Kaiendarien. Von wesentlich verschiedener Structur ist die polnische und noch mehr die tschechische Literatur, welch' letztere zur Hälfte den Unterhaltungszwecken dient und in zweiter Linie Schulschriften enthält. Die polnische Literatur trägt insoferne ein anderes Gepräge, als sie entschieden religiöser angelegt ist, und, wie die starke Besetzung des geschichüichen Faches andeutet, mit den Ideen des polnischen Volkes in der Vergangenheit wurzelt; auffallender ist gegenüber der reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur, zu welcher mehr Neigung als zur praktischen vorhanden ist, nur die Vernachlässigung des Schulbücherwesens, eine Consequenz einer bereits erörterten Eigenthümlichkeit des polnischen geistigen Lebens, welches neben Analfabetismus der breiten Volksschichten örtlich und classenmäßig scharf abgegrenzte Bildung zeigt. (S. 9 f.) Noch aufschlußreicher für unser Verständnis der Strukturen im Verlagswesen auf österreichischem Staatsgebiet im behandelten Zeitraum ist die Aufschlüsselung, aus der hervorgeht, welche Werke in welcher Sprache wo erschienen:

Länder

Deutsch

Tschechisch

Poln.

Kroat.

Slow.

Serb.

Werke Teile Werke Teile W. T. W. T. W. T. W. T.

Niederösterreich, Wien 1479 4234 Oberösterreich 12 18 Salzburg 22 22 Steiermark 60 107 Kärnten 38 104 Krain 5 5 Görz-Gradisca Istrien 1 1 3 Triest 3 Tirol 58 117

10

10

3

5

1

1

1

1

12 12

196

Murray G. Hall

Fortsetzung von Seite 195: Länder Vorarlberg Böhmen, Prag Mähren Schlesien Galizien Bukowina Dalmatien Österreich Ungarn Kroatien-Slavonien

Länder

Deutsch

Tschechisch

Poln.

Kroat.

Serb.

Slow.

Werke Teile Werke Teile W. T. W. T. W. T. W. 232 51 31 5 2

470 81 55 5 2

1999 5224 111 33 3 3

769 1068 83 108 1 1

863 1

Italien. Latein.

T.

5 7 321 353

1187 329 365 1

5 6

5 6

1 1 12 12 40 40 2 2

138 157

Franz. Englisch

W. T. W. T. W. T. W. T.

Niederösterreich, Wien 12 12 14 15 15 15 Oberösterreich Salzburg 2 2 Steiermark Kärnten Krain Görz-Gradisca Istrien Triest Tirol Vorarlberg Böhmen, Prag Mähren Schlesien Galizien Bukowina Dalmatien Österreich 1 1 Ungarn Kroatien-Slavonien 2 2 1 1 Fiume

3

Sämtliche Verlagswerke W.

T.

3 1538 4296 12 18 22 22 62 109 38 104 17 17 1 12 74

1 19 134

W.

T.

974 1275 75 78 61 67 83 87 23 30 44 40

113

153

135 159 1019 1556 487 584 135 190 125 142 37 63 23 24 326 258 157 192 2 2 2 3 5 5 10 11 3300 6894 2308 2849 ? ? 77 155 27 29 143 162 ? ? 1 1

197

.Fromme Wünsche"

Dazu Mischler: „Niederösterreich, eigentlich Wien u n d Böhmen absorbieren von den österreichischen Verlagswerken 46 u n d 30, zusammen 76 Percente, während ihr Bevölkerungsanteil n u r 11 u n d 25 Percente, zusammen 56 Percente beträgt". Dies hänge, so Mischler weiter, mit d e m Bildungsgrad zusammen, u n d er beobachtet einen Trend: Die hervorstechendste Erscheinung ist, dass gegenüber Wien und Böhmen alle übrigen Länder stark zurücktreten. Diese Ungleichmäßigkeit in den höheren Bildungsverhältnissen dürfte durch die Entwickelung seit einem Menschenalter noch bedenklicher erscheinen. Im Jahre 1855 entfielen nur 42 Percente resp. 28 Percente aller Verlagswerke auf Niederösterreich (Wien) und die nordslavisch deutschen Länder zusammengenommen, war die Concentrierung somit nicht so ausgesprochen. (S. 10 f.) Schließlich soll in tabellarischer Form nach Mischler eine Ubersicht über die Verbreitung der Verlagsorte u n d Verleger geboten werden: TscheSlovePolnisch Kroatisch Serbisch nisch chisch C1J 0) o K tJ S inD ow a> tJoCA (0) H ow 0> tJ oW (1) oC/3 u0> so < bß bß bß bß Cfl bß bß 0) JO rS JP Jin JK Jf T l-i TH fin TS TH JH £ £ £ £ $ £ £ $ ¡2 ¡ s £ tS

Deutsch Länder

Niederösterreich, Wien außer Wien Oberösterreich Salzburg Steiermark Kärnten Krain Tirol Istrien Triest Böhmen, Prag außer Prag Mähren Schlesien Galizien, Lemberg Krakau außer Lemberg und Krakau

M

I 80 3 3 3 5 1 3 2 8 1 4 1

1

6

9

1

1

1 1

8 7 2 1

I

M

6

1

2

1

l

1

2

1

19 l 51 12 29 42 13 8 17 5 1 1 2

i

1

1

1

1

1

1

2

5

2 8 9 6

2

Murray G. Hall

198

Verleger

2 1

2 1

Verleger

Verlagsorte

Verleger

Verlagsorte

Verleger

1

4

1

11

1

2

1

6

1

1

1 1

1 1

1

2

1

2

5

5

1 1 1

5 1 1

1 3 5 1 2 1 2 6 1 1 1 56 11 3 1 1 5

Verleger

Zus. für alle Sprachen

Lateinisch

Verlagsorte

Englisch

1 2

Verleger

Französisch

Verlagsorte

9 6

Verleger

1 5

1 2

Verlagsorte

2 3

Slovenisch

Verlagsorte

Verleger

2 5

Verlagsorte

Niederösterreich, Wien außer Wien Oberösterreich Salzburg Steiermark Kärnten Krain Tirol Istrien Triest Böhmen, Prag außer Prag Mähren Schlesien Galizien, Lemberg Krakau außer Lemberg und Krakau

Verlagsorte

42 170 40 117 9 27 5 12 1 1 1 1 1 1

Italienisch Länder

Verleger

1

Verlagsorte

1

Verleger

Verlagsorte

Bukowina Dalmatien Österreich Ungarn Kroatien-Slavonien, Agram außer Agram Fiume

TschePolnisch Kroatisch Serbisch chisch

Verleger

Länder

Deutsch Verlagsorte

Fortsetzung von Seite 197:

80 5 5 3 8 4 2 9 1 1 56 53 25 5 8 9 7

„Fromme Wünsche"

199

Fortsetzung von Seite 198:

Bukowina Dalmatien Osterreich Ungarn Kroatien-Slavonien, Agram außer Agram Fiume

4

7

1

1

2

13

1

2

8 1 1

Verleger

Verleger 16 1 1

Verlagsorte

Zus. für alle Sprachen

Lateinisch Verlagsorte

Verleger

Englisch Verlagsorte

Verleger

Verlagsorte

Französisch

Verleger

Länder

Verlagsorte

Italienisch

1 1 2 2 82 282 1 16 1 9 5 6 1 1

Während der österreichische Buchhandel, und zwar der deutschsprachige wie der nicht deutschsprachige, zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark auf Wien konzentriert war, erlebte er nach Mitte des Jahrhunderts einen großen Aufschwung im gesamten Kaiserstaat. Diese Entwicklung ist an den Statistiken über Orte, an denen Buchhandlungen bestanden sowie an den absoluten Zahlen ganz gut ablesbar. Die kulturellen Bestrebungen der nichtdeutschen Völker in der Habsburgermonarchie sind ebenfalls in diesen Daten wiederspiegelt. Trotz der Gewerbe-Ordnung aus dem Jahre 1860 und des Preß-Gesetzes vom 17. Dezember 1862 blieben jedoch die Zensur und der mangelnde Urheberrechtsschutz Hemmschuhe für die Entwicklung des belletristischen Verlagsbuchhandels in Osterreich.

Sybille Gerhard

„Vogelfrei"1 Die österreichische Lösung der Urheberrechtsfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

EINLEITUNG

Aufgrund der spärlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik besteht die Gefahr, den 1. Juli 1956, an dem das im wesentlichen immer noch geltende Urheberrechtsgesetz in Kraft trat, als Stunde Null des österreichischen Urheberrechts schlechthin anzusehen.2 Die folgende Arbeit soll helfen, dieser Gefahr Herr zu werden, indem sie einen Einblick in die Entstehungsgeschichte österreichischer Urheberrechtsnormen und deren Handhabung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefert. Dabei will sie einerseits die nationale Entwicklung des Autorrechts in Osterreich bzw. dem österreichischen Teil der Monarchie und andererseits die internationalen Bestrebungen zum Schutz der geistigen Leistung skizzieren, die in einem „epochemachenden Unternehmen" 3 , der Berner Konvention, gipfelten. Ein dritter Abschnitt widmet sich der Frage, inwieweit die damalige Großmacht bereit war, ihre Urheber im Ausland zu schützen, welche Prioritäten dabei gesetzt wurden und warum dadurch eine für die Monarchie so typische Lösung entstand. Die Urheberrechtsgesetze geben an, wie gut sich ein Autor vor unrechtmäßigen Eingriffen in seine geistigen Arbeiten schützen kann, ja mehr 1 Carl Junker: Die Berner Convention zum Schutze der Werke der Litteratur und Kunst und Österreich-Ungarn. Wien: A. Holder 1900, S. 71 2 Walter Dillenz (Hrsg.) : Materialien zur Geschichte des österreichischen Urheberrechts 1895-1956. Wien: Manz 1989 ( = Ö S G R U M , Bd. 8), S. 7 5 Heinrich Schuster: Maßnahmen zur Herbeiführung des Beitritts weiterer Staaten zur Berner Convention, b) Oesterreich-Ungarn. In: Berichte über die 17. Tagung der Association littéraire et artistique international, Dresden 1895. Berlin: Verlag der Deutschen Schriftsteller Genossenschaft 1895, S. 26

201

„Vogelfrei"

noch: Sie definieren überhaupt erst, was als solch ein unrechtmäßiger Eingriff zu betrachten ist. Damit stellen sie ein wesentliches existenzielles Standbein nicht nur aller Künstler, sondern auch all jener Wirtschaftszweige dar, die auf deren Produkte angewiesen sind. Daß der österreichisch-ungarische Schriftsteller bzw. Verleger auf sehr wackeligen Beinen stand, sollen die folgenden Seiten beweisen. Eine veraltete inländische Gesetzgebung und der Nicht-Beitritt der Monarchie zum wichtigsten, weil einzigen internationalen Urheberrechtsvertrag - der Berner Konvention - sind dafür verantwortlich. Ein Großteil der Sekundärliteratur beschränkt sich nun darauf, diese Tatsache zu konstatieren und durch Gesetzesinterpretationen zu untermauern. Viel interessanter erscheint mir allerdings die Frage, warum solche Zustände überhaupt geherrscht haben. Die Antwort darauf findet man nicht in den Gesetzestexten selbst, sondern in den Verhandlungen und Diskussionen zu diesen Gesetzen, in den Äußerungen betroffener, engagierter Autoren und Verleger, und nicht zuletzt in den historischen und politischen Determinanten jener Zeit.

NATIONALE B E M Ü H U N G E N UM R E C H T S S C H U T Z DER

DEN

AUTOREN

Das a. h. Patent 1846 Das a. h. Patent stellte die erste gesetzliche Regelung des Urheberrechts in Osterreich dar, die größtenteils auf die Einflußnahme der Politik des deutschen Bundes zurückgeführt werden kann 4 und deswegen oft nicht als erste eigenständige Leistung Österreichs angesehen wird. Das Autorrechtspatent trat am 19. Oktober 1846 für all „jene Länder, in welchen das allgemeine bürgerliche und das damalige Strafgesetzbuch galten, [...] also insbesondere nicht für Ungarn und Siebenbürgen" 5 in Kraft.

4 Vgl. dazu folgenden Aufsatz, der unter Aufarbeitung bis zu diesem Zeitpunkt ungesichteten Materials eine sehr genaue Analyse der Entstehung des Patents liefert. Heinrich Maria Schuster: Die Entstehung des Urheberrechtspatentes vom 19. October 1846. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Gesetzgebung. Sonderabdruck aus den Juristischen Blättern. Prag: Dominicus 1891. 5 Ebd., S. 46.

202

Sybille Gerhard

In § 1 legte es ausdrücklich ein literarisches Erzeugnis oder Werk der bildenden Kunst als Eigentum des Urhebers, demjenigen, welcher es „ursprünglich verfaßt oder verfertigt hat" 6 , fest. Der Urheber durfte über sein geistiges Eigentum allerdings nicht uneingeschränkt verfugen, sondern erhielt durch das Gesetz nur in gewissem Rahmen Schutz, den man in groben Zügen folgendermaßen skizzieren könnte (vgl. Tabelle S. 220/221): Literarische und artistische Werke waren bis zu 30 Jahren nach dem Tod des Urhebers geschützt (§ 15); das Aufführungsrecht bestand bis zu 10 Jahren nach dem Ableben des Autors (§ 22), allerdings nur solange das Werk nicht durch Druck (oder Stich) veröffentlicht worden war, wobei ein Manuskript nicht als Veröffentlichung galt (§ 8); die Ubersetzung konnte man sich auf ein Jahr vorbehalten (§ 5c), „aber nach Ablauf dieses einen Jahres gab das Gesetz von 1846 die Ubersetzung unter allen Umständen frei." 7 Weiters wurde eine wichtige Regelung in Sachen internationaler Urheberrechtsschutz getroffen, indem § 39 die sogenannte Reziprozitätsklausel verankerte: Den im Auslande außer dem deutschen Bundesgebiete erschienenen Werken wird der in diesem Gesetze ausgesprochene Schutz in dem Maße gewährt, als die diesfälligen Rechte den in dem k. k. österr. Gebiete erschienenen Werken durch die Gesetze des fremden Staates gleichfalls gesichert sind.8

Das Patent war für seine Zeit sicherlich ein innovatives Gesetz. Es hätte einen guten Ausgangspunkt für die österreichische Entwicklung des Urheberrechts darstellen können, wenn man es rechtzeitig revidiert hätte.

Bestrebungen 1846-1895 In der Entwicklungsgeschichte des österreichischen Urheberrechts stellt dieses Kapitel den wohl dunkelsten Punkt dar. Eine Abhandlung dieses Ab6 Allerhöchstes Patent vom 19. October 1846 zum Schutze des literarischen und artistischen Eigenthums gegen unbefugte Veröffentlichung, Nachdruck und Nachbildung, Justizgesetzsammlung 1846, Nr. 992, S. 375 ff. Zitiert nach: Peter Harum: Die gegenwärtige österreichische Gesetzgebung. Wien 1937, S. 271-284, hier S. 272. 7 Murray Gordon Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938, 2 Bde. Wien/ Graz/Köln: Böhlau 1985. Band I: Geschichte des österreichischen Verlagswesens, S. 26. 8 Allerhöchstes Patent vom 19. October 1846 (Anm. 6), S. 375 ff. Zitiert nach: Peter Harum (Anm. 6), S. 284.

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schnitts in wenigen Sätzen entspricht durchaus der Regel; in keiner Sekundärliteratur habe ich auch nur mehr als zwei Seiten zu diesem Thema aufspüren können. Folgende Aussage von Carl Junker, getroffen im Jahr 1900, hat also bis heute noch nichts an Aktualität verloren: „Die Geschichte dieser Bestrebungen ist leider noch nicht geschrieben; sie würde aber manches Interessante wieder zutage fördern."9 Was läßt sich nun alles ans Tageslicht bringen? Das kaiserliche Patent vom 16. Oktober 1846, „welches im Hinblick auf die Zeit seiner Entstehung gewiß als ein hervorragendes legislatorisches Werk erklärt werden muß" 10 , wies leider auch „einzelne Mängel" 11 auf. Mängel, die man überraschend bald erkannte. So fand sich bereits im Jahr nach dem Erscheinen des Patents - also 1847 - eine Deputation der Wiener Kunst- und Musikalienhändler vor dem Stellvertreter des Kaisers, Erzherzog Ludwig, ein, um „auf die hinsichtlich des Schutzes der musikalischen Compositionen höchst ungenügenden Patentbestimmungen hinzuweisen." 12 Die Aktion blieb ohne Erfolg. Anfang der Fünfzigerjahre wurden etliche Aktivitäten gesetzt, um eine Änderung des geltenden Nachdrucksgesetzes zu bewirken. So kam es 1852/53 zu „Reformbestrebungen mit Hilfe der Wiener Handelskammer" 13 und im Jahre 1854 führte die niederösterreichische Handels- und Gewerbekammer einige Sitzungen durch, die in einer Eingabe an das Justizministerium gipfelten.14 Außerdem trat auf Wunsch der Regierung eine Enquete in Wien zusammen, „welche eingehende Berathungen über die Lücken

9 Carl Junker: Die Berner Convention zum Schutze der Werke der Litteratur und Kunst und Österreich-Ungarn (Anm. 1), S. 43 f. 10 Petition des Vereines der österreichisch-ungarischen Buchhändler in Wien an das Hohe Herrenhaus wegen einiger Abänderungen an der Regierungsvorlage, betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur oder Kunst und der Photographie. In: BC [= die im gesamten Text verwendete Abkürzung für die österreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz], Nr. 52 vom 24. December 1892, S. 660. 11 Carl Junker: Der Verein der österreichisch-ungarischen Buchhändler 1859-1899. E n Beitrag zur Geschichte des österreichischen Buchhandels. Festschrift anläßlich des vierzigjährigen Bestandes des Vereines im Auftrage des Vorstandes. Wien: 1899, S. 32. 12 Petition des Vereines der österreichisch-ungarischen Buchhändler (Anm. 10), S. 664. 13 Carl Junker: Der Verein der österreichisch-ungarischen Buchhändler 1859-1899 (Anm. 11), S. 32. 14 Die Photographie und der Schutz des geistigen Eigenthums. In: BC, Nr. 9 vom 20. März 1861, S. 75.

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und Mängel des Patentes pflog und welche sohin die gründliche Reform des Autorrechts als Nothwendigkeit erklärte." 15 „Dringendste Abhilfe"16 erbat man einmal mehr für die Werke der Tonkunst: Man forderte den unbedingten Schutz der Melodie, denn nach § 6 des kaiserlichen Patents war die Benützung einer Tondichtung zu Variationen, Phantasien, Etüden, Potpourris (...) und das Arrangement oder die Einrichtung eines Tonstückes für andere oder wenigere Instrumente 17

erlaubt. Als ebenso unzureichend konnte man den § 9 betreffend der Regelung für Werke der bildenden Kunst bezeichnen, da eine bloße Änderung des Materials, der Form, der Größe oder wesentlicher Details am Original18 - z. B.: bei einem Portrait der Hintergrund 19 - ausreichend war, um ein „selbständiges Kunsterzeugnis"20 zu schaffen, das nicht als Nachbildung angesehen wurde. Einen besonderen Kritikpunkt bildete weiters die Photographie, „die im Jahre 1846 noch ganz in den Kinderschuhen stak, daher auch nicht bedacht wurde" 21 , sich aber bald zu einer eigenen Kunstgattung entwickelte. Der mangelnde Schutz wirkte sich doppelt negativ aus: Einerseits bot nämlich die Photographie ein neues Mittel zur Nachahmung von bildlichen Darstellungen und andererseits bestand die Gefahr des Duplizierens natürlich auch für die Photographien selbst. In dem Fall Nachbildung der Photographie durch die Photographie war es fast unmöglich, das Plagiat vom Original zu unterscheiden und es war weiters fast unmöglich, sein Recht einzuklagen, „weil in dem Gesetze durchaus kein Anhaltspunkt gegeben war, um darauf eine Klage basieren zu können." 22

15 Petition des Vereines der österreichisch-ungarischen Buchhändler (Anm. 10), S. 661 16 Ebd., S. 664. 17 Allerhöchstes Patent vom 19. October 1846 (Anm. 6), S. 375 ff. Zitiert nach: Peter Harum (Anm. 6), S. 275. 18 Ebd., S. 276. 19 Vgl. dazu: Ueber das artistische Eigenthum. In: BC, Nr. 17 vom 10. Juni 1861, S. 158. 20 Ebd. 21 Harry Lechner (= Harald Schnattinger): Studien zum Wiener Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Diss. Wien 1951, S. 96. 22 Zum Schutze für artistisches Eigenthum. Eingabe der photographischen Gesellschaft in Wien an das hohe k. u. k. Justiz-Ministerium. In: BC, Nr. 14 vom 10. Mai 1863, S. 133.

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Die Diskriminierung der Photographie ging sogar so weit, daß man ihre Zugehörigkeit zur bildenden Kunst bzw. allgemeiner zu den schönen Künsten überhaupt in Frage stellte und in Diskussionen immer wieder neu aufrollte.23 Dieser juristisch höchst unzureichende Standpunkt veranlaßte die im Jahre 1861 gegründete Photographen-Gesellschaft zu einer Eingabe an das Justiz-Ministerium, in der sie zumindest eine „Interpretation des Gesetzes" 24 forderte, um wenigstens alle möglichen Ansätze, die das Patent für den so dringend notwendigen Schutz von photographischen Erzeugnissen bot, voll ausschöpfen zu können. Es steht außer Frage, daß die Photographie die umstrittenste Lücke des 1846 in Kraft getretenen Urheberrechtsgesetzes darstellte. Sie fiel einem schwerfalligen Beamtenapparat zum Opfer, der nicht fähig war, auf die technischen Neuerungen seiner Zeit entsprechend einzugehen, die damit verbundenen Gefahren vorausschauend zu erkennen und so rasch wie möglich Abhilfe zu schaffen. Obwohl man die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Unzulänglichkeiten des bestehenden Gesetzes lenken konnte - bereits in einer der ersten Nummern der Osterreichischen Buchhändler-Corresponderá, wurde berichtet, daß „die Vorlage eines Gesetzesentwurfes über den Schutz der Autorenrechte an den Reichsrath in Aussicht stehe" 25 - blieben alle Bemühungen letztendlich ohne praktische Folgen. Die einzige gesetzliche Änderung, die sich in all diesen Jahren vollzog, basierte auf der Zugehörigkeit Österreichs zum Deutschen Bund. Am Anfang des Jahres 1859 wurde eine Verordnung 26 erlassen, die die Kundmachung der Bundesbeschlüsse vom 6. November 1856 und vom 12. März 1857 bewirkte. Während der erste die Schutzfrist zu einem bestimmten

23 Vgl. z. B.: In Angelegenheiten des Nachdrucks von Photographien (zu § 17 des Preßgesetzes). In: BC, Nr. 15 vom 20. Mai 1865, S. 145 f. 24 Zum Schutze für artistisches Eigenthum. Eingabe der photographischen Gesellschaft in Wien an das hohe k. u. k. Justiz-Ministerium. In: BC, Nr. 14 vom 10. Mai 1863, S. 134. 25 Kundmachung des Vice-Bürgermeisters von Wien über den gestatteten Nachdruck von Gesetzespublikationen. In. BC, Nr. 1 vom 1. Januar 1861, S. 1. 26 Verordnung der Ministerien des Aeußem, des Innern und der Justiz, des Armee-OberCommando und der obersten Polizeibehörde vom 27. December 1858, wirksam für alle Kronländer, wodurch die Beschlüsse der deutschen Bundesversammlung vom 6. November 1856 und vom 12. März 1857, betreffend den Schutz des literarischen und artistischen Eigenthums, kundgemacht werden. RGBl. 1859, II. Stück, Nr. 6, S. 5 f.

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Zeitpunkt erschienener Werke verlängerte, kam es durch den zweiten zu einer Verbesserung der Aufführungsrechte an dramatischen und musikalischen Werken. Ansonsten war der durch das Patent geschaffene Rechtszustand bis 1895 unverändert in Kraft. Die Hoffnungen der Betroffenen auf eine baldige Lösung der skizzierten Urheberrechtsprobleme durch „den bereits vollendeten und im Ministerrathe geprüften neuen Gesetzentwurf ,zum Schutze des literarischen und artistischen Eigenthumes'" 27 gingen nämlich nicht in Erfüllung. Der Grund, warum die österreichische Regierung den eingeschlagenen Weg zur Reform des Nachdruckspatentes nicht weiterverfolgte, lag gewissermaßen in einer Änderung des Kurses. Anfang der Sechzigerjahre begannen die „Berathungen in der Frage einer einheitlichen Gesetzgebung gegen Nachdruck"28 im Rahmen des Deutschen Bundes konkrete Formen anzunehmen. Bereits im Gründungsjahr 1815 hatte man sich die Regelung der Autorrechte zum Ziel gesetzt: Die verbündeten Fürste [!] und freien Städte kommen überein, den Unterthanen der deutschen Bundesstaaten folgende Rechte zuzusichern: d) Die Bundesversammlung wird sich in ihrer ersten Zusammenkunft mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck beschäftigen.29

Dementsprechende Bestrebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden nicht zuletzt von österreichischer Seite - aufgrund der innenpolitischen Situation - immer wieder unterlaufen und verzögert. Nachdem man nach Jahrzehnten der unverhohlenen Nachdruckspolitik in Österreich endlich zu einem Einlenken bereit war, wollte man auch gleich die Ruder in die Hand nehmen und die engagierten Preußen, die zweite Großmacht innerhalb des Deutschen Bundes, nicht zu sehr den Ton angeben lassen. 27 Ueber das artistische Eigenthum. In: BC, Nr. 17 vom 10. Juni 1861, S. 138. 28 Brigitte Dölemeyer: Urheber- und Verlagsrecht. Kapitel Österreich. In: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/5 (1986), S. 4057-4046, hier S. 4039. 29 Deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815, Art. 18. Abgedruckt in: Ch. F. M . Eisenlohr: Sammlung der Gesetze und internationalen Verträge zum Schutze des literarisch-artistischen Eigenthums in Deutschland, Frankreich und England. Heidelberg 1856, S. 1.

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Als das Königreich Sachsen 1862 einen Antrag auf „Herbeiführung eines allgemeinen Gesetzes gegen Nachdruck"30 stellte, begrüßte Osterreich „diesen Schritt zu Gunsten eines für die geistigen Interessen der deutschen Nationen so wichtigen Gegenstandes" 31 und legte auch gleich einen Entwurf 52 vor. „Dieser war aus Revisionsarbeiten am Patent von 1846, das bald als unzureichend empfunden wurde, hervorgegangen" 33 und berücksichtigte den Entwurf des Börsenvereins der deutschen Buchhändler aus dem Jahr 1858.34 In elf Abschnitten und insgesamt 54 Paragraphen erläuterte man, wie „den gesteigerten Anforderungen der Neuzeit besser als bisher entsprochen" 35 werden könnte. Es wurde vorgeschlagen, literarische Erzeugnisse, musikalische Kompositionen, Werke der bildenden Kunst und wissenschaftliche Zeichnungen bis zu dreißig Jahren nach dem Tod des Autors bzw. Künstlers zu schützen (§ 21).36 Das Recht zur Veranstaltung einer Übersetzung sollte dem Schriftsteller bis zu zehn Jahren nach dem Erscheinen seines Werkes ausschließlich zukommen, jedoch nur, wenn innerhalb der ersten drei Jahre eine Übersetzung herausgegeben werden würde (§ 28).37 Jede rechtmäßig erschienene Übersetzung wollte man gegen Nachdruck schützen (§ 6).38 Weiters dachte man daran, bei dramatischen, dramatisch-musikalischen und musikalischen Stücken die Aufführungsrechte für die ganze Dauer des Rechts am Original zu gewähren, wobei bei rein musikalischen Werken ein Vorbehalt am Titelblatt vorgesehen war (§§ 32, 34) ,39 Der österreichische Entwurf beinhaltete für dramatische bzw. dramatisch-musikalische Erzeugnisse außerdem einen Schutz vor übersetzten Auf-

50 Protokolle der Deutschen Bundesversammlung. Frankfurt a. M. 1862, S. 31 f. 31 Ebd., S. 104. 32 Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Autorrechte an Werken der Literatur und Kunst, Beilage 2 zu § 251. In: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung. Frankfurt a. M. 1862, S. 453-464. 33 Brigitte Dölemeyer: Urheber- und Verlagsrecht. Kapitel Österreich (Anm. 28), S. 4041. 34 Vgl. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung. Frankfurt a. M. 1862, S. 104. 35 Ebd., S. 103. 36 Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Autorrechte an Werken der Literatur und Kunst, Beilage 2 zu § 251. In: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung. Frankfurt a. M. 1862, S. 458. 37 Ebd., S. 459 f. 38 Ebd., S. 454. 39 Ebd., S. 460.

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führungen, der ebenfalls während der ganzen Zeit des Nachdrucksverbotes gültig sein sollte. Die Regelung der urheberrechtlichen Beziehungen zum Ausland erfolgte - wie im a. h. Patent 1846 - durch eine Gegenseitigkeitserklärung (§ 45): Fremdländischen Werken wollte man Schutz nur in dem Maße gewähren, „als die diesfälligen Rechte den inländischen Werken durch die Gesetze des fremden Staates gleichfalls gesichert" 40 worden wären. Derart gestaltete sich der österreichische Vorschlag zur Verbesserung bestehender Urheberrechtsnormen, welcher gemeinsam mit dem Konzept des Börsenvereins - dessen Abfassung die königlich sächsische Regierung veranlaßt hatte - durch eine eigens eingesetzte Kommission „unter Vorsitz des österreichischen Hof- und Minist. R. Vesque von Püttlingen"41 genauester Prüfung unterzogen wurde. Am zweiten deutschen Juristentag unterstützte man dieses Vorgehen und wertete es als Beweis für „ein großes und lebhaftes Einheitsbedürfnis in dieser Beziehung", auf dessen „baldige Erledigung" 42 man hoffte. Zwei Jahre später zeitigte die Kommissionsarbeit auch wirklich konkrete Ergebnisse. Ein neu ausgearbeiteter Text, der sogenannte Frankfurter Entwurf, konnte der Bundesregierung am 19. Mai 1864 vorgelegt werden. „Zu einer Beratung desselben kam es infolge der Auflösung des Deutschen Bundes nicht mehr. 1 g Ö OJ TJ ao> CÖ C 'S O 3ca •Ö CO CT) tO Io •o C/5 I •8 Ü s, c ö

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Norbert Bachleitner

Ubersetzungsfabrik C. A. Hartleben Eine Inspektion

In der auf die literarische Produktion des Jahres 1853 bezogenen Bibliographisch-statistischen Ubersicht der Litteratur des österreichischen Kaiserstaates ereiferte sich Constant Wurzbach von Tannenberg, der Leiter der Bibliothek des Innenministeriums, über die seit kurzer Zeit auffallig angestiegene Ubersetzungstätigkeit: Die [...] in Oestreich erst seit einigen Jahren erwachte Sucht, zu übersetzen, ist nach der Hand zu einem förmlichen Systeme geworden; - ein paar Verleger haben fast allen anderen Verlag aufgegeben und so zu sagen eine RomanUebersetzungs-Fabrik, aus welcher das lesebegierige Publicum ausschliesslich mit den mittelmässigsten Erzeugnissen der französischen Roman-Literatur versehen wird, errichtet.1

Die Kritik gilt sowohl der Quantität wie auch der neuen Qualität des Ubersetzens im österreichischen Kaiserstaat. Wurzbach erwähnt als Kontrast lobend die Verhältnisse im Vormärz, als nur wenige Werke und zudem nur „Klassiker" übersetzt wurden. Als Beispiele für solche Klassiker nennt er Scott, Washington Irving, Bulwer und Dickens. Hinzufügen könnte man Übersetzungen einiger Werke von Cooper und Byron. Auffallig ist, daß es sich dabei durchgehend um angloamerikanische Autoren handelt. Kaum je-

1 Constant Wurzbach von Tannenberg: Bibliographisch-statistische Übersicht der Litteratur des österreichischen Kaiserstaates vom 1. Jänner bis 51. December 1853. Erster Bericht erstattet im hohen Auftrage seiner Excellenz des Herrn Ministers des Innern Alexander Freiherrn von Bach. Zweite vermehrte Auflage. Wien: F. Manz 1856, S. 125. Der entsprechende Abschnitt dieses Berichts ist auch abgedruckt in Norbert Bachleitner (Hrsg.): Quellen zur Rezeption des englischen und französischen Romans in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1990 ( = Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 31), S. 17-21.

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mals aber hatte ein Werk der perhorreszierten französischen Literatur die Zensur passiert, und auch die genannten englischen und amerikanischen Autoren hatten sich in österreichischen Ausgaben die Tilgung politisch, religiös oder moralisch bedenklicher Passagen gefallenlassen müssen. Nun aber dominierte eindeutig französische Romanliteratur. „Nur das Pikante, dabei Seichte, das Haarsträubende[,] dabei die Sinne Fesselnde wird für die große lesende Masse bearbeitet" 2 präzisiert Wurzbach seine Bedenken gegen die Flut französischer Prosa. Und er stimmt in den schon in den vierziger Jahren formierten Chor konservativer Lesepädagogen ein, wenn er in den französischen Romanen gefahrliche sozialistische Tendenzen ortet. In Frankreich habe man ja zur Genüge studieren können, wie Romane der Revolution vorarbeiteten. Wenn diese Gefahr von Osterreich auch vorerst abgewendet sei, so würden die dem Publikum von den Übersetzern und ihren Verlagen aufgedrängten Produkte zumindest niedere Gelüste, Materialismus und Utilitarismus fordern. „So machen sich geistig unmündige Leser mit den oberflächlichsten Erzeugnissen einer alles verneinenden Richtung bekannt und verbilden ihre Phantasie an den Auswüchsen einer verkehrten Anschauung."3 Wurzbachs Klagen weisen auf verschiedene Facetten des Phänomens der ,Ubersetzungsfabriken' hin - mit diesem Schlagwort hatten zeitgenössische Kritiker die geradezu hektische Ubersetzungsproduktion vieler Verlage versehen: Osterreich, und da vor allem Wien, holte mit der regen Übersetzungstätigkeit in den fünfziger Jahren in verkleinertem Maßstab nach, was im deutschsprachigen Raum bis dahin auf Leipzig und Stuttgart beschränkt gewesen war. Nachdem der sogenannte spekulative Buchhandel in Sachsen und Württemberg in den zwanziger Jahren mit den Übertragungen Walter Scotts erstmals Erfolge gefeiert hatte, betrug der Anteil der Übersetzungen an den neu erscheinenden Romanen in den deutschen Staaten in den vierziger Jahren bereits zwischen 40 und 50 %. Von angehenden Schriftstellern, Universitätsabsolventen, Sprachlehrern, Journalisten, Theaterleuten, Gouvernanten usw. rasch hergestellte Übersetzungen wurden in billigen Romanreihen massenhaft auf den Markt geworfen. Das Fehlen internationaler Urheberrechtsverträge ermöglichte, daß von erfolgreichen Romanen in kurzer Zeit zehn und mehr verschiedene deutsche Ausgaben veröffentlicht wurden. 4 In Osterreich hatten die bis 1848 unumgänglichen und äußerst langwie2 Ebd., S. 124. 3 Ebd. 4 Vgl. dazu Norbert Bachleitner: „Ubersetzungsfabriken". Das deutsche Übersetzungswe-

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rigen Zensurmodalitäten die Beteiligung österreichischer Verlage an d e m Wettlauf u m Ubersetzungen verhindert. Auch war Kapital im österreichischen Buchhandel des Vormärz notorisch knapp gewesen. Die restriktive staatliche Konzessionierungspolitik hatte Firmen-Neugründungen weitgehend verhindert; die meisten deutschen Übersetzungsfabriken waren aber eben solche junge risikofreudige Unternehmen. Die wenigen in Österreich erschienenen Ubersetzungen waren zum großen Teil Nachdrucke, was die Herausbildung einer eigenständigen Übersetzungskultur verhinderte. Und schließlich dürfte sich auch das bücherkaufende Lesepublikum zahlenmäßig in engen Grenzen gehalten haben. Umso erstaunlicher ist, daß Wurzbach bereits 1856 von einer ,,grosse[n] lesende[n] Masse" 5 spricht. Mag es sich dabei auch u m eine ideologisch bedingte Übertreibung handeln, etwa im Sinne des geflügelten Wortes vom ,Lesepöbel' - Abnehmer müssen die Übersetzungen der fünfziger Jahre doch gefunden haben. Wie zahlreich waren die Übersetzungen wirklich? Zumindest für ein Jahr, nämlich für 1854, liegen genauere Daten vor. In diesem Jahr waren von 546 Nummern Romanliteratur - Wurzbach zählt nicht nur Bände, sondern auch Lieferungshefte von Fortsetzungswerken einzeln - 179 Übersetzungen, also etwa ein Drittel. Aus d e m Französischen stammten 154 Bände bzw. Lieferungen, aus dem Polnischen 11, aus dem Englischen 7, aus d e m Italienischen 5, aus d e m Deutschen (in andere Sprachen der Monarchie) und Russischen je 2. 6 Tatsächlich blieben die österreichischen Verlage damit - zumindest was den Anteil der Übersetzungen an der Romanproduktion betrifft - nur wenig hinter den deutschen Übersetzungsfabriken zurück. 7 Hinsichtlich der jährlichen Titelzahlen konnte sich der österreichische Verlag allerdings auch in den fünfziger Jahren nicht entfernt mit d e m deutschen messen. Von den Wiener Verlagen betätigten sich auf d e m Übersetzungssektor in sen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14,1 (1989), S. 1-49. 5 Wurzbach, Bibliographisch-statistische Ubersicht 1854 (Anm. 1), S. 124. 6 Constant Wurzbach von Tannenberg: Bibliographisch-statistische Ubersicht der Litteratur des österreichischen Kaiserstaates vom 1. Jänner bis 51. December 1854. Zweiter Bericht erstattet im hohen Auftrage seiner Excellenz des Herrn Ministers des Innern Alexander Freiherrn von Bach. Zweite vermehrte Auflage. Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1856, S. 468. 7 1855 betrug der Anteil der Ubersetzungen an der gesamten Romanproduktion der deutschen Staaten 45 %, 1860 27 %; vgl. Bachleitner, Übersetzungsfabriken (Anm. 4), S. 8.

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diesen Jahren Stöckholzer von Hirschfeld ab 1851 mit seiner Reihe Romantische Lesehalle, die 1853 bereits die 346. Lieferung erreichte8, und Josef August Bachmann, der zugleich eine der fünf Wiener Leihbibliotheken dieser Jahre unterhielt. Der Zusammenhang zwischen den beiden Sparten Leihbibliothek und Übersetzung war sehr eng, bezeichnete doch das Journal für Österreichs Leihbibliotheken im Jahr 1864 Romanübersetzungen als geradezu „nothwendig", um den Hunger der Leser nach Romankost zu stillen: „[...] wenn man die Ziffer der jährlich erscheinenden deutschen Original=Romane noch so sorgfaltig zusammenzählt, bringt man doch keine so große Anzahl neuer Romane heraus, um seinen Kunden jeden Tag einen neuen Roman auftischen zu können [.-.]". 9 Auf dem Gebiet der dramatischen Literatur war weiterhin Wallishausser sehr aktiv, nun mit seiner Reihe Wiener Theater-Repertoir, in der zwischen 1853 und 1886 Hunderte, größtenteils aus dem Französischen übersetzte oder bearbeitete Stücke erschienen. War die oben genannte Firma Bachmanns eine buchhändlerische Neugründung, so tritt das mit dem Metier des Romanverlags verbundene spekulative Moment noch deutlicher innerhalb des Zeitungsfeuilletons hervor, und zwar besonders am Beispiel von August Zang, dem Gründer der Presse. Nach dem Dienst beim Militär, wo er sich nebenbei als Erfinder betätigte und unter anderem einen neuen Gewehrtyp entwickelte, verlor der Neunundzwanzigjährige 1836 bei Immobilienspekulationen innerhalb weniger Monate das vom Vater ererbte Vermögen und setzte sich nach Paris ab. Dort errichtete er eine sehr erfolgreiche ,Boulangerie viennoise', studierte nebenbei die Pariser Zeitungsszene und rief 1848 in Wien mit der Presse eine österreichische Variante des neuen, relativ billigen und auf Reklameanzeigen basierenden Zeitungstyps ins Leben. Von Anfang an warb die Presse auch mit einem Romanfeuilleton, das sich zu einem großen Teil aus französischen Importen zusammensetzte, um Abonnenten. Damit nicht genug, brachte Zang von 1855 bis 1859 auch eine Roman- und Novellenzeitung mit dem Untertitel Bibliothek der vorzüglichsten Romane des In- und Auslandes in wöchentlichen Lieferungen heraus. In den Schatten gestellt wurden alle diese Unternehmungen aber von 8 1854 erschienen bei Stöckholzer 9 Bände und 49 Hefte; vgl. Wurzbach, Bibliographischstatistische Übersicht 1854 (Anm. 6), S. 468. 9 Die Uebersetzungen (Eingesendet). In: Journal für Österreichs Leihbibliotheken 1 (1864), Nr. 12, 24. April, S. 99-100, Zit. S. 99.

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Conrad Adolf Hartlebens Verlag. Hartleben war der erste und einzige österreichische Verlag, der versuchte, den deutschen Ubersetzungsfabriken ernsthaft Paroli zu bieten. Sein 1846 eröffnetes Belletristisches Lesecabinet der neuesten und besten Romane aller Nationen in sorgfältigen Uebersetzungen erinnerte schon im Namen an das Vorbild der von dem Stuttgarter Verlag Franckh ab 1843 veröffentlichten Reihe Das belletristische Ausland. Bis zum Ende des Lesecabinets im Jahr 1879, das damit die Konkurrenz auch an Langlebigkeit weit übertraf, erschienen in der Reihe 1008 Bände Ubersetzungen aus den wichtigsten europäischen Literaturen in 3039 Lieferungen, 10 vorwiegend aber Ubersetzungen französischer Romane. Außerhalb der Reihe brachte Hartleben noch Dumas' Romantische Meisterwerke (1869-1874 in 93 Bänden) und Paul de Kocks Gesammelte neuere humoristische Romane (1868-1873 in 130 Bänden) heraus, denen Altere humoristische Romane (1875-1877 in 31 Bänden) folgten. Hartlebens Erfolge beruhten wohl darauf, daß er als erster österreichischer Verlag vergleichsweise billige Lieferungswerke produzierte und schon früh auf die Kolportage setzte, und zwar sowohl von Belletristik als auch von populärwissenschaftlichen Büchern. 11 Im Fall des Lesecabinets hielt Hartleben bis in die siebziger Jahre den moderaten Preis von 21 Kreuzern je Lieferung, was in Deutschland 4 Groschen bzw. nach der Währungsreform 40 Pfennig entsprach. Auch unter den im Lesecabinet übersetzten Autoren ragen quantitativ mit Abstand Dumas père (63 Werke in 305 Bänden bzw. Teilen) und Paul de Kock (60 Werke in 171 Bänden) heraus. Stark vertreten sind auch andere französische Feuilletonkönige wie Xavier de Montépin, Eugène Sue und Paul Féval sowie George Sand. Sucht man nach heute kanonisierter Literatur, so wird man dagegen nur selten fündig; zu nennen wären etwa Balzac, Charlotte Brontë, Wilkie Collins, George Eliot, Flaubert, Théophile Gautier, W. M. Thackeray und Turgenjew. Unter den Ubersetzern, die für Hartleben arbeiteten, finden sich österreichische Autoren, oder jedenfalls Autoren, die sich in Osterreich angesiedelt hatten, wie Ludwig von Alvensleben, Anton Langer und Heinrich von Levitschnigg; weiters österreichische Journalisten wie Michael Etienne, 10 Im Jahr 1854 waren es 2 Bände und 142 Hefte; vgl. Wurzbach, Bibliographisch-statistische Übersicht 1854 (Anm. 6), S. 468. 11 Vgl. Die Colportage=Literatur. In: Österreichische Buchhändler=Correspondenz 18 (1877), Nr. 49, 8. Dezember, S. 461-462.

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Leopold Fürstedler und Hermann Meynert, der überdies die Redaktion des Lesecabinets innehatte; ferner Beamten wie Josef Alois Moshamer, der sich als Erzähler versuchte, hauptberuflich aber im Bücherrevisionsamt und dann als Polizeikommissar tätig war 12 , und Ludwig Scheyrer, ein Rechnungsoffizial der k. k. Domänen- und Gefall-Hofbuchhandlung. Schließlich fallt unter den österreichischen Ubersetzern noch der Name von Eugen Marx auf, des Mitarbeiters und späteren Leiters des Verlags Hartleben. Die Mehrheit von Hartlebens Ubersetzern kam jedoch aus Deutschland. Solche deutsche, meist Leipziger, und auch bei anderen Verlagen vielbeschäftigte Ubersetzer des Lesecabinets - sozusagen Großunternehmer auf diesem Gebiet - waren z. B. August Diezmann, August Kretzschmar und G. F. W. Roediger. Daß viele Ubersetzer aus Deutschland stammten, erklärt sich wohl dadurch, daß die Wurzeln des Lesecabinets nach Leipzig reichten. Obwohl die Firma 1844 ihren Hauptsitz von Pest nach Wien verlegt hatte, ist auf dem Titelblatt einiger eingesehener früher Bände der Reihe nur Leipzig vermerkt. Mit diesem Verlagsort war der offensichtliche Vorteil der milderen sächsischen Zensur verbunden. Erst später tauchte die bekannte Formel „Pest, Wien und Leipzig, Hartleben's Verlags=Expedition" auf den Titelblättern auf, die noch immer den direkten - und wohl lebenswichtigen - Zugang zum deutschen Markt sicherte. Die über tausend Bände des Lesecabinets wurden von ca. 50 Übersetzern bewerkstelligt, deren Mehrzahl aber nur wenige Bände beisteuerte. Einige von ihnen taten sich dagegen besonders hervor. Der genannte Dr. G. F. W. Roediger lieferte zwischen 1847 und 1864 211 Bände mit knapp 32.000 Druckseiten Umfang. Ubertroffen wurde er noch von August Kretzschmar, der allein zwischen 1858 und 1864 für 125 Bände mit knapp 21.000 Druckseiten verantwortlich zeichnete. Die beiden Übersetzer bestritten also zusammen mehr als ein Drittel der Reihe. Solche Übersetzungs-,Leistungen' setzten die Maßstäbe: Gefragt war v. a. schnelle Arbeit, und sei es mit Hilfe von Mitarbeitern. 13 Nachdem nun die Reihe vorgestellt ist, soll ein Roman die Art, wie bei Hartleben übersetzt wurde, illustrieren. Ich wähle dafür Flauberts Madame Bovary aus. Auf dem Titelblatt der Übersetzung, die 1858, also nur ein Jahr 12 Moshamer war auf Übersetzungen von Werken Dumas' spezialisiert. 15 Eine durchschnittliche tagtägliche Ubersetzungsproduktion von 8 Seiten, wie sie sich aus den obigen Zahlen für Kretzschmar errechnet, ist zwar nicht undenkbar, aber zumindest unwahrscheinlich; zudem arbeitete Kretzschmar gleichzeitig auch für andere Verlage.

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nach dem Original, erschien, ist ein „Dr. Legné" als Ubersetzer ausgewiesen. Freienmuth von Helms, der die deutsche Flaubert-Rezeption untersucht hat, behandelt diesen Namen als Anagramm, das er, leider ohne Gründe anzugeben, als „Dr. Engel" entschlüsselt. 14 Ich übernehme diese nicht zuletzt deshalb, weil auch unter dem Namen Engel mehrere Ubersetzungen bei Hartleben erschienen - naheliegende Entschlüsselung, ohne sie erhärten zu können. Legné bzw. Engel übersetzte für Hartlebens Kollektion neben der Madame Bovary in den fünfziger Jahren noch zwölf andere Werke von französischen Autoren, und zwar durchwegs von populären Romanciers wie dem Marquis de Foudras, Elie Berthet, Ponson du Terrail und Eugène Sue. 1 5 Damit war Engels Anteil am Lesecabinet im Vergleich zu Übersetzern wie Kretzschmar bescheiden, aber auch seine Übertragung zeugt von großer Flüchtigkeit. Ich übergehe zahlreiche Fehler, die zwar eher auf das Konto des Setzers als auf jenes des Übersetzers gehen, die aber gleichwohl von der flüchtigen Herstellung der Bücher in Hartlebens Reihe zeugen. Begnügen wir uns mit dem Hinweis, daß aus der von dem Apotheker Homais mit Beiträgen belieferten Zeitschrift Fanal de Rouen gelegentlich ein Journal de Rouen wird (wodurch der Übersetzer unabsichtlich die von Flaubert ursprünglich geplante Titelgebung wiederherstellt), einmal aber auch - weniger passend ein Canal de Rouen. m Aber nicht nur der Setzer, auch der Übersetzer leistet sich kapitale Schnitzer. Am Ende des berühmten Kapitels über die Comitien in Yonville zieht es den Steuereinnehmer, Feuerwehrhauptmann und leidenschaftlichen

14 Ernst Eduard Paul Freienmuth von Helms: German Criticism of Gustave Flaubert 1857-1950. New York: Columbia University Press 1959 ( = Columbia University Germanic Studies N. S. 7), S. 7. 15 Verzeichnet sind diese Ubersetzungen bei Norbert Bachleitner: „Wurstartig gedrehte Teufelchen". Bemerkungen zur ersten deutschen Übersetzung von Flauberts Madame Bovary. In: Literatur ohne Grenzen. Festschrift für Erika Kanduth. Unter Mitarbeit von M. Pauer hrsg. v. S. Loewe, A. Martino, A. Noe. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: P. Lang 1993 ( = Wiener Beiträge zu Komparatistik und Romanistik 5), S. 1-19, hier S. 3. 16 Madame Bovaiy, oder: Eine Französin in der Provinz. Aus dem Französischen des Gustav Flaubert. Deutsch von Dr. Legne. 5 Teile. Pest, Wien und Leipzig: Hartleben's Verlags=Expedition 1858 ( = Neuestes Belletristisches Lese-Cabinet 104-112), Teil II, S. 84 u. 47. Zitate aus dieser Ubersetzung werden in der Folge in Klammern im Text nachgewiesen.

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Amateurdrechsler Binet nach Hause. Der besorgte Homais möchte ihn als für den Brandschutz Verantwortlichen zurückhalten, Binet jedoch sehnt sich nach seiner Drehbank und sieht nach Beendigung des Feuerwerks keinen Grund, länger auf dem Fest zu bleiben. Flaubert bemerkt lakonisch: „Celuici rentrait à sa maison. Il allait revoir son tour." 17 Die beiden Sätze bedeuten „Er ging nach Hause. Er kehrte wieder an seine Drehbank zurück." Engel hatte in der Eile wohl keine Erklärung für die Wendung „aller revoir son tour" und erfand - indem er „tour" mit Perücke übersetzte - folgenden Grund für Binets Ungeselligkeit: „Dieser wollte sich eben nach Hause begeben, um im Spiegel nachzusehen, ob ihm denn die Perrücke noch am rechten Orte säße." (II, 46) Auch fiel niemandem der Widersinn auf, der durch das Mißverständnis des Personalpronomens „lui" in der folgenden Passage entstand, in der es um Emmas Unzufriedenheit mit Charles geht: „La conviction où il était de la rendre heureuse lui semblait une insulte imbécile [...]." (390) Engel übersetzt: „Die in ihm lebende Ueberzeugung, er könne sie glücklich machen, kam ihm wie eine von Blödsinn zeigende Beleidigung vor." (I, 158) Spätestens an dieser Stelle ist man versucht, die Formulierung „eine von Blödsinn zeigende Beleidigung" auf die Ubersetzung zu übertragen und den Fall damit auf sich beruhen zu lassen. Für eine nähere Betrachtung der Übertragung spricht aber, daß die Abweichungen vom Original zum Teil systematischer Natur sind und gewisse Intentionen des Ubersetzers erkennen lassen. Auffällig sind Auslassungen und Änderungen, die eine Art Zensur des Originals bewirken. Die überwiegende Zahl von Strichen betrifft aber nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, moralisch fragwürdige Stellen, sondern vermeintliche Angriffe auf die Religion. So nimmt der Ubersetzer den Abbé Bournisien bei so gut wie allen seinen Auftritten und Erwähnungen gegen Verunglimpfungen in Schutz. Erstes Beispiel: Homais interpretiert die Weigerung Bournisiens, im Wirtshaus eine Erfrischung anzunehmen, folgendermaßen: „Ce refus d'accepter un rafraîchissement lui semblait une hypocrisie des plus odieuses; les prêtres godaillaient tous sans qu'on les vît, et

17 Flaubert: Œuvres I. Edition établie et annotée par A. Thibaudet et R. Dumesnil. Paris: Gallimard 1951, S. 431. Zitate aus dem französischen Original sind auch in der Folge dieser Ausgabe entnommen und werden im Text in Klammern nachgewiesen. - Es wird nach der leicht erreichbaren Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade zitiert, die an den angeführten Stellen mit der Erstausgabe übereinstimmt (Madame Bovary. Moeurs de province. Par Gustave Flaubert. Paris: Michel Lévy frères 1857).

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cherchaient à ramener le temps de la dîme." 18 (361) Wo Homais die heuchlerische Raffgier des Klerus attackiert, schiebt Engel die Heuchelei kurzerhand einer anderen Berufsgruppe in die Schuhe: „Die Weigerung, eine ihm angebotene Erfrischung annehmen zu wollen, sey nur ein Act der Heuchelei; diese Stubengelehrten, meinte er, machen es alle so." (I, 111) Ein anderes Beispiel: Zur eher burlesken Atmosphäre während der Totenwache für Emma tragen Details wie das wiederholte geräuschvolle Schneuzen des Abbé bei: „M. Bournisien, de temps à autre, se mouchait bruyamment". (593) Engel ersetzt diesen Satz durch „Der Geistliche betete wieder". (III, 134) Wo eine Milderung der Kritik an der Kirche und ihrem Vertreter Bournisien unmöglich erscheint, läßt der Ubersetzer ganze Abschnitte weg. So entfallt insbesondere die Szene im Umfang von etwa vier Druckseiten, in der Homais mit Bournisien über die Ähnlichkeiten zwischen kirchlichen Ritualen und dem Theater disputiert.19 Vergleichsweise wenige Stellen erschienen dem Ubersetzer aus moralischen Gründen anstößig. Ein Beispiel: Emma kommt nach anfanglichen Illusionen zur Einsicht, daß sich Charles trotz aller ihrer Anstrengungen nie zum feurigen Liebhaber wandeln wird. „[...] il l'embrassait à de certaines heures. C'était une habitude parmi les autres, et comme un dessert prévu d'avance, après la monotonie du dîner." (331) Der Vergleich der ehelichen Liebe mit der gewohnten Nachspeise zum Abendessen erschien Engel offenbar zu gewagt, er formulierte stattdessen: „Er war nun einmal ein Gewohnheitsmensch und sein Naturell machte sich auch auf dem Gebiete der Liebe sieghaft geltend." (I, 64) Besondere Vorsicht beweist Engel, wenn es um den Lebenswandel gekrönter Häupter geht. Von dem Schwiegervater des Marquis von Vaubyessard, der ein bewegtes Liebesleben hinter sich hat, heißt es bei Flaubert, daß er „l'amant de la reine Marie-Antoinette entre MM. de Coigny et de Lauzun" gewesen sei. Emma fasziniert dieser Umstand ganz besonders: „II avait vécu à la Cour et couché dans le lit des reines!" (335 u. 336) Engel mildert die Unmißverständlichkeit dieser Formulierungen dahingehend, daß der Herzog „so wie Coigny und Lauzun in Gnaden bei der Königin Marie Antoinette gestanden hatte" bzw. daß er „am Hofe gelebt und in der Gunst gekrönter Häupter gestanden hatte." (I, 71) An der Grenze zwischen Zensur und der Ablehnung fremdartiger ästhetischer Prinzipien bewegen sich die Tilgungen allzu ,häßlicher' Details oder 18 Alle Hervorhebungen in den Zitaten vom Verf., N. B. 19 Im Original S. 489-492, die entsprechende Lücke in der Ubersetzung II, S. 142.

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Vergleiche. Ein Beispiel dafür: Père Rouault, Emmas Vater, tröstet Charles nach dem Tod von dessen erster Frau auf seine Weise, indem er ihm von seinem Gemütszustand in derselben Situation erzählt. Er war auf die Felder gegangen, um allein zu sein, hatte Gott geschmäht und sich gewünscht, einer der krepierten Maulwürfe zu sein, deren Bäuche von Würmern wimmelten: „Quand j'ai eu perdu ma pauvre défunte, j'allais dans les champs pour être tout seul; je tombais au pied d'un arbre, je pleurais, j'appelais le Bon Dieu, je lui disais des sottises; j'aurais voulu être comme les taupes que je voyais aux branches, qui avaient des vers leur grouillant dans le ventre, crevé, enfin." (309) Bei Engel fehlt neben der Unzufriedenheit des Père Rouault mit dem lieben Gott insbesondere der drastische Vergleich mit den krepierten Maulwürfen. Er überbrückt die Passage mit einer freien Nachdichtung: „Als ich meine arme Selige verlor, ging ich auf's Feld hinaus, u m ganz allein zu seyn, warf mich dort am Fuß eines Baumes nieder und weinte; ich rief nach dem lieben Gott, ich fragte ihn, warum er mir denn das brave Weib genommen, ich bat ihn, mich ebenfalls von der Erde abzurufen." (I, 29) Die Tilgung von vermeintlichen Geschmacklosigkeiten genügt d e m Übersetzer nicht, er führt überdies Versatzstücke aus einer heilen Welt ein, u m die düstere Atmosphäre des Romans ein wenig aufzuhellen. Wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, versucht Engel durch schönfarberische ,Poetisierung' eine fröhliche, biedermeierlich-behagliche Stimmung zu evozieren, auch wenn dies der Intention des Originals völlig widerspricht. Ein Beispiel: Als der auf Freiersfüßen wandelnde Bovaiy Emma auf dem Hof ihres Vaters besucht, entwirft Flaubert ein Bild der dort herrschenden sonntag-nachmittäglichen Langeweile: Sonnenstrahlen fallen durch die Spalten der Fenster ein, Fliegen klettern in den stehengebliebenen CidreGläsern herum und ertrinken darin. Für die nähende E m m a scheint die Zeit in dem verlassenen Haus still zu stehen. Par les fentes du bois, le soleil allongeait sur les pavés de grandes raies minces, qui se brisaient à l'angle des meubles et tremblaient au plafond. Des mouches, sur la table, montaient le long des verres qui avaient servi, et bourdonnaient en se noyant au fond, dans le cidre resté. Le jour qui descendait par la cheminée, veloutant la suie de la plaque, bleuissait un peu les cendres froides. (310 f.) Engel sieht sich an dieser Stelle zu folgenden atmosphärischen Veränderungen bzw. Zusätzen veranlaßt:

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Durch die Holzspalten fielen Sonnenstrahlen herein, die in wundersamen Reflexen auf dem Boden spielten und einen Theil der Möbel und des Plafonds vergoldeten. Mücken spielten mit den Sonnenstäubchen um die Wette, summten ganz lustig darauf los und starben einen heitern Tod in den Resten des Aepfelweines, der in einigen Gläsern stehen geblieben war. Das durch den Camin einfallende Tageslicht gab selbst dem Ruß und der Asche ein heiteres Aussehen [...]. (I, 31)

Die beiden zitierten Stellen könnten aus einem Roman von Gustav Freytag stammen, insofern ist stimmig und kann als Ausdruck der Redlichkeit durchgehen, daß der Verfasser schon auf dem Titelblatt als Gustav Flauheit eingebürgert wird. Vergegenwärtigen wir uns zum Vergleich die Passage aus dem zweiten Kapitel von Soll und Haben (1855), in dem Anton Wohlfahrt in die Hauptstadt aufbricht: Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrte die Sense des Schnitters am Wetzstein und oben in der Luft sang die unermüdliche Lerche. [...] Kleine Bäche, von Erlen und Weidengruppen eingefaßt, durchrannen lustig die Landschaft [...]. [...] Anton eilte vorwärts, wie auf Sprungfedern fortgeschnellt. Vor ihm lag die Zukunft, sonnig gleich der Flur [...]. [...] Im Getreidefelde neigten sich die Ähren am schwanken Stiel auf ihn zu, sie nickten und grüßten, und in ihrem Schatten schwirrten unzählige Grillen ihren Gesang: „Lustig, lustig im Sonnenschein?" 20

Man geht wohl nicht fehl, wenn man die aufhellenden ,Poetisierungen' in der Übersetzung als Streben nach Verklärung der Wirklichkeit im Sinne des poetischen Realismus auffaßt. Ein ähnliches Ziel verfolgen auch scherzhaft gemeinte Erfindungen, die der Ubersetzer anstelle vermeintlich zu nüchterner oder zu ,blasser' Formulierungen Flauberts setzt. Allerdings ist kaum ein größerer Abstand denkbar als jener zwischen der beißenden Ironie Flauberts und diesem stereotypen Allerwelts-Humor. Immer wieder fühlt sich der Ubersetzer auch zu Ergänzungen veranlaßt, wo ihm Flaubert undeutlich zu sein oder in seinen Beschreibungen zu sprunghaft vorzugehen scheint. Fest nimmt er den - offenbar als unmündig gedachten - Leser bei der Hand und bewahrt ihn vor allen möglichen Un20 Gustav Freytag: Gesammelte Werke. Leipzig: S. Hirzel, Berlin: H. Klemm o. J., 2. Serie, Bd. 1, S. 15 f.

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klarheiten. Auch damit entspricht er einer Forderung der konventionellen Regelstilistik. So erschien Engel z. B. der letzte Satz des Romans („II [Homais] vient de recevoir la croix d'honneur", 611) unbefriedigend, wahrscheinlich weil er für zu wenig Abrandung sorgt und überdies der Anknüpfungspunkt nicht unmittelbar ersichtlich ist. Mit einer Wendung, die an Märchenschlüsse erinnert, verdeutlicht der Ubersetzer, daß für Homais wie man einige Seiten zuvor allerdings ohnedies schon erfahren hat - der Orden das Ziel aller Wünsche bedeutet. „Er hat das Kreuz der Ehrenlegion erhalten und ist jetzt wirklich der glücklichste Sterbliche auf viele Meilen in der Runde." (III, 168) Rücksicht auf den deutschsprachigen Leser ist wohl auch das Motiv dafür, daß zahlreiche kulturspezifische Details entkonkretisiert und verallgemeinert oder gänzlich fortgelassen werden. Besonders störend äußert sich der Hang zu verallgemeinerndem Übersetzen etwa in der berühmten Szene der Kutschenfahrt Emmas und Léons durch Rouen, in der Flaubert den Weg des Gefährts durch Nennung von 36 Straßen, Plätzen und Gebäuden genau bezeichnet. (514 f.) Zunächst versucht Engel noch einen ungefähren Eindruck von der Route zu geben: „Sie fuhren durch mehre Gassen und über verschiedene Plätze; endlich hielt der Kutscher vor der Statue Corneille's". Schließlich aber kapituliert er vor der Aufgabe: „Er [der Kutscher] lenkte sein Fuhrwerk noch durch eine Unzahl von Seitenalleen und größern und kleinern Gassen." (II, 177 u. 178) Daß in puncto Verständlichkeit und Einbürgerung der fremden Texte eine gewisse Vorgabe der Verleger und ihrer Kunden vorlag, können wir dem bereits zitierten Beitrag im Journal für Österreichs Leihbibliotheken entnehmen. Mit Bezug auf englische Romane ist dort tadelnd davon die Rede, daß sie häufig „zu specifisch englisch sind" und ihnen der Ubersetzer keine „etwas allgemeiner gehaltene Färbung" zu geben versteht. Denn es „schreckt den gewöhnlichen Leser nichts so sehr von den englischen Uebersetzungen ab als dieses schroffe Anschmiegen der Uebersetzer an das englische Original." 21 Als Résumé unserer Beobachtungen an der Ubersetzung können wir festhalten, daß verschiedene unerwünschte und fremdartige Elemente aus dem Text entfernt wurden. Religionskritik, auch wenn sie aus der Perspektive des wenig vorbildlichen und sympathischen Homais vorgetragen wird, moralische Freizügigkeiten, ,Häßlichkeiten' und Anzeichen von Pessimismus

21 Die Uebersetzungen (Anm. 9), S. 100.

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klammert der Übersetzer weitgehend aus. In gewisser Weise vollzieht er damit den Willen des französischen Staatsanwalts, wie er sich in der Anklageschrift von 1857 dokumentiert. In seinem Plädoyer war bekanntlich gegen den Roman unter anderem vorgebracht worden, daß in ihm jedes positive Gegengewicht zur Heldin fehle. Weder der Ehemann noch Homais und noch weniger der Geistliche seien geeignet, Emma moralisch in die Schranken zu weisen. Mit der in der Ubersetzung vorgenommenen ,Aufwertung' Bournisiens wird daher nicht nur der Vertreter der Kirche vor der Ridikülisierung gerettet, sondern zugleich ein religiöses Korrektiv geschaffen bzw. aufrechterhalten, das eine ernstzunehmende Alternative zu Emmas moralischer Desorientierung bietet. Nahe liegt, daß der Übersetzer einem Verbot in Österreich zuvorkommen wollte. Die Ursache für seine Eingriffe sollte aber nicht in individueller Ängstlichkeit gesucht werden, denn auch in den Texten seiner Übersetzerkollegen im Lesecabinet begegnet man ähnlichen Vorsichtsmaßnahmen. Die systematischen Korrekturen an Stellen, die in religiöser und politischer Hinsicht bedenklich schienen, weisen eher auf von dem Verleger bzw. dem Reihenherausgeber Hermann Meynert vorgegebene Richtlinien. Zwar existierte nach 1848 keine Präventivzensur mehr, aber die Anklage und das Verbot eines Buches wegen eines Verstoßes gegen das Strafgesetz, besonders wegen Verletzung der Sittlichkeit oder Religionsstörung, stand jederzeit zu befürchten. Die Neuregelung der Preßüberwachimg bürdete die Verantwortung den Textproduzenten auf, also den Schriftstellern, Redakteuren und Verlegern, und förderte damit die Internalisierung der herrschenden Normen, die Selbstzensur und den vorauseilenden Gehorsam. Wenn Osterreich auch nicht das einzige, vielleicht nicht einmal das primäre Absatzgebiet für die Übersetzungen des Lesecabinets war, so konnte es sich doch kein Verleger leisten, von vorneherein darauf zu verzichten. Wie der zitierte Beitrag von seiten der Leihbibliotheksbetreiber belegt, sollte dem Leser darüber hinaus eine möglichst glatte und unproblematische Lektüre ermöglicht werden. Die erste deutsche Übersetzimg der Madame Bovary stellt sich eindeutig in die Tradition der freien, einbürgernden Übersetzung. Poetisierungen, die Übertragung des Originals in einen in Romanen geläufigen, regelrechten Stil und Vereinfachungen der Erzählperspektive stehen im Dienste der Anpassung an den Erwartungshorizont eines durchschnittlichen Romanlesers der fünfziger Jahre. Zu erinnern ist hier an das Programm des Lesecabinets, das populäre Erzähler favorisierte, die ihrerseits die Erwartungen an ein Produkt der Reihe prägten. Mit der Aufnahme in

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Hartlebens Übersetzungsreihe wurde Flaubert paradoxerweise genau in die Umgebung jener Art von Literatur gestellt, der er in Madame Bovary den Kampf ansagt, weil sie Illusionen erzeugt, die zur Desillusion fähren müssen. Nur folgerichtig ist daher eine Angleichung an die unkomplizierten, an der Veröffentlichung im Zeitungs-Feuilleton orientierten Erzähl- und Ausdrucksformen von Autoren wie Dumas, Montépin, de Kock usw. Das zweite herausragende Ubersetzungsprojekt Hartlebens neben dem Lesecabinet war die 1873 begonnene Gesamtausgabe der Romane Jules Vernes in weit über hundert Bänden. Nach Auskunft des Verlagskatalogs von 1909 wurden die Romane von Dr. O. Lanz und Dr. 0 . Reyher übersetzt,22 über die allerdings nichts Näheres in Erfahrung zu bringen war. Als Beispiel wähle ich einen der ersten Bände der Ausgabe, nämlich Fünf Wochen im Ballon von 1876, die Ubersetzung von Cinq semaines en ballon (1863). Als Übersetzerin dieses Romans einer Afrikadurchquerung dreier wagemutiger Briten nennt Fromms Bibliographie den Namen Martha Lion.23 Ein Buch wie Fünf Wochen im Ballon bot wenig Anlaß für Zensurrücksichten. Politische oder religiöse Fragen bleiben so gut wie ausgeklammert, Frauen treten kaum in Erscheinung. Wenn einmal ein König als „royal ivrogne" 24 charakterisiert wird, so kann auch die Übersetzerin getrost von einem ,,königliche[n] Säufer"25 sprechen, da von einem Eingeborenenhäuptling die Rede ist. Zu den gelegentlichen minimalen ideologischen Korrekturen zählt eine Stelle, in der der Werdegang des kühnen Forschers Dr. Fergusson beschrieben wird und in der es von ihm heißt, daß er sich gelehrten Gesellschaften stets ferngehalten hatte, „étant de l'église militante

22 Verlags=Katalog 1803 bis 1909 von A. Hartlebens's Verlag in Wien. Wien 1910, S. 121. 25 Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. Bearbeitet von Hans Fromm. Nendeln: Kraus 1981, Bd. 6, S. 210. Koschs Deutsches Literatur-Lexikon bezeichnet „Lion" als Pseudonym der 1851 in Pommern geborenen Marta von Freddi, die lange Zeit in Italien lebte und aus dem Englischen, Französischen und Italienischen übersetzte. Leider liegen weder über die Ubersetzungstätigkeit Lion-Freddis noch über ihre Verbindung zu Hartleben Informationen vor. 24 Cinq semaines en ballon. Voyages de découvertes en Afrique. Par trois Anglais. Rédigé d'après les notes du docteur Fergusson. 15e édition. Paris: J. Hetzel [1868], S. 110. Zitate aus dem französischen Original sind in der Folge dieser Ausgabe entnommen und werden im Text durch Seitenzahlen in Klammern nachgewiesen. 25 Julius Verne: Fünf Wochen im Ballon. (= Bekannte und unbekannte Welten 9) Wien, Pest, Leipzig: Hartleben 1876, S. 102. Zitate aus dieser Übersetzung werden in der Folge durch eingeklammerte Seitenzahlen im Text nachgewiesen.

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et non bavardante". (7) Die Übersetzerin tilgt die Zugehörigkeit Fergussons zur streitbaren Kirche, wenn sie schreibt, daß er sich „zu den Streitern, die mit Thaten, nicht mit Worten kämpfen", rechnete. (11) Anstelle bewußter Veränderungen und Verzerrungen, wie sie die Ubersetzung von Madame Bovary kennzeichnen, begegnet man in Fünf Wochen im Ballon vor allem einer Reihe von Flüchtigkeitsfehlern und Ungeschicklichkeiten, die belegen, daß sich die Übersetzungskultur seit den fünfziger Jahren nur unmerklich verbessert hatte. Die Nachlässigkeiten betreffen z. B. die Chronologie der Reise, die für jeden aufmerksamen Leser rätselhaft bleiben muß. In der Ubersetzung erreicht man „am 30. Mai, siebenundzwanzig Tage nach der Abreise von London", das Kap der Guten Hoffnung. (52) Im Original wird an dieser Stelle der 30. März vermerkt (55), was zwar auch nicht ganz korrekt ist, da die Abreise aus London am 21. Februar stattgefunden hat, aber noch eher überlesen werden kann als das Datum 30. Mai. Ein anderes Beispiel: Ein einziger Absatz des Originals fehlt in der Übersetzung. Es handelt sich um eine Beschreibung der Rede Fergussons vor der Königlichen Geographengesellschaft. Der einzige erdenkliche Grund für die Auslassung ist der Umstand, daß die Passage mit dem selben Wort endet wie der vorangegangene Absatz (4); die Übersetzerin scheint den Abschnitt daher einfach unabsichtlich übersprungen zu haben.26 An vielen Stellen der Übersetzung stößt man auf sorglose bzw. ungeschickte Formulierungen. Einige Beispiele: Von dem an die Vorsehung glaubenden Fergusson heißt es im Original, daß er sich eher in seine Projekte hineingestoßen als von ihnen angezogen fühle: „il se disait poussé plutôt qu'attiré dans ses voyages" (8); in der Übersetzung wird Fergusson „in seine Reisen hineingeschleudert" (11). Dick Kennedy, der Reisegefährte Fergussons, ist begeistert über den Umstand, daß sein Freund vorübergehend keine weiteren gefahrlichen Abenteuer plant. „II en fut ravi" schreibt Verne. (16) Die Übersetzerin macht daraus: „Er war in diesem Gedanken entzückt." (18) Anstelle des Verbs „frissonner" (30) setzt sie die Phrase „ihm schauderte die Haut". (31) Nachdem die Aeronauten ihren Ballon sinken lassen, um besser beobachten zu können, bemerkt Fergusson, daß sie sich nun nicht weiter über der Stadt befanden als ein Beobachter in der Kugel (boule, 240) auf der Kuppel von St. Paul's über London. In der Übersetzung

26 Die entsprechende Lücke bei Verne: Ballon (Anm. 25), S. 8.

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lautet die Stelle: „Wir sind hier nicht so weit von Kernak entfernt, als ein Mann im Knopf der St. Paulskirche es von London sein würde." (220 f.) Schließlich macht die Übersetzerin aus blutigen Füßen (pieds ensanglantés, 278) „blutrünstige". (254) Die Grenze von Ungeschicklichkeiten zu Fehlern scheint in den folgenden Beispielen überschritten. Fergussons Freund Dick Kennedy ist Schotte und wohnt in der Kleinstadt Leith, einer Art Vorort von Edinburgh, „une véritable banlieue de la ,Vieille Enfumée'". (14) Lion versteht banlieue in der älteren, aber hier durch den Zusatz „véritable" unmöglichen Bedeutung und kommt zu folgender Ubersetzung: „Er wohnte in der kleinen Stadt Leith bei Edinburgh, eine richtige Bannmeile von von [!] dem ,alten Rauchnest' entfernt." (17) Vielleicht nur für unsere Ohren ist die politisch wenig korrekte Übersetzung von „moricauds" (96) mit „mohrenfarbige Bestien" (91) auffallig. Schon die zeitgenössischen Leser von amerikanischen Pionierromanen wird aber die unerhörte Erfindung von „sechs läufigefn] Colt=Revolver[n]" (47) in ungläubiges Staunen versetzt haben, zumal Verne korrekt nur von sechs schüssigen („revolvers Colt à six coups", 50) spricht. Auch der geographisch und naturkundlich Interessierte wird von der Übersetzerin gehörig irregeführt. Beispielsweise wollen die Forscher ein den Quellen des Nils einen ,,siedende[n] Fluß" (131 - une rivière bouillonnante, 141) beobachtet haben. Allerdings bezeichnet das Adjektiv bouillonnante' hier offensichtlich ein sprudelndes und schäumendes Wildwasser. Noch erstaunlicher ist die afrikanische Vegetation. Die Übersetzung berichtet davon, daß die Reisenden „einen Wald von über dreihundert Fuß hohen Bäumen, einer Art hundertjähriger Bananen" (143), überfliegen. Im Original handelt es sich um „banians séculaires" (155), d. h. Feigenbäume, denen zum Unterschied von Bananenstauden mit Recht die genannte Höhe zugeschrieben wird. In gewissem Sinn hat Fergusson also recht, wenn er gleich darauf bemerkt: „Die Höhe dieser Bananen ist wirklich wunderbar." (144) D e m Obertitel der Verne-Ausgabe, der dem Leser verspricht, ihn in unbekannte Welten zu entführen, wird die Übersetzung jedenfalls gerecht. Werfen wir nach der Inspektion von Hartlebens Übersetzungsfabrik noch einen Blick auf die Entwicklung des österreichischen Übersetzungswesens bis etwa 1890. Herausragende Übersetzungsprojekte sind weiterhin selten. Zu nennen sind hier neben Haitiebens Jules Verne-Ausgabe lediglich einige Romane Zolas, darunter Germinal, die über die Zwischenstation Wien in

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den gesamten deutschsprachigen Raum vermittelt wurden. 27 An Verlagen ist allenfalls die von Leopold Rosner gegründete Firma hervorzuheben, die in den siebziger Jahren Wallishausser mit zahlreichen Ubersetzungen von Theaterstücken Konkurrenz machte. 28 Größere Nachfrage nach Übersetzungen als der Buchverlag entwickelten zweifellos die Zeitschriften und Zeitungen. Leider ist gerade der Sektor der Periodika noch kaum auf den Abdruck von Ubersetzungen hin untersucht. Für den Bereich der Tageszeitungen sind dennoch einige Angaben möglich. In der Morgenpost erschienen ab 1870 zahlreiche Ubersetzungen und Bearbeitungen „nach dem Englischen" und „nach fremden Motiven" von Maximiliane von Weißenthurn, einer Spezialistin für dieses Genre, die auch unter dem Pseudonym Hugo Falkner firmierte. Ahnlich brachte die wichtigste demokratische Mitstreiterin der Morgenpost, das Neue Wiener Tagblatt, in den siebziger Jahren serienweise Romane heraus, die mit der stereotypen Formel versehen waren: Aus dem Englischen frei bearbeitet von Hermine Frankenstein. Zweifel an der englischen Herkunft sind allerdings berechtigt; dagegen sprechen schon Titel wie Die Hexe aus St. Oswaldsthal. Zahlreiche Romanübersetzungen aus dem Englischen, Französischen und gelegentlich auch aus dem Russischen und Spanischen druckten das Fremdenblatt und das konservative Vaterland. Das Feuilleton der Presse enthielt, wie schon erwähnt, seit der Gründung Übersetzungen aus dem Französischen, z. B. von Dumas und Feval, später auch aus dem Englischen; hervorzuheben sind vielleicht Wilkie Collins' Die weiße Frau (1861), George Meredith' Die Prüfungen Richard FevereVs (1865), Victor Hugos Die Arbeiter des Meeres (1866) und Zolas Germinal (1885). Die Neue Freie Presse demonstrierte auch im Feuilleton Qualitätsbewußtsein. Nach einer Anfangsphase, in der sie sich auf deutsche Originalromane beschränkt hatte, erschienen seit den achtziger Jahren auch einige Übersetzungen. Auffallig ist dabei das Interesse der Redaktion am Naturalismus, der durch Alphonse 27 Vgl. dazu Karl Zieger: Die Aufnahme der Werke von Emile Zola durch die österreichische Literaturkritik der Jahrhundertwende. Bern, Frankfurt/Main, New York: P. Lang 1986 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 18: Vergleichende Literaturwissenschaft 44), und Norbert Bachleitner: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland. Amsterdam, Atlanta/GA: Rodopi 1995 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 1). 28 Vgl. Verlags=Katalog von L. Rosner in Wien. Wien 1880, und Aus den Papieren eines Wiener Verlegers 1858-1897. Hrsg. v. Friedrich Arnold Mayer. Wien, Leipzig: Braumüller 1908.

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Daudet, Edmond de Goncourt, Tolstoi, Emile Zola und Francis Bret Harte vertreten ist.29 Die teilweise Verlagerung hin zu Periodika, und besonders zu den Zeitungen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ubersetzungswesen, das in den fünfziger Jahren einigermaßen aktiv gewesen war, im letzten Drittel des Jahrhunderts verfiel. 1865 waren noch ca. 4 % aller Neuerscheinungen Ubersetzungen gewesen (62 von 1497 deutschsprachigen Titeln, davon 1169 in den Alpenländern erschienen), fast die Hälfte davon Romane (28), je ein Viertel Theaterstücke (11) sowie theologische und Erbauungsliteratur (11). Noch immer stammte der größte Teil der Ubersetzungen aus dem Französischen (48), 8 Werke kamen aus dem Italienischen, nur 5 aus dem Englischen, 2 aus dem Spanischen und 1 aus dem Schwedischen. 30 1883 erschienen unter 1999 deutschsprachigen Werken nur noch 37 Ubersetzungen, d. h. knapp 2 %, und zwar aus dem Ungarischen 13, aus dem Französischen 6, aus dem Englischen 4 (zieht man die in der Monarchie vertretenen und die toten Sprachen ab, bleiben nur 17 Übersetzungen übrig, d. i. weniger als 1 %).31 1899 kommt man gerade noch auf diesen Prozentsatz, wenn man alle Ubersetzungen zusammenzählt (27 von 2100 Neuerscheinungen in deutscher Sprache, davon 9 aus dem Französischen und 7 aus dem Englischen.)32 Von einem signifikanten Knick in der Ubersetzungsstatistik kann bei den ohnehin sehr kleinen jährlichen Produktionszahlen wohl keine Rede sein. Hartlebens Lesecabinet schleppte sich in den siebziger Jahren schlecht und recht dahin, ehe es 1879 endgültig eingestellt wurde, übrigens im Zusammenhang mit einer drastischen Einschränkung der Belletristik im Programm des Verlags.33 Die Gründe für die Schwäche auf dem Sektor der Übersetzungen sind zum Teil in der Entwicklung des internationalen Urheberrechts zu suchen. Nach einer europäischen Pioniertat, dem Abkommen mit Sardinien und einigen anderen italienischen Staaten im Jahr 1840,

29 30 51 32

Die Titel sind bei Bachleitner, Quellen (Anm. 1), S. 105-108, verzeichnet. Nach einer Auswertung des Oesterreichischen Catalogs (Wien 1866). Vgl. Ernst Mischler: Die Literaturstatistik in Oesterreich. Wien: Holder 1886, S. 22. Vgl. Carl Junker: Die Berner Convention zum Schutze der Werke der Litteratur und Kunst und Österreich-Ungarn. Wien: Holder 1900, S. 85. 35 1857 hatte der Anteil noch 45 % betragen, davon der größte Teil Übersetzungen; vgl. Martin Bruny: Die Verlagsbuchhandlung A. Hartleben. Eine Monographie. Diplomarbeit Wien 1995, S. 97.

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folgte nämlich 1866 ein Vertrag mit Frankreich, der den Verfassern bzw. Verlegern der Originale das Recht zur Vergabe von autorisierten Ubersetzungen einräumte und in diesem Fall weitere Übersetzungen verbot. Wie bedeutungsvoll dieser Vertrag für den Buchhandel war, zeigt der Fall Hartlebens, der 1866, also knapp vor Abschluß des Abkommens, die Rechte der Ubersetzung von Hugos Travaiüeurs de Ja mer von Otto Janke für Österreich erworben hatte und mit seiner Klage gegen die Presse, die eine eigene Übersetzung abzudrucken begann, abgewiesen wurde. 34 Sicherte der Vertrag und die darauf beruhende Autorisation einer Übersetzung das Monopol im Zielland, so verteuerte er andererseits die Produktion einer Übersetzung. Die Übersetzungsfabriken wurden in den sechziger Jahren durch solche internationalen Verträge stillgelegt, ob sich die Qualität der Übersetzungen dadurch ebenfalls besserte, blieb allerdings umstritten. Zumindest waren der Monopolübersetzer und sein Verleger nun gegen unerwünschte Konkurrenz geschützt, und die Mehrkosten für die Abgeltung der Rechte konnten sie zumindest theoretisch durch größeren Absatz wettmachen. Allerdings nur zehn Jahre lang. Denn auch in Deutschland waren in Österreich hergestellte Übersetzungen nach 10 Jahren frei. Dies mußte Hartleben im Zusammenhang mit seinen seit 1873 produzierten autorisierten Jules Verne-Übersetzungen, die er dem Originalverleger aufgrund des Vertrags mit Frankreich mit 100.000 Francs abgegolten hatte, zur Kenntnis nehmen, als der Leipziger Verleger Unflad 1887 begann, billige Neuausgaben herzustellen, und ihm damit auch in Österreich Konkurrenz machte.35 Daß Hartleben mit seinem Lesecabinet in der Regel aber nicht nur den österreichischen Markt im Auge hatte, zeigt, daß er bereits vor dem Vertrag zwischen Österreich und Frankreich freiwillig autorisierte Ausgaben herausbrachte. Dies war wohl eine Folge des Drucks der Abkommen, die Frankreich nach und nach mit den deutschen Staaten geschlossen hatte (besonders mit Sachsen 1856). Wollte er sich auch den deutschen Markt sichern, so war eine autorisierte Ausgabe nötig, da ihm andernfalls wohl ein deutscher Verleger in die Quere gekommen wäre. Auch für Monopolisten war mit Übersetzungen aber seit den siebziger Jahren offensichtlich kein großer Staat mehr zu machen. Im letzten Drittel des Jahrhunderts, und noch mehr in den Jahren vor dem Weltkrieg, verengte sich der Horizont 34 Vgl. Oesterreichische Buchhändlei=Correspondenz 7 (1866), Nr. 12,20. April, S. 96-97. 55 Vgl. Schutz dem österreichischen Verlage! In: Oesterreichische Buchhändlei=Correspondenz 28 (1887), Nr. 8, 19. Februar, S. 94-9S u. Nr. 10, 5. März, S. 121.

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der Verleger und des Publikums zusehends auf die einheimische Literatur. So ging die Produktion von Ubersetzungen auch in Deutschland drastisch zurück. War ein Vertrag wie der zwischen Frankreich und Osterreich nicht unmittelbar förderlich fur das Ubersetzungswesen, weil er kapitalstarke Verlage begünstigte, so wirkte sich andererseits die Abkopplung von der internationalen Entwicklung, die das Desinteresse der österreichischen Regierung an Verträgen mit anderen Staaten und vor allem ihre Weigerung, der Berner Konvention beizutreten, mit sich brachte, noch fataler aus. Denn die Berner Konvention führte zu asymmetrischen Verhältnissen zwischen Nichtmitgliedern und den Signatarstaaten, darunter Deutschland, in denen Ubersetzungen weit umfassender geschützt waren. Osterreichische Verleger konnten sich daher folgerichtig nur selten zu einer größer angelegten Ubersetzung ausländischer Autoren entschließen. Mangel an Kapital und/oder Risikobereitschaft mag eine gewisse Rolle gespielt haben; tatsächlich aber war das Risiko, das sie eingingen, wenn sie sich an der Lizitation um eine autorisierte Ubersetzung beteiligten, höher, weil sie im Vergleich zum Gebiet der Berner Konvention geringeren Schutz gegen Konkurrenzübersetzungen genossen. Unautorisierte Ubersetzungen aus Ländern, mit denen kein spezieller Vertrag bestand, waren zwar rechtlich möglich, sie blieben aber aus dem Vertragsgebiet der Berner Konvention ausgeschlossen und daher auf einen zu kleinen Markt angewiesen, zumal sich die Reichweite von Ubersetzungen ins Deutsche angesichts der nationalistischen Tendenzen innerhalb der Monarchie verringerte. In den übrigen Fällen mußte zunächst die vereinbarte Frist abgewartet werden, innerhalb der dem Autor das Recht zustand, eine autorisierte Übersetzung zu vergeben; kam eine solche anderswo zustande, verlängerte sich die Wartezeit um weitere fünf Jahre. In den meisten Fällen war eine Übersetzung mit derartiger Verzögerung nicht mehr attraktiv. Zum Komplex der nationalistischen Tendenzen innerhalb der Monarchie und ihren Auswirkungen auf das Übersetzungswesen ist daran zu erinnern, daß das Deutsche sowohl als Verkehrs- wie auch als Übersetzungssprache zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurde: „Es ist eine unleugbare und offenkundige Thatsache, daß der Markt für deutsche Literatur in Ungarn von Jahr zu Jahr abnimmt", stellten die Budapester Buchhändler Gebrüder Rêvai 1885 mit Befriedigung fest.36 Und sie beschlossen zusätzlich, 56 Nationaler Buchhandel. In: Oesterreichische Buchhändlei=Correspondenz 24 (1885), Nr. 25, 25. Juni, S. 249-250, Zit. S. 249.

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„die für unser Vaterland so gefährlich gewordene Bevormundung seitens deutscher Culturvermittlung durch Einbürgerung französischer Literatur und französischen Geistes zu paralysiren." 37 In einem Circular wandten sie sich an französische Verleger und versuchten direkte Verbindungen anzuknüpfen, um ihren Kunden mit den Originalen Ersatz für die leichter erreichbaren Wiener Ubersetzungen liefern zu können. Die Bestrebungen der Gebrüder Rêvai sind wohl repräsentativ für die steigende Abneigung gegen deutsche Übersetzungen bei den einzelnen Nationen der Monarchie. Der einzige Ausweg für die österreichischen Verlage aus dieser Situation wären wohl originelle Schweipunkte in Bezug auf die übersetzten Werke gewesen, z. B. der Versuch, Ubersetzungen aus den Sprachen der Monarchie für den deutschsprachigen Markt herzustellen. Es mag sein, daß dieser Versuch mangels Nachfrage mißlungen wäre. In der Konkurrenz um die Vermittlung der gängigen, in Deutschland ohnehin zur Genüge repräsentierten Literaturen, allen voran der französischen und in zweiter Linie der englischen, mußten sie jedenfalls unterliegen. Auf der Suche nach den Gründen fur die nur spärliche Ubersetzungsproduktion stößt man also letztlich auf die bekannten strukturellen Schwächen des österreichischen Verlagswesens. Der Rückstand in der zwischenstaatlichen Urhebergesetzgebung ist bestenfalls ein Steinchen im Mosaik, er scheint eher Symptom als bestimmende Ursache. Diesen Eindruck erhärtet ein Blick auf die gegenwärtige Situation. Die urheberrechtliche Lage hat sich seit dem 19. Jahrhundert entscheidend verändert, die geschilderten Probleme des österreichischen Verlagswesens gegenüber dem übermächtigen deutschen, auch was Ubersetzungen anbelangt, sind nach wie vor virulent.

57 Nationaler Buchhandel. In: Oesterreichische Buchhändlei=Correspondenz 24 (1883), Nr. 24, 16. Juni, S. 238-239, Zit. S. 238.

Kai Kaufirnann

„Narren der modernen Kultur" Zur Entwicklung der Wochenplauderei im Wiener Feuilleton 1848-1890

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Literaturwissenschaft im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs verstärkt der Feuilleton-Forschung zugewendet. D a sich aber gleichzeitig die Publizistikwissenschaft auf ihrem Weg zur Kommunikationswissenschaft aus diesem Bereich verabschiedet hat, fehlt uns ein zuverlässiges Grundwissen. Denn die älteren Arbeiten der Publizistikwissenschaft informieren nur höchst unzureichend über die jeweiligen Offentlichkeits- und Presseverhältnisse, Medientypen und Zeitungs- bzw. Zeitschriftentitel, Textsorten und Artikelschreiber. Diese Diagnose betrifft insbesondere auch die Forschungslage in Wien. Man verlasse sich auf keine der vielen publizistikwissenschaftlichen Dissertationen über die Wiener Presse, die in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren entstanden sind! Und man vertraue deshalb auch nicht blindlings auf ihr Destillat, das Handbuch der österreichischen Pressegeschichte 1848-1959 von Kurt Paupie! Es ist zu hoffen, daß die Dokumentation der Wiener Tageszeitungen zwischen 1848 und 1945, die von Gabriele Melischek und Josef Seethaler vorbereitet wird, einen Neuanfang markiert. 1 Vor einiger Zeit hat Georg Jäger ein Programm für die literaturwissenschaftliche Feuilleton-Forschung entworfen, bei dem quantitative und qualitative Untersuchungmethoden kombiniert werden. Nach seinem Vorschlag sollte sich die „Auswertung auf leicht abgrenzbare Teile der Zeitung (Rubriken, ,unter dem Strich', Beilagen)" oder/und „auf definierte, für den Bearbeiter leicht erkennbare Textsorten (etwa Buch-, Theater- etc. Kritiken, Roman)" richten. 2 Bei meiner eigenen Beschäftigung mit den Wiener Unterhaltungszeitungen vor und den Wiener Tageszeitungen nach 1848 habe

1 Vgl. Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Gabriele Melischek u. Josef Seethaler. Bisher erschienen: Bd. 3: 1918-1938, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1992. 2 Georg Jäger: Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle. Probleme und

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ich allerdings erfahren müssen, daß sich sowohl die Zeitungsteile wie auch die Textsorten häufig nur schwer gegeneinander abgrenzen lassen. Und deshalb bin ich äußerst skeptisch gegenüber allen rein quantitativen Untersuchungen, die - meist ohne Angabe von Abgrenzungskriterien - statistische Vollständigkeit und Genauigkeit beanspruchen. Gleichwohl sind quantitative Analysen, wenn ihre Ergebnisse mit Vorsicht bewertet und verwendet werden, eine unverzichtbare Voraussetzung für die qualitative Interpretation von Texteinheiten, auf die es uns Literaturwissenschaftlern letztlich ankommen muß. Dabei sollte sich die qualitative Interpretation - in diesem Punkt stimme ich mit Georg Jäger überein - primär auf Textsorten und nicht auf einzelne Autoren richten. Denn meiner Erfahrung nach gehorchen gerade die „feuilletonistischen Diskurse" festen Mustern, die sich zum Teil aus der inneren Logik des Schreibverfahrens (z. B. Ironie, Satire), zum Teil aus den äußeren Bedingungen des Schreibumfelds (z. B. Publikum, Zensur) ergeben. Nur wer diese Muster kennt, kann anhand von Abweichungen und Durchbrechungen die Besonderheit einzelner Autoren erfassen. Aus diesem Grund werde ich mich im folgenden auf eine bestimmte Textsorte des Wiener Feuilletons konzentrieren.3 Ich habe die Textsorte der Wiener Wochenplauderei gewählt, weil sie mir am besten geeignet zu sein scheint, um die Wechselbeziehungen zwischen literarischer Form, publizistischem Medium und gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu analysieren. Denn zum einen steht die Wochenplauderei „unter dem Strich" in dem engsten Verhältnis mit den Artikeln „über dem Strich" der Zeitung, insofern sie das dort gelieferte Nachrichten- und Meinungsmaterial auf eine höchst subjektive Weise wiederverwertet; zum anderen hat die Wochenplauderei die Aufgabe, das gesamte öffentliche Leben - zumindest in der Stadt - ironisch oder satirisch widerzuspiegeln und kritisch zu reflektieren. In dem letzten Satz steckt bereits die Grundthese oder, wenn man so will, das Resumé meines Aufsatzes. Die Anfänge der Wiener Wochenplauderei liegen in den biedermeierlichen Unterhaltungszeitungen. 4 Hier tauchen nach 1820 Rubriken auf, die z.

Perspektiven seiner Erschließung. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hrsg. v. Wolfgang Martens. Weinheim 1988, S. 62. 5 Zum Wiener Feuilleton überhaupt vgl. Hubert Lengauer: Das Wiener Feuilleton im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. In: Lenau-Forum, Jg. 9/10 (1977/1978), S. 60-77. 4 Vgl. dazu ausfuhrlich Kai Kaufimann: „Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien/Köln/Weimar 1994, bes. S. 315-349.

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B. Briefe über Wien (Theaterzeitung 1820), Öffentliches Leben in Wien oder Der Spaziergänger [...] bzw. Der Beobachter in den Straßen und Umgebungen Wiens (beide im Oesterreichischen Zuschauer 1836 ff.) betitelt sind. Es handelt sich um mehr oder weniger periodisch erscheinende Rubriken, in denen in locker zusammenhängender Form von den Ereignissen in Wien berichtet wird. Charakterischerweise sollen diese Wiener Lokalkorrespondenzen oder -chroniken das ganze Spektrum des öffentlichen Gesellschaftslebens abdecken. So behauptet die Wiener Theaterzeitung über die Briefe über Wien: Unter diesem Titel werden den Lesern von Tag zu Tag die interessantesten und wissenswerthesten Gegenstände, welche auf Kunst, Literatur und geselliges Leben Bezug haben, mitgetheilt. [...] Am willkommensten sind Anekdoten des Tages, Begebenheiten, Vorfälle, lustige und tragische Ereignisse, Beschreibungen von Volks- und Bürgerfesten, Erfindungen, Entdeckungen, Moden, Trachten, Anzeigen von der Ankunft und Abreise berühmter Personen, Sterbefalle, Leichenbegängnisse etc., kurz Gegenstände, welche die gebildete Welt unmittelbar angehen und welche zur Belehrung, Aufheiterung und Bekanntmachung geeignet sind. 5

Man muß allerdings feststellen, daß sich derartige Sammelrubriken nur dort dauerhaft durchsetzen, wo sie nicht in Konkurrenz mit Spezialrubriken stehen, etwa mit Lokalnotizen oder Theater-, Kunst- und Konzertkritiken. Erst als die Lokalkorrespondenzen unter dem Einfluß der französischen Chronique einen eigenen Stil entwickeln, nämlich den witzigen Stil der Causerie, der Plauderei, können sie sich neben dieser Konkurrenz behaupten. Mitte der vierziger Jahre erscheinen in den Wiener Unterhaltungszeitungen die ersten Rubriken, die man als Wiener Wochenplaudereien im moderneren Sinn bezeichnen kann. Das beste Beispiel ist dafür der Wochen-Courir der Theaterzeitung aus dem Jahre 1847, den der Verfasser Heinrich Adami mit den Worten ankündigt: Meine Mitwirkung [an der Theaterzeitung, K.K.] wird künftig darin bestehen, regelmäßig an jedem Samstage einen Wochen-Courir zu bringen, nach Art der Feuilletons in den großen Pariser-Blättern, worin alles Interessante der Woche besprochen werden soll [.. .].6 5 Wiener Theaterzeitung, Jg. 1820, Nr. 45 (8.4.), S. 171. 6 Wiener Theaterzeitung, Jg. 1847, Nr. 82 (6. 4.), S. 326.

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Hier fallt auch das Stichwort „Feuilleton", womit an dieser Stelle die Textsorte der Wochenplauderei oder -chronik gemeint ist, und nicht der Zeitungsteil „unter dem Strich", der schon damals den Titel „Feuilleton" zu tragen pflegt. Adamis Gebrauch des Wortes erscheint insofern richtig, als die Wochenplauderei diejenige Textsorte ist, die den Kern des Feuilletons, diesmal verstanden als Zeitungsteil „unter dem Strich", ausmacht. Die Wochenplauderei kann deswegen unter bestimmten Aspekten als pars pro toto für das Feuilleton überhaupt gelten. Das stimmt auch für viele der Wiener Tageszeitungen seit 1848.7 Als die erste Nummer der Wiener Presse am 3. Juli 1848 erscheint, eröffnet Hieronymus Lorm - d. i. Heinrich Landesmann (1821-1902) - das „Feuilleton" unter dem Strich bezeichnenderweise mit einer Wochen-Chronik, in der er, wiederum bezeichnend, die Aufgabe dieser Textsorte mit dem „Beruf des Feuilleton's" - so die Überschrift des Artikels - ineinssetzt. Lorm erklärt programmatisch: Wir wollen eine Uebersicht der historischen Ereignisse dieser Woche, jedoch hauptsächlich nur wie sie sich im Localleben Wiens spiegeln, dem Leser vorführen [...]. [...] Während die Zeitung ihre größere Hälfte der Beleuchtung der Massenwirksamkeit widmen muß, die augenblicklich im Vordergrund der Geschichte steht, bezieht das Individuum mit seinen Theorien, Gedanken und stillen Träumen den Raum des Feuilletons, und füllt diesen scheinbar untergeordneten Theil des Tagesberichtes mit den individuellen Erscheinungen der Kunst, der Literatur und der philosophischen Betrachtung aus.8

Was an Lorms Artikel am meisten interessiert, das ist die klare Grenzziehung zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Zeitung. Sie scheint vor allem über die Zuweisung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche oben Politik, unten Kunst, Literatur, Philosophie zu erfolgen, doch tatsächlich wird auch Lorms Feuilleton von den Fragen der Politik beherrscht. Die eigentliche Differenz ergibt sich aus der Verschiebimg der Betrachterstandpunkte bzw. -perspektiven: Oben wird im Namen der Allgemeinheit, der Masse, gesprochen, unten im Namen des Individuums. Lorm hat diese Abgrenzung mehrfach bestätigt:

7 Vgl. Kaufimann (Anm. 4), S. 433-441. 8 Presse, Jg. 1848, Nr. 1 (5. 7.), S. 1.

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Der Verfasser dieser Zeilen stimmt nicht immer mit den Ansichten überein, die im politischen Theil dieses Blattes dargelegt und des Breitern entwickelt werden, seine unbedeutenden Feuilleton-Artikel erhalten sich in ihrer Anspruchslosigkeit die vollständigste Unabhängigkeit vom Oberhaus der ,Presse'. Er wählt darum in diesem Blatte das Feuilleton zu seinem Wirkungskreis, weil dieses dem Individuum vergönnt sich auszusprechen, während das politische Organ mehr oder minder das der Allgemeinheit sein muß. Was er hier sagt, das sagt er in und mit seinem Namen allein, nicht aber im Namen einer Clique, einer Coterie, einer Partei.9 Wieder an einer anderen Stelle heißt es, Goethes und Freiligraths bekannte Worte über den Dichter variierend, der Feuilletonist stehe „über den Parteien, - er darf allen die Wahrheit sagen. Er ist sogar der Hofharr des souveränen Volks, und darf somit selbst diesem, dem eitelsten und verletzbarsten aller Souveräne, frei und ungescheut seine Meinung sagen." 10 Daß Lorm derart massiv auf den Rechten des Individuums insistiert, hängt mit der speziellen Situation des Revolutionsjahres 1848 zusammen, in der das gebildete Bürgertum einerseits für die Souveränität des Volkes eintritt, sich aber andererseits vor der Überwältigung durch die Massen des Pöbels fürchtet. Lorms scharfe Grenzziehung zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Zeitung entspricht also dem zwiespältigen Bewußtsein des gebildeten Bürgertums, das die Leserschaft der liberalen Presse stellt. In abgeschwächter Form behält sie jedoch auch nach dem Ende der Revolutionszeit, d. h. in der Zeit des Neoabsolutismus, Gültigkeit. Das Feuilleton - und hier besonders die Wochenplauderei - bleibt der Ort, an dem das Individuum seine eigene, subjektive Meinung und Kritik ausdrücken kann, wobei dieser Freiraum allerdings zum einen durch die Gattungsmuster, zum anderen durch die Zensurbestimmungen limitiert ist. Dementsprechend erklärt ein Feuilletonist der Ost-Deutschen Post im Jahre 1850: Die Völker haben sich das Feuilleton erfunden, um unten zu hören, was man ihnen oben nicht sagen darf. Wenn der Korrespondent von der Donau oben schweigt, macht unten der Schneemann den Mund auf. Die Völker haben das Feuilleton auch erfunden, um, wenn sie oben hören, was sie unten thun sollen, unten zu thun, was sie wollen. [...] Oben [...] streicht der besorgte Ge9 Presse, Jg. 1848, Nr. 36 (8. 8.), S. 141. 10 Presse, Jg. 1848, Nr. 65 (10. 9.).

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rant den allzukühnen Witz, und unten lugt er unter Blumen und Korallen wieder hervor, lacht und verschwindet, ehe man ihn fassen konnte. Dafür erfand man das Feuilleton, da sich zwei Hälften des Jahrhunderts schieden und die Censur verboten, die Preßfreiheit aber noch nicht erlaubt war.11

Lorm hat mit Recht bemerkt, daß der Feuilletonist dem Hofnarren gleicht, insofern beide das Geschehen in manifest unterhaltsamer, aber latent kritischer Weise kommentieren. So hat auch Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches die Feuilletonisten als die „Narren der modernen Kultur" bezeichnet, denen er, Nietzsche, freilich keine unabhängige Position und damit auch keine kritische Funktion zubilligen wollte. 12 Die Textsorte der Wochenplauderei ist nicht immer und überall, aber doch sehr häufig in den Wiener Tageszeitungen nach 1848 anzutreffen. Viele der Wiener Feuilletonisten haben jahrelang Wochenplaudereien geschrieben und sich damit nicht nur ein regelmäßiges Einkommen verschafft, sondern auch einen bekannten Namen gemacht, der sie für andere Tätigkeiten empfahl. So stieg Friedrich Uhl vom Wochenplauderer der liberalen Presse zum Chefredakteur der offiziösen Wiener Zeitung auf. Von den bekannteren Wochenplauderern sind neben Hieronymus Lorm und Friedrich Uhl noch Eduard Mauthner, Michael Klapp, Sigmund Schlesinger und Daniel Spitzer zu nennen. Wer die Wochenplaudereien verschiedener Autoren in den Wiener Tageszeitungen zwischen 1848 und 1890 verfolgt und sie miteinander vergleicht, erkennt, daß sie eine gemeinsame Entwicklung durchmachen, die ganz offensichtlich mit den Veränderungen der staats- und pressepolitischen Verhältnisse in Österreich zusammenhängt. (Die Beziehungen zwischen literarisch-publizistischem Text und politischem Kontext sind so eng, daß eine politische Veränderung - etwa die Bestellung der Regierung Schmerling oder die Inkraftsetzung der Februar-Verfassung - , von der im oberen Teil der Zeitung berichtet wird, im unteren Teil zu einer sofortigen Veränderung des Stoffes und des Stiles führen kann.) Ich

11 Ost-Deutsche Post, Jg. 1850, Nr. 7 (9. 1.). 12 Friedrich Nietzsche: Werke. Hrsg. v. Karl Schlechta. München/Wien 51966, Bd. 1, S. 564: „Die Narren der mittelalterlichen Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist dieselbe Gattung Menschen, halbvemünfüg, witzig, übertrieben, albem, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang großer Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der Fürsten und Adligen, jetzt im Dienste von Parteien [...]•"

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möchte im folgenden diese Entwicklung der Wiener Wochenplauderei am Beispiel von Friedrich Uhl, Sigmund Schlesinger und Daniel Spitzer skizzieren. Nachdem die Wochenplauderei im Revolutionsjahr 1848 vor allem politische Themen behandelte hatte, sieht sie sich in der Zeit des Neoabsolutismus durch die ständig verschärfte Pressezensur auf den Stoffbereich des öffentlichen Gesellschaftsleben in Wien zurückverwiesen. Den Wochenplauderern bleibt nicht viel anderes übrig, als über Theater-, Opern- und Konzertaufführungen, Bälle, Feste und Praterfahrten zu schreiben. Gleichwohl versuchen sie, auf verdeckte Weise politische Kritik zu üben. Friedrich Uhl (1825-1906), der seit Mitte der fünfziger Jahre verantwortlicher Feuilleton-Redakteur der Presse war und als solcher zwischen 1857 und 1861 die Kleine Wiener Chronik verfaßte (die er in anderen Blättern, dem Botschafter und der Neuen Freien Presse, bis 1866 fortsetzte), erinnert sich in seinen Memoiren: „Man lernte damals die Umwege des Schreibens, das Schleierlegen über die Sprache. Dem Publikum wurde das Lesen zwischen den Zeilen, die Sprache der Punkte, der Pausen, der abgebrochenen Sätze, die Ironie des Titels eines Artikels, kurz all die Behelfe eines bedrängten, zur kleinen Erfindung genötigten Geistes gelehrt, Behelfe, die der Leser in Zeiten unwirscher Bevormundung rascher und aufmerksamer, als man glauben sollte, sich anzueignen pflegt." 13 Die Wochenplauderer entwickeln also bestimmte Schreibstrategien, mit denen sie die Zensurhindernisse umgehen. Besonders gern berichtet man über das Wetter, denn dadurch kann man zum einen auf die Beschränkungen der eigenen Redefreiheit hinweisen und zum anderen, trotz diesen Beschränkungen, gleichnishaft die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse kennzeichen. Berichtet der Feuilletonist über den eisigen Winter, dann beklagt er das verödete Gesellschaftsklima in der neoabsolutistischen Zeit, schreibt er über die ersten Sendboten des Frühlings oder Sommers, dann hofft er auf das Herannahen einer liberalen Ära. Beispielsweise heißt es in Uhls Wiener Chronik vom 1. April 1860: Um nur wieder vom Wetter zu sprechen - wir haben gute Gründe, warum wir so fleißig vom Wetter sprechen - was war dieser März für ein Heuchler! Er ließ sich Friihlingsmonat nennen und vereinte das Unangenehme des Winters

13 Friedrich Uhl: Aus meinem Leben. Stuttgart/Berlin 1908, S. 161.

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und Herbstes. Wer ihn vor einigen Tagen durch helle Glasscheiben betrachtete, [...] der mußte glauben, es sei das herrlichste Wetter. Er eilte im Frühlingskleide fort, kehrte aber rasch zurück! [...] Ja, die Annexion der schlechteren Jahreszeit an die bessere geht weit weniger leicht, als so manche politisch-gouvernementale.14 Im letzten Satz spielt das Wort „Annexion" auf die Annexion Savoyens durch Frankreich an, von der im oberen Teil derselben Zeitungsnummer berichtet wird. Der Einschmuggeln solcher Begriffe ist ein Mittel, direkte Bezüge auf das politische Tagesgeschehen herzustellen. Als im November 1858 eine neue Währung eingeführt wird, über die aber nicht öffentlich diskutiert werden darf, macht Uhl zweideutige Bemerkungen über eine „neue Währung-Polka", wobei er den teilweise gesperrt gesetzten Begriff im weiteren Text mehrfach wiederholt: Die neue Währung-Polka [...] und die neuen Wahlen - zu den bevorstehenden Gesellschaftsbällen hielten die Bevölkerung unserer winterlich erkälteten, verschnupften Stadt und die Journale, welche der Spiegel der Zeit sind, während der letzten Tage vorzugsweise in Athem. Leben wir doch in dem Zeitalter, das, wie keines, reich ist an Thaten des erfindenden Geistes, folglich muß man auf jedem Gebiete, auch auf dem des Carnevals, etwas Neues ersinnen [...]. Zwar ist dies Erfinden jetzt in Wien, wo, wie gesagt, Alles verschnupft ist, wo Alles niest, und man fast fortwährend Einen zum Andern sagen hört: ,Helf Gott', etwas schwierig, indessen es geht doch, wenn man den Humor nicht verliert. Und diesen verliert heute kein Vernünftiger. [...] Der Humor ist das Rettungsboot, das Einen nie untergehen läßt, und wäre man selbst Feuilletonist.15 Im Vergleich zum Einschmuggeln tagespolitischer Begriffe ist die leitmotivische Verwendung von Dichterworten, Operettenmelodien und Gassenparolen wie „Heiterer, immer heiterer!", „Red' nichts, Pereies!"16 oder „Ob'st hergehst!"17 weniger direkt, doch kann dieses Mittel bestens eingesetzt werden, um die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Wien und Osterreich zu karikieren. Ein geschickter Feuilletonist vom Schlage Uhls verfugt 14 15 16 17

Presse, Jg. 1860, Nr. 92 (1. 4.). Presse, Jg. 1858, Nr. 262 (14. 11.). Vgl. Presse, Jg. 1859, Nr. 321 (11. 12.). Vgl. Presse, Jg. 1861, Nr. 274 (6. 10.).

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über ein großes Repertoire von derartigen Kunstgriffen, über deren Anwendbarkeit freilich stilistische Kriterien mindestens ebenso entscheiden wie gesellschaftspolitische Intentionen und Restriktionen. Sie müssen zum Gattungscharakter der Wochenplauderei passen, der vor allem dadurch bestimmt ist, daß die Wochenplauderei digressiv von einem Gegenstand zum anderen springt und dabei jedes Thema nur ironisch berührt. Negativ formuliert: Die Wochenplauderei darf nicht bei einem einzigen Gegenstand verweilen und ihn ernsthaft abhandeln. Der Feuilletonist, dieser „Narr der modernen Kultur", hat sich stets seine Leichtigkeit und seinen Humor zu bewahren - und sei es, wie Uhl wiederholt anklingen läßt, auch nur zum Schein: Z u j e n e n P e r s o n e n , d i e bei A u s ü b u n g ihres G e w e r b e s unausstehlich sind, w e n n sie anfangen, melancholisch zu w e r d e n u n d uns ihre L e i d e n zu klagen, gehören auch die lustigen Räthe des Publicums in den Journalen, die Feuilletonisten. Vor d i e s e m Unglücke m ö g e uns die h ü p f e n d e M u s e der G a m i n e r i e bewahren, und wir wollen, so l a n g e noch eine Schelle auf unserer zweizackigen M ü t z e erklingt, ein Stäbchen u n s e r e r Pritsche - für uns das, w a s die Fasces für die Lictoren w a r e n - noch ungebrochen ist, vergnügt thun, w e n n wir es auch nicht sind. [...] E s handelt sich j e d o c h bei u n s nicht d a r u m , ob wir in d i e s e r Zeit vergnügt, fröhlich, heiter u n d lustig sein können-, wir müssen

lachen und w o m ö g l i c h

lächeln m a c h e n ; also seien wir lustig. 1 8

Andernfalls verstößt der Feuilletonist gegen die „Gattungsgesetze" der Wochenplauderei, über deren Einhaltung die Zeitungsredaktion und das Lesepublikum wachen. Und möglicherweise sind diese Gattungsgesetze sogar strenger als die Zensurgesetze, deren Befolgung durch die staatlichen Behörden kontrolliert wird. Für den Historiker stellt sich sowieso die Frage, wie harmlos bzw. gefahrlich die ironischen Versteckspiele mit Worten in der Zeit des Neoabsolutismus gewesen sind. Friedrich Uhl selbst scheint in seiner rückblickenden Bewertung geschwankt zu haben.19 Für mich sieht es so aus, als hätten 18 Presse, Jg. 1858, Nr. 267 (21. 11.). 19 So schreibt Uhl in der Presse, Jg. 1861, Nr. 6 (6. 1.): „Es gab eine Zeit, und sie ist noch nicht gar so lange verflossen, während welcher das Wetter eine große Rolle in unserer Chronik spielte. Ueber gutes oder schlechtes Wetter debattirte man damals mit demselben

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die Feuilletonisten eine größere Narrenfreiheit besessen, als man aufgrund der scharfen Zensurbestimmungen erwarten würde. Es gibt sogar einzelne Gegenstandsbereiche, in denen offene Meinungsäußerungen von den Obrigkeiten geduldet, wenn nicht von interessierten Regierungs- oder Hofkreisen gefördert werden. (Es wird überhaupt viel zu wenig beachtet, daß die Pressezensur nur die eine, formelle Seite, die Pressemanipulation die andere, informelle Seite der Presselenkung im Neoabsolutismus gewesen ist.) Selbst in der Zeit der härtesten Pressekontrolle bleibt ein gewisser Freiraum im Bereich der Wiener Lokalpolitik erhalten, ein Freiraum, der sich nach der schrittweisen Lockerung der Kontrolle auf andere Felder der Politik erweitert. So können schon Mitte der fünfziger Jahre verschiedene Wochenplauderer die Stadterweiterung fordern. Und als diese Ende 1857 vom Kaiser beschlossen wird, können sie auch die Baupläne kritisch diskutieren. Freilich ist es erst nach der Preßnovelle vom 27. November 1859 möglich, daß jemand wie Friedrich Uhl die Politik des Wiener Gemeinderats direkt angreift. Da die Preßnovelle jedoch untersagt, „[¡jemanden in seiner gesellschaftlichen oder öffentlichen Stellung zu kränken oder lächerlich zu machen, oder die Regierung, eine öffentliche Behörde oder das Amtsansehen eines einzelnen Organes blosszustellen",20 bleibt es auch weiterhin unmöglich, Namen zu nennen. Diese Grenze wird von Uhl in seiner Wiener Chronik vom 18. November 1860 gewissermaßen „umschrieben": Ganz Wien versinkt jetzt im Rothe. Wenn man es nach Jahrtausenden wieder ausgraben sollte, wird es heißen: ,Das sind die Reste von Wien, welches im Jahre 1860 unter der gemeinderäthlichen Herrschaft: - folgen die Namen, Ernste, wie heute über das Schicksal Oesterreichs. [...] Uns boten die ziehenden Wolken, die kalten frostigen Tage, die keimenden Pflanzen und die fallenden Blätter Gelegenheit zu politischen Anspielungen, und wenn wir einmal das zu jener Zeit gefährliche Wort: ,Endlich muß es Frühling werden!' wagten, so warteten wir mit Spannung bis zwei Uhr Nacht und länger, um zu sehen, ob auf dem von der Behörde durchgesehenen Blatte die gefährliche Stelle roth angestrichen war, was bedeutete: ,Diese Stelle muß entfernt werden, sonst wird die Nummer confiscirt.' Und trotzdem gab es keine Censur! Blieb nun eine solche Stelle stehen, z. B. als es strenge verboten war, von der neuen Währung zu sprechen, und wir über eine damals erschienene Neuwährungs-Po/Äa ungestraft berichteten, so schritten wir stolz einher, in dem Bewußtsein, wieder ein wenig an dem Gebäude des starren Systems gerüttelt zu haben! Man wurde unter dem kindischen Regimente selbst zum Kinde." Vgl. auch Uhl (Anm. 13), S. 161 f. 20 Zit. nach Johann Winckler: Die periodische Presse Oesterreichs. Eine historisch-statistische Studie. Wien 1875, S. 97.

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welche wir aber leider nicht angeben können, da sie sich durch nichts einen Namen gemacht haben - im Rothe ertrunken ist. [...]' Aber was die Zukunft sagen wird, interessirt den Gemeinderath Wiens wahrscheinlich ebensowenig, als was die Gegenwart spricht.21

Als Anton von Schmerling im Dezember 1860 die Regierungsgewalt übernimmt und im Februar 1861 eine liberale Staatsverfassung in Kraft tritt, die jedenfalls im Prinzip die Freiheit der Presse garantiert,22 kommt es auch zu einer entscheidenden Veränderung der Wochenplauderei. Von nun an beanspruchen die Feuilletonisten nicht nur das Recht, die Sitzungen der Parlamente zu kommentieren, sie nehmen sich auch die Freiheit heraus, Personen aller Gesellschafts- und Offentlichkeitbereiche beim Namen zu nennen. Uhl führt diese Freiheit genüßlich vor, wenn er in der Presse vom 16. Juni 1861 schreibt: Wir lieben das öffentliche Leben, unsere Seele hängt ein der Entwicklung der consütuüonellen Einrichtungen [...]; aber alles hat seine Zeit, und es nicht gut, im Hochsommer in Wien zu sein. Wir sagen daher aufrichtig, wir ziehen jetzt den Aufenthalt im Hochgebirge jenem im Parlamente, die Blumen des Gartens jenen vor, die auf den Lippen der Abgeordneten sprießen. Uns ist die Rose lieber als Dr. v. Mühlfeld; der Funke des Leuchtkäfers erfreut uns mehr als Dr. Giskra; die Schwertlilie ziehen wir Smolka vor; [...] um wie viel wir den Rittersporn dem Grafen Clam vorziehen, brauchen wir wol nicht zu sagen, aber selbst das Gänseblümchen ist uns lieber als Klaudi, und Erdäpfel und Zwiebel und [...] ein anderes Zwiebelgewächs sehen wir mit größerem Vergnügen als die ehrenwerthen Ruthenen auf dem Berge des Hauses.23

Man kann die Bedeutung dieses Vorgangs nicht hoch genug einschätzen. Denn nun ist plötzlich, wie bis dahin nur in den kurzen Ubergangszeiten des Josephinismus von 1781-1790 und der Revolution von 1848, der Weg frei für die persönliche Kritik, eine Kritik, die einzig die Mitglieder des Kaiserhauses verschont. Die Textsorte der Wochenplauderei verändert ihren Gattungscharakter von Grund auf, insofern sie nicht nur andere Stoffe be21 Presse, Jg. 1860, Nr. 296 (18. 11.). 22 Das Ausmaß dieser Freiheit wird dann im Pressegesetz vom 17. Dezember 1862 näher bestimmt. 23 Presse, Jg. 1861, Nr. 163 (16. 6.).

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handelt, sondern auch andere Schreib- und Wirkungsstrategien verfolgt: Während die Wochenplauderei zuvor mit den Mitteln der indirekten Ironie gearbeitet hatte, beginnt sie jetzt, mit den Mittel der direkten Satire zu operieren, die sich bis zur Diffamierung steigern kann. Man muß allerdings anmerken, daß sich diese Veränderung nicht bei allen Autoren im gleichen Ausmaß vollzieht, wie sie auch nicht von einem Tag zum anderen geschieht. Friedrich Uhl z. B. vermeidet in seiner Wiener Chronik jede Art von diffamierender Satire und destruktiver Kritik, was unter anderem damit zu tun haben dürfte, daß er spätestens seit 1862, als er von der Presse zum Botschafter überwechselt, ein Protégé von Staatsminister Schmerling ist. Außerdem bewahrt er sich den Anspruch, durch sein Schreiben zu der liberalen Reform des österreichisch-habsburgischen Staatswesens beitragen zu können. Als jedoch die Reformprojekte im Inneren nicht recht vorankommen, während sich die Mißerfolge im Äußeren häufen, da flüchtet sich Uhl in die Resignation. Es ist symptomatisch, daß Uhl seine Wiener Chronik wenige Monate nach der Niederlage von Königgrätz fur immer aufgibt. In der letzten Nummer vom 31. Dezember 1866 läßt er durchblicken, daß ihm die spezifische Fähigkeit zum Schreiben einer Wochenplauderei abhanden gekommen ist - der Humor. Er berichtet dort nämlich, daß er an den diesjährigen Silvester-Feiern keine Freude haben könne: Wir werden da wahrscheinlich noch einigemale von der Sistirung hören und von Königgrätz, dann von Lissa [...] und zum Schlüsse der Reden wird es heißen, was wir schon oft als immer wiederkehrenden Refrain vernommen: ,Haben wir auch viel verloren, Eines ist uns geblieben - der Wiener Humor!' Der Wiener Humor! Warum werden wir immer so ernst, wenn wir diese Worte hören? Alles jubelt, lacht, freut sich, hebt die Gläser, stößt an, drückt einander die Hände, wenn es hört, daß ihm der Wiener Humor geblieben sei, nur uns wird es weh dabei! Uns macht diese Fröhlichkeit trübsinnig, uns stimmt diese Laune nicht heiter! 24

Daß man als Wochenplauderer auf die wachsenden Probleme des österreichisch-habsburgischen Staates auch anders als mit schleichender Resignation und letztlichem Verstummen reagieren kann, das zeigen Autoren wie Sigmund Schlesinger (1832-1918) und Daniel Spitzer (1835-1893).

24 Neue Freie Presse, Jg. 1866, Nr. 859 (51. 12.), Morgenblatt.

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Beide verschärfen den Ton der Wochenplauderei. Schlesinger, der zunächst in der Morgenpost, dann ab 1867 im Neuen Wiener Tagblatt die Kolumne Vom Tage schreibt,25 geht zum frontalen Angriff auf mißliebige Politiker über. Bezeichnenderweise trägt seine Buchsammlung von Wiener Tageblättern den Untertitel Anno Taaffe und Hohenwart. Schlesinger setzt die Waffen der Personensatire erbarmungslos, aber immer zweckbezogen ein. Die von ihm mit Vorliebe in das Kleid der Anekdote gehüllte Personensatire dient stets der - damit allerdings äußerst zugespitzten - politischen Auseinandersetzung. Ich zitiere eine Stelle aus dem Jahre 1871. Dort fragt sich Schlesinger, ob er ein bestimmtes „Druckereigeheimniß" verraten solle: Ueberschreite ich nicht damit die ,richtigen Grenzen' des Grafen Hohenwart? Die nämlich, welche er der ,Oeffentlichkeit' gezogen wissen will - denn über die Definirung seiner eigenen Grenzen ist das Ministerium selber noch vollständig im Unklaren und während es zum Beispiel seinen Amtsantritt mit etwas ,Grenzenlosem' bekundete, mit grenzenlosem Selbstvertrauen nämlich, sah sich der neue Handelsminister, Herr Professor Schaffte, wie mir versichert wird, genöthigt, die Ministeruniform, welche ihm sein Schneider brachte, zurückzugeben, weil er die Grenzen derselben zu weit gezogen und sich ihr nicht gewachsen fand. Natürlich nur der Uniform nicht.26

Im Anschluß an diese Passage verteidigt Schlesinger die Wiener Journalistik gegen den Vorwurf, daß sie die Namen der neuen Minister „zur Zielscheibe billigen Spottes" mache: [E]in Vorwurf, dessen hämische Grundlosigkeit nachzuweisen eben die Thatsache enthüllt werden muß, daß die Druckerei eines einzigen Wiener Blattes

25 Zwischen 1855 und 1859 heißt die entsprechende Kolumne „Die vergangene Woche" bzw. „Montags-Courir". (Dabei deuten die Verfasserkürzel „S." und „Sml." auf Schlesinger als Hauptautor hin.) Die Nachfolgerkolumne „Vom Tage" erscheint, wie bereits ihr Titel zu verstehen gibt, mehr als einmal pro Woche und ist auch nicht nur von einem Autor verfaßt. Doch schreibt Schlesinger jeden Sonntag und Montag eine Wochenplauderei, die durch die Nennung des Verfassernamens besonders hervorgehoben ist. Als Theaterautor hat er unter anderem den Einakter „Leitartikel und Feuilleton" (Wien 1864) verfaßt, in dem u. a. geschildert wird, wie der Wochenplauderer am Sonntag von Kaffeehauseröffnungen zu Konzerten, von Bilderausstellungen zu Theateraufführungen und Gesellschaftsblällen hetzt. 26 Sigmund Schlesinger: Wiener Tageblätter. Anno Taaffe und Hohenwart. Wien 1880, S. 192.

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allein sich in der Nothwendigkeit befand, sechzehn Loth ? und c's neu anzuschaffen, weil der Vorrath an diesen zu so plötzlicher staatlicher Bedeutung gelangten Typen rasch erschöpft war [...]. Man hat also nicht nur keinen billigen Spott getrieben, man hat sich sogar in Unkosten gestürzt, um die Minister nach Gebühr zu kennzeichnen.27 Insgesamt nähern sich Schlesingers Feuilletons dem politischen Leitartikel oder Kommentar. Im Vergleich dazu scheinen Spitzers Wiener Spaziergänge, die 1864-1871 in der Presse, 1871-1873 in der Deutschen Zeitung und 1873-1892 in der

Neuen Freien Presse veröffentlicht werden, eher dem traditionellen Muster der Wochenplauderei zu entsprechen. Tatsächlich fuhren sie einige Entwicklungstendenzen der Wochenplauderei bis zur letzten Konsequenz weiter. So verlassen sie endgültig den Boden „unmittelbarer" (Stadt-)Erfahrung: Gingen die früheren Wochen-Chronisten oder -Plauderer (etwa der Verfasser der Rubrik Der Spaziergänger [...] bzw. Der Beobachter in den Straßen und Umgebungen Wiens) leibhaftig in den verschiedenen Teilen der Stadt herum, so promeniert Spitzer fast nur noch intellektuell durch die verschiedenen Sparten der Wiener Zeitungen, um sein Material zu suchen. Wie Matthias Nöllke jüngst gezeigt hat28, bewegt sich Spitzer in einer Zeitungswelt von Spezialdiskursen (Politik, Wirtschaft, Kultur), die er in einen „satirischen Interdiskurs" überführt. Auch hiermit treibt er eine Entwicklungstendenz der Wochenplauderei weiter. Während nämlich die ersten Wochen-Chronisten ihre Darstellung entweder nach dem topographischen Schema der Wochentage oder aber nach dem „ontologischen" Schema der Gesellschafts- und Offentlichkeitssphären geordnet hatten, setzten die folgenden Wochen-Plauderer ihre verschiedenen Gegenstände teilweise in eine inhaltliche Beziehung zueinander (Wettergeschehen und Gesellschaftsgeschehen, Theateraufführungen und Parlamentsdebatten etc.), wobei dies, in rhetorischer Hinsicht betrachtet, zumeist über die Allusion, die Metapher und die Metonymie erfolgt. Allerdings bleiben dabei die eigentlichen Herkunftsbereiche der Gegenstände in der uneigentlichen, d.h. gleich27 Ebd., S. 193. 28 Vgl. Matthias Nöllke: Daniel Spitzers Wiener Spaziergänge. Liberales Feuilleton im Zeitungskontext. Frankfurt a. M . / B e r l i n / B e m / N e w York/Paris/Wien 1994. Diese Studie leidet allerdings darunter, daß Nöllke kein einziges Wort über die Geschichte der Wiener Wochenplauderei verliert, obwohl doch Spitzer deren extremster Vertreter ist.

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nis- oder bildhaften Rede weiterhin sichtbar. Spitzer radikalisiert die bis dahin übliche Technik, indem er die Gegenstände aus ihrem ursprünglichen Kontext löst und sie dann in dem neu formierten Text aufeinanderprallen läßt. Er schließt scheinbar unabhängige Diskurse kurz, damit die hierbei entstehenden satirischen Funken verborgene Zusammenhänge und Verhältnisse erhellen. Seine Technik läßt sich literarisch als permanente DeMontage, rhetorisch als fortgesetzte Katachrese der sprachlich vorgegebenen Wirklichkeit bezeichnen. Nöllke hat Spitzers Schreibverfahren mustergültig an dem Wiener Spaziergang vom 25. Dezember 1869 analysiert, einem überaus komplexen Text, der u.a. einen Zeitungsbericht zum Anlaß nimmt, um das Verhältnis von psychischem Wahnsinn und politischem Verstand neu zu beleuchten: Wie die ungarischen Zeitungen in dieser Woche berichteten, hat eine Dame, welche sich auf der Zuhörer-Galerie des ungarischen Unterhauses befand, nachdem sie dem Gange der Verhandlungen gefolgt war, plötzlich ausgerufen: Es gibt keine Gerechtigkeit mehr! Die Dame soll eine reizende Blondine mit schönen blauen Augen gewesen sein, weiße Handschuhe getragen haben, und nachdem sie das Haus verlassen hatte, mit dem Fiaker Nr. 191 davon gefahren sein. Nachdem die Zeitungen dies constatirt hatten, gelangten sie zu dem Schlüsse, die Dame sei eine unglückliche Irrsinnige gewesen. [...] Es ist übrigens merkwürdig, wie gewisse psychologische Wahrheiten auf der ganzen Welt anerkannt werden. Wenn Jemand ruft: es gibt keine Gerechtigkeit mehr! so gilt er überall als verrückt, während Jemand, der ebenso laut ruft: Es lebe das Ministerium! niemals für verrückt, sondern immer für patriotisch gehalten wird. Dem Ersteren rasirt man den Kopf und sucht ihn durch kalte Duschen wieder an die irdische Gerechtigkeit glauben zu machen; den Andern läßt man ungeschoren, und anstatt ihn [zu] douchen, gibt man ihm einen Orden oder macht ihn zum Hofrath, obwol sich später in der Regel herausstellt, daß er ebenfalls keinen Verstand besitzt.29

In der Engfuhrung des psychatrischen und des politischen Diskurses, ein der u. a. auch ein erotischer und ein ethisch-juristischer Diskurs beteiligt sind, erweisen sich die gewohnten Sprach- und Wirklichkeitsverhältnisse als verkehrt: Der eine, der wegen seiner Bestreitung der Gerechtigkeit für irrsin-

29 Zit. nach Nöllke (Anm. 28), S. 523. Vgl. dazu Nöllkes Textanalyse auf S. 115-140.

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nig erklärt wird, stellt sich als durchaus vernünftig, der andere, der wegen seiner Belobigung der Macht mit Orden ausgezeichnet oder zum Hofrat ernannt wird, als völlig unvernünftig heraus. Auf diese Weise entlarvt Spitzer die „verkehrte Welt". Nöllke hat auch nachgewiesen, daß Spitzer mit seinen „Wiener Spaziergängen" sozialkritische Intentionen verfolgt, die sich insbesondere gegen den Katholizismus, den Antisemitismus, den slavischen Nationalismus, den Militarismus, die Börsenspekulation und die soziale Verelendung richten. Allerdings sehe ich bei Spitzer starke Tendenzen zu einer Verselbständigung des Schreibverfahrens. Und das gleich in zwei Richtungen. Auf der einen Seite droht die Demontage der Wirklichkeitsdiskurse zu einem selbstbezüglichen Sprachspiel zu werden, in dem sich die Überlegenheit des Autors über die heruntergekommene Welt beweist. Auf der anderen Seite droht die Satire in persönliche Diffamierungskampagnen überzugehen, in denen sich das Ressentiment des Autors gegen andere, als eitel, gemein oder niedrig empfundene Menschen entlädt. 30 Der Grund für diese beiden Verselbständigungstendenzen dürfte sein, daß Spitzer aus der Position eines desillusionierten Moralisten heraus schreibt, der mit der Hoffnung auf die Gesellschaft und Politik auch den Glauben an den Menschen verloren hat. Seine Enttäuschung über die Gesellschaft und Politik fuhrt einerseits zu einer Sensibilisierung für die öffentliche Sprache (Sublimierung), andererseits aber zur Aggression gegen öffentliche Personen (Entsublimierung), so daß sich in Spitzers Plaudereien die feinsten Subtilitäten mit den gröbsten Infamien abwechseln können. Daß sich in den Wiener Spaziergängen aber mehr als eine individuelle Befindlichkeit ausdrückt, erhellt daraus, daß sie von allen Wochenplaudereien den größten Erfolg beim Publikum erzielt haben. Die Demontage der Sprach-Welt und der Zynismus gegenüber dem Mensch-Sein haben offenbar der desorientierten und -illusionierten Grundstimmung in der Wiener bzw. österreichischen Gesellschaft der siebziger und achtziger Jahre entsprochen. Von hier aus ist es nicht weit zu den Sprachkritiken und Haßtiraden eines Karl Kraus, der denn auch Daniel Spitzer - als einen der wenigen - geschätzt hat. 30 So verfolgt Spitzer die Person von S. H. Mosenthal mit einem unerbittlichen Haß, der durch die Eitelkeit dieses Dramatikers nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Dafür ist die Uberschrift des Wiener Spaziergangs vom 25. 3. 1871 symptomatisch, welche „Frühling, Dr. Mosenthal und Schmeißfliegen" lautet.

Oliver Bruck

Die GartenlaubefiXr Österreich Vom Scheitern des Projekts einer österreichischen Zeitschrift nach Königgrätz

Nach dem Feldzug von 1866 spielte ich meine politische Rolle. Seit Jahren verfocht ich die Interessen meiner Landsleute mit der Feder und als ich nach dem Unglück von Königgrätz ein Blatt gründete, das den preußischen Tendenzen der Gartenlaube Opposition machte, richtete der Erzbischof von Galizien und Führer der kleinrussischen Partei im Landlage und Reichstage, Spiridion Litwinowicz, ein Schreiben an mich, in welchem er feierlich sich und die Nation unter meinen Schutz stellte.1

Diese Reminiszenz, in der Leopold von Sacher-Masoch seines ersten Versuches gedenkt, sich als Herausgeber einer Zeitschrift zu profilieren, versammelt in nuce einige jener Aspekte, die für die Entstehung und das Scheitern der Gartenlaubefür Österreich zentral sind. Sacher-Masochs Version der Gründungsgeschichte der Zeitung, in der er sich zu ihrem Initiator aufwertet, ist insofern interessant, als sie bei den Verfassern der einschlägigen Sekundärliteratur nachhaltige Aufnahme gefunden hat, wie sie aus den weitgehend einhelligen, aber falschen Darstellungen ablesbar ist. Im folgenden soll daher zunächst ein Uberblick über die tatsächlichen Umstände der Gründung und des Bestehens der G.f.O./Ö.G. gegeben werden, soweit sich diese aus den spärlichen Quellen rekonstruieren lassen. Dieser illustriert nicht nur die Differenz zwischen der behaupteten und tatsächlichen Rolle Sacher-Masochs, sondern auch mögliche Ursachen für

1 Leopold von Sacher-Masoch: Souvenirs. Autobiographische Prosa. Aus dem Französischen von Susanne Farin. Mit den Erinnerungen seiner zweiten Frau Hulda Edle von SacherMasoch und einem Nachwort. München 1985, S. 68. 2 Im folgenden wiedergegeben als G.f.Ö. bzw. Ö.G. (gemäß der Änderung des Titels ab Nummer 27 des zweiten Jahrganges [1867]). Die Beilagen und ihre Rubriken werden mit folgenden Siglen wiedergegeben: Der Salon (Sal), Tagebuch der Cultur der geistigen Arbeit und socialen Entwicklung (TdC).

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das rasche Scheitern des Zeitschriftenprojekts. Nach dem Aufweis dieser primär im ökonomischen Feld gespannten Fallstricke, stellt der zweite Teil des Beitrags anhand einer symptomatischen Kontroverse die ideologischen und nationalpolitischen Bruchlinien dar, die der G.f.O ./O.G. zum Verhängnis werden. Wie wenig Sacher-Masoch auch retrospektiv bereit und in der Lage ist, die Faktizität dieser Verhältnisse anzuerkennen, ist an dem eingangs zitierten Phantasma vom journalistischen Schutzherrn der Nation ablesbar.

Z U R G E S C H I C H T E DER GARTENLAUBE FÜR Ö S T E R R E I C H

Vorarbeiten und Gründung Die Angaben, die die näheren Umstände der Gründung der G.f.O. betreffen, sind spärlich und disparat. Sie interpretieren die Zeitschrift in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung als Instrument antipreußischer Politik, als identitätsstiftendes Medium eines sich konstituierenden Kreises aufstrebender Schriftsteller, aber auch als Teil einer Strategie eines neuen Druckereiunternehmens im Wettbewerb mit zwei alteingesessenen Konkurrenten.3 All diese Aspekte spielen, wie noch gezeigt werden wird, im Verlauf der kurzen Geschichte der G.f.O. in sich immer wieder verschiebender Gewichtung eine Rolle. Das ursprünglich dominante Motiv dürfte aber mit jenem Mann in Zusammenhang stehen, dessen Rolle bei der Gründung der G.f.O. in den Bemerkungen zu diesem Thema bislang fast immer ausgeklammert wurde. 4 Es handelt sich bei diesem um den Papierhändler und frischgebackenen Druckereibesitzer Josef Pock, der im Kampf mit den alt5 Vgl. Anton Schlossar: Hundert Jahre deutscher Dichtung in Steiermark. 1785-1885. Mit 10 Abb. 2 Bde. Wien 1893 (Österreichische Bibliothek 2), S. 151 f.; Michael Maria Rabenlechner: Hamerling und Marx. Mitteilungen (Schluß). In: Heimgarten 30 (1906), S. 757; Friedrich Pock: Die Literatur in den Kronländern: Steiermark. In: Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Hrsg. v. Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler, Eduard Castle. Bd. 3. Wien 1926, S. 430. 4 Von den mir bekannten Arbeiten zu diesem Thema enthält lediglich Haslingers Dokumentations- und Quellenwerk einen Hinweis auf Pocks Gründerrolle. Vgl.: Franz Haslinger: Peter Rosegger als Jünger Merkurs und Apolls (1865-1869). Dokumentations- und Quellenwerk. Graz 1964, S. 185.

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eingesessenen Konkurrenten, Leykam's Erben und Kienreich, die Strategie verfolgt, sich den Grazer Markt primär über den Druck von Zeitschriften zu erobern. Er produziert bald eine stattliche Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, darunter den Telegraf, Steirer-Seppl, das ultramontane Volksblatt sowie dessen ideologische Widersacher Freiheit und Freidenker. Es verwundert in Kenntnis dieser Strategie nicht, daß weder der in großen Teilen der Sekundärliteratur als Initiator figurierende Sacher-Masoch noch der erste Redakteur Heinrich Penn, sondern der Druckereibesitzer Josef Pock der zuständigen Behörde als Betreiber der Gründung der G.f.O. entgegentritt, wie aus einem Bericht an den k.k. Statthalter vom 8. August 1866 hervorgeht: Ich erlaube mir Euerer Excellenz gehorsamst zur hohen Kenntnis zu bringen, daß der hiesige Buchdruckereibesitzer Josef Pock hieramts die Anzeige erstattete, daß er mit 1. September d. Js. eine belletristische Zeitschrift unter dem Titel,Gartenlaube für Oesterreich' herauszugeben beabsichtigt, deren verantwortliche Redaction der nach Laibach zuständige Literat Heinrich Penn fuhren wird, [...]•5 Pock begnügt sich als neuer Mitbewerber am Grazer Druckereimarkt also nicht damit, durch die Arbeit für andere Verlage im boomenden Zeitschriftensektor Gewinne zu Iukrieren, sondern er versucht darüber hinaus, sich mittels Zeitschriftengründungen selbst Produktionszuwächse zu verschaffen. Er trägt als erster Herausgeber der G.f.O. das unternehmerische Risiko und gewinnt Heinrich Penn und Leopold von Sacher-Masoch als redaktionelle Betreuer für seine Zeitschrift. Ein Indiz für das ,Angestelltenverhältnis' Penns stellt dessen aus Meinungsverschiedenheiten in der Gründungsphase resultierende Erklärung in der Tagespost vom 19. August 1866 dar: Ich gebe hiermit bekannt, daß ichfreiwilligvon der Redaction der zu erscheinenden „Gartenlaube für Oesterreich" zurücktrete, da meine Ansichten zu sehr mit jenen des Herrn Verlegers divergiren. Ebenso ermächtigt mich Herr Dr. Sacher-Masoch zu der Erklärung, daß auch er keine Gemeinschaft mehr

5 Steiermärkisches Landesarchiv, Graz; Akten des Statthaltereipräsidiums 9-3819/861, unter Zahl 1913/866. Im folgenden wiedergegeben mit der Sigle: Statt.präs.

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mit obgenanntem Blatte habe, bei welchem er sich nur aus Freundschaft für mich betheiligt hätte.6

Mit dieser Erklärung setzt Penn Pock knapp zwei Wochen vor dem angekündigten Erscheinungstermin der G.f.O. öffentlich unter Druck und hat Erfolg damit. Das Zeitschriftenprojekt wird bereits am 8. September mittels eines Prospektes in der Tagespost und dem Telegraf und am 10. September in d e r Oesterreichischen

Buchhändler-Correspondenz

angekündigt - zu ei-

nem Zeitpunkt also, zu dem es gerade ohne Redakteure dasteht. Pock ist offensichtlich entschlossen, die G.f.O. auf jeden Fall erscheinen zu lassen, sodaß er schließlich in die Forderungen Penns einwilligt. Am 16. September erfolgt daraufhin dessen Rücktritt vom Rücktritt: Ich erlaube mir bekannt zu geben, daß ich die Redaction der „Oesterreichischen Gartenlaube" wieder übernommen habe, da der Herr Verleger auf alle Punkte meines Programms eingegangen ist, mithin der Grund, weshalb ich vor vier Wochen zurückgetreten bin, wegfallt. Zugleich erklärt sich Herr Dr. Sacher-Masoch in Folge des geschehenen Ausgleichs neuerdings zum Hauptmitarbeiter des Blattes. 7

Die Probenummer der G.f.O. erscheint wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Schwierigkeiten erst am 23. September, mehr als drei Wochen nach dem der Statthalterei angekündigten Termin. Der Zeitungskopf enthält neben dem Titel Die Gartenlaubefür Oesterreich eine Illustration, die sich von jener des Leipziger Konkurrenten, abgesehen von dem sich im Hintergrund abzeichnenden Stephansdom, nur in Details unterscheidet. Als „Verantwortlicher Redakteur" zeichnet Heinrich Penn, als „Hauptmitarbeiter" Sacher-Masoch und Josef Pock als „Herausgeber" (66;1). Doch nicht nur die Vorbereitungsarbeiten für das neue Blatt, auch die Umstände ihres Erscheinens zeigen eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch, österreichisches Gegengewicht zur Leipziger Gartenlaube zu werden, und der Realität der Umsetzung dieser Ambition. So beschränkt man sich darauf, das Erscheinen der G.f.O. in den lokalen Tageszeitungen anzukündigen8, die fachspezifischen Periodika des In- und Auslandes, wie das 6 Tagespost Nr. 199 (19.8.1866), Beilage. 7 Tagespost Nr. 226 (16.9.1866), Beilage. 8 In der Tagespost Nr. 219 (8.9.1866) und der Beilage der Nr. 233 (23.9.1866) finden sich

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Börsenblatt des deutschen Buchhandels oder der Generalanzeigerfür die Belletristik des In- und Auslandes, werden mit Ausnahme der Oesterreichischen Buchhändler-Correspondenz entweder gar nicht oder mit zuwenig Nachdruck informiert - jedenfalls enthalten die genannten Organe in ihrem redaktionellen Teil keine diesbezüglichen Hinweise. Auch in den bedeutenden Wiener Tageszeitungen, wie der Presse und der Neuen Freien Presse, finden sich keine Anzeigen. Für eine großangelegte Bewerbung mittels Inseraten, wie sie vor allem bei Blättern deutscher Provenienz durchaus üblich ist, hat der bekannt knapp kalkulierende Pock wohl eher kein Verständnis als kein Geld. Eine Einschaltung in der Größe einer Achtelseite kostet laut Oesterreichischer Buchhändler-Correspondenz 1866 durchschnittlich zwischen 2,5 und 4 Gulden. 9 Eine Summe, die im Falle der G.f.Ö. schon bei einer einzigen Pränumeration auf ein Jahr wieder eingebracht worden wäre. Durch diese Knausrigkeit begibt man sich aber nicht nur der Möglichkeit, potentielles Lesepublikum für ein Abonnement zu gewinnen, sondern verringert auch die Chancen, daß die G.f.Ö. gelegentlich im redaktionellen Teil dieser Zeitschriften positiv besprochen oder erwähnt wird. Sein halbherziges Vorgehen erhärtet jedenfalls den Verdacht, daß Pock an der neuen Zeitschrift vor allem im Hinblick auf die Auslastung seiner Druckerei interessiert ist. Dies könnte auch der Grund für den vorübergehenden Rückzug Penns aus der redaktionellen Verantwortung sein.

BESCHRÄNKTE RESONANZ U N D IHRE MÖGLICHEN U R S A C H E N

Die Resonanz, die der neue Mitbewerber am Zeitschriftenmarkt bei der publizistischen Konkurrenz auslöst, ist lokal begrenzt. Der Artikel in der Tagespost vom 23. September stellt eine Reaktion auf das Erscheinen der Probenummer der G.f.Ö. dar. Heinrich Penn wie auch Leopold von SacherMasoch sind Mitarbeiter dieser Tageszeitung - wohl mit ein Grund für die ausführliche Würdigung des neuen Zeitschriftenprojektes.

Werbeeinschaltungen. Im Telegraf erscheint eine kleine Anzeige in Nr. 216 (8.9.1866), die um Inserate wirbt. In derselben Nummer wird auch auf den dem Blatt beiliegenden Prospekt der G.f.Ö. hingewiesen. 9 Vgl. OeBC. Nr. 35 (10.12.1866), S. 258 (Anzeige 1134). Die Angaben beziehen sich auf im Verlag Kober in Prag erscheinende slawische Zeitungen, mittels derer die G.f.Ö. einen Teil des intendierten Zielpublikums ansprechen hätte können.

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Es lag nahe, für den nicht preußischen Süden ein Unterhaltungsblatt zu gründen, das dessen Interessen zu vertreten hätte und der Erfolg eines solchen Unternehmens wäre zweifellos. Noch glücklicher ist die Idee, eine „Gartenlaube für Oesterreich" zu gründen, ein Blatt, das sich auf den Boden unseres großen Vaterlandes stellt [...]. Ein solches Blatt hat eine doppelte Zukunft, zuerst als österreichisches Organ, indem es zwischen den verschiedenen Stämmen der Monarchie vermittelt, sie mit einander bekannt macht, sie sich gegenseitig schätzen lernt - zweitens als Unterhaltungsblatt in Deutschland. Man hat dort keinen Mangel Ein guten Zeitschriften dieser Art, aber alle sind so ziemlich auf dasselbe Material angewiesen; indem unsere ,Gartenlaube' vorzüglich die kaum gekannten, nicht deutschen Länder in das [sie] Bereich ihrer Darstellung zieht, wird sie dem deutschen Publikum beinahe durchaus Neues und Eigenthümliches zu sagen haben.10 In Wien wird von der neuen Zeitschrift kaum und wenig positive Notiz gen o m m e n . Die Neue Freie Presse, in der mit Karl von Thaler ein Beiträger zur ersten N u m m e r der G.f.O. bereits seit 1865 als „externer Mitarbeiter" 11 beschäftigt ist, erwähnt das Journal mit keinem Wort, in der Presse kommt es n u r im Zusammenhang mit den Angriffen Lorms auf Sacher-Masoch, die noch Gegenstand einer genaueren Darstellung sein werden, vor. Die Oesterreichische Buchhändler-Correspondenz würdigt unter d e m Titel „Ein neues Unternehmen" die Herausgabe der Zeitschrift aufgrund der beschriebenen Verzögerungen schon vor dem tatsächlichen Erscheinen der ersten Nummer, nicht ohne dabei einige Probleme anzusprechen, die für Eigentümer und Redaktion der G.f.Ö. tatsächlich prekär werden sollten. Soeben kommt von Jos. Pocks Buchdruckerei in Graz ein Prospect über ein neues Journal „Die österreichische Gartenlaube", worin gesagt wird: „Wir nennen unser Blatt Die österreichische Gartenlaube, weil es das für Oesterreich werden soll, was einst die Leipziger Gartenlaube für Deutschland war. Wir sagen einst, denn seitdem der Herausgeber Herr Keil aus Ueberzeugung in das Lager der Preußen überging, gegen die er aus Ueberzeugung viele Jahre lang mit den schärfsten Waffen gekämpft, ist sein Blatt eben nur ein specifisch preußisches Organ geworden. Dies ist der Grund, warum wir die österreichi10 Tagespost Nr. 233 (23.9.1866). 11 Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. T. 44. Wien 1890, S. 138.

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sehe Gartenlaube ins Leben gerufen." So weit der Prospect. Gewiß hat Niemand ohne Ekel die letzten Nummern der Gartenlaube aus der Hand gelegt; aus dem großen Demokraten E. Keil ist plötzlich seit der Invasion ein eifriger Bismarkianer geworden. Obwohl [sie] Herr Keil nächstes Jahr noch 150,000 Exemplare drucken wird? Der österreichische Sortimentsbuchhandel und das Publikum wird gewiß das neue Unternehmen mit Freude begrüßen, wenn Herr Pock nur einigermaßen im Stande ist, mit der Gartenlaube in literarischer und artistischer Hinsicht zu concurriren; wir sehen der ersten Nummer mit Spannung entgegen, fürchten aber, daß Graz nicht der geeignete Ort ist, ein solches Unternehmen ins Leben zu rufen und hätten es lieber in Wien entstehen sehen.12

Die Befürchtung, Graz eigne sich nicht als Standort einer Zeitschrift, die der mächtigen Leipziger Gartenlaube in Osterreich den Rang ablaufen will, wird durch einen Blick auf die Verlagstopographie bestätigt: Die meisten auflagenstarken Familienzeitschriften werden in Leipzig oder Stuttgart verlegt. Diese Ballung erfolgreicher Familienzeitschriften ist wohl die Folge einer generellen Konzentration von Familienblattverlagen, die ihre Ursache in günstigen infrastrukturellen Bedingungen hat. Die große Bedeutung des Standortes läßt sich etwa am Beispiel des in Bielefeld ansässigen Verlages Velhagen & Klasing illustrieren, der sein Daheim fern vom Stammhaus in Leipzig verlegt.13 Die Vorteile, die die Messestadt als Zentrum des deutschsprachigen Buchhandels im 19. Jahrhundert einem Zeitschriftenunternehmen bieten kann, liegen auf der Hand. Stuttgart hingegen etabliert sich wegen seiner wachsenden wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung letztere hat ihre Ursache wohl nicht zuletzt in der liberaleren Handhabung der Zensur in Württemberg 14 - als Verlagsstandort. Graz befindet sich allerdings zum damaligen Zeitpunkt in einer bis zu einem gewissen Grad vergleichbaren Situation, weil es hier zu einer starken Migrationsbewegung kommt, die „im Gegensatz zur Entwicklung in den meisten deutschen und österreichischen Städten zu einer Verdrängung der eingesessenen Bevölke-

12 OeBC 26 (10.9.1866), S. 179. 13 Auch Sacher-Masoch wählt nach seinem Scheitern mit der G.f.Ö. für sein nächstes Zeitschriftenprojekt, den Monatsheften für Theater und Musik, mit Haessel einen Leipziger Verleger. 14 Vgl. Friedrich Schulze: Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre. Leipzig 1925, S. 80.

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rung in allen Gesellschaftsschichten" führt, „wodurch eigentlich eine völlig neue Einwohnerschaft" 15 entsteht. Die starke Durchmischung der „,bessere^] Gesellschaft' [...] mit Zuwanderern aus Gebieten mittlerer und weitester Entfernung" bestätigt „die Rolle von Graz als ein über die Grenzen der Steiermark hinaus wirkendes politisches und kulturelles Zentrum innerhalb der Monarchie" und verstärkt diese noch, „denn die ,Fremden' hielten naturgemäß Kontakte und Interessen aufrecht, die über die restriktierenden politischen Grenzen von Hauptstadt und Land hinausreichten."16 Ein Blick auf die demographischen Verhältnisse der Stadt Graz macht aber auch deutlich, daß diese für die spezifischen Vorhaben der Gf.O. nicht günstig sind. Daß ein Familienblatt ausgerechnet in jener Stadt erscheint, die sich aufgrund ihrer Altersstruktur schon im frühen 19. Jahrhundert den Spitznamen ,Pensionopolis' eingehandelt hat und die für die im Vergleich zu anderen Städten ohnehin geringere Zahl der heiratsfähigen Bevölkerung eine signifikant nach unten abweichende Nuptialitäts- und Fertilitätsrate aufweist17, hat wohl eher symbolische als faktische Relevanz. Gemeinsam mit der Tatsache, daß die Gf.Ö., deren erste Redaktion - wie noch gezeigt werden wird - die Versöhnung der verschiedenen Völkergruppen der Monarchie als ein zentrales Anliegen betrachtet, sich in Graz einer Bevölkerung mit ausgeprägt deutschnationalem Bewußtsein gegenübersieht18, ergibt sich jedenfalls das Bild einer schwierigen Ausgangsposition.

E I N NEUER AUFSCHWUNG - S A C H E R - M A S O C H KAUFT DIE

G.f.Ö.

Die Gartenlaube für Oesterreich ist durch Ankauf in mein Eigenthum übergegangen. Indem ich zugleich die oberste Leitung derselben übernehme, werde ich nicht blos bemüht sein, das patriotische und liberale Programm, das die erste Nummer an der Stirne trug, mit allen meinen Kräften durchzufuhren, sondern zugleich alles aufbieten, dasselbe zu erweitern und dem Blatte einen neuen Aufschwung zu geben. (66;53)

15 William H. Hubbard: Auf dem Weg zur Großstadt. Eine Sozialgeschichte der Stadt Graz 1850-1914. Wien 1984. (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 17), S. 41. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. S. 13 ff. 18 Vgl. ebd. S. 169 f.

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Das freimütige Eingeständnis des früheren Mitarbeiters und neuen Besitzers, daß seine Zeitschrift bereits nach dem Erscheinen der ersten vier Nummern einen neuen Aufschwung nötig habe, scheint die Vermutung, den Herausgeber Pock habe Bangigkeit befallen, zu erhärten. Dies geht auch aus einem Brief Sacher-Masochs an Karl von Thaler hervor, den er anläßlich der Gründung seiner Monatshefte für Theater und Musik schreibt: „Aber ich weiß jezt wie leicht sich ein oesterreichischer Verleger entmuthigen läßt und fange ich groß an so hängt mir die ganze Geschichte binen 4 Wochen am Halse, wie Seinerzeit die Gartenlaube." 19 Ob nun die hinter den Erwartungen zurückbleibende Auflage Pock zur Resignation zwingt, oder ob diese als Bestätigung dafür gelten kann, daß ihn das Gedeihen der G.f.Ö. nur so weit interessiert, wie es der wirtschaftlichen Entwicklung seiner Druckerei forderlich ist - es ergibt sich jedenfalls der Eindruck, daß Pock, der von Anfang an nicht mit voller Energie hinter dem Aufbau der Zeitung steht, sich gerne von der Bürde trennt, als Eigentümer und Herausgeber der G.f.Ö. zu fungieren. Umgekehrt erweckt die zitierte Briefstelle nicht den Eindruck, daß Sacher-Masoch den Kauf der Zeitschrift angestrebt hat, vielmehr scheint er von Pock vor die vollendete Tatsache seines Austrittes gestellt worden zu sein. Am 31. Oktober 1866 wird der Grazer Statthalter von der Veränderung der Eigentumsverhältnisse informiert: „Ich habe die Ehre Euerer Excellenz gehorsamst zur hohen Kenntnis zu bringen, daß die hier erscheinende Wochenschrift ,die Gartenlaube für Oesterreich' von dem bisherigen Herausgeber Josef Pock, Buchdruckerei-Besizer, an den Literaten Herrn Dr. Leopold Ritter von Sacher-Masoch künftig übertragen wurde." 20 SacherMasoch ist zum Zeitpunkt des Kaufs der G.f.Ö. jedoch nicht nur Literat, er bekleidet seit 1857 die Position eines Privatdozenten der Universität Graz. Da er in dieser Funktion unter anderem eine aus einer Stiftung der steirischen Stände subventionierte Vorlesung über Landesgeschichte der Steiermark hält, die allein ihm jährlich 500 fl. einbringt, verfügt er zu diesem Zeitpunkt über ein Einkommen, das das finanzielle Risiko der Herausgabe einer Zeitschrift etwas schmälert. Sacher-Masoch widmet sich der neuen Aufgabe mit Elan. In seinem Bestreben, den Mitarbeiterkreis prominent zu

19 Wiener Stadt- und Landesbibliothek (Handschriftensammlung). Leopold von Sacher-Masoch an Karl von Thaler, 20.12.1867.1.N. 30.474. Im folgenden wiedergegeben mit der Sigle: WStLB-HS. 20 Statt.präs. 9-5819.861 unter Zahl 2603/866.

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halten und zu erweitern, erhöht er die Honorare beträchtlich - so verdoppelt er es etwa bei Karl von Thaler. Beiliegend gebe ich mir die Ehre Ihnen das Honorar für die 4 im verfloßenen Quartal abgedruckten Briefe laut dem Uebereinkomen mit Pock und Penn zu 5fl. per Brief mit 20fl. ÖWzu übersenden und erlaube mir zugleich das Honorar von Neujahr an so zu erhöhen daß Sie fortan für andere Artikel 6 fl. per Seite der oestr. Gartenlaube und per Brief 10 fl. erhalten.21

Diese Großzügigkeit bringt Sacher-Masoch, wie wir noch sehen werden, in finanzielle Schwierigkeiten. Sie ist aber zur Verwirklichung seines Vorsatzes, die Entwicklung der Zeitschrift nach dem Ausscheiden des zögerlichen Pock im großen Stil voranzutreiben, unbedingt notwendig, um so die Honorare der Mitarbeiter jenen der traditionell gut zahlenden Leipziger Gartenlaube anzunähern. Die Ankündigung, in jeder Nummer zwei Illustrationen zu bringen, zeigt ebenfalls das Bemühen, Terrain gutzumachen. Gerade in diesem für den Verkaufserfolg einer Familienzeitschrift so wichtigen Bereich bleibt die G.f.O. jedoch immer hinter ihrer Leipziger Konkurrentin zurück. Mit Beginn des zweiten Jahrganges erscheint die G.f.O. mit der zweiseitigen Beilage Der Salon, die sich in ihren Berichten ausschließlich den Grazer Interessen widmet. Dieses Beiblatt wird in Teilen der Sekundärliteratur als Indiz für das Scheitern der großen Vorhaben des Redakteurs interpretiert. „Wohl als Zeichen des Mißerfolgs ist es zu werten, daß Sacher-Masoch auf Wunsch seiner Leser dazu überging, eine Beilage ,Der Salon' herauszubringen, die sich ausschließlich mit Grazer Ereignissen befaßte. Das übernational gemeinte Organ war zum Lokalblatt geworden." 22 Eine solche Sichtweise läßt außer acht, daß sich durch die Hinzufügung des Beiblattes weder Gestalt und Inhalt noch Umfang des Hauptteiles ändern. Auch die Pränumerationseinladung für das erste Quartal des Jahres 1867 läßt keinen Zweifel daran, daß man sich als Zeitschrift für Osterreich und den gesamten deutschsprachigen Raum versteht und keineswegs vorhat, sich hinkünftig mit der Rolle des Lokalblattes zu bescheiden.

21 WStLB-HS. Leopold von Sacher-Masoch an Karl von Thaler, undatiert. I.N. 30.413. 22 Hellmuth Himmel: Die Literatur in der Steiermark von 1848-1900. In: Literatur in der Steiermark. Graz 1976 (= Arbeiten aus der Steiermärkischen Landesbibliothek 15), S. 223.

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Die competentesten Stimmen in Oesterreich und Deutschland einigen sich jetzt schon darin, daß die „Gartenlaube für Oesterreich", was Inhalt und Ausstattung betrifft, der Leipziger vollkommen ebenbürtig ist. [...] Indem unser Blatt ein wahrhaft österreichisches ist, wird es ein kosmopolitisches, das nicht nur Oesterreich, das dem ganzen Deutschland, ja Europa durchaus Neues und Eigenthümliches zu sagen hat. (66; 180) D e m möglichen Einwand, es handle sich hier um ein Anliegen, das in der Praxis keine Erfüllung findet - was als G.f.Ö. beginnt, endet als Der Salon - , kann eine Angabe Sacher-Masochs über die Provenienz der Abonnenten entgegengehalten werden. Im März 1867 beziffert Sacher-Masoch anläßlich eines Presseprozesses 23 die Auflage mit 3000 Stück, wovon 600 auf Graz und die Steiermark, 2000 auf andere österreichische Provinzen und 400 auf das Ausland entfallen (vgl. 67; 12). Auch wenn die Richtigkeit der von ihm angegebenen absoluten Auflagenzahl nicht zweifelsfrei verifizierbar ist, besteht kein Grund anzunehmen, daß Sacher-Masoch falsche Auskünfte erteilt bezüglich der Relation zwischen den Exemplaren für Graz und denen anderer Destination. Der lokale Absatz der Gf.O. macht also nur ein Fünftel der Gesamtauflage aus. Als Heinrich Penn im Beiblatt der N u m m e r 3 des zweiten Jahrganges seinen Rücktritt von der Redaktion bekanntgibt, begründet er diesen Schritt damit, daß ihm „ein anderweitiger, ehrenvoller Antrag geworden ist" (67;Sal3). Eine genaue Lektüre seiner Erinnerungen berechtigt allerdings zu Zweifeln an dieser Darstellung: „Im August 1867 folgte ich einer Einladung des Groß-Industriellen Carl von Ritter nach Görz, w o ich die Redaction des ,Deutschen Görzer Wochenblattes' übernahm, daraus die deutsche ,Görzer Zeitung' schuf und unentwegt für die Hochhaltung des

25 Es handelt sich bei diesem Prozeß um die Ehrenbeleidigungsklage des Grazer Geldmaklers Martin Keller. In der Beilage Der Salon der G.f.Ö. Nr. 4 veröffentlicht Sacher-Masoch seinen Artikel „Martin der Kellner. Ein Schattenbild aus dem Grazer Leben", in dem sich besagter Keller wiederzuerkennen glaubt. Sacher-Masoch stellt in seinem Pamphlet den beschriebenen Kellner Martin als widerlichen Wucherer und Halsabschneider dar, der den Galgen verdient. Er bezichtigt ihn darüber hinaus, ein Lüstling zu sein, der Ehebruch mit der Gattin eines Grazer Geschäftsmannes begangen hat. Das gekürzte Protokoll der diesen Diffamierungen folgenden Gerichtsverhandlung erscheint als Beilage Der Salon der G.f.Ö. Nr. 12.

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österreichischen Reichsgedankens wirkte." 24 So ergibt sich also zwischen Penns Ausscheiden aus der Redaktion der G.f.O. und dem Antritt seiner neuen Aufgabe eine von diesem unerwähnte Tätigkeitspause von einem halben Jahr. Dieser lange Zeitraum berechtigt zur Annahme, daß die neuen Aufgaben, von denen in seinem Rücktrittsschreiben die Rede ist, eine euphemistische Verschleierung seiner Kündigung darstellen. Da zwischen Penn und Sacher-Masoch keine ideologischen Differenzen bestehen, sind wahrscheinlich finanzielle Gründe für den Abschied des ersteren verantwortlich. Dem Eigentümer und Herausgeber Sacher-Masoch dürfte ein zweiter verantwortlicher Redakteur neben ihm selbst nicht zuletzt deswegen zu kostspielig geworden sein, weil der steirische Landtag aufgrund von Beschwerden der Fakultät die Remuneration für die landesgeschichtlichen Vorlesungen am 20. Dezember 1866 einstellt. Diese Sanktion ist die erste ostentative Aktion gegen ihn in dem seit seiner umstrittenen Habilitation schwelenden Konflikt mit der Philosophischen Fakultät, der schließlich im Jänner 1870 zur Niederlegung seiner Dozentur fuhrt. 25 Doch trotz der Trennung von Penn verbessert sich die ökonomische Situation der Zeitschrift nicht wesentlich. Schuld daran sind weitere finanzielle Fiaskos, die Sacher-Masoch mehr oder weniger unvorbereitet treffen. So endet die bereits erwähnte Ehrenbeleidigungsklage des Grazer Geldmaklers Martin Keller mit einem Schuldspruch für Sacher-Masoch. Er wird am 16. März 1867 vom k.k. Landesgericht in Graz zu 50 fl. oder 10 Tagen Arrest verurteilt. In der Beilage Der Salon zur Nummer 12 veröffentlicht er einen Auszug aus dem Gerichtsprotokoll, der dokumentiert, wie Sacher-Masoch sich während der Verhandlung über die sprachliche Unbeholfenheit und Einfältigkeit seines Kontrahenten lustig macht - die mediale Präsentation seiner geistigen Überlegenheit stellt allerdings seinen einzigen Triumph in dieser Angelegenheit dar. Schon vor diesem Schuldspruch erleidet der Eigentümer und Herausgeber der G.f.O. finanziellen Schaden, da der von ihm engagierte Anzeigenkeiler Czrenner bereits im Jahr 1866 Gelder veruntreut

24 Heinrich Penn: Fünfundzwanzig Jahre. Ein schlichter Rechenschaftsbericht über mein publicistisches und schriftstellerisches Wirken von 1860-1885. Mit einem Anhange als Festgabe: Unser Doktor. Original-Sittenbild. Brünn, Wien o.J. [1885], S. VI. 25 Vgl. Walter Höflechner: Leopold Sacher-Masoch Ritter von Kronenthal und die Universität Graz. In: Michael Farin (Hrsg.): Leopold von Sacher-Masoch. Materialien zu Leben und Werk. Bonn 1987, S. 261 ff.

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hat. Die G.f.Ö. berichtet davon in der Nummer 20 des darauffolgenden Jahrganges anläßlich dessen Verurteilung. Sacher-Masoch bekommt in dieser Sache also recht, aber, da der Verurteilte „aus Graz flüchtig geworden ist" (67;20), zumindest vorläufig kein Geld. Die finanziellen Mittel werden so knapp, daß auch prominente Mitarbeiter lange auf die Bezahlung ihrer Honorare warten müssen. So schreibt etwa Adalbert Stifter im Jänner 1867 einen besorgten Brief an seinen Freund, den Schriftsteller, Beamten und G-/"0.-Mitarbeiter Dr. Franz Isidor Proschko, um sich Sicherheit über die Zahlungsfähigkeit Sacher-Masochs zu verschaffen.26 Solche Unbill trägt wohl wesendich dazu bei, daß dem Herausgeber zunehmend die Lust an der Weiterführung seiner Zeitschrift vergeht und er schließlich resigniert. In einer Notiz auf der ersten Seite der Nummer 24 informiert SacherMasoch die „Mitarbeiter und Leser der ,Gartenlaube für Oesterreich'" (67;277) über die bevorstehenden Veränderungen: Indem ich mit 1. Juli d. J . von der Redaction der ,Gartenlaube für Oesterreich', welche zugleich in das ausschließliche Eigenthum des bisherigen Miteigenthümers, Herrn Hügel, übergeht, zurücktrete, spreche ich allen Jenen, welche das Blatt in irgendwelcher Weise gefördert haben, meinen Dank aus und hoffe, daß sie demselben auch in Zukunft ihre Theilnahme bewahren werden. (67;277)

Daß Heinrich Hügel schon bislang Miteigentümer der G.f.Ö. war, ist seiner Mitteilung an das Statthaltereipräsidium nicht zu entnehmen - „Ich mache hiemit die ergebenste Anzeige, daß ich mit 1. July d. J. das Eigenthum der belletristischen Wochenschrift,Gartenlaube für Oesterreich' von Herrn Dr. Sacher-Masoch übernommen habe" 27 -, spricht aber für die angespannte pekuniäre Situation, in der sich letzterer befindet. Durch den Verkauf ist er nun der finanziellen Sorge um die Zeitschrift enthoben, zugleich scheidet er aber auch aus der redaktionellen Verantwortlichkeit aus. Dies ist eines von mehreren Indizien dafür, daß es nicht nur die ökonomische Situation der G.f.Ö. ist, die ihn zur Aufgabe veranlaßt. Schon ein Blick auf die Auflagenentwicklung28 veranschaulicht, daß Sacher-Masoch sein ehrgeiziges Pro26 Vgl. Adalbert Stifter an Franz Isidor Proschko, 24.1.1867. In: VASILO 29 (1980), S. 119. 27 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 1765/867. Brief in der Anlage. 28 Die spärlichen Angaben zur Auflagenhöhe variieren, übersteigen jedoch nie eine Höhe von 5000 Exemplaren.

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jekt, die G.f.Ö. zum österreichischen Pendant der Leipziger Gartenlaube zu machen, als gescheitert betrachten muß. Doch nicht allein dieser Aspekt, der nur bedingt dazu geeignet ist, Auskunft über das Reüssieren einer Zeitschrift zu geben - unter dem Blickwinkel der Auflagenzahlen betrachtet, dürfte auch die Geschichte von Roseggers Heimgarten nicht als Eifolgsstoiy geschrieben werden auch die inhaltliche Entwicklung der G.f.Ö. kann als Erklärung für das zunehmende Desinteresse Sacher-Masochs an seiner Zeitschrift dienen. Als eines von vielen Beispielen dafür kann etwa die Dominanz der Mitarbeiter aus den deutschsprachigen Teilen der Monarchie genannt werden. Es ist vermutlich diese Melange aus finanzieller und redaktioneller Misere, die Sacher-Masoch dazu veranlaßt, sich schon während der Zeit seiner verantwortlichen Leitung nach neuen Betätigungsfeldern umzusehen. Er bewirbt sich „um die Lehrkanzel aus Österreichischer Geschichte, die in Lemberg errichtet werden" 29 soll. Sinnfälligen Ausdruck findet das Scheitern seines Planes einer antipreußischen ,Gegen-Gartenlaube' in der Person ihres neuen Besitzers. Die Beamten des Statthaltereipräsidiums wissen von ihm zu berichten, „daß der Eigenthümer und Herausgeber der , Gartenlaube' Heinrich Hügel aus Stettin in Preußen geb., Sohn eines in Breslau lebenden Banquiers, nur Lebemann ist, sich [...] um Politik wenig kümmert." 30 Nicht einmal ein Jahr nach ihrer Gründung ist die G.f.Ö. also im Besitz eines politisch indifferenten Preußen.

N E U E R HERAUSGEBER UND NEUER HEINRICH H Ü G E L UND KARL

REDAKTEUR:

PRÖLL

In Nummer 26 übergibt Sacher-Masoch die Redaktionsverantwortlichkeit offiziell an seinen Nachfolger, den „bisherigen Mitarbeiter, Herrn Carl Pröll", und empfiehlt ihn „zugleich, aus vollster Ueberzeugung, dem Vertrauen der Mitarbeiter und Leser dieses Blattes." (67;501) Pröll zählt erst seit März 1867 zu den Mitarbeitern der G.f.Ö. Die wenigen Angaben, die mir über sein Curriculum vitae bis zum Zeitpunkt des Redaktionsantrittes vorliegen, entstammen wiederum einem Bericht an den Statthalter vom 25. Juni 1867: 29 Höflechner (Anm. 25), S. 265. 30 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 2551/867.

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Obwol [...] auch wider ihn hieramts nichts Nachtheiliges bekannt ist; erscheint es doch wünschenswerth ein Näheres über dessen allseitige Haltung in den Jahren von 1864 bis inclusive 1866, welche er in Wien als stiller Geschäftstheilnehmer der Buchhandlung J.A. Bachmann zubrachte, in Erfahrung zu bringen. [...] Karl Pröll ist 27 Jahre alt, katholischer Religion, ledigen Standes, in Graz geboren und zuständig, woselbst er seit 1. Jänner 1. J. in der [...]Straße Nr. 65/i[l] wohnt, und war bis zu seiner Ubersiedlung nach Wien Lieutenant im 24 Genie-Regiment Nr.i [1], welche Charge er nach einer [...] Erklärung seiner Kameraden mit Ehren quittirt hat.51

Die Übernahme der Leitung der G.f.O. ist nicht nur sein Debüt als verantwortlicher Redakteur, Pröll steht auch erst am Anfang seiner journalistischen und schriftstellerischen Laufbahn. Er tritt seinen Dienst jedenfalls mit beachtlichem Gestaltungswillen an. Bereits die Nummer 27 der G.f.O. erscheint mit dem geänderten Titel Oesterreichische Gartenlaube. Wochenschrift^2 fiir Familie und Volk/Freiheit u. Fortschritt, dem neuen Motto: „Schließt einen heiligen Bund, Ihr Nationen,/Und reichet Euch die Hand!" und dem Hinweis „Redigirt von Carl Pröll" (67;313). Gleichzeitig verschwindet die fröhliche Tafelrunde, ein der sich viele Plagiatsvorwürfe entzündeten, aus dem Titelkopf - übrig bleibt lediglich die Laubenumrankung. Diese Neuerungen sollen nach dem Wunsch des neuen Redakteurs erst den Auftakt zu einer grundlegenden Neukonzeption der O.G. bilden. Dies geht aus einem Brief des mit ihm befreundeten Offiziers und Schriftstellers Friedrich Marx an August Silberstein hervor. „Leider hatte der neue Redakteur mitten im Jahrgange keine Wahl, den Titel des Blattes zu ändern, wie denn auch aus technischen Gründen Format und Anordnung des Stoffes beibehalten werden mußte. Mit dem 3. Jahrgange soll jeder Schatten eines Plagiats beseitigt werden, und das Blatt nach Wien übersiedeln." 35 Die intendierte Ubersiedlung in die Hauptstadt hätte nach dem Abgang der beiden Redakteure Penn und Sacher-Masoch wohl auch die Trennung der

31 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 1765/867. 32 Bei den in der Österreichischen Nationalbibliothek vorhandenen Exemplaren der Ö.G. lautet der Untertitel für alle Nummern der Ära Pröll [Nr. 27(1867)-Nr. 23(1868)] Wochenschrißfiir..., jene der Steiermärkischen Landesbibliothek tragen die Bezeichnung Organ fiir... Ich konnte nicht eruieren, aus welchem Grund Exemplare derselben Nummer mit verschiedenen Titelköpfen produziert wurden. 33 WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 27.7.67.1.N. 24.340.

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O.G. von der Druckerei Pock und damit das Ausscheiden aller Initiatoren und Betreiber der Journalgründung bedeutet. Doch bereits fünf Monate später ist von einem solchen Ortswechsel keine Rede mehr. Auch die beabsichtigte Umbenennimg, die die O.G. ebenso aus der antagonistischen Stellung zur Leipziger Gartenlaube befreien soll wie von Plagiatsvorwürfen, fallt dem merkantilen Kalkül zum Opfer: „Das Aushängeschild ihrer [i.e. der O. G.] nun schon so gut renommirten Firma im 2. Jahrgange zu ändern, geht aus administrativen Rücksichten absolut nicht an." 34 Diesem Eingeständnis läßt Marx sofort massive Abgrenzungsbemühungen folgen: „Bis auf das Wort, Gartenlaube' hat es endlich mit der Leipziger nichts als den allgemeinen Zweck der Unterhaltung und Belehrung gemein, während es in Tendenz Gestalt und stofflicher Anordnung von dieser grundverschieden ist u. bleibt."35 Die völlige Umgestaltung der Beilage stellt neben der Änderung des Titels die auffalligste Neuerung der Ära Pröll dar. Aus dem zweiseitigen, Grazer Lokalthemen behandelnden Feuilletonteil Der Salon wird eine vierseitige, unbetitelte Beilage, die in den fixen Rubriken Tagebuch der Cultur/des geistigen und socialen Lebens und Beiträge zur Literaturkunde den Versuch unternimmt, „das für den allgemeinen Fortschritt wirklich Wichtige" (67;TdC27) aus allen Bereichen von Politik, Kultur und Wissenschaft zu bringen. All diese Veränderungen und Innovationen sind Ausdruck einer Zäsur in der Programmatik der O.G. Wie Sacher-Masoch versucht auch Pröll, neue Mitarbeiter zu gewinnen. Er findet dabei Unterstützung durch den erwähnten Friedrich Marx, der ihn „als ehemaligen Armee-Kameraden" schon „seit Jahren" 36 zu seinen Freunden zählt. Marx ist mit der im Entstehen begriffenen Grazer Literaturszene vertraut, steht auch mit einigen arrivierten Schriftstellern, wie z.B. August Silberstein, in brieflichem Kontakt und versucht diese für die Mitarbeit an der O.G. zu gewinnen. Man kann ihn, der ja später einer der Herausgeber der 0 . G.-Nachfolgerin Edelweiß wird, für die Redaktionszeit Prölls als dessen inoffiziellen ,Hauptmitarbeiter' bezeichnen, auch wenn er selbst seine Beteiligung herunterzuspielen versucht: „Für meine Person habe ich keinen andern Grund, als meine langjährige Freundschaft zu dem so jungen, auf der Höhe der Bildung unserer Zeit stehenden, wenn auch die Form noch 34 WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 2.12.67.1.N. 24.342. 35 Ebd. 36 WStLB-HS. Friedrich Marx an Karl von Thaler, 19.8.67.1.N. 30.467.

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nicht so ganz beherrschenden Redakteur, für das Blatt Propaganda zu machen." 37 Diesem altruistischen Bekenntnis folgt das implizite Dementi auf den Fuß, wenn er der Werbung für die O.G. Eigenpropaganda folgen läßt: „Damit Sie es [das Blatt] wieder einmal zu Gesichte bekommen, sende ich Ihnen die jüngste Nr. aus welcher Sie zugleich ersehen werden, dz meine Samlung ,Neu ausgewählte Gedichte Longfellows' infreier Nachbildung demnächst die Preße verlaßen." 38 Einen Monat nach der Ablöse SacherMasochs zieht Marx eine erste Bilanz über die geschäftliche Situation der Ö.G.: „Aus dem Norden Deutschlands laufen massenhafte Bestellungen ein - passiver verhält sich unser engeres Vaterland und merkwürdiger Weise zählt die Gartenlaube in den slavischen Provinzen Österreichs viel mehr Abonenten als in den reindeutschen." 39 Diese Feststellung scheint die These zu relativieren, daß Sacher-Masoch sein intendiertes Zielpublikum nicht erreicht. Denn zweifellos stammen die angesprochenen Abonnenten aus den slawischen Provinzen noch aus dessen Ära. Die von Marx angesprochene Bestellungsflut aus dem Norden kann dagegen bereits der neuen Redaktion als Bonus verrechnet werden. Daß diese positive Aufnahme der O.G. im Kontrast steht zur bescheidenen im eigenen Land, gibt Marx ein weiteres Mal Anlaß zu einem Lamento, in dem er auch die weiter oben angesprochene Indifferenz der österreichischen Medien für den mangelnden Erfolg verantwortlich macht. Wie ich schon neulich erwähnt, scheint das Blatt im deutschen Norden mehr und mehr Boden zu gewinnen; - sollen wir nun unsere Österreich. Landsleute der Theilnamslosigkeit zeihen, wenn man von dem so gediegenen, ehrenwerthen Unternehmen wenig Notiz nimmt? Hat ein einziges Österreich. Journal, darin der ö. Gartenlaube wahrlich keine Konkurrenz besorgen darf, bisher außer der hiesigen „Tagespost" es der Mühe werth befunden, dem von so edlen gediegenen Kräften getragen [sie] vaterländischen' Unternehmen ein Wörtchen des Beifalls und der Ermunterung zu spenden? ... Vielleicht wäre es doch eine Ehrenpflicht unserer Journalistik ein solches Zeichen erfreulicher geistiger Regsamkeit im ,Inlande' mit Theüname zu begrüßen, das junge Blatt im kollegialen Sinne zu fördern.40

37 38 39 40

WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 2.12.67.1.N. 24.542. Ebd. WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 27.7.67.1.N. 24.340. WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, undatiert. I.N. 24.337.

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Trotz dieser Probleme startet die Redaktion der Ö. G. mit Optimismus ins n e u e Jahr: „Bleibt es Friede, so dürfte das U n t e r n e h m e n mit d e m 3. Jahrgange zu prosperiren beginnen u n d ü b e r die alte österreichische Indolenz kein Klaglied m e h r zu singen haben." 4 1 Pro 11, d e r in e i n e m a n d e r e n Zus a m m e n h a n g konstatiert, daß er „Selbst Reklame von uns i m eigenen Blatt ä la Leipzig. Gartenlaube nicht liebe" 42 , verzichtet Ende des Jahres 1867 sogar auf eine Pränumerationseinladung in d e r O.G. - in anderen Journalen, wie den Monatsheften fiir Theater und Musik, wird allerdings f ü r ein Abonn e m e n t geworben - u n d weist lediglich auf die in den nächsten Ausgaben erscheinenden Beiträge hin. Ein Bericht d e r Grazer Statthalterei an die Klag e n f u r t e r Kollegen r ä u m t ein, d a ß „die ,österreichische Gartenlaube' seit seinem [Prölls] Eintritt in die Redaktion einen unverkennbaren Aufschwung n a h m . " 4 3 Auch von seinem Vorgänger Sacher-Masoch wird i h m u n d d e r Zeitschrift in d e n Monatsheften für Theater und Musik Lob gezollt 44 , das freilich unter d e m Aspekt gelesen w e r d e n m u ß , daß in derselben N u m m e r ein ganzseitiges Inserat der O.G. geschaltet ist. Anders stellt sich die Situation in einer nicht von Werbeinteressen betroffenen Mitteilung dar. In ein e m „Mitte J ä n n e r 1868" 45 verfaßten Brief an Franz Michael Felder, d e r diesen über die G r ü n d e f ü r das Ausbleiben seines Honorars informiert, gibt Pröll Aufschluß über die prekäre Lage d e r O.G.: Herr Hügel, den ich wegen des Honorars erinnerte, sagte mir, dass er es nächster Tage an Sie übermitteln werde. Er erwartet jeden Tag einige 1000 Th., welche ihn seine Familie in Stettin als Rente berichten muss; denn leider ist unser Unternehmen noch lange nicht auf dem Standpunkte, wo es sich selbst deckt. Wir haben etwa 1500 Abonnes. u. brauchen jetzt mit Stahlstich etc. 2500 zur Deckung selbst bei unseren so kleinen Honoraren. Nun ich verliere den Muth nicht; gilt es doch ein edles Ziel.46 D e r vorgeblich ungebrochene Enthusiasmus Prölls, den er hier als durch

41 WStLB-HS. Friedrich Marx an Karl von Thaler, 19.8.67.1.N. 50.467. 42 Franz Michael Felder: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Franz-Michael-Felder-Verein. Bd 11. Briefwechsel 1856-1869. 2. Teil. Hrsg. v. Walther Methlagl. 1989, S. 36. 45 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 1855/868. 44 Monatshefte für Theater und Musik. Nr.l (1868), S. 52. 45 Felder: S.W. 11. (Anm. 42), S. 11. 46 Ebd.

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das Wissen um die Bedeutung der Ö.G. fundiert markiert, die wiederum dem Mitarbeiter die niedrigen Honorare schmackhaft machen soll, scheint fünf Monate später verflogen. Dies läßt sich jedenfalls aus der Mitteilung Heinrich Hügels an die k.k. Statthalterei vom 9.6.1868 schließen, in der er „die ergebene Anzeige [macht], daß Herr Karl Pröll mit der am Samstag den 6 dMts ausgegebenen Nr. 23 meines Blattes die Redaction desselben niederlegte und Herr Jos. Pock, hier, kk. österreichischer Staatsunterthan und Besitzer einer Buchdruckerei zu Graz, Jacominiplatz dieselbe übernehmen wird." 47 Nachdem er schon als Herausgeber fungierte, übernimmt der Drucker der G.f.Ö./O.G. nun also die Redaktionsverantwortlichkeit. Die Umstände dieser Übernahme legen die Vermutung nahe, daß Prölls Ausscheiden nicht im guten und daher auch nicht so freiwillig erfolgt, wie es Hügel dargestellt wissen will. So wird der Abgang ihres Leiters in der O.G. weder erwähnt oder gar kommentiert, einziger Hinweis darauf ist die Ersetzung seines Namens im Titel. Ein Bericht der Statthalterei spricht davon, daß der bisherige Redakteur „den Anzeichen nach in Folge einer Streitigkeit mit Heinrich Hügel, [...], freiwillig"48 zurückgetreten ist. Zu den Indizien einer disharmonischen Trennung zählt auch die Tatsache, daß Pröll nach seinem Ausscheiden ohne Beschäftigung dasteht und erst durch die massive Intervention Friedrich Marx' über Vermittlung August Silbersteins49 als Redakteur der Klagenfurter Zeitung unterkommt. Das Dankschreiben des Freundes an den Stellungsbeschaffer illustriert die prekäre Lage, in der sich Pröll zwei Monate nach seinem Rücktritt befindet. Was Sie, edler Freund, für unseren armen Pröll gethan, möge Ihnen Gott lohnen! Wir haben Aussicht, daß er denn doch als Redacteur der Klagftr. Ztg. unterkommt, da der Bruch der Eigenthümer jenes Blattes mit Dr. Ißleib noch vor Prölls Bewerbung ein vollständiger war und ich doch, wenn Ißleib schon einmal nicht in Klagenfurt bleibt, eher unseren [sie] Pröll als einem Fremden das warme Plätzchen gönnen muß.50

47 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 1369/868. Brief in der Anlage. 48 Statt.präs. 9-3819.861 unter Zahl 1833/868. 49 Vgl. WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 22.9.68. I.N. 24.348. „Gott sei Dank, dz. er [Pröll] mit Ihrer edelmüthigen Mithilfe glücklich geborgen ist!" 50 WStLB-HS. Friedrich Marx an August Silberstein, 29.7.68. I.N. 24.347.

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Es ist nicht anzunehmen, daß Pröll mit dem Ausblick auf existentielle Bedrohung vollkommen freiwillig das „warme Plätzchen" in der O.G. räumt, auch wenn dieses nur eine rudimentäre finanzielle Absicherung gewährleistet, wie er selbst in einem Brief an Franz Michael Felder behauptet: „Ich hoffe auf den Sieg des Unternehmens, welchem ich alle meine Kräfte widmen werde, so vollkommen uneigennützig u. ohne jede materielle Entschädigung, wie ich es bisher gethan, da ich die verfügbaren Mitteln des Unternehmens lieber der Ausgestaltung des Blattes zugewendet sehe" 5 ; das Wissen um die finanziellen Probleme Prölls nach dem Ausscheiden aus der Redaktion dekuvriert diese Zeilen als stilisierende Selbstdarstellung und relativiert damit ihre Aussagekraft. Dennoch kann als Resümee festgehalten werden, daß sowohl die emotionale als auch die finanzielle Bindung Prölls an die O.G. so groß ist, daß der behauptete freiwillige Rücktritt nicht sehr glaubhaft scheint.

E I N I N T E R M E Z Z O U N D E I N IM S T I C H G E L A S S E N E R R E D A K T E U R : J O S E F POCK U N D H A N S VON S Ü D E N H O R S T

Die Redaktionsverantwortlichkeit Josef Pocks erstreckt sich nur bis zum Ende des Jahres 1868. Während in diesem Zeitraum der Hauptteil der Zeitschrift keine wesentlichen Veränderungen erfahrt, wird das Beiblatt formal und inhaltlich umgestaltet. Ab der Nummer 27 der O.G. ist das Tagebuch der Cultur/der geistigen Arbeit und socialen Entwicklung nicht mehr in verschiedene, nach Wissensgebieten unterteilte Rubriken geordnet, sondern präsentiert Kurzmeldungen in loser Folge. Mit dieser Veränderung geht eine starke Verkürzung des Tagebuchs einher. Es verliert dadurch seinen enzyklopädischen Charakter und wandelt sich zu einer Miszellenrubrik. Auch die Beiträge zur Literaturkunde enthalten nun statt zwei, drei längerer Artikel mehrere kurze Rezensionen. Diese Neuerungen sind keineswegs nur unter dem Aspekt größerer Lesefreundlichkeit zu betrachten, sie indizieren vor allem im Fall des Tagebuches auch eine politische Dimension. Nicht zufallig verschwindet gleich im ersten Heft der neuen Redaktion mit Schule und Vereinswesen gerade jene Rubrik, die unter Karl Pröll traditionell Ort programmatischer politischer Stellungnahmen war. 51 Franz Michael Felder: Briefwechsel 1856-1869. 1 .T. Hrsg. v. Walther Methlagl. Bregenz 1981 (Sämtliche Werke 10), S. 409 f.

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Im September 1868 erwirbt Heinrich Hügel nach der G.f.Ö. von SacherMasoch auch dessen nächstes Zeitschriftenprojekt, die Monatshefte ßir Theater und Musik, und benennt sie in niustrirte Monatshefte für Theater, Musik und bildende Künste um. Er verbindet mit diesem Kauf offensichtlich die Hoffnung, Synergieeffekte zu erzielen, und organisiert demgemäß die O.G. weitgehend neu. Mit Jänner 1869 wird der bisherige Redakteur der Monatshefte Dr. Hans von Zwiedinek-Südenhorst, der sich seit 1868 nur noch Hans von Südenhorst 52 nennt, auch Schriftleiter der O.G. Sein Vorgänger Josef Pock verliert bei dieser Umstrukturierung nicht nur seine Position als für den Inhalt Verantwortlicher, ihm wird auch der Druckauftrag, der seit der Gründung der Zeitschrift seiner Firma anvertraut war, entzogen. Mit Beginn des vierten Jahrganges produziert sein Konkurrent Josef A. Kienreich, der die Monatshefte seit ihrer Gründung durch Sacher-Masoch anfertigte, auch die O.G. Diese durch Konzentrierung der Kräfte geschaffene Ökonomievariante schlägt sich auch auf der Angebotsseite für den potentiellen Leser nieder. Für Abonnenten der O.G. kosten die Monatshefte vierteljährlich statt 1 fl. nur 72 kr. Auch sonst ist man im Jänner 1869 bemüht, zusätzliche Anreize zur Pränumeration auf den laufenden Jahrgang zu schaffen. Wurde Ende des Jahres 1868 für den Fall eines Jahresabonnements der O.G. der Erwerb des Volks- und Familien-Kalenders noch zum Selbstkostenpreis in Aussicht gestellt, so ist dieser in Nummer 1 des 4. Jahrganges bereits Gratiszugabe zur Bestellung. Solche inflationär anschwellenden Okkasionsangebote illustrieren die Schwierigkeiten der Redaktion, die von ihr angegebene Auflage von 5000 Stück53 an den Leser zu bringen. Zum Eindruck der Krise trägt auch das Abgehen von der periodischen Erscheinungsweise - jeden Samstag - bei, er wird im Februar 1869 auch von Friedrich Marx geteilt: „Die ö. Gartenlaube scheint in den letzten Zügen zu liegen, da wir seit 14 Tagen keine neue Nr. mehr erhielten [...]." 54 In einem Postskriptum desselben Briefes widerruft er zwar diese Prognose - „Der ö: [sie] Gartenlaube that ich doch Unrecht; es ging ihr nur das Papier aus und so holt sie das Versäumte durch eine Doppelnummer nach.

52 Hans Johann Alois Zwiedinek Edler von Südenhorst ist zu diesem Zeitpunkt Angestellter der steiermärkischen Landesbibliothek, in die er gleich nach Abschluß seines Studiums in Graz eingetreten ist. Für nähere biographische Angaben s. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. T. 60. Wien 1890, S. 541 ff. 55 Vgl. die Anzeigen in der Jänner- und Februarnummer der Monatshefte 1869. 54 WStLB-HS. Friedrich Marx an Stephan Milow, 19.2.69.1.N. 68.641.

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Siehst D u m a n c h m a l das Blatt in Wien?" 5 5 doch spricht sowohl die Bereitschaft, aus einem einmaligen Ausbleiben d e r Zeitschrift auf deren Agonie zu schließen, als auch die Frage nach ihrer eventuellen Verbreitung in W i e n dafür, d a ß er u m Schwierigkeiten des Journals weiß. Es ist im Zus a m m e n h a n g mit diesen Problemen wohl eher ein Detail von symbolischer als faktischer Bedeutung, daß auch Stephan Milow 1869 sein Abonnement d e r O.G. aufgibt. Er erntet dafür von Friedrich Marx, der ihn stets über die Geschicke d e r Zeitschrift informiert u n d zu Beiträgen f ü r diese auffordert, subtil formulierte Kritik: „Ich w e r d e Dir das Blatt, deßen Abonnement D u aufgegeben, zu diesem menschenfreundlichen Zwecke senden." 5 6 A m 14. Juni gibt Friedrich Marx d e m F r e u n d u n d ,Nicht-mehr-Abonn e n t e n ' der O.G. deren bevorstehenden Exitus bekannt: Unserer ö: Gartenlaube Tage sind wahrscheinlich gezählt. Hügel, der bisherige Eigenthümer, hat, wie es heißt, seine 10.000 Thlr dabei zugesetzt und sieht sich nach einer solideren Kapitalsanlage um. Der Redacteur, Dr. Zwiedinek-Südenhorst, würde das Blatt gern fortsetzen, wenn sich nur ein tüchtiger Verleger hierfür finden ließe.57 Es handelt sich bei d e m erwähnten Betrag wohl u m eine Angabe in Reichstalern. Entspricht die genannte H ö h e der S u m m e den Tatsachen, dann hat Heinrich Hügel in den zwei Jahren seiner Herausgeberschaft tatsächlich ein Vermögen in die O.G. investiert. 10.000 Taler sind i m Jahr 1867 m e h r als das Achtfache der Jahresunterhaltskosten einer Familie. 58 Diese beachtliche S u m m e stellt die zu Geld geronnene Differenz dar zwischen d e m Anspruch, eine Zeitschrift von h o h e m inhaltlichen u n d gestalterischen Niveau zu produzieren, u n d d e r Wirklichkeit des literarischen Marktes, der sich f ü r eine solche nicht in d e m Maße und der Auflagenhöhe aufnahmebereit zeigt, wie es f ü r ihre positive ökonomische Entwicklung erforderlich wäre. Damit ist 55 Ebd. 56 WStLB-HS. Friedrich Marx an Stephan Milow, 26.4.69.1.N. 68.646. Bei dem menschenfreundlichen Zweck handelt es sich um die Bitte von Marx, Milow möge mit dem gemeinsamen Freund Kleinschmiedt die vorhandenen und fehlenden Qualitäten eines von diesem für die Ö. G. verfaßten Berichts aus Wien besprechen. 57 WStLB-HS. Friedrich Marx an Stephan Milow, 14.6.69.1.N. 68.647. 58 Vgl. Birgit Sippel-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Frankfurter Ausgabe) 30 (1974), S. B50 f.

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ein Grundproblem der 0. G. berührt, das auch im oben zitierten Brief angesprochen wird und letztlich zu ihrer Einstellung führt; es fehlt ihr an einem ausreichend kapitalkräftigen Verleger, der eine kontinuierliche Entwicklung der Zeitschrift auch ohne massenhafte Verbreitung gewährleisten kann und will. Die Journale, in deren Konzert die O.G. mitspielen will, haben meist ökonomische Rückendeckung durch arrivierte Verlage. Weder Josef Pock noch Heinrich Hügel, von Sacher-Masoch ganz zu schweigen, können der Ö.G. eine vergleichbare finanzielle Basis bieten. 59 Die Aufgabe Heinrich Hügels ist wohl als späte Einsicht in diese Gegebenheiten zu interpretieren, sie bedeutet das sang- und klanglose Ende der O.G. - im letzten Heft, der Nummer 17, wird die bevorstehende Einstellung mit keinem Wort erwähnt. Ein Blick auf die kurze Geschichte des sich selbst als Fortsetzung der Ö.G.60 verstehenden Edelweiß. Zeitschriftfür Belletristik, Literatur und populäre Wissenschaft beweist, daß das neue Journal trotz bescheidenerer Intentionen - im Eröffnungsartikel wird ausdrücklich betont, daß nicht die Absicht besteht, „einem der deutschen belletristischen Blätter Concurrenz zu machen oder in gegnerischer Absicht entgegenzutreten" 61 - mit denselben Problemen zu kämpfen hat wie die 0. G. Die Doppelung jenes Schicksals, das in der G.f.O./O.G- Rezeption häufig als Mißerfolgsgeschichte beschrieben wird, markiert deren entscheidende Voraussetzung. Der O.G. fehlt jene ökonomische Basis, die der Heimgarten bei seiner Gründung (1876) in Gestalt des zur ,Actien-Gesellschaft für Papier und Druckindustrie Leykam-Josefsthal' gehörenden Verlages bereits vorfindet. Aus diesem Grund ist die Charakterisierung der G.f.O. als scheiternder Vorläufer des reüssierenden Heimgartens problematisch, wenn sie an inhaltlichen Kriterien festgemacht wird.

59 August Silberstein bestätigt in einem anderen Zusammenhang diese Einschätzung des Verlages Pock, wenn er auf die Übersendung des von Pock herausgebrachten Roseggerschen Erstlings Zither und Hackbrett repliziert, er hätte es lieber bei einem „guten, renommierten und bezahlenden Verleger" erscheinen gesehen. - Vgl. Dichterbriefe. Der Briefwechsel zwischen Peter Rosegger und August Silberstein. Hrsg. v. Oskar Katann. Wien, Leipzig 1929, S. 83. 60 Der entsprechende Hinweis „Fortsetzung der,Oesterreichischen Gartenlaube'" findet sich aber nur beim ersten Jahrgang (1869) im Titelkopf. 61 Edelweiß. Zeitschrift für Belletristik, Literatur und populäre Wissenschaft. Fortsetzung der „Oesterreichischen Gartenlaube". Herausgeber: Friedrich Marx, Franz Ilwoff, Robert Hamerling, Josef Mayr-Tüchler, Hans von Südenhorst. Für die Redaktion verantwortlich: Hans von Südenhorst. (1869), S. 1.

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Die Gründung des „Heimgartens" (1876) erfüllte, was mit „Hoch vom Dachstein an", der „Gartenlaube für Osterreich" und den vom späteren Universitätsprofessor Hans von Zwiedineck-Südenhorst mit Sacher-Masoch herausgegebenen „Monatsheften für Theater und Musik" (1868/69) nicht gelungen war: mit der Vereinigung von volkstümlicher und anspruchsvoller Literatur zugleich ein Zentralorgan für die kulturellen Belange der Steiermark zu schaffen, dessen Stimme aber auch über die Landesgrenzen hinausreichte.62 Diese inhaltliche Charakterisierung trifft in vielen Punkten auch für die O.G. zu, genauso wie die Angaben über die Rezeption des Heimgarten. So entwickelt sich die überregionale und übernationale Verbreitung des Blattes was seine Ausdehnung betrifft, nicht die absoluten Zahlen - in den wenigen Jahren des Bestehens durchaus zufriedenstellend: Pröll spricht in einem Brief an Felder von Abonnenten in Stockholm, Riga, Neapel und Paris. 6 3 Daß die O.G. nicht zu jenem „Zentralorgan für die kulturellen Belange der Steiermark" wird, liegt wohl nicht - wie im obigen Zitat implizit angedeutet wird - an ihrer mißlungenen Konzeption, sondern vielmehr daran, daß knapp vier Jahre nicht zur Herausbildung einer Position als regionale Institution ausreichen. Trotz der zum Teil erheblichen Schwankungen in der Programmatik 6 4 , die vermutlich auch das Ihre zum Scheitern des Zeitschriftenprojekts beigetragen haben, sind es also primär außerliterarische Faktoren, vor allem die mangelnde finanzielle Fundierung des Unternehmens, die seine dauerhaftere Etablierung a m Zeitschrütenmarkt verhindern.

SACHER-MASOCHS

ÖSTERREICHISCHES

PROJEKT

Mehr noch als die Niederlagen von 1859 bewirkt das Fiasko von Königgrätz einen Impetus in der politischen, besonders in der nationalpolitischen Entwicklung Österreichs. Zwar haben bereits die militärischen Mißerfolge von 62 Hellmuth Himmel (Anm. 22), S. 251. 63 Vgl. Franz Michael Felder: Briefwechsel 1856-1869. 2.T, S. 57. 64 Diese programmatischen Orientierungsversuche teilt die Ö.G. übrigens mit dem Heimgarten, dessen Erfolgsgeschichte ermöglicht jedoch, jene Brüche und Abstürze, die bei der Ö.G. zur Motivierung ihres Scheiterns herangezogen werden, zu harmonisieren und zum Bild einer kohärenten Entwicklung zusammenzustellen. - Vgl. dazu Karl Wagner: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen: Niemeyer. S. 17 lff.

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Magenta und Solferino einen Prozeß in Gang gesetzt, der an die Ideen von 1848 anknüpft, indem er eine Abkehr vom Neoabsolutismus hin zum liberalen Konzept einer konstitutionellen Monarchie anstrebt, doch stellt für den von Franz-Joseph I. konzedierten Reichstag die Lösung der Nationalitätenfrage zunächst kein vorrangiges Ziel dar.65 Der nach der Niederlage bei Königgrätz erfolgende Hinauswurf aus Deutschland macht die Notwendigkeit einer nationalen Standortbestimmung evident und wird damit zum Ausgangspunkt der unterschiedlichsten Hoffnungen und Projekte. Auch Sacher-Masoch sieht nun die Zeit für seine österreichische Idee gekommen. Der von ihm zumindest mitverfaßte Eröffnungsartikel der G.f.O. stellt einen an dieser Idee orientierten (über)nationalpolitischen Situierungsversuch dar. Die jüngste, für Oesterreich so traurige Katastrophe hat nicht nur einen politischen, sondern in ihren letzten Consequenzen auch eine Art Scheidungsprozeß der Geister vollzogen. Die politische Schranke, die sich dadurch aufgebaut, wird zum Damme werden gegen die Nivellirung der Geistes- und Kultur-Interessen der deutschen Staaten und österreichischen Lande. Kaum sind die letzten Kanonen-Donner verhallt, jauchzen bereits unsere süddeutschen Bundesgenossen dem Sieger zu. Wie das Volk, so dessen Organe. Mit Sack und Pack laufen sie schon in's preußische Lager. Die Leipziger Gartenlaube hat den Reigen eröffnet, Herr Keil ist „aus Ueberzeugung" zu den Preußen übergegangen, gegen die er jahrelang „aus Ueberzeugung'1 gekämpft. Diese Wendung der Ereignisse darf der echte Oesterreicher nicht vollziehen lassen, verzagt und grollend, die Hände im Schooße; er muß vielmehr alles aufbieten, um das Panier des Vaterlandes hochzuhalten - in Friede und Eintracht wirken für Oesterreichs Wohl und Freiheit, mit allen Stämmen des Reiches - Organe schaffen, durch die man alle geistigen und materiellen Interessen fördern, frank und frei zum Volke reden kann. Denn in demselben, wie verschieden auch seine Stämme sind, liegt eine unverwüstliche Naturkraft, und nicht zu verantworten ist der Fanatismus der Partei-Journale, welche diese Stämme seit Jahren gegeneinandergehetzt, statt zu vergleichen, auszusöhnen.

65 Vgl. Hartmut Lehmann, Silke Lehmann: Die Rolle des Nationalen in der Habsburgermonarchie. In: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 1. Teil. Von der Revolution zur Gründerzeit, 1848-1880. 1. Rd: Reiträge. Niederösterreichische Landesausstellung, Schloß Grafenegg 19.5.-28.10.1984. Wien 1984, S. 61.

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Die Aufgabe der „Oesterreichischen Gartenlaube" ist es daher, über den Parteien stehend, allen Stämmen gerecht zu werden, und dem einen Volke die charakteristischen Vorzüge des andern zu enthüllen, statt mit schonungsloser Hand die gegenseitigen Fehler aufzudecken, um daraus traurige Witze in einer verdammenswerthen Polemik zu drechseln. Vor allem ist es das in unserem Vaterlande von jeher völlig brachliegende Feld der Belletristik, wie der Wissenschaft im populären Gewände, welches unser Blatt kultiviren wird. Gesinnungstüchtigkeit, eine streng einheitliche Färbung, so wie freisinniges Streben nach Vorwärts, sollen unser Unternehmen auszeichnen, damit es zur Weckung der Heimatliebe, gegenüber einer negirenden, auswärtigen Journalistik, zur Hebung der allgemeinen Bildung und zur Kräftigung des Volksgeistes beitrage. Die Liebe zur Heimat, zum Volke, hat dies Blatt geboren, die Theilnahme der Heimat, des Volkes, muß es frisch und grünend erhalten! Den Blick nach Innen zu richten, ist fortan die Aufgabe jedes echten Patrioten, soll auch die unsere sein, denn das erste Mittel, um sein Vaterland lieben zu lernen, ist: dasselbe genau kennen zu lernen. Daß unser Unternehmen ein zeitgemäßes ist, beweisen die aus allen Theilen der Monarchie uns zugekommenen freudigen Begrüßungen, daß es auch ein lebensfähiges sei, zeigt die Thatsache, daß bereits die hervorragendsten Geister unseres engeren und weiteren Vaterlandes theils Beiträge gesandt, theils ihre Mitwirkung zugesagt haben. Und so fliege denn hinaus frisches, junges Blatt, bringe jedem Oesterreicher einen warmen Gruß der Heimat, und möge Dir dafür seine Thüre offen stehen, damit in jeder österreichischen Familie heimisch werde Die österreichische Gartenlaube. (66; 1) Damit ist jenes Programm formuliert, das für die G.f.O. bis zum Ausscheiden Sacher-Masochs maßgeblich ist. D e r politische Hinauswurf aus Deutschland mit all seinen gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen ist in der Interpretation der Verfasser des Einleitungsartikels eine Chance zur Herausbildung einer eigenen, unverwechselbar österreichischen Identität. D i e aus den Ereignissen von 1866 resultierende Abgrenzung von Deutschland wird als positiver Aspekt der Niederlage verbucht. Diese Position ist allerdings realiter - wenigstens unter den Deutschösterreichern nur marginal vertreten. Sie sehen zwar 1866 ihre Hoffnungen auf deutsche Einheit fürs erste negativ beschieden, doch ihre daraus resultierende Identitätskrise beantworten sie großteils mit d e m Beharren auf einer mehr oder

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weniger engen Verbindung mit Deutschland. 6 6 Die Redaktion der G.f.Ö. hingegen sieht zunächst alle Verbindungen gekappt und führt als Beweis für die Faktizität dieser Diagnose das Verhalten der ehemaligen Bündnispartner an. Daß deren behauptete Wetterwendigkeit am Beispiel des ideologischen Schwenks einer Zeitschrift veranschaulicht wird, illustriert die Bedeutung, die dem Meinungsbildungspotential eines Journals zugemessen wird, ebenso wie die Richtung, gegen die sich die Abgrenzungsbemühungen der Gf.O. wenden. Tatsächlich verfolgt die Leipziger Gartenlaube, die sich immer wieder in Konflikt mit den preußischen Behörden befindet und ab 1863 in Preußen verboten ist, nach den Umwälzungen im Gefolge von Königgrätz einen deutlich moderateren Kurs gegen die nördlichen Nachbarn 6 7 , verstärkt aber die Angriffe gegen Osterreich. Die angedeutete Abschottung richtet sich also nicht generell gegen Deutschland, sondern primär gegen Preußen und die ihm folgenden Bündnispartner. Gegen diese Allianz wird eine echt österreichische ins Treffen gefuhrt, die von ihrer Existenz nicht zuletzt deshalb noch nichts weiß, weil ihre Mitglieder von den nicht näher bestimmten ,,Partei-Journale[n]" (66;1) gegeneinander aufgehetzt wurden und werden. Wieder illustriert die Argumentation, welchen Einfluß die Redaktion d e m Diskurs via Zeitungen zuschreibt. Eine solche Beweisführung, die ganze Völker durch Journale aufgehetzt sieht, ist leicht als liberale Projektion zu dekuvrieren, die die Realität der - gemessen an der Gesamtbevölkerung - geringen Zahl potentieller Leser negiert, sie ermöglicht aber der neuen Zeitschrift, sich selbst einen prominenten Platz bei der angestrebten Bewußtseinsänderung zuzuweisen. Die Redaktion der G.f.Ö. verläßt sich beim Versuch der Durchsetzung ihrer Intentionen auf den Einsatz des klassisch liberalen Instrumentariums - der Presse - als Medium des Fortschritts durch Bildung. Der echte Österreicher m u ß „Organe schaffen, durch die man alle geistigen und materiellen Interessen fördern, frank u n d frei zum Volke reden kann" (66;1). In diesem Sinne steckt sich

66 Vgl. dazu: Peter Urbanitsch: Zwischen Zentralismus und Föderalismus. Das „Problem der konstruktiven Reichsgestaltung". In: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. (Anm. 65), S. 242 sowie: Adam Wandruszka: Großdeutsche und kleindeutsche Ideologie 1840-1871. In: Deutschland und Osterreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch. Hrsg. v. Robert A. Kann und Friedrich E. Prinz. Wien, München 1980, S. 139 f. 67 Vgl. Hazel E. Rosenstrauch: Zum Beispiel ,Die Gartenlaube'. In: Annamaria Rucktäschel, Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Trivialliteratur. München 1976, S. 176 f. - sowie: Ruth Horovitz: Vom Roman des Jungen Deutschland zum Roman der Gartenlaube. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liberalismus. Breslau 1957, S. 50.

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die G.f.Ö. das ehrgeizige Ziel, „dem einen Volke die charakteristischen Vorzüge des andern zu enthüllen" (66; 1), was Rezeption in allen Teilen der Monarchie voraussetzt. Daß diese auch von der Redaktion selbst mit einem Fragezeichen versehen wird, scheint mir der vorletzte Absatz des Eröffnungsartikels zu bestätigen. Die Existenzfahigkeit einer Zeitschrift bereits in der programmatischen Vorrede zu thematisieren, wenn auch nur, um sie außer Frage zu stellen, verrät gewisse Unsicherheiten der Verantwortlichen. Dennoch oder gerade darum wendet sich die Redaktion an alle ,,echte[n] Oesterreicher" und „echten Patrioten" (66; 1), aus denen sie ihre zukünftige Leserschaft zu rekrutieren hofft. Daß diese Gruppe der ,,echte[n] Oesterreicher" (66;1) nicht näher bestimmt und beschrieben, sondern nur auf ihre künftige Bestimmung festgelegt wird, hängt wohl mit dem Bemühen zusammen, den Leserkreis des jungen Blattes möglichst wenig einzugrenzen. So verliert man trotz der antipreußischen Attitüde von Anfang an auch den deutschen Markt nicht aus den Augen und hofft, dort als „Unterhaltungsblatt" 68 zu reüssieren. Auch in diesem Zusammenhang operiert die Redaktion mit derselben schwammigen Begrifflichkeit: „Indem unser Blatt ein wahrhaft österreichisches ist, wird es ein kosmopolitisches, das nicht nur Oesterreich, das dem ganzen Deutschland, ja Europa durchaus Neues und Eigenthümliches zu sagen hat. "(66; 180) Die durch merkantile Überlegungen nur unwesentlich abgeschwächten Abschottungstendenzen tragen Sacher-Masoch die Kritik von Kreisen ein, die schon seine Erzählungen und Romane mißtrauisch beäugt haben. Ein gutes Monat nach dem erstmaligen Erscheinen der G.f.Ö. publiziert Hieronymus Lorm in der Presse unter dem Titel Der deutsch-österreichische Schriftsteller: Parasiten und Renegaten in Oesterreich ein gegen die Zeitschrift im allgemeinen und Sacher-Masoch im besonderen gerichtetes Pamphlet und eröffnet damit eine Auseinandersetzung, in deren Verlauf SacherMasoch seine persönliche ethnische Position und das Programm der G.f.Ö. gleichermaßen zu akzentuieren versucht. Was aber die „Oesterreichische Gartenlaube" aus dem Gebiet der harmlosen Schalheit, die man todtlächeln kann, in das zweifelhaft höhere der politischen Schädlichkeit erhebt, die man kennzeichnen muß, das ist das slavische Parasiten- und deutsche Renegatenthum in Oesterreich, welches sich schon auf der

68 Tagespost. Nr. 233 (23. September 1866).

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Stirne des Blattes als „Hauptmitarbeiter" zu erkennen gibt. Herr Sacher-Masoch veröffentlichte in Bach's Zeiten einen Roman: „Eine galizische Geschichte", in welchem der revolutionäre Empörungsversuch des polnischen Adels vom Jahre 1846 zwar ohne die Gesinnung, die sich auch aus liberalem Gesichtspunkt gegen jene frevelhafte Bewegung hätte geltend machen lassen, aber doch mit einer Betonung deutsch-österreichischer Culturmacht behandelt wurde, daß man Composition und Darstellung, weil sie auch sonst einen nicht unbegabten Anfänger verriethen, denjenigen lobend empfehlen durfte, die auch in gedrückter Zeit den deutschen Beruf Oesterreichs gerne hervorgehoben sahen. Zum Erstaunen entpuppte sich derselbe Autor, und zwar fortgesetzt in deutscher Sprache, als ein Ueberläufer zum Slaventhum, oder als ein dahin „Zurückkehrender", der uns Deutschen nichts vergönnte als - seine Bücher. Zu welcher Grausamkeit sich der Deutschenheiß versteigen kann! Warum aber der Autor von „Kaunitz", welcher Roman ebenfalls liebliche Proben jener Abneigung enthält, bei so ausgesprochener Sympathie für die Volksstämme, unter denen er in jedem „Rastelbinder" einen Schopenhauer erkennt, nicht lieber polnisch oder slovenisch schreibt, warum er gerade uns, die hassenswerthen Deutschen, zu Vertrauten seiner Muse macht, ist zwar wunderlich, aber trotzdem leicht zu erklären. Die Slaven sind schon so ungeheuer gebildet, daß sie keine Bücher mehr brauchen, und im Bewußtsein dieser Bildung sogar größtentheils das Lesenlernen verschmähen. Die Deutschen sind so weit zurück, noch Bücher zu brauchen, auch zu gar nichts Besserem in der Welt tauglich, als Bücher zu kaufen und zu loben, und darum läßt uns Herr Sacher-Masoch das kindliche Vergnügen und schreibt, obgleich ein Pole oder Czeche, in deutscher Sprache.69 Lorm, der die nach Königgrätz wieder besonders virulente Frage ,Ist Osterreich deutsch?' bereits zwanzig Jahre früher positiv beantwortet hat, indem er die lebendige Verbindung „mit den Zeitbestrebungen Deutschlands" 70 als politische Perspektive vorgab, wertet in seinem Pamphlet die Option für oder gegen das Deutsche als entscheidendes Qualitätskriterium von Literatur. Hier zeigt sich der Konnex von Literatur und Politik ebenso wie die Verhärtung des nationalen Standpunktes vieler Deutschliberaler, die sich nach der Niederlage von 1866 bedroht zu fühlen beginnen. Lorms ironisch for69 Hieronymus Lorm: Der deutsch-österreichische Schriftsteller: Parasiten und Renegaten in Oesterreich. In: Die Presse. Nr. 304 (1866). 70 Hieronymus Lorm: Wien's poetische Schwingen und Federn. Leipzig 1847, S. 259.

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muliertes Insistieren auf der kulturellen und ökonomischen Suprematie der Deutschösterreicher kann nur die Ablehnung des Programms der G.f.O. zur Folge haben. Lustig aber ist es, das Programm zu hören, das er sich als Zeitungsschreiber entwirft. Auf der ersten Seite der „Oesterreichischen Gartenlaube" wird die Katastrophe, welche uns aus Deutschland hinausdrängte, gepriesen, weil sie einen „ D a m m " aufbauen wird „gegen die Nivellirung der Geistes- und Cultur-Interessen der deutschen Staaten und österreichischen Lande". - Das kann doch wol nur heißen, wenn es überhaupt einen Sinn hat, daß jener Damm die österreichischen Lande vor den specifisch deutschen Geistes- und Cultur-Interessen schützen wird. Eine erheiternde Aussicht! Noch komischer ist, daß er uns kosmopolitischen Deutschen, deren Nationalschwäche die zu große Toleranz gegen das Fremde ist, eine Predigt hält: wir sollen keine Witze machen über die Czechen, nicht zum Haß aufstacheln u.s.w. Diese Mahnungen sind nicht etwa böhmisch geschrieben, um von Böhmen verstanden und beherzigt zu werden, sondern wirklich und wahrhaftig deutsch. 71

Diese Ablehnung der Tendenz der G.f.O. in Teilen des liberalen Lagers, die sich in Lorms Pamphlet auch dadurch äußert, daß Sacher-Masoch seine liberale Position abgesprochen wird, ist für die Zeitschrift im Hinblick auf ihre erfolgreiche Entwicklung prekär. Denn trotz der wiederkehrenden Beteuerungen, die G.f.O. richte sich an alle Volksstämme und alle echten Patrioten, bildet doch das liberale Bürgertum das größte Reservoir potentieller Leser. Auch die persönliche Kritik Lorms an Sacher-Masoch nimmt Vorwürfe gegen diesen vorweg, die - verstärkt und erweitert - immer wiederkehren. Die vorgebliche Unsicherheit bezüglich seiner ethnischen Zugehörigkeit dementiert die Relevanz unterschiedlicher slawischer Identität - ob SacherMasoch „Pole oder Czeche" 7 2 oder Kleinrusse ist, ist für den Deutschen L o r m ohne Bedeutung: Slawe ist Slawe. Die aus solchen Uberlegenheitsphantasien resultierende, implizite Anschuldigung, sich an der deutschen Sprache zu versündigen, ist, gepaart mit der Aufforderung, sich auch sprachlich in jene trüben Gewässer zu begeben, in denen er sich stofflich und ideologisch umtut, ein Dauerbrenner der Kritik. In dem ungezeichneten Ar71 Lorm: Parasiten und Renegaten (Anm. 69). 72 Ebd.

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tikel Japhet, der seine Nationalität sucht wird ihr der Vorwurf der Wurzelund Traditionslosigkeit angefügt. Das [die Angriffe Lorms] hat den Herrn Sacher-Masoch in Harnisch gebracht, und zwar in den Harnisch einer ganz neuen Nationalität, der galizischen Russen - wie sich die Ruthenen nennen, wenn sie schwarzen Frack und Glacehandschuhe tragen. Manche hatten längst mit einiger Neugier gefragt, welcher nationalen Abstammung der mit allen erdenklichen Volksstämmen kokettirende doppelnamige Herr eigentlich selbst sich erfreue, und konnten darüber keine klare Auskunft erlangen. [...] Er hatte sich hie und da als Pole gerirt, und sogar persönlich zu dieser Nationalität bekannt; aber in seinen Schriften „die galizischen Erhebungs-Versuche von 1846, die Mord- und Gräuelthaten, die an den unglücklichen Polen verübt wurden, mit der Gesinnung und Anschauung eines Metternich'schen Polizeimannes beurtheilt". - Kurz er suchte seine Nationalität, wie Japhet seinen Vater. Endlich, und als ein Mann, der gewohnt ist, der neuesten Mode zu folgen, erklärt er mit Bestimmtheit ein „galizischer Russe" zu sein. - Welche Antwort wird nächstens Herr SacherMasoch geben, da man ihm nun auch den galizisch-russischen Kittel gelüftet hat? - „Ich bin ein moldau-walachischer Preuße! 73

Die hier unterstellte Beliebigkeit seiner nationalen Positionierungsversuche ist für Sacher-Masoch persönlich problematisch, weil es sein Fremdsein bekräftigt, prekärer noch ist es aber für das Programm der G.f.O. Lorms Argumentation dementiert die Idee eines Österreichertums, das sich versteht „als eine politische Nationalität, in der sich die natürlichen Nationalitäten, jede im vollen Genuße ihrer Rechte und Freiheiten, vereinen lassen" (66;90), in zweifacher Weise. Indem er sich über die Invention einer Nation mokiert, beharrt Lorm auf einem von ethnischer Zugehörigkeit bestimmten Begriff von Nationalität und erteilt damit der Idee einer den faktischen Nationen übergeordneten Nation eine grundsätzliche Absage. Konkret bekräftigt er diese Ablehnung durch die Behauptung, Sacher-Masoch folge mit seinen nationalen Ambitionen lediglich modischen Trends. Dieser reagiert dementsprechend heftig auf solche Diffamierungen und bemüht sich, seinen nationalen Standpunkt als einen festen und österreichischen darzustellen.

75 [anonym]: Japhet, der seine Nationalität sucht. In: Die Presse. Nr. 323 (1866).

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Es ist eine Lüge, daß ich mich in dem Sinne Rußlands als „galizischer Russe" bezeichnet habe. Es ist bekannt, daß ich seit jeher nicht blos der russischen Nationalität, sondern auch der ruthenischen Partei angehöre, welche in Galizien zugleich die österreichische ist, was sie bei jeder Gelegenheit genügend bewiesen hat. Sie scheinen nicht zu wissen, daß gerade die „ruthenische" Nationalität eine erfundene, daß „Ruthenen" eine kirchliche Bezeichnung ist und wir uns in unserer Sprache nie anders als „Russen" genannt haben, ja daß die Polen selbst, im Gegensatze zu uns, die Großrussen die „Moskowiter" nennen. (66;112)

Massiver noch als gegen die Attacken auf seine Person wehrt sich SacherMasoch gegen die Angriffe auf das Programm der G.f.O. Dabei zeigt er, dem Lorm im Zuge der Auseinandersetzung auch noch mangelnde Sprachbeherrschung vorwirft - „Er [...] feindete die deutsche Grammatik an, indem er sie ruthenisch radebrechte"74 -, sich seinem Kontrahenten in bezug auf Sprachsicherheit, Ironie und Unsachlichkeit durchaus ebenbürtig. So spielt er maliziös beständig darauf an, daß Lorm bei der Presse und nicht bei der 1864 aus ihr hervorgegangenen und bald erfolgreicheren Neuen Freien Presse schreibt 7 5 : Sie haben im Feuilleton der veralteten Presse mich und die österreichische Gartenlaube angegriffen. [...] Sie sind sehr komisch, offiziöser Germane, [...]. Ich begreife, daß es nicht sehr geistanstrengend ist, für die nicht freie Presse zu schreiben [...]. Ich begreife auch, daß Sie bei dem traurigen Eindrucke, den die Veraltete im Ganzen macht, hie und da erheiternd wirken müssen, aber etwas Logik für Ihren Hausbedarf sollten Sie doch studiren. [...] Sie sind so komisch, in einem österreichischen Programm eine Gefahr für Oesterreich zu erblicken, denn Oesterreich ist nicht Oesterreich, sagen Sie, Oesterreich sind nicht die Cechen, Magyaren, Russen, Polen, Rumänen, Serben, Kroaten, Slovenen, Italiener; Oesterreich sind wir, eigentlich auch nicht die Deutschen, sondern Wien und in Wien vor Allem die Redaktion der veralteten Presse, denn auch wir haben unser Königgrätz erlebt, auch wir haben Tausende von

74 Ebd. 75 Vgl. Kurt Paupie: Handbuch der österreichischen Pressegeschichte. 1848-1959. Bd. 1. Wien, Stuttgart 1960 ff., S. 136 u. 144: Während die Auflage der Presse seit Beginn der sechziger Jahre beständig zurückgeht, überflügelt die Neue Freie Presse mit 18.000 Exemplaren bereits drei Jahre nach ihrer Gründung 1864 ihre Konkurrentin (16.000).

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Abonnenten verloren durch die Zündnadelgewehre der neuen freien Presse, [...], - wir - wir sind Oesterreich. [...] Sie sind so komisch, von der unglücklichen Politik zu sprechen, welche die Katastrophe von Königgrätz heraufbeschworen hat und den Antheil zu vergessen, welchen Ihre Clique - denn eine Partei kann man den gebildeten Pöbel der Residenz doch nicht nennen - an dieser Politik hat, Sie vergessen, welche Verdienste sich Ihre ehrenwerthen Gesinnungsgenossen um die Nationalitätenfrage und den Ausgleich mit Ungarn erworben haben, wie diese höchst Ehrenwerthen selbst auf dem bornirtesten unglücklichsten nationalen Standpunkte stehend, jederzeit Gift, Verdächtigungen und Denunziationen spieen, wenn eine andere Nation von ihren natürlichen Rechten zu sprechen begann. (66;89)

Mit dieser Replik hat Sacher-Masoch jedenfalls mehr für seine Psychohygiene als für eine gedeihliche Entwicklung der G.f.Ö. getan. Indem er nicht nur Lorm, sondern auch den „gebildeten Pöbel der Residenz" (66;89) angreift, provoziert er Solidarisierungseffekte - zumindest - bei den Wiener Liberalen. Er setzt sich damit nicht nur in Opposition zu jenem Kreis, aus dem sich ein Großteil der potentiellen Leser seiner Zeitschrift rekrutiert, sondern er diffamiert auch einen Teil seiner eigenen Identität als Liberaler, der er auch in der G.f.Ö. expliziten Ausdruck verleiht, als er den Kauf der Zeitschrift bekanntgibt: „Indem ich zugleich die oberste Leitung derselben übernehme, werde ich [...] bemüht sein, das patriotische und liberale Programm, das die erste Nummer an der Stirne trug, mit allen meinen Kräften durchzuführen, [...]." (66;53) Daß eine solche Positionierung als Liberaler Sacher-Masoch nicht vor einem Konflikt mit jener Tageszeitung feit, die gemeinsam mit der Neuen Freien Presse als das Aushängeschild der liberalen Journalistik Österreichs bezeichnet werden kann76, ist zunächst Ausdruck der Breite des liberalen Spektrums zu einem Zeitpunkt, als sich Parteien im modernen Sinne noch nicht herausgebildet haben; der Konflikt ist aber auch Signum einer Fehleinschätzung sowohl der Deutschösterreicher als auch und vor allem der slawischen Völker. Denn entgegen der Hoffnung Sacher-Masochs beginnt gerade durch die Niederlage in Königgrätz jene Sonderentwicklung des österreichischen Liberalismus, der sich - verglichen mit den deutschen oder italienischen Liberalen - von allzu nationalistischen Positionen weitgehend fernhält77, zu kip76 Vgl. ebd. S. 154. 77 Vgl. Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Osterreich 1867-1918. Mit einem Vorwort von Friedrich Heer. Nachdruck der Ausgabe (Wien) 1949. Wien 1984, S. 11 f.

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pen. Lange Zeit war die Ausbildung eines spezifischen nationalen Bewußtseins für die Deutschösterreicher aufgrund ihrer Suprematie ja überhaupt nicht relevant; erst als sie den nach Königgrätz neuerlich aufkeimenden Nationalismus als Bedrohung ihrer privilegierten Position wahrnehmen, stellen sie ihm ihre eigene national fundierte Position entgegen. Nicht weniger prekär als bei den Deutschösterreichern ist die politische Situation im Hinblick auf die von Sacher-Masoch beschworene Aussöhnung der Volksstämme bei den Slawen. Diese geben sich nach den Erfahrungen der Revolution von 1848 und den Niederlagen von 1859 mit einer beschränkten Autonomie nicht m e h r zufrieden. Sie bestehen auf territoriale Selbstbestimmung und setzen den zentralistischen Tendenzen der deutschösterreichischen Liberalen ein föderalistisches Konzept entgegen. Der von Sacher-Masoch entworfene Plan einer fremd-, i.e. deutschsprachigen Nationalliteratur kann als Unterwerfung unter den Hegemonialanspruch der Deutschen von ihnen nur abgelehnt werden. Mit der Idee einer österreichischen Nation „als eine[r] politische[nj Nationalität, in der sich die natürlichen Nationalitäten, jede im vollen Genuße ihrer Rechte und Freiheiten, vereinen lassen" (66;90), setzt sich Sacher-Masoch zwischen alle Stühle, indem er den Slawen zuwenig föderalistisch, den Deutschösterreichern zuwenig zentralistisch ist. Zwar ergreift er in den offenen Briefen an Lorm eindeutig für die Slawen Partei, doch sein Beharren auf dem Deutschen als gemeinsame Sprache - „Ihre Sprache [die deutsche] ist es, in der die verschiedenen Nationen zu einander reden und ihre Sprache ist es, in der sie sich versöhnen werden" (66;90) - macht es diesen schwer, ihn als Bündnispartner zu akzeptieren. Damit handelt sich Sacher-Masoch Probleme in bezug auf die Einlösung seines programmatischen Vorhabens ein: Das weitgehende Ausbleiben nicht-deutschösterreichischer Beiträger und damit verbunden die Schwierigkeit, eine spezifisch österreichische Literatur zu präsentieren, die im Kampf gegen „die Nivellirung der Geistes- und Kultur-Interessen der deutschen Staaten und österreichischen Lande" (66;1) implizit gefordert ist, ist ein zentrales Problem der Redaktion Sacher-Masoch. Der retrospektive Blick Karl Emil Franzos' auf die kurze Geschichte der G.f.O. bestätigt die eminente Rolle, die der Literatur im Hinblick auf die Akzentuierung einer österreichischen Identität zugemessen wird. Angesichts dieser Verhältnisse muß das tiefe Weh, welches der Prager Friede allen Deutschgesinnten in Oesterreich bereitete, doppelt begreiflich erschei-

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nen: nun war das politische Band gelöst, was aller Voraussicht nach das an sich schwache geistige Band noch mehr lockern mußte. Auch die Widersacher deutschen Wesens in Oesterreich faßten die Ereignisse von 1866 in diesem Sinne auf; nun mußte, verkündeten sie triumphirend, eine „echt" oesterreichische, „nur" oesterreichische Literatur erstehen, und um ihre Geburt nach Kräften zu beschleunigen und zu erleichtern, wurde sogar fiir diese nurund echt-oesterreichische Literatur 1867 in einer Provinzhauptstadt ein eigenes Familienblatt in's Leben gerufen. Aber das Blatt ist längst todt, und jene Literatur, der es dienen sollte, nie geboren worden!78 Die Tatsache, daß Franzos hier so abschätzig dem Vorhaben einer Zeitschrift gedenkt, der nicht nur er, sondern 19 weitere Autoren 79 der schon im Titel programmatischen Anthologie Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich Beiträge geliefert haben, indiziert die sich zwischen 1866 und 1882 vollziehende Verschärfung der nationalen Standpunkte wie auch eine gewisse ,Vergeßlichkeit' Franzos'. Sie illustriert aber auch, daß die Rede von einer spezifisch österreichischen Literatur bereits zu Zeiten der G.f.O. prekär ist. Zahlreiche Schriftsteller schreiben scheinbar nicht wegen, sondern trotz der programmatischen Ausrichtung der Zeitschrift in der Gf.O. Es gibt Indizien dafür, daß Sacher-Masoch das Utopische seines Projekts selbst bewußt ist und daß er schließlich resigniert und es als Anachronismus ad acta legt. Dafür spricht etwa die positive Aufnahme und freundliche Besprechung der in kroatischer Sprache erscheinenden Zeitschrift; Dragoljub (67;36). Indem der ungezeichnete, daher vermutlich aus der Feder des Redakteurs stammende Beitrag „dem schönen Unternehmen das beste Gedeihen" (67;36) wünscht, argumentiert er gegen Sacher-Masochs Intention, die deutsche Sprache zum die verschiedenen Nationen verbindenden Me78 Karl Emil Franzos (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich. Leipzig, Wien 1885, S. VI (Vorwort). 79 Es handelt sich dabei um folgende Autoren (fett: vor 1866 gestorben; kursiv: vor 1883 gestorben) : Robert Byr, Ada Christen, Ludwig Foglar, Hermann von Gilm, Robert Hamerling, Friedrich Hebbel, Ludwig von Hörmann, Karl Gottfried Ritter von Leitner, Friedrich Marx, Stephan Milow, Franz Nissel, Heinrich Penn, Otto Prechtler, Ernst Rauscher, Peter Rosegger, Christian Schneller, Karl von Thaler, Hans von Vintler, Ignaz Zingerle. Berücksichtigt man auch jene Autoren, die zwar als Mitarbeiter angekündigt werden, aber nicht oder nur unter Pseudonym oder Chiffre beitragen, so sind noch Karl Egon Ebert, Johannes Nordmaim, Karl Marquard Sauer und Constantin von Wurzbach-Tannenberg zu erwähnen.

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dium werden zu lassen. Der Bericht über ein Fest der Vereinigung slowenischer Studenten an der Grazer Hochschule mit dem Titel „Slavische Beseda" (67;Sal8) affirmiert die Rolle des Vereinswesens als Ort eines sich ausbildenden nationalen Selbstverständnisses, das sich über die Pflege und Aufwertung der Muttersprache konstituiert. „Gesang und Deklamation gaben neuerdings Zeugniß von der Kraft und Schönheit, dem italienischen Wohllaut der slovenischen Sprache." (67;Sal8) Ein resümierender Blick auf Sacher-Masochs multinationales Konzept zeigt, daß dieses ihn in mehrfacher Weise mit jenem Teil der Bevölkerung in Konflikt bringt, der sich selbst - und das durchaus mit Recht - als Kulturträger versteht und dem sich auch Sacher-Masoch zurechnet, nämlich mit dem liberalen Bürgertum. Es ist schwer zu entscheiden, welchen Anteil dieser Konflikt am Scheitern der hochfliegenden Pläne Sacher-Masochs tatsächlich hat. Sicher ist jedoch, daß die in einer Pränumerationseinladung für den zweiten Jahrgang angesprochene „wachsende Theilnahme aller Nationen Oesterreichs an unserem patriotischen und liberalen Unternehmen" (67; 156) tatsächlich nie in einem ökonomisch ausreichenden Maß vorhanden ist und daß das Projekt einer österreichischen Gartenlaube mit dem Ausscheiden Sacher-Masochs als gescheitert zu betrachten ist.

Hildegard Kernmayer

Genre mineur oder Programm der literarischen Moderne? Zur Ästhetik des Wiener Feuilletons

Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Textsorte Feuilleton ist neuesten Datums. 1 Sie sieht sich entsprechend mit einem Textcorpus konfrontiert, dem definitorisch beizukommen sowohl die Gattungstheorie als auch die Literarhistorie bislang verabsäumt haben. Denn weder wurde bisher eine genaue Bestimmung der differenzierten Phänotypologie des Feuilletons geleistet, noch wurde versucht, das Genre im Kontext einer allgemeinen Literarhistorie zu verorten. Diese Abstinenz mag, oberflächlich betrachtet, verwundern. Erklärbar wird sie jedoch angesichts des quasi unüberschaubaren Textcorpus sowie der weitgehenden generischen Unfaßbarkeit der Textsorte, die sich bereits durch ihre formalästhetische Heterogenität der nivellierenden Beschreibung zu entziehen scheint. Der Mangel an Definitivem, der der Textsorte an sich inhärent ist, und an Definitorischem, der auch aus dem weitgehenden Desinteresse der Literaturwissenschaft am Genre resultiert, macht jedoch das Feuilleton für Zuschreibungen empfanglich. Was denn auch an die Stelle einer literarästhetischen Kontextualisierung des Feuilletons tritt, ist das Bild einer Textsorte, das seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in seinen ästhetischen als auch in seinen politisch-ideologischen Implikationen die populäre Auffassung von der Nichtigkeit des „genre mineur" festigt. Seine

1 Vgl. etwa die gattungstheoretische Arbeit von Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flânerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1953. Berlin: Das Arsenal 1989, sowie die literaturgeschichtliche Bestandsaufnahme der Vorformen des Wiener Lokalfeuilletons von Kai Kauffmann: „Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres in der Wiener Publizistik. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994. Vgl. auch Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen: Niemeyer 1998.

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Zuschreibungen bezieht dabei die ästhetische Abwertung des Feuilletons durchwegs aus außerästhetischen Diskursen, seien es kulturkonservative, die die Feuilletonisierung des gesamten Zeitalters konstatieren und im Feuilleton nicht weniger als ein Symbol der „Entwürdigung, Käuflichkeit, Selbstaufgabe des Geistes"2 zu erkennen meinen, seien es deutschnationale Diskurse, die im Feuilleton die „französischen" Eigenschaften der Oberflächlichkeit, der Unaufrichtigkeit, der Zersetzung, des Verfalles, der Sexualität, des Radikalismus und des schöpferischen Unvermögens fokussiert sehen, oder gar antisemitische, denen das Feuilleton zum Sinnbild für die „Verjudung" der deutschen Literatur wird. All diesen ZuschreibungsVarianten gemein ist die Verortung des Genres innerhalb eines Diskurses der Moderne und in diesem Zusammenhang vor allem die Ortung der als negativ wahrgenommenen Erscheinungen des Modernisierungsprozesses in der definitorischen Leerstelle „Feuilleton".3 Auch der publizistische Diskurs selbst zeichnet kein eindeutig positives Bild von der Textsorte. Diese erscheint in presseapologetischer Sicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Paradigma der Literatur als eine Art kulinarischer Nebensächlichkeit.4 In ihrer Zugehörigkeit zum Komplex „Presse" und in ihrer Funktion als Mittel zur Gewinnmaximierung innerhalb des Unternehmens „Zeitung" ist sie hingegen einem pressekritischen Diskurs genuiner Ausdruck der Universalisierung der kapitalistischen Produktionsweise, die selbst vor dem Bereich „Kunst" nicht haltmacht. „Der stolze Menschengeist ist durch die Presse in die Hörigkeit des Kapitals getreten"5, bemerkt 1867 der katholische Publizist Joseph Lukas und beschreibt die Mechanismen des freien Marktes, dessen Ware „Literatur"

2 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte. In: H. H.: Gesammelte Dichtungen. Frankfurt, Berlin: Suhrkamp 1952, Bd. 6, S. 79-116, Zit. S. 89. 3 Vgl. Hildegard Kenimayer: Les maux imaginaires du ,feuilleton': français, juif, moderne. In: Les journalistes de Arthur Schnitzler. Satire de la presse et du théâtre allemand et autrichien contemporain. Hrsg. v. Jacques Le Rider u. Renée Wentzig. Tusson: Du Lérot 1995, S. 85-102. 4 Vgl. Joseph Roth: Feuilleton. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. v. Walter Killy. München: Beck 1967, Bd. 7, S. 274-276; sowie J. R.: Brief an Benno von Reifenberg v. 22. 4. 1926. In: Joseph Roth. Briefe 1911-1959. Hrsg. v. Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer u. Witsch 1970, S. 87-89, Zit. S. 87. 5 Joseph Lukas: Die Presse, ein Stück modemer Versimpelung. Regensburg, New York, Cincinnati: Pustet 1867, S. 36.

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heißt, folgendermaßen: „Dem literarischen Kleingewerbe stehen literarische Fabriken gegenüber, die Ouvriers bereichern die Actionäre, und die Zeitungsschreiber die Zeitungsunternehmer." 6 Hand in Hand mit der massiven Kritik an den Mechanismen des modernen Marktes geht die Abwertung und Verachtung jener Autorinnen und Autoren, die - ob als selbständige Warenproduzenten oder als verlagsabhängige Lohnschreiber 7 - sich den Gesetzen des kapitalistischen Marktes unterwerfen und der industriellen Massenkultur anpassen müssen. „Für die Zeitung als solche ist der Schriftsteller nichts als ein eitler Dekor ihres ökonomischen, mechanisch-präzisen Geschäftes" 8 , heißt es in ein e m Artikel Otto Stoessls aus d e m Jahre 1906. Die Zeitung suche den Schriftsteller „in seinen besten Kräften auszunützen, aber zugleich seiner Selbstbestimmung zu entziehen, indem sie ihm die Gegenstände seiner Arbeit aufnötigt und ihn zu einer Oberflächenbehandlung zwingt, die ihr gemäß ist, aber sein eigenstes Wesen geradezu auflöst". 9 In seiner Kritik am Geschäft mit der Kunst bezieht sich Stoessl allerdings nicht auf die Praxis des Vorabdrucks literarischer Texte im Feuilletonteil, sondern seine Analyse betrifft die Textsorte Feuilleton selbst, „eine Art von eigener Kunstgattung und -Übung" 10 , hervorgegangen aus dem Kampf „dieser zwei unversöhnlichen, intimsten Feinde: Zeitung und Schriftsteller" 11 , die jedoch in d e m M a ß e an Kunstcharakter eingebüßt habe, in d e m der Schriftsteller von „Beruf" vom Journalisten, der lediglich ein „Metier" ausübe, aus dem Feuilleton „hinausgeschoben" worden sei. All der „gepriesenen nichtigen Gefallsamkeit [hafte] nur mehr ein Schein von Kunst und tie-

6 Ebd. Die Desorientierung vieler Autorinnen und Autoren angesichts der neuen Situation vergleicht Reinhard Wittmann mit der vieler Kleinhandwerker, die entweder an ihrem starren Selbstverständnis festhalten und somit ins soziale Abseits gedrängt werden, oder ständig vom Absinken ins Proletariat bedroht - sich den „neuen anonymisierten und standardisierten industriellen Technologien" anpassen. Reinhard Wittmann: Der literarische Autor. In: R. W.: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880. Tübingen: Niemeyer 1982, S. 154-191, Zit. S. 154. 7 Vgl. Helmuth Kiesel und Paul Münch: Gesellschalt und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München: Beck 1977, S. 88. 8 Vgl. Otto Stoessl: Ludwig Speidel. In: Die Fackel 7 (1906) H. 197, S. 1-8, Zit. S. 2. 9 Ebd., S. 1 f. 10 Ebd., S. 2. 11 Ebd.

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ferer Betrachtung" 12 an. In diesem Sinne habe das schlechte Geld das bessere verdrängt. Stoessls Kritik entzündet sich nicht an der Tatsache der Merkantilisierung von Kunst an sich, sondern vielmehr an deren Trivialisierung und Devalorisierung durch die Gesetze des Marktes. Daß die Abwertung des Genres auch auf das Selbstbild der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten reflektiert, liegt auf der Hand. In diesem Sinne gereicht auch das Inflationäre des Genres, die ihm vor allem nachgesagte Oberflächlichkeit, manchen zur Scham, die sich durch das Schreiben von Feuilletons lediglich den Erwerb sicherten, wie Robert Musil etwa, der 1910 in sein Tagebuch schreibt: Der Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rundsch[au] oder im Pan ist mir zu ekelhaft. Wenn irgendein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der u[nd] jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen. Ich muß dies festhalten, hier ist ein Widerstand, über den ich nicht hinweg soll. Einzige Entschuldigung: fixes Engagement - habe ich einstweilen nicht. 13

Die Abwertung des Genres durch den Nebenerwerbsfeuilletonisten Musil kennt ihresgleichen in den weitaus heftigeren Feuilletonkritiken Kraus' und Hesses - um nur die bekanntesten zu nennen - oder auch Davids14, Roseggers15 und Adornos 16 . Und auch die Ambivalenz, die Musil angesichts seiner Situation als mittelloser Literat empfindet, den der ökonomische Zwang zum Feuilletonisten werden läßt, ist kein Spezifikum der Biographie Musils, sondern sie durchzieht seit 1848 leitmotivisch die Selbstentwürfe der Wiener Feuilletonistinnen und Feuilletonisten. Der mäßig erfolgreiche literarische Autor Ferdinand Kürnberger etwa, der, wenn er auch seinem Zeitgenossen und Journalistenkollegen Rothfeld als „der erste Feuilletonist 12 Ebd. 15 Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 250 f. 14 Vgl. Jakob Julius David: Von der Zeitung. In: J. J. D.: Vom Schaffen. Essays. Jena: Diederichs 1906, S. 1-50, Zit. S. 8, S. 14. 15 Uber seine negativen Erfahrungen mit der Feuilletonredaktion des Neuen Wiener Thgblattes berichtet Peter Rosegger in einem autobiographischen Text. Vgl. Peter K. Rosegger: Bekenntnisse aus meinem Weltleben. Die Geschichte eines Feuilletons. In: Heimgarten 11 (1886), S. 219-223. 16 Vgl. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Th. W. A.: Noten zur Literatur. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 41989, S. 9-33, Zit. S. 12 f.

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in der ersten Stadt des Reiches" 17 gilt, sich selbst vor allem als „Poeten" sieht, der „nur durch die Umstände" 18 zum Journalismus gezwungen sei, äußert diese Ambivalenz ebenso wie die Lyrikerin Betty Paoli, die ihren 1852 getroffenen Entschluß, „allem journalistischen Treiben fortan fernzubleiben" 19 , aufgrund materieller Notwendigkeiten revidieren muß. Selbst Hieronymus Lorm - vierzig Jahre lang Mitarbeiter der verschiedensten Wiener Blätter, kurzfristig Leiter des Feuilleton-Ressorts der Presse und seit 1848 ein spiritus rector der Wiener Feuilletonistik - stilisiert sich in seinen Selbstentwürfen zum Feuilletonisten wider Willen, den seine berufliche Tätigkeit lediglich von seiner eigentlichen Berufung, der Dichtung, abhalte.20 Diese Form der Dichotomisierung der Begriffsfelder „Dichtung" und „Publizistik", die die Konzeption des „genre mineur" erst legitimiert, ist allerdings nicht auf den publizistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts beschränkt. Sie prägt im wesentlichen auch den Wertungskanon der neueren Literaturwissenschaft, die sich - selbst angesichts ihrer sukzessiven Umwandlung in eine (post-)strukturalistische Textwissenschaft, vor der prinzipiell alle Texte gleich sind21 - nur langsam aus den poetologischen Konzepten der idealistischen Kunsttheorie zu lösen vermag. Deren Modell einer geschichtsphilosophisch oder anthropologisch begründeten Gattungstrias22 bietet freilich einem Genre keinen Raum, das, weder literarisch noch journalistisch oder gar wissenschaftlich, als „das Modell einer denkbaren Pro-

17 Ferdinand Kümberger: Brief vom 6. Juli 1869. In: F. K.: Briefe an eine Freundin. (1859-1879). Hrsg. v. Otto Erich Deutsch. Wien: Verlag des Literarischen Vereins 1907, S. 84-85, Zit. S. 84. 18 Ferdinand Kümberger: Brief v. 2. Februar-Hälfte 1871. In: Kürnberger (Anm. 17), S. 145-167, Zit. S. 149 f. 19 Betty Paoli: Brief an Adalbert Stifter v. 2. April 1855. In: B. P.: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. v. Helene Bettelheim-Gabillon. Wien: Verlag des Literarischen Vereins 1908, S. 505. 20 Vgl. Andreas Wildhagen: Das politische Feuilleton Ferdinand Kürnbergers. Themen und Technik einer literarischen Kleinform im Zeitalter des deutschen Liberalismus in Österreich. Frankfurt [u.a.]: Peter Lang 1985, S. 75 ff. 21 Vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 51995, S. 5. 22 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. (Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und Gattungshistorie). In: Textsortenlehre - Gattungsgeschichten. Hrsg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27-44; sowie Gérard Genette: Einführung in den Architext. Stuttgart: Legeuil 1990.

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saform" 2 3 dienen könnte, die „aus der Überschreitung der gewohnten literarischen Grenzen" 2 4 der Poetologie ein eigenes Gebiet jenseits ihres idealistischen Gattungskonzeptes eröffnet und damit deren triadischen Horizont zwangsläufig auflöst. Selbst jene selbstkritische Literaturwissenschaft, die seit den frühen siebziger Jahren für die Beschäftigung mit den sogenannten „Grenzphänomenen des Ästhetischen" 2 5 plädiert und den Wertungskanon des Faches zu revidieren sucht, transportiert in ihrer Begrifflichkeit die Auffassung von der Existenz ästhetischer Zentren und Peripherien. Uber die Hegeische Trennung von Poetischem und Prosaischem 2 6 geht sie dabei nur insofern hinaus, als sie den Begriff des Poetischen weiter faßt. Dennoch erhellen vor allem diese Untersuchungen den Konnex zwischen poetologischen (ideologischen) Grundlagen des literaturwissenschaftlichen Wertungskanons und der langjährigen Praxis, eine ganze Reihe von Texten aus dem Kanon des Schönen und somit von der literaturwissenschaftlichen Betrachtung auszuschließen. Gerade im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit dem Feuilleton erweist sich das idealistische Erbe als persistent. Anschaulich zeigt dies etwa Wolfgang Preisendanz, wenn er am Beispiel der Rezeptionsgeschichte von Heines Reisebildern nachweist, wie aufgrund eines eingeschränkten, an Hegels Begriff des „freien poetischen Kunstwerks" orientierten Verständnisses von Dichtung Heines Texten, die wohl prägend für die Entwicklung des modernen Prosastils sind, jegliche Poetizität abgesprochen werden kann, ja muß. 2 7 Die „Definition des poetischen Kunstwerkes als totales und freies Ganzes, das eine abgeschlossene Welt für sich" 2 8 ausmachen solle, Hegels „Begriff der Darstellung als Versöhnung des Wahren und der Realität nicht

23 Heinz Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. Hrsg. v. Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1973, S. 137-154, Zit. S. 138. Hervorhebung von mir. 24 Ebd., S. 139. 25 Vgl. Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsiibergang von Dichtung und Publizistik. In: W. P.: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München: Fink 1973, S. 21-68, Zit. S. 28f., S. 66 ff. 26 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hrsg. v. Friedrich Bassenge. Berlin, Weimar: Aufbau 3 1976, Bd. 2, S. 339. 27 Preisendanz (Anm. 25), S. 25 ff. 28 Ebd., S. 27; vgl. auch Hegel (Anm. 26), S. 346.

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im Denken und in der Reflexion, sondern in der geistig vorgestellten Form realer Erscheinung" 2 9 hat für die Werke der literarischen Moderne keine Gültigkeit mehr. Deutlich manifestiert sich dieser Bruch im Werk Heinrich Heines. Mit seiner Aussage, „die moderne Poesie sei nicht objektiv, episch und naiv [Hegel], sondern subjektiv, lyrisch und reflektierend" 3 0 , und einzig die Subjektivität sei im eigentlichen Sinne noch darstellbar 31 , konkretisiert Heine nicht nur seine Absage an die „Kunstperiode", sondern entwirft gleichzeitig ein Programm der modernen Poesie, das in der Forderung nach dem Ineinandergreifen von Dichtung und Publizistik sowohl den Begriff des Poetischen weiter fassen als auch die gängige Unterscheidung von Dichter und Schriftsteller obsolet erscheinen läßt. Wenn Preisendanz den Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik, die Komplementarität von ideologischer Hermeneutik und poetischer Heuristik 32 innerhalb des literarischen Werkes erkennt, so läßt er damit die Heineschen Texte von der Peripherie ins Zentrum des Ästhetischen rücken. Deren Poetizität manifestiert sich - anders als in den von den Hegel-Nachfolgern kanonisierten Werken häufig im Nicht-Semantischen, etwa in der durch die „Interferenz von Progression und Digression" 3 3 entstehenden innertextuellen Bewegung: in dieser Bewegung läßt alles „Wahrgenommene, Imaginierte, Erinnerte, Empfundene, Vernommene oder Gedachte" 3 4 auf anderes geraten und regt zu „desultorischen Bewußtseins- und Sprachakten" 35 an. Die durch solche Assoziationstechnik durchbrochene Kausalität geschlossener diskursiver Verfahren erscheint als stilistisches Phänomen, als „Prinzip vermittelnder Unterbrechung". 3 6 Preisendanz' Analyse von Heines Reisebildern ist durchaus auch auf feuilletonistische Texte anderer Autorinnen und Autoren übertragbar. Auch das kunterbunte[ ] Durcheinander von Fakten, Phänomenen, Episoden, Prospekten, Bewußtseinsdaten, ein Potpourri von Realitäten der verschiedensten Ebe-

29 30 31 32 33 34 35 36

Preisendanz Preisendanz Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd. Ebd.

(Anm. 25), S. 26 f.; vgl. auch Hegel (Anm. 26), S. 342. (Anm. 25), S. 31. 24. 47, S. 52.

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nen und Dimensionen also, die nur durch Assoziation, Reflexion, Gedächtnis des niemals gänzlich fiktiven [Erzählers] miteinander in Kontakt kommen37, prägt nicht nur die Heinesche, sondern im selben Maße auch die nachheinesche Prosa. Bewegung, die sich im ständigen Wechsel der Sujets sowie der subjektiven Beschreibungsmodi ausdrückt - Preisendanz nennt Beobachtung, Analyse, Imagination, Reminiszenz, Traum, Stimmung, Affekt, Meditation, Reflexion, Dialog, Lektüre 3 8 - und sich im ununterbrochenen Oszillieren der Texte zwischen Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit niederschlägt, kann als gattungskonstituierendes Element des Feuilletons gelten und bewirkt auch im wesentlichen die literarische Spannung eines feuilletonistischen Textes. Die ästhetische oder ästhetisierende Sprache des Genres, die sich per definitionem von der apophantischen 39 der übrigen Publizistik absetzt und die mehr oder anderes zu leisten vermag, als lediglich empirisch gegebene Objektwelten zu denotieren, weist das Feuilleton zusätzlich als literarische Textsorte aus. Daß das stilistische Prinzip der Bewegung in den unzähligen feuilletonistischen Texten auch qualitativ unterschiedliche literarästhetische Transformationen erfahrt, muß nicht gesondert betont werden. Als bekanntestes und augenfälligstes Beispiel jener feuilletonistischen Ästhetik des Mobilen können wohl Daniel Spitzers Wiener Spaziergänge gelten. Bewegung, bereits im Titel zum Programm erhoben und in der Figur des Spaziergängers zentriert, ist in diesen Texten sowohl inhaltliches als auch formales Gestaltungsprinzip. Die Bewegung des Erzählers selbst, der, je nach Bedarf Wochenchronist, Kulturkritiker oder Bildungsreisender, fast immer jedoch Satiriker 40 , die kulturellen oder politischen Ereignisse der Woche Revue passieren läßt, persönliche Reiseeindrücke wiedergibt und den Erzählerbericht 41 in der Regel in eine beißende Satire überfuhrt, wird zum integralen Strukturmerkmal der Texte. Denn aus seiner Bewegung resultiert nicht nur 37 Ebd., S. 30. 38 Vgl. ebd., S. 51. 39 Zur Terminologie vgl. Franz Koppe: Grundbegriffe der Ästhetik. Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 135 f. 40 Zu den Rollen des Wiener Spaziergängers vgl. Matthias Nöllke: Daniel Spitzers Wiener Spaziergänge. Frankfurt [u. a.]: Peter Lang 1994, S. 95 ff. Zur Feuilletonistik Spitzers vgl. auch Kernmayer (Anm. 1), S. 177 ff. 41 Die Terminologie folgt Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993.

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die Vielfalt und Heterogenität der behandelten Sujets, sondern Richtung und Geschwindigkeit des Spaziergängers bestimmen auch die Art der Themenverknüpfung. Neben additiven Erzählverfahren, in denen lediglich Ereignisse aneinandergereiht werden, verwendet Spitzer dabei vor allem assoziative Verknüpfungstechniken.42 Deutlich wird dies etwa in der Analyse eines Feuilletons, das Spitzer 1867 für Die Presse verfaßt. Im Text Politische Diebet3, in dem der Wiener Spaziergänger einen Postraub zum Ausgangspunkt seiner Streifzüge durch die politische Landschaft Wiens macht, operiert Spitzer schon in der Einleitung mit beiden Stilmitteln und führt vor, wie durch das Abwechseln additiver und assoziativer Erzählverfahren Bewegung und damit literarische Spannung erzeugt werden kann. Ich h a b e von m e i n e n W a n d e r u n g e n in Kärnten u n d Krain [...] erzählt; ich habe von den L e i d e n berichtet [...] u n d von d e m kargen A u s m a ß e der Freuden, das m i r w ä h r e n d dieser Tage beschieden war 4 4 ,

resümiert Spitzer zu Beginn des Textes die Inhalte kurz zuvor erschienener Feuilletons. Doch noch vor der dritten Nennung unterbricht er den additiven Erzählerbericht und läßt die zeitraffende Rekapitulation des Vergangenen in Reflexionen über die politische Gegenwart übergehen, um in der folgenden Passage in einer Art assoziativen Rausches nicht weniger als sechs verschiedene Themenbereiche anzureißen: Ausgehend von der nostalgischen Feststellung, daß die Zeit der „Reisebriefe" vorüber sei, gerät Spitzer nicht ins 18. oder beginnende 19. Jahrhundert, sondern geht gar zurück bis zu Shakespeares Othello, konstatiert in der Folge die Entzauberung der aufgeklärten Welt, streift Probleme der Mädchenbildung, verteilt einige antiklerikale Spitzen und endet bei der Nationalitätenfrage, um sich schließlich dem eigentlichen Thema seines Feuilletons, den „politischen Dieben" zuzuwenden. Daß sowohl der Additions- als auch der Assoziationsstil mitunter den Eindruck hohen Erzähltempos vermitteln, zeigt sich in der kurzen Textpassage deutlich. Doch jenseits ihrer Funktion als Mittel zur Beschleunigung des Erzähltempos unterscheiden sich beide Stilelemente durch ihren Umgang mit 42 Vgl. Nöllke (Anm. 40), S. 90 ff. 43 Vgl. Daniel Spitzer: Politische Diebe. In: D. S.: Wiener Spaziergänge. Hrsg. v. Walter Obermaier. Wien: Jugend & Volk 1987 , Bd. 2, S. 72-75. 44 Ebd., S. 72.

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den Kategorien „Raum" und „Zeit". Beschreibt nämlich additives Erzählen generisches Element der Textsorte „Chronik"45 - die dargestellten Ereignisse als linear in der Zeit fortschreitend, so scheint in assoziativem Erzählen die Chronologie der Ereignisse aufgehoben und damit auch die Gattungsgrenze der Chronik überschritten. Die dargestellten Ereignisse erscheinen nicht mehr linear nacheinander in der Zeit, sondern vielmehr wie gleichzeitig im Raum. Die chronologische Linearität der temporalen Struktur scheint sich somit in der Bewegung aufzulösen und zu verräumlichen. Die innere Dissipation der einzelnen Problemfelder und die häufige Digression des argumentativen Hauptstranges in andere Themenbereiche46 charakterisieren auch die Feuilletons Ferdinand Kürnbergers. Dennoch lassen sich bereits auf den ersten Blick deutliche Unterschiede zwischen den diskursiven Verfahren der beiden Autoren erkennen. Denn während Spitzer, an den Produktionsgesetzen der Wochenchronik orientiert, in seinen Feuilletons eine Vielzahl politischer oder kultureller Ereignisse glossiert, so kreist Kürnberger in seinen Texten meist um ein einziges Sujet. Das generische Prinzip der Bewegung konstituiert jedoch selbst diese vergleichsweise geschlossenen Feuilletons und ist Teil der spezifischen Textstrategie Kürnbergers. Tatsächlich gehen die Intentionen des Feuilletonisten Kürnberger über das Glossieren politischer Ereignisse oder das Rezensieren literarischer Texte weit hinaus. Vielmehr ist Kürnberger die politische oder literarische Kritik häufig lediglich Anlaß, auf scheinbar weit außerhalb des „eigentlichen" Gegenstandes Liegendes zu geraten; der das Feuilleton initiierende (politische) Einzelfall verweist dabei meist auf das übergeordnete Sozialparadigma; die Auseinandersetzung mit diesem eröffnet wiederum grundsätzliche Fragen gesellschaftspolitischer oder philosophischer Natur. Eine Inhaltsanalyse des 1875 in der Deutschen Zeitung erschienenen Feuilletons mit dem Titel Ich suche im Nebel meinen Weif macht dies deutlich: Kürnberger nimmt darin die Stadterneuerung Wiens zum Anlaß, die technische und sozioökonomische Modernisierung als einen Prozeß zu entlarven, der zwar vordergründig der WertschafFung (der Banken) diene, einer Wertschaffung, die jedoch auf einer massiven Wertzerstörung (in diesem Falle der alten Wiener Bausubstanz, die auch ideellen Wert besitze) basiere. Von dieser 45 Vgl. Nöllke (Anm. 40), S. 102 f. 46 Vgl. Wildhagen (Anm. 20), S. 189. 47 Vgl. Ferdinand Kürnberger: Ich suche im Nebel meinen Weg. In: F. K.: Fünfzig Feuilletons. Wien: Daberkow 1905, S. 596-403.

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Feststellung ausgehend, diskutiert Küraberger prinzipielle Fragen um den Themenkomplex des „öffentlichen Wohls". Dieser Dreischritt in der Argumentation ist nach Karl Riha symptomatisch für Kürnbergers Feuilletons.48 Nach Andreas Wildhagen erwächst dieses für Kürnberger typische diskursive Verfahren jedoch aus einem grundlegenden Defizit: der Autor, dem es nämlich an „Eigenbeobachtung" der politischen Ereignisse fehle, ersetze seine mangelnde Kenntnis der politischen „Fakten" durch eine „phantasmagorische Assoziationswelt'"1®, auf die sich die feuilletonistische Reflexion dann auch beziehe. Der Begriff der „phantasmagorischen Assoziation", mit dem sich die Notionen von Kontingenz und Irrationalismus verbinden, ist allerdings mit Kürnbergers feuilletonistischer Prosa kaum kompatibel. Denn obwohl Kürnberger seine diskursiven Verfahren nicht jener chronologischen Linearität unterwirft, wie sie etwa die in Leitartikeln üblichen additiven Informationsprozesse prägt, sind seine Texte von einer Art Progression getragen, die die „Narration" jeweils an ihr eigentliches Sujet hinführen. Diese Orientierung des Textes in Richtung eines Hauptgedankens macht auch die „Spannkraft" aus, unter der Kürnbergers Feuilletons - Karl Riha zufolge „meist schon vom ersten Satz an stehen".50 Antithesen und Paradoxa51, die gedrängte, oft aphorismenartige Syntax, der an Jean Paul, Heine und den Jungdeutschen geschulte scharfe Sprachwitz und vor allem die Anschaulichkeit der Sprache machen Kürnbergers rhetorisches Instrumentarium zusätzlich variabel und beweglich.52 Wenn eine am Kunstbegriff der klassischen Ästhetik orientierte Poetologie das Feuilleton von der wissenschaftlichen Betrachtung ausschließt, wenn ein modernekritischer Diskurs im Feuilleton ein Symbol für die negativen Erscheinungen des Modernisierungsprozesses zu erkennen meint, so stellt sich die Frage, inwieweit die beschriebene Ästhetik des Mobilen nicht tatsächlich über seine Verortung im feuilletonistischen Diskurs hinausweist und vielmehr als ein genuines Phänomen literarisch-künstlerischer Mo-

48 Vgl. Karl Riha: Zu Ferdinand Kürnbergers kritischer Position. In: Ferdinand Kürnberger: Feuilletons. Hrsg. v. Karl Riha. Frankfurt: Insel 1967, S. 7-23, Zit. S. 14. 49 Wildhagen (Anm. 20), S. 170. 50 Riha, (Anm. 48), S. 13. 51 Vgl. L[eigh] H. Bailey: Ferdinand Kürnberger, Friedrich Schlögl and the Feuilleton in ,Gründerzeit' Vienna. In: Forum for Modern Language Studies 13 (1977), S. 155-167, Zit. S. 162. 52 Vgl. Riha (Anm. 48), S. 22.

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derne anzusehen ist. Tatsächlich erscheint das Feuilleton aufgrund seiner formalästhetischen Eigengesetzlichkeit ganz eindeutig als eine Gegenentwicklung zu den gängigen Tendenzen bürgerlicher Ästhetik. Die intratextuelle Dynamik des Genres etwa, seine Tendenz, logische Kausalstrukturen zu durchbrechen, seine Neigung zur assoziativen Verknüpfung, zur überraschenden Wendung stehen im krassen Widerspruch zu zentralen literarästhetischen Postulaten des bürgerlichen Realismus. 53 Die der Gattung inhärente Absage an Totalitätskonzepte, die Abwendung von herkömmlichen diskursiven Strategien, Offenheit 54 und Fragmenthaftigkeit 55 verleihen ihr innerhalb der Uterarischen Moderne sogar „Programmcharakter". 56 Auf der anderen Seite ist unübersehbar, daß das Feuilleton, das qua seiner spezifischen Generizität den identitätslogischen Diskurs der Bürgerlichkeit zwar auf formalästhetischer Ebene unterläuft, diesen Diskurs auf politisch-ideologischer Ebene häufig reproduziert und multipliziert. Das Genre erscheint, insofern die systemstabilisierende Funktion bürgerlicher Ästhetik erhellt wird, als genuiner Ausdruck eben dieser Ästhetik. Als publizisti-

55 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Vorindustrieller Realismus und Literatur der Gründerzeit. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Viktor Zmegac. Königstein/Ts.: Athenäum 1980, Bd. II/l, S. 1-108, Zit. S. 17 ff. 54 Vgl. Jürgen H. Petersen: ,Das Moderne' und ,die Moderne'. Zur Rettung einer literarästhetischen Kategorie. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses. Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Tübingen: Niemeyer 1986, Bd. 8, S. 155-142, Zit. S. 158 ff. 55 Selbstverständlich stellen viele Feuilletons in sich geschlossene Einheiten dar, sind - ähnlich der frühromantischen Fragmentkonzeption - „der Intention nach ganzheitliche Werke im Kleinen", die zwar die klassizistische Form dekonstruieren, gleichzeitig jedoch an der Idee der Ganzheit als Annäherungsprozeß festhalten. Vgl. Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart: Metzler 1992, S. 257; zur Verselbständigung des Fragments bzw. zum Verlust des Ganzen in der künstlerischen Moderne vgl. auch: Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim: VCH 1991, S. 67. 56 Vgl. Theodor W. Adorno: Rede über ein imaginäres Feuilleton. In: Adorno, Noten zur Literatur (Anm. 16), S. 558-566, Zit. S. 560 ff. Als „exemplarisches Programm der Moderne" - da Vorläufer der Essayifizierung des Romans - bezeichnet Adorno jenes „imaginäre Feuilleton", das Balzac in seinen Roman Musions perdues (1857-1845) einflicht. Das Feuilleton erscheint hier nicht kraft seiner eigenen Offenheit als „moderner" Text, sondern in seiner kompositorischen Funktion, als Element, das die geschlossene Immanenz des Romans sprengt.

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sehe Textsorte auch ein Produkt der neuzeitlich-aufklärerischen Moderne 57 , ist das Feuilleton, wie die Presse insgesamt, ein Forum bürgerlicher Selbstdarstellung. Doch gerade aufgrund seiner Funktionalisierung für den Diskurs der Bürgerlichkeit weist das Feuilleton ein zentrales Charakteristikum moderner Ästhetik nicht auf, nämlich das der Autonomie des modernen Kunstwerks. 58 Dennoch wurde bereits von seinen Zeitgenossen Heines Schreibweise als der neuen Zeit adäquate Ausdrucksweise empfunden. Der „Poet der neuesten Zeit"59, wie ihn Arnold Rüge bereits 1838 nennt, stehe „entschieden in der modernen Entwickelung"60, in seiner Poesie lebe nicht nur „eine Emanzipation von dem alten Autoritätsglauben" 61 , sondern auch „ein neues Genre" 62 auf. Und was dem Theoretiker des Vormärz als Zeichen und Ausdruck eines Paradigmenwechsels innerhalb der Literatur gilt, erkennt der Theoretiker der Moderne, Hermann Bahr, mehr als ein halbes Jahrhundert danach als einzig adäquate Form des Umganges mit den veränderten Gegebenheiten moderner großstädtischer Realität. Denn nicht nur als Stil, sondern als Denkweise und als jene Form der Wirklichkeitswahrnehmung, die einzig fähig sei, die flüchtige „Wahrheit" einer modernisierten, in ständiger Akzeleration befindlichen Umwelt zu erfassen, eine „Wahrheit", die nur „in dem Augenblick [gelte], in welchem [sie] schon wieder aufgehoben" 63 werde, klassifiziert Hermann Bahr den Feuilletonismus. Angesichts einer „Wahrheit", die sich der positiven Erkenntnis entzieht, erscheint Bahr somit gerade das Feuilleton mit seinen formalästhetischen Besonderheiten Bewegung, Flüchtigkeit, Unfaßbarkeit - als einzig „authentisches" Mittel zur Erkenntnis. „Ich könnte Ihnen noch sagen"64, heißt es bei Bahr weiter, 57 Die Unterscheidung von neuzeitlich-aufklärerischer Moderne und literarisch-künstlerischer Moderne folgt Kondylis (Anm. 55), S. 9 f. 58 Vgl. Schlaffer (Anm. 23), S. 147. Auf die ideologischen Implikationen des Autonomiekonzepts in der bürgerlichen Ästhetik verweist Terry Eagleton. Vgl. Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart: Metzler 1994, S. 9 f. 59 Arnold Rüge: Heinrich Heine charakterisiert nach seinen Schriften. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. v. Benno v. Wiese. München: Beck 1965, Bd. 6, S. 335-340, Zit. S. 335. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Hermann Bahr: Feuilleton. In: H. B.: Die Überwindung des Naturalismus. Dresden, Leipzig: Pierson 1891, S. 23-32, Zit. S. 26. 64 Ebd.

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„daß diese feuilletonistische Anschauung auch das einzige Instrument zur modernen Wahrheit ist, wie sie die denkende Elite heute begreift, nämlich als Annäherungswert".65 Bahrs Einschätzung von der Bedeutung des feuilletonistischen Zugangs zur Realität kulminiert in der Imago eines utopischen - freilich auch wieder vergänglichen - Moments, „in welchem außer dem Feuilleton alle anderen Künste verschwänden"66, da einzig dieses dem ,,müde[n] Ekel an der Umwelt"67, der ,,höhnische[n] Verachtung des jämmerlichen Scheines"68, dem Geist einer Zeit, in der weder der Welt noch dem eigenen Ich zu trauen sei, gerecht werden könne. Mit seiner Uberzeugung, daß die Diffusion der Identitäten ihre adäquate literarische Repräsentation einzig im Feuilleton finden könne, steht Hermann Bahr nicht allein. Auch Robert Musil erkennt in der feuilletonistischen Form eine Möglichkeit der literarästhetischen Transformation moderner Dezentrierungserfahrung. Musil, der den 1926 erschienenen Feuilletonband An den Rand geschrieben von Alfred Polgar bespricht, begreift bereits die im Titel angezeigte Marginalientechnik als eine Form der literarischen Bewältigung moderner Existenz. Die feuilletonistische Marginalie, die, da ihr das Zentrum abhanden gekommen sei, nur noch Selbstzweck, weder dem Kommentar noch der Abbildung des modernen Lebens diene, spiegle in ihrer Bezugslosigkeit exakt die Bedingungen modernen Lebens wider. Wenn „man zur Mitte hinblickt [...], ist alles durchstrichen, und es bleibt dort nichts"69, beschreibt Robert Musil Polgars Texte, und er erkennt in der Verselbständigung der Marginalie die Diskurspraxis der modernen Existenz, die seit langem ihres zentralen Textes verlustig gegangen sei. Die Verortung von Polgars Feuilletons in der Tradition einer Ästhetik der Moderne sucht ihre Legitimation hier also nicht nur in den formalästhetischen Kriterien, sondern die feuilletonistische Form selbst erscheint als Symbol moderner, dezentrierter Existenz, sie steht am Anfang des „Endes der großen Erzählungen" und bricht mit der Illusion von Ganzheit und Identität.

65 66 67 68 69

Ebd. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Robert Musil: Interview mit Alfred Polgar. In: R. M.: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt 1955, S. 750-755, Zit. S. 755.

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Was Bahr und Musil als die zentralen kulturellen Phänomene der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erkennen und was sie in der feuilletonistischen Denk- und Schreibweise fokussiert sehen, nämlich die neuen Formen der Wahrnehmung des Raumes und der Zeit, des Fremden und des Selbst sowie die ästhetischen Transformationen dieser Wahrnehmungsweisen, tritt indes nicht erst im ausgehenden Jahrhundert in Erscheinung. Vielmehr sind diese Phänomene „moderner" Wirklichkeitswahrnehmung als Ausdruck eines Modernisierungsprozesses zu beurteilen, dessen kulturelle Transformationen sich, gesamteuropäisch betrachtet70, spätestens seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sowohl im philosophischen als auch im literarisch-künstlerischen Diskurs niederschlagen. Der Modernisierungsprozeß findet im Komplex der modernen Großstadt seinen zentralen Ort und sein elementares Symbol. Universalität, Komplexität, Virtualität, Mobilität und Akzeleration, bestimmende Qualitäten der modernen Großstadt71, definieren auch jene zahlreichen großstädtischen Konfigurationen, die, Symptom und Ursache moderner Seins- und Wahrnehmungsweisen in einem, als Symbole des Symbols fungieren. Vor allem der Konfiguration der Flanerie72 kommt - innerhalb der Komplexe moderner Virtualität und Mobilität - die Bedeutung eines Schlüsselphänomens75 zu, stellt sie doch einen neuen, genuin großstädtischen Typus des Mobilen dar74, dessen Funktion weit über seine vordergründige Bedeutung, das müßige Umherschlendern, hinausgeht. Mit ihrer Ausbildung spezifischer Wahrnehmungsweisen, bedingt und strukturiert durch Rhythmus und 70 Das vergleichsweise langsame Voranschreiten des Modernisierungsprozesses im Bereich der Donaumonarchie mag mit ein Grund dafür sein, daß die von Bahr beschriebenen ästhetischen Phänomene in der österreichischen Kunst in massierter Form erst gegen Ende des Jahrhunderts auftreten. 71 Vgl. Klaus R. Scherpe: Zur Einführung - die Großstadt aktuell und historisch. Iii: Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hrsg. v. K. R. S. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 7-15, Zit. S. 9. 72 Vgl. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München, Wien: Hanser 1993, S. 209. Die Flanerie ebenso wie die Passagen sind neben dem Omnibus und dem Warenhaus die Konfigurationen, die die moderne Großstadt (Paris) seit 1850 prägen. 73 Vgl. Dietmar Voss: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne. In: Scherpe, Die Unwirklichkeit der Städte (Anm. 71), S. 57-60. 74 Der Wanderer ebenso wie der Reisende sind seit der Romantik zentrale Figuren des literarischen Diskurses. Ihre Orte sind jedoch nicht die modernen Großstädte; die großstädtische Qualität des Mobilen besitzt erst der Flaneur.

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Tempo der Bewegung des Flaneurs sowie der des akzelerierten Zeit-RaumGefiiges, wird die Flânerie zu einer wesentlichen Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den veränderten und sich ständig verändernden Gegebenheiten moderner Wirklichkeit und darüber hinaus zur paradigmatischen Existenzform75 innerhalb des Komplexes „Großstadt", der sie gleichzeitig hervorbringt. Die Flânerie definiert sich vor allem über ihr spezifisches Verhältnis zu Raum und Zeit. Die Großstadt als immenser ergehbarer Raum erscheint dem Flaneur zum einen als Panorama, vor dem der Blick, der längst nicht mehr das Ganze wahrnehmen kann, lediglich noch Details, Ausschnitte, Zufalliges erkennt und in der er, „das Auge der Stadt" 76 , seiner Lust, dem Sehen und Erleben, dem Einfangen des „Augen-Blickes" frönt. Zum anderen ist ihm die Großstadt Landschaft, in der unzählige, voneinander unabhängige Ereignisse simultan ablaufen. Das hohe Tempo des Wechsels der Reize - die Sinnesreize in der modernen Großstadt erfolgen als schockartige Eindrücke77 - verleiht im Flanieren dem Erlebnis des Augenblickes Vorrang vor der langzeitlichen Erfahrung, in psychologischen Kategorien ausgedrückt, der inneren Erlebniszeit Vorrang vor der äußeren Ereigniszeit. Die Auflösung der chronologischen Linearität der Abläufe und das Gewahrwerden der Simultaneität der Ereignisse lassen den Flaneur die Zeit nach räumlichen Mustern wahrnehmen.78 Sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Wiedergabe treten die einzelnen Details nicht mehr in linearer Abfolge auf, sie sind scheinbar zusammenhanglos, sie erscheinen als gleichrangige Einzelteile im Raum, sind austauschbar und frei kombinierbar. In der subjektiven Wahrnehmimg des Flaneurs wird somit das zeitliche Kontinuum zum räumlichen Agglomerat. Dem Ineinanderfließen der Diskurse, der Diffusion des Raum-Zeit-Gefüges entspricht auf der Ebene des Flanierenden selbst die Diffusion von dessen Identität. Denn nicht mehr als Typus, sondern - so Dietmar Voss 75 Vgl. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1982, Bd. V.l, S. 45-59, Zit. S. 54. 76 Stierle (Anm. S. 72), S. 214. 77 Uber die literarische Umsetzung des Schockerlebnisses in der Lyrik Baudelaires vgl. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt: Suhrkamp 1973, Bd. 1.2, S. 509-653, Zit. S. 612 ff. 78 Vgl. dazu auch Kondylis (Anm. 55), S. 89.

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als „unbewußte Eigenschaft von allgemeiner Empfänglichkeit und Exzedierung" 79 durchschreitet der Flaneur den großstädtischen Raum, und er überschreitet als Beobachtender im Gehen auch sich selbst.80 Dieses ekstatische Potential81 macht ihn zum einen hellsichtig für das Kernproblem moderner menschlicher Existenz, uneins mit der Welt und mit sich selbst zu sein, und es eröffnet ihm zum anderen auch die Einsicht in die Uneinheitlichkeit und Uneindeutigkeit der modernen Welt selbst. Die Möglichkeit der Selbstüberschreitung läßt ihn weder als festumrissenen Typus noch unmittelbar, sondern „zunächst nur versenkt und verflochten in soziales Rollenhandeln und soziale Charaktermasken"82 erscheinen. In seiner Rollenhaftigkeit ist er zugleich er selbst und viele andere; er ist, wie Walter Benjamin gezeigt hat, Beobachter und Teil der beobachteten Masse in einem.85 Obwohl ein frühes Symbol entfremdeter großstädtischer Existenz, ist der Flaneur noch nicht vollends von dieser überwältigt. Seine Lebensform umspielt, Walter Benjamin zufolge, „die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer". 84 Diese doppelte Implikation seiner Identität, die Tatsache, sowohl Akteur als auch Zuseher des großstädtischen Diskurses zu sein und die Hybris, den Diskurs der Dezentrierung zu beherrschen85, lassen den Flaneur sich zum Subjekt von im Grunde unbeherrschbaren Beziehungen stilisieren86 und prädestinieren ihn so zum Dokumentalisten der Moderne.

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Voss (Anm. 73), S. 40. Vgl. ebd., S. 50. Voss spricht vom „rauschhaft ästhetischen Tun" des Flaneurs. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 37. Voss erkennt in Benjamins Konzept des Flaneurs die Charaktermasken des Promenierenden, des Bildungsreisenden, des Physiognomikers und des Detektivs. 83 Vgl. dazu vor allem die Untersuchungen von E. A. Poes Novelle The Man qfthe Crowd in Benjamin, Baudelaire (Anm. 77), S. 624 ff.; sowie Stierle (Anm. 72), S. 214. 84 Benjamin, Paris (Anm. 75), S. 54. 85 Das vergleichsweise geringe Maß an Entfremdung, das Karlheinz Rossbacher etwa in Daniel Spitzers Figur des „Wiener Spaziergängers" ortet, ist ebenfalls auf jenes Aufrechterhalten eines Konstruktes bürgerlicher Identität zurückzuführen. Dennoch zeugen selbst Spitzers Texte von der Auflösung konsistenter Identitäten, und auch Wien erscheint in den Wiener Spaziergängen nicht als jener „identische" Ort, als den ihn eine Literatur verstanden wissen möchte, die sich spätestens seit der josephinischen Zeit in rückwärtsgewandter Wien-Idolatrie übt. Vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien: Jugend & Volk 1992, S. 85. 86 Vgl. Voss (Anm. 73), S. 38.

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Tatsächlich bleiben auch die „neuen" Wahrnehmungsweisen, die die moderne Großstadt produziert, nicht auf ihren alltagsästhetischen Ausdruck im Phänomen der Flanerie beschränkt, sie finden vielmehr als mimetische Transformationen Eingang in alle Bereiche der modernen Kunst87 und werden auch erst als solche analytisch faßbar. Die zahlreichen neueren wissenschaftlichen Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen formalästhetischen Phänomenen der literarisch-künstlerischen Moderne und der durch den Modernisierungsprozeß veränderten Wirklichkeitswahrnehmung erhellen, nehmen allerdings auf die vergleichsweise frühe literarische Auseinandersetzung mit den Folgen des Modernisierungsprozesses, wie er sich vorerst in den frühen Großstadttableaux, den literarischen Skizzen, in jener „panoramatischen Literatur" also, in der Benjamin die Vorläuferin des Feuilletons erkennt88, schließlich im Feuilleton selbst manifestiert, kaum Bezug.89 Wiederum sind es die Theoretiker und Essayisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts selbst, die auf den engen Konnex zwischen Modernisierung, Flanerie und Feuilletonismus hinweisen und im Feuilleton eine Form der formalästhetischen Umsetzung der veränderten Wahrnehmungsweisen erkennen. In seiner ironischen Nomenklatur des Feuilletonismus etwa, die Ferdinand Kürnberger 1856 erstellt, erscheint der „Straßen-Feuilletonist" (F. forensis, eine von Kürnbergers sechs Kategorien der Spezies) als „der leichte, libellenhafte Flaneur"90, der Lust aus dem „Anschauen" bezieht und dessen bevorzugter Aufenthaltsort - die eleganten Geschäfte am Graben in Wien bereits dem des Pariser Feuilletonisten der nachhaussmannschen Periode ähnelt, der in den Passagen und Warenhäusern, neben der Flanerie die zentralen Konfigurationen der modernen Großstadt91, sein hauptsächliches Betätigungsfeld findet.92 Kürnberger erkennt somit nicht nur den Zusam87 Vgl. dazu Kondylis (Anm. 55), S. 72-134. 88 Vgl. Benjamin, Paris (Anm. 75), S. 48. Mit dem Begriff der „panoramatischen Literatur" bezeichnet Benjamin jene Texte, in denen die Großstadt lediglich als Panorama fungiert, vor dem die Ereignisse ablaufen, die Großstadt also noch nicht Akteurin ist. 89 Eine Ausnahme bildet Röhn (Anm. 1). 90 Ferdinand Kürnberger: Die Feuilletonisten. In: F. K.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Otto Erich Deutsch. München, Leipzig: Georg Müller 2 1911, Bd. 2: Literarische Herzenssachen, S. 430-439, Zit. S. 434. 91 Vgl. Anm. 72. 92 Der Prozeß der Stadterweiterung setzt in Wien ein Jahr nach der Entstehung von Kürnbergers Feuilleton, nämlich 1857 mit dem Beginn der Planungen für das Ringstraßenprojekt, ein.

Genre mineur oder Programm der literarischen Moderne?

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menhang zwischen Feuilletonismus und Flânerie, er verweist auch - achtzig Jahre vor Walter Benjamin - auf die Affinität von sozioökonomischen und ästhetischen Implikationen des Modernisierungsprozesses, die sich ebenfalls im Feuilleton niederschlügen. Denn wie Benjamin93 sieht auch er im Flaneur „den Komplizen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer großstädtisch-industriellen Räume" 94 und in der Flânerie die Voraussetzung für das Warenhaus95: wie Benjamin weiß auch Kürnberger um die multiplikatorische Funktion des Feuilletonisten innerhalb der kapitalistischen Zirkulationssphäre. Die Ästhetik des Spazierganges, die im Feuilleton eine ihrer literarischkünstlerischen Transformationen findet, gründet somit in mehr als einem Bereich moderner Denk- und Lebensform. In ihrer ursprünglichen Bedeutung als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung bezeichnet die Ästhetik der Flânerie das Paradigma „neuer" Perzeptionsweisen, das aus der Konfrontation des modernen, dezentrierten Individuums mit dem Komplex „Großstadt" entsteht und das selbst alle Phänomene des Modernisierungsprozesses als Objekte in sich trägt. Als eine Form der Inszenierung großstädtischer Existenz andererseits bedeutet sie auch die Ästhetisierung des Alltags und wird somit dem poetologischen Anspruch gerecht, die ästhetische Sphäre in der modernen Umwelt zu verankern. Als Teil der tauschrational organisierten Moderne wiederum unterstreicht sie den Warencharakter, der die moderne Kunst ebenso wie die verdinglichten Sozialbeziehungen prägt.

93 Zur Verwandtschaft von Flânerie und Feuilletonismus vgl. Benjamin, Baudelaire (Anm. 77), S. 620. 94 Voss (Anm. 75), S. 38. 95 Vgl. Benjamin, Paris (Anm. 75), S. 54.

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Der Einzug des Feuilletons in die kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung Eine pressegeschichtliche Fallstudie

1. Im Revolutionsjahr 1848 war die Wiener Zeitung bereits eine alteingesessene Institution.1 Johann Baptist Schönwetter hatte sie 1703 unter dem Titel Wienerisches Diarium gegründet und als Nachrichtenblatt geführt, das vor allem Todesfalle und Ankünfte der Personen von Stand in Wien vermeldete. 1721 weigerte sich Schönwetter, einen ,Impost' zu entrichten, der auf alle Kalender und Zeitungen zur Finanzierung des Baues der Hofbibliothek erhoben wurde. Aufgrund dieser Widersetzlichkeit wurde er vom Hof gezwungen, sein Wienerisches Diarium an den Meistbietenden zu verkaufen. Der Wiener Drucker und Verleger Johann Peter van Ghelen war dieser Meistbietende, und er sicherte sich und seinen Nachkommen das Blatt, das von 1780 an den Namen Wiener Zeitung trug. Auch im Jahre 1848 vermerkt das Impressum noch die „Edlen van Ghelen'schen Erben" als Eigentümer. Nun wären diese Informationen über Besitzverhältnisse wenig bedeutend, hätte nicht van Ghelen eine folgenschwere Entscheidung getroffen, die auch seine Erben niemals revidierten. Zusammen mit dem Kauf der Zeitung erwarb er auch das Privileg der exklusiven Hofberichterstattung. 1 Als Grundlage der folgenden Darstellung dienen die Forschungsergebnisse der Arbeiten: Wilhelm Böhm: Geschichte der „Wiener Zeitung". Von J . B. Schönwetter bis Friedrich Uhl. In: 250 Jahre „Wiener Zeitung". Eine Festschrift. Wien: Verlag der österreichischen Staatsdruckerei 1953, S. 8-57. Robert Katschinka: Anfänge und Entwicklung des literarischen Feuilletons in der Wiener Zeitung. E n Beitrag zur Geschichte des Feuilletons der Wiener Presse. Diss. Wien 1937. Peter Kuderer: Die „Wiener Zeitung" im Revolutionsjahr 1848. Diss.Wien 1957. Franz Stamprech: Die älteste Tageszeitung der Welt. Werden und Entwicklung der „Wiener Zeitung". Wien: Verlag der österreichischen Staatsdruckerei o. J. (1975).

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Das heißt, der kaiserliche Hof belieferte die Wiener Zeitung - und nur sie mit den Nachrichten und Verordnungen, die er für öffentlichkeitstauglich hielt. Dadurch war das Blatt in eine offiziöse Nähe zum Machtzentrum gerückt, was unter anderem auch positive Effekte auf das Anzeigengeschäft hatte, da vielen Gewerbetreibenden daran gelegen war, in einem Organ zu annoncieren, das dem Hof nahestand. Allerdings waren an den Besitz dieses Privilegs Verpflichtungen geknüpft, die über die Forderung einer grundsätzlichen Loyalität weit hinausgingen. Der Hof wollte seine Verlautbarungen nur in einer Umgebung veröffentlicht sehen, die seiner Würde in allen Details entsprach. Daher unterlag die offiziöse Zeitung noch strengeren Kontrollen als andere Publikationsorgane. Als Joseph II. 1781 die Zensurvorschriften für die Presse wesentlich lockerte, galten die verfügten Erleichterungen für die Wiener Zeitung ausdrücklich nicht. Sie nämlich sah der Kaiser als sein Sprachrohr an, das nicht im Geringsten abzuweichen hatte von den Vorgaben, die bei Hof gemacht wurden. Die wichtigste dieser Vorgaben hieß jedoch bei Joseph dem Zweiten wie bei seinen Nachfolgern: strengste Zurückhaltung und Neutralität in allen Belangen. Der Zeitung oblag es in den Augen des Privilegiengebers, über den Parteien zu stehen und unangreifbar sachlich zu referieren. Zu politischen Meinungsäußerungen war sie prinzipiell nicht berechtigt, was dazu führte, daß selbst Artikel, die für die kaiserliche Politik eintraten, nicht gerne gesehen wurden. Erwünscht waren lediglich Huldigungen zu feierlichen Anlässen, so etwa eine Ode Klopstocks auf den Tod Maria Theresias, die von der Wiener Zeitung 1780 veröffentlicht wurde. Propaganda oder gar politische Hintergrundinformation war nach dem Selbstverständnis des Hofes nicht vonnöten. Der deutlichste Ausdruck dieser Haltung war das Verbot von Leitartikeln, das erst im Revolutionsjahr 1848 hinfallig werden sollte. Diese Auflagen schränkten die Journalisten des Blattes nicht nur inhaltlich, sondern auch in den Formen ihrer Darstellung erheblich ein. Meinungsbetonte Textsorten wie Glossen, Satiren oder Polemiken, die in anderen Publikationsorganen des 18. Jahrhunderts häufig anzutreffen sind, wurden nur mit allergrößter Vorsicht verwendet. Schon ein mild satirisches Epigramm wie das folgende aus dem Jahr 1782 steht in diesem Kontext als seltene Lockerung da: Den Damen und den süßen Herren Die ob der eignen Schönheit staunend wie die Affen zu ganzen Vormittagen gern

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In großen Spiegeln sich begaffen, Den steht zur Noth wohl ein Roman Nicht aber unsre Zeitung an. 2

Von solchen kurzen Heiterkeitsanfallen abgesehen, waren die ersten 145 Jahrgänge der Wiener Zeitung geprägt vom Wechselspiel von amtlicher Verlautbarung, karger Nachricht und sachlich erläuterndem Kommentar, der sich zuweilen bei unbekannten oder schwer verständlichen Sachverhalten wie eine Fußnote an die Nachricht anschloß. Allerdings bot sich hier doch eine Möglichkeit zu journalistisch anspruchsvollerer Bemühimg. Dem Kommentar war es nämlich nicht verwehrt, zum enzyklopädischen ,gelehrten Artikel' auszuwachsen. Diese Würdeform des Journalismus stand nicht im Widerspruch zur Seriosität eines Hoforgans und wurde daher immer gepflegt. Schon in den Jahren 1762-1768 existierte mit Unterbrechungen eine gesonderte Beilage, deren Titel „Gelehrte Nachrichten" ihrem Inhalt adäquat war. Allen anderen Formen der Kulturberichterstattung wurde es jedoch systematisch schwer gemacht, in der Zeitung Fuß zu fassen. Dies illustriert etwa folgende Episode: 1799 hatte August von Kotzebue, der als Sekretär am Hoftheater tätig war, mehrere Theaterkritiken in der Wiener Zeitung veröffentlicht, in denen er einige Schauspieler lobte, andere tadelte. Dies hatte eine Eingabe der Polizeidirektion beim Kaiser zur Folge, in der zwei Gründe gegen Kotzebues kritische Tätigkeit geltend gemacht wurden. Zum einen, so hieß es, lobe er vor allem die Schauspieler, die er selbst an das Hoftheater empfohlen habe, verstoße also gegen die Regel der Uberparteilichkeit. Zum anderen aber - und dies war wichtiger - hielt man das Genre der Rezension selbst für verwerflich: Das Wiener Diarium 5 ist seiner Bestimmung nach ein politisches Zeitungsblatt und erscheint selbst mit dem Gepräge einer Hofeeitung; man wundert sich daher ebenso sehr, neben den Staatsnachrichten und allerhöchsten Verordnungen darinnen Theaterkritiken zu finden, als in der Petersburger Hofzeitung Anekdoten von der Wachtparade zu lesen. 4

2 Zitiert nach Katschinka (Anm.l), S. 62. 5 Es mag den Konservativismus der zuständigen Behörde illustrieren, daß sie hier nach wie vor den alten Zeitungsnamen „Wiener Diarium" verwendet, der schon seit 1780 nicht mehr im Gebrauch war. 4 Katschinka (Anm. 1 ) , S. 71 f.

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Dieser Einspruch führte dazu, daß Kotzebue seine Rezensententätigkeit für die Wiener Zeitung einstellte. Doch blieb die Theaterkritik weiterhin ein umstrittener Punkt. 1836 suchten die van Ghelen'schen Erben um „Aufnahme von dramaturgischen Berichten über die hiesigen Theater in dem nichtpolitischen Theile des Blattes" an, doch wurde ihr Gesuch abschlägig beschieden. 1840 wurde es erneut eingebracht, und vom Polizeiminister, dem Grafen Sedlnitzky, zwar genehmigt, doch mit dem Bemerken versehen: „[...] nur müssen die Referate in einem ernsten und würdigen, der Wahrheit und dem Zweck der beiden genannten Hof-Institute angemessenen Tone abgefaßt sein [,..]" 5 Diese Auflage bewirkte, daß die Berichte, die in der Wiener Zeitung von den Aufführungen des Hoftheaters veröffentlicht wurden, in der Tat keine Rezensionen waren, sondern eben ,Referate', die der altgewohnten Form der ,gelehrten Abhandlung' ähnelten. Einläßlich wurde das gespielte Stück untersucht, die Qualität der Aufführung indes nur wenig beachtet. So entsprach es der Zurückhaltung, die von der Oesterreichisch-kaiserlich legirten Wiener Zeitung seit jeher verlangt worden war.

privi-

2. Vom 1. Januar 1848 an zeigte das alte Blatt jedoch ein neues Aussehen. Nach dem Vorbild der Londoner Times wurde es auf einem Bogen von 55 cm Höhe und 57 cm Breite gedruckt. Diese Ubergröße ermöglichte einen vierspaltigen Umbruch - vorher wurde dreispaltig umbrochen und sie schaffte Platz für eine Neuerung, der sich in der ersten Häfte des neunzehnten Jahrhunderts keine Zeitung entziehen konnte: Das Feuilleton wurde eingeführt, um Berichten über das kulturelle Geschehen, aber auch unterhaltsam plaudernden Beiträgen Raum zu geben. Diese neue publizistische Präsentationsform war in Frankreich entstanden, hatte sich aber auch in anderen Ländern bald durchgesetzt. In Osterreich war es die Wiener Zeitung, die als erste die regelmäßige Kultur-Rubrik im unteren Drittel der Titelseite installierte. Schon ein kursorischer Blick auf die Januar-Ausgaben des Jahres 1848 zeigt, daß diese Erneuerung in der äußeren Form zu einem Teil mit inhaltlichen und stilistischen Neuansätzen einherging, zu einem anderen Teil

5 Ebd., S. 96.

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nicht. Am 2. Januar erschien in den Feuilleton-Spalten z. B. die Besprechung einer Aufführung der Komödie Schleife und Blume nach Calderon, die ganz im alten Stil des Blattes über die Leistung der Darsteller fast nichts mitteilt, dafür aber die eher,gelehrte' Frage erörtert, warum sich Komödien schneller überleben als Tragödien.6 Am 7. Januar jedoch findet man die erste Musikkritik des zweiundzwanzigjährigen Eduard Hanslick, der mit den aufführenden Künstlern wesentlich strenger und persönlicher ins Gericht ging als der Theaterkritiker mit den Initialen L. F-r. fünf Tage zuvor.7 Und noch eine Woche später, am 15. 1., sind die Spalten des Feuilletons mit Ferdinand Kürnbergers Votum über die Literatur der Dorfgeschichten8 gefüllt, in dem der Autor in ausdrücklicher Subjektivität begründet, warum ihm persönlich die Dorfliteratur nicht zusagt. Im Zeichen der Gelehrsamkeit steht hingegen der naturwissenschaftliche Beitrag vom 4. 1., dessen fachsprachlich geprägter Stil keinerlei Zugeständnisse an etwaige feuilletonistische Bedürfnisse macht. So wird z. B. mitgeteilt, „daß die Annahme: sämmtliche Nummuliten seien tertiär, so viele dunkle Seiten der Lagerungsgeognosie aufzuklären scheine, daß eine allgemeine Zusammenstellung der Folgerungen dieser Ansicht sehr wünschenswerth erscheine." 9 Von dieser eher schwerfälligen Wissenschaftsprosa unterscheidet sich vorteilhaft der Beitrag Merke zur vergleichenden Erdkunde vom 22. 1. Hier wird ein ausdrücklich populärer Anspruch verfolgt, wenn es zu Beginn heißt: „Die Goldbarren der Wissenschaft in kleine Münze auszuprägen, um diese nutzbringender rundlaufen zu lassen, dünkt mir eine Ehrenarbeit der Tagblätter zu sein." 10 Eingeleitet wird diese Mischung aus älteren und neueren Schreibweisen von einem Aufsatz programmatischen Charakters. Er erschien am 1.1. 1848 unter dem Titel Das Feuilleton, eröffnete also die neu eingerichtete, gleichnamige Rubrik. Dieser Aufsatz sieht die Aufgabe des Feuilletons darin, alle Bereiche der Kunst und Wissenschaft ohne den Anspruch der Gelehrsam6 Vgl. L. F-r.: Schleife und Blume. Lustspiel in drey Aufzügen, nach Calderon. (Aufgef. im k.k. Hofburgtheater am 50. Decbr. 1847). In: Wiener Zeitung, 2. 1. 1848. 7 Vgl. Eduard Hanslick: Concerte. In: Wiener Zeitung, 7. 1. 1848. 8 Vgl. Ferdinand Kümberger: Ein Votum über die Literatur der Dorfgeschichten. In: Wiener Zeitung, 15. 1. 1848. 9 Anonym: Geologie. Meteorologie. Physik. Chemie. Paläontologie. Anatomie. In: Wiener Zeitung, 4. 1. 1848. 10 Wilhelm Emil Wahlberg: Merke zur vergleichenden Erdkunde. In: Wiener Zeitung, 22. 1. 1848.

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keit, aber aus dem Blickpunkt des Fortschritts zu behandeln. Doch verdient der Text eine mehr als kursorische Beachtung nicht dieser eher gängigen Definition wegen. Aufschlußreicher ist nämlich die argumentative Mühe, die aufgewandt wird, um schließlich zu dieser Funktionsbestimmung des Feuilletonismus zu gelangen. Eben dieser Mühe soll im folgenden ein wenig genauer nachgegangen werden. Der Text beginnt mit einem kurzen prinzipiellen Bekenntnis zum Fortschritt, das aber sogleich in eine wesentlich ausführlichere Klage über die Fehler und Laster der modernen Zeit einmündet: Aber es ist ein Geist der Frivolität, der Oberflächlichkeit, der nimmer zu befriedigenden Genußsucht über die moderne Menschheit, in Folge einer mehr raschen als tüchtigen, naturgemäßen Entwickelung unserer Zustände gekommen, welcher nicht nur diejenigen, die das Alte lieben, weil es alt ist, sondern auch die entschiedensten Freunde des Fortschrittes, jene Gediegenheit, jenen edlen Ernst, jene Frische und Naivität zurückwünschen macht, welche die Bildung und das Streben früherer Generationen charakterisiren."

Als wichtiges Indiz für diese unerwünschte Entwicklung gilt dem Verfasser dann das Interesse des Publikums an den Zeitungen: Man lese keine Bücher mehr, so klagt er, ja selbst Vierteljahresschriften seien der „modernen Blasirtheit und Ungeduld" zu mühsam. Nur die Zeitung befriedige die neueste Leselust, folglich werde sie immer umfangreicher und großformatiger und behandele auch Themen, die früher nicht in ihren Zuständigkeitsbereich gefallen wären. Und zur besseren Gliederung dieser Fülle habe man in Frankreich eine sichtbare Ressortteilung zwischen Politik und Kultur eingeführt. Der politische Leitartikel stehe oben, während unten, „unterm Strich", das Feuilleton angesiedelt sei. Auf diese optische Hierarchisierung von Politik und Kultur kommt der Artikel mehrmals zu sprechen, und es zeigt sich, daß der Verfasser damit nicht ganz glücklich ist. An einer Stelle meint er z. B.: Ein kleiner Strich trennt das Feuilleton vom politischen Theile der Zeitung. Dicht über dem Anfange desselben steht in stolzer Haltung der leitende Artikel. Welch' ein Unterschied zwischen oben und unten! Eine schmale Gränzli-

11 L . N.: Das Feuilleton. In: Wiener Zeitung, 1.1. 1848.

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nie ist zwischen Politik und Romantik gezogen; zwey Welten, einander fremd, stoßen nachbarlich zusammen. Und doch ist der leitende Artikel, so pomphaft er auftritt, bald vergessen, während des Feuilleton-Romans endlose Kettenglieder sich in Schrift und Phantasie zu einem Ganzen anreihen.12

So also wird die Rangordnung des Seitenumbruchs geistig umgekehrt. Der pomphafte Leitartikel an der Spitze fallt der Schnellebigkeit des Tages zum Opfer, während der bescheiden ganz unten plazierten „Romantik" Ewigkeitswerte zuwachsen. In diesem Sinn vermerkt der Text auch, daß gesammelte Feuilletons unter Umständen zu Büchern mutieren können, während der politische Artikel eine wahre „Ephemeride" bleibe. Diese - man könnte sagen: „Aschenputtel"-Argumentation hat im 19. Jahrhundert manch einen Romantiker über seine politische Einflußlosigkeit hinweggetröstet. Das letzte Wort des Feuilletonisten der Wiener Zeitung ist damit aber noch nicht gesprochen. An einer anderen Stelle des Artikels dokumentiert sich nämlich auch ein unverhohlenes Mißtrauen gegen manches, was sich da unten in den Feuilletonspalten ansammelt: Die Novellistik und Kritik, Berichte über gelehrte Versammlungen u.a.m. haben die Franzosen in das Feuilleton verwiesen, und dadurch wohl die Uebersicht einiger Maßen erleichtert, ander Seits aber der Journalistik ihres Landes eine, die gesammte Literatur fast verschlingende, ihr wie der Volksmoral nichts weniger als förderliche Ausdehnung gegeben. In dem Feuilleton spinnen die Sue's, die Dumas' und so viele Andere ihre Schauer= und Gräuel=Novellen ins Endlose ab; das Feuilleton ist in Aller Händen; Tausende, denen der politische Theil der Zeitung unverständlich oder gleichgültig ist, schwelgen in ihren untern Regionen.13

Der Unterschied zum vorherigen Zitat ist nicht zu übersehen. Reihten sich dort des Feuilleton-Romans endlose Kettenglieder zu einem Ganzen an, spinnen sich hier Schauer- und Gräuel-Romane ins Endlose ab. Populärautoren wie Eugène Sue oder Alexandre Dumas sollte also kein unbegrenzter Raum zur Verfügung stehen, wenn es nach diesem Artikel ginge. Denn als „Schwelgen in den untern Regionen" möchte der Feuilletonist der Wiener

12 Ebd. 13 Ebd.

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Zeitung seine Arbeit nicht verstanden wissen. Was er statt dessen anstrebt, verschweigt er nicht. Der außerordentlich lange Text endet mit folgender programmatischer Erklärung: [...] dürften wir ein Ideal des Feuilletons aufstellen, so wäre seine Aufgabe, im Gegensatze des, schnell verflüchtigenden politischen Bestandtheiles der Journale: Alles, was auf die gesellschaftlichen Zustände minder geräuschvoll, aber dauernder, nachhaltiger als die Tagespolitik einwirkt, in das Bereich seiner Erörterung zu ziehen. Das Journal oberhalb der Linie sollte statt aufgeputzte Kannegießerey und erbitterte Parteypolemik zu machen, sich in die Höhen edler, leidenschaftsloser, deshalb nicht minder entschiedener Betrachtung staatlicher Zustände schwingen; und das Feuilleton, wenn es sich zur Politik wie der Conversationssaal zum Parlamente verhält, sollte sich von der Langenweile und dem ermüdenden Allerley gewöhnlicher Theezirkel zur anmuthigen Würde des Symposiums erheben, und in gefälliger, anziehender Form, ohne Prätension und Anspruch der Gelehrsamkeit die großen Fragen socialen Fortschrittes, der Kunst, Literatur, Industrie, alles aus dem Gesichtspuncte dieses Fortschrittes besprechen.14

Hier wird derselbe allumfassende Zugriff beansprucht, der vorher am französischen Feuilleton kritisiert worden war. Freilich erscheint er klassizistisch „zur anmuthigen Würde des Symposiums" veredelt, und somit vor der Schnellebigkeit geschützt. Durch seine Hinwendung zum Dauerhaften und Nachhaltigen unterschiede sich diese österreichische Art von Feuilleton aber nicht nur von französischen Varianten, sondern auch vom tagespolitischen Teil der Zeitung, dem der Verfasser freilich auch eine Veredelungskur verordnet: Auf den Höhen leidenschaftsloser Betrachtung, nicht in den Niederungen der Parteipolitik sei sein Platz. Ob auf diesen Höhen vom Fortschritt, zu dem sich die Schlußpassage noch einmal bekennt, allzu viel zu spüren wäre, mag fraglich sein. Sicher aber ist, daß dieses so umständlich argumentierende Feuilleton darauf bedacht ist, den Rahmen des Bestehenden durch die notwendigen Neuerungen nicht zu sprengen. Da die Wiener Zeitung zu Beginn des Jahres 1848 noch strenger obrigkeitlicher Kontrolle unterlag, werden für diese Vorsicht nicht nur geistige Motive bestanden haben.

14 Ebd.

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Signiert ist dieser aufschlußreiche Artikel mit den Initialen L.N. Wer sich hinter dieser Abkürzung verbirgt, ist von der konsultierten Forschungsliteratur nicht untersucht worden. Als Alfred Zohner 1946 in seinem Essay Das Wiener Feuilleton auf den zitierten Artikel zu sprechen kam, überging er die Verfasserfrage stillschweigend. 15 Und 1957 erwähnte Peter Kuderer den „Feuilletonisten L. N . , bei dem Heyssler [sie!] den Beitrag bestellt hatte"16, nannte ihn aber nicht beim vollen Namen. Franz Stamprech hingegen, der Haushistoriker der Wiener Zeitung, gab 1974 eben jenen Heyßler17 selbst als Verfasser an, verzichtete jedoch auf Belege für diese Ansicht.18 Allerdings hat Stamprechs Vermutung eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite, denn Dr. Moriz Heyßler war seit dem Jahreswechsel 1847/48 „Hauptredakteur" der Wiener Zeitung. Daß er die neugeschaffene Rubrik mit einem eigenen Beitrag eröffnete, ist also eine naheliegende Vermutung. Doch wäre am grundsätzlichen Gewicht des Textes auch dann nicht zu zweifeln, wenn sein Verfasser nicht der Chefredakteur gewesen sein sollte. Moriz Heyßler galt als Verfechter liberaler Ideen, wurde aber dennoch von der Regierung als Leiter der Wiener Zeitung akzeptiert. Ein zweiter Journalist, Dr. Moriz v. Stubenrauch, der mit Heyßler zusammen ein ,Duumvirat' bilden sollte, fand hingegen keine Gnade: Sedlnitzky lehnte seine Bestallung kategorisch ab. Erst als die Regierung im März des Jahres abdankte, konnte auch der Jurist und Publizist Stubenrauch in die Redaktion eintreten. Diese beiden Redakteure entwarfen während der revolutionären Ereignisse für ihre Zeitung ein radikal neues Konzept. Nicht mehr als offiziöses Orgcin wollten sie die Wiener Zeitung definiert sehen, sondern als eine völlig unabhängige Publikation, die der Regierung zwar Raum für Bekanntmachungen zur Verfügung stellt, ansonsten aber keinerlei Verpflichtung dem

15 Vgl. Alfred Zohner: Das Wiener Feuilleton. Vorwort in: Kunst des Tages. Eine Sammlung Wiener Meisterfeuilletons. Hrsg. v. Alfred Zohner. Wien: Luckmann 1946, S. 5-18, insbes. S. 7 f. 16 Kuderer (Anm. 1), S. 9. 17 Die Schreibung des Namens schwankt in der Literatur zwischen Moritz Heyssler und Moriz Heyßler. Da die letztere Variante dem Impressum der „Wiener Zeitung" aus dem Jahre 1848 entspricht, wird sie im folgenden beibehalten. Dasselbe gilt für Moriz von Stubenrauch, der in späteren Darstellungen ebenfalls meist ein „t" im Vornamen hinzugewinnt. 18 Vgl. Stamprech (Anm. 1), S. 196 f.

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Staat gegenüber anerkennt. In aller Deutlichkeit wurde dies in einem namentlich nicht gezeichneten, titellosen Artikel vom 3. 4. 1848 zum Ausdruck gebracht: [...] die Wiener Zeitung ist weder ein officielles noch ein halb officielles Blatt, weder ein Moniteur noch ein Journal des débats. Ihr Verhältniß zur Regierung ist lediglich ein contractiiches; es ist ein Vertragsverhältniß mit der Finanzverwaltung dem zu Folge sie dem Gouvernement unter anderen den amtlichen Theil des Hauptblattes zu officiellen Veröffentlichungen offen zu halten - den übrigen Theil aber nach Richtung und Inhalt völlig frei hat. Daß dieß Verhältniß während des bestandenen ancien regime anders aufgefaßt, daß ihr der Charakter eines Hofblattes mit allen daran geknüpften, noch über das Maß des gewöhnlichen Censurdruckes hinausreichenden Beengungen aufgedrängt wurde, war eben nur eine der Gewaltthätigkeiten, die man sich wehr- und hilflos gefallen lassen mußte. Mit dem Sturze des ,Systemes' hat die Wiener Zeitung diesen ihr aufgedrungenen Charakter, gegen den sie schon seit dem letzten Redactionswechsel mit allen Waffen des ,passiven Widerstandes' gekämpft hatte, völlig abgestreift und sich in den vollen Besitz der Preßfreiheit gesetzt, welchen sie - so Gott will - auch fortan im vollsten Umfange zu erhalten und zu vertreten wissen wird. 19

Im Geiste dieser Erklärung öffnete die Wiener Zeitung während der turbulenten Ereignisse des Frühjahrs 1848 ihre Spalten allen politischen Richtungen gleichermaßen. Spätere Kommentatoren haben unterschiedliche Motive für diese plötzliche Offenheit der alten Staatszeitung namhaft gemacht. Alexander von Helfert mißbilligte 1877 das Vorgehen der Redakteure, entschuldigte es jedoch mit „dem Sturm und Drang jener noch unerfahrenen Zeit" 20 , die einer besonnenen Pressepolitik nicht günstig gewesen sei. Politisch präziser urteilte Ernst Victor Zenker. Er führte 1893 die liberale Politik der Zeitung auf den Einfluß des „juridisch-politischen Lesevereins" zurück, der sich schon früh für eine völlige Pressefreiheit ausgesprochen hatte, und dem Moriz v. Stubenrauch als Mitglied an-

19 Anon. In: Wiener Zeitung, 3. 4. 1848. Ruderer (Anm. 1) zitiert auf S. 53 f. diese Passage in modernisierter Orthographie, und unter der falschen Quellenangabe „Wiener Abendzeitung vom 4. 4.1848". 20 Alexander Freiherr von Helfert: Die Wiener Journalistik im Jahre 1848. Wien: Manz 1877, S. 26.

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gehörte. 21 Wilhelm Böhm schließlich unterstellte 1953 der Redaktion ein Absicherungsbedürfnis nach allen Seiten, und er meinte, „das Verhalten der beiden Professoren" [Heyßler und Stubenrauch, H.S.] sei „das einzige Mittel" gewesen, „um die ,Wiener Zeitung' durch den Revolutionssturm heil hindurchzusteuern."22 Aber ob Konfusion, Liberalität oder Überlebensstrategie - sicher ist jedenfalls, daß der Mut der Redakteure bald wieder in seine Grenzen verwiesen wurde. Als Kaiser Ferdinand I. am 17. Mai Wien verließ und nach Innsbruck flüchtete, kommentierte dies die Wiener Zeitung überaus kritisch. Und die Barrikadenkämpfe, die zwischen dem 26. und dem 28. Mai stattfanden, beantwortete das Blatt mit einer ungemein provokanten Geste, die jedoch sofort wieder zurückgenommen wurde. In unüberhörbar mißbilligendem Ton erzählte Constant von Wurzbach, der Biograph der Epoche, später diese kurze aufrührerische Episode: In jenen Tagen leistete auch die ,Wiener Zeitung' unter der Redaction der Doctoren Moriz Heyßler und Moriz Stubenrauch manches Possirliche, so gab sie nach den Ereignissen des 26. Mai den ,Adler' auf, den sie seit Menschengedenken am Kopfe ihres Blattes getragen. ,Die Wiener Zeitung hat den Kopf verloren', hieß es allgemein, als am 29. Mai das Blatt ohne den üblichen Adler erschien, zugleich hörte das Blatt auf, ein oflicielles zu sein, d.h. der nichtamtliche politische Theil war unabhängig in seinem Inhalte. Aber diese Kopflosigkeit des Blattes, die zum Theile auch auf seinen Inhalt übergegangen war, war von kürzester Dauer, denn schon am 50. Mai prangte der Doppeladler an seiner alten Stelle und die Unabhängigkeit ihrer Haltung erlosch mit dem 1. Juli, an welchem an Stelle der Doctoren Heyßler und Stubenrauch Dr. Adolph Schmidl als Redacteur trat. Man kann nicht sagen, daß das Blatt unter Schmidl's Redaction gewonnen hätte, er wurde nach kaum dritthalbmonathlicher Leitung seiner Stelle enthoben und Docent v. Eitelberger trat an seine Stelle.23

Damit war die Revolution, so weit sie die Wiener Zeitung betraf, am Ende.

21 Vgl. Ernst Victor Zenker: Geschichte der Wiener Journalistik. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. II. Band: Das Jahr 1848. Wien/Leipzig: Braumüller 1893, S. 21 f. 22 Böhm (Anm. 1), S. 22. 25 Constant von Wurzbach: Adolph Schmidl. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 29. Theil. Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1875, S. 199-205, Zitat S. 201.

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Das große Format nach dem Vorbild der Times wurde nach Heyßlers und Stubenrauchs Ausscheiden auf österreichisches Normalmaß reduziert. Und vom Spätjahr 1848 an zeigte sich die Zeitung wieder als loyale Verkünderin der offiziellen Politik, wie es ihrem ältesten Zweck entsprach. Die van Ghelen'schen Erben, die als Eigentümer kein allzu großes Interesse mehr an der Zeitung zeigten, zogen sich aus den täglichen Geschäften zunehmend zurück, und so war es eine logische Entwicklung, daß das Blatt schließlich 1858 in den Besitz des Staates überging. Staatstragend genug für diesen Eigentümerwechsel hatte sich die Wiener Zeitung schon vorher gezeigt. 1855 feierte ein ganz und gar rühmender Artikel den 80. Geburtstag Metternichs24, und ein weiterer Beitrag desselben Jahres ermahnte den deutschen Literaten Theodor Mündt zur Revision alter politischer Vorlieben. Uber Mündts Geschichte der Literatur der Gegenwart heißt es in diesem Sinne: Der politischen Richtung wegen finden hier auch Karl Beck, Moriz Hartmann und Alfred Meißner ihre Stelle, bei welchen jedoch der Wind, welcher heute aus einem anderen Zeitloch bläst, zu viel des grünen Schmuckes entfuhrt hat, als daß der Literaturhistoriker nicht seine Anerkennung auf ein geringeres Maß beschränken müßte, als man bei den Genannten noch vor einigen Jahren für zulässig gehalten hätte.25

Ein Jahr nach dieser Ankündigung eines neuen Zeitgeistes bot sich dann wieder einmal die Gelegenheit für ein lyrisches Herrscherlob. Wie seinerzeit Klopstock Maria Theresia in der Wiener Zeitung bedichtete, erhoben 1854 die Dichter ihre Stimmen zu Ehren der neuen Kaiserin Elisabeth. Am 25. 4., einen Tag nach der Vermählung des kaiserlichen Paares, veröffentlichte das Blatt in voller Länge einen Prolog von Friedrich Halm, den die Schauspielerin Julie Rettich zum feierlichen Anlaß im Hofburgtheater vorgetragen hatte. 26 Und unter dem Titel Die Beleuchtung versetzte sich Hermann von Gilm schon am 12. 4. in die Seele des Kaisers Franz Joseph. Dieser, so behauptet das Gedicht, sei zwar hoch erfreut über die Illuminationen, die man ihm zur Hochzeit überall veranstalte, noch lieber aber wäre 24 Anon.: Ein achtzigster Geburtstag. In: Abendblatt der Wiener Zeitung, 14. 5. 1855. 25 Anon.: Oesterreich in der Literatur der Gegenwart. In: Abendblatt der Wiener Zeitung, 13. 1. / 14. 1 . / 15. 1 . 1 8 5 3 , Zitat 15. 1. 26 Friedrich Halm: Prolog. In: Abendblatt der Wiener Zeitung, 25. 4. 1854 .

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es ihm, wenn unter seinen Landeskindern „Mildthätigkeit" herrsche. Das Gedicht endet mit der siebenten und letzten Strophe: Wenn nasser Dank an jenem Tag Der Armuth Auge feuchtet Dann ist, so wie ich's haben mag Mein Oesterreich beleuchtet. 27 [Das „ich", das so redet, ist der Kaiser, H.S.]

Auch in späteren Jahren war auf den Seiten der Wiener Zeitimg immer wieder Platz für Panegyrisches. 1890 griff etwa Ferdinand von Saar zur Feder und verfaßte zur Hochzeit der Erzherzogin Marie Valerie mit dem Erzherzog Franz Salvator eine anlaßgemäße Variation der Gott erhalte-Hymne, die mit der Strophe beginnt: Gott beschütze, Gott erhalte Dich, erlauchtes junges Paar, Und sein reichster Segen walte Dir zu Häupten immerdar; Habsburgs edlem Stamm entsprossen, Einer Doppelblüthe gleich, Von des Glückes Strahl umflossen, Sehe stets Dich Oesterreich. 28

Mit derartigen Beiträgen arbeitete die Wiener Zeitung also den beiden Tendenzen zu, die oft schon als Triebkräfte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts namhaft gemacht worden sind: Der beflissenen Wiederherstellung des alten politischen Systems samt all seinen Zeremonien und Gepflogenheiten und - damit einhergehend - der Verdrängung der Revolution.

27 Hermann von Gilm: Die Beleuchtung. In: Abendblatt der Wiener Zeitung, 12. 4. 1854. 28 Ferdinand von Saar: Zur Vermählung ihrer k.u.k. Hoheit der durchlauchtigsten Frau Erzherzogin Marie Valerie mit Sr. k. Hoheit dem durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Franz Salvator. 51. Juli 1890. In: Wiener Abendpost, 30. 7. 1890.

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3. Eine Errungenschaft des Jahres 1848 fiel dieser Verdrängung allerdings nicht anheim: Das Feuilleton blieb der Zeitung erhalten, und es mußte sich nicht einmal auf das untere Drittel der Titelseite beschränken. Zwischen 1848 und 1890 gehörten immer wieder feuilletonistisch dominierte Beilagen zum Angebot der Wiener Zeitung-, Von 1854 bis 1857 erschienen die österreichischen Blätterfiir Literatur und Kunst, 1862 wurde die umfangreiche Wochenschriß fiir Wissenschaß, Kunst und öffentliches Leben herausgegeben, die jedoch nach einem Jahrgang bereits wieder eingestellt wurde. Uber diese Sonderhefte hinaus richtete die Redaktion im Jahr 1850 auch ein tägliches Abendblatt ein, das von 1864 an unter dem Titel Wiener Abendpost geführt wurde. Alle diese Supplemente kultivierten zum einen den ,gelehrten Artikel' gemäß der Tradition des Hauses, öffneten ihre Seiten jedoch ebenso dem Feuilleton neuerer Machart. Folglich kamen hier namhafteste Wissenschaftler ebenso zu Wort wie prominente Feuilletonisten.29 Neben den bereits erwähnten, Hanslick und Kürnberger, findet sich z. B. Ludwig Speidel unter den Mitarbeitern, ebenso Friedrich Hebbel oder Hieronymus Lorm, der den feuilletonistischen Teil des Blattes in den späten fünfziger Jahren auch redigierte. Lorm gestaltete in dieser Zeit eine eigene Rubrik, in der er in zwangloser Folge Betrachtungen zum kulturellen Leben unter dem sehr feuilletongemäßen Titel Arabesken publizierte. Darüberhinaus bot die Wiener Zeitung nach 1848 auch Raum für den Fortsetzungsroman nach dem Vorbild der „Sue's und Dumas'", gegen deren Präsenz der Leitartikler L.N. sich einstmals so energisch verwahrt hatte. 1853 erschien z. B. im Abendblatt in mehreren Folgen der Roman Tollar, der Indianer (aus dem Französischen), der freilich nicht, wie man meinen könnte, in Amerika spielt, sondern in Indien. In weniger exotischen Gefilden bewegte sich Ferdinand Kürnbergers Novelle Drei Tage in Pyrmont, mit der 1858 einmal die Spalten gefüllt wurden, die dem Fortsetzungsroman vorbehalten waren. In die Ferne schweifte die Zeitung z.B. wieder im Jahr 1890, als sie Rudyord [sie!] Kiplings Erzählungen aus dem britto-indischen Gebirgsdistricte in zwölf Fortsetzungen veröffentlichte. Mit dem Abdruck

29 Eine Bibliographie von 1849 bis 1880 findet sich bei: Egon von Komorzynski: Die literarischen Beiträge der Wiener Zeitung 1849-1880. In: Zur Geschichte der kaiserlichen WIENER ZEITUNG, 8. August 1703-1903. Wien: k.k. Hof-und Staatsdruckerei 1903, S. 253-319.

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Hermann Schlösser

derartiger Romane entsprach die Wiener Zeitung den Standards des neuesten Feuilletons, das überall in Europa serialisierte Romane im Angebot hatte. Auch personell drückte sich eine neue Wertschätzung des Kulturteiles aus. Im Jahr 1872 wurde ein Mann des Feuilletons, Friedrich Uhl, zum Chefredakteur der Zeitung, und er blieb dies bis zur Jahrhundertwende. Auch er war, wie seine Vorgänger des Revolutionsjahres 1848, als Liberaler bekannt, und auch gegen seine Bestallung bestanden beim kaiserlichen Arbeitgeber Bedenken. Nur auf Probe wurde er zunächst eingestellt, und es bedurfte einigen Urgierens, damit er 1874 seine Definitivstellung durchsetzen konnte. Friedrich Uhl, der Schwiegervater August Strindbergs, wie kein Historiker der Wiener Zeitung mitzuteilen versäumt, war selbst vor allem als Theaterkritiker tätig. Und so war durch sein Avancement auch die Rolle der so lang umstrittenen Kritik in der Zeitung definiert. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mußten sich die Rezensenten des Blattes nicht mehr auf Inhaltsangaben und Besetzungslisten beschränken. Sie taten dies auch nicht, sondern urteilten als durchaus strenge Kunstrichter: Im k.k. Hofburgtheater traten gestern wieder Gäste: Herr Wassermann von Karlsruhe und Herr Müller von Breslau auf. Sie spielten: der Erste den Nathan, der Zweite den Derwisch in Lessings ,Nathan der Weise'. Beide fanden Beifall, Beide erschienen nach den Acten wiederholt, um zu danken. Beide sind wohl begabt und gut eingeübt, Beide verwendbar, aber eigenartige, kraftvolle, schauspielerische Persönlichkeiten, geschaffen, eine große Bühne zu illuminieren, sind sie nicht. Genügend zu sein, genügt nicht, um den Nathan zu spielen. 3 0

So kurz und so bündig wurde also den Herren Wassermann und Müller am 12. Juni 1890 ihr Rang zugewiesen. Die Notiz ist nicht signiert, doch entspricht ihre lakonische Klarheit den journalistischen Idealen des Chefredakteurs Uhl. Dies muß nicht bedeuten, daß er auch der Verfasser des Textes war. Denn Uhl war ein Redakteur von stilbildendem Ehrgeiz, der seine Autoren zu guten Schreibern zu erziehen versuchte. So duldete er es z. B. nicht, daß einzelne Wörter im Text durch gesperrten Druck hervorgehoben

50 Anonyme Kurzmeldung in: Wiener Abendpost 12. 7. 1890.

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wurden. Die Betonung des Wichtigen, so lehrte er, dürfe nur durch sprachliche, nicht aber durch typographische Mittel erreicht werden. 3 1 Den positiven Effekt dieses Stilwillens mag man auch an der Präzision der zitierten anonymen Kurzmeldung erkennen. Anaphorisch steigt der mehrmals gebrauchte Satzanfang „Beide" auf bis zum Wendepunkt, der von einem gut plazierten „aber" eingeleitet wird. Und seinen guten Schluß findet der Absatz in d e m aphoristischen Wortspiel: „Genügend zu sein, genügt nicht [...]" Vergleicht man diesen knappen, im guten Sinne journalistischen Text mit den gewundenen Argumentationsketten des ersten Feuilletons, das 1848 in der Wiener Zeitung erschien, könnte man fast geneigt sein, von einem Fortschritt zu sprechen. Denn in der Tat ist der Geist des Feuilletonismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in die Kulturberichterstattung der kaiserlichen Wiener Zeitung eingezogen. Robert Katschinka, der „die Entwicklung des literarischen Feuilletons in der,Wiener Zeitung'" in einer materialreichen Dissertation beschrieben hat, zog deshalb das Fazit, der Feuilletonismus habe den tradtionellen Amts- und Gelehrtenstil des Blattes ersetzt: „Die Sprache hat das Schwerfallige n u n m e h r völlig abgelegt, die Zeit endloser Perioden ist vorüber. Alles lebt jetzt, alles ist in Fluß. Der so kennzeichnende ,Plauderton' zieht ein [.. .]"32 So charakterisierte Katschinka die Entwicklung nach 1848, doch ist diese Beschreibung wohl u m einiges zu emphatisch. Schon ein kursorischer Gang durch die Jahrgänge der Wiener Zeitung macht deutlich, daß der erwähnte „Plauderton" den Amtsstil nicht verdrängte. Feuilletonistisch ging es vor allem in den Beilagen und Abendausgaben zu, am streng behördlichen Charakter des sogenannten „Hauptblattes" vom Vormittag änderte sich dadurch jedoch nichts. Dort stößt man z. B. am 28. 10. 1890 auf eine sechzehn Seiten starke Liste sämtlicher Beförderungen und Versetzungen, die im k.u.k. Offizierskorps vorgen o m m e n wurden. Das Verzeichnis endet mit d e m Satz „Schluß folgt", und ein Blick in das Hauptblatt des nächsten Tages beweist, daß auf amtliche Mitteilungen Verlaß ist. Es folgen in der Tat vier weitere Seiten, die mit Beförderungen und Versetzungen angefüllt sind.

31 Zu Uhls Leistungen und Verdiensten als Chefredakteur vgl. Stamprech (Anm.l) S. 316-320, insbes. S. 320 zu seinen stilistischen Prinzipien. 32 Katschinka (Anm. 1), S. 130.

Günter Häntzschel

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien Zur Sozialgeschichte der Literatur im politischen Spannungsfeld zwischen Osterreich und Deutschland

Man könnte vermuten, daß die politischen Veränderungen im Verhältnis zwischen Deutschland und Osterreich im 19. Jahrhundert auch Auswirkungen auf die Anthologien haben, in dem Sinne etwa, daß in den deutschen Sammlungen nach der Trennung beider Länder weniger österreichische Autoren aufgenommen würden, oder aber auch umgekehrt, daß die politische Trennung im literarischen Bereich eine verstärkte Bindung hervorrufe. Die in Deutschland erscheinenden und von Deutschen herausgegebenen Anthologien geben jedoch für beide Möglichkeiten keine Anhaltspunkte. Weder finden sich Erörterungen über eine Trennung österreichischer Autoren von deutschen in den Vorreden der Anthologien, noch wird diese durch die Aufnahme der Texte bestätigt. In den meisten deutschen Anthologien sind österreichische Autoren vertreten. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen Osterreich und Deutschland - der preußisch-österreichische Krieg und die Auflösung des Deutschen Bundes 1866, die Gründung der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867 und die Gründung des Deutschen Reichs 1871 - hinterlassen im Anthologiebetrieb so gut wie keine Spuren. Ganz unreflektiert herrscht die Vorstellung einer durch die deutsche Sprache begründeten kulturellen Gemeinsamkeit, hinter der Unterschiede der politischen Nationen unwesentlich erscheinen. Ganz anders dagegen in Osterreich: Als Leitlinie läßt sich erkennen, daß die österreichischen Anthologieherausgeber sich bis 1866, so lange Östereich und Deutschland im Deutschen Bund politisch vereint waren, um Abgrenzung und Eigenständigkeit bemühen, während sie seit 1867, der Gründung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der damit erfolgenden Gleichstellung des Königreichs Ungarn und seiner Nebenländer mit dem deutschsprachigen Österreich, und verstärkt nach der deutschen Reichs-

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Günter Häntzschel

gründung vier Jahre später, forciert einen ,Anschluß' an Deutschland betreiben. Politische und kulturelle Konstellation verhalten sich also gegenläufig. Oder anders formuliert: das Streben nach kultureller Differenzierung während der politischen Integration verändert sich nach der politischen Differenzierung in das Streben nach kultureller Integration. Bei genauerer Sicht auf die verwickelten politischen Konstellationen des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn ergeben sich aber auch im kulturellen Bereich noch kompliziertere Verhältnisse.

ETABLIERUNGSVERSUCHE

ÖSTERREICHISCHER LITERATUR

ÖSTERREICHISCHEN NATIONALBEWUSSTSEINS

BIS

UND

L866

Das Bestreben der österreichischen Anthologie-Herausgeber bis 1866 zielt also darauf, eine spezifisch österreichische Literatur zu dokumentieren und sie in ihrem eigenen Wert kenntlich zu machen. Aber im Bemühen um das Bewußtsein einer eigenständigen Literaturtradition muß man offenbar erstaunt und fast beschämt feststellen, daß auf diesem Bereich bisher wenig geleistet worden ist. Noch existiert keine eigene österreichische Literaturgeschichte der neueren Zeit.1 Deshalb haben die meisten Anthologien literaturgeschichtlichen und dokumenterarischen Charakter. Das Album oesterreichischer Dichter (1) von 1849/50 bietet eine Auswahl der Gedichte von zwölf bekannten Autoren - Lenau, Grün, Grillparzer, Halm, Bauernfeld, Castelli, Frankl, Tschabuschnigg, Seidl, Dräxler-Manfred, Vogl, Levitschnigg - und stellt den Texten jeweils ein ausfuhrliches Autorenporträt voran. Eine neue Folge (2) dokumentiert acht Jahre später in gleicher Weise die Literaten Zedlitz, Deinhardstein, Betty Paoli, Constant, Ebert, Mosenthal, Prechtler, Leitner, Hirsch, Beck, Meißner und Saphir. Beide Alben verstehen sich als Anfrage an das Publikum nach seinem Interesse an einem derartigen Unternehmen. Die anonymen Herausgeber hoffen „auf die noch nicht erloschene Theilnahme für vaterländische Poesie" und gedenken, die Alben periodisch fortzusetzen, um mit dem Vorliegenden „ein Unterneh1

Die erste umfassende Darstellung sollte ja erst 1899 bis 1927 erscheinen. Johann Nagl, Jakob Zeidler, Eduard Castle: Deutsch-ÖsteiTeichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Wien: Fromme 1899-1927. Vgl. Günther Wytrzens: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung in Österreich von 1800 bis 1918. In: Sprachkunst 14 (1983), S. 14-28.

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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men ins Leben zu rufen, das dem Freunde der heimischen Muse ein liebes Angedenken und dem künftigen Verfasser einer österreichischen Literaturgeschichte vielleicht ein nicht unbrauchbarer Behelf werden könnte." (1, S. III f.). Solche traditionsstiftende und zugleich österreichisches Nationalbewußtsein erweckende Absicht verfolgt auch das Museum aus den deutschen Dichtungen österreichischer Lyriker und Epiker (3) von Salomon Hermann Mosenthal. Dieses Werk, das bis in die frühe Zeit des elften und zwölften Jahrhunderts zurückgreift und bis zur Gegenwart reicht, „soll aus dem deutschen Dichterwald den Theil umfassen, der seine Wurzeln in österreichischen Boden schlägt. Es soll in dem Leser, vor Allem in der reiferen Jugend Oesterreichs, die der Verfasser bei der Zusammenstellung desselben besonders berücksichtigte, das erhebende Gefühl erwecken, wie viel das österreichische Vaterland zu dem großen Nationalschatz der deutschen Literatur zu allen Zeiten beigesteuert hat." (S. VII) In der gereimten Zueignung hebt Mosenthal die in Osterreich seit alters her gepflegte Bindung zwischen Dichtern und Regenten hervor - Kaiser Friedrich, Leopold, Rudolf, Maximilian I. verehrten die Minnesänger - , und von „Seiner Kaiserlichen Hoheit dem durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Ferdinand Maximilian", dem Bruder Franz Josephs I., dem die vorliegende Anthologie gewidmet ist, erwartet er dieselbe Liebe und Verehrung der Musen, Schutz und Pflege der Dichtung. Sein Bestreben ist es also, die österreichischen Dichter der Gegenwart, die reich vertreten sind, ein den Hof zu binden und sie zugleich der Jugend zu empfehlen, das heißt die locker gewordene Symbiose zwischen Herrscherhaus, Dichtern und Publikum erneut zu festigen. Die Dichter des 19. Jahrhunderts sind dabei nicht in den deutschen und europäischen übergreifenden Richtungen - Romantik, Biedermeier, Revolutionsepoche - gesehen, sondern stehen in der spezifisch österreichischen Tradition seit den Minnesängern über das 17. und 18. Jahrhundert, wofür in dieser Sammlung Texte von Michael Denis, Johann B. Alxinger, Alois Blumauer, Johann L. Pyrker und anderen, auch unbekannten, vertreten sind. Die Bindung der Gegenwartsdichter an den Hof wird zur selben Zeit forciert im Oesterreichischen Frühlings-Album 1854 (4) betrieben, das in aufwendiger Prachtausstattung zur Vermählung des Kaisers Franz Joseph I. mit Elisabeth von Bayern erscheint und dessen Reinertrag für die Witwen und Waisen der kaiserlich-königlichen Offiziere bestimmt ist. Neben Huldigungsgedichten in allen Sprachen des Vielvölkerstaats auf den offiziellen Anlaß enthält sein zweiter Teil allgemeine Gedichte Österreichischer Auto-

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ren - Natur- und Liebesgedichte, Wanderlieder, auch Beiträge in Prosa, patriotische Lyrik die in diesem Zusammenhang dem höfischen Zeremoniell eingegliedert werden. Selbst Friedrich Hebbel tritt hier mit einem Beitrag in den Kreis der den Kaiser Huldigenden. Ein weiteres Unternehmen (5), eine österreicheigene Literatur förmlich zu kreieren, stellt das umfassende zweibändige 1856 erschienene Oesterreichische Balladenbuch von Ludwig Bowitsch und Alexander Gigl dar. Die Herausgeber bemühen sich, „ein möglichst vollständiges Bild der vaterländisch-epischen Dichtungen [...] vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart zu liefern". Da aber offensichtlich der Reichtum an Balladen und Romanzen österreichischer Autoren gar nicht so groß ist, waren sie gezwungen, neben Gedichtsammlungen auch alle erreichbaren Zeitungen, Zeitschriften, Jahrbücher, Almanache und Alben, biographische Werke und Archive auf verstreut veröffentlichte Gedichte durchzusehen. Ästhetische Gesichtspunkte scheinen keine Rolle bei der Auswahl gespielt zu haben, ihr Ziel bildete vielmehr die Quantität, schien „doch eine allzustrenge Kritik aus dem Grunde nicht anwendbar, weil dadurch in der ,Vollständigkeit' Lücken zu entstehen drohten." Stolz vermelden die Herausgeber, „edles, was zu benützen möglich war, benützt zu haben". Sie verstehen ihre akribische Sammlung als Behelf für eine zu schreibende Literaturgeschichte Österreichs (5, Bd. 1, S. VII-IX) Eine Untersuchung des hier Zusammengestellten könnte deutlich machen, daß die Herausgeber tatsächlich offenbar unter starkem Rechtfertigungsdruck gearbeitet haben. Die meisten Neimen kehren in keiner anderen Balladensammlung wieder. Auf weiten Bereichen erweist sich diese Anthologie als eine Anhäufung von Epigonen u n d Dilettanten. Vertreten sind Arzte, Beamte, Lehrer, Bibliothekare, Handelskammersekretäre, Hofräte, Zollamtsdirektoren, Leiter von Mädchenpensionaten, Militärs, Nationalökonomen, Buchhändler, Buchdruckereifaktoren, Hofkopisten, Pfarrer, Landgerichtsräte, Buchhalter und ihre Gattinnen, unter denen die wenigen bekannten Schriftsteller fast verschwinden. Da die Ballade keine genuin österreichische Gattung ist - u n d diese Sammlung liefert dafür wider Willen den besten Beweis - , liegt es nahe, in diesem Werk ein bemühtes Konkurrenzunternehmen zu deutschen Balladensammlungen zu sehen, in denen österreichische Autoren tatsächlich nicht übermäßig stark vertreten sind. Erwartungsgemäß kam diese österreichische Parallelaktion über die erste Auflage nicht hinaus. Was die genannten und weitere Anthologien dieser Zeit gemeinsam

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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haben, ist ihr offizieller, direkt oder indirekt im Dienste der Monarchie stehender Anlaß oder die zumindest offiziöse Position ihrer Herausgeber. Das Frühlings-Album von Heliodor Truska, Official in einem der Manipulationsämter des Ministerium des Inneren, erschien 1854 als Festschrift der Literaten zur Vermählungsfeier des Kaisers, das Kempen-Album (6) wurde zur „fünfzigjährigen Dienstjubelfeier" des Feldmarschall-Lieutnants Freiherrn Kempen von Fichtenstamm, Chefs der Obersten Polizei-behörde und Gendarmerie-Generalinspektor, herausgegeben. Salomon Hermann Mosenthal, der Herausgeber des Museums, ist zwar gebürtiger Deutscher, hielt sich aber seit seinem 21. Lebensjahr in Wien auf, wo er eine viel beachtete literarische Karriere als Verfasser von Dramen und Operntexten machte. Er war Bibliothekar und Regierungsrat geworden und hatte mit dem Orden der eisernen Krone den österreichischen Adel erhalten. Ludwig Bowitsch, der mit Alexander Gigl das Oesterreichische Balladenbuch herausgab, Sohn eines kaiserlich-königlichen Staatsbeamten, war als Hofkammerprokurator tätig und wurde mit der Leitung der Registratur der Gendarmerieinspektion betraut, der es später vorstand. Nach einigen Jahren wurde er zum kaiserlichen Rat ernannt. Alexander Gigl war als Official der administrativen Bibliothek des Innenministeriums tätig, wo er mit historischen Arbeiten zum Hause Habsburg betraut wurde. Und schließlich war Emil Kuh, Herausgeber des bekannten Dichterbuchs aus Oestreich (7) 1865, eine bekannte Wiener Persönlichkeit. 1859 zum Katholizismus übergetreten und mit der renommierten Wiener Sängerin Adele Ferrari verheiratet, leitete er das Feuilleton der Osterreichischen Zeitung, übernahm später die Leitung der Wiener Presse und wurde Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Wiener Handelsakademie, wo er sich in seinen kritischen und literarhistorischen Schriften um die Entwicklung der Osterreichischen Literatur verdient machte. Was aber ist nun in dieser Zeit unter dem Begriff,österreichische Literatur' zu verstehen? Und worin besteht das österreichische Nationalbewußtsein, aus dem eine entsprechende Literatur hervorgehen könnte? Die bisherigen Ansätze, im Anthologiewesen eine österreichische Literatur zu begründen, haben sich ja als etwas Künstliches ,von oben' Gelenktes erwiesen: Entweder entstanden Anthologien zu offiziellen Anlässen, oder sie wurden - und zwar ausschließlich in Wien - von mehr oder weniger offiziösen Herausgebern zusammengestellt und erschöpften sich bisweilen in einer stupenden Materialfülle, unter der österreichspezifische Konturen nicht immer hervortraten. Die allgemeine Diskussion um das österreichi-

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sehe Nationalbewußtsein 2 wird konsequenterweise auch in den Anthologien ausgetragen. Symptomatisch ist ein Artikel Etwas über die Pßege des österreichischen Nationalgefiihles des österreichischen Beamten und Kreisrats Paul Alois Klar im Kempen-Album (6, S. 149-156) von 1859, denn er offenbart auf weiten Bereichen die Ratlosigkeit des Verfassers: „Es ist nichts so leicht gesagt, als daß jeder Bewohner des Kaiserstaates sich als Oesterreicher fühlen solle; und vielleicht ist nichts schwerer zu verdeutlichen, als das österreichische Nationalgefühl selbst", denn dieses ist „bei dem österreichischen Völker-Aggregate, bei so vielerlei Nationalitäten des verschiedensten Stammes und geschichtlichen Vorlebens, nicht recht zu fassen." Er muß feststellen, daß „die möglichste Einheit" Österreichs lediglich in der „großen Mannigfaltigkeit" besteht, daß aber ein übergreifendes „Nationalgefühl" nach wie vor fehlt. Den Historikern ist es noch nicht gelungen, „eine wahre Nationalgeschichte Oesterreichs herzustellen", auch „die einheimische Literatur Oesterreichs, insbesondere die sogenannte schöne Literatur, trägt zur Zeit allzuwenig den Charakter einer vaterländischen an sich. Noch Niemand scheint daran gedacht zu haben, [...] ein Volksbuch für Oestereich abzufassen", und trotz der Errichtung von Kaiserportraits und Gedenkstätten „ist für die eigentlich monumentale Kunst im vaterländischen Sinne und in vaterländischer Bedeutung noch ungleich mehr zu thun übrig." Aus diesen Erörterungen ergibt sich das Dilemma, daß Österreich, um eine nationale Kultur zu gewinnen, sich einerseits von der „Bewunderung und Nachahmung des Auslandes", auch von Deutschland, abzusetzen, andererseits seine vielen verschiedenen Nationalitäten im vaterländischen Sinne zu vereinen habe. Wenn der Verfasser dann aber doch „die deutsche oder genauer die deutsch-österreichische Nationalität als jene der allerhöchsten Dynastie" als maßgeblich bezeichnet, so offenbart sich wieder die bekannte Konfliktsituation: Man sieht die Verbindung von Österreichischem und Deutschem („deutsch-österreichische Nationalität"), sucht aber dennoch nach etwas spezifisch Österreichischem jenseits des Deutschen.

2

Vgl. Heinrich Lutz und Helmut Rumpier (Hrsg.): Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 9). München: Oldenbourg 1982; Ernst Bruckmüller: Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1984; ders.: Sozialgeschichte Österreichs, Wien, München: Herold 1985.

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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Die aus diesem Zwiespalt resultierenden Profilierungszwänge sind bei den bisher behandelten Anthologien deutlich geworden. Das gleichzeitige Problem, die vielen verschiedenen österreichischen Länder kulturell zu vereinigen, das Wechselspiel zwischen regionaler Differenzierung und nationaler Integration, tritt bei den Anthologien der einzelnen Kronländer zutage. Das Spannungsverhältnis zwischen Differenzierung und Integration ist also nicht nur in der Beziehung zwischen Osterreich als Gesamtnation und Deutschland wirksam, sondern äußert sich auch gleichzeitig innerhalb der politischen Einheit Österreich-Ungarn und betrifft hier den Antagonismus zwischen der angestrebten kulturellen Einheit und der verteidigten Eigenständigkeit der Kultur der einzelnen Kronländer. Am Beispiel der Steiermark soll dieses Phänomen verdeutlicht werden.

SPANNUNGEN ZWISCHEN DIFFERENZIERUNG INNERHALB DER

Deutschsprachige

UND

INTEGRATION

KRONLÄNDER

Kronländer. Das Beispiel

Steiermark

Nachdem schon 1862 ein Deutsches Album aus der Steiermark unter dem Titel Alpenklänge (8) zu einem wohltätigen Zweck veröffentlicht worden war, setzt mit Anton Schlossar, Kustos an der Grazer Universitätsbibliothek, eine intensive volkskundlich-kulturgeschichtliche Erforschung des Herzogtums ein. Neben der Festgabe Erzherzog Johann imLiede (9) erscheint als Ergebnis einer landeskundlichen Reise 1881 die Sammlung Deutsche Volkslieder aus Steiermark. Zugleich Beiträge zur Kenntniß der Mundart und der Volkspoesie aufbairisch-österreichischem Sprachgebiete (10). In einer ausführlichen

Einleitung charakterisiert Schlossar den deutschen Teil der Bevölkerung Steiermarks, den er von dem der slawischen Bewohner abgrenzt, und zeigt die innere Verbindung der deutschen Steiermärker mit dem bajuwarischen Wesen der Deutschen, die auch in den edierten Texten zum Ausdruck kommt. Ganz eindeutig zielt diese Bestandsaufnahme einmal auf eine historische Würdigung der steiermärkischen Lied- und Volkskultur und zum andern auf ihre Parallelen mit deutschen und speziell alpenländischen Volksliedern. Von einer besonderen österreichischen Kultur ist dagegen nicht die Rede. Um Würdigung und Konsolidierung der eigenen steiermärkischen Kultur geht es Schlossar auch in seiner ein Jahr zuvor erschienenen und chronologisch als Weiterführung der Volkslieder zu verstehenden Anthologie

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Steiermark im deutschen Liede (11). Diese Sammlung will nicht nur ein Bild von der lyrisch-epischen Tätigkeit steiermärkischer Autoren vermitteln, sondern auch zeigen, wie das Land Steiermark von anderen Dichtern, österreichischen und deutschen, poetisch behandelt worden ist. Schlossars Verfahren könnte man bezeichnen als dichtungsstimulierend aus landeskundlicher beziehungsweise lokalpatriotischer Motivation. Er ordnet die Gedichte nach regionalen Gegebenheiten und geht dabei von der Rubrik „Steiermark im Allgemeinen" aus, um bis in die einzelnen Gegenden und Orte vorzustoßen. „Dabei suchte ich möglichst jedem bedeutenderen Stück Erde innerhalb der Grenzen Steiermarks gerecht zu werden, an das sich eine Mythe oder Sage knüpft, oder das durch seine besonderen Schönheiten den Liedermund zum Sange begeistert hat." (S. V f.) Seine Autorenauswahl setzt mit dem Steiermärker Johann Ritter von Kalchberg ein und umfaßt somit etwa die letzten hundert Jahre. Er begnügt sich aber nicht mit einer Dokumentation bereits vorliegender Texte, die auch aus entlegenen Zeitschriften und anderen Periodika zusammengesucht wurden, sondern ist bemüht, das steiermärkische poetische Potential auch in der Gegenwart zu animieren, indem er Autoren zu entsprechenden Beiträgen einlädt. Die biographischen Skizzen seiner „das Heimats- und Vaterlandsgefühl" (S. VIII) kräftigen wollenden Anthologien legen den Grund einer künftigen steiermärkischen Literaturgeschichte.3 Schlossars Versuch, auch gegenwärtige Autoren für die steiermärkische Poesie zu gewinnen, führt wenige Jahre später zu einem größeren Ergebnis. Karl Wilhelm Gawalowski, Beamter der Steiermärkischen Landesbibliothek, Hauptvertreter deutsch-nationaler Lyrik und führend im südsteierischen Volkstumskampf, legt 1887 ein Steiermärkisches Dichter-Buch (12) vor, das ausschließlich Originalbeiträge von zeitgenössischen Dichtern aus der Steiermark enthält. Von achtundzwanzig angeschriebenen Autoren haben nur vier nicht reagiert. Das große Interesse an regionaler Identität und somit Differenzierung statt nationaler Integration ist evident. Da der Reinertrag dieser Anthologie dem Grazer Zweigverein der deutschen Schillerstiftung zugute kommen sollte, ist gleichzeitig auch zu erkennen, daß der Herausgeber sich an der Kultur Deutschlands orientiert.

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Anton Schlossar: Hundert Jahre deutscher Dichtung in Steiermark. 1785-1885. Wien: Graeser 1893.

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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Mehrsprachige Kronländer. Das Beispiel Böhmen Eigenständigkeitsbestrebungen wie in Steiermark sind auch in Tirol, Kärnten und Salzburg wirksam. Komplizierter liegen dagegen die Verhältnisse in den mehrsprachigen Kronländern: Teilweise zielen dort die Herausgeber von Anthologien deutscher Lyrik auf Integration mit der deutschsprachigen Habsburger Literatur, teilweise aber orientieren sie sich am Deutschen überhaupt, ohne einen Unterschied zwischen der politischen Trennung von Osterreich und Deutschland zu machen. Gemeinsam setzen beide Gruppen sich ab von der nichtdeutschen Kultur ihres Landes, die ebenfalls durch Anthologien verbreitet wird und mittels Ubersetzungen auch der deutschsprechenden Bevölkerung nahegebracht werden soll. Am Beispiel Böhmens kann dieser Prozeß verfolgt werden. 1) Seit etwa 1820 setzt in Böhmen die sogenannte zweite Phase der tschechischen nationalen Agitation ein, in der das Tschechische, bisher eine Angelegenheit gelehrten Interesses, an Resonanz gewinnt, indem es seine Förderung und Verbreitung durch bürgerliche Kreise erfährt 4 . Die nationale Welle wurde durch Anthologien mitgetragen. Joseph Mathias Graf von Thun gab 1845 in deutscher Übersetzung Gedichte aus Böhmens Vorzeit (15) heraus und versteht sie als „Sporn" zu künftiger „nationeller Ausbildung", deren Wert es verdiene, auch deutschen Lesern vorgelegt zu werden (S. III f.). Mehrere Anthologien von tschechischen Poesien in deutscher Übersetzung folgen in den fünfziger Jahren von Joseph Wenzig, nachdem der politische Konflikt zwischen den Tschechen und den Deutschen in Böhmen die bekannten großen Ausmaße angenommen hatte. Der Prager Wenzig, Professor der deutschen Sprache an der ständischen Realschule in Prag, setzt sich seit 1848 immer vehementer für die Tschechisierung des zu dieser Zeit noch zum größten Teil deutschen Schulwesens in Böhmen ein. Seine pädagogischen, politischen und historischen Veröffentlichungen gelten ebenso wie seine Gelegenheits- und Festgedichte, seine Dramen und Lustspiele der Verteidigung des Tschechischen. Und in diesem Sinne wirkt er auch mit seinen Anthologien. Die Kränze aus dem Böhmischen Dichtergarten (14) bieten Übersetzungen aus den Werken von Kollar und Celakowsky, sein Bosmarinkranz (15) solche von Wenzel Sva4

Vgl. Ernst Bruckmüller: Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1984, S. 106-115; Antonin Mestan: Geschichte der tscheschischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Köln, Wien: Böhlau 1984.

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topluk Stule, Karl Jaromir Erben und Boleslav Jablonsky, eine weitere Blumenlese (16) reicht bis in die Gegenwart hinein, Dokumente, die beweisen sollen, „daß Kunst und Wissenschaft dort schon in frühen Tagen und zwar von den slavischen Böhmen gepflegt wurden" (14, S. IE). Mit literaturgeschichtlichen Einleitungen verteidigt Eduard Albert seit den neunziger Jahren in drei Anthologien die tschechische Literatur Böhmens in deutschen Ubersetzungen und sucht ihre mittlerweile angenommene Entwicklung neben den nationalen Richtungen in einem eigenen Band zu dokumentieren, der Die der Weltliteratur conformen Richtungen aufweist (Neueste Poesie aus Böhmen, 17). 2) Der nationalen tschechischen Literaturbewegung, stehen die beiden genannten deutschen Richtungen gegenüber. Beispiel für Anthologien, deren Herausgeber sich in die Habsburger Monarchie zu integrieren suchen, ist das Dichtungen aus Nordböhmen versammelnde Spitzberg-Album von Franz Hantschel und Amand Paudler (18). Die enge Bindung an das Wiener Kaiserhaus zeigt schon die Widmung an die Kronprinzessin Erzherzogin Stephanie, deren Name auch der Aussichtsturm tragen soll, dessen Errichtung dieses Album mitfinanzieren will. Im einleitenden Widmungsgedicht von Anton Ohorn wird „Böhmens Norden" als „kleiner Theil von dem großen Orden,/Der in Österreichs Gauen sagt und singt", bezeichnet, und Ziel der hier versammelten deutschen Dichter bildet es, „unter Habsburgs Schirm" gemeinsam Schutz zu suchen. Die ersehnte Bindung der Deutschen in Böhmen, die sich von den Tschechen bedroht fühlen, an die Habsburger Krone kommt weiterhin darin zum Ausdruck, daß die Sammlung zwar auf „das reiche Geistesleben unseres Vaterlandes, unseres deutschböhmischen Stammes" hinweist, daß sie aber trotz des regionalen Akzentes ihre Texte mit der Rubrik „Kaiser und Vaterland" eröffnet, der sich „Heimat und Heimweh" anschließt. Das Deutschböhmische ordnet sich also der Monarchie unter. Lobeshymnen auf Prinz Eugen und Joseph II., auf das österreichische Regiment, Preisgedichten auf österreichische Schlachten und Siege, Fahnenliedern gehen Gedichte voran, die Ereignisse aus der Beziehung Böhmens zur Kaiserkrone thematisieren. Erst dann folgen mit „Gott und Natur", „Liebe und Leid" und ähnlichen Rubriken Poesien, die auch in anderen Anthologien üblich sind. Das Subskriptionsverzeichnis nennt fast ausschließlich Vertreter der akademischen Sphäre und des oberen Bürgertums. 5) Nicht an der Habsburgermonarchie, sondern am Deutschen Reich orientiert ist dagegen die 1911 von Johann Pilz und Hans Hajek herausgege-

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bene Sproßende Saat. Eine Anthologie deutschböhmischer Dichter (19), eingeleitet mit einem Propagandagedicht von Felix Dahn; O rafft Euch auf, ihr wackern Männer, und Eurer deutschen Pflicht gedenkt, eh der Kosak den zottgen Renner hohnlachend in der Moldau tränkt. Auf Rührt den Geist und rührt die Hände, seid stark und zäh und treu wie Stahl: Denn: Täuscht Euch nicht! - Dies wird das Ende! Deutsch oder Russisch heißt die Wahl!"

In Böhmen befand sich das Zentrum des deutschen Widerstandes gegen Zugeständnisse an die nichtdeutschen Nationen. In diesem nationalen Kampfgebiet rekrutierten dann auch die Deutschnationalen und ihre radikalen Flügel einen Großteil ihrer Gefolgschaft. „Je weniger die Monarchie als Herrschaftsbereich der österreichischen Deutschen empfanden werden konnte [...], desto weniger wurde das Habsburgerreich als Bezugsrahmen der deutschen Identifikation gefühlt und desto stärker traten im deutschen Nationalbewußtsein deutschnationalstaatliche Komponenten auf." Eine Fülle von deutschen und deutschnationalen Vereinen entstand. Und „langfristig verringerte sich die Identifikation der österreichischen Deutschen mit der Monarchie."5 Die Sproßende Saat ist literarischer Ausdruck dieser politischen Situation. In der Einführung heißt es: „Das deutsche Volk hat nach seiner Einigung und seiner Machtbefestigung nach außen hin durch den deutsch-französischen Krieg einen ungeheuren Aufschwung genommen, woran sich auch unser deutsches Böhmerland wenigstens in industrieller Hinsicht regsam beteiligt hat." Der größere Wohlstand habe das Bedürfnis nach den schönen Künsten verallgemeinert und gesteigert, und dieses erfüllen die zahlreichen Poeten des Landes. Ihre Existenz wird also indirekt als Ergebnis der Machtpolitik des Deutschen Reiches gesehen. Die Anthologie will mit literarischen Mitteln Agitation betreiben für das Deutschtum und gegen die Tschechen. Das militante Geleitgedicht Felix Dahns bringt das ebenso zum Ausdruck wie die gleichermaßen militante Metaphorik in der Einführung:

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Vgl. Bruckmüller: Nation Österreich (Anm. 2), S. 147 f.

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„Gegenwärtig stellt Böhmen zum großen Heere der deutschen Schriftsteller ein stattliches Fähnlein. So scheint die Zeit doppelt günstig, einmal die Reisigen zu sammeln und Heerschau zu halten, weil wir dazu zum erstenm a l auf heimischem Boden stark genug sind und weil es notwendig wird, unsere Dichter den Heimatgenossen vorzustellen und ihnen zuzurufen: Schaut einmal weg von den Nachbarn auf Euer Ackerland!" (S. V, IX f.) Um Stimmen zu sammeln, wurde vom „Deutschen Nordböhmerbunde" nichts unterlassen. Aufrufe in allen Zeitungen und persönliche Einladungen erbrachten über zweihundert Einsendungen. Bezeichnenderweise reagierte Rilke nicht, sein Name hätte auch schwer in diese nationale, der Heimatkunstbewegung nahe stehende und dem Nichtdeutschen gegenüber aggressive Sammlung gepaßt, die dem Titel Sproßende Saat gemäß Dichtung mit Bodenständigkeit, Volkstum, Landschaft und Wachstum schon in ihrer Gliederung der Texte verbindet: „I. Das Saatland, II. Ernste Pflüger, III. Wir schützen das Land und uns, IV. Die junge Saat rauscht eigene Lieder, V. In Mai und Liebe, VI. Mit Fiedel und Harmonika, VII. Die Zeiten gehen über das Land, VIII. Alter Sang rauscht durchs Korn, IX. Die Schnitter erzählen, X. Die Alten den Jungen, XI. Fröhliche Ernte." Versammelt sind nahezu alle deutschen Autoren aus Böhmen. Mit den meisten Beiträgen erscheinen Friedrich Adler, Oskar Baum, Franz Eichert, Eduard Fedor, Josef Gangl, Leo Heller, Franz Herold, Richard Kralik, Anton August Naaff, Anton Ohorn, Herma von Skoda, Josef Stibitz, Otto Zoff.

A L L G E M E I N E , NICHT REGIONALGEBUNDENE

ÖSTERREICHISCHE

ANTHOLOGIEN SEIT 1 8 6 6

Wie schon erwähnt, geht die die Anthologien der Kronländer kennzeichnende Orientierung an Deutschland nach der politischen Trennung Österreichs vom Deutschen Reich auch auf österreichische Anthologien über, die nicht regional gebunden sind, sondern das gesamte lyrische Schaffen Österreichs dokumentieren wollen. Zu nennen wären etwa die zahlreichen Gedichtssammlungen der deutschen Vereine, wie das Deutsche Dichter-Album fiir 1859 (20), herausgegeben vom „Deutsch-patriotischen Verein für Österreich in Wien" Das Album zur Schiller-Feier. Von Studierenden der Wiener Universität. Zum Besten der Schülerstiftung (21), oder das Selbstschriften-Album Dem Deutschen Schulverein (22), eine Gabe, die „Kunde geben [möge], dass man den Kampf der

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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Deutschen in Österreich um ihr Volksthum und ihre Muttersprache,,soweit die deutsche Zunge klingt', mit herzlicher Theilnahme begleitet", und mit der man „neue Mitstreiter" zu gewinnen hofft (Vorwort). In eben diesem Sinn ertönt Zu Schutz und Trutz! Deutscher Sang aus der Ostmark (25), „den deutschen Studenten Oesterreichs gewidmet, der Hoffnung unserer deutschen Ostmark". Die Sammlung ist ein rhetorisch-poetischer Ausdruck der Enttäuschung über die Trennung Österreichs von Deutschland und die Verbindung mit nichtdeutschen Völkern. Bezeichnenderweise endet dieser Kanon deutscher Vaterlands- und Wecklieder, Mahnrufe und Gebete mit einem Festgruß aus Oesterreich zur Enthüllung des Germaniadenkmals auf dem Niederwald und einer Hymne An Fürst Bismarck. Dicker kann der Wunsch nach einem ,großdeutschen Reich' nicht unterstrichen sein. Die literarische Bindung Österreichs mit Deutschland nach und infolge ihrer politischen Trennung bleibt nicht auf die forcierten politischen Kampfanthologien beschränkt. Sie erstreckt sich, wenn auch gelassener, auch auf die poetischen Sammlungen Österreichs. Selbst in Deutschland, wo man - wie anfangs erwähnt - kaum einen Reflex der politischen Beziehung beider Länder im Anthologiebetrieb wahrnahm, meldet sich 1877 Friedrich Bodenstedt unter dem Titel Verschollenes und Neues mit einem Dichterbuch aus Deutschland und Oesterreich (24), welches das Ziel hat, „die geistige Scheidewand zwischen Deutschland und Oesterreich niederreißen zu helfen, indem [es] aus beiden Ländern eine gute Gesellschaft älterer und jüngerer Poeten vereinigt." (S. X f.) In Deutschland ist eine solche Stimme - so weit ich sehe - singulär. In Österreich dagegen werden sie üblich. Der aus Galizien stammende Schriftsteller Karl Emil Franzos, Herausgeber der Neuen illustrierten Zeitung in Wien und intimer Kenner der österreichischen Literatur, legt 1883 sein Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich (25) vor, in dessen Vorwort er die Entwicklung genau charakterisiert: „Das deutsche Nationalgefühl und das Bewußtsein der geistigen Zusammengehörigkeit mit Deutschland" in Österreich „regte sich - im Leben, wie in der Literatur - schwach und spärlich, so lange die deutschen Kronländer auch offiziell zu Deutschland gehörten." Er stellt für diese Zeit bis 1866 in der Poesie die Tendenz fest, „die Schicksale der Czechen und Polen dichterisch zu verklären", und bezeichnet dies als „rührenden, aber grundfalschen Kosmopolitismus". Deutsche Stoffe und Stimmungen wurden eher vermieden. „Auch bezüglich Stil, Form und Anschauung machte sich im dichteri-

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sehen, ja geistigen Schaffen überhaupt eine allerdings nicht gänzliche, aber doch ziemlich schroffe Isolirung von Deutschland spürbar." Im Vormärz und in den fünfziger Jahren konnte man „weit eher von einer oesterreichischen Dichtung in deutscher Sprache, als von einer deutschen Dichtung in Oesterreich sprechen." Nachdem dagegen 1866 mit Österreichs Austritt aus dem Deutschen Bund „das politische Band gelöst war, erstarkte das geistige mehr und mehr, sichtlich, von Jahr zu Jahr." Versuche, „eine ,echt' oesterreichische, ,nur' oesteireichische Literatur erstehen" zu lassen, scheiterten. Vielmehr trat ein, was ja auch schon anhand einiger hier behandelter Anthologien festgestellt werden konnte: „Die Deutschen in Oesterreich fühlten, daß sie bei fernerer Isolirung verloren seien, und handelten danach; in erster Reihe die Männer der Feder." Und heute, 1885, also gut fünfzehn Jahre nach der politischen Trennung, sieht Franzos „die Vorurtheile [...] hüben und drüben geschwunden", im literarischen Leben allgemein wie auch in der Dichtung selber. „Die deutsche Kritik behandelt den Oesterreicher, die oesterreichische den Deutschen mit gleicher, oft genug mit größerer Freundlichkeit, als den Einheimischen; die Werke des Deutschen werden in Oesterreich, jene des Oesterreichers in Deutschland gelesen, aber damit ist die Wechselwirkung noch keineswegs erschöpft: die oesterreichische Dichtung ist auch innerlich aus ihrer Isolierung herausgetreten, sie tauscht Impulse mit der Dichtung der anderen deutschen Stämme, und zwar giebt und empfangt sie dieselben in gleichem Maße." Trotz dieses Austausches erkennt Franzos aber noch die „Besonderheit" der österreichischen Dichtung an, die ihr ein unverwechselbares Gepräge verleihe, allerdings drohe die poetische Qualität abzunehmen: „Eine Dichtergestalt, wie Grillparzer, ist uns nicht wieder erstanden, ein Gast, wie Hebbel nicht wieder zugezogen." Viele neue Talente treten auf, aber „am liederreichsten erwiesen sich Gymnasiasten, Dorfschullehrerund Postbeamte." Dies ist eine Feststellung, die besonders in den Anthologien der einzelnen Kronländer bestätigt wird: der Wunsch ihrer Herausgeber, möglichst viele Stimmen erklingen zu lassen oder jede Örtlichkeit poetisch behandelt zu sehen, fuhrt immer wieder zu Dilettantismus. Er wird in Kauf genommen, um ein reiches dichterisches Leben zu suggerieren, er hält aber der Kritik nicht stand; viele regionale Anthologien kommen über die erste Auflage nicht hinaus. Im Vorwort seiner eigenenen Anthologie, die „ein Bindeglied mehr sein will - zwischen den politisch getrennten Volksgenossen" (S. V-VIII) und die nur bisher ungedruckte Beiträge enthält, weist Franzos detailliert nach, wie er der Gefahr des Dilettantismus zu entgehen suchte. Die große Zahl

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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von Einsendungen erlaubte ihm eine strenge Auswahl. Bekannte Autoren stehen neben neuen Talenten. Sie kann als repräsentativer Querschnitt österreichischer Poesie ihrer Zeit gelten. Trotz Franzos' Tendenz zu deutschem Geist und Kolorit hat er deutschnationale Gedichte im Tenor der Anthologien von ,deutschen' Vereinen nicht aufgenomen, sondern ästhetische Maßstäbe angelegt. Ihr Vermittlungscharakter zeigte sich auch darin, daß die erste Auflage des Buchs gleichzeitig in einem Wiener und einem Stuttgarter Verlag erscheint, eine zweite Auflage in Wien und Leipzig. Von einer Isolierung Österreichs ist seit den achtziger Jahren im Anthologiewesen tatsächlich kaum noch etwas zu spüren. Neben den politischen deutschnationalen Sammlungen und den auf Repräsentativität zielenden und weitgehend ästhetisch legitimierten Anthologien im Stil derjenigen von Franzos überwinden konfessionell bestimmte Zusammenstellungen die politischen Grenzen. Der Deutsche Georg Eichinger und der Österreicher Michael Rabenlechner verbinden sich in ihren Lorbeerblüthen (26), die in Wien und Leipzig zugleich erscheinen, durch die Aufnahme katholischer Dichter. Auch die Alpenlandschaft thematisierende oder Volkslieder der Alpenregionen, die Schnadahüpfeln, sammelnde Bände sind nicht an politischen Grenzen interessiert, sondern an mundartlichen, die sich mit den politischen nicht decken. Hier treten Österreich, Deutschland und die Schweiz zusammen. Ebenso sind die Dichter dieser drei Länder in den populären, den Mädchen und Frauen gewidmeten Anthologien vereinigt. Da die Frauen in dieser Zeit bekanntlich von der Politik ausgeschlossen sind, ist es nur konsequent, wenn in den an sie gerichteten Anthologien die politischen Unterschiede kaschiert werden. Für die häuslichen „Mußestunden", in denen „ganz unbekümmert von Namen" nur „das Gute, Schöne und Liebliche" gefragt ist, treten daher in Neu-Deutschlands Dichterschatz (27, Vorwort) deutsche, österreichische und schweizerische Dichter und Dichterinnen der Gegenwart wie selbstverständlich zusammen. Von deutscher Seite aus war das von jeher die übliche Praxis. Bekannte österreichische Dichter, unter ihnen Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Peter Rosegger, Theodor Herzl, Peter Altenberg, Hermann Bahr, geben eine lyrische Festschrift zum sechzigsten Geburtstag des Norddeutschen Detlev von Liliencron heraus, „ohne Unterschied der literarischen und politischen Richtung [...], festgeschlossen miteinander [...], um Dir zu huldigen und Dir zu zeigen was Du uns Österreichern bist und immer bleiben wirst." (Oesterreichische Dichter. Zum 60. Geburtstage Detlev von Liliencrons, 28, S. V).

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Um die Jahrhundertwende sind zwei Tendenzen zu beobachten: einmal die Anthologien der ,Wiener Moderne', vertreten durch Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann, Felix Saiten und anderen, die sich europäisch-kosmopolitisch orientieren und in Ablehnung des deutschen Naturalismus sich dem Symbolismus, dem Impressionismus, der Neuromantik und der Decadence anschließen.6 Beispiele wären etwa die Textsammlungen Das lyrische Wien (29) von August Renner und Die Pforte. Eine Anthologie Wiener Lyrik (30). Zum andern erscheinen, in dem Bewußtsein, daß sich Wien nicht mit dem Begriff Osterreich deckt, Anthologien mit Autoren des ganzen Landes, so zum Beispiel die von Camill Hoffmann herausgegebene Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer (51). Im Vorwort dieser repräsentativen Sammlung, die auch Vertreter der,Wiener Moderne' im engeren Sinn einbezieht, skizziert Hoffmann zwar die „Sonderart" der österreichischen Dichter - „sie waren immer die südlicheren Temperamente, die sinnlicheren Naturen, die musikalisch Empfänglicheren", er betont auch die nationalen beziehungsweise regionalen Unterschiede der einzelnen Volksstämme, „vielstimmig ist dies Orchester" er stellt aber doch einen grundsätzlichen literarischen Partikularismus in Frage und hebt die kontinuierlichen Verbindungen zwischen Osterreich und Deutschland hervor: „Nicht einmal der Begeisterung des Freiheitskrieges hätte es bedurft, um Österreichs und Deutschlands Dichter zu einigen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts saß Schreyvogel im Burgtheater, vollgesogen von Jenaer Idealen. Die Häupter der Romantik siedelten nach Wien, das, während der Kongreß tanzte, Europas Hauptstadt war. Goethe fuhr in die böhmischen Bäder, Grillparzer nach Weimar." Und so kommt er zu dem Schluß: „Die Staatengrenze bestand nicht in der Literatur. Was die Sprache verband, bildete ein einziges geistiges Reich. Eins war die Entwicklung. Klassik, Romantik, Epigonentum, Naturalismus, Impressionismus, sie waren nicht bloß Echo, sondern volles Miterleben. Keine Sonderwege lassen sich erspüren." (S. V, XI). Während Salomon Hermann Mosenthal und andere in den fünfziger Jahren gerade die Verbundenheit der österreichischen Dichter mit den genannten übernationalen Richtungen leugnen und eine monarchiezentrierte Traditionslinie errichten wollten, kehrt man jetzt wieder zu ihnen als Orientierungsmuster zurück. Kann das im Untergang begriffene politische 6

Vgl. Gotthart Wunberg (Hrsg.): Das Junge Wien. 2 Bde. 1976; ders. (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Stuttgart: Reclam 1981.

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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System der Österreich-ungarischen Monarchie noch einen so starken Zusammenhalt leisten, daß er für die Poesie ihrer Autoren prägend wird, daß er eine literarische Identifikation mit dem Staat bewirkt? Wer die Texte von Beer-Hofmann, Brod, Ebner-Eschenbach, Greiner, Hofmannsthal, Kürnberger, Mayreder, Rilke, Saar, Schaukai, Schnitzler, Stefan Zweig und anderen in Hoffmanns Anthologie vertretenen Autoren daraufhin prüft, wird eher einen Zusammenhang mit den internationalen Strömungen der Jahrhundertwende und der Moderne erkennen. Im Anthologiewesen bestätigt sich die vorgetragene These, daß als geschlossener Komplex von historisch begründeten sozialen, wirtschaftlichen, territorialen, sprachlichen, kulturellen und psychischen Elementen diese neue sozial-historische Qualität, die als Nation bezeichnet wird, erst mit der Auflösung der Habsburgermonarchie, also 1918, zutage tritt, gleichzeitig mit dem Entstehen der tschechischen und ungarischen Nationen. 7 Die mangelnde Eigenständigkeit erklärt sich nicht zuletzt durch sozialgeschichtliche Gegebenheiten. Einmal wurde die Bestimmung der eigenen Lage der deutsch-österreichischen Schriftsteller und ihres Publikums erschwert durch die fast völlig kritiklose Übernahme des von der Klassik und Romantik sowie von großdeutschen Idealen bestimmten norddeutschen Literaturkanons im österreichischen Lehrbetrieb des 19. Jahrhunderts, so daß das Konzept der deutschen ,Kulturnation' der Identifikation mit der österreichischen ,Staatsnation' entgegenwirkt. 8 Bei den Anthologien zeigte sich diese auf Deutschland bezogene Richtung ganz deutlich an den Sammelveröffentlichungen der ,deutschen' Schulvereine oder an der Huldigungsanthologie zur Schillerfeier wie später an der Liliencron-Festschrift. Und zweitens ist festzustellen, daß die deutschen Autoren Österreichs und auch die Herausgeber von Anthologien, wollten sie größere Reichweite erlangen, auf deutsche Verlage angewiesen waren. Viele der einflußreichsten Anthologien erschienen in Verlagen des Deutschen Reichs, mehrere der in Osterreich aufgelegten bei Verlagen, die Filialen oder Partner deutscher Häuser waren, andere kamen in Parallelausgaben bei österreichischen und deutschen Verlegern heraus. Belletristische Verlage mit Programmschwerpunkt Antholo-

7 8

Vgl. Stanislav Vachavovic Roznovskij: Über das Phänomen der österreichischen Nationalliteratur. In: Sprachkunst 14 (1983), S. 3-15, hier S. 3 f. Vgl. Leslie Bodi: Österreichische Literatur - Deutsche Literatur. Zur Frage von literarischer und nationaler Identität. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 1980, 3, S. 486-492, hier S. 489.

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gien wie das Bibliographische Institut, Manz oder Hartleben residierten in Leipzig und Wien. Auch von daher ist eher die Tendenz eines Ausgleichs als die einer Abgrenzung wirksam.

TITELLISTE9

1) AJbum oesterreichischer Dichter. Wien: Pfautsch & Voß 1849/50. IV, 486 S. Mit 12 Porträten in Stahlstichen. 12 Lieferungen. (1657) 2) Album oesterreichischer Dichter. Neue Folge Ebd. 1856-58. Mit 12 Porträten (lith. und in Stahl gestochen). 12 Lieferungen. (1638) 3) Mosenthal, Salomon Hermann (Hrsg.): Museum aus den deutschen Dichtungen österreichischer Lyriker und Epiker der frühesten bis zur neuesten Zeit. Ausgewählt und in neuhochdeutscher Sprache zusammengestellt von S. H. M. Wien: Gerold & Sohn 1854. XVI, 515 S. (961) 4) Truska, Heliodor (Hrsg.): Österreichisches Frühlingsalbum 1854. Mitredigiert von Karl Adam Kaltenbrunner. Hrsg. v. H. T. Wien: Braumüller 1854. 4. LXXVI, 464 S. und 5 Beilagen. (1412) 5) Bowitsch, Ludwig; Gigl, Alexander (Hrsg.): Oesterreichisches Balladenbuch. Hrsg. v. L. B. und A. G. In Lieferungen. 2 Bde. Wien: Dorfineister 1856. X, 575 S.; 729 S. (174)

9

Die nach den Titeln in runden Klammern stehende Ziffern entsprechen denen der Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840-1914. Unter Mitwirkung von Sylvia Kucher und Andreas Schumann. Hrsg. v. Günter Häntzschel. 2. Bde. München u.a.: Saur 1991. Für den Gesamtzusammenhang: Günter Häntzschel: Die deutschsprachige Lyrikanthologien 1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts (Buchwissenschaftliche Beiträge 58). Wiesbaden: Harrassowitz 1997.

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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6) Zajaczkowski, Johann (Hrsg.): Kempen-Album. Mit Beiträgen von Ritter von Alpenburg, M. Bermann, L. Bowitsch etc. Hrsg. v. J. Z. Wien: Wallishausser 1859. VIII, 156 S. (1591) 7)

Kuh, Emil (Hrsg.): Dichterbuch aus Oestreich. Hrsg. v. E. K. Wien: Gerold 1863. X, 365 S. Mit Goldschnitt. (823)

8) Pfeifer, Carl (Hrsg.): Alpenklänge. Deutsches Album aus der Steiermark. Mit Beiträgen von M. Bermann, L. Bowitsch, G. Bogensberger, J. F. Castelli etc. Hrsg. v. C. P. Graz: Ludewig u. Wohlfahrt 1861. XVI, 288 S. (1056) 9)

Schlossar, Anton (Hrsg.): Erzherzog Johann im Liede. Eine Festgabe zum 20. Januar 1882 als dem 100. Geburtstage des verewigten Fürsten. Gedichte und poetische Beiträge von Johann Costa, Anstasius Grün, Robert Hamerling etc. Graz: Huber 1882. (1228)

10)

Schlossar, Anton (Hrsg.): Deutsche Volkslieder aus Steiermark. Zugleich Beiträge zur Kenntniß der Mundart und der Volkspoesie auf bairisch-österreichischem Sprachgebiete. Mit Einleitung, Anmerkungen und ausgewählten Melodien. Hrsg. v. A. S. Innsbruck: Wagner 1881. XXXII, 482 S. (1227)

11)

Schlossar, Anton (Hrsg.): Steiermark im deutschen Liede. Eine poetische Anthologie. Hrsg. v. A. S. Zwei Theile. Mit biographisch-literarhistorischem Anhang. Erster Theil: Steiermark im Allgemeinen. Das Land und die Leute. Obersteiermark. Zweiter Theil: Mittelsteiermark. Graz. Untersteiermark. Biographisch-literarhistorischer Anhang. Graz: Leykam 1880. VIII, 300 S.; 353 S. (1230)

12)

Gawalowski, Karl Wilhelm (Hrsg.): Steiermärkisches Dichter-Buch. Hrsg. v. K. W. G. Graz: Pechel 1887. XII, 192 S. (441)

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15) Thun, Josef Matthias von (Hrsg.): Gedichte aus Böhmens Vorzeit, verdeutscht von J. M. T. Mit einer Einleitung von P. J. Safarik und Anmerkungen von F. Palacky. Prag: Calve 1845. 12 Bogen. (1399) 14) Wenzig, Joseph (Hrsg.): Kränze aus dem böhmischen Dichtergarten. Hrsg. v. J. W. Leipzig: Wiedemann 1856. 16. XIX, 315 S. (1535) 15) Wenzig, Joseph (Hrsg.): Rosmarinkranz. Eine Sammlung böhmischer Dichtungen in deutscher Uebertragung. Hrsg. v. J. W. Regensburg: Manz 1855. 16. VIII, 192 S. (1536) 16) Wenzig, Joseph (Hrsg.) Blumenlese aus der böhmischen Kunst- und Naturpoesie neuerer und älterer Zeit. In deutschen Übertragungen. Hrsg. v. J. W. 1. Bdchn. Prag: Hess 1854. 16. 161 S. (1534) 17) Albert, Eduard (Hrsg.): Neueste Poesie aus Böhmen. 2 Bände. I. Die der Weltliteratur conformen Richtungen. Fremde und eigene Ubersetzungen aus dem Böhmischen. II. Die nationalen Richtungen. Mit einem Anhang, Volkslieder enthaltend. Fremde und eigenen Übersetzungen aus dem Böhmischen. Hrsg. v. E. A. Wien: Alfred Holder 1895, VIII, 255 S. (5) 18) Hantschel, Franz / Paudler, Amand (Hrsg.): Spitzberg-Album. Dichtungen aus Nordböhmen. Gesammelt von F. H. und A. P. Zum Besten des Fondes für Erbauung des Kronprinzessin Stephanie-Aussichtsthurmes auf dem Spitzberge bei Böhmisch-Leipa. Leipa: Widinksky 1883. VII, 434 S. (546) 19) Pilz, Johann/Hajek, Hans (Hrsg.): Sproßende Saat. Eine Anthologie deutschböhmischer Dichter. [Im Auftrag des Deutschen Nordböhmerbundes] Hrsg. v. J. P. und H. H. Wandbek, Berlin: Bierfreund 1911. 467 S. (1064)

Österreichische Lyrik in österreichischen und deutschen Anthologien

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Deutsches Dichter-Album für 1859. Hrsg. v. Deutsch-patriotischen Verein für Oesterreich in Wien. Wien: Zamarski und Dittmarsch 1860. 188 S. (1724)

21) Album zur Schiller-Feier. Von Studierenden der Wiener Universität. Zum Besten der Schillerstiftung. Wien: Manz 1859. VIII, 160 S. (1640) 22)

Dem deutschen Schulverein. Selbstschriften-Album, hrsg. v. Vorstande der Ortsgruppe Margareten-Wien. Wien: Pichler 1888. 4, 40 S. (1696)

23)

Stark, Armin (Hrsg.): Zu Schutz und Trutz. Deutscher Sang aus der Ostmark. Gesammelt und hrsg. v. A. S. Zürich: Schmidt 1884. 44 S. (1339)

24)

Bodenstedt, Friedrich (Hrsg.): Verschollenes und Neues. Ein Dichterbuch aus Deutschland und Oesterreich. Hrsg. v. F. B. 1.-3. Auflage. Hannover: Helwig 1877/78. XVI, 320 S. Gebunden mit Goldschnitt. (149)

25)

Franzos, Karl Emil (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich. Hrsg. v. K. E. F. Mit Abbildungen. Stuttgart: Bonz, Wien: Manz 1882. XL, 338 S. (398)

26)

Eichinger, Georg; Rabenlechner, Michael M. (Hrsg.): Lorbeerblüthen. Ein deutsches Dichterbuch der Gegenwart. Hrsg. v. G. E. und M. M. R. Wien und Leipzig: Verlagbuchhandlung „Austria" 1894. 4. XI, 216 S. Mit 11 Bildnissen auf einer Tafel. (334)

27)

Fastenrath, Rudolf (Hrsg.): Neu-Deutschlands Dichterschatz. Blätter und Blüten aus den Werken deutscher, österreichischer und schweizerischer Dichter und Dichterinnen der Gegenwart. Ausgewählt von R. F. Mit Bildnissen. 1. bis 5. Tausend. Magliaso: Ceresio 1910. 71 I S . (366)

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28)

Donath, Adolph (Hrsg.): Oesterreichische Dichter. Zum 60. Geburtstage Detlev von Liliencrons. Mit Beiträgen von Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Peter Rosegger, J. J. David, Rudolf Hawel, Theodor Herzl, Philipp Langmann, Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, M. E. Delle Grazie, Karl Schönherr u.a. Hrsg. v. A. D. Mit Buchschmuck von Heinrich Lefler. Wien: Konegen 1904. 4.V, 259 S. (300)

29)

Renner, August (Hrsg.): Das lyrische Wien. Eine moderne Lese. Mit Dichtungen von Ferdinand von Saar, Felix Dörmann, J. J. David, Freiherr Carl von Levetzow, Franz Herold, Arnold Hagenauer, Hermann Hango, Paul Wilhelm, Josef Kitir, Carl Maria Klob, Hugo von Hofmannsthal. Hrsg. v. A. R. Wien, Berlin, Leipzig: Szelinski 1899. 59 S. (1126)

30)

Die Pforte. Eine Anthologie Wiener Lyrik. Beiträge von Ernst Angel, Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Paul Hatvani, Alexandra Haydungk, Erwin Otto Krauß, Ottfried Krzyzanowski, Fritz Lampl, Hanns Margulies, Robert Müller, Heinrich Nowak, Emil Alphons Rheinhardt, Georg Trakl, Ludwig Ulimann, Martina Wied, Hugo Wolf. Heidelberg: Saturn 1913. 94 S. (1910)

31)

Hoffmann, Camill (Hrsg.): Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer. Ausgewählt und eingeleitet von C. H. Berlin: Meyer & Jessen 1912. XIV, 340 S. Mit 12 Bildnissen. (641)

Johann Holzner / Elisabeth Neumayr / Wolfgang Wiesmüller

Der Historische Roman in Österreich 1848-1890

VORBEMERKUNG

Das Innsbrucker Projekt zum Historischen Roman1 erarbeitet eine Bibliographie zum deutschsprachigen Historischen Roman und erfaßt dabei alle historischen Romane, die zwischen 1780 und 1945 in deutscher Sprache erschienen sind. Soweit dies möglich ist, wird ein Großteil der Romane auch kurz eingesehen, um eine Beschlagwortung durchzuführen. Die Gattungsdefinition, mit der gearbeitet wird, ist eine sehr formalistische: Es muß ein fikitionales Prosawerk in der Länge von mindestens 150 Seiten sein, das ein historisch verifizierbares Geschehen erzählt, welches in der Regel außerhalb der Lebenszeit des Autors liegt. Das Basis-Datenmaterial, das Angaben sowohl zum ersten Erscheinen als auch zu Neuauflagen bis herauf in die Gegenwart, sowie zum Autor, zu seiner Biographie und Herkunft, enthält, soll vor allem zu einer literatursoziologischen Betrachtungsweise des Genres Historischer Roman beitragen: Wer schreibt historische Romane wann, wo und worüber? Von wem wurden wann und wo welche historischen Romane gelesen? wären etwa Fragestellungen, die an das Material gerichtet werden können. Zur Zeit sind die Titeleinträge in die Bibliographie weitgehend abgeschlossen, die Beschlagwortung der einzelnen Titel stellt aber einen noch laufenden Prozeß dar. Die Bibliographie umfaßt mit gegenwärtigem Stand (Mai 1999) für den Gesamtzeitraum von 1780 bis 1945 6.283 Titel.

1 Mitarbeiter des Forschungsprojektes „Der deutschsprachige Historische Roman von 1780 bis 1945", das unter der Leitung von Johann Holzner und Wolfgang Wiesmüller steht, sind Kurt Habitzel, Günter Mühlberger und Elisabeth Neumayr. U R L : http://germanistik. uibk.ac.at/hr/.

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Johann Holzner/Elisabeth Neumayr/Wolfgang Wiesmiiller

I. T E I L : P R O D U K T I O N , T H E M E N U N D

TENDENZEN

H I S T O R I S C H E R R O M A N E IN Ö S T E R R E I C H

(Elisabeth Neumayr)

Für den Zeitraum von 1848 bis 1890 umfaßt die Bibliographie - auf den gesamten deutschen Sprachraum bezogen - 1.431 Romane. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, erreicht die Produktion historischer Romane in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Jahren zwischen 1861 und 1865 ihren Höchststand. Für den fraglichen Zeitraum wird auch in der grundlegenden Arbeit Hartmut Eggerts2 zum Historischen Roman für die Jahre zwischen 1861 und 1865 der Höchstwert der Produktion errechnet, doch stellt Eggert für die Zeit um 1870 ein langsames Abebben der Romanproduktion ohne neuerliche Steigerung fest, eine Aussage, die durch die Ergebnisse des Innsbrucker Projektes nicht bestätigt werden kann. Außerdem kann Eggerts Studie in bezug auf die Zahlen verdoppelt werden - im Vergleich zu den von ihm erwähnten 816 historischen Romanen, die zwischen 1850 und 1900 erschienen sind, kann eine absolute Zahl von 1.700 angegeben werden. Rund 180 der zwischen 1848 und 1891 erschienenen historischen Romane stammen von Autorinnen und Autoren österreichischer Herkunft. Als Österreicher wird dabei - allein aus dem Grunde der statistischen Vergleichbarkeit - angesehen, wer seinen Geburtsort im Staatsgebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie hat. Österreicher haben an der großen Produktionswelle Anfang der 60er Jahre durchaus Anteil, allerdings fallen sie ab den 70er Jahren prozentmäßig in der Produktion wieder zurück (siehe Abb. 2). Um einen Vergleich zu haben, sei auf die Produktion historischer Romane durch preußische Autoren3 im gleichen Zeitraum (1848-1891) hingewiesen (Abb. 5). Die Einwohnerzahl Preußens betrug durchschnittlich das Doppelte der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie, 1851 gab es ca. 8 Mio. Deutsche in Österreich, ca. 15 Mio. Einwohner in Preußen4.

2 Haitmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875. Frankfurt a. M.: Klostermann 1971, S. 205. 3 Dabei ist zu beachten, daß das Innsbrucker Projekt in seiner Statistik unter Preußen das Königreich Preußen in den Grenzen vor 1866 versteht. 4 Die Zahlen sind berechnet nach: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller: Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750-1918.

Der Historische Roman in Österreich 1848-1890

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