Ortlose Stimmen: Theaterinszenierungen von Masataka Matsuda, Robert Wilson, Jossi Wieler und Jan Lauwers 9783839440797

From where do voices appeal to us? Where are they calling us to gather? Striking stage productions illustrate how voices

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Ortlose Stimmen: Theaterinszenierungen von Masataka Matsuda, Robert Wilson, Jossi Wieler und Jan Lauwers
 9783839440797

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Hinführung
Einleitung: Die »Reise« im stimmlichen Theaterraum
1. Szenen. Gespielte Orte
2. Theorie der »ortlosen Stimmen«
3. Stimmgeste
Erster Teil: Abreisen. Auflösungsprozesse repräsentierter Orte
1. Nationalstaat und Heim: Wolken. Heim. von Jossi Wieler
2. Stadt und Heimat: Autodafé von Masataka Matsuda
3. Deterritorialisierung am Ort des Ich. Die Hamletmaschine von Robert Wilson
Zweiter Teil: (An-)reisen. Erzeugungsprozesse theatraler Versammlungsorte
1. Konstruktion der Orte in Zusammenhang mit Geschichte und Zeit am Beispiel von Jan Lauwers’ Trilogie Sad Face/Happy Face
2. Isabellas Zimmer: Persönliche Geschichte. Vergangenheit
3. Der Lobstershop: Globale Geschichte. Zukunft
4. Das Hirschhaus: Gemeinschaftliche Geschichte. Gegenwart
Zur Atopie. Wiederholung und Differenz in topologischen Stimmgesten
Literatur

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Mariko Harigai Ortlose Stimmen

Theater | Band 105

Mariko Harigai (Dr. phil.), geb. 1981, hat an der Keio-Universität Germanistik studiert. Sie war DAAD-Stipendiatin an der Freien Universität Berlin und hat dort im Fach Theaterwissenschaft promoviert. Als dramaturgische Mitarbeiterin produzierte sie die Installations-Performance »Die Scheinwerferin« der japanischen Künstlerin Naoko Tanaka mit (u.a. ZKB Acknowledgment Prize 2012 des Zürcher Theater Spektakel). Sie arbeitet als Lehrbeauftragte an der Keio-Universität und an weiteren Universitäten in Tokio. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Ästhetik der Stimmen, Raum- und Medientheorie und das Politische des Theaters.

Mariko Harigai

Ortlose Stimmen Theaterinszenierungen von Masataka Matsuda, Robert Wilson, Jossi Wieler und Jan Lauwers

D188 Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer & Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Szenenbild »Der Lobstershop« (2006, Festival d’Avignon), © Eveline Vanassche Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4079-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4079-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 9

HINFÜHRUNG Einleitung: Die »Reise« im stimmlichen Theaterraum | 15 1.

Szenen. Gespielte Orte | 27

1-1. Gemeinplatz. Hiroshima-Hapcheon von Masataka Matsuda | 27 1-2. Standpunkt. Voiceprints City – Letter to FATHER von Masataka Matsuda | 36 1-3. Atopos. Disharmonie der monadischen Welt | 44 2. Theorie der »ortlosen Stimmen« | 51 2-1. Stimmliche Relationen | 51 2-2. Ort und Raum. Die topologische Betrachtung von Stimmen | 57 2-3. Stimme als Medium des Ortes | 65 3.

Stimmgeste | 73

3-1. Stimmgesten | 77 3-1-1. Stimmgeste 1: Berichten | 77 3-1-2. Stimmgeste 2: Der gestische Schauspieler | 79 3-1-3. Stimmgeste 3: Sprechmaschine | 84 3-2. Ästhetische Erfahrungen: Imagination, Affektivität und Körperlichkeit | 91 3-3. Hörraum als akustische Figur | 95

E RSTER TEIL: ABREISEN . AUFLÖSUNGSPROZESSE REPRÄSENTIERTER ORTE 1.

Nationalstaat und Heim: Wolken. Heim. von Jossi Wieler | 103

1-1. Heimat als Mythos des Alltags | 103 1-2. Territorialisierung der Heimat des anonymen »Wir« | 106

1-3. Die Verwurzelung der Echo-Stimmen | 111 1-4. Tödliche Zwänge der Nymphe Echo | 115 1-5. Theatrale Widerlegung des Heimatmythos durch die Satire | 118 1-6. Topologische Stimmgeste 1: Mythisches Echo | 120 2.

Stadt und Heimat: Autodafé von Masataka Matsuda | 123

2-1. Heterogener Odysseus. Heimat als doppelter Ort | 123 2-2. Die Sirenen in Homers Odyssee und die Mutterstimmen in der Psychoanalyse | 129 2-3. Verführende Stimmen | 134 2-4. Unsichtbare Fotografie, nicht zu hörende Stimme | 139 2-5. Topologische Stimmgeste 2: Sirenen/Mutter | 143 3.

Deterritorialisierung am Ort des Ich. Die Hamletmaschine von Robert Wilson | 145

3-1. Nicht-Orte des Subjekts im Theatertext Die Hamletmaschine | 145 3-2. Maskierende Maschine. Robert Wilsons Stimminszenierung | 152 3-3. Ekel. Die Schwelle zur extremen Körperlichkeit | 160 3-4. Der nichtdarstellbare Ort der Revolution | 166 3-5. Atopos in ent-setzenden Stimmen | 173 3-6. Topologische Stimmgeste 3: Maschine der Revolution | 179

ZWEITER TEIL: (AN-)REISEN. ERZEUGUNGSPROZESSE THEATRALER V ERSAMMLUNGSORTE 1.

Konstruktion der Orte in Zusammenhang mit Geschichte und Zeit am Beispiel von Jan Lauwers’ Trilogie Sad Face/Happy Face | 185

2.

Isabellas Zimmer: Persönliche Geschichte. Vergangenheit | 189

2-1. Isabellas Zimmer als Passage | 189 2-2. Dramaturgie des Kitsches | 195

2-3. 2-4. 2-5. 2-6.

Die »Lüge« der Welt und Mittel dagegen | 202 Das Lied der Genesung | 206 Das wiederkehrende Trugbild der Vergangenheit | 210 Topologische Stimmgesten 4: Ein altes Lied wiederholen | 217

3.

Der Lobstershop: Globale Geschichte. Zukunft | 221

3-1. Der Lobstershop als globaler Nichtort | 221 3-2. Monadische Erzählweise | 222 3-3. Die Metapher des Hummers: Die Verbindung mit den Mundtoten | 226 3-4. Wortloses Lied | 230 3-5. Atemzüge des Nichts | 233 3-6. Topologische Stimmgeste 5: Zaudern | 235 4.

Das Hirschhaus: Gemeinschaftliche Geschichte. Gegenwart | 241

4-1. Das Hirschhaus als Zuhause | 241 4-2. Verflechtung der Imaginationen und des Ereignisses | 242 4-3. Unfassbare Momente der Ereignisse und die Rekonstruktion der Geschichte | 246 4-4. Die Gegenwart des Äon. Die Zeit des Ereignisses | 254 4-5. Einrichtung von Hörräumen | 256 4-6. Refrain des Ansprechens | 262 4-7. Topologische Stimmgeste 6: Warten | 268 Zur Atopie. Wiederholung und Differenz in topologischen Stimmgesten | 273 Literatur | 281

Für Mitsuko Uehara (*15. Oktober 1921 in Ikuta, †8. Mai 2014 in Fukuoka), eine Frau, die zwar kaum Worte hinterließ, die mich aber die Kraft der Stimmen spüren ließ, für Kikuyo Harigai (*16. April 1926 in Nagasaki), eine Frau, die zwar viele Worte hinterließ, die mich aber vor allem das Gewicht des Schweigens spüren ließ, und für Stimmen, die jetzt schon verklungen sind und gerade verklingen.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version einer Dissertation, die unter dem Arbeitstitel »Ortlose Stimmen: Zum Verhältnis von Stimme und Ort im Gegenwartstheater« im Juli 2016 am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht wurde. Im November 2016 wurde ich im Fach Theaterwissenschaft promoviert. Das Studium an der Freien Universität, das damit zum Abschluss kam, wurde möglich durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Dank eines großzügigen Druckkostenzuschusses von der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität konnte die Veröffentlichung in Buchform folgen. Diese Arbeit ist aus einem intensiven Austausch vor allem mit japanischen und deutschen Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftlern entstanden. Ohne diesen wertvollen Austausch und die große Unterstützung durch Professorinnen und Professoren sowie durch Freundinnen und Freunde aus verschiedenen Ländern und an verschiedenen Orten wäre dieses Buch überhaupt nicht möglich gewesen. An erster Stelle möchte ich mich bei meiner Erstbetreuerin Doris Kolesch für ihre langjährige Betreuung bedanken. Sie hat mich sowohl wissenschaftlich als auch emotional unterstützt: Als eine Theaterwissenschaftlerin, die das komplexe Phänomen der Stimme erst analysierbar machte, hat sie mir die größten Anregungen gegeben. Ohne ihre unvergessliche Ermutigung vor allem nach dem Erdbeben in Japan im Jahr 2011 und ohne ihren festen Rückhalt für mein Thema, dessen Bedeutung oft nicht ohne Weiteres anerkannt wurde, hätte ich dieses Projekt nicht unternehmen können.

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Besonderer Dank gilt ebenso meinem Zweitbetreuer Eiichiro Hirata von der Keio-Universität Tokyo. Er hat mir als erster den Blick für das gegenwärtige Theater geöffnet und seitdem bis zum Tag meiner Disputation etwa 15 Jahre lang alle meine Denkschritte geduldig begleitet. Er war es auch, der die intensive Zusammenarbeit zwischen der japanischen und der deutschen Theaterwissenschaft zu wesentlichen Teilen begründet und mich großzügig eingeladen hat, daran teilzunehmen. Ohne die Begegnung mit ihm hätte ich nie die reiche Welt des Gegenwartstheaters betreten. Gleichzeitig danke ich den Mitgliedern unseres gemeinsamen Forschungsprojekts Chikako Kitagawa, Mai Miyake, Ehito Terao, Shu Ishimi, Kanji Miyashita und Takuya Maehara sehr herzlich für die liebevolle Unterstützung und die Anregung durch lebendige Diskussionen. Als Japanerin, die eine Doktorarbeit in Deutschland schreibt, hatte ich anfangs große Schwierigkeiten mit der wissenschaftlichen Fremdsprache. Dabei haben mir einige Menschen außerordentlich geholfen. Josef Fürnkäs hat mir zuallererst die Grundlagen der wissenschaftlichen Sprache beigebracht. Walter Ruprechter, Mechthild Düppel-Takayama und Thomas Pekar haben mich in eine deutschsprachige Forschungsgruppe in Tokyo aufgenommen und mir dort die unschätzbare Gelegenheit gegeben, regelmäßig in der Fremdsprache zu diskutieren. Das hat mich nicht nur die Sprache im engeren Sinn gelehrt, sondern mir auch das gute Verhältnis zu den »Fremden« gezeigt. Andrea Hensel und Caroline Krämer haben meine gesamte Dissertationsschrift mit großem Aufwand und treuer Freundschaft Korrektur gelesen und mich so buchstäblich »gerettet«. Astrid Hackel und Andreas Huth haben mich immer sehr liebevoll in Berlin aufgenommen; Astrid Hackel hat zudem vor der Abgabe der Dissertation den ganzen Text für mich gelesen. Jan Straßheim hat dann den Text mit großer Sorgfalt für die Buchveröffentlichung bearbeitet. Korinna Schröter hat mir in unserer langen Freundschaft ein lebendiges Deutsch beigebracht. Ohne die Begegnung mit ihr hätten überdies die schon genannten Beziehungen vielleicht nicht so tief werden können. Bis die Arbeit fertig wurde, hatte ich Schwierigkeiten nicht nur mit der deutschen Sprache, sondern auch mit der schieren räumlichen Entfernung zwischen Japan und Deutschland. Dabei hat mir Adam Czirak außerordentlich geholfen. Bei ihm bedanke ich mich besonders herzlich. Außerdem danke ich Katharina Rost, Jenny Schrödl, Katrin Beushausen, Vito Pinto, Marina Agathangelidou, Maxi Lohmann, Kati Kroß, Ga-

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briele Brandstetter, Nanako Nakajima, Daniela Hahn, Clemens Risi, Shinya Takahashi, Sumiteru Yamashita, Günter Heeg, Patrick Primavesi und Hans-Thies Lehmann. Ihre theaterwissenschaftlichen – nicht selten kritischen, jedoch umso spannenderen – Anregungen haben meiner Doktorarbeit rasante Entwicklungen eröffnet; gleichzeitig haben ihre freundlichen Ermutigungen jeden meiner Schritte unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Susumu Saito, der meine Fragen aus philosophischer und ethischer Sicht stets ausführlich und freigebig beantwortet und so mein Denken ausnehmend unterstützt hat. Nicht nur die Menschen, die ich bereits genannt habe, sondern noch viele andere haben mich liebevoll unterstützt und in schönen und wertvollen Diskussionen meinen Blick erweitert. Dafür danke ich sehr herzlich Naoko Tanaka, Thomas Lehmen, Shizue Hayashi, Hyoungjin Im, Yuko Katayama, Kanichiro Omiya, Markus Joch, Yoshiko Hayami, Aki Mizumori, Saskia Fischer, José Macián, Tomoki Kitazumi, Satomi Hiyama, Timofey Isaev, Sachiyo Kitaoka und Fuyuko Miwa. Nicht vergessen möchte ich die großherzige Hilfe vieler Theaterschaffender. Sie haben mir nicht nur praktisch geholfen, sondern mir auch durch lange Gespräche wichtige Impulse gegeben. Dafür bedanke ich mich von Herzen bei dem Regisseur Masataka Matsuda, seiner Produzentin Mariko Mori, dem Soundkünstler Masamitsu Araki, der Schauspielerin Kazuko Tsutsui und dem Tänzer Osamu Jareo. Für die großzügige Erlaubnis, die wunderschöne Photographie aus Needcompanys Der Lobstershop auf dem Cover dieses Buches zu verwenden, bedanke ich mich sehr herzlich bei der Photographin Eveline Vanassche. Ebenso gilt mein tiefer Dank für ihre freundliche Unterstützunge Elke Janssens bei Needcompany. Ganz am Ende danke ich meiner Familie aus tiefstem Herzen: zuerst meinen Eltern Fusako und Nobuo Harigai für ihre Unterstützungen unter unvorstellbar großen Mühen, die mein langjähriges Studium erst ermöglicht haben. Dann meinem Bruder Seiji, der mein langjähriger Mitbewohner und Unterstützer war und noch immer ein wertvoller Diskussionspartner im Alltag ist. Hier möchte ich auch Mayuko Yoshioka danken, die wie eine echte Schwester mein ganzes Leben begleitet und mir dabei immer einen liebevollen Hörraum gegeben hat. Vor allem danke ich meinem Partner Takahiro Nishio, der jetzt sowohl mein Leben als auch meine weiteren Denkschritte begleitet, der mit mir Stimmen austauscht und so eine gemeinsame Zukunft teilt.

Hinführung

Einleitung: Die »Reise« im stimmlichen Theaterraum

Stimmen sind die Spur, die jeder Appellierende hinterlässt. Stimmen lassen die Hörenden nicht nur den gesprochenen Inhalt vernehmen oder die Figur des jeweils Appellierenden imaginieren, sondern sie verweisen auch auf den Ort, an dem sie entstehen: Stimmen lassen uns vernehmen, woher sie ertönen. Wenn man zum Beispiel in der Dunkelheit Stimmen hört, vernimmt man oder versucht man zumindest zu vernehmen, woher die Stimmen kommen, vor allem wenn sie etwa bedrohlich klingen oder uns um Hilfe bitten. Der Entstehungsort einer Stimme ist allerdings nicht immer klar auszumachen. Nicht zuletzt im gegenwärtigen Theater finden sich solche Stimmen, deren Entstehungsort nicht vernehmbar ist. Robert Wilsons Inszenierung von Heiner Müllers Die Hamletmaschine lässt solche Stimmen hören: Performerinnen, die »OPHELIA« spielen, schreien mit bedrohlicher Stimme, wobei sie ihren – unbestimmbaren – Standpunkt angeben: »Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter.« In der Inszenierung bleibt völlig unklar, wo dieses »hier« überhaupt ist. Doch verwirrend ist nicht nur die sprachliche Angabe darüber, welcher Ort »hier« ist und welcher Rolle – Ophelia oder Elektra – dieser Ort zugeordnet ist, sondern verwirrend ist auch die körperliche Lokalisierung der Stimme(n) von »OPHELIA«. Denn das Subjekt »ich« der Sätze Ophelias wird nicht von einer Darstellerin gesprochen, sondern von mehreren Darstellerinnen geschrien. Genauer gesagt kreischen sie das Wort »ich« derart grell, dass es im Schreien kaum noch als Wort zu verstehen ist. Die Schreie zwingen uns einerseits dazu, die körperliche Anwesenheit der Darstellerinnen wahrzunehmen, andererseits lassen sie gleichzeitig den Entzug der kulturellen und semantischen Dimensionen ihrer Präsenz spü-

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ren. Die Szene wirft somit eine Frage auf: Von woher appellieren die Stimmen an uns? Gleichzeitig bringen die Stimmen die Zuhörenden dazu, sich zu fragen: »Wo bist du?« Der Ort, nach dem hier gefragt wird, ist als Standpunkt der Appellierenden zu verstehen, der gewöhnlich mit dem Entstehungsort der Stimme identifiziert wird. Zwar befinden sich die Körper, aus deren Mündern die Stimmen kommen, an einer geometrisch oder physisch bestimmbaren Stelle auf der Bühnenfläche, aber auf diese kann das Woher bzw. können die Entstehungsorte der Stimmen überhaupt nicht zurückgeführt werden, weil der theatrale Hörraum andere, das Theatergebäude überschreitende Orte eröffnet. Hier schließen weitere Fragen an: Wie können die Zuhörenden, die sich im Hörraum der Stimmen befinden, auf die Appellierenden zugehen und sie berühren? Wohin rufen die Stimmen die Hörenden zusammen? Wo können wir einen Berührungspunkt ausmachen? Wo ist unser Versammlungsort? Kann es ihn überhaupt geben? Diese Fragen indizieren die soziale Dimension der stimmlichen Hörräume. Der stimmliche Hörraum kann nicht allein physisch erklärt werden, sondern er basiert vielmehr auf den sozialen und affektiven Relationen, die durch jedes Appellieren gebildet werden. In diesem Hörraum evozieren die Stimmen Orte, die nicht vollständig aktualisiert werden. In den folgenden Überlegungen geht es daher um das Spannungsverhältnis zwischen Stimmen im Theater, ihren Hörräumen, ihren repräsentierten, bezeugten, imaginierten oder auch halluzinierten Entstehungsorten und um den theatralen Versammlungsort, an den Stimmen uns als Hörende rufen. Die Stimme gilt seit der Antike, wie Jacques Derrida in Die Stimme und das Phänomen 1 mit Bezug auf Husserl aufgewiesen hat, als Indiz der (Selbst-)Präsenz. So stellt Husserl die lebendige, direkt anwesende Stimme bzw. parole, die die Präsenz einer idealen Bedeutung garantiert, der abwesenden Schrift gegenüber, deren Bedeutung wegen der Abwesenheit des Sprechers nicht mehr garantiert ist und stets »differenziert« wird. In der konstitutiven Differenz, auf der die Bedeutung der Schrift beruht, findet Derrida jedoch den Ursprung der Präsenz selbst. Und mit Recht weist er diese Differenz auch in der stimmlichen Präsenz auf: Auch der lebendigen Stimme fehle es eigentlich an Präsenz.2 Hans-Thies Lehmann bemerkt da-

1

Derrida, 2003.

2

Vgl. Derrida, 1994.

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zu: »Entzug erst mobilisiert die emotionale Intensität von Präsenz«,3 und in diesem Sinn hält auch Doris Kolesch die Präsenz der Stimmen nicht für eine direkte, lebendige Präsenz, sondern für Präsenz durch einen Entzug. Sie findet in den Chorstimmen von Einer Schleef »eine Dimension der Stimme, die der Selbsttransparenz, dem Sinn und der Präsenz entgegenläuft«.4 Denn jene Stimmen schreien unverständlich und mahnen viel eher an ihre Sterblichkeit als an ihre lebendige Anwesenheit. Die Stimme sei dort nicht mehr »Hüterin der (Selbst-)Präsenz««, sondern »eine Bedrohung«« und »»radikale Alterität«.5 Der Ort der Stimme(n) wird daher nicht – wie üblich gedacht – einfach präsentiert, sondern erst auf einer konstitutiven Differenz begründet, was allerdings im Allgemeinen verborgen bleibt. Laut Sybille Krämer bewegt sich die Stimme dabei stets prozessual: Das »Sein« der Stimme sowie des Lautes sei »Verschwunden-Sein«6 und ihre »Anwesenheit« sei »nur Passage zur Abwesenheit«. 7 Wenngleich die Stimme einen Ort hat, ist es kein festzustellender Ort: »Die Stimme ist weniger Gegenstand und Zustand, sondern sie ist Bewegung, ist Prozessualität. Der ›Ort‹ der Stimme ist Aktivität des sie erzeugenden Leibes. [...] Während also die Stimme da ist, wo die Motorik des Leibes sich vollzieht, haben die 8

durch sie erzeugten Laute keinen Ort.«

Während Krämer somit eher die zeitliche Dimension der Ortlosigkeit der Stimme erklärt, vertieft Kolesch deren räumliche Dimension: Die Stimme ist ein Zwischenwesen. »Sie gehört weder dem Sprechenden noch dem zuhörenden Subjekt; sie ist weder bei der, die spricht, noch bei dem, der hört«,9 sondern die Stimme ist dazwischen und, nach Roland Barthes, atopisch: Sie ist ein »Phänomen, das sich systematischer Definition und Klassifikation widersetzt und sich der eindeutigen Verortung entzieht«. 10 Mit

3

Lehmann, 1999, S. 13.

4

Kolesch, 2003, S. 64.

5

Ebd.

6

Krämer, 2003, S. 67.

7

Ebd.

8

Ebd.

9

Kolesch, 2003, S. 274.

10 Ebd.

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Helmuth Plessners bekannter Unterscheidung zwischen »Körper-Haben« und »Leib-Sein« bemerkt Kolesch allerdings auch: »Wir haben eine Stimme und wir sind zugleich Stimme.«11 Der ortlose Ort bzw. das Dazwischen der Stimme ist also zugleich unser eigener Ort. Im gegenwärtigen Theater finden sich häufig Stimmen, die nicht mehr ihre Selbstpräsenz lebendig und natürlich indizieren und verorten, sondern vielmehr ihre prekäre Örtlichkeit und den künstlichen Entstehungsprozess der Präsenz des Daseins offenbaren und diese Präsenz bedrohen. Auf die theatralen Hörräume solcher Stimmen, die ihre Ortlosigkeit offenbaren, konzentriert sich die vorliegende Arbeit. Wie lassen solche Stimmen im gegenwärtigen Theater ihre ortlosen Orte spüren? Heute gibt es viele theatrale Experimente, die besondere Orte zum Thema haben, wie es z.B. bei site-specific-Projekten zu sehen ist. Daneben gibt es aber auch Versuche, anders als bei site-specific-Projekten, die an realen Orten außerhalb des Theaters gespielt werden, einen Ort innerhalb des Theaterraums zu thematisieren. Im gegenwärtigen Theater werden Kulissen, die eine bestimmte Örtlichkeit darstellen, kaum benutzt. Oft stellt man nur eine einzige schlichte und abstrakte Ausstattung zur Schau, die während der gesamten Aufführungszeit auf der Bühne bleibt. Nicht selten wird sogar die nackte Theaterarchitektur ganz ohne Ausstattung gezeigt. Trotzdem entstehen Örtlichkeiten im Theaterraum und verwandeln sich in ihm. Dabei werden Örtlichkeiten oft durch das Erzählen in die Theaterräume gebracht. Der japanische Regisseur Masataka Matsuda zum Beispiel verwandelt die Räume von Theatern in Hiroshima oder Nagasaki.12 Seine Theaterräume – wie auch diejenigen zahlreicher anderer Regisseure des

11 Ebd. 12 Bei der Analyse von Matsudas Stücken verwende ich in Europa entwickelte Theorien. Das bedeutet aber nicht, dass ich den ostasiatischen Kontext in Matsudas Stücken ignoriere. Denn Matsuda selbst ist ein leidenschaftlicher Leser europäischer Autoren wie Derrida, Foucault, Benjamin, Deleuze, Simmel, auf die auch in seinen Stücken eine Vielzahl von Sätzen und Stichwörtern verweist. Dabei glorifiziert er die europäische Kultur nicht, sondern er zeigt eine kritische Haltung zur vermeintlich »authentischen« japanischen Geschichte, Kultur und Politik, die einen wichtigen Teil der heutigen japanischen Kultur bildet, indem seine Stücke sich hauptsächlich auf vergessene Geschichten, namenlose Menschen und verklungene Stimmen richten.

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Gegenwartstheaters – werden zu »Erinnerungsräumen«13 eines Ortes. Wie viele andere zeitgenössische Regisseure auch bringt Matsuda solche Erinnerungsräume weniger durch Bühnenausstattung zuwege als vielmehr durch Stimminszenierungen: Seine Stimmen erzählen von (und vorgeblich aus) dem thematisierten Ort, indem sie gleichzeitig einen Hörraum bilden. Die Stimmen bei Matsuda präsentieren allerdings keine eindeutig identifizierbare Referenz für die genannten Ortsnamen; vielmehr eröffnen sie ein ganzes Spektrum an thematisierten Orten, die sie zeigen und differenzieren. Die Orte werden nicht repräsentiert, sondern gespielt.14 Matsuda lässt den Hörraum der Stimmen einen anderen Ort spielen. Wie ein Schauspieler eine Rolle spielt, spielt der Hörraum den thematisierten Ort. Dort sind wir – die Sprechenden wie auch die Zuhörenden –, aber in den ortlosen Stimmen wird differenziert, wo dieses »Dort« ist. Es geht in der vorliegenden Arbeit um das Verhältnis von Hör-Räumen ortloser Stimmen und theatral gespielten Orten, die ästhetisch wahrgenommen werden. Im theatralen Spiel werden die inszenierten Prozesse der Erzeugung eines Ortes herausgestellt. Denn das gegenwärtige – postdramatische und performative – Theater verzichtet auf die berauschende Wirkung der Illusion. Diese Haltung ist auch in gegenwärtigen Stimminszenierungen zu bemerken: Sie führen nicht in die Illusion der Beständigkeit einer idealen Wahrheit, sondern kehren die Vergänglichkeit bzw. Prozessualität des stimmlichen Hörraums hervor. In Jossi Wielers Wolken. Heim. z.B. bilden die dünnen Chorstimmen der Schauspielerinnen, deren Melodielinie am Anfang noch kaum erkennbar ist, allmählich eine quasi nationale Gemeinschaft, die jedoch so vage bleibt wie Wolken, die sich im nächsten Augenblick zerstreuen können.15 Der Hörraum verändert sich ständig und stiftet jeweils Verhältnisse zwischen den Hörenden, den Sprechenden und den von ihnen erwähnten Dingen. Diese Prozessualität ist die Voraussetzung der stimmlichen Präsenz. Wenn man diese Eigenschaft der Stimme hervorhebt, lassen sich in ihrem Hörraum die Prozesse wahrnehmen, in denen die

13 Dazu Assmann, 2006. 14 Der Begriff »spielen« wird hier im Sinn des Begriffes »werden« bei Deleuze/Guattari verstanden. Dazu Kapitel 3-3. »Hörraum als akustische Figur« in »Hinführung« dieses Bandes. 15 Vgl. Kapitel 1-2. »Territorialisierung der Heimat des anonymen ›Wir‹« im ersten Teil dieses Bandes.

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erzählten Orte im Theater hervorgebracht, aufgelöst und verwandelt werden. Das »wo« des gespielten Ortes wird im Theaterraum medial übertragen. Als ein Medium des Ortes funktionieren vor allem die Stimmen, die nicht nur sprechen, sondern auch schreiend, lachend und singend ihre Körperlichkeit und Leiblichkeit spüren lassen. Stimmen als Spur übermitteln also nicht als bloße Träger die im Theatertext erzählten Orte, sondern sie zeigen durch stimmliche Gesten16 das Verhältnis der gespielten Figuren zu den erzählten Orten an. Dabei produzieren die Stimmen selbst Hörräume, in denen die gespielten Orte bzw. Standpunkte positioniert und auch das Publikum in Relation zum gespielten Ort gesetzt wird. Sie bilden in ihren Hörräumen jeweils unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen den erzählten Orten, den Sprechenden und den Hörenden aus. Wie Kolesch und Krämer nachgewiesen haben, 17 besitzen die Stimmen selbst noch keinen Ort. Sie lassen aber in ihren sich ortlos verwandelnden Hörräumen theatral heterogene Orte entstehen. Um eine derart heterogene Struktur des gespielten Ortes zu analysieren, ist der theaterwissenschaftliche Begriff der Figur hilfreich, die nicht nur zwischen der gespielten Rolle und dem spielenden Körper der Schauspieler und Tänzer erzeugt wird, sondern stets der eigenen De-Figuration ausgesetzt ist.18 Ich möchte diese Struktur auf die Analyse der stimmlichen Erzeugungsprozesse des Ortes anwenden: Stimmen, die immer in einem Zwischenraum schweben, produzieren nicht nur die einzelnen menschlichen Figuren, sondern vielmehr zuerst Orte und Räume, an bzw. in denen Menschen sich gegenüber anderen positionieren. Im Theater wird ein Ort durch

16 Der Begriff »stimmliche Gesten« wird in Kapitel 3-1-1. »Topologische Stimmgeste 1: Berichten« in »Hinführung« dieses Bandes erklärt. 17 Vgl. Kolesch, 2003 und Krämer, 2003. 18 Zum Begriff der Figur vgl. Brandstetter, 1999, 2010 sowie Roselt, 2005. Den Begriff der »akustischen Figur« und die Idee, Figur nicht für ein Subjekt zu halten, sondern in jeder Figur deren Verschwinden und Transformation bzw. die Heimsuchung der De-Figuration zu finden, verdanke ich besonders dem Vortrag von Adam Czirak »Das Verschwinden der ›Figur‹ und die Figuren des Verschwindens. Das Zusammenspiel von Präsenz und Absenz in zeitgenössischem Theater, Tanz und Performance« (Vortrag an der Keio-Universität in Tokyo am 20. Januar 2015).

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den theatralen Raum gespielt. Der gespielte Ort wiederum hat eine Figur im weiten Sinn einer plastischen Erscheinungsform, die aber keine menschliche Gestalt formt, sondern eine bestimmte Einheit der zwischenmenschlichen Ereignisse bildet. Eine solche Heterogenität des Theaterraums hat Michel Foucault in seinem Vortrag über die »Heterotopien« aufgewiesen, die an einem und demselben Ort mehrere unvereinbare Räume zusammenbringen. 19 Er bezeichnet dabei auch das Theater ausdrücklich als eine »Heterotopie«. Mit diesem Begriff eröffnet Foucault eine neue Möglichkeit, komplexe räumliche Konfigurationen und deren Entstehungsprozesse zu analysieren. Er unterscheidet jedoch nicht zwischen dem Ort und dem Raum, was die Anwendung seiner Theorie in einer konkreten Analyse schwierig macht. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Unterschied präzisiert werden müssen, um die Übergangsprozesse zwischen dem stimmlichen Hörraum und dem gespielten Ort zu analysieren. Die Orte, die im Theater gespielt werden, sind empirische, wahrnehmbare Orte. Der amerikanische Philosoph Edward Casey hat die zweitausendjährige Geschichte des philosophischen Ortsbegriffs in seinem umfangreichen Essay The Fate of Place: A Philosophical History zusammengefasst.20 Darin verweist er auf die Schwierigkeit, eine konkrete Definition des Ortes zu finden. Der Ort ist sich immer Teil dessen, was der Existenz und dem philosophischen Denken a priori vorausgeht. Darin liegt ein Grund dafür, dass es eine veränderliche Vielfalt von Definitionen des Ortes gibt. In diesem Buch soll es jedoch weniger um solche philosophischen Debatten über den Ort gehen als vielmehr um die im Theater wahrgenommenen Orte. Sie sind wie eine Rolle benennbar und identifizierbar, doch wenn sie durch Stimmen übertragen und in deren Hörraum wahrgenommen werden, können sie jeweils anders figurieren. Mit Blick auf die vorliegende Fragestellung verstehe ich im Folgenden unter »Ort« den Standpunkt der Appellierenden. Insofern es mir um den Ort der Stimme als eines prozessualen Zwischenwesens geht, darf die Stimme hier weder mit einem Subjekt verwechselt werten, das einem Objekt gegenüber steht, noch darf sie als eine festgestellte, in sich geschlossene Einheit verstanden werden. Der

19 Vgl. Foucault, 1990 sowie 2005. 20 Casey, 1997.

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oder die Appellierende entsteht jeweils in der stimmlichen Dynamik. 21 Theatrale Stimmen lassen ihren Entstehungsort vernehmen. Ein Ort, wie er hier gemeint ist, kann allerdings nicht nur der Ort einer Person sein, sondern er kann auch mehreren Personen zugeordnet sein und dann zu einem gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Ort werden. Im Theater wirken Stimmen auch so, dass sie die Hörenden zu einem Ort bzw. zu einem Treffpunkt zusammenrufen. So erzeugen die Stimmen theatrale Versammlungsorte. Theatrale Stimmen lassen die Zuhörenden mithin zwei Aspekte oder zwei Pole des für Stimmen kennzeichnenden Ortes wahrnehmen: Der erste Aspekt ist der Ort als Entstehungsort, der zweite der Ort als Versammlungsort. Während der erste einen Ort bezeichnet, von dem die Stimmen kommen, bezeichnet der zweite einen Ort, zu dem die Stimmen uns zusammenrufen. Wie kann nun der stimmliche Hörraum begriffen werden, der in sich selbst einen benennbaren und identifizierbaren Ort wahrnehmbar macht? Der stimmliche Hörraum lässt sich, wie schon erwähnt, nicht geometrisch erfassen. Theaterräume sind zwar geometrisch messbare Räume, die durch Wände, Boden und Decke begrenzt sind. Sie haben zudem materielle Strukturen, deren Räumlichkeit architektonisch unterschiedlich entworfen wurde, sodass sie eine bestimmte Weite und Breite, einen Abstand oder eine Nähe zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum, einen gewissen Grad einer bestimmten Atmosphäre und Akustik aufweisen. Aber all diese geometrisch messbare oder materiell entworfene Räumlichkeit ist für die Räumlichkeit des stimmlichen Hörraums nicht maßgebend, wenn auch jener umgekehrt nicht ohne Einfluss auf sie bleibt. Der stimmliche Hörraum

21 Die Entstehungsprozesse der Orte der Appellierenden können mithilfe des Begriffs »Individuum« im Sinn von Gilles Deleuze verständlicher werden. Deleuze setzt das »Individuum« für das Denken nicht voraus, sondern erklärt dessen Entstehungsprozess vor allem mit Spinoza und anhand der Idee der »kleinen Perzeptionen« von Leibniz: Ein Individuum sei »immer aus unendlich vielen extensiven Teilen zusammengesetzt, sofern sie zu einer einzelnen Wesenheit des Modus in einem charakteristischen Verhältnis gehören« (Deleuze, 1988, S. 110). Die Stimme kann sich in Individuen teilen (dividere) und sie zugleich überschreiten, was »die Grenze, die sie überschreitet, zugleich begründet.« (Kolesch, 2003, S. 275). Die Grenzen zwischen Individuen korrespondieren nicht mit den Häuten einzelner Körper.

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ist vielmehr nach Erika Fischer-Lichte als ein performativer Raum zu verstehen, der jeweils zwischen den Akteuren und den Zuhörern/Zuschauern erzeugt wird und deswegen nur während der Aufführung wahrgenommen werden kann. »Jede Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn zu verändern. Er ist instabil, ständig in Fluktuation begriffen.«22 Der stimmliche Hörraum ist also veränderlich. Er isoliert sich niemals von der gesamten theatralen und performativen Konfiguration. Innerhalb dieser Konfiguration lässt er jeweils verschiedene Verhältnisse zwischen den Sprechenden, den Hörenden und den erzählten Orten spüren. Der stimmliche Hörraum ist also ein Zwischenraum der Verhältnisse. Um den theatral gespielten und wahrnehmbaren Hörraum zu analysieren, können soziologische Raumtheorien eingesetzt werden. Der Soziologe Henri Lefebvre argumentierte, dass der soziale Raum weder ein Apriori der Erkenntnis darstelle noch mit dem physischen identisch sei, sondern dass er produziert werde.23 Dazu macht Lefebvre die sozialen Produktionsprozesse von Räumen im Zusammenhang mit der körperlichen Wahrnehmung, dem abstrakten Konzept und der symbolischen Repräsentation sichtbar. So sind drei aufeinander bezogene Produktionsebenen des Raums vorzustellen: der wahrnehmbare, materielle Raum (espace perçu), der abstrakt konzipierte Raum (espace conçu) und der gelebte, nämlich dargestellte Raum (espace vécu), der die Dichotomie zwischen dem materiellen und dem konzipierten Raum dialektisch aufhebt. Der Theaterwissenschaftler Tim Schuster findet Lefebvres Konzept für theaterwissenschaftliche Untersuchungen darum produktiv, weil »es Repräsentationen als konstitutiven Bestandteil der Raumproduktion versteht und so ermöglicht, den Raum immer auch von seiner Seite als Darstellungsraum zu denken.«24 Auch der stimmliche Theaterraum kann nicht eindimensional begriffen werden, sei es konzeptuell, sei es materiell. Wenn eine Stimme im Theaterraum ertönt, wird nicht nur ihre materielle Körperlichkeit von den Darstellern und durch technische Operationen praktisch dargeboten, sondern im selben Zug wird auch ihr räumliches Konzept vom Regisseur, Dramatiker oder/und Darsteller gedacht. Gleichzeitig werden die beiden Ebenen auch von den Zuhörenden (und das

22 Fischer-Lichte, 2004, S. 187. 23 Vgl. Lefebvre, 1974 sowie Schmid, 2010. 24 Schuster, 2013, S. 47.

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heißt: nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Darstellern oder vom Regisseur) gelebt: Sie rezipieren die beiden Ebenen dialektisch und lesen den Raum, indem sie ihn in einem kulturellen Kontext (de-)kodieren. Nach Lefebvre wird der Raum immer an einem Ort (etwa »localités, régions, pays«25) produziert. Die Soziologin Martina Löw hat aufgrund von Lefebvres soziologischer Raumtheorie den Zusammenhang zwischen Raum und Ort klarer formuliert. Auch sie bezeichnet den sozialen Raum als prozessuale Produktion. Das heißt, dass durch die sozialen Prozesse – mit ihren Begriffen durch »Spacing« und »Syntheseleistung« – Raum konstruiert wird. Das »Spacing« wiederum analysiert sie als einen Prozess des Platzierens bzw. Platziert-Werdens: Raum wird immer an einem Ort platziert. Dieser Ort aber wird seinerseits durch den räumlichen Platzierungsprozess erst produziert. Insofern ist der Ort Ziel und Resultat der räumlichen Platzierung. Der Ort – anders als der Raum – wird dabei als »das Eigene, Unverwechselbare, nicht Vergleichbare aufgehoben« 26 . Der Ort wird mit einem Namen bezeichnet und »[d]ie Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten«27. So nennt man eine Gegend oder eine Stadt, die für andere in keiner Weise besonders oder sogar langweilig ist, »meinen Kiez« oder »unsere Heimat« und hebt sie so als einzigartig hervor. Der Benennungsprozess und das Verhältnis zu den Ortsnamen, die zur Analyse des Ortes unentbehrlich sind, erscheinen bei Theateraufführungen vor allem im Akt des Erzählens. Daher darf das Verhältnis zwischen Stimme und Sprache hier nicht vernachlässigt werden. In der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit wird dieses Verhältnis genauer behandelt werden. Wie erwähnt gibt es zwei Arten von Orten, die durch theatrale Stimmen erzeugt werden: Entstehungsorte der Stimmen und theatrale Versammlungsorte. Diese Unterscheidung schlägt sich im Aufbau des Buches nieder. Der Entstehungsort einer Stimme wird oft mit politisch, geographisch oder sozial vorgegebenen Orten identifiziert. Jedoch verraten die theatralen Stimmen oftmals, dass die Orte, auf die sie verweisen, tatsächlich nicht beständig sind, sondern nur als vergängliche Orte erzeugt werden. Daher analysiere ich im ersten Teil der Arbeit die spielerischen Repräsentations- und Auflösungsprozesse solcher Orte. Die so beschriebenen Prozesse spiegeln

25 Lefebvre, 1974, S. 108. 26 Löw, 2001, S. 199. 27 Ebd.

E INLEITUNG : D IE »R EISE«

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sich in vielen aktuellen Analysen der Stimme wider. Die repräsentierten Orte werden in der Stimme kritisch aufgelöst. Im zweiten Teil der Arbeit analysiere ich dann die Erzeugungsprozesse theatraler Versammlungsorte, auf denen im gegenwärtigen Theater erst nach der Zerstörung der älteren theatralen Illusion das Augenmerk liegen konnte. Als repräsentierte Orte werden im ersten Teil der Arbeit zunächst gemeinschaftliche Orte bzw. Staaten und Städte betrachtet, die die individuelle und soziale Identität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner stützen und ihnen einen bestimmten Standpunkt garantieren sollen. Jossi Wielers Inszenierung von Elfriede Jelineks Wolken. Heim. sowie Masataka Matsudas Autodafé stellen die sozialen Mechanismen in den Mittelpunkt, die durch das Soufflieren einer gemeinschaftlichen Sprache Gemeinschaft reproduzieren. Im zweiten Schritt wird der Standpunkt des individuellen »Ich« im Rahmen der Relationen im Hörraum kritisch untersucht. Robert Wilsons Hamletmaschine thematisiert die Ortlosigkeit des sprechenden »Ich«. Die Stimmen zerlegen das zuvor unproblematisch gegebene Individuum infinitesimal. Sowohl gemeinschaftliche als auch individuelle Orte sind eng verbunden mit den nationalen oder dialektalen Sprachen, die man als erste Sprachen erwirbt. Daher liegt im gesamten ersten Teil ein Schwerpunkt auf dem Zusammenhang zwischen Stimme und Muttersprache. Anschließend werden im zweiten Teil der Arbeit theatrale Versammlungsorte analysiert, die sich durch das Erzählen der persönlichen, familiären und gemeinschaftlichen Geschichte bilden. In Jan Lauwers’ Trilogie Sad Face/Happy Face thematisieren Geschichten unter Titeln mit fiktiven Ortsnamen Orte, von denen jeweils in unterschiedlicher Zeitperspektive berichtet wird: als Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Isabellas Zimmer ist eine persönliche Geschichte der Vergangenheit; Der Lobstershop ist eine globale Geschichte der Zukunft; Das Hirschhaus schließlich ist eine gemeinschaftliche Geschichte der Gegenwart. Die Prozesse der Erzeugung von Versammlungsorten werden im Zusammenhang mit jeder Zeitperspektive analysiert. Je nach der Zeitperspektive der Erzählung gelten im Hörraum unterschiedliche Relationen zwischen Menschen und Ereignissen. Abhängig von der jeweiligen Relation wiederum gibt der Hörraum jedem der titelgebenden Ortsnamen einen anderen Sinn. Das gegenwärtige Theater weist eine komplexe Räumlichkeit auf, die verschiedene fremde Orte in den Theaterraum einfließen lässt und ihn nach und nach verwandelt. Es ähnelt insofern einer »Reise«, die wir allerdings

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ohne jede physische Ortsveränderung auf demselben Platz im Theater machen. Es ist keine Reise, bei der man aus einer kulturell und sozial stabilisierten Sichtweise heraus eine Abfolge fremder Dinge und Menschen erfährt. Vielmehr geht es um eine »Reise«, die erst durch die Veränderung der eigenen Betrachtungsweise der Reisenden möglich wird. In dem, was wir ortlose Stimmen nennen können, wird stets danach gefragt, wo das Reiseziel eigentlich ist. Die Reise in ortlosen Stimmen und durch sie transformiert die Reisenden selbst. In diesem Sinn ist der erste Teil dieses Buches der theatralen »Abreise« gewidmet, den Auflösungsprozessen der gegebenen Orte; im zweite Teil dagegen geht es um die theatrale »(An-)reise«, um die Erzeugungsprozesse der theatralen Versammlungsorte. Diese »Reisen« im Theater werden unsere Ohren für fremde Stimmen öffnen, in denen jeder Standpunkt und jeder theatrale Ort immer neu figuriert.

1. Szenen. Gespielte Orte

In der Einleitung habe ich zwei Aspekte von Orten beschrieben, die durch Stimmen erzeugt werden: Der erste bezieht sich auf Entstehungsorte der Stimmen, der zweite auf theatrale Versammlungsorte. Der erste Aspekt betrifft die Frage, woher die Stimmen kommen, der zweite die Frage wohin die Stimmen die Hörenden zusammenrufen. Diejenigen Orte, die im Theater mit einem bestimmten Namen betitelt und als solche aufgeführt, gespielt werden, sind stets in Zusammenhang mit der Sprache zu verstehen. Im Folgenden untersuche ich daher diskursive Orte anhand dreier Modi, die im Verlauf der Behandlung klarer werden sollen: »Gemeinplatz«, »Standpunkt« und »Atopos«. Diese drei setze ich anschließend in Beziehung zu den bereits genannten stimmlich erzeugten Orten.

1-1. G EMEINPLATZ . H IROSHIMA -H APCHEON VON M ASATAKA M ATSUDA In seiner mit zwei Ortsnamen betitelten Aufführung Hiroshima-Hapcheon: Doubled Cities in Exhibition hat der Regisseur Masataka Matsuda in einem Hörsaal in Tokyo (und zuvor einem in Kyoto)1 einen Ort »hervorgebracht«: den Ground Zero, also das Zentrum der Atombombenexplosion, in Hiroshima. Interessant an dieser Aufführung ist, dass die gehörten Stimmen aus Hiroshima kommen und die Zuhörenden sich gleichzeitig in demjenigen »Hiroshima« versammeln, das im Theaterraum mit künstlerischen Mitteln erzeugt wird. Der Ortsname »Hiroshima« fungiert dabei als Metonym für ein weltgeschichtliches Ereignis, wobei sich jedoch das reale Ereignis und

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die Geschichten verschiedener Städte überblenden. Matsuda weist darauf hin, dass der Ground Zero nicht nur das Zentrum der Atombombenexplosion ist, sondern auch ein Zentrum der nationalen Tragödie Japans, von der er sich kritisch distanziert. Wie im Titel angedeutet, führt er in einem Hörsaal zwei einzelne, heterogene Orte zusammen: das japanische Hiroshima und die koreanische Stadt Hapcheon. Aus Hapcheon hatten unter japanischer Herrschaft viele Bewohner nach Hiroshima übersiedeln müssen, so dass auch sie die Atombombenexplosion miterleben und das Ereignis von »Hiroshima« auch bei ihnen »Spuren« hinterließ. Ihre Geschichte und ihre Geschichten wurden jedoch international fast völlig ignoriert. Matsuda versucht in seiner Aufführung indessen nicht, die Geschichten der Menschen aus Hapcheon an deren Stelle zu erzählen oder aufzuschreiben, sondern er versucht ihre Spuren theatral sichtbar und hörbar zu machen. Beim Eintreten in den Aufführungsraum, den alten Hörsaal einer christlichen Schule1 , tauchte ich als Besucherin 2 in ein Rauschen sprechender Stimmen ein. Bemerkenswert ist, dass sich einzelne oder mehrere Stimmen in ihrer Lautstärke von den anderen abheben, dass jedoch trotz dieser Differenz keine zentrale Handlung erkennbar ist. Vielmehr wird durch die zerstreuten Stimmen ein Hörraum gebildet: 13 Darstellerinnen und Darsteller stehen im Hörsaal verteilt und sprechen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus in verschiedene Richtungen. Eine Bühnenausstattung gibt es nicht; nur ein Kreuz aus schwarzem Klebeband ist im Zentrum des Hörsaals auf dem Boden angebracht, das den Ground Zero markiert. Vor jedem Darstellenden steht ein Schild, wie es sonst in Museen als Träger von Informationen zu den jeweiligen Ausstellungsstücken fungiert. Die Darstellenden verkörpern in der Tat auch hier Ausstellungsstücke. Dabei folgen sie dem Vorbild

1

Der Hörsaal wurde von dem japanischen Architekten Arata Endo, einem Schüler von Frank Lloyd Wright, geplant und 1921 errichtet.

2

Zur Analyse einer Stimme ist es im vorliegenden Zusammenhang methodisch notwendig, ihre Objektivierung zu vermeiden. Die Stimme kann nicht objektiv beschrieben werden, weil sie immer – wie eine Atmosphäre – den Zwischenraum zwischen Beobachter und Beobachtetem einnimmt und das beschreibende Subjekt in sich involviert. Daher darf das analysierende Subjekt nicht ober- und außerhalb des theatralen Ereignisses gesetzt werden. Das beobachtende (betrachtende, hörende oder sehende) Subjekt muss in der Analyse der Stimme mit beschrieben werden.

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des Friedensmuseums, das sich im »Friedenspark« Hiroshimas befindet, der wiederum als Mahnmal neben dem Explosionszentrum angelegt wurde. Die Eigenarten dieses Museums überträgt der Regisseur Matsuda nun als Auswahlkriterium auf seine »Ausstellungsstücke« 3 : Die im Friedensmuseum ausgestellten Objekte, wie beispielsweise eine geschmolzene Glasflasche oder genau zum Zeitpunkt der Explosion stehengebliebene Taschenuhren, waren vor dem Ereignis bzw. vor der Bestrahlung ursprünglich nicht zur Ausstellung, sondern für alltägliche, praktische Zusammenhänge produziert worden. Für eine Ausstellung qualifizierten die Objekte sich erst dadurch, dass sie an einem bestimmten Ort »dabei« waren. Nach den Erläuterungen der Gruppe im Handzettel zur Aufführung haben die meisten Performerinnen und Performer die jeweiligen Orte besucht und anschließend versucht, auf der Grundlage ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in Gedanken eine eigene Performance zu konzipieren. Die Berührung mit dem Ort oder der Versuche einer Berührung verwandelte sie demnach selbst in Ausstellungsstücke wie jene im Friedensmuseum. Als solche Ausstellungsstücke sprechen sie nun im Hörsaal simultan Zitate aus Interviews am besuchten Ort oder aus einer Geschichte, die sich bei ihrem Besuch imaginiert haben. Dabei sprechen sie nicht nur, sondern sie tanzen, singen oder spielen kleine Szenen. Die Performer setzen sich somit nach dem Vorbild des Friedensmuseums in Hiroshima mit dem Topos des historischen Ereignisses auseinander, das durch die Nennung des Ortes im Titel metonymisch zitiert wird. Mit »Topos« (also eigentlich griechisch »Ort«) werden zunächst nach Aristoteles »Gemeinplätze, d.h. bestimmte Argumente selbst in ihrer sprachlichen Gestaltung« bezeichnet, dann aber auch der Topos im Sinn eines literarischen Motivs oder eines sozialen Klischees. 4 Der Begriff »Gemeinplatz« (vgl. locus communis, commonplace) soll in diesem Sinn den Aspekt des Wiederholbaren, Wiederholten, Herkömmlichen hervorheben. Allerdings wird bei der Aufführung der Topos, an den der Ortsname und das Vorbild des Friedensmuseums erinnern, nicht einfach wiederholt, sondern

3

Vgl. die Dokumentation eines Gesprächs zur Aufführung mit dem Germanisten

4

»Topos« in Metzler Lexikon Philosophie, S. 618. Vgl. außerdem »Topik; To-

Kazuyuki Hosoda in News Letter marebito 06. pos« in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Basel, 1998, S. 1263f.

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es werden jeweils verschiedene Zugänge zu diesem Ort eröffnet. Dabei wurde jede einzelne Performance nicht allein vom Regisseur inszeniert, sondern von den Performern initiiert und im Dialog mit dem Regisseur weiterentwickelt. 5 Matsuda nennt die Performer dementsprechend nicht »Schauspieler« (jap. 俳優, haiyu), sondern »Berichtende« (報告者, hokoku-sha). Sie übertragen nicht nur Informationen über den Topos des politischen und historischen Ortes, sondern schaffen im theatralen Raum jeweils eigene Zugänge zum Ort »Hiroshima«, dem die Besucher aus unterschiedlichen Perspektiven begegnen können. Dieser Versuch wird aber erst dadurch möglich, dass die »Berichtenden« und die Besucher der Aufführung einen Gemeinplatz bzw. eine bestimmte Vorstellung des Ortes »Hiroshima« miteinander teilen. Ohne diese Vorstellung würde die zentripetale Motivation dafür fehlen, dass wir uns hier gemeinsam versammeln. Die berichtenden Stimmen kommen also aus Hiroshima und versammeln die Besucher gleichzeitig in einem durch theatrale Mittel erzeugten Hiroshima. Nicht zuletzt dadurch wird auch der gemeinsame Theaterraum geteilt. Schon beim Eintritt ist die Positionierung der Besucher und Performer markant inszeniert. Wie in einem Museum können die Besucher jederzeit in den Raum eintreten und sich frei bewegen. Gleichzeitig gibt es jedoch auch eine Art »Rundgang« mit sehens- bzw. hörenswerten Momenten; diese Momente sind auf einem Zeitplan markiert, der am Eingang zum Raum erhältlich ist. An den markierten Stellen werden mit vernehmlicher Lautstärke Geschichten erzählt oder kleine Szenen gespielt. Der »Rundgang« wird den Besuchern allerdings weder aufgezwungen noch besonders empfohlen. Stärker ins Gewicht fällt die Orientierungslosigkeit bei der Aufführung, die meiner Beobachtung nach bei den meisten Besuchern, sobald sie

5

Vgl. den Handzettel der Aufführung. Daher basiert die Aufführung auch auf keinem Theatertext, obwohl der Regisseur Matsuda ein erfolgreicher Dramatiker ist, der zuvor mit dem – für Großstadtbewohner exotischen – Dialekt seiner Heimatstadt Nagasaki das Publikum seines dramatischen und psychologischen Theaters faszinierte. Nach und nach entwickelte Matsuda eine kritische Haltung gegenüber der Schönheit und dem Gemeinschaftsgefühl seiner Muttersprache und veränderte seinen dramatischen Stil radikal. Um seine Theaterexperimente weiterzuführen, gründete Matsuda 2003 in Kyoto die Theatergruppe Marebitono-Kai. Zu den früheren Produktionen von Matsuda und Marebito-no-Kai vgl. Hirata 2009, S. 105f.

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den Raum betraten, Irritationen auslöste. So blieben die meisten Besucher am Eingang zunächst verlegen stehen, bevor sie den Raum betraten und sich weiter fortwagten. Die Besucher haben im Prinzip selbst zu entscheiden, wie sie sich im Raum verhalten, und müssen selbst ihr »Ausstellungsstück« finden. So gingen manche Besucher beispielswiese auf einen der »ausgestellten« Performer zu und hörten/sahen ihn ausgehend von einer selbst gewählten Position aus. Jede Bewegung der Besucher hing davon ab, wie sie sich zu den Menschen positionierten, die an verschiedenen Punkten relativ zu der in der Mitte markierten »Atombombenexplosion« stehen und eine Vielfalt an Meinungen und Gefühlen dazu äußern. Die »Berichte« werden auf unterschiedliche Weisen vorgetragen. Darüber hinaus geschieht vieles gleichzeitig, sodass es akustisch unmöglich ist, alles auf einmal bzw. ein Ganzes zu vernehmen. Obwohl ich die Aufführung zweimal besuchte und mich relativ lang darin aufhielt, kann ich keinen Überblick über alle Performances geben, sondern nur einzelne Beispiele nennen. Dazu gehören Szenen, die von einer Wanderung in den besuchten Städten berichten; Begegnungen mit einer Frau aus Hiroshima; die Betrachtung eines Katalogs mit Photographien von Hiroshima sowie Begegnungen mit einem Bewohner in Hapcheon oder mit einem amerikanischen Marinesoldaten. Hier singt eine Akteurin für ein gescheitertes »Friedenskonzert«. Dort spielt eine andere Akteurin Emmanuelle Riva aus dem Film Hiroshima mon amour. Ein weiterer Performer murmelt vor sich hin und spricht dabei von einem Reiskuchen, den er im Zug nach Hiroshima von einer Mitreisenden bekommen hat. Wieder ein anderer tanzt mit einem Chinakohl, einer wesentlichen Zutat der koreanischen Speise Kimchi. Ein »Berichtender« versucht mit einer gewissen Komik, sich in einen Fluss in Hiroshima zu verwandeln, um so die Geschichte der stummen Dinge zu veranschaulichen. Die Stimmen innerhalb dieses Konglomerats sprechen nicht nur von japanischen und/oder koreanischen Standpunkten aus. Ein Performer teilt mit, er habe die USMilitärbasis in Yokosuka besucht und dort versucht, Personal in der militärischen Öffentlichkeitsarbeit und Einwohner in der Nähe zu interviewen; er bringt so eine US-amerikanische Perspektive in die Aufführung ein. Eine Performerin schließlich gibt an, sie habe weder Hiroshima noch Hapcheon besucht, sondern sei am 6. August, dem Gedenktag der Atombombenexplosion, zufällig in Polen gewesen, wo man sehr wenig von dem Ereignis wisse. Die Performance ihres Erlebnisses in Polen verleiht der gesamten

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Aufführung eine weitere Dimension jenseits der Konfrontation des japanischen, koreanischen und US-amerikanischen Standpunktes. Die Konstruktion der »Ausstellung« und die Hörerposition der Besucher werden allerdings – anders als im Museum – unaufhörlich dekonstruiert und in einen Wahrnehmungsraum für bewegliche Stimmen und Gesten verwandelt. Die Berichtenden selbst bewegen sich hin und wieder zwischen den Standorten, die mit Hinweisschildern markiert sind. Sie formen Gruppen, besuchen Performances anderer Berichtender genauso wie es konventionelle Besucherinnen und Besucher tun,6 sie verlassen den Aufführungsraum und treten wieder auf usw. Die inszenierten Bewegungen der Performer können die Bewegungen der Besucher während der Aufführung zwar nicht steuern, wohl aber beeinflussen: Die Besucher reagieren auf die Bewegungen der Berichtenden und ändern so ihre eigene Hörerposition. Jeder Besucher bildet sich auf diese Weise seinen eigenen »Rundgang«. Kein Besucher kann allerdings zu einem vollkommenen Überblick über alle Meinungen und Standpunkte gelangen. Jeder »Rundgang« bleibt einmalig. Der Rundgang wird zudem in jeder Aufführung anders gebahnt und lässt sich in einer zweiten Aufführung nicht reproduzieren. Bedeutsam sind in dieser Aufführung jedoch nicht so sehr die individuell im Raum aktualisierten »Rundgänge«, sondern vielmehr das zerstreute Rauschen ohne Überblick, das einen latenten »Rundgang« in sich wahrnehmen lässt. Einer der »Berichtenden« macht jenes Latente durch eine kaum hörbar leise flüsternde Stimme spürbar. 7 Jenseits der »offiziellen Rundgänge« fällt auf, dass sich der Mund einer Berichtenden bewegt, ohne Worte klar vernehmen zu lassen. Sie spricht zwar sehr ruhig, mit sicherer Haltung und einem ernsthaften, vernünftigen Gesichtsausdruck, aber ich als

6

Die Berichtenden, die durch ihren Besuch bestimmter Orte zu Berichtenden wurden, verwandeln sich hier wieder in Besucher. Zugleich eröffnet die Aufführung die Möglichkeit, dass auch die Besucher des theatralen Ortes zu zukünftigen Berichtenden werden.

7

Matsuda hat das Flüstern in einem anderen Stück – Dokumente der Reise zu Antigone und deren Aufführung beim Festival Tokyo im November 2012 – entwickelt, in dem alle Performer erneut wie Ausstellungsstücke herumstehen und vor sich hin murmeln. Auch in jener Aufführung waren – wie im Folgenden beschrieben – manche Besucher zu sehen, die sich den Performern übermäßig annäherten, um besser zuhören zu können.

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Besucherin konnte nicht verstehen, was genau sie sagte. Ich konnte es selbst dann nicht, als ich mich – wie andere Besucher – ihrem Körper in einer Weise annäherte, die in einem konventionellen Museum sicherlich als unangemessene Nähe zum »Ausstellungsstück« verboten wäre. Die körperliche Annäherung war beinahe intim, und doch konnte ich nicht erfassen, was die Performerin erzählte. Gerade darin liegt jedoch das Besondere: Indem die Berichtende ihren Körper und ihre Stimme den Besuchern so schutzlos aussetzt, berichtet sie keine diskursiv artikulierten Inhalte einer Geschichte, geschweige denn eine Meinung dazu, sondern sie »berichtet« vielmehr über das ohnmächtige Dasein ihrer eigenen Stimme und über die Stimmen, die sie weiterzugeben hat. Auf diese Weise hebt sie das Moment einer seltsamen, stimmlichen Berührung mit den Abwesenden hervor. Ihre Stimme lässt die Besucher in noch nicht übertragene Stimmen hineinhorchen. Es tun sich latente Hörerpositionen auf, die im Hörraum nur angelegt sind. Gleichzeitig weckt die Andeutung eines latenten Hörraums für nicht vernehmbare Stimmen bei den Besuchern ein Gefühl der Verantwortung für das weitere Zuhören. In der Konzeption der Aufführung sind vor allem zwei akustisch bestimmte Momente auffällig, die den ganzen Raum ergreifen:8 die zeremonielle Schweigeminute am Gedenktag der Atombombenexplosion in Hiroshima und das Brummen eines Bomberflugzeugs. In diesen Momenten hört das verworrene »Rauschen« der Berichtenden auf. Das Schweigen der Stimmen – das Schweigen ist als ein Modus der Stimme zu begreifen 9 – und die plötzliche Stille erzeugen eine gespannte Atmosphäre, die auch die Besucher zum Schweigen und dadurch zum Gedenken an das Ereignis an diesem Ort auffordert. Die Besucher können sich der Inszenierung des Schweigemoments und der damit verbundenen Teilnahme an der gemeinsamen Gedenkminute praktisch nicht entziehen. Gedenkminuten werden normalerweise veranstaltet, um sich gemeinsam an ein Ereignis und an die Geschichte eines Ortes zu erinnern. Gerade in den theatralen Schweigemomenten dieser Aufführung wird aber deutlich, dass es trotz des gemeinsamen Vollzugs des Schweigens bzw. des Andenkens unmöglich ist, die Geschichte eines Ortes miteinander zu teilen. Denn der gemeinsam zu tei-

8

Die inszenierte Akustik ist dem Soundkünstler der Gruppe Masamitsu Araki zu

9

Vgl. Benthien, 2006, S, 238f.

verdanken.

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lende Topos, auf den die Aufführung sich bezieht, wird durch die Mannigfaltigkeit der »Berichte« und die Andeutungen der latenten Stimmen unterlaufen. Das Motorgeräusch eines Bombers, das alle Berichtenden auf einmal schweigen lässt, ist auch als eine Variation der konventionellen Schweigeminute zu verstehen. Es lässt die Besucher nicht nur an den Moment des Bombenabwurfs denken, sondern es lässt sie diesen Moment auch in ihrer Imagination vergegenwärtigen. Gleichwohl bleibt eine gemeinsam geteilte Vorstellung auch hier unmöglich, weil das Reale des Ereignisses unerreichbar ist. Die Besucher erleben somit im Hörraum und im Umfeld des mit dem schwarzen Kreuz angedeuteten, leeren»Explosionszentrums« ein Zusammen-Sein ohne Gemeinsamkeit im vollen Sinn und eine Öffnung hin zu einem latenten Hörraum. Die Besucher und die »Berichtenden« des Stücks versammeln sich zwar an einem Topos, einem argumentativen Gemeinplatz, einem sozialen Klischee namens »Hiroshima«, das weltweit bekannt ist, und dessen Name bestimmte Bilder und Geschichten in der Vorstellung aufruft. Jeder hat eine wenigstens ungefähr bestimmte Vorstellung von der Stadt und ihrem historischen Ereignis. Keiner jedoch repräsentiert die Stimme der Stadt. Dies nicht nur, weil der Ortsname »Hiroshima« durch den zweiten Ortsnamen »Hapcheon« im Titel des Stücks relativiert wird, sondern vor allem wegen der Vielzahl der »Berichte« und der Andeutung der latenten Stimmen. Der Regisseur Matsuda, der die Repräsentation der in seinen Stücken thematisierten Orte stets in Frage stellt, benutzt in dieser Aufführung den Topos »Hiroshima«, um eben diesen Topos aufzulösen und in dem Auflösungsprozess atopische, latente Stimmen der Stadt zu Gehör zu bringen.10 Der Germanist Kazuyuki Hosomi weist unter Rekurs auf »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« von Walter Benjamin

10 Matsuda inszenierte bereits zuvor ein Stück über Hiroshima: »Park City« (2009 im Yamaguchi Center for Arts and Media uraufgeführt). Darin spielt ein junger Mann, »Shima«, eine zentrale Rolle, der aufgrund einer weit hergeholten Erklärung (der Nachname eines Arztes am Ground Zero und sein eigener Name »Shima« sind identisch mit dem zweiten Bestandteil des Names »Hiroshima«) irrtümlich glaubt, er selbst sei der Ground Zero, das Zentrum des Ereignisses. Die irrtümliche Identifizierung mit der Geschichte Hiroshimas wird komisch dargestellt und erscheint somit fragwürdig.

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im Gespräch mit Matsuda auf, dass die Stadt ein eigenes Gedächtnis besitzt, ähnlich der Sprache der Dinge, das nicht mit einem individuell bestimmten menschlichen Gedächtnis zu identifizieren ist. Das Gedächtnis der Stadt beinhaltet eine Anhäufung individueller Gedächtnisse und erzeugt daraus einen »Gemeinplatz« (場, ba). Matsuda versucht in diesem Sinn in seiner Performance auch, den Ort »Hiroshima« als einen Gemeinplatz mannigfaltiger Berichte wahrnehmbar zu machen. Der Gemeinplatz entsteht in der Aufführung nicht primär durch die direkte Mitteilung von Informationen, sondern erst auf eine theatrale Weise, indem er – der Terminologie von Hermann Schmitz folgend – als eine Art »Ortsraum« aufgefasst wird, der nicht nur referentiell, sondern auch leiblich wahrgenommen wird.11 Simultan erklingendes Murmeln, Singen, Schreien und verschiedene Geräusche der in der Aufführung »Berichtenden« vermitteln den Topos von Hiroshima und bilden gleichzeitig einen Hörraum. Sie produzieren eine eigentümliche Räumlichkeit, die die Besucher mit den Spuren des realen Orts »Hiroshima« heimsucht und sie in sich hineinzieht. Die Besucher erhalten nicht nur Informationen, sondern sie befinden sich in einem Hörraum, in dem neben dem Gehörten auch das (Zu-)Hören selbst in den Vordergrund tritt. Die ausgesagten Inhalte der einzelnen Stimmen werden akustisch dargeboten und sind daher, anders als beim optischen Überblick, nur sehr schwer gleichzeitig zu vernehmen. So wird auch für den Besucher deutlich, dass das Gesamtereignis am Gemeinplatz nicht zu begreifen ist. Gerade eine unvernehmbare Stimme, die mitten in einem optisch übersehbaren Raum tote Winkel bemerken lässt, öffnet zugleich die Möglichkeit, auf der ganzen Welt weitgehend ignorierte Schichten der angehäuften Gedächtnisse erfahrbar zu machen. Die Stimme lässt hier also vernehmen, dass sie aus einer diskursiven Lücke der Geschichte kommt und die Hörenden gewissermaßen an einem toten Winkel zusammenruft.

11 Vgl. Schmitz, 2009.

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1-2. S TANDPUNKT . V OICEPRINTS C ITY – L ETTER TO FATHER VON M ASATAKA M ATSUDA Auch das zweite Beispiel stammt vom Regisseur Matsuda. In »Voiceprints City – Letter to FATHER« (2009) thematisiert er durch eine Erzählung über seinen eigenen Vater den Entstehungsprozess eines persönlich und affektiv bestimmten Ortes: des eigenen Heimatortes. Durch das Spiel mit der Erinnerung des Autors an seinen Heimatort Nagasaki – auch diese Stadt Ziel eines Atombombenabwurfs – wird der Entstehungsprozess dieses Ortes als Heimatort veranschaulicht. Was die Erinnerung auf den Plan ruft ist das auf der Bühne präsentierte Bewusstsein des Autors. Der Autor zeigt den Prozess kritisch-distanziert: Seine Erinnerung wird durch die Stimme eines Schauspielers erzählt, seine Emotionen und sein Heimweh werden von demselben Schauspieler gespielt. Im Stück laufen drei Erzähllinien parallel: die Erinnerung des Autors, eine Stadtführung und die Erinnerung eines totgeborenen Kindes. Die letzteren beiden Erzähllinien bringen andere Perspektiven als die des Autors ein und geben dem ganzen Stück dadurch eine komplexe Struktur.12 Im Folgenden fokussiere ich meine Analyse jedoch auf die Erzähllinie des Autors, um die zwei künstlerischen Herangehensweisen an die jeweils thematisierten Orte in HiroshimaHapcheon und in Voiceprints City miteinander zu vergleichen. Zunächst eine Beschreibung der Anfangsszene aus Sicht der Besucherin. Sehr langsam rutschen die Körper der sechs Schauspieler eine breite Rampe herunter. Nur ihr eigenes Gewicht zieht die Körper nach unten, bis sie am Ende des Wegs und mitten auf der Bühne angekommen sind. War die so zurückgelegte Strecke lang oder kurz? Die Szene irritiert das RaumZeitgefühl, macht aber gleichzeitig sichtbar, dass die Zeit, sei sie schnell, sei sie langsam, ununterbrochen vergeht.13

12 Die anderen Erzähllinien und deren Stimminszenierung behandele ich später, im Kapitel 1-3. »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit. 13 Vgl. Moriyama, 2009.

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Der Weg die Rampe hinunter scheint an eine Steintreppe auf einem Videobildschirm anzuschließen, der unmittelbar über dem Weg angebracht ist. Die Steintreppe war zuvor ein alter Mann heruntergeschritten. Exakt in dem Moment, als er am Fuß der Treppe angekommen war, erschienen die sechs Schauspieler am Beginn der Rampe und begannen, parallel zur allmählichen Verdunklung des Bildschirms, herunterzurutschen. Sie führen so die Bewegung des alten Mannes fort. Die Rampe, auf der sie zugleich liegen und fallen, ist zwar geometrisch gesehen nur etwa vier bis fünf Meter lang, aber durch die Langsamkeit des Fallens scheint der Weg sehr lang. Das Fallen wird von einem bekannten russischen Orchesterstück,14 das in Japan oftmals in der Werbung eingesetzt wird, derart pompös begleitet, dass die Szene theatralischen Kitsch demonstrativ zur Schau trägt. Dennoch bleiben am Ende nur aufeinandergestapelte Körper liegen, die einem Leichenhaufen gleichen. Die Körper bilden eine scheinbar zufällige, dennoch bestimmte Konstellation.15 Soweit die Anfangsszene. Sobald die Musik aufhört, erscheint über den aufeinander liegenden Körpern plötzlich das Gesicht des Autors – Matsuda selbst – in Großaufnahme auf dem Bildschirm. Sein Gesicht ist so nah an der Kamera, dass es nicht mehr in den Bildrahmen passt und daher übermäßig groß und komisch anmutet. Der Autor gesteht in der Videoszene, in der er mit Unterbrechungen, nachdenklich und zögerlich spricht, dass er einen Film über seinen Vater habe drehen wollen. Gleichzeitig sei ihm dieses Vorhaben schwergefallen, da unklar sei, wem und wozu er eigentlich von seinem eigenen Vater erzählen wolle. Seine Augen richten sich dabei auf ein Publikum, das beim Videodreh noch nicht da war und das er nur imaginieren konnte. Durch die Selbstinszenierung im Video hebt er aufdringlich sein Ego als Autor hervor. Die fallende Bewegung der Schauspieler übernimmt zunächst die Bewegung eines für die Zuschauer noch unbekannten alten

14 »Die Montagues und Capulets« aus Romeo und Julia, Suite Nr. 2 für Orchester op. 64 von Sergei Prokofjew. 15 Das Geschehen auf der Rampe übernimmt vom Geschehen im Video noch keine Erzählung, sondern eine abwärts gerichtete Körperbewegung und ihren Stillstand am Ende des Wegs. Die gedoppelte Bewegung kann als eine Metapher von Leben und Fortleben gelesen werden, die hier nicht sprachlich vermittelt, sondern nur schweigend figuriert wird.

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Mannes in einer Stadt, die ihm mit ihren unzähligen Steintreppen und Steigungen durch Handlungen wie das Heruntergehen auf einer Treppe zur Gewohnheit geworden ist. Matsudas Zögern, seine komische Selbstinszenierung und die theatralische Färbung durch klassische Musik deuten vor diesem Hintergrund an, dass die Schauspieler vom Autor zur Übernahme eines fremden Handelns verpflichtet wurden. Die Handlungen des eigenen Vaters in seiner Stadt, die nichts mit den Schauspielern und Zuschauern zu tun haben, werden vom Autor und Regisseur Matsuda in den Vordergrund gestellt. Sichtlich unsicher gesteht Matsuda zugleich seine Motivation ein und auch sein Zögern, eine Geschichte aus seinem Privatleben zu erzählen. »Ich habe geplant, einen Film über den Vater zu drehen, aber ... es ist ... nicht einfach. Das habe ich bemerkt. Für wen ich die Kamera auf meinen eigenen Vater gerichtet habe, wem ich Aufnahmen von meinem Vater zeigen wollte, kann ich letztlich nicht begreifen...« Matsuda wendet hier den Blick von der Kamera ab und spricht, nun in angedeutetem NagasakiDialekt, mit größeren Unterbrechungen, als ob er sich in Gedanken vertiefte. »Was, wie..., was der Vater ist... Das war der größte Anlass, als ich geplant habe, dieses Stück zu machen, aber...« Die Videobilder wechseln von Matsudas Gesicht zu einem leeren Blatt Papier. Während Matsuda von Hand den Titel des Stückes zu schreiben beginnt – »Voiceprints City – Letter to FATHER (声紋都市––父への 手紙; Seimon-Toshi. Chichi he no Tegami)« –, überholt die Stimme des Autors den handgeschriebenen Text und geht ihm voran, als würde sie die schriftlichen Aufzeichnungen anleiten. Der Text beginnt mit dem Imperativ des gespenstischen Vaters aus Shakespeares »Hamlet« und fährt dann fort: »Ade, ade, vergiss mich nicht. Mein Vater ist noch nicht tot, aber neuerdings wäre sein Herz beinahe zum Stillstand gekommen und er wäre ums Haar gestorben. Bei der Nachricht habe ich mich seltsam gefühlt. Nun werde ich das Gedächtnis meines Vaters erzählen. Das bedeutet aber doch eher das Gedächtnis des gehirnlosen Kindes. Ja, gerade in dem Moment kam mir das Gedächtnis des gehirnlosen Kindes.«

Neben dem Anliegen, die Geschichte des eigenen Vaters zu erzählen, versucht Matsuda gleichzeitig das nicht existierende Gedächtnis eines Säuglings zu beschwören, dessen Foto er als Kind im Atombombenmuseum in Nagasaki mit so großen Erschrecken sah, dass er den Anblick nie mehr

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vergessen konnte. Der Säugling war ohne Gehirn geboren worden; sein Schädel wirkte so, als habe man es ihm weggeschnitten. Die Stimme Matsudas gibt nun in einem glatten Lesefluss die Sätze wieder, die zugleich unter der schreibenden Hand auf dem Bildschirm erscheinen. Sie lauten: »Der gehirnlose Säugling kann sich an nichts erinnern. Der gehirnlose Säugling kann nicht Vater werden. Als Erzähler beginnt ein Schauspieler zu erzählen, über sein Gedächtnis. ›Sein‹ heißt hier mein.«

Der Referent des Pronomens »sein« ist hier, auch im japanischen Original, nicht eindeutig zu bestimmen. Es könnte sich auf den Säugling beziehen, der in den vorangehenden Sätzen thematisiert wurde, aber Matsuda behauptet, »sein« heiße »mein«. Er eignet sich offenbar das Bewusstsein des gehirnlosen Kindes an. Die Erzähllinie des Kindes läuft nun parallel zur Erzähllinie des Vaters, und erst beide zusammen machen die Geschichte des Heimatortes aus. Die Stimme des Autors, der nun sprachlich den toten Säugling vertritt, »erweckt« einen der Schauspieler aus demn Haufen von Körpern. Dieser spielt daraufhin eine Szene, die an den Moment nach einer Katastrophe erinnert. 16 Die Stimme des Schauspielers beschreibt jenes (Klang-)Bild, an das Matsuda sich immer wieder erinnern muss. Es ist eine Erinnerung an seinen Vater: »Die Erinnerung daran, wie ich eine Steintreppe hinaufblickte. […] Ja, eine Steintreppe gibt es, und man geht die Steintreppe, die graue, steinerne Treppe hoch, dann steht da oben links ein Haus, rechts ist ein Graben, der wahrscheinlich ausgetrocknet ist. Bei Regen fließt dort Wasser. [...] Und am Abend, wenn es nicht regnet, hallen die Schritte: Der Klang der Schritte des Vaters. Er kommt Schritt für Schritt die Steintreppe hoch. Der Klang der Schuhe des Vaters. Der Klang der Lederschuhe beim Rückweg von der Arbeit vor der Nacht, wenn mein Vater nach Hause kommt. Lederschuhe, die die Füße einwickeln, die von der Arbeit erschöpft sind.« [Hervorhebungen von M.H.]

16 Auch das Aufstehen des Schauspielers ändert die Konstellation des Körperhaufens. Darin zeigt sich auch, wie das jeweilige Erzählen das Bild der Vergangenheit immer anders formt.

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Wie im Zitat hervorgehoben, wiederholt die Stimme des Erzählers bestimmte Worte wie Steintreppe (石段; ishi-dan), Klang der Schritte (足音; ashi-oto) und Klang der Lederschuhe. (靴音; kutsu-oto/革靴の足音; kawagutsu no ashi-oto). Gleichzeitig sieht man auf dem Bildschirm die von Häusern übersäte, bergige Landschaft der Stadt, die Steintreppe und das Elternhaus Matsudas, das am oberen Ende der Steintreppe liegt. Die Bilder erscheinen dabei auf den ersten Blick wie Standbilder, erweisen sich dann aber durch kleine Bewegungen im Bild als Videoaufnahmen mit unbewegter Kamera. Die Zeit im Video wirkt dadurch stark verlangsamt und scheint beinahe im Stillstand zu verharren. »Ja, jetzt sind seine Augen gefangengenommen. Wenn man die Ohren spitzt und genau hinhorcht, werden seine Augen gefangengenommen. Wenn man sich erinnert, werden durch die Erinnerung die Augen gefangengenommen. Weil es völlig still ist. Die Schritte hallten in der Stille, deswegen konnte man sie sehen. Stiller Klang. Eine Erinnerung sieht man so wie wenn man in einer solchen Szene mit gefangenen Augen einen Klang gehört hätte.« [Hervorhebungen von M.H.]

Die auffallend oft wiederholten Ausdrücke erzeugen eine fragwürdige Verbindung der Elemente, die allein der Autor selbst zu entschlüsseln vermag. »Der Klang kommt mit den Lederschuhen zusammen die Steintreppe hoch, er kündigt die Nacht an und macht die Straßenlaternen vor unserem Haus an. Obwohl es unmöglich ist, stimmt es doch gewiss in seiner Erinnerung.« [Hervorhebungen von M.H.]

In der nächsten Szene werden in der Black-Box der Bühne nacheinander billige, weiße und für den Alltaggebrauch bestimmte Fluoreszenzlampen eingeschaltet, als sollte das Licht der Erinnerung auf der Bühne repräsentiert werden. Bewegte Bilder und flüchtige Klänge verharren in ihrem ständigen Wechsel und bilden zusammen eine Urszene der Heimat. Den Prozess des Verharrens am persönlichen Heimatort veranschaulicht Matsuda durch inszenierte Wiederholungen auf der Bühne. Die Wiederholung manifestiert sich u.a. in der Stimme des zuvor erwähnten Schauspielers. Das möchte ich kurz ausführen. Die Stimme des Schauspielers Yuichiro Masuya bringt den Text nicht nur klar und gut verständlich hervor, sondern sie wird auch durch die ge-

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läufigen Mittel und Praktiken der Schauspielkunst nuanciert und rhythmisiert, so dass die poetische Kraft des Textes weiter verstärkt wird. An den bereits skizzierten wichtigen Stellen flüstert die Stimme so leise, dass sie kaum zu vernehmen ist, aber eben dadurch zieht sie die zuhörenden Ohren sprichwörtlich zu sich heran.17 Gestärkt durch diese Anziehungskraft setzt sie dann mit größerer Lautstärke die Worte fort, so dass sie besonders intensiv vernommen werden können. Zugleich setzt die Stimme deutliche Pausen zwischen den einzelnen Worten und Sätzen, so dass deren jeweilige Bedeutung von den Zuhörenden einzeln reflektiert werden kann.18 Darüber hinaus evozieren die Pausen zusammen mit der Wiederholung bestimmter Wörter einen Sprachrhythmus, der die Zuhörenden emotional mitschwingen lässt. Der Klang der Stimme, der zunächst noch den emotionalen Inhalt des Textes verkörpert, eskaliert zu einem beinahe ekstatischen Ruf. Mit dem Eintritt einer Schauspielerin, die die Reiseführerin einer Seilbahn spielt, werden auf dem Bildschirm die Umrisse der Stadt aus der Vogelperspektive sichtbar. Die Stimme des Schauspielers, die wiederum die Worte des Autors souffliert, ruft plötzlich laut und emotional folgende Worte: »Aus dem ersten Stock seines Hauses, das an der Steintreppe ist, ist die Stadt zu sehen. Nagasaki! Urakami!19« Die Stimme wiederholt hier nicht nur die Worte des Autors, sondern sie verkörpert auch sein Gefühl zu seiner Heimatstadt. Im nächsten Moment ertönt eine melodische Musik, die bei den Zuhörenden eine sentimentale Stimmung aufruft. Dadurch kommt es zu einer komplexen Raumerfahrung. Laut der Soziologin Martina Löw wird der Ort, den eine Raumanordnung systematisch hervorbringt, immer

17 Zur flüsternden Stimme auch LaBelle, 2004. 18 Ein gegensätzliches Beispiel, bei dem Gespräche wegen ihrer hohen Geschwindigkeit und des Mangels an Sprechpausen unverständlich werden, beschreibt und erläutert Jenny Schrödl am Beispiel von René Polleschs Inszenierung von Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels: »Durch die Pausenlosigkeit des Sprechens wird es für die Zuhörenden kaum mehr möglich, das Gesagte einwandfrei zu verstehen: Ein verstehendes Hören bedarf unter anderem der Pausen im Sprechen, um das Gehörte nachzuvollziehen, zu verarbeiten und einzuordnen – dieser Prozess wird in der Aufführung gestört und überfordert.« Schrödl, 2012, S. 180. 19 Urakami ist das Zentrum der Atombombenexplosion und zugleich des Katholizismus in Nagasaki.

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auch durch eine »Syntheseleistung« konstruiert. Eine räumliche Anordnung basiert demnach nicht nur auf dem »Spacing«, einem materiellen Platzieren sowie Positionieren von sozialen Gütern und Menschen, sondern auch auf einer »Syntheseleistung«, d.h. dem Zusammenfassen der Güter und Menschen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse.20 Die sentimentale Musik in der genannten Szene bezieht sich auf die persönliche Syntheseleistung der Figur auf der Bühne und überträgt sie zugleich in den Zuschauerraum. Diese Struktur und ihre Vermittlung des persönlichen Heimatortes wird auf der Bühne mit einem Topos, nämlich mit dem objektiv bestimmbaren Bezugspunkt Nagasaki verbunden. So erhebt sich eine Schauspielerin aus den übereinander liegenden Körpern, gleichsam auferstehend, als ob sie von der Stimme Matsudas bzw. seines Vaters, die zum Video mit der Steintreppe ertönen, erweckt worden wäre. Parallel zu der erzählenden Stimme des Schauspielers und dem medial vermittelten Gespräch zwischen Matsuda und seinem Vater auf dem Bildschirm beginnt die Schauspielerin nun eine Reiseführerin in einer Seilbahn zu spielen, die zugleich im Video zu sehen ist. Die Schauspielerin trägt eine rote Uniform. Ihre stotternde, verzerrte Stimme, die als Echo der Stimme der Reiseführerin im Video fungiert, klingt allerdings wie eine kaputte Sprech-Maschine. Die Belastung des Körpers, der zur Wiederholung gezwungen ist, tritt hier zu Tage; die zwanghafte Wiederholung der vorgegebenen Geschichte wird offenbar. Die Maschinenhaftigkeit der Stimme wird durch die Verwendung eines Megaphons noch stärker hervorgehoben. Das Megaphon dient hier weniger zum »Verlautbaren« der Stimme,21 sondern vielmehr zur Hervorhebung der Maschinalität der Stimme selbst. Die Stimme der Schauspielerin klingt zudem nicht nur deswegen maschinenhaft, weil sie durch das Megaphon verstärkt wird, sondern auch, weil Körper und Stimme einer uniformen Sprechweise und der schieren Funktionalität des Berufs der Reiseführerin als Teil einer staatlichen Fortsetzungsmaschinerie gehorchen. Auf dem Bildschirm hinter der Schauspielerin ist die Stadt nun aus der Perspektive der Seilbahn zu se-

20 Vgl. Löw, 2001, S. 158f. 21 Medienwissenschaftlich ist die Unwichtigkeit des Megaphons in Bezug auf das Verlautbaren aufgewiesen worden: vgl. Göttert, 1998., S. 12f. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels (2006) analysiert den Grund für das Lautwerden der Stimme unabhängig von technischen Hilfsmitteln.

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hen. Das Stottern endet und die Reiseführerin spricht nun mit der professionellen Freundlichkeit einer typischen japanischen Reiseführerin. Sobald die Stimme der Schauspielerin die offizielle Geschichte der Stadt erzählt und den symbolischen Ort der Atombombenexplosion erläutert, überlagert der ekstatische Ruf des Schauspielers »Nagasaki! Urakami!« ihre Stimme. Das pathetisch gespielte Heimweh und die tragische Geschichte der Heimatstadt, die von der Reiseführerin erzählt wird, verschmelzen in dem akustischen Zusammenfluss zu einer fragwürdigen Einheit, indem sie hartnäckig wiederholt werden. Während in Hiroshima-Hapcheon die Geste des »Berichtens« den Topos »Hiroshima« als einen Gemeinplatz im Hörsaal dargestellt hat, überträgt in Voiceprints City – Letter to FATHER die offen gelegte Geste des Schauspiels den affektiven Standpunkt des Autors. Der Vergleich macht deutlich, dass es bei der Präsentation eines Ortes zwei Herangehensweisen oder Aspekte gibt: den des gemeinsamen Orts (Gemeinplatz, Topos) und den des persönlichen Orts (Standpunkt). Der Gemeinplatz ist schon gegeben und wird miteinander geteilt. Darum kann man mit anderen von ihm sprechen, über ihn diskutieren und eventuell die geteilte Vorstellung von ihm ändern. Der Standpunkt hingegen wird persönlich erzeugt und nicht von Anfang an öffentlich miteinander geteilt. Für die Übertragung eines privaten Standpunkts in den Theaterraum ist vor allem der Schauspieler verantwortlich, der die persönliche Geschichte plausibel erzählt, den privaten Affekt eines anderen verkörpert und auf diese Weise den Standpunkt mit dem Publikum teilt. Allerdings werden sowohl in Hiroshima-Hapcheon als auch in Voiceprints City die beiden Arten von Orten nicht in Reinform dargestellt, sondern als komplex miteinander verflochtene Orte. Im folgenden Kapitel werde ich eine weitere Szene der Aufführung Voiceprints City – Letter to FATHER vorstellen, in der sich die Stimme der Reiseführerin in eine andere Stimme verwandelt und so den diskursiv geteilten Topos der Stadt untergräbt.

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1-3. ATOPOS . D ISHARMONIE

DER MONADISCHEN

W ELT

Durch den Schauspieler bzw. durch die »Berichtenden« wurden in den beiden behandelten Stücken die persönlichen Vorstellungen eines Ortes in den Raum des Theaters als Gemeinplatz gebracht; aus ihnen wurde der theatrale Gemeinplatz zusammengesetzt. Daher sind sowohl in Hiroshima-Hap– cheon als auch in Voiceprints City – Letter to FATHER die privaten und öffentlichen Orte nicht schlicht getrennt voneinander dargestellt, sondern als komplex miteinander verflochten: Jeder einzelne private Standpunkt, der von den Schauspielern ins Theater übertragen wird, spiegelt auf monadische Weise den gesamten Gemeinplatz wider. Seit Gottfried Wilhelm Leibniz den Begriff der »Monade« vorgeschlagen hat sind zahlreiche Interpretationen und Kritiken an seiner Idee erschienen. Um die Beziehung zwischen dem persönlichen Standpunkt und dem öffentlichen Gemeinplatz zu verstehen, möchte ich im Folgenden die ursprüngliche Formulierung Leibniz’ als Anregung verwenden und verstehe unter einer Monade »ein(en) immerwährende[n] lebendige[n] Spiegel des Universums«, d.h., jede unteilbare, »einfache Substanz«, die Beziehungen unterhält, »welche alle anderen ausdrücken«.22 Eine Monade spiegelt in sich die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Individuen und der Welt. Um den Begriff für mein Thema fruchtbar zu machen, ist Leibniz’ Metapher der Stadt hilfreich: »[...] wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten aus betrachtet, ganz anders und wie perspektivisch vervielfacht erscheint, so kommt es auch, daß durch die unbegrenzte Vielheit einfacher Substanzen es gleichsam ebenso viele verschiedene Welten gibt, die dennoch nichts anderes sind als Perspektiven der Einen, entschei23

dend den verschiedenen Blickpunkten jeder Monade.«

Von jedem individuellen Standpunkt aus wird also der Gemeinplatz anders erzählt, aber diese unterschiedlichen Erzählungen bezeichnen lediglich einen einzigen Gemeinplatz bzw. einen einzigen Topos.

22 Leibniz, 1962, S. 101. 23 Ebd. S. 103.

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Leibniz setzte in seiner Monadentheorie die prästabilierte Harmonie der Welt voraus, die von Gott erschaffen wurde. Der Begriff der prästabilierten Harmonie bei Leibniz bedeutet allerdings keinen Determinismus, wie er oftmals missverstanden wird, sondern er meint vielmehr eine verwirklichte Konstellation der Individuen, durch die sich in einer Monade alle anderen spiegeln. Auch Walter Benjamin legt den Begriff in seiner Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels in diesem Sinne aus: »Die Idee ist Monade. Das Sein, das da mit Vor- und Nachgeschichte in sie eingeht, gibt in der eigenen verborgen die verkürzte und verdunkelte Figur der übrigen Ideenwelt, so wie bei den Monaden der ›Metaphysischen Abhandlung‹ von 1686 in einer jeweils alle anderen undeutlich mitgegeben sind. Die Idee ist Monade – in ihr ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpre24

tation.«

In den hier genannten Theatermodellen wird indessen eine harmonisch verwirklichte Ganzheit der repräsentierten Topoi durch die ortlosen Stimmen gebrochen, die diese Topoi eigentlich vermitteln sollen. Stattdessen heben sie die Undarstellbarkeit des Topos hervor. Zur Verdeutlichung möchte ich ein weiteres Beispiel einer Szene aus Voiceprints City vorstellen, in dem eine Stimme den harmonischen Topos unterläuft. Wie bereits erwähnt, werden in Voiceprints City gleich zwei Erzähllinien der Wahrnehmung dargeboten: Hörbar ist einerseits die von pathetischem Heimweh erfüllte Stimme des Autors selbst. Er gesteht in der Anfangsszene, dass er, wie Hamlet, beim Klang der geisterhaften Stimme des Vaters »Ade, Ade, vergiss mich nicht!« nicht weghören könne. Matsuda zeigt, dass er die Erinnerung an seinen sterbenden Vater mit der Geschichte seiner Heimatstadt Nagasaki verbindet. Eine zweite Erzähllinie bildet die Stimme der Reiseführerin einer Seilbahn. Sie ist eine Arbeiterin, die die Geschichte der Stadt Nagasaki aus der Vogelperspektive erzählt. Ihre Arbeit besteht darin, die vorgegebene Geschichte der Stadt automatenhaft zu wiederholen und sie dadurch zu verlautbaren. Hinzu kommt jedoch eine dritte Ebene, die diese beiden Erzähllinien überlagert: die Geschichte des ohne Gehirn und tot geborenen, erbenlosen Kindes, die vom Autor Matsu-

24 Benjamin, GS Band 1-1, 1991, S. 228.

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da erzählt wird und die mit den Mitteln einer dramatischen Psychologisierung nicht repräsentierbar wäre. Die Schauspielerin Chise Ushio, die die Reiseführerin spielt, übernimmt noch eine weitere Rolle: die der Ophelia, eines im Wahnsinn und ebenfalls ohne Erben gestorbenen Mädchens. In Matsudas Text überschneiden sich die Geschichten zweier Erbloser: das traurige Schicksal der Ophelia und die schockierende Erinnerung an das Kind ohne Gehirn. Das Besondere daran ist aber, dass diese Ebenen nicht zeitlich getrennt und von unterschiedlichen Akteuren gesprochen werden, im Gegenteil: In der Stimme einer Schauspielerin überlagern sich gleichzeitig die mannigfaltigen Stimmen der Reiseführerin, der Ophelia und des gehirnlos totgeborenen Kindes. Wer von welchem Standpunkt aus spricht, kann aufgrund der Gleichzeitigkeit der Ebenen in einer Stimme nicht bestimmt werden. In der Schlussszene der Aufführung spricht die Schauspielerin die letzten Worte einer anderen Ophelia, während sie mit der linken Hand auf die Bühne zeigt, auf der nach der blutigen Ermordung aller Figuren nur noch der Täter, das Gespenst des Vaters, übriggeblieben ist. »Und kommt er nicht mehr zurück? Und kommt er nicht mehr zurück? Er ist todt, o weh! In dein Todesbett geh, Er kommt ja nimmer zurück. Sein Bart war so weiß wie Schnee, Sein Haupt dem Flachse gleich: Er ist hin, er ist hin, Und kein Leid bringt Gewinn; Gott helf’ ihm ins Himmelreich! 25

Und allen Christenseelen! Darum bet’ ich. Gott sey mit euch!«

Mit diesen Worten verlässt Shakespeares Ophelia die Bühne (und in diesem Fall auch die Welt) und kommt nicht mehr zurück. Die Worte erinnern allerdings nicht nur an ihren Tod, sondern sie sprechen auch vom Tod eines Anderen. Ophelia selbst spricht noch nicht als eine Gestorbene, sondern als eine in diesem Moment noch (Über-)Lebende.

25 Shakespeare’s dramatische Werke, Bd. 6, 1831, S. 167.

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Die ersten Verse rezitiert die Schauspielerin durch das Megaphon teilnahmslos und mechanisch. Gegen Ende der Verse wird ihre Stimme zunehmend aufgewühlt, und bei »Er ist todt, o weh!« setzt sie das Megaphon langsam ab. Trotzdem wird ihre Stimme dabei weder schwächer noch natürlicher, sondern sie wird sogar stärker klingt zwar immer noch künstlich, aber auf eine andere Weise als zuvor: Sie kommt nicht aus einem Megaphon, sondern aus einem Körper, der eine ebenso steife und raue Stimme produziert wie ein Megaphon. Die Stimme spielt in diesem Sinn eine Maschine. Die letzten Worte Ophelias – »Gott sey mit euch« – lauten in der japanischen Übersetzung, die Matsuda verwendet, »Sayonara«: ein Wort des Abschiedes ohne den Gedanken an ein Wiedersehen, ähnlich wie das französische »Adieu« oder das deutsche »Lebe wohl«. Darüber hinaus wirkt das »Gott sey mit euch« im Lied von Ophelia wie jener Abschiedswunsch an den verlassenen Anderen, den Jacques Derrida in seinem Essay »Donner la mort« in Anlehnung an Emmanuel Lévinas’ »Adieu« interpretiert.26 Die Stimme appelliert hier mit Nachdruck und motiviert ein intensives Zuhören, aber ohne dass dabei zu entziffernde Gefühle zum Ausdruck kämen, die man mit dem Abschiedswort assoziieren könnte. Die Stimme entspricht hier nicht nur demjenigen Wort, das an die Verlassenen der Stadt gerichtet ist, sondern sie entzieht sich auch dem emotionalen Gemeinplatz der Darstellenden und der Zuhörenden, indem sie verklingt: Gleich nach dem letzten Ruf wird der Nachklang der Stimme durch das plötzliche Ertönen pompöser Musik verwischt. Dadurch wird die Vergänglichkeit der Stimme hervorgehoben, und ihr Appell hallt in den Ohren der Zuhörenden nur als ein ephemeres Phänomen nach.

26 Auch in Matsudas früherem Stück Kryptograph (Uraufführung im September 2007, The Cairo International Festival for Experimental Theatre, Kairo) spielt das Wort »Adieu« eine wichtige Rolle. In einer Szene wiederholen zwei Männer einander umarmend und tanzend das Wort »adieu« auf Französisch. In demselben Stück wird noch ein weiteres Zitat aus der japanischen Übersetzung von Derridas »La littérature au secret« als Stichwort des Stücks zitiert: »Pardon de ne pas vouloir dire« (vgl. Jacques Derrida, »La littérature au secret« in Donner la mort, 1999, S. 161).

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Diese Stimmen, die nicht nur Worte sprechen, sondern auch sich selbst hörbar machen, repräsentieren nicht so sehr den thematisierten Ort, sondern sie ziehen vielmehr die Darstellbarkeit des Ortes in Zweifel. Dabei bezeichnen die Stimmen weder die Sprechenden noch deren eigene Standpunkte indexikalisch. Wo man nicht die Sprache oder die symbolisierten Bedeutungen, sondern nur die Stimme selbst hört, sich vor ihr entsetzt, ekelt oder von ihr fasziniert ist, ist sie kein bloßer Träger der Sprache oder eines ontologischen Daseins mehr. Doris Kolesch nennt diese Eigenschaft der Stimme atopisch. Die Stimme ist laut Kolesch ein Phänomen, das »sich systematischer Definition und Klassifikation [widersetzt und] sich der eindeutigen Verortung [entzieht]«27. Um diese prekäre Existenz der Stimme zu erklären, zieht Kolesch den Ausdruck »Atopie«28 von Roland Barthes heran. Nach Barthes ist die menschliche Stimme ein nicht definierbarer Überschuss: »Die menschliche Stimme ist tatsächlich der privilegierte (eidetische) Ort des Unterschieds: ein Ort, der sich jeder Wissenschaft entzieht, da es keine Wissenschaft gibt (Physiologie, Geschichte, Ästhetik, Psychoanalyse), die der Stimme gerecht wird: Man ordne und kommentiere die Musik historisch, soziologisch, ästhetisch und technisch, es wird immer ein Rest bleiben, ein Zusatz, ein Lapsus, etwas Unausgesprochenes, das auf sich selbst verweist: die Stimme.«

29

Jener »privilegierte (eidetische) Ort des Unterschieds« der menschlichen Stimme kann nicht als ein lokalisierter, sozial gültiger Ort verstanden werden. Der nicht lokalisierbare Ort der Stimme ist eine »Atopie«.30

27 Kolesch, 2002, S. 157. 28 »Atopia« ist im Griechischen das Substantiv zum Adjektiv »atopos«. Als substantiviertes Adjektiv bezeichnet » Atopos« jemanden, der »atopisch« ist. Die Formulierung verweist oft auf Sokrates, der in den Dialogen Platons als »atopos« bezeichnet wird, also als »verrückt« oder »unmöglich«, etymologisch betrachtet aber als »ortlos«. Dieses Verständnis verdanke ich Jan Straßheim. Im Folgenden verwende ich den Begriff »Atopie« mit Barthes im Sinne eines »unqualifizierbaren Orts«, während ich mit »Atopos« das Atopische bezeichne. 29 Barthes, 1990, S. 280. 30 Vgl. Kapitel 1-3 »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit.

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»Die Atopie widersteht der Beschreibung, der Definition, der Sprache als maja, als Klassifikation von Namen (Fehlern). Als atopos lässt der Andere die Sprache erbeben: man kann nicht von ihm, über ihn sprechen; jedes Attribut ist falsch, schmerzhaft, taktlos, peinlich: der Andere ist unqualifizierbar (das wäre die genaue Bedeu31

tung von atopos).«

Atopie bedeutet demnach einen unqualifizierbaren Ort in einer bestimmten Beziehung, der einzigartig ist. »Atopos ist der Andere, den ich liebe und der mich fasziniert. Ich kann ihn nicht einordnen, eben weil er der Einzigartige ist […] Es ist die Figur meiner Wahrheit; sie läßt sich mit keinem Stereotyp erfassen (das die Wahrheit der anderen ist) […] Wenn aber die Beziehung originell ist, wird das Stereotyp erschüttert, überwunden, außer Kraft gesetzt, und die Eifersucht beispielweise hat keinen Raum mehr in dieser Beziehung ohne Ort, ohne topos, ohne ›topo‹ [Skizze, Rede; d. Übers.] – ohne 32

Diskurs.«

Hier beschreibt Barthes die Verlegenheit, die zwischen dem liebenden Ich und dem geliebten Du entsteht. Das geliebte Du entzieht sich allen fertig eingeordneten Standpunkten, die einen Gemeinplatz der Beziehungen zwischen den beiden spiegeln. Die gehörte Stimme, die uns fasziniert, entsetzt oder ekelt, entzieht sich auch dem Ort bzw. dem Gemeinplatz, den jeder Standpunkt spiegelt bzw. darstellt. Die Stimme stellt den Konsens über den Gemeinplatz zwischen den Appellierenden und den Zuhörenden in Frage. Dennoch bedeutet das verneinende Präfix »a« von »Atopos« nicht, dass die Beziehung zwischen dem Ich und dem Du nicht existierte. Der letzte Appell von Ophelia/Sprechmaschine erweckt in den Zuhörenden Affekte, die sie in ihren Bann ziehen und sie dazu veranlassen sich zu fragen, wo das appellierende Du situiert ist, wenn es auch nicht verortet werden kann. Die Stimme von Ophelia lässt in sich den Atopos vernehmen. Der Entstehungsort der Stimme führt auf die Atopie zurück und die Stimme wiederum ruft die Hörenden an einen Atopos zusammen. Eine Stimme vermag es zwar, den diskursiven »Gemeinplatz« Nagasaki durch die Stimme der Reiseführerin auf den »Standpunkt« Matsudas zu übertragen, aber die Stimme

31 Barthes, 1988, S. 45. 32 Ebd., S. 46.

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lässt uns gleichzeitig diesen heterogenen Ort an ihrem unqualifizierbaren Atopos hinterfragen: Die Stimme führt die Hörenden zur am Atopos affektiv hervorgebrachten Frage, woher sie kommt und wohin sie die Hörenden zusammenruft. Die so hervorgerufene Frage wird zur Triebkraft, den Entstehungsort der Stimme genauer zu vernehmen. Am Atopos der Stimme entstehen unaufhörliche Entstehungs- und Auflösungsprozesse des Ortes, auf den das Fragen sich richtet. Die appellierenden Stimmen lassen die Hörenden sich affektiv gestimmt fragen, was für ein Ort Nagasaki eigentlich ist und welchen Standpunkt etwa das gehirnlos und erbenlos gestorbene Kind einnehmen kann, auch wenn es auf diese Frage keine Antwort geben kann. Der stimmliche Atopos lässt somit den akustischen, physischen Hörraum als einen prozessualen Zwischenraum fungieren, der in sich die Hörenden zentripetal zu dem befragten, gesuchten Ort führt. Dieses Verhältnis nenne ich den atopischen Zwischenraum. Atopie verstehe ich dabei als einen nicht lokalisierbaren Punkt, der jedoch irgendwo in diesem Zwischenraum liegt und mit seiner zentripetalen Kraft die Hörenden heranzieht.

2. Theorie der »ortlosen Stimmen«

In den folgenden Unterkapiteln möchte ich die für die weitere Analyse erforderlichen Grundbegriffe wie Ort, Raum, Übertragung und Verhältnis theoretisch präzisieren. Mit diesen Begriffen werde ich gleichzeitig den Mechanismus der Stimminszenierung bei den schon vorgestellten konkreten Szenenbeispielen, der für die Übertragung des Ortes eine tragende Rolle spielt, genauer analysieren. Zum Zweck der Präzisierung teile ich die Betrachtung der »ortlosen Stimmen« in drei Ebenen ein: die relationale, die topologische und die mediale. Auf der relationalen Ebene wird danach gefragt, welches Verhältnis zwischen dem Appellierenden und dem Hörenden entstehen kann. Auf der topologischen Ebene werden die grundlegenden Begriffe »Ort« und »Raum« präzisiert. Auf der medialen Ebene schließlich wird die Übertragungsfunktion der Stimme als Medium des Ortes erläutert.

2-1. S TIMMLICHE R ELATIONEN Wie zu Beginn dieser Arbeit dargelegt, verstehe ich die Stimme als eine Spur jedes Appellierenden. Die Stimme bleibt daher niemals eigenständig und erzeugt immer Relationen zwischen den Appellierenden und den Hörenden. Mit dem Stichwort »Appell« betont Hans-Thies Lehmann neben dem sinnlich-erotischen Aspekt den ethischen Aspekt der theatralen Stimme, deren Sprech-Akt die Zuhörer im Zuschauerraum als Verantwortung zu übernehmen haben. Denn »[d]er Spielende wendet sich niemals an den anderen auf der Bühne, ohne sich zugleich an den Zeugen, das Publikum zu

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wenden«. 1 Das erlaubt es wiederum, eine »spezifische Situation, den Sprech-Akt selbst, seine Implikationen, im Theater auf durchdringende Weise sinnlich zu erfahren und zu erhellen«.2 Somit ist die theatrale Stimme immer »in eine innerszenische und innertheatrale Adressierung« 3 gespalten und wird dadurch gleichzeitig verdoppelt. Der Appell im Theater richtet sich an gespaltene und verdoppelte Adressaten. Indem die Stimme immer an beide adressiert ist, wird »[d]as Sprechen [...] als in seiner Essenz ver-antwortetes erfasst, der Zuschauer als symbolischer Ort einer Öffentlichkeit in die Situation einer mitverantwortlichen Partizipation gebracht. [Herv. M.H.].« 4 Mit »Ver-antwortlichkeit« meint Lehmann nach Jacques Derrida die Aufforderung zu einer Antwort bzw. zu einem Respons. Der Hörende – sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum – wird durch den Appell zu einer Ver-antwortlichkeit (responsabilité) sowie zu einer Antwort (réponse) aufgefordert. Dabei besteht eine unauflösbare Beziehung zwischen Appell und Respons. Die Struktur von Appell und Respons, die von dem Philosophen Bernhard Waldenfels beschrieben wurde,5 setzt die Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl in Beziehung zum theatralen Hörereignis. Schrödl meint dabei mit »Respons« nicht unbedingt die geäußerte Antwort, sondern vielmehr die Haltung des Hörens, die nach ihrer Argumentation nicht einfach als passiv, sondern sowohl als passiv wie auch als aktiv beschrieben werden kann: »Zuhörende [haben] zugleich aktiv und passiv am Wahrnehmungs- und Interaktionsgeschehen [teil].«6 Im stimmlichen Hörraum findet also eine gegenseitige Annäherung zwischen dem Appellierenden und dem Hörenden statt, die allerdings niemals beendet ist und immer »eine unüberbrückbare Differenz« beibehält: »Appell und Respons in der ästhetischen Erfahrung, Kommunikation oder Interaktion sorgen dafür, dass Anfrage und Antwort, Aktion und Reaktion nie zur Deckung kommen im Sinne einer erfüllten und beendbaren Kommunikation. Appell und Respons zeichnen sich jeweils durch eine Doppelstruktur aus, aufgrund derer Hör- und

1

Lehmann, 2004, S. 50.

2

Ebd.

3

Ebd.

4

Ebd.

5

Vgl. Waldenfels, 1994.

6

Schrödl, 2012, S. 247.

2. T HEORIE DER » ORTLOSEN S TIMMEN « | 53

Sprechereignisse nicht miteinander verschmelzen, sondern ihnen eine unüberbrück7

bare Differenz innewohnt.«

Eben in der Differenz suchen die beiden aber einen Versammlungsort bzw. einen Treff- und Berührungspunkt. Diese Appell-Respons-Beziehung in Stimmen kann als »undarstellbare Gemeinschaft«8 im Sinne Jean-Luc Nancys verstanden werden. Diejenige Stimme, die das Gemeinsam-Sein schafft, repräsentiert oder verwirklicht dabei keine Gemeinschaft bzw. keine Totalität eines Dialogs, in der die sprechenden und hörenden Menschen in einem totalen Leib verschmelzen, sondern sie produziert Differenzen in sich selbst in einem Dialog der Unterbrechung. »Es gibt einen Mythos des Dialogs: den Mythos einer ›intersubjektiven‹ und intrapolitischen Gründung des Logos und dessen Einheits-Wahrheit. Es gibt ebenso die Unterbrechung dieses Mythos: Der Dialog läßt sich hier nur noch als die Mitteilung der nicht mitteilbaren Singularität/Gemeinschaft vernehmen. Ich höre hier nicht mehr (zumindest nicht mehr vornehmlich), was der andere (mir) sagen will, aber ich höre hier, dass der andere oder anders spricht, und dass es eine wesensmäßige grundsätzliche Verknüpfung (archi-articulation) der Stimme und der Stimmen gibt, die das Gemeinsam-Sein selbst ausmacht: Die Stimme ist immer in sich selbst gegliedert (sich selbst different und sich selbst differenzierend), und deshalb gibt es 9

nicht die Stimme, sondern nur die Vielstimmigkeit der singulären Seienden.«

Nancy weist auf, dass es eine Stimme gibt, die nicht ein Subjekt oder eine Gemeinschaft repräsentiert, sondern vielmehr »eine wesensmäßige grundsätzliche Verknüpfung der Stimme und der Stimmen« in sich birgt. Die Stimme ruft einen Ort der Gemeinschaft bzw. einen Versammlungsort hervor, der wiederum nur in der Differenz entstehen kann. Diese Verknüpfung kommt einem Wechselspiel d.h. einer Grenzüberschreitung der jeweiligen Differierten gleich. An ebendieser Zwischenstelle findet die Verknüpfung statt.

7

Ebd, S. 248.

8

Vgl. Nancy, 1988 sowie Lehmann, 2004.

9

Nancy, 1988, S. 160f.

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»Der Dialog ist so gesehen nicht länger ›»die Belebung der Idee in den Subjekten‹, er besteht einzig aus den Artikulationen von Mündern: Jede Artikulation ist in sich selbst gegliedert und mit sich selbst verknüpft, sie ist es angesichts des anderen, an der Grenze ihrer selbst und des anderen, an jenem Ort, der nur als Abstand eines singulären Seienden ein Ort ist, indem er diesen von sich und den anderen wegrückt, – und der dieses singulär Seiende von Anfang an als Sein in der Gemeinschaft be10

stimmt.«

Dieses singulär Seiende, das »von Anfang an als Sein in der Gemeinschaft bestimmt« ist, nennt Nancy »Singulär-Plural-Sein«.11 Mit diesem Begriff macht er deutlich, dass das menschliche Sein kein selbstständiges, apriorisches Wesen hat, sondern auf einer latenten, letztlich nicht darstellbaren Gemeinschaft basiert. Den Mitgliedern dieser Gemeinschaft wird ihr gemeinsames Gespräch immer mit-geteilt (partage) 12 bzw. sowohl getrennt als auch gemeinsam gegeben, und durch die »Teilung« trägt die Gemeinschaft immer eine Differenz in sich. Nancy legt den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf den Logos und die Hermeneutik. Im Hinblick auf theatrale Stimmen jedoch erweist es sich als ungenügend, das »Partage« allein sprachlich zu analysieren. Es muss auch in einer sinnlichen und affektiven Dimension betrachtet werden.13 Auf den stimmlichen Appell können die Zuhörenden sinnlich und affektiv unterschiedlich reagieren und dadurch zwei verschiedene Orte bilden. Einerseits folgen sie der Spur der Appellierenden und nehmen somit als Standpunkt des Appellierenden den Entstehungsort der Stimme wahr. Andererseits bilden sie im zwischen den Appellierenden und den Hörenden erzeugten Hörraum einen Treff- und Berührungspunkt und versammeln sich an diesem Treffpunkt. Der Versammlungsort wird nun zwar nicht zum

10 Ebd, S. 161. 11 Vgl. Nancy, 2004. 12 Nancy spricht in seinem frühen Text Le partage des voix von der »Partage« der Stimme. Vgl. Nancy, 1982. 13 Wie das »Partage« des stimmlichen und theatralen Versammlungsorts wahrnehmbar wird, möchte ich in den weiteren Aufführungsanalysen von Die Hamletmaschine (erster Teil dieser Arbeit), und von Jan Lauwers’ Trilogie Sad Face/Happy Face – Isabellas Zimmer, Der Lobstershop, Das Hirschhaus – (zweiter Teil) noch genauer thematisieren.

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Gemeinplatz selbst, aber die hier Versammelten richten sich zusammen auf den Gemeinplatz, während sie ihn im selben Zug hinterfragen. Die zwei Kräfte, eine zentripetale und eine zentrifugale, wirken aufeinander, was die Hörenden zur Atopie hin mitreißt. Die beiden Orte – der Entstehungsort der Stimme und der Versammlungsort in der Stimme – werden durch die stimmliche Atopie gebildet. Wie bereits im vorigen Kapitel »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« erwähnt, kommt der Stimme nach Doris Kolesch eine eigene Art von Örtlichkeit zu, die man »Atopie« nennen kann: einen unqualifizierbaren, nicht lokalisierbaren »Ort« bzw. einen unqualifizierbaren Standpunkt oder Gemeinplatz in der Beziehung zwischen dem Appellierenden und dem Zuhörenden. Koleschs Begriff der Atopie der Stimme steht unter dem Einfluss von Roland Barthes. Er definiert die Stimme durch ein Liebesverhältnis, und zwar als eine Notlage: »Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus: Es gibt keine neutrale Stimme […] Jeder Bezug zu einer Stimme ist zwangsläufig einer der Liebe […]«14. In Barthes’ Rezeptionsästhetik wird zwar durch das Begehren der Hörenden der Atopos der Stimme wahrgenommen. Die Stimme wird begehrt, aber sie wird niemals qualifizierbar oder lokalisierbar, d.h. sie bleibt grundsätzlich atopisch. In der Stimme von Matsudas Ophelia/dem erbenlosen Kindes hingegen wird zuerst eine starke Unbegreiflichkeit und Fremdheit wahrgenommen, die nur schwerlich zum Objekt eines Begehrens werden kann. Die Stimme Ophelias/des erbenlosen Kindes bleibt fremd, jedoch wird sie als ein Appell dargestellt, für den die Hörenden ver-antwortlich sind. Die Kollision zwischen Rätselhaftigkeit und gleichzeitiger Ver-antwortlichkeit erzeugt den Atopos der Stimme und wirft die weiterführende Frage nach dem unlokalisierbaren, unqualifizierbaren Ort auf. Ich meine damit keineswegs, dass hier die schauspielerische Wirkung keine Rolle spielte. Denn der Affekt, der die Hörenden zum stimmlichen Atopos führt, würde ohne das gellende Timbre und das stimmliche Dröhnen der Schauspielerin Chise Ushio nicht erzeugt. Dennoch weckt ihre Stimme, die in dieser Szene geradezu im Gegensatz zu etwas Lieblichen oder Liebenswerten steht, kein Begehren im Sinn eines Liebesverhältnisses. Ein solcher Fall legt die Annahme nahe, dass es auch einen stimmlichen Atopos gibt, der weniger auf dem Begehren als vielmehr auf

14 Barthes, 1990, S. 280.

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der Ver-antwortlichkeit basiert. Wir Hörenden sollen (und wir wollen es bereits) die Appellierenden berühren, auf sie reagieren und ihnen helfen, wir sind für sie ver-antwortlich – aber wir können ihren Standpunkt und unseren Gemeinplatz nicht begreifen. Aus dieser Verlegenheit entsteht ebenfalls eine Atopie. In jedem Fall ist die Atopie der Ort der Frage, der die Hörenden heranzieht und an die Frage bannt. Die Atopie, die nicht lokalisierbar ist, liegt irgendwo im stimmlichen Zwischenraum. Sie lässt an sich den Standpunkt eines jeden Appellierenden wahrnehmen und veranlasst die Appellierenden und die Hörenden dazu, einen Versammlungsort bzw. Treff- und Berührungspunkt zu bilden. Das Präfix »un-« in Ausdrücken wie der Unqualifizierbarkeit und Unlokalisierbarkeit der appellierenden Stimme verweist auf das, was die Zuhörenden in einen Zustand des unerschöpflichen Fragens versetzt und so eine grenzenlose Triebkraft hin zu dem erfragten Ort bewirkt.15 In diesem Kapitel wurde die Relation zwischen den Appellierenden und den Hörenden thematisiert. Die Stimme, die zwischen beiden schwebt, verbindet und trennt (partage) sie gleichzeitig, indem der stimmliche Atopos die Hörenden ständig nach dem Entstehungsort der Stimme bzw. dem Standpunkt der Appellierenden und nach dem Versammlungsort bzw. dem Treff- und Berührungspunkt fragen lässt. Im nächsten Kapitel werde ich die Grundbegriffe, die sich zu den Schwerpunkten »Ort« und »Raum« aufdrängen, präzisieren und zu diesem Zweck weitere Örtlichkeiten und Räumlichkeiten vorstellen, die durch die Stimme erzeugt werden können.

15 Dabei tragen die Geschlossenheit des Theaterraums sowie eine gewisse, beim Theaterbesuch unentbehrliche Isolation von den alltäglichen Beschäftigungen dazu bei, dass die Zuhörer sich auf eine Frage konzentrieren, die sie im Alltag leicht vergessen.

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2-2. O RT UND R AUM . D IE TOPOLOGISCHE B ETRACHTUNG VON S TIMMEN Wie bereits in der Einführung erwähnt, hat Michel Foucault in einem Radiovortrag 1966 die »Heterotopologie«16 als eine neue Wissenschaft vorgeschlagen. In seinem Vortrag benennt er das Theater als eine der »Heterotopien«. Diese sind ihm zufolge von realen, alltäglichen Welten ausgeschlossen, weil sie in bestimmten Zeitepochen verboten waren und immer wieder utopisch gedacht worden sind. Trotzdem sind sie nicht einfach Utopien, die keinem realen Raum angehören, sondern real lokalisierte, verwirklichte Utopien. Indem Foucault zur Erläuterung der »Heterotopie« Gärten, Schiffe, Museen, Friedhöfe, Bordelle und fiktive Kinderspiele im für die Kinder verbotenen Ehebett der Eltern als Beispiele nennt, verdeutlicht er, dass Orte und Räume außerhalb der geltenden Orte/Räume zunächst imaginiert, aber doch an einem gewissen Ort oder in einem realen Raum lokalisiert und dann wieder aufgelöst werden können. Das Theater, das auf dem Festcharakter beruht und immer nur temporär stattfindet, zeigt nach Foucault vor allem die Vergänglichkeit der Heterotopien. Bezogen auf unser Aufführungsbeispiel existieren die Städte »Hiroshima« und »Nagasaki« zwar bereits vor dem Atombombenabwurf auf der geographischen Landkarte, aber ihre politischen, historischen, sozialen und kulturellen Positionierungen wurden erst nach dem Ereignis wahrgenommen. Die Stimmen, die von dem Ereignis sprechen, wurden politisch (aus)genutzt und in eine bestimmte Positionierung gezwungen oder blieben umgekehrt durch ein bewusstes Ignorieren ausgeschlossen. Matsudas Versuch einer theatralen Auseinandersetzung mit diesen Orten bringt die noch nicht verwirklichten Räume/Orte – wie zum Beispiel den gemeinsamen Ausstellungsraum von Hiroshima und Hapcheon – am Gemeinplatz des Theaters hervor. Um die Analyse zu präzisieren, ist es notwendig, zunächst auf ein Problem im Begriff der »Heterotopien« hinzuweisen. Die Idee der »Heterotopologie« hat zwar eine neuartige und wesentliche Sicht eröffnet, die es möglich macht, Überblendungen von verschiedenen Orten und Räumen zu betrachten und den Prozess des Entstehens und des Verschwindens

16 Vgl. Foucault, 2005.

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solcher Orte dynamisch zu begreifen. Foucault definierte aber die Begriffe »Ort« und »Raum« nicht präzise, und diese begriffliche Unklarheit erschwert bis heute die praktische Anwendbarkeit der Heterotopologie als »Wissenschaft«. Daher verstehe ich unter »Heterotopie« hier einen von vielen gesellschaftlichen Gegenorten und Gegenräumen,17 die sich gegenwärtig und gegensätzlich zu einem gegebenen Ort verhalten und als solche imaginiert und gebildet werden. Heterotopie in dem hier verstandenen Sinn ist bewusst intern differenziert in Orte sowie Räume, die sie einschließt, sofern sie Gegen-Orte und Gegen-Räume sind. Erst in jüngerer Zeit wurden in der Soziologie – durch den Historiker und Soziologen Michel de Certeau18 und die Soziologin Martina Löw19 – die Begriffe »Ort« und »Raum« genauer differenziert. Ihre Theorien haben eine erstmalige Analyse des Ortes und seiner Beziehung zum Raum ermöglicht. Certeau unterscheidet den Ort (lieu) vom Raum (espace): Ein Raum ist »die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden«.20 Ein Ort wird als das ordentliche Eigene (propre) von jemandem territorialisiert und ist »eine momentane Konstellation von festen Punkten«.21 Während Certeau einen Ort durch die Stabilität der Ordnung definiert, bestimmt er einen Raum durch die Beweglichkeit, die wiederum »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit«22 hervorbringt. In Bezug auf den Raum kann die Dimension der Zeitlichkeit, die in die Räumlichkeit eingeflochten ist, nicht ignoriert werden. Ein Raum ist daher »ein Geflecht von beweglichen Elementen«, also vieldeutig und instabil im Gegensatz zum Ort, der eine Eindeutigkeit und die identifizierbare Stabilität von etwas Eigenem besitzt. Certeau stellt den Raum mithin nicht als etwas Leeres, Geometrisches dar, sondern vielmehr als etwas Dynamisches.

17 Den Ausdruck »Gegenorte bzw. Gegenräume« zur Erklärung der »Heterotopien« verdanke ich einem Vorschlag von Josef Fürnkäs. Geläufig ist zwar die Übersetzung »andere Räume«, aber »Heterotopie« bedeutet nicht nur Räume, sondern auch Orte. 18 Vgl. Certeau, 1988. 19 Vgl. Löw, 2001. 20 Certeau, 1988, S. 217f. 21 Ebd. S. 218. 22 Ebd.

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Das französischeespace stammt – wie das englische space – vom lateinischen spatium, von dem sich auch das deutsche »spazieren« herleitet, also ein Wort für eine freie Bewegung. Im Gegensatz dazu wird mit dem deutschen Wort »Raum« eher die territoriale Bedeutung betont, wie im Grimm’schen Wörterbuch nachzulesen. 23 Wenngleich die deutsche Bezeichnung »Raum« und das französische espace nicht immer deutlich zu differenzieren sind, meint Certeau hier mit espace explizit den Raum der freien Bewegung. Der Raum ist also zwischen den bestimmten Zeitpunkten und Orten bzw. Standpunkten. Um dieses Raumverständnis vom territorialen zu unterscheiden, gehe ich in der vorliegenden Arbeit vom Raum als einem dynamischen Zwischenraum aus, der – anders als ein Territorium – nicht unbedingt in jemandes Besitz ist. Indem Certeau den Raum als »ein[en] Ort« definiert, »mit dem man etwas macht«, trennt er den Raum nicht vollkommen vom Ort. Festgelegte, identifizierbare Orte würden nach Certeau in Berichten sowie Erzählungen unaufhörlich in Räume und auch umgekehrt Räume in Orte verwandelt werden. In beweglichen Räumen können die einmal festgelegten Orte wieder in Bewegung gebracht werden. 24 Diese Betrachtungsweise des Ortes und des Raumes ist sehr hilfreich, um die sich nacheinander verwandelnden Bühnenräume sowohl als Gegenräume wie auch als Gegenorte zu analysieren. Martina Löw fasst die Beziehung zwischen Ort und Raum ebenfalls als dynamisch auf und verwendet dabei das deutsche Wort »Raum« nicht territorial, sondern im Sinn eines Zwischenraums in freien Bewegungen. Dabei definiert sie den Raum als eine emotionale Aktivität. Raum beschreibt sie zunächst folgendermaßen: »Raum ist eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung.«25 Das Spacing auf der einen Seite entspricht dem Vorgang, in

23 Vgl. Dünne und Günzel, 2006, S. 10. 24 Die Verschränkung der Orte und der Räume erläutern Deleuze/Guattari im Kapitel »Zum Ritornell« in Tausend Plateaus mit den Begriffen der Territorialisierung und der Deterritorialisierung. Vgl. Deleuze/Guattari, 1997, sowie das Kapitel 1-2. »Territorialisierung der Heimat des anonymen ›Wir‹« im ersten Teil der vorliegenden Arbeit. 25 Löw, 2001, S. 271.

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dem der Raum sich durch das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen sowie durch das Positionieren primär symbolischer Markierungen, die Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich machen, konstituiert.26 Die Syntheseleistung auf der anderen Seite ist derjenige Prozess, in dem über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden.27 Vor diesem Hintergrund begreift Löw den Ort als »Ziel und Resultat der Plazierung28«. Dabei spielt der Ortsname eine große Rolle: »Orte entstehen im Spacing, sind konkret benennbar und einzigartig. Die Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten«. In Voiceprints City wird das besonders anschaulich. Der Autor platziert seinen Vater, den Klang seiner Lederschuhe, die Steintreppe zum Elternhaus und die Straßenlaternen in einem Ensemble an dem auf dem Bildschirm gezeigten Ort in Nagasaki, synthetisiert sie über Erinnerungsprozesse mit dem Gefühl des Heimwehs und privilegiert den Ort auf diese Weise als einzigartigen Ort. Dieser Prozess wird durch die Stimme des Schauspielers dargestellt, der Matsudas Gefühle verlautbart. Dabei verbindet er die verschiedenen Elemente nicht nur in der Erzählung, sondern synthetisiert sie durch das in seiner Stimme körperlichsinnlich dargestellte Gefühl. In den Raumtheorien von Certeau und Löw wird der Raum einerseits als Zwischenraum unterschieden vom Ort als einem im Prozess der räumlichen Bewegung bestimmten Punkt, der mehr oder weniger die Weite zur Bewegung bietet und sich stark mit der Zeitlichkeit verbindet: Wir können im Raum und am Ort sein. Demnach öffnet sich der Ort, an dem das Theater steht, immer für heterogene Räume, die außerhalb liegen; allerdings wird die Öffnung erst durch Theateraufführungen ermöglicht, weil die Aufführungen bewegliche und verwandelbare bzw. performative Räume29 bilden, die wiederum heterogene Orte entstehen lassen. Die Stimme erzeugt zuallererst ihren Hörraum als Zwischenraum zwischen den Appellierenden und den Hörenden. Der Hörraum der Stimme

26 Vgl. ebd., S. 158-159. 27 Vgl. ebd. 28 Ebd., S. 198. 29 Fischer-Lichte unterscheidet den performativen Raum, der flüchtig und transitorisch nur in der Aufführung hervorgebracht wird, vom geometrischen Raum, in dem eine Aufführung stattfindet (Fischer-Lichte, 2004, S. 187f.).

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verändert sich dabei stetig. Die Stimme ist nicht als ein statisches Objekt, sondern als ein vergängliches Ereignis zu begreifen. Die Ereignishaftigkeit der Stimme wird von Kolesch und Krämer folgendermaßen beschrieben: »Kaum ausgesprochen, ist ein Laut auch schon verschwunden. Die den Augenblick ihrer Entäußerung überschreitende Wirksamkeit der Stimme liegt alleine darin, dass die Stimme von anderen wahrgenommen und aufgenommen wird.«30 Das bedeutet zugleich, dass »die Stimme niemals allein vom Ort des Subjekts her analysiert werden kann, sie ist kein Objekt, das vom erkennenden Subjekt trennscharf zu scheiden wäre.« 31 Wenn die Wirksamkeit von Stimmen in ihrem Einfluss auf die Prozesse der Entstehung von Orten befragt wird, dann müssen auch die zwischenräumlichen Prozesse der Wahrnehmung und der Rezeption der Stimme behandelt werden. Nach dieser Auffassung der Stimme scheint mir der Hinweis auf die grundsätzliche Vergänglichkeit der Stimmen im Theaterraum sehr produktiv zu sein, um den Ort nicht als apriorisch gegeben zu betrachten, sondern die dynamischen Prozesse seiner Konstruktion und Dekonstruktion zu analysieren. Die Stimme gilt zwar als Trägerin von Authentizität, wogegen sich bekanntlich Derrida mit seiner Kritik am Logophonozentrismus wandte. Diese Auffassung verhüllt jedoch, dass die Stimme nur durch technische und körperliche Künste ihre Wirkung entfalten kann, auch wenn diese Wirkung nachhaltig zu sein scheint. Eine Analyse der theatralen Stimminszenierung muss diese Funktion der verborgenen Künste enthüllen, die den vergänglichen Stimmen Identität, Authentizität und Nachwirkung sichern sollen. Meiner Ansicht nach eröffnet also die Analyse der theatralen Stimminszenierungen, die zu Orten in Beziehung treten, eine Perspektive, um die Vergänglichkeit der Stimmen und die Mutabilität des stimmlichen Prozesses als unausweichliche und wesentliche Bedingungen für den Entstehungsprozess des Ortes zu betrachten. Im stimmlichen Zwischen- bzw. Hörraum können zwei Orte vernommen werden: Der Entstehungsort der Stimmen bzw. der Standpunkt der Appellierenden und der Versammlungsort bzw. Treff- und Berührungspunkt der Appellierenden und Hörenden. Diese beiden Orte, die als aufeinander abgestimmte Punkte begriffen werden, dürfen nicht mit dem Raum verwechselt werden, der unaufhörlich in Bewegung ist. Die oben genann-

30 Kolesch/Krämer, 2006, S. 11. 31 Kolesch, 2003, S. 270.

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ten, stimmlich erzeugten Orte entstehen durch den stimmlichen Atopos, der den nicht lokalisierbaren Ort der Frage darstellt. Daher sind weder der Entstehungsort der Stimmen noch der Versammlungsort endgültig bestimmbar, sondern sie sind stets zu suchende Elemente. Gesucht werden dabei jedoch keine konkreten Räume, sondern lediglich Punkte, Stand-, Treff- und Berührungspunkte. Die Orte sind in diesem Sinn zwar noch nicht bestimmbar, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht existierten. Die Atopie steht im stimmlichen Zwischenraum als der Anhaltspunkt für beide Orte. Wir als Zuhörende nehmen den Atopos in der Stimme Ophelias/des erbenlosen Kindes wahr, der uns danach fragen lässt, wo das appellierende Du sich befindet oder wo eigentlich »Nagasaki« ist. Diese Frage richtet sich dabei jeweils auf den Standpunkt von »du« und auf »Nagasaki« als Versammlungsort. Den Zwischenraum hat in einem geographischen und kulturellen Kontext der Ethnologe Marc Augé mit dem Ausdruck Nicht-Ort32 belegt. Augé, der kein Ethnologe exotischer Fernen ist, sondern »Ethnologe des Nahen« genannt wird, schlägt mit diesem Neologismus vor, nicht einzelne, kulturell begrenzte Orte zu erfassen, sondern Orte dazwischen, die man dann allerdings nicht mehr »Orte«, sondern eben Nicht-Orte nennen muss. »[Der Nicht-Ort steht] im Unterschied zum soziologischen Begriff des Ortes, den Mauss und eine ganze ethnologische Tradition mit dem Begriff einer in Zeit und Raum lokalisierten Kultur verknüpft haben. Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert.«

33

Solche Nicht-Orte sind global und neutral. Sie zeigen nicht sich selbst, weil sie keine eigene örtliche Besonderheit besitzen. Die Nicht-Orte verbinden vielmehr in einer Position in der Mitte verschiedene Orte miteinander und sind in diesem Sinn als mediale Räume zu verstehen. Auch der Hörraum der Stimmen kann insofern als ein Nicht-Ort wahrgenommen werden, als die Stimmen etwas übertragen, indem sie sich neutralisieren und indem ihr

32 Vgl. Augé, 2011. 33 Ebd., S. 42.

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Hörraum in der Mitte zwischen anderen Orten liegt. Wo allerdings die Neutralität selbst Eigenwert hat – Augé beschreibt am Anfang seines Buches, wie ein Mann die Zeit im Flugzeug genießt –, kann dieser Eigenwert im Gefühl einer zentrifugalen Freiheit bestehen. Atopie hingegen hat ein zentripetales Punctum, obwohl dessen Stelle sich nie zu klären scheint.34 Aufgrund der begrifflichen Präzisierung von »Ort« und »Raum« kann dargelegt werden, welche Vor- und Nachteile die Topologie aufweist und inwiefern sie für eine Aufführungsanalyse tauglich ist. Nachdem Foucault in einem Essay35 nach seinem Radiovortrag über die »Heterotopien« die wissenschaftliche Kehrtwende zur Raumtheorie proklamiert hatte, konnte er in einem Gespräch über Geographie 197636 die Bedeutsamkeit der räumlichen Betrachtungsweise in der Wissenschaft klarer begründen: Allein mit zeitlichem Vokabular kann ein Diskurs lediglich Denkmodelle der innerlichen Wandlungen eines individuellen oder gemeinsamen Bewusstseins beschreiben. Dagegen ermöglicht es ein räumliches bzw. territoriales und taktisches Vokabular, in, durch und aus Machtverhältnisse(n) Wandlungen von Diskursen zu begreifen. Mit anderen Worten geht es bei Raumtheorien um Verhältnisse im und zum Außen, während Zeittheorien auf innerliche, lineare Veränderungen zielen. Das bei reinen Zeittheorien ausgeschlossene Außen wird dann als Heterotopie bzw. in Form von Gegenräumen/Gegenorten in den Theaterraum gebracht. Um allerdings die ausgeschlossenen Orte/Räume am Theater zu vergegenwärtigen, sind mediale Operationen nötig, die Erinnerungen an ein Ereignis aufrufen. In Hiroshima-Hapcheon wurde der Erinnerungsprozess nicht nur durch die Vermittlung von Diskursen, sondern auch durch die (Re-)Präsentation der Struktur eines Museums provoziert, dessen Ausstellungsobjekte von einem örtlich bestimmten Ereignis berichten sollen. Nach Stephan Günzel, einem Befürworter des ›topological turn‹, geht es in der Topologie darum, »die Entsprechungen im Verschiedenen zu beschreiben« oder um »die Identifikation einander ähnlicher Strukturen«.37 Auf unserem Kontext angewandt: Durch das theatrale Spiel wurde in einem Hörsaal eine

34 Zum Zusammenhang zwischen Atopie und Punktum siehe Kapitel 3-5. »Atopos der ent-setzenden Stimmen« im ersten Teil dieser Arbeit. 35 Foucault, 1990. 36 Foucault, 1976. 37 Günzel, 2007, S. 21.

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dem Friedensmuseum in Hiroshima ähnliche Struktur (re-)präsentiert. Geleitet durch die schon bekannte Struktur des Museums können die Besucher, die am Anfang irritiert schienen, nach und nach einem eigenen »Rundgang« entdecken. Wie schon an Günzels Definition und am Vokabular des »Rundgangs« im Museum zu bemerken ist, operiert jede Topologie als eine Art der Analogie, die eng mit der Metapher zusammenhängt. Die Analogie ist eine theoretische Operation zur »Entdeckung von Unbekanntem durch Bekanntes«,38 bei der – im Gegensatz zur Deduktion – induktiv »von einem Einzelfall auf einen anderen geschlossen wird, und zwar nicht aufgrund einer allgemeinen Regel […], sondern aufgrund eben einer Ähnlichkeit zwischen den Einzelfällen.«39 Besonders bedeutsam ist dabei, dass die Analogie unabhängig von einer allgemein gültigen Regel existiert, weil zwischen verschiedenen bzw. linear aufeinander verweisenden Objekten keine solche Regel vorausgesetzt werden kann. Das Ergebnis der Analogie kann daher lediglich Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Diese konstitutive Wahrscheinlichkeit der Analogie muss stets beachtet werden. Das mahnte Jacques Derrida an, als er beispielsweise die Verwendungsweise der Metapher bei Martin Heidegger kritisierte, der territoriale Metaphern wie Heimat oder Erde nicht nur als bloß wahrscheinliche Analogien behandelte, sondern sie teilweise als vorauszusetzende Regeln annahm und in diesem Punkt entscheidend irrte. 40 Weder die Aufführung von Hiroshima-Hapcheon noch ihre Analyse dagegen sollen sich einer originalen Struktur des Museums anpassen, sondern sie bringen sie spielerisch hervor und verwandeln sie dadurch. Die beiden Einzelfälle wirken aufeinander und konstruieren schließlich einen besonderen Denkraum, der das theatrale Geschehen mit Hilfe der Struktur eines anderen Einzelfalls (Hiroshima) codiert, indem das theatrale Geschehen wiederum die Struktur des realen Geschehens in Frage stellt. Im ersten und zweiten Teil der vorliegenden Arbeit werde auch ich einige Metaphern einsetzen, die stimmliche Machtverhältnisse ausdrücken, wie z.B. das Echo, die Sirene, den »Jasager« oder auch Zustände wie das Zaudern oder das Warten. Diese Metaphern sind allerdings weder Urbilder noch normative Modelle, sondern sie bieten Anhaltspunkte und As-

38 Villers, 2008. 39 Ebd. 40 Vgl. Derrida, 1998.

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soziationsräume zu den jeweiligen Analysen, die in jedem theatral gebildeten Kontext anders ausfallen.

2-3. S TIMME

ALS

M EDIUM

DES

O RTES

Folgt man Foucaults Ansatz, so können auch Theateraufführungen dem Publikum verschiedene Orte präsentieren und es sogar an diese Orte entführen, seien es aktuelle, schon vergessene oder lediglich virtuelle. Obwohl die realen Orte selbst nicht zu transportieren sind, kann man so den Orten in einem weit entfernten Theater nachspüren.41 Die Inszenierung Hiroshima-Hapcheon hat einen Ort namens »Hiroshima« theatral »hervorgebracht«, der allerdings durch ein Ereignis bereits vordefiniert war. Durch die »Berichte« werden unterschiedliche latente Standpunkte an den Ort im Hörraum übertragen. Die Figur des »Berichtenden« erinnert hier an eine metaphorische Figur: den »Boten«. Diese Figur behandelt Sybille Krämer im Rahmen ihrer Medientheorie, die Medien nicht allein nach dem Vorbild sprachlich-symbolischer Strukturen oder technischer Apparate, sondern ausgehend von der jeweiligen Funktion her zu definieren sucht. Die konstruktive Funktion des Mediums folgt demnach der Logik des Boten, vor allem mit Blick auf die Übertragung. Die Position des Boten erklärt Krämer so: »Der Bote steht zwischen verschiedenartigen Welten und bringt kraft seiner Position in deren Mitte und als deren Mittler einen Austausch in Gang.«42 Diese Mitte ist allerdings »weniger als Mittelpunkt und Zentrum zu begreifen, vielmehr als ein Zwischenraum, als die Positionierung eines Dritten, welches inmitten zwischen zwei Seiten (Feldern, Systemen...) situiert ist und dem daher die Rolle des Mittlers zufällt, der Verbindung, Austausch und Interaktion zwischen heterogenen Welten

41 Umgekehrt ist uns ein Ort nicht immer bewusst, auch wenn wir uns tatsächlich dort befinden. Das wird gerade am Ort eines Theatergebäudes deutlich, der ohne eine auf ihn bezogene Inszenierung in der Aufführung kaum eine Rolle spielt. Ein Ort ist zwar nicht transportierbar, aber seine Begrenzung kann auch an einem anderen Ort erfolgen. Dabei müssen der Ort und der Raum dezidiert unterschieden werden. Der Raum ist für eine Aufführung immer wesentlich, nicht aber der Ort. 42 Krämer, 2008, S. 69.

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stiftet.«43 Die Boten, im Fall unseres Stückes die »Berichtenden«, situieren sich in einem Zwischenraum und verbinden durch die Übertragung heterogene Welten: Hiroshima, Hapcheon, die USA, Polen – und Tokyo, wo die Aufführung selbst stattfand. Die einzelnen Berichtenden sind »Boten«, die etwas von den abwesenden, heterogenen Orten durch ihr inszeniertes DaGewesen-Sein übertragen und den Ausstellungsstücken im Friedensmuseum durch ihre Performances eine gewisse Authentizität verleihen. Krämer stellt fest, dass das Botenwort von einer Art feudaler Realpräsenz seines Herrn zehre und die Stimme des Boten die Stimme desjenigen sei, für den der Bote als Vasall spreche. Die Berichtenden in unserer Aufführung erhalten die Qualifikation des Berichtens nur, indem sie nicht von sich selbst, sondern von den besuchten Orten sprechen. Der »Herr« der Berichtenden ist allerdings keine Person, sondern es ist der reale Ort, der in diesem Fall aus bestimmten Diskursen von bestimmten Standpunkten besteht, ohne jedoch Klischees zu bedienen. »Im Körper des Boten ist sein Auftraggeber nicht nur repräsentiert, sondern ein Stück weit anwesend und gegenwärtig gemacht.«44 Durch die mediale Performanz können nicht nur diskursive Informationen, sondern auch der berichtete Ort »Hiroshima« im theatralen Raum gegenwärtig gemacht werden. Das ist möglich, weil bestimmte Topoi dieses Ortes vom Museum verkörpert werden und dadurch eine Figur 45 des Ortes entsteht. Die Figur des Ortes wiederum – hier in Form des Museums – wird von den Berichtenden gegenwärtig gemacht, indem sich eine Repräsentation des Ortes durch den Akt des Berichtens vollzieht und dieser in der Imagination zur Vorstellung gelangt. Einige der Berichtenden und vor allem jene mit der leise flüsternden Stimme lassen aber den »Auftraggeber« der Boten nicht klar erkennen. Vielmehr muss der, der das Flüstern hört, den Absender des Boten selbst rekonstruieren.46 Dieses erweiterte bzw. modernisierte Botenkonzept kristallisiert sich laut Krämer in der Figur der Spur heraus: »Bote und Spur verhalten sich zueinander wie die Vor- und Rückseite jenes Blattes, das

43 Ebd., S. 82. 44 Ebd., S. 70. 45 Vgl. Kapitel 3-3. »Hörraum als akustische Figur« in der »Hinführung« dieses Bandes. 46 Vgl. Krämer, 2008, S. 87.

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vom Übertragen handelt«47, indem beide sich in der »Mitte« positionieren. Während der Bote durch die Macht des Absenders den Adressaten strukturiert, rekonstruiert der Spurenleser einen Absender, der abwesend bleibt. Spuren werden allerdings nicht willkürlich vom Absender oder vom Spurenleser gezogen, sondern sie sind immer schon unwillkürlich hinterlassen. »Sie zeigen sich im und am Material. Spuren gehören der Welt der Dinge an«48. Spuren lassen sich erst durch ihre nicht-neutrale, signifikante Materialität lesen, während der Bote gerade durch seine Selbstlosigkeit und Neutralität als Medium seine Aufgabe erfüllt. Die Spur steht an der Schwelle, an der Sinn aus Nichtsinn auf der Grundlage von Materialität entsteht. In diesem Punkt unterscheidet sich die Spur vom Zeichen. Die Berichtenden in Hiroshima-Hapcheon können aus diesen beiden Perspektiven aufgefasst werden: Konzeptuell gesehen stehen sie, durch ihr inszeniertes Da-Gewesen-Sein an einem geographisch und politisch umrissenen Ort, für eine gewisse Authentizität. Sie übertragen die allgemeinen Topoi des Ortes, die der Ortsname evoziert, und machen den Ort gegenwärtig. Die Berichtenden dürfen nur deswegen »ausgestellt« werden, weil sie nicht ihre eigene subjektive Geschichte, sondern nur die Topoi eines bestimmten Ortes thematisieren. Diese Seite der Berichtenden ist im Sinne des Boten aufzufassen. Wenn ihre Stimmen jedoch wahrnehmbar werden, sind die Berichtenden als Performer nicht mehr neutral. Die Stimmen lassen sich in und an ihrer Materialität bzw. Körperlichkeit als Spuren des »atopischen Zwischenraums«49 lesen. Die Besucher als Spurenleser können insbesondere von der extrem leisen Stimme keine diskursiven Topoi erfahren, sondern nur akustisch die Ohnmacht der Erzählung von einem ungewissen Ort spüren.50 Emmanuel Lévinas schreibt: »die Spur ist die Gegenwart des-

47 Ebd., S. 85. 48 Krämer, 2007, S. 15. 49 Vgl. Kapitel 1-3. »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« dieses Bandes. 50 Das Verb »spüren« und das Nomen »Spur« sind etymologisch eng verbunden (vgl. ebd., S. 13). Wenn ich in der vorliegenden Arbeit das Verb »spüren« benutze, meine ich damit »Spur verfolgen«. Allerdings wird »spüren« im theaterwissenschaftlichen Kontext meist zur Bezeichnung einer Wahrnehmung verwendet, die nicht auf einen Sinn – wie Sehsinn oder Hörsinn – zurückgeführt werden kann (vgl. Schouten, 2007). Um begriffliche Verwirrung zu vermeiden,

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sen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist«.51 Die Stimme lässt das zerstreut und diffus erinnerte Gedächtnis der Stadt im Theaterraum gegenwärtig werden, indem sie selbst verklingt und ihre Spur im Hörraum bzw. im Raum des Wahrnehmens hinterlässt. Die Stimmen in der Aufführung vermitteln somit nicht nur einen bestimmten Ort, der begrenzt und definiert ist, sondern sie stellen selbst eine Schwelle dar, die wiederum die Topoi der Orte (de-)konstruiert. Die räumliche Gegenwart ist innerhalb des theatralen Raumes, nämlich in Form des Museums, leiblich zu spüren. Allerdings fühlt man dabei – mit Begriffen aus Hermann Schmitz’ »Neuer Phänomenologie« formuliert, die sich der reduktiven Voraussetzung eines intentional wahrnehmenden Subjektes der »alten« Phänomenologie zu entziehen versucht – den eigenen Leibkörper im zeitweiligen Hörraum eingebettet.52 Der vorgefundene Ort des sinnlich Wahrnehmenden wird erst durch den um ihn herum ausgebreiteten Raum erfahren. Der leibliche »Ort« des Spurenlesers kann demgemäß nur in einer räumlichen »Weite« wahrgenommen werden. Der Spür-Raum – hier vor allem der Hörraum der Stimmen –, in dem ein spürendes Subjekt entstehen kann, wird selbst zum Zwischenraum – zwischen dem, der Spuren liest, und dem, der sie hinterlässt. Er wird zu einer diffusen und zerstreuten Entität und damit zur Atopie. Als Spur verhallen die Stimmen im Zwischenraum zwischen dem einen und dem anderen Standpunkt. Ihr medialer und körperlicher Hörraum vergegenwärtigt für die Zuhörer einen heterogenen Zwischenraum. Wird die Aufmerksamkeit dabei auf die Körperlichkeit der Stimme gelenkt, so stört diese Körperlichkeit dabei, die raison d’être der Stimme auf ein treues und brauchbares Bote-Sein zurückzuführen. Denn die Körperlichkeit, die jenseits des sprachlich Erklärbaren liegt, lässt die Nichtqualifizierbarkeit der Stimme wahrnehmen. Ließe sich im Gegenteil die Körperlichkeit der Stimme neutralisieren, als ob sie ein völlig transparentes Medium wäre, so könnte die Stimme mit einem Boten identifiziert werden, der die Hörenden zum vorgegebenen und repräsentierten Ort zurückbringt. Gerade diesen Aspekt der Stimme als Bote des Geistes hat Jacques Derrida als einen As-

wird ein Wahrnehmen der Spur, das vor allem auf dem Hörsinn basiert, hier als »Akustisches Spüren« bezeichnet. 51 Lévinas, 1983, S. 211. 52 Vgl. Schmitz, 2009.

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pekt des Phonologozentrismus kritisiert, aber in unserem Zusammenhang zielt Derridas Kritik auf einen Aspekt der Stimme, der zwar konzeptuell denkbar ist, tatsächlich aber nicht perfekt, sondern immer nur unvollständig verwirklicht wird. Denn jede Stimme hat ihre eigene Körperlichkeit, die ihr Bote-Sein untergräbt, ein Umstand, den Derrida zu gering eingeschätzt hat. Worauf ich das Augenmerk richten möchte ist weniger ein allein auf den Logos hin orientierter Aspekt der Stimme, sondern vielmehr die atopische Stimme im Übergangs- und Verwandlungsprozess. Wenn die Stimme als Medium betrachtet wird, darf ihre immanente Wiederholungsstruktur nicht übersehen werden. Die Stimme muss unabänderlich sowohl ein Gegebenes, etwa die Absichten eines Absenders, als auch ein Differentes, etwa eine Körperlichkeit oder einen Zwischenraum wiederholen. Anders gesagt repräsentiert die Stimme als Bote einen Absender als anwesend, während sie als Spur zugleich die Abwesenheit des Absenders präsentiert und sich erst dadurch die Spur des Absenders als eines Abwesenden verfolgen lässt. Einerseits wird die Stimme unter dem Aspekt des Boten überhaupt erst hörbar, da sie von vornherein erwartet wird. Der Zuhörende setzt die Stimme des Absenders voraus, und umgekehrt setzt der Absender in der eigenen Stimme bereits den Zuhörenden voraus, insofern er seine Stimme an diesen adressiert. Vorgängig sind dabei jeweils bestimmte, gemeinsam verwendbare Codes. Codes werden – der Definition des Medientheoretikers und Phänomenologen Vilém Flusser folgend – für die menschliche Kommunikation hergestellt, um gegen Einsamkeit, Tod und Entropie aufzubegehren. Solange die Codes wirksam sind, erscheint es glaubhaft, dass man eine Stimme hört, die allerdings nur der Stellvertreter eines Anderen ist. Andererseits wird die Stimme als Spur gerade in der Nachwirkung hörbar. Die Nachwirkung der Spur kann durch eine physisch nur einmalig erklungene Stimme intensiviert werden. Genau diese Intention verfolgen schauspieltheoretische und -technische Stimmkünste.53 Diese Wiederholung, die jeweils Differenzen in sich hervorbringt, besitzt konstitutiv ein transformatives Potenzial. Als Spur setzt die Stimme die gegebenen Codes nicht einfach voraus, sondern sie schafft selber Codierung.54 Die Stimme überträgt nicht nur codierte Zeichen, sondern etwas (noch) nicht Codiertes. Roland Barthes benennt in diesem Zusammenhang

53 Zur Intensität von Stimmen vgl. Schrödl, 2012. 54 Zum Begriff des Codes vgl. Flusser, 2007.

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drei Formen des Zuhörens:55 Er beginnt mit dem Zuhören als Reaktion auf einen Alarm bzw. ein Wiedererkennen. Damit ist gemeint, dass Tiere auf das (mögliche) Geräusch eines Feindes oder einer Beute horchen, oder ein Baby auf Schritte, die vielleicht die seiner Mutter sind. Zweitens führt Barthes das Zuhören als ein Entziffern an. Ähnlich dem Akt des Lesens handelt es sich dabei um einen Prozess der De-Codierung, d.h. man entziffert codierte Zeichen und fügt sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Dann beschreibt Barthes eine dritte Form des Zuhörens: »Das dritte Zuhören ist schließlich ein sehr moderner Ansatz (was nicht heißt, daß es die anderen zwei ersetzt) und zielt nicht – oder wartet nicht – auf bestimmte, klassifizierbare Zeichen: nicht darauf, was gesagt oder gesendet wird, sondern wer spricht oder sendet: Es soll sich in einem intersubjektiven Raum entfalten, in dem »ich höre zu« auch heißt ›höre mir zu‹; was es erfaßt, um es zu verwandeln und endlos in das Spiel der Übertragung einzubringen, ist eine allgemeine ›Signifikanz 56

[Sinnbildung]‹ [...]«

Dieses dritte Zuhören versucht nicht, den Inhalt des Gesagten nach Codes zu identifizieren, die etwas als Zeichen klassifizieren. Vielmehr wird die Spur des Appellierenden selbst verfolgt, ohne jemanden oder etwas zu erwarten. Erst im Prozess des Zuhörens bildet sich der Sinn des Gehörten. Ein solches Zuhören ist vor allem im postdramatischen Theater (oder auch in Sound Art) zu finden, das den gegebenen Theatertext nicht werkgetreu repräsentiert, sondern die Stimme außerhalb des Sprechens hervorhebt und den intersubjektiven Raum bzw. Zwischenraum zwischen der Bühne und dem Publikum mitbedenkt. Interessanterweise können wir jedoch alle drei Arten des Zuhörens im Theater finden. Wenn wir der schönen Stimme unseres Lieblingssängers in der Oper zuhören, entspricht dies der ersten Art des Zuhörens. Wenn wir einer interessanten Passage in einem Drama zuhören, erscheint das Zuhören hingegen als ein Entziffern, bei dem wir im Geist den jeweiligen Inhalt sinngemäß zusammensetzen und dem entsprechenden Drama zuordnen.

55 Barthes unterscheidet zwischen dem Zuhören und dem Hören folgendermaßen: »Hören ist ein physiologisches Phänomen; zuhören ein psychologischer Akt«, Barthes, 1990, S. 249. 56 Ebd.

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Wir hören dabei aber nicht nur den diskursiv übermittelten Orten zu, sondern auch jenen Orten, die »intersubjektiv« erst im stimmlichen Zwischenraum gebildet werden. Diese stimmlich erst zu erzeugenden Orte – der Entstehungsort der Stimme und des theatralen Versammlungsortes – werden durch das dritte Zuhören gebildet. Mit dem Titel »Ortlose Stimmen« meine ich genau diese besondere Örtlichkeit der Stimme, die nicht-örtlich oder atopisch genannt werden kann, während sie zugleich ganz bestimmte Orte – den Entstehungsort der Stimme und den theatralen Versammlungsort – erzeugt. Wenn die Stimme nicht mehr als bloße Trägerin eines Diskurses gehört wird, dann wird ihre Atopizität auffällig. Dabei ist die Stimme durch die einzigartige, aber nicht qualifizierbare Körperlichkeit des Appellierenden vernehmbar, ohne entziffert zu werden. Solange die Stimme etwas als Medium überträgt, kann ihre Nicht-Örtlichkeit eine Rolle spielen. Im Theater macht die mediale und performative Stimme »Heterotopien« gegenwärtig, die einen Gegensatz zum Bühnenraum und zum Standort des Theaters bilden. Diese Gegenwärtigkeit und zugleich Gegensätzlichkeit der heterotopischen Hörräume kann topologisch begriffen werden. Die Stimme ist allerdings seit der Antike derart unterschiedlich definiert worden, dass eine eindeutige und allseits akzeptierte Definition kaum noch möglich scheint. Um die Stimme zu behandeln, möchte ich mich daher nicht auf andere Elemente der Sprache und des Sprechens wie den Diskurs oder das Subjekt der Rede beziehen, die eine kaum weniger große Vielfalt an traditionellen Definitionen hinzufügen würden. Stattdessen möchte ich mich mit Blick auf dieses atopische Sein von Stimmen auf ihre eigentümlichen Orte konzentrieren. Erst durch eine Analyse der Prozesse, in denen Stimmen sich verändern, wird es möglich werden, die dynamischen Entstehungs- und Auflösungsprozesse solcher Orte zu beobachten.

3. Stimmgeste

Im vorigen Kapitel habe ich drei theoretische Betrachtungsweisen der im Theater Orte erzeugenden Stimme getrennt voneinander vorgestellt: die relationale, die topologische und die mediale. In konkreten Aufführungen sind die drei Aspekte allerdings auf eine spezifisch theatrale Weise miteinander verknüpft. Um die stimmlichen Funktionen zu analysieren, möchte ich im Folgenden in verschiedenen konkreten Aufführungsbeispielen jeweils eine stimmliche Geste der Darstellenden beschreiben, die als Medium im relationalen Zwischenraum des Theaters einen Ort überträgt und dabei mittels dieser Übertragung erst erzeugt. Die Geste übermittelt einen Ort medial und stellt im Hörraum eine Relation zwischen den Appellierenden und den Zuhörenden her. Die stimmliche Geste, die einen Ort überträgt und in diesem Sinn ein Außen in den Theaterraum bringt, möchte ich topologische Stimmgeste nennen. Dieser Begriff der »Geste« macht es möglich, konkrete zwischenmenschliche Relationen zu analysieren, anstatt die Stimme mit einer bestimmten Person zu identifizieren. Weiterhin ist der Begriff der »Geste« zu präzisieren: Der Begriff »Geste«, der historisch unterschiedlich verstanden und ausgelegt wurde, wird im zur Zeit neuesten Lexikon der Theaterwissenschaft definiert als »eine wiederholbare Bewegung bzw. Haltung des menschlichen Körpers oder seiner Glieder, die als signifikant angesehen wird«.1 Im Kontext dieser Arbeit beschränke ich den Begriff allerdings nicht auf die optisch wahrnehmbare Körperbewegung/-gebärde bzw. Körperhaltung, sondern begreife ihn im Rahmen eines körperlichen Mediums, das nicht nur optisch, sondern auch akustisch vermittelt. In jedem Fall ist eine Geste zugleich wiederhol-

1

Kuba, 2014, S. 136.

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bar und zitierbar. Dieses Merkmal, das Walter Benjamin dem epischen Theater Brechts zusprach, 2 erweist sich auch für das postdramatische Gegenwartstheater als treffend.3 Vor der Wiederholbarkeit und Zitierbar-

2

Vgl. Benjamin, GS. Bd. 2-2. Im Folgenden wird ausschließlich die Bandnum-

3

Ausgehend von Benjamins Formulierung »Einen Text zitieren schließt ein, sei-

mer zitiert. nen Zusammenhang zu unterbrechen« erläutert der Kulturwissenschaftler Samuel Weber Benjamins spätes Gestenverständnis wie folgt: »Damit korrigiert Benjamin seine eigene, frühere Bestimmung der Geste als bloße Unterbrechung, welche die Zeit gleichsam suspendiert. Was die Geste unterbricht, ist nicht die Zeit als solche, und auch nicht ihre Auffassung als Medium eines zielgerichteten Fortschrittes. Sie tut das, aber sie tut etwas noch bedeutsamer: sie unterbricht sich selbst. Die Geste unterbricht sich selbst indem sie sich einerseits fixiert, d.h. an einer ganz bestimmten Stelle vorkommt, während sie als Zitierbares zugleich sich in einer doppelten Verweisung aufspaltet: als Zitierbares weist sie zugleich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft.« (Vortrag von Samuel Weber im Jahr 2004) Für meine Analyse ist der Hinweis wichtig, dass die Geste sich beim Zitieren selbst unterbricht und medial auf unterschiedliche Zeitpunkte gleichzeitig verweist. Denn die »Unterbrechung« bzw. Trennung vom Original ist eine für die Stimme konstitutive Eigenschaft, sofern die Stimme als Spur verstanden wird. Stimmgesten bleiben nicht genau wie ein Original, sondern sie werden von immer anderen Körpern und in jeweils unterschiedlichen Relationen aufgeführt und dadurch verändert. Und wie die Geste zugleich auf unterschiedliche Zeitpunkte verweist, weist die Stimmgeste auf unterschiedliche, voneinander entfernte Orte und Räume zugleich hin. Weber (wie auch Benjamin) verwendet allerdings den Gestenbegriff in einem durchweg optischen Denkmodell und betont daher die »Fixierbarkeit« der Geste. Die von Weber genannte Eigenschaft der »Fixierbarkeit« entspricht nicht der Stimmgeste, die immer prozessual bleibt. Dennoch wird eine Stimmgeste anhand der Analogie zur jeweiligen stimmlichen Relation zitierbar, mit der in jeder Aufführungsanalyse argumentiert wird. Ich verdanke die Idee der »Zitierbarkeit der Geste« der Präsentation »Geschichte Aufführen.
Die Aneignung der Vergangenheit im zeitgenössischen japanischen Theater« von Andrea Hensel (April 2015, Keio-Universität Tokyo). Mit Walter Benjamin, Freddie Rokem und Günther Heeg weist Hensel auf, dass die Geste vergangene Geschichte zitieren kann, indem sie zugleich die Linearität und Ganzheitlichkeit der Ge-

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keit möchte ich an dieser Stelle jedoch zunächst auf die Medialität der Geste eingehen. Wie im Zusammenhang mit Krämers Medientheorie erwähnt, umfasst die Medialität der Geste nicht bloß Aspekte der Aktualisierung einer schon etablierten Symbolik wie beim Boten, sondern auch Aspekte der Produktion einer Symbolik wie bei der Spur. Hans-Thies Lehmann betont die Abkehr der postdramatischen Geste von der zielgerichteten, botenhaften Repräsentation. Er sieht eine solche Geste als Merkmal des postdramatischen Körpers und definiert sie im Sinne von Giorgio Agambens »Noten zur Geste«, die mit Bezug auf Walter Benjamins Gewalttheorie verfasst wurden:4 »Geste ist das, was in jeder zielgerichteten Handlung unaufgehoben bleibt: ein Überschuß an Potenzialiät, die Phänomenalität gleichsam blendender, nämlich den nur ordnenden Blick überbietender Sichtbarkeit – möglich geworden, weil keine Zwecksetzung und keine Abbildlichkeit das Reale des Raums, der Zeit und des Körpers schwächt. Der postdramatische Körper ist ein Körper der Geste, wenn man versteht: »Die Geste ist eine Potenz, die nicht in den Akt übergeht, um sich in ihm zu erschöpfen, sondern als Potenz im Akt verbleibt und in ihm tanzt.«

5

In Hinblick auf die postdramatische Definition der Geste weist Doris Kolesch darauf hin, dass solche jüngeren Überlegungen »die Produktivität der Geste« hervorheben, 6 während klassische Konzeptionen der Geste diese

schichte unterbricht. Denn die gestischen Zitate werden »ihrem Gesamtzusammenhang entrissen, neu zusammengesetzt und dadurch in einen neuen Kontext gesetzt«. 4

Agamben, 2006: »Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem. Sie lässt das In-einemMedium-Sein [l’essere-in-un-medio] des Menschen erscheinen [...]« (S. 54). »So lebt in der Geste die Sphäre nicht eines Zwecks in sich, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck, die sich den Menschen mitteilt.« (S. 55).

5

Lehmann, 1999-1, S. 375.

6

Agambens Hinweis, dass die Geste immer eine überschüssige Potenz bewahrt, ist zwar ein wichtiger, innovativer Gedanke in der Begriffsgeschichte der Geste. Aber bei einer performativen Aufführung reicht es nicht, zu wissen, dass die »Geste«, ohne in den Akt überzugehen, in der Potenz verweilt, sondern es ist auch zu betrachten, wie wir der Potenz der Geste im theatralen Raum auf die

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»als Expression, als Ausdruck von Innerlichkeit« verstehen.7 Die Geste des Berichtens wird im Theaterstück Hiroshima-Hapcheon nicht erschöpfend ausgeführt. Die Performer berichten zwar von Hiroshima und Hapcheon, aber dadurch wird weniger die Darstellbarkeit der Ereignisse der Städte betont, als vielmehr ein Überschuss in der Potenzialität des Berichtens. Die Besucher vernehmen so eher die Undarstellbarkeit der Geschichte der Städte. Für den hier gebildeten Begriff der »topologischen Stimmgeste« ist der Begriff der »Geste« insofern sinnvoll, als die Geste uns medial eine Spur verfolgen lässt, ohne die Potenzialität des Weiterfragens zu verlieren. Daher kann man sagen, dass die atopische Stimme immer schon konstitutiv gestisch ist. Hinzu kommt eine weitere Eigenschaft der Geste, nämlich ihre Wiederholbarkeit, die sie in unterschiedlichen Kontexten zitierbar macht. In jeder theatralen Situation produziert die zitierte Geste andere Relationen zwischen Menschen, Dingen, Ereignissen, Räumen und Orten. In den Szenen, die ich am Anfang des Teils der »Hinführung« exemplarisch beschrieben habe, lassen sich hinsichtlich der theatralen Erzeugung eines Ortes insgesamt drei grundlegende Stimmgesten unterscheiden, die nicht nur Orte übertragen können: die Geste der Berichtenden, die Geste des Schauspielers und die Geste der Sprechmaschine. Im ersten und zweiten Teil der vorliegenden Arbeit werde ich die Analyse anhand von Variationen der topologischen Stimmgesten weiter ausführen, die Orte medial übertragen und auf den genannten grundlegenden Stimmgesten basieren. Darsteller und Performer verwandeln sich zwar durch die topologische Stimmgeste in Figuren, die auf gestischen bzw. schauspielerischen, performativen oder tänzerischen Körpern und Rollen basieren. So wird z.B. die »Sirenenfigur« denkbar, die durch die »topologische Stimmgeste der Sirene« entsteht. Aber »Figur« und »Geste« dürfen nicht verwechselt werden. Eine Figur kann eine Persönlichkeit besitzen, aber die topologische Stimm-

Spur kommen bzw. wie diese Potenz ihre Erzeugungskraft zeigt. Im performativen Akt findet sich also eine andere, eine »performative Geste«. In Bezug auf die Performativität strukturiert Kolesch (2002) die jüngeren Konzeptionen der Geste um. Bei den neueren Denkweisen geht es nach Kolesch nicht um die »Bedeutsamkeit« der Gesten, sondern um ihre »Wirksamkeit«: Hier gilt nämlich nicht, was die Geste bedeutet, sondern wie die Geste performativ vollzogen wird. 7

Kolesch, ebd, S. 154.

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geste als solche entspricht niemals einer Persönlichkeit, geschweige denn einer Rolle, die im Theatertext vorgeschrieben ist. Die topologische Stimmgeste ist eine mediale Stimme. Sie ruft menschliche (oder tierische, mechanische usw.) Figuren wie auch theatral erzeugte Orte hervor. Stimmgesten lassen sich nicht nur anhand des »Berichtens« in Hiroshima-Hapcheon aufzeigen, sondern sie werden in unterschiedlichen Inszenierungen in Variationen wie dem »Schauspieler«, der »Sprechmaschine«, dem »Echo«, der »Sirene« und dem »Warten« sichtbar. Sie (de-)konstruieren theatral gespielte Orte, indem sie in eine Relation mit den Worten der Theatertexte treten, die von bestimmten oder unbestimmten Orten erzählen. Die Vokabeln, mit denen die Gesten für uns erfahrbar werden, werden nicht immer von einem Autor oder Regisseur angeboten wie bei den »Berichtenden« in Hiroshima-Hapcheon, sondern zumeist sogar ist es notwendig, sie durch Aufführungsanalysen induktiv und analogisch aufzuspüren. Bevor ich aber konkrete topologische Stimmgeste beschreiben, möchte ich anhand einer Aufführungsanalyse die zuvor genannten drei grundlegenden Stimmgesten vorstellen. Aufgrund der konkreten Beschreibung der Stimmgesten werde ich dann meine Methode für die weiteren Analysen theaterwissenschaftlich vertiefen. Dazu tragen die folgenden beiden Kapitel »Ästhetische Erfahrungen: Imagination, Affektivität und Körperlichkeit« und »Hörraum als akustische Figur« bei.

3-1. S TIMMGESTEN 3-1-1. Stimmgeste 1: Berichten Im Beispiel Hiroshima-Hapcheon lassen sich die medialen, topologischen und relationalen Aspekte und die den Ort übermittelnden Stimmen unter dem Begriff des »Berichtens« zusammenfassen. Die theatralen Darsteller bzw. Performer vermitteln als »Berichtende« zwei miteinander verknüpfte Städte. Der »Berichtende« ist hier keine Metapher, sondern eine theatrale Figur, die indessen nicht nach einem bestimmten Vorbild einen Ort repräsentiert, sondern nach ihrer Geste des Berichtens benannt und in einer theatral strukturierten Konstellation flexibel gespielt wird.

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Die Geste des Berichtens überträgt die Geschichte (hier eher im Sinn von »story« als »history«) der genannten Städte. Die Geste des Berichtens ist hier als Aufgabe des Boten den Darstellern aufgebürdet. Es ist ihnen nicht gestattet, von und über sich selbst zu erzählen, sondern sie müssen von den jeweiligen Orten und Ereignissen berichten. Eben diese Aufgabe verleiht ihnen die Qualifikation, die offiziellen »Ausstellungsobjekte« im Friedensmuseum zu sein. Als solche »Ausstellungsobjekte« verwandeln sie den Hörraum in das Friedensmuseum und in den Ground Zero. Dennoch wird die Aufgabe der Boten nicht erschöpfend ausgeführt. Vielmehr werden ihre Berichte zu Spuren; keine authentische Instanz hat ihnen eine fertige Nachricht aufgetragen, sondern sie hören selbst der Geschichte der Städte zu und hinterfragen sie kontinuierlich. Die Performer heben durch die Geste also die Undarstellbarkeit des Ground Zero hervor, indem sie um den Ort herum Menschen versammeln und so den Ort einer undarstellbaren Gemeinschaft bilden. Die Stimmen der Berichtenden bringen weniger eigene Appelle hervor, sondern die Appelle von Anderen, von Abwesenden. Die Berichtenden sprechen aber nicht als Stellvertreter, sondern sie geben die Relation zwischen sich selbst und den Abwesenden weiter, die sie empfangen haben. Sie bringen somit die Spur der Abwesenden, die weder auf die Bühne treten noch von sich selbst sprechen können, in den öffentlichen Theaterraum ein. Die Geste des Berichtens erhält eine besonders starke Aussagekraft, wenn der Berichtende als Zeuge aussagt. Die »Berichtenden« in Hiroshima-Hapcheon können sich als »Ausstellungsobjekte des Friedenmuseums« im Theaterraum darstellen, weil sie Zeugen der thematisierten Orte – vor allem Hiroshima und Hapcheon – sind. Sie bezeugen die gegenwärtigen Zustände in Hiroshima und Hapcheon, die Gedanken der dortigen Bewohner, das Ausmaß, in dem die Atombombenexplosion in Hiroshima im internationalen Ausland rezipiert wird, usw. Die Besucher wiederum hören die Zeugenberichte und werden dadurch selbst zu Zeugen des theatralen Zeugens. Diese Transformation des Besuchers wird im Stück exemplarisch inszeniert, indem die Berichterstatter sich ihrerseits wie Besucher verhalten: Wie im Museum treten sie in den Theaterraum ein, besuchen die »Ausstellungsstücke« und verlassen den Theaterraum wieder. Jene Berichterstatter, die keine besonderen Kostüme tragen, sind von den »normalen« Besuchern kaum zu unterscheiden. Daraus kann man die Folgerung ziehen, dass sich die tatsächlichen Besucher ebenfalls als Menschen verhalten, die über

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den Ort berichten, und/oder wenigstens zu Zeugen des theatral vollzogenen Zeugens werden. Die Berichtenden bzw. Zeugen erzeugen die Spur des Ortes im Theaterraum und transformieren die Besucher in Zeugen. Nach Hans-Thies Lehmann »wird der Zeuge in gewisser Weise ›Vater‹ des Geschehens, dessen Abkömmling er doch als Zeuge sein sollte«.8 Als einen wichtigen Aspekt der theatralen Stimme benennt er neben der Faszination die Zeugenschaft: »Theater [ist] niemals allein ein ästhetisches Objekt, sondern stets zugleich als performativer Prozess ein reales Ereignis des Alltags [...] [und hat] mithin seine Spezifik darin [...], die Beobachter eines ästhetischen Vorgangs (Objekts) in gewisser Weise wie im Alltag zu Zeugen eines Geschehens zu machen. Mit der Implikation, dass damit notwendig ein besonders gearteter ›Einschuss‹ des Ethischen in das Äs9

thetische gegeben ist [...]«

Der Appell involviert die Zuhörenden sowohl in ein Fasziniertsein als auch in die Zeugenschaft, die dem Theater eine ethische Dimension verleiht. Die Zeugnisse fordern von dem Zuhörenden, dem »zweiten Zeugen« – eine Verantwortlichkeit. Somit vermittelt die Stimmgeste des Berichtenden nicht nur diskursive Informationen. Indem sie die Zuhörenden in die Zeugenschaft einschließt, schafft sie vor allem einen spezifischen Raum, in dem die Spur eines Ereignisses verfolgt werden kann. In den nun folgenden Abschnitten möchte ich neben der Stimmgeste des »Berichtenden« noch zwei weitere Stimmgesten – den »gestischen Schauspieler« und die »Sprechmaschine« – analysieren, die ebenfalls aus den bereits vorgestellten Szenenbeispielen hervorgehen. Diese drei Stimmgesten, die in der »Hinführung« untersucht werden, sind für die weitere Untersuchung topologischer Stimmgesten von essentieller Bedeutung. 3-1-2. Stimmgeste 2: Der gestische Schauspieler Der »Schauspieler« Yuichiro Masuya stellt in Voiceprints City die Worte und den Affekt des Autors dar, die wiederum eine Synthese aus Heimatge-

8

Lehmann, 2004, S. 47.

9

Ebd, S. 44.

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fühl und Heimweh ausdrücken. Allerdings wird das Verhältnis zwischen dem Schauspieler und dem ihm soufflierenden Autor hier absichtlich offengelegt und exponiert. Genau diese offengelegte Struktur, die die Geste des Schauspielers nicht als Illusion repräsentiert, sondern sie als solche zeigt, bildet eine Metaebene, auf der die Fragwürdigkeit einer Repräsentation der Heimat und des Heimwehs des Autors wahrgenommen wird. Während Goethe in »Regeln für Schauspieler« die Schauspieler in seinem Theater aufforderte, dem Sinn des Dramas gemäß zu agieren und zu sprechen, 10 basiert das postdramatische Schauspiel auf dem gestischen Körper,11 der nach Giorgio Agamben als »reines Mittel« (im Sinn Walter Benjamins) keine gezielte Bedeutung, sondern eine potenzielle Wirksamkeit an sich trägt. »Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem.«12 In Matsudas Inszenierung wird zwar das pathetische Heimweh des Autors von einem Schauspieler dem Inhalt des Theatertexts entsprechend verkörpert, dies jedoch indem der Autor selbst von einem Bildschirm spricht und so seine Manipulation als Autor und Regisseur offenlegt. Dadurch wird deutlich, dass die Stimme nicht selbstverständlich dem sprechenden Schauspieler gehört, sondern vom Autor souffliert wird und sich folglich in einem Konflikt befindet. Dieser Konflikt findet nicht zwischen den Rollen statt wie im dramatischen Theater, sondern in der einen Stimme eines soufflierten Schauspielers, die wiederum die Spur eines agierenden Körpers ist. »Der dramatische Prozeß spielte sich zwischen den Körpern ab, der postdramatische Prozeß spielt sich am Körper ab. An die Stelle des mentalen Duells, das der physische Mord, das Bühnenduell nur sinnfällig übersetzte, rückt die körperliche Motorik oder ihre Behinderung, Gestalt oder Unförmigkeit, Ganzheit oder Partialisierung. War der dramatische Körper der Träger des Agons, so stellt der postdramatische das Bild seiner Agonie. Das unterbindet alle gemächliche Repräsentation, Darstellung und Interpretation mit Hilfe des Körpers als bloßem Mittel.«

10 Vgl. Goethe, 1998, S. 865f. 11 Lehmann, 1999-1, S. 374f. 12 Ebd. sowie Agamben, 2006, S. 54. 13 Ebd. S. 367.

13

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Die agierende Stimme, die die Spur des agierenden Körpers ist, hallt nicht zwischen den Rollen wieder, sondern sie agiert innerhalb des einen Körpers bzw. zwischen dem Körper und der Sprache des Theatertextes als Fremdkörper, der ihn einnehmen soll. In der Geste des Schauspielers zeigt der Schauspieler nicht nur das Gespielte, sondern auch sich selbst als Spielenden. Dieses Zeigen des Schauspielers selbst wurde schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Bertolt Brecht vorgeschlagen, dessen Werke und Theorie unmittelbar in Japan rezipiert wurden. Nach ihm formuliert Walter Benjamin den Gedanken über Gesten und Schauspieler wie folgt: »Der Schauspieler muß eine Sache zeigen, und er muß sich zeigen. Er zeigt die Sache natürlich, indem er sich zeigt, und er zeigt sich, indem er die Sache zeigt. Obwohl dies zusammenfällt, darf es doch nicht so zusammenfallen, daß der Gegensatz (Unterschied) zwischen diesen beiden Aufgaben verschwindet. ›Gesten zitierbar zu machen‹ ist die wichtigste Leistung des Schauspielers; seine Gebärden muß er sper14

ren können wie ein Setzer die Worte.«

Dieses aufmerksam machende »Zeigen« der Geste führt uns zur Unterbrechung der stetig fortlaufenden Handlung: »Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.« 15 Wie Benjamin und Brecht die fortlaufenden Handlungen im Theaterraum unterbrechen und dadurch die Zuschauer zum Überlegen bringen wollten, so lässt Matsuda den Verlauf der konventionellen Heimatgeschichte unterbrechen, die oft im Sinn einer nationalstaatlichen Geschichte erzählt wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich den Schauspieler, der sein eigenes Spiel exponiert, den »gestischen Schauspieler« nennen. Ein solcher Schauspieler zeigt, dass seine Worte und Gesten auch Wiederholungen des Autors sind, der, während er etwa auf seine Heimat blickt, von einem Affekt heimgesucht wird. Es wird indessen nicht deutlich, was oder wie genau unterbrochen wird. Die Geste des Schauspielers unterbricht den leidenschaftlich erzählten Lauf der Heimatgeschichte immer aufs Neue. Der Ausdruck »Unterbrechen« deutet eine »Zäsur« an und verweist somit zunächst auf eine physische Stille. Das »Unterbrechen« ist allerdings nicht mit einer physischen Stille inmitten der gesprochenen Rede gleichzu-

14 Benjamin, GS, Bd. 2-2, 1977, S. 529. 15 Ebd.

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setzen. Benjamin erläutert die Unterbrechung der Geste im Gegenteil auch mit einem sehr lauten Mittel, nämlich mit der Einführung des »Songs«: »Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde. In ihr besteht die formale Leistung der Brecht’schen Songs mit ihren rüden, herzzerreißenden Refrains. Ohne der schwierigen Untersuchung über die Funktion des Textes im epischen Theater vorzugreifen, kann festgestellt werden, daß seine Hauptfunktion in gewissen Fällen darin besteht, die Handlung – weit entfernt, sie zu illustrieren oder zu fördern – zu unterbrechen. Und zwar nicht nur die Handlung eines Partners, sondern genauso die eigene. Der retardierende Charakter der Unterbrechung, der episodische Charakter der Umrahmung sind es, welche das gestische Theater zu einem epischen machen.«

16

Benjamin zielt hier mit dem Ausdruck »Unterbrechung« nicht nur auf die »Umrahmung« bzw. den unnatürlichen Übergang von der Handlung zum Gesang, sondern er fordert auch, die Handlung zu »retardieren«. Dabei wird nicht nur die Handlung eines anderen, sondern auch die eigene unterbrochen. Die Retardierung der eigenen Handlung praktiziert der Song, der mit seinem Refrain an einem Zeitpunkt verbleibt. Eine solche Retardierung bringt auch die stotternde Stimme der Reiseführerin in Voiceprints City zum Ausdruck. Nicht zuletzt ist aber die Unterbrechung für die Stimme überhaupt konstitutiv, sofern sie als Spur verstanden wird. Um den Begriff der »Unterbrechung« nicht allein mit einer physischen Stille zu identifizieren, sondern auch klingende Töne und die Stimme selbst mit den Merkmalen der Unterbrechung analysieren zu können, möchte ich im Kontext dieser Arbeit das »Unterbrechen« nicht nur als ein »Zäsurieren«, sondern auch als Spur sowie als »Retardieren« verstehen. Wenn die Heimat des Autors in Voiceprints City durch hartnäckige Wiederholungen bestimmter Stichworte – Lederschuhe, Steintreppe – deutlich angezeigt wird, versetzt das Schauspiel diese Heimatgeschichte und das leidenschaftliche Heimweh in Bewegung und retardiert sie gleichzeitig. Indem der Schauspieler immer wieder die gleichen Worte wiederholt, deutet dieses unnatürliche Retardieren an, dass seine Stimme – die dank schauspielerischer Praktiken wie seine eigene, natürliche Stimme klingt – in der Tat eine künstlich soufflierte Stimme ist. Diese Künstlichkeit des Schau-

16 Ebd.

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spiels kommt vor allem in seinem absichtlich theatralischen Schrei »Nagasaki! Urakami!« zum Ausdruck. Diese Geste des gestischen Schauspielers, die nicht nur das Gespielte, sondern auch den Spielenden selbst für das Hören und Sehen signifikant macht, stört jede Illusion des scheinbar natürlichen Prozesses, dass jemand eine gegebene Heimatgeschichte mit Leidenschaft erzählt.17 Die Geste trägt den Verlauf der Heimaterzählung und retardiert bzw. unterbricht ihn im selben Zug. Die Geste des gestischen Schauspielers versetzt mithin die theatrale Illusion in Bewegung, unterbricht sie und lenkt unsere Wahrnehmung vom fortdauernden Verlauf der Illusion ab. Bei der Unterbrechung des akustischen Phänomens gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten: einerseits das Zäsurieren des linearen Stimmverlaufs, andererseits das Retardieren des Stimmverlaufs. Dadurch nehmen die Zuhörenden gegenüber dem Verlauf der Illusion automatisch eine kritische Haltung ein. Diese Haltung wird auch durch das Retardieren in der klingenden Stimme selbst hervorgerufen. Die Stimme wird dann zu einem Mittel der inneren Emigration in den stimmlichen Hörraum und zu einem Mittel der inneren Emigration an dem dadurch erzeugten Ort. Dieses Mittel hat allerdings noch kein bestimmtes Ziel.

17 »Die Songs, die Beschriftungen, die gestischen Konventionen heben eine Situation gegen die andere ab. So entstehen Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeinträchtigen. Sie lähmen seine Bereitschaft zur Einfühlung. Diese Intervalle sind seiner kritischen Stellungnahme (zum dargestellten Verhalten der Personen und zu der Art, in der es dargestellt wird) vorbehalten. Was die Art der Darstellung angeht, so besteht die Aufgabe des Schauspielers im epischen Theater darin, in seinem Spiel auszuweisen, daß er seinen kühlen Kopf behält. Auch für ihn ist Einfühlung kaum verwendbar. Für solche Spielweise ist der ›Schauspieler‹ des dramatischen Theaters nicht immer in allem vorbereitet. An Hand der Vorstellung des ›Theaterspielens‹ kann man dem epischen Theater vielleicht am unbefangensten nahekommen.« (Benjamin, GS. Bd. 2-2, 1977, S. 537f.) Benjamin weist in einem Abschnitt über den Schauspieler des epischen Theaters auf, dass er die Illusion und Einfühlung des Publikums beeinträchtige. Aus Sicht der praktischen Schauspielkunst muss allerdings betont werden, dass diese Störung der Einfühlung letztlich doch auf der Praxis eines einfühlenden Schauspiels basiert.

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3-1-3. Stimmgeste 3: Sprechmaschine In Voiceprints City spielt eine Schauspielerin eine »Sprechmaschine«, die die Geschichte einer Stadt reproduziert. Sie gibt die uniformierte Stimmgeste einer japanischen Reiseführerin und die klischeehafte Geschichte im Rahmen einer Stadtführung in Nagasaki mechanisch wieder. Allerdings ist die gespielte Maschine defekt. Ihre Stimme gerät oft ins Stottern; zudem ist sie nicht nur die Stimme der Reiseführerin, welche die authentische Geschichte der Stadt repräsentiert, sondern zugleich die Ophelias, einer wahnsinnig gewordenen jungen Frau, deren Worte an der Peripherie der Geschichte Hamlets bleiben. Ophelias; letzte Worte, mit denen sie sich von ihrem eigenen Heimatort verabschiedet, hinterlassen beim Zuhörenden einen atopischen bzw. unqualifizierbaren Affekt, der sich der klischeehaften Konstellation des Ortes entzieht. In der Stimmgeste der Sprechmaschine findet sich hier das Potential, einen atopischen Affekt zu erzeugen, der die örtliche Konstellation des Gemeinplatzes und des Standpunktes auflöst, ohne sogleich in die Repräsentation einer anderen Konstellation zu geraten. Unter einer Maschine verstehe ich ein System aus funktionierenden Teilen, seien sie anorganisch oder organisch. Nach Gilles Deleuze und Felix Guattari ist die Maschine »so etwas wie ein Komplex von Schnittkanten, die in ein Gefüge eindringen, das sich gerade deterritorialisiert, um dessen Variationen und Mutationen aufzuzeichnen«.18 Die Maschine ordnet demnach die Konstellation von Territorien neu an. Dadurch dekonstruiert und konstruiert sie jeweils andere Territorien. Wenn sie allerdings automatisiert wird, führt sie immer wieder Reterritorialisierungen aus. Die stotternde Stimme der Schauspielerin hingegen denunziert die verborgene, automatisierte Maschinerie, die ihren Körper in sich eingliedern und automatisieren bzw. reterritorialisieren will. 19 Hinter der Wiederholung läuft

18 Deleuze/Guattari, 1992, S. 454. 19 Währenddessen gerät die pathetische Sprechweise des Schauspielers in einen automatischen Betrieb des Pathos, der lediglich »beseelt« erscheint. Die Stimme hat leise und vernünftig zu erzählen begonnen, um am Ende pathetisch den Namen der Stadt hinauszuschreien. Sie tut das zwar anstelle des Autors, aber dabei spricht eigentlich nicht jemand, sondern »es« spricht, wie der Text verdeutlicht: »Die Erinnerung, wie ich eine Steintreppe hinaufblickte. Was ist das Subjekt dabei? Wer erzählt wem von den Erinnerungen? Es gibt nichts, was man unbe-

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eine Maschinerie, die auch die Stimme der Reiseführerin zum automatischen Weitererzählen zwingt, die letztlich aber auch an die andere Erzähllinie des gehirnlosen Kindes angeschlossen wird. Die Maschinerie verläuft dadurch anders, indem nämlich dieselbe Schauspielerin die Rolle einer Sterbenden – hier Ophelias – spielt. Um den Zusammenhang zwischen Maschine und Stimme näher zu erläutern, möchte ich hier kurz der Begriffsgeschichte der »menschlichen Maschine« im europäischen Kontext20 folgen, wie sie teilweise in Japan rezipiert wurde.21 In diesem historischen Kontext darf eine »Maschine« nicht einfach mit einer industriellen Maschine gleichgesetzt werden, schon deswegen nicht, da diese Vorstellung erst nach der industriellen Revolution entstehen konnte. Zuvor hatte man eine »Maschine« wesentlich umfangreicher verstanden, etwa als die machina des antiken Theaters, als mittelalterliche Uhren oder als perpetuum mobile. Der Philosophiehistoriker SchmidtBiggemann stellt in seinem begriffsgeschichtlichen Artikel zur »Maschine« zunächst die barocke Definition aus Zedlers Universallexikon vor: Eine

dingt erzählen muss, aber man kann wohl sagen, dass etwas die Erzählung vorantreibt, sobald man zu erzählen beginnt. […] Ohne einen Zweck, ohne ein Verlangen nach jemandem erzählt man einfach nur so. […] nur mit Mühe erkenne ich eine Steintreppe. Ja, eine Steintreppe gibt es, und man geht die Steintreppe, die graue, steinerne Treppe hoch […] Aus dem ersten Stock seines Hauses auf der Steintreppe war eine Stadt zu sehen. Nagasaki! Urakami! [Herv. M.H.]« Die Erzählung und ihr Pathos scheinen von einem anonymen »Es« vorangetrieben und geraten in die automatische Wiederholung einer Urszene seiner Erinnerung. 20 Zum Vergleich zwischen Mensch und Maschine Schmidt-Biggemann, 1980, S. 790f. 21 »Maschine« wird auf Japanisch hauptsächlich mit dem Wort »kikai (機械)« übersetzt, das schon gegen 1520 eine mechanische Vorrichtung bezeichnete. 1862 findet sich in Japan ein Gebrauch des Wortes »kikai«, der einen biologischen Organismus einschließt. Ab1886 wird unter »kikai« ein willenlos bzw. automatisch arbeitender Mensch verstanden (vgl. Großwörterbuch der japanischen Sprache (Nihon Kokugo Daijiten), Bd. 3, 2. Aufl., 2001, Tokyo, S. 1464f.).

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Maschine ist dort definiert als »ein künstlich Werck, welches man zu einem Vortheil gebrauchen kann.«22 Die Stimme gilt seit Aristoteles als »der Laut des beseelten Lebewesens«.23 Dazu muss sie »ein bedeutungsvoller Laut« 24 sein und als Atem durch die Luftröhre strömen. Menschen und Tiere besitzen Stimmen; dagegen spricht man beispielsweise bei Wassertropfen, die auf Steine schlagen, oder beim Heulen des Windes nicht von Stimmen, sondern lediglich von Tönen, Klängen oder Geräuschen. Maschinen produzieren im Sinn dieser Vorstellung durch Krafteinwirkung lediglich Geräusche oder Klänge, während beseelte Lebewesen eine Stimme besitzen. Ihre Stimme ist nicht nur von der Körperlichkeit, sondern auch von der Beseeltheit bestimmt. Die Nachfolger dieser Idee, die vornehmlich in der Renaissance agierten – glaubten, dass die selbständige Seele den Körper durch ihren Willen oder ihr Begehren beeinflusse.25 In der Neuzeit hingegen hielt René Descartes den menschlichen, tierischen und pflanzlichen Körper nach dem Modell der Uhr für eine Maschine: »Ich stelle mir einmal vor, daß der Körper nichts anders als eine Statue oder Maschine aus Erde […] [ist]«.26 Dabei behauptet er zunächst eine strenge Trennung des Körpers von der Seele.27 Ohne den Körper bzw. die Materie (res extensa) könne die Seele (res cogitans) und ohne Seele der Körper existieren. Diese strikt dichotome Idee warf aber das Problem auf, beide Aspekte miteinander zu verknüpfen. Gottfried Wilhelm Leibniz kritisierte die cartesische Dichotomie, indem er eine Trennung zwischen Körper und Seele verneinte. Körper und Seele sind ihm zufolge nicht von Anfang an getrennt, sondern als eine in die WeltMaschine eingeschlossene Maschine aus infinitesimalen Monaden gedacht, die ihrerseits »eine göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat«28 seien. Bei Leibniz bestehen Körper und Seele keineswegs getrennt voneinander; sie sind zwei verschiedene Ausdrücke eines Universums. Er hält »die

22 Schmidt-Biggemann, 1980, S. 790. 23 Aristoteles, 1922, S. 51. Vgl. auch Waldenfels, 2006, S. 191f. 24 Aristoteles, ebd., S. 52. 25 So kritisiert Leibniz die Aristoteliker der Renaissance. Vgl. Leibniz, 1996, S. 333. 26 Descartes, 1969, S. 44. 27 Vgl. ebd., S. 43. 28 Leibniz, 1962, S.117.

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Kraft, die im Perpetuum mobile der Welt konstant bleibt«, für »das metaphysische Tertium«,29 das den Körper mit der Seele verbindet. Unter dem Einfluss seiner Theorie wurde für Zedlers »Universallexikon« ein Artikel mit dem Titel »menschliche Maschine (Machina humana, oder der menschliche Cörper)«30 verfasst, in dem Körper und Seele als Einheit betrachtet werden. In dem Artikel wird die »Stimme« zuerst physisch bestimmt, was dem Begreifen als menschliche Maschine entspricht. Die Stimme ist »Schall, den die lebendigen Geschöpffe durch den Hals von sich geben« und ein »lautbar gemachte[r] Athem«.31 Vor diesem Hintergrund differenziert der Artikel die Stimme von verschiedenen Nebenbegriffen. Wie bei Aristoteles ist sie weder mit dem Schall der leblosen Sachen, noch mit dem Wort der Menschen zu identifizieren: »Eine Stimme ist unterschieden sowohl von dem Schall, wodurch man einen jeden Thon, der mit den Ohren empfunden wird, und also auch von leblosen Sachen herkommt versteht; als auch von dem Worte, so eine abgetheilte Stimme (VOX ARTICULATA) ist, und dem Menschen allein zukommt, die Stimme aber haben Menschen und Vieh mit einander gemein. Die Absicht bey beyden ist, daß die Gesellschafft, darinnen sie leben sollen, erhalten werde, damit einer dem andern beystehen möge.«

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Zedlers Lexikon grenzt die Stimme interessanterweise nicht auf die artikulierte Stimme (»VOX ARTICULATA«) bzw. das gesprochene Wort ein, das ja ein wesentliches Merkmal der menschlichen Stimme sein könnte. In Anlehnung an die Theorie des Aristoteles ist damit zwar die Gemeinsamkeit von menschlicher und tierischer Stimme bestätigt, aber die Definition der Stimme ist in dem Artikel weniger durch ein theologisches oder meta-

29 Schmidt-Biggemann, 1980, S. 793. 30 Zedler, 1961, Bd. 20, S. 807f. 31 Art. »Stimme« in Zedler, Bd. 40. S. 112f. »Stimme, Vox, ist derjenige Schall, den die lebendigen Geschöpffe durch den Hals von sich geben, wenn nehmlich der Athem, oder die Lufft, die aus der Lunge fahret, und zwar ihre Cörperlein in eine Erschütterung gesetzt werden. Einen solchen lautbar gemachten Athem nennet man die Stimme.« 32 Ebd.

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physisches Verständnis von »Beseeltheit« bestimmt als durch den gesellschaftlichen Kontext. Insbesondere der Artikel »Stimme Christi« im selben Lexikon, 33 zu dessen Verständnis der theologische Ausdruck »Seele« notwendig ist, zeigt die damalige Verbindung von Wort (»VOX ARTICULATA«) und Körper. Zedlers Lexikon schließt aus dem Bibelzitat »und seine Stimme [war] wie großes Wasserrauschen (Offenb. I, 15)«, dass die »Stimme Christi […] der durchdringende Schall und Hall seines Wortes, und Lauff des Evangelii« sei. In diesem Ausdruck ist sowohl die Materialität des Körpers Christi als eines Menschen, wie auch die Bedeutsamkeit seiner Stimme und deren Wirkung als Sohn Gottes mit eingerechnet.34 Eine Parallele zu Zedlers Lexikon zeigt noch Charles Darwins Definition der Stimme: Mit Blick auf die Funktion der Stimme setzt er im Jahr 1872 in seinem Buch »The Expression of the Emotions in Man and Animals«35 Zweck und Mittel menschlicher und tierischer Stimmkunst gleich: »Die Stimme diene zum Ausdruck menschlicher bzw. tierischer Sexualität, die vokalen Äußerungen dementsprechend zur Werbung um Weibchen und zur Vertreibung männlicher Nebenbuhler [...] Dies scheint in der That ursprünglich der Zweck und das Mittel zur Entwickelung der Stimme gewesen zu sein.«

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Mensch und Tier singen bzw. produzieren schöne Klänge, um Weibchen anzulocken; das Ziel der Stimmkunst reduziert sich damit auf die Fortpflanzung der eigenen Art. In dieser Vorstellung hat die Seele keine Bedeutung. Sie ist durch Triebe ersetzt, die im Idealfall automatisch das Ziel ansteuern. Diese Erklärung hat mit Zedlers Lexikon gemein, dass die tierische und die menschliche Stimme gleichgesetzt werden. Der entscheidende Unterschied zu Zedlers Definition ist jedoch, dass Darwin den Zweck der Stimme nicht auf die Teilnahme an einer Gesellschaft, sondern auf die biogenetische Entwicklung bzw. auf ein Fortbestehen auf rein körperlicher

33 Art. »Stimme Christi« in Zedler, Bd. 40. 1961, S. 116 34 Die »Stimme Gottes«, die überhaupt keine Körperlichkeit haben kann, sei »in heiliger Schrift theils seine Gesetz-Stimme […] Theils seine EvangelienStimme […]« (ebd., S. 116f.). 35 Darwin, 2000, S. 13f. Vgl. auch Meyer-Kalkus, 2001, S. 336f. 36 Ebd., S. 84.

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Ebene bezieht, ein Zug, den Julius Schultz in seinem Buch »Maschinentheorie des Lebens« für maschinell erklärt.37 Obwohl die Stimme in der Epoche der Romantik in Grimms Wörterbuch als »ton; fähigkeit zu reden.«38 mit dem Sprechen identifiziert wird und nun wieder »beseelt« ist, wird sie im Zusammenhang mit dem Maschinismus hauptsächlich als Produkt des Körpers begriffen, selbst wenn sie sich auf das Wort bzw. den menschlichen oder göttlichen Spiritus bezieht, wie in Zedlers barockem Lexikon. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Auslegungen möchte ich die Stimme im Folgenden weder eindeutig auf die Seite der »Seele« noch eindeutig auf die Seite des Körpers stellen, sondern gerade in dem Zwiespalt, in dem Dazwischen, das Wesen der Stimme aufsuchen. Der Begriff der Seele, der bereits mehrfach anklang, wurde nach seiner Enttheologisierung im Gebiet der Psychologie aufgegriffen 39 , die in Form insbesondere von Freuds Psychoanalyse vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts nachhaltige Wirkung hinterließ. Im heutigen postdramatischen sowie performativen Theater spielt die Psychologie im Sinn einer naturalistischen Psychologisierung nur noch eine untergeordnete Rolle. Eine Psychologisierung, die sich auf »eine Wissenschaft aus Erfahrung«40 stützt, reduziert Kritikern zufolge das menschliche Begreifen eines Ereignisses auf

37 Nobis, 1980, S. 802. 38 Art. »Stimme« in Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 10., 1960, S. 3059. Die allgemeine Bedeutung und Verwendung des Wortes wird hier so beschrieben: »die eigentliche bedeutung des wortes ist seit alters der (von kehlkopf erzeugte) ton, gesprochen oder gesungen, so wie er gehört wird, daneben erscheint zu allen zeiten, [...] stimme als besitz des sprechenden, als mittel, über das er verfügt, mit dem er wirkt, und als fähigkeit, ton zu erzeugen. Eine kategorische trennung der aspekte ist nirgends bezeugt; doch erweist sich der unterschied der blickrichtung auf das produkt des sprechens (resultativ) von der auf die tätigkeit des sprechens (dynamisch-funktionell) oft in den sprachlichen wendungen des wortes.« Hier ist die Neigung der Interpretation noch deutlicher zu erkennen, die Stimmlichkeit der sprachlichen Fähigkeit zuzuschreiben. 39 Zum Wandel von der »Seelenkunde« zur »Psychologie« Fischer-Lichte, 1999, S. 139f. 40 Husserl, 1992, S. 72f.

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eine als gegeben unterstellte Ebene, die wiederum auf einer Verlängerung des bürgerlichen, durchschnittlichen Alltags aufbaue. Anstelle der »Seele« oder einer Psychologisierung nach naturwissenschaftlichem Vorbild eignet sich der Begriff des »Affekts«, der nach dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Felix Guattari durch energetische Krafteinwirkungen zu denken ist, besser, um eine weit verstandene Maschinalität zu beschreiben. »Der Affekt ist kein Übergang von einem Erlebniszustand in einen anderen, sondern das Nicht-menschlich-Werden des Menschen. Ahab ahmt nicht Moby Dick nach, und Penthesilea ›mimt‹ keine Hündin: Das ist keine Nachahmung, keine erlebte Sympathie und auch keine imaginäre Identifikation.«

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Die Stimme der Sprechmaschine, die zu Ophelia wird, zeigt in diesem Sinn »keine Nachahmung, keine erlebte Sympathie und auch keine imaginäre Identifikation« 42 des Heimwehs, sondern sie lässt die Figur der Ophelia nicht menschlich werden. Der Affekt der dem Wahnsinn verfallenen Frau Ophelia, die in Matsudas Stück auch für das wortlos gestorbene, gehirnlose Kind zu sprechen versucht, lässt eine undarstellbare Sympathie für die nicht erzählbare Geschichte der Stadt zu Tage treten. »Artaud sagte: Schreiben für die Analphabeten – sprechen für die Aphasiker, denken für die Azephalen. Freilich, was bedeutet ›für‹? Nicht ›zugunsten von...‹, nicht einmal ›an Stelle von...‹. Es bedeutet ›vor‹. Es ist eine Frage des Werdens. Der Denker ist kein Azephaler, Aphasiker oder Analphabet, aber er wird es.«

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Der atopische Affekt, den die Stimmgeste der Sprechmaschine erzeugt, hat die Fähigkeit, – ohne Reterritorialisierung – einen vermeintlichen Standpunkt von Azephalen, Aphasikern oder Analphabeten zu deterritorialisieren. Dadurch territorialisiert diese Stimmgeste zugleich ihren eigenen Ort, sie erzeugt einen Platz, der nicht darzustellen ist.

41 Deleuze/Guattari, 2000, S. 204. 42 Ebd. 43 Deleuze/Guattari, 2000, S. 127.

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3-2. ÄSTHETISCHE E RFAHRUNGEN : I MAGINATION , AFFEKTIVITÄT UND K ÖRPERLICHKEIT Um die theaterwissenschaftliche Analyse weiter zu verfeinern, ist es notwendig zu präzisieren, inwiefern die theatralen Stimmen, die mit Orten in Beziehung stehen, ästhetisch erfahrbar gemacht werden können. Es wurde bereits gezeigt, dass die Zuhörenden nicht immer sinnhaft hören, sondern auch sinnlich hören. Das unvernehmliche Flüstern in Hiroshima-Hapcheon lässt sich zwar nicht verstehen, aber dafür lässt es den Atem der Darstellerin, die Bewegungen ihrer Mundschleimhaut, die Lautstärke des Pianissimo, die spannende Atmosphäre ihrer unterdrückten Lautstärke und ihre appellierende Kraft fühlen. Die Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl ordnet, dem Philosophen Martin Seel folgend, das sinnliche Hören einer Wahrnehmung des »Erscheinens« zu, während sie das sinnhafte Hören der Wahrnehmung als ein »So-Sein« beschreibt, in dem die Wahrnehmenden Gegenstände »erkennen, analysieren, verstehen oder nutzen können«. 44 Wahrnehmende können etwa in Stimmen einen bestimmten Schauspieler erkennen und anhand seiner Sprechweise verstehen, mit welcher Absicht er die Rolle oder eine bestimmte Emotion spielt. Die Stimme ist sowohl sinnhaft vernehmbar als auch sinnlich spürbar. Sie birgt folglich beide Dimensionen. Des Weiteren differenziert Schrödl drei Dimensionen der ästhetischen Erfahrung der Stimme: Imagination, Körperlichkeit und Affektivität. Diese drei Dimensionen sind auch für eine Analyse der Verhältnisse zwischen Ort und Stimme plausibel und hilfreich. »Nagasaki« und »Hiroshima« als »Gemeinplätze« und »Standpunkte« werden im Theater in der Form der Imagination erfahren. Nach Schrödl muss Imagination hier in einem weiten Sinn »als Einbildung, Phantasie, Vorstellung, Trugbild, Erwartung und Erinnerung« 45 verstanden werden. Im Anschluss an den Germanisten und Kulturwissenschaftler Dietmar Kamper formuliert Schrödl: »Gemeinsam ist diesen verschiedenen Begriffen, dass sie sich auf das Vermögen des Menschen zurückführen lassen,

44 Schrödl, 2012, S. 132. Vgl. auch Seel, 2003. 45 Ebd., S. 150.

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etwas Abwesendes gegenwärtig werden zu lassen.«46 Stimmen übertragen medial Orte bzw. Gemeinplätze und Standpunkte, die es im theatralen Raum (noch) nicht gibt und die den Ort des Theaters vor der Aufführung noch nicht heterogen überlagern. Diese Gegenorte werden erst in der Aufführung eingebildet, phantasiert, vorgestellt, trügerisch gebildet, erwartet oder erinnert. Mit imaginativen Prozessen wird also nicht nur das räumlich Abwesende, sondern auch das zeitlich Abwesende – vor allem in Hinblick auf Erwartungen und Erinnerungen – erfahrbar gemacht. Durch die inszenierte Erwartung kann im Theater auch das Abwesende, das bis dato noch nicht existierte, erzeugt werden. Die stimmlich zu erzeugenden Orte – der Entstehungsort der Stimme und der Versammlungsort der Appellierenden und der Zuhörenden – werden immer auch in der zeitlichen und räumlichen Imagination gesucht. Denn wir als Zuhörende können nicht einfach erkennen, sondern müssen nachforschen bzw. imaginieren, an welchem Standpunkt die flüsternde Stimme von Hiroshima-Hapcheon stehen, und wohin wir gehen müssen, um sie zu berühren. Ortlose Stimmen werden zweitens immer körperlich wahrgenommen. Die Körperlichkeit stellt nach Schrödl »die grundlegende Bedingung der Möglichkeit zum Wahrnehmen, Handeln, Fühlen, Sprechen, Denken etc.«47 dar. Als Spur des Körpers wird die Stimme immer körperlich erzeugt und akustisch gespürt. Dabei, so Schrödl, höre man nicht nur mit den Ohren, sondern »mit dem gesamten Körper«.48 Beim Zuhören taucht der gesamte Körper in den Hörraum ein. Wie Maurice Merleau-Ponty beschreibt, entsteht dabei eine »körperliche Resonanz zwischen Sprechenden und Hörenden«. 49 Zuhörende und Appellierende stehen nicht dem Hörraum gegenüber, sondern sie stehen im Hörraum selbst. Menschliche Körper sind nach Martina Löw ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Raums. Löw weist auf, dass der soziale Raum und Ort nicht nur durch die relationale (An-) Ordnung von Dingen produziert wird, sondern auch durch Menschen bzw. durch alle Arten von Lebewesen. Unübersehbar ist demnach, dass »Menschen nicht nur Räume schaffen, sondern auch Elemente dessen sein kön-

46 Ebd. 47 Ebd., S. 142. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 143.

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nen, was zu Räumen zusammengefaßt wird«.50 Der Raum ist jedoch stets veränderlich. »Menschen als Bestandteil einer Raumkonstruktion weisen […] die Besonderheit auf, daß sie sich selbst plazieren und Plazierungen verlassen.«51 Der stimmliche Hörraum verschwindet und alteriert fortwährend. Die Körper der Zuhörenden und der Gehörten resonieren prozessual. Erst dadurch konstituieren sie sich jeweils »in Form eines bestimmten körperlichen Befindens oder einer Körperhaltung«.52 Auf einer solchen Körperlichkeit basiert wiederum ihre leibliche Präsenz: Im prozessualen Hörraum können die Leiber der Wahrnehmenden und der Wahrgenommenen nicht als stabile Gestalten, sondern »als flüchtiges und veränderliches Phänomen«53 verstanden werden. Die leibliche Präsenz am Ort oder im Raum muss beim stimmlichen Phänomen in diesem Sinn stets prozessual gedacht werden. In stimmlichen Prozessen, die einen Ort erzeugen, spielt die von ihnen erweckte Affektivität eine wesentliche Rolle. Schrödl verwendet das Wort »Affekt« synonym zu Gefühl, Emotion und Empfindung. Nach Schrödl sind »die Affekte grundsätzlich nie etwas rein Innerliches oder Subjektives, sondern sie stehen im Zusammenhang mit einer dem betroffenen Subjekt äußerlichen Situation«. 54 Affekte entstehen somit weder im Inneren des Hörenden noch im Inneren des Appellierenden, sondern in einem Dazwischen. Kolesch definiert Affekte, Gefühle, Emotionen, Stimmungen oder Empfindungen als »Effekte komplexer Prozesse des – bewussten oder unbewussten – Wahrnehmens und Darstellens, des Zeigens, Beobachtens und Interpretierens«.55 Die Hörenden bilden ein Gefühl somit nicht willkürlich und selbstständig. Wie in Voiceprints City zu bemerken, wird selbst der persönliche Affekt des Sprechenden wie etwa das Heimweh des Autors immer in den Theaterraum übertragen und dort nur zwischenräumlich erfahren und erfahrbar gemacht. Die Affektivität der Stimmen bildet unsichtbare Konstellationen zwischen den Appellierenden und den Hörenden.

50 Löw, 2001, S. 155. 51 Ebd. 52 Schrödl, 2012, S. 144. 53 Ebd, S. 144. 54 Ebd., S. 146f. Schrödls Formulierung basiert auf phänomenologischen Studien wie Hermann Schmitz, Bernhard Waldenfels und Hartmut Böhme. 55 Kolesch, 2006, S, 32. Vgl. auch Schrödl, 2012, S. 145.

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In der vorliegenden Arbeit unterscheide ich zudem zwischen »Affekt«, »Gefühl« und »Emotion«, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte. »Affekt« und »Gefühl« unterscheidet der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund nach dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Brian Massumi folgendermaßen: »Während der Affekt eine unmittelbare Reaktion des Körpers auf Eindrücke und Sinneswahrnehmungen ist, die sich, ohne den Umweg über Formen und damit über kognitive Prozesse nehmen zu müssen, ereignet, stellt das Gefühl eine qualifizierte Bündelung der Affekte zu einer bewusst erlebbaren Form dar.«

56

Der Affekt enthält – wie anhand der Stimme der Sprechmaschine beobachtet wurde – eine energetische Krafteinwirkung, die ein Werden zur Folge hat. In der neueren Forschung wird Massumis Definition des Gefühls allerdings eher der Ebene der »Emotion« zugeordnet, während man »Gefühl« als Oberbegriff zu beiden definiert.57 In der vorliegenden Arbeit folge ich dieser neueren Definition. Gefühle werden folglich als »subjektive Empfindungen, die immer entweder positiv oder negativ gekennzeichnet sind« verstanden; das Gefühl »bestimmt, ob etwas angenehm oder unangenehm empfunden wird«. Emotionen wiederum »basieren auf einer sozialen Prägung, die kulturspezifisch unterschiedlich ausgestaltet werden kann«. Der Affekt ist letztlich »der grundlegende Modus des Gefühlsempfindens« und macht den »körperliche[n] Empfindungskern«58 sichtbar wie beispielsweise Veränderungen in Blutdruck oder Herzfrequenz. Der Affekt geht daher noch der Unterscheidung zwischen positiv und negativ voraus. Diese Definition des Affekts entspricht auch dem Affektbegriff bei Massumi sowie Deleuze. Gefühle und Affekte können also auch Tiere besitzen, aber Emotionen sind sozial und kulturell strukturiert und darum nur bei Menschen ausgebildet. Gerade Affekte, die anders als Trauer, Freude oder Schmerz nicht eindeutig charakterisiert werden können, erregen Stimmen. Am Ende von Voiceprints City hört man beispielsweise den Ruf Ophelias, die maschinenhaft spricht und ihren Affekt daher nicht semiotisch entziffern lässt. Dennoch

56 Siegmund, 2010, S. 313. 57 Christian von Scheve, 2015. 58 Ebd, S.29.

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können die Intensität und die latenten, unzähligen Schattierungen des Gefühls intensiv wahrgenommen werden und bringen die Zuhörenden in zunehmende Verlegenheit. Auch ohne Bedeutung bilden Stimmen also einen affektiven Hörraum, der die Hörenden und die Appellierenden einhüllt. Der Hörraum wiederum beeinflusst den Affekt der Zuhörenden. Sie positionieren sich im Hörraum, fühlen sich dort heimisch oder fremd, angenehm oder unangenehm.59 Wenn allerdings der Affekt sich – wie bei der Stimme der Sprechmaschine – nicht oder kaum mit einem sozial erkennbaren Gefühl verbinden lässt, dann entsteht ein Atopos. Daher verstehe ich den Atopos als einen affektiven Ort. Es ist somit die Affektivität, die das Verhältnis der Zuhörenden zu den Hörraumen und den dabei erzeugten Orten gestaltet.

3-3. H ÖRRAUM

ALS AKUSTISCHE

F IGUR

Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, inwiefern die von Stimmen erzeugten Orte und Räume ästhetisch erfahrbar werden können. Übertragene Orte, die am Ort des Theaters – noch, schon oder immer – abwesend sind, erscheinen im Theater als Imaginationen. Diese Imaginationen können allerdings nicht allein im Theater entstehen, da Körperlichkeit eine Grundlage ästhetischer Erfahrung ist. Zuhörende und Appellierende strukturieren einen prozessualen Hörraum, indem sie die eigenen Körper im Raum platzieren und selbst zu Bestandteilen der räumlichen Konstellation werden. In diesem Hörraum spürt man seine eigene leibliche Präsenz, aber der Leib, der durch prozessuale Stimmen wahrgenommen wird, verschwindet, wird flüchtig und alteriert. Zuhörende werden von den jeweils produzierten Räumen affektiv beeinflusst, fühlen sich fremd oder heimisch in dem Raum; sie verlassen den Raum oder formen ihn sogar um. Aufgrund dieser analytischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung muss nun präzisiert werden, inwiefern in stimmlichen Räumen auch Orte ästhetisch erzeugt werden (können). Zuerst soll dabei auf die theatrale Existenzweise der stimmlichen Räume eingegangen werden. Topologische Stimmgesten, die Gemeinplätze, persönliche Standpunkte und deren jeweilige Verhältnisse entstehen lassen, erzeugen nicht nur menschliche Figuren wie »Berichtende« oder »Schau-

59 Martina Löw weist diese gegenseitige Wirkung zwischen Gefühl und Raum auf. Vgl. Löw, 2001, S. 204f. sowie S. 272.

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spieler«, sondern auch stimmliche Hörräume als akustische Figuren, die zwischen den Menschen bestehen. Die Figur ist somit nicht nur optisch erkennbar, sondern auch akustisch. So gibt es etwa in der Musik eine akustisch angelegte Figur. Die musikalische Figur bezeichnet nicht nur komponierte, physisch definierbare Gestalten aus Melodien und Akkorden, sondern besitzt auch eine sinnliche oder sinnhafte Einheit.60 Die stimmlichen Hörräume als akustische Figuren, die durch topologische Stimmgesten entstehen, sind nicht bloß als physische oder begrifflich konzipierte Räume zu begreifen, sondern vielmehr als ästhetische und soziale – mit Lefebvre formuliert »körperlich gelebte« – Hörräume, in denen sich die Zuhörenden platzieren. Das heißt, der Hörraum ist der Raum des akustischen und menschlichen Verhältnisses bzw. der Raum des Appells und Zuhörens, wenn auch nicht eindeutig sicher ist, wie sich das jeweilige Verhältnis konstituiert. Diese akustischen Figuren haben zwar keine sichtbaren Konturen wie die der menschlichen Haut, aber sie können mit dem Begriff der Figur als eine »operative Einheit« verstanden werden, wie sie der Choreograph William Forsythe definiert hat. 61 Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter beschreibt die tanzende Figur im Sinn von Forsythes »operativer Einheit« als dynamisch. Historisch umfasst der Begriff der Figur zwei Grundsituationen. Die eine ist die Figur als Plastik. Sie ist Träger von Identität und wiedererkennbar. Dabei wird die Figur statisch begriffen. Brandstetter dagegen bezeichnet Figuren als »bestimmte Einheiten von Bewegung«.62 Diese Art von Figur tritt nicht nur in choreographischen Kontexten auf, sondern ist auch »die Einheit einer Bewegungsfigur und daraus abzuleitende Möglichkeiten ihrer Positionierung in der Syntax der Bewegungsfolgen«.63 Daher weist Brandstetter auf die Figur in Transformationen hin, die immer der Defiguration ausgesetzt ist:

60 »In der Musik bezeichnet [Figur] zunächst allgemein eine in bestimmter Weise rhythmisierte melodische Gestalt. In der Übertragung der antiken Rhetorik auf die Musik sind [Figuren] auch kunstvolle Tonfügungen des musikalischen Satzes mit rein ornamentalem oder sinngenerierendem, d.h. einen Textgehalt abbildenden oder einen Affekt verdeutlichenden Zweck.« Strätling, 2006, S. 107. 61 Brandstetter, 1999, S.23. 62 Ebd, S. 27. 63 Ebd.

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»Die Performance 64 erzeugt Prozesse einer Transformation des Körpers in einem dynamischen Extrem der Auflösung von Körpergrenzen. Es ist ein Umbau der Figur durch und in Bewegung. Was sichtbar wird, ist nicht etwa eine Metamorphose, sondern eine Zerrüttung des Körpers als geschlossene Figur: die Dislokation von Bewegungszentren in einer vehementen Aktion, in der alle Kriterien, die traditionellerweise Körperbewegungs-Darstellung im Tanz bestimmen, außer Kraft gesetzt 65

scheinen.«

Die dynamische, transformierende Figur hat anders als die Plastik keine Identität, sie weist keine »ontologische Subjektivität« auf,66 sondern entsteht und verändert sich »zwischen materiellem und immateriellem Körper, zwischen Präsenz und Absenz«.67 Diese Seinsweise wiederum ist Voraussetzung der stimmlichen Präsenz, der das Verschwunden-Sein und die unaufhörliche Alterität eigen sind. Der stimmliche Hörraum figuriert sich immer neu in Transformationen zwischen Präsenz und Absenz. Wie entstehen nun aber in stimmlichen Hörräumen Orte? Im Sprechtheater gilt die Figur als »Konstrukt, welches sich erst in einem je spezifischen Verhältnis von Rolle und individuellem Schauspieler konstituiert und durch die Wahrnehmung der Zuschauer vollzogen wird«. 68 Die theatrale Figur ist ein wahrgenommenes Gefüge aus dem darstellenden Körper und der ihm auferlegten Rolle, die zuerst im geschriebenen Text strukturiert und dann auf der Bühne imaginiert wird. Die stimmlichen Hörräume, die aus der Spur der appellierenden Körper bestehen, spielen die abwesenden, aber imaginierten Orte, so wie die menschlichen Figuren eine imaginierte Rolle an sich erkennen lassen. Die Hörräume als stimmliche Figuren sind zwar immateriell, aber sie werden auf einer körperlichen und imaginären Basis erzeugt und beeinflussen die Zuhörenden dadurch in erster Linie affektiv. Die topologische Stimmgeste in Hiroshima-Hapcheon überträgt den Gemeinplatz »Hiroshima«. Im Theaterraum erhalten die Zuhörenden nicht

64 No Longer Ready Made, Performance der Choreographin Meg Stuart und des Tänzers Benoît Lachambre, 1994. 65 Brandstetter, 2010, S. 346. 66 Diese Erklärung verdanke ich Adam Cziraks Vortrag, vgl. »Einleitung. Die ›Reise‹ im stimmlichen Theaterraum« der vorliegenden Arbeit. 67 Ebd, S. 347. 68 Roselt, 2005, S. 105.

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bloß Informationen von diesem Ort und über ihn, sondern sie nehmen den Hörraum auch körperlich wahr. Die Besuchenden platzieren ihre eigenen Körper im Hörraum, in einer dynamischen Konstellation mit anderen Körpern, Dingen, Bildern und Imaginationen. Der so hergestellte Hörraum bewirkt ein affektives Verhältnis der Zuhörenden zum Ort, sei es fremd, sei es vertraut. Im Theater vernehmen wir den Ort »Ground Zero, Hiroshima« erst durch die Hörräume, so wie wir die Rolle durch die Figur erkennen. Die Rolle wird allerdings durch das Sprechtheater nicht fest vorgeschrieben, sondern durch den Prozess des Lesens und Spielens fortwährend dekonstruiert. Der Gemeinplatz, der in Hiroshima-Hapcheon als ein Bild von und als ein Diskurs über den Ground Zero in Hiroshima imaginiert wird, ist zwar ein Klischee; gerade deswegen können Menschen den Gemeinplatz als einen gemeinsamen Treffpunkt vereinbaren. Dennoch wird die Geschichte gleichzeitig aus der Perspektive der koreanischen Stadt Hapcheon und durch kaum vernehmbar flüsternde Stimmen erzählt, sodass sich der Ort der vermeintlich authentischen Geschichte des japanischen Nationalstaates zunehmend entzieht. Darüber hinaus kann der Ort auch als momentane Figur in dynamischen Bewegungen erzeugt werden, die immer Defigurationen ausgesetzt sind. Michel de Certeau erklärt den Ort als »eine momentane Konstellation von festen Punkten«.69 Nach Martina Löw, die den Ort »Ziel und Resultat der [räumlichen] Plazierung«70 nennt, kann der Ort ähnlich verstanden werden. Die stimmliche Figur als Hörraum, der körperlich und imaginierend eine Konstellation von Menschen, Dingen und Ereignissen bildet und gleichzeitig affektiv die Verhältnisse zwischen ihnen strukturiert, kann zwar nicht wie ein tanzender Körper im Stillstand posieren, aber er kann durch Wiederholung einen Stillstand vortäuschen. In Voiceprints City wird die Heimat des Autors durch eine Wiederholung der erinnerten Klänge und gleichsam durch wiederholte Wortklänge zum Stillstand gebracht, sodass zugleich die Identität des Heimatortes von den Stimmgesten in Frage gestellt wird. Die ortlose Stimme stellt somit einen Ort als momentane Konstellation dar, die stets Defigurationen ausgesetzt ist. Nicht zuletzt hinterlässt die Stimmgeste der Sprechmaschine über die Spur des konkret genannten Ortes wie »Nagasaki« hinaus auch einen affek-

69 Certeau, 1988, S. 218. 70 Löw, 2001, S.198.

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tiven Ort als Atopos. Das Stück Voiceprints City endet mit dieser Stimmgeste und hebt so die Vergänglichkeit und das Verschwinden der Stimme hervor. Die Spur dieser intensiven Stimme ist dennoch als alterierender Nachklang zu hören. Die Stimme verklingt zwar immer schon im Moment ihres Entstehens, hinterlässt aber einen starken Eindruck und klingt in den Ohren der Zuhörenden nach. Diesem Nachklang wurde und wird in der schauspielerischen Stimmkunst nachgestrebt. Stimmen lassen sich nicht durch die Schrift, sondern vielmehr durch ihre eigenen Nachklänge wiederholen, die auf die Hörenden wirken und die Stimmen präsent halten. In diesen Nachklängen wird der Atopos vernehmbar. Vor dem imaginierten Ort und dem erzeugten Hörraum ist allerdings auch der Ort des Theaters zu beachten, der in seiner geographischen Lage wiederum eine soziale und politische Funktion besitzt. Ebendiesen Ort überlagern theatral erzeugte Gegenräume, Gegenorte oder übertragene Imaginationen. Die Geste der Berichtenden in Hiroshima-Hapcheon erzeugt am geographischen, historischen und sozialen Ort des alten Hörsaals den Hörraum ihres eigenen Rauschens. Der Hörraum hüllt die Berichtenden und die Besuchenden körperlich ein und lässt sie Position beziehen. Die Stimmgeste bringt gleichzeitig die Imagination von »Hiroshima« als Gegenort zum Ort des Hörsaals ins Spiel, dies jedoch durch unterschiedliche Erzählungen. Am bereits real bestehenden Ort des Hörsaals schichten sich also der körperliche Hörraum und der durch die Stimmen imaginierte Gegenort übereinander. Die Imagination des Ortes wird zu einem Bestandteil des Raumes. Die Besuchenden platzieren sich zeitgleich im körperlichen und im imaginierten Hörraum, indem sie affektiv vom Hörraum beeinflusst werden. Die theatral erzeugte Überlagerung der Räume und der Orte lässt sich dann in einen heterogenen Theaterraum/-ort verwandeln. Der Hörraum der ortlosen Stimme wird durch die topologische Stimmgeste gestisch erzeugt. Der Hörraum als akustische Figur basiert auf der Potenz, sich ständig zu figurieren, anders gesagt, zu mehreren Figuren werden zu können. Wenn im Hörraum im Theater vornehmlich Rollen, gespielt werden, die aus Dramen, Theatertexten, Choreographien, Partituren oder Aufgaben stammen, wird der Hörraum über konstitutive Differenzen zu etwas, was immer nur heterogen zu entziffern ist. Dieses Werden verstehe ich im Sinn von Gilles Deleuze und Felix Guattari:

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»Werden ist nie imitieren. Das Werden ist immer zweifach, das, was man wird, wird ebenso wie der, der wird; deshalb bildet es einen Block, der von seinem Wesen her immer beweglich und nie im Gleichgewicht ist.«

71

Das Stichwort »werden« bezeichnet bei Deleuze/Guattari keine lineare Veränderung innerhalb eines Wesens, sondern das Werden findet immer im Zwischenraum, d.h. durch das Aufeinandertreffen des zueinander Differenten statt. Das Denken des Werdens von Deleuze/Guattari erläutert die Philosophin Kathrin Thiele anhand des Verhältnisses von Orchidee und Wespe: »Weder Ähnlichkeit noch Imitation ist im ›Orchidee-Werden‹ der Wespe und im ›Wespe-Werden‹ der Orchidee ausschlaggebend, sondern das Aufeinandertreffen zweier Wesen, die absolut nichts miteinander zu tun haben […], aber ein gemeinsames Rhizom bilden.«72 In dieser Auffassung des Werdens findet sich weder die apriorische Voraussetzung eines Originals noch ein beabsichtigter Zweck, sondern ein (Da-)Zwischen, das wie die Stimme konstitutiv zwiefältig ist. In Hiroshima-Hapcheon imitiert der Hörraum nicht den Ort »Hiroshima«, sondern er zeigt sich im Prozess des Werdens zwiefältig oder vielmehr vielfältig. Diese Vielfältigkeit des Theaterorts sowie der erzeugten Räume und Orte bewahrt der Hörraum als eine akustische Figur, die wiederum den Ort theatral hervorbringt.

71 Deleuze/Guattari, 1992, S. 415f. 72 Thiele, 2012, S.76.

Erster Teil: Abreisen. Auflösungsprozesse repräsentierter Orte

In der »Hinführung« wurde deutlich, dass die Stimme stets zwei eigentümliche Orte in sich birgt: den Entstehungsort der Stimme und den Versammlungsort der Appellierenden und Zuhörenden. Die Entstehungsorte der Stimmen werden oft mit politisch oder geographisch und somit diskursiv gegebenen Orten identifiziert. Aber die Stimmen in postdramatischen Inszenierungen fungieren nicht einfach als Träger jener Diskurse, sondern sie heben ihre eigene Körperlichkeit und vergängliche (Im-)Materialität hervor. Dadurch werden die Entstehungs- und Identifikationsprozesse der Orte wahrnehmbar. Die jeweils inszenierten Stimmen enthüllen die Repräsentationsprozesse der politisch, geographisch und diskursiv gegebenen Orte und lösen sie zugleich auf. Dies wird exemplarisch in Aufführungen sichtbar, die reale Orte im Theaterraum vor allem stimmlich mit einer kritischen oder sehnsüchtigen Nuance (re-)präsentieren, wie etwa die DDR in Murx den Europäer! Murx Ihn! Murx Ihn! Murx Ihn! Murx Ihn ab! (1993) oder das vereinigte Deutschland in Die Stunde Null oder die Kunst des Servierens (1995) von Christoph Marthaler; Korea in Black Tie (2008) von Rimini Protokoll oder in Medea (1999) von Ku-NA’uka; Japan nach der Erdbebenkatastrophe von 2011 in Current Location (2012), Ground and Floor (2013) und Time’s Journey Through a Room (2016) von Chelfitsch; das moderne Japan in CHITEN’s Modern Langage (2011), Japan kurz nach dem GAU in Fukushima in Kein Licht (2012) und Japan unter der Regierung von Shinzo Abe in The Japanese who forget (2017) von Chiten; Kyoto in Public Address – Sound Field 2 (2013) von Masamitsu Araki usw.

102 | O RTLOSE STIMMEN

Es liegt auf der Hand, dass in der vorliegenden Arbeit nicht alle genannten Beispiele untersucht werden können. Aus diesem Grund konzentriert sich der erste Teil des Buches auf drei ausgewählte Modelle: Wolken. Heim. von Jossi Wieler, Autodafé von Masataka Matsuda und Die Hamletmaschine von Robert Wilson. Ausgehend von diesen drei äußerst unterschiedlichen Inszenierungen werden die stimmlichen Auflösungsprozesse der repräsentierten Orte offengelegt und eingehend analysiert.

1. Nationalstaat und Heim: Wolken. Heim. von Jossi Wieler

1-1. H EIMAT

ALS

M YTHOS

DES

ALLTAGS

Der Titel des Theatertextes Wolken. Heim.1, der von der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek verfasst und im Jahr 1990 veröffentlicht wurde, deutet auf einen scheinbar unvereinbaren, vagen Ort, der »Wolken« und »Heim« verbindet. Das »Heim« gilt gewöhnlich als der »heimische«, sichere Ort, an dem man geboren ist, den man gut kennt und mit dem man sich oft identifiziert. Wolken hingegen schweben, verändern sich ständig und sind daher weder greifbar noch konkret platzierbar. Ein solches scheinbar widersprüchliches Konzept des Ortes basiert auf einem von der Autorin häufig behandelten Motiv:2 die Heimat als einen »Mythos des Alltags« im Sinn von Roland Barthes zu begreifen. Schon 1970, lange bevor sie den Theatertext »Wolken. Heim.« verfasste, hatte Jelinek in ihrem Essay Die endlose Unschuldigkeit im Einklang mit Barthes’ Mythen des Alltags die »Unschuldigkeit« und damit das Wort und das Konzept »Heimat« in Frage gestellt.

1

Jelinek, 2000.

2

In einem Interview mit Marietta Pieckenbrock sagt Jelinek: »Im weitesten Sinn sind fast alle meine Texte Heimattexte, weil ich mich eben so an meiner lieben Heimat abarbeite, während die Heimat bloß daliegt, hübsch aussieht und gar nichts tut. Ich nehme diesem Heimatbegriff seine Unschuld.« (Pieckenbrock, 2002)

104 | O RTLOSE STIMMEN

»der bürgerliche mütos des ›friedlichen zusammenlebens‹ der familie in einem friedlichen ungestörten bürgerlichen universum mit einem beschützenden ›strengen aber gerechten‹ vater im vordergrund (nicht einmal in hintergrund!) wie lange wol3

len sie mich hier festhalten?«

Der Anspruch in Barthes’ Mythen des Alltags ist es, »detailliert jene Strategien und Techniken zu untersuchen, durch die die (klein-)bürgerliche Kultur in – vermeintlich – universelle Natur transformiert wird«.4 In diesem Sinn entwickelt Jelinek »ihre Metasprache, die durch ihre Künstlichkeit den ursprünglichen Mythos hervortreten lässt und dabei dessen Natürlichkeit imitierendes, unschuldiges Auftreten zerstört«.5 Die Heimat hält Jelinek dementsprechend für einen »Mythos des Alltags«, dessen scheinbare Natürlichkeit imaginiert ist und dessen tatsächliche Künstlichkeit stets verborgen bleibt. Die vermeintliche Natürlichkeit wird in der Form des Mythos vergöttlicht: »Die Vergöttlichung, die Behauptung einer Gottgleichheit und Übernatürlichkeit – was zugleich impliziert, daß das Objekt weder kritisiert noch verändert werden kann –, ist ein prägendes Zeichen des Mythos.«6 Eine solche Vergöttlichung der imaginierten Naturgegebenheit erlaubt keine geschichtliche Veränderung. Dies verdeutlicht Jelinek mit dem Satz: »der zweck der müten des trivialbereichs ist es daher die welt in ihrer unbeweglichkeit zu halten.«7 In diesem Sinn versucht sie in Wolken. Heim. die falsche Natürlichkeit der scheinbar unschuldigen Heimat zu verzerren und sie als Mythos zu entlarven. Um einen solchen Prozess der Verzerrung und Entlarvung des Heimatmythos zu markieren, hat Jelinek den Theatertext intertextuell aus Worten und Aussagen deutscher Denker und Dichter angefertigt. In einem intertextuellen Text lässt sie so eine heimatliche Gemeinschaft erscheinen, deren scheinbare »Natürlichkeit« sie konstruiert und gleichzeitig in ihrer

3

Jelinek, 1980, S. 63. Der Essay ist in einer Form geschrieben, die sich weniger an schriftliche als vielmehr an mündliche Gepflogenheiten hält. Die Schreibweise deutet bereits ihren Versuch einer »Revolution der poetischen Sprache (Kristeva)« an.

4

Kolesch, 1997, S. 35.

5

Lamb-Faffelberger, 2013, S. 277.

6

Kolesch, 1997, S. 34.

7

Jelinek, 1980, S. 82.

1. NATIONALSTAAT UND HEIM | 105

Künstlichkeit erscheinen lässt. Am Ende des Textes nennt Jelinek selbst einen Teil ihrer Quellen: »Die verwendeten Texte sind unter anderen von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973-1977.« 8 Die zitierten Worte stammen somit von »Untoten«, 9 sprich: von Personen, die zwar schon tot sind, deren Einflüsse aber auch nach ihrem Tod fortleben und deren Worte den Lebenden sprichwörtlich souffliert werden. Nach Norbert Elias besteht bei der Figuration der heimatlichen Gemeinschaft der Deutschen eine Komplizenschaft zwischen den Untoten und den Lebenden: An der Stelle, an der Elias über »Wolkenkuckucksheim« spricht, weist er darauf hin, dass die »deutsche« Kultur sich in dem Moment befeuert habe, als die Deutschen die Selbstaufopferung der Toten als heldenhafte Tat zu loben begannen.10 Durch die Vergöttlichung der »Untoten« als Helden, die für das Vaterland gestorben sind, werde das »deutsche Volk« in der Gegenwart vereint. Diese Vereinigung finden wir nicht nur in (rechts)konservativen Einstellungen wieder, sondern auch in linksgerichteten Auffassungen, wie Jelinek mit Zitaten aus den RAF-Briefen aufzeigt. Der Tod der vermeintlichen Helden wird vom lebenden »Wir« annektiert. Die Toten überleben als geschmückte »Untote«, sodass ihr »heldenhafter« Tod auch jüngere Generationen anzieht und in Form eines Gemeinschaftsgefühls weitergegeben und so kulturell vererbt wird. Die Kontur der Zitate – wo ein Zitat beginnt und wo es endet, woher das Zitat stammt und sogar welche Sätze und Worte überhaupt Zitate sind – ist im gesamten Text allerdings ebenso vage wie die Kontur und Richtung von Wolken. Die Zitate verlassen ihren ursprünglichen Kontext und ihre ursprünglichen Bedeutungen werden entstellt, 11 obwohl einige bekannte

8

Jelinek, 2000, S.36. Die Zitatquellen wurden von Margarete Kohlenbach untersucht (Kohlenbach, 1991).

9

Vgl. Mertens, 2013.

10 Vgl. Elias, 1992, S. 429-432. Dieser Text von Elias wird ebenfalls im Programmheft genannt, das zur Aufführung von »Wolken. Heim.« des Dramaturgen Tilman Raabke herausgegeben wurde. Elias spricht zwar von einer »deutschen« Neigung, aber klare Parallelen sind auch in Japan, vor allem in der Problematik des Yasukuni-Schreins für die vermeintlichen »Heldenseelen« zu finden. 11 Vgl. Stanitzek, 1991.

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Phrasen ihre Quelle auch ohne expliziten Hinweis leicht erkennen lassen. Das Subjekt eines jeden Textes ist durch das Pronomen »wir« ersetzt, das die erste Person Plural anzeigt. Die unterschiedlichen Meinungen, Gedanken und Standpunkte der zitierten Autoren werden durch diese Zitierweise zu einer »Wolke« verschmolzen, die wiederum einem gemeinsamen »Heim« entspricht. Wer in diesem Text spricht, ist also stets dieses schwebende, sich verändernde und insofern wolkige »Wir«, das sich scheinbar natürlich vereint. Obwohl der Text als Theatertext veröffentlicht wurde, weist er merkwürdigerweise weder eine dialogische Struktur noch konkrete Bühnen- oder Regieanweisungen auf. Er besteht nicht aus einem dramatischen Dialog, sondern aus einem langen, chorischen Monolog, in dem die Sprechenden anonymisiert werden und sich zu einer heimatlichen Gemeinschaft ballen.

1-2. T ERRITORIALISIERUNG DER H EIMAT DES ANONYMEN »W IR « Das wolkig-einheitliche Wir-Subjekt dieses »chorischen«12 bzw. intertextuellen Theatertextes inszeniert Jossi Wieler mit sechs Schauspielerinnen: vier älteren Frauen – Marion Breckwoldt, Marlen Diekhoff, Ilse Ritter und Gundi Ellert – in robusten, konservativen Damenanzügen aus den 1950er Jahren, die aufgrund ihres inszenierten Alters an Witwen des Zweiten Weltkriegs erinnern, sowie zwei jüngeren Frauen in braven Midiröcken und Strickjacken – Anne Weber und Ulrike Grote –, die wiederum die Töchter der Witwen sein könnten. Die insgesamt sechs Akteurinnen sind jedoch keine »seichten«, 13 abstrakten Sprechorgane des Textes, wie sie Jelineks Theaterästhetik14 eigentlich erfordert, um die Mythen des Alltags zu entlarven. Es handelt sich vielmehr um psychologisierte und somit individualisierte Figuren »mit einem Innenleben«, 15 die »als gefühlte und gedachte

12 Vgl. Schmidt, 2001. 13 Vgl. Jelinek, 1983. 14 Zu Jelineks Theaterästhetik Haß, 2013. 15 Jürs-Munby, 2013, S. 328.

1. NATIONALSTAAT UND HEIM | 107

Äußerungen von Menschen« 16 sprechen. Dies verhindert allerdings nicht die Entmythisierung von Heimat, die von der Autorin vorgesehen ist. Im Gegenteil: Gerade »durch die dramaturgische Differenzierung und Individualisierung der Figuren wurde die Macht des Kollektivs sichtbar«.17 Die Kollektivität wird durch die gemeinsame Spurensuche und das gemeinsame Singen gebildet und gleichermaßen verstärkt. Im Theaterraum schafft das gemeinsame Sprechen und Singen nicht nur ein kollektives Subjekt, sondern auch ein heimisches Territorium in einem theatral erzeugten Hörraum. Dabei ist hervorzuheben, dass hier nur Frauen spielen, obwohl die Zitate des intertextuellen Theatertextes allein von Männern oder von einer in einer stark maskulin geprägten Gruppe (der RAF) tätigen Frau 18 stammen. Die Frauen folgen hier den Spuren der abwesenden Männer und verkörpern so die männlichen Worte. Inwiefern die Frauen ihre eigene Kollektivität bilden und zudem eine gemeinsame Heimat territorialisieren, wird im folgenden Abschnitt näher beschrieben. In der Finsternis steigen die sechs Akteurinnen mit unsicheren, langsamen Schritten die Bühnentreppen hinunter, während sie den Monolog des »Wir« getrennt sprechen: »Da glauben wir immer, wir wären ganz außerhalb./Und dann stehen wir plötzlich in der Mitte./Heilige, die im Dunkel leuchten.«19 Wenngleich sich die Stimmen sprichwörtlich einen Monolog teilen, bildet jede Stimme eine eigene psychologische Figur, indem sie den Unterschied des Stimmklangs hervorhebt und nicht leise vor sich hin spricht, sondern die einzelnen Sätze wie bei einem Dialog lebhaft betont. Die Worte »Heilige, die im Dunkel leuchten«, die in der Finsternis gesprochen werden und aus dem scheinbaren Nichts auftauchen, deuten auf den göttlichen Logos hin, der am Anfang der Genesis auftritt. Die sprechenden Stimmen schaffen ihr eigenes Heim. Sie bilden in der Finsternis den Hörraum, in dessen Mitte sie stehen und in dem sie sich orientieren. Eine ähnliche Szene haben auch Deleuze und Guattari in ihrem Text über das »Ritornell« beschrieben:

16 Schenkermayr, 2007, S. 146. 17 Jürs-Munby, 2013, S. 329. 18 Vgl. Jelinek 2000, S. 36 sowie Kohlenbach, 1991. 19 Jelinek 2000, S. 9. Die Schrägstriche, die hier einen Wechsel der Sprecherin markieren, wurden von mir (M.H.) eingefügt.

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»Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos.«

20

Wichtig für die Theorie von Deleuze und Guattari ist, dass die Autoren für eine Territorialisierung kein territorialisierendes Subjekt voraussetzen, sondern dass im Akt der Territorialisierung auch das Subjekt geboren wird. »Wenn es sein muß, verlege ich mein Territorium auf meinen eigenen Körper, territorialisiere meinen Körper.«21 Ein Territorium, das durch Territorialisierung und Deteritorialisierung entsteht, ist – ähnlich wie der Zwischenraum – dynamisch. Stets expandiert es oder wird eingeschränkt. Das Territorium ist also noch nicht als Ort, sondern eher als der territoriale, in Besitz gelangende Raum zu verstehen und wird erst durch die Wiederholung der Territorialisierung zu einem festgelegten Ort. Diese Idee passt zur Aufführungsanalyse, insofern die dargestellte Subjektivität eines Schauspielers in der postdramatischen Aufführung nicht vorausgesetzt werden kann, sondern erst durch Stimmen, Körperbewegungen und Interaktionen mit anderen strukturiert werden muss. Es ist kein Zufall, dass Deleuze/Guattari zur Erklärung der Prozesse der Territorialisierung und Deterritorialisierung eine stimmliche Denkfigur ausgewählt haben: Das »Ritornell« – der wiederholte Gesang (ggf. als Sprachmelodie) der Menschen, Vögel und Tiere – hat eine besondere Funktion für die Territorialisierung und Deterritorialisierung. Denn das Ritornell macht aus dem Chaos eine Ordnung mit eigenen Rhythmus und eigener Melodie, wobei sich die Ordnung immer dem Chaos bzw. der Gefahr, zum bloßen »Noise« zu werden, aussetzt.22 Das Ritornell bezeichnet also einen Zwischenstatus zwischen Chaos und Ordnung. Die Stimmen der Frauen in Wielers Wolken. Heim. bilden sich in der unsicheren, fremden

20 Deleuze/Guattari, 1992, S. 424. 21 Ebd. 22 Diesen Prozess kann man in Jossi Wielers Wolken. Heim. sehr gut beobachten. Siehe Kapitel 1-2. »Territorialisierung der Heimat des anonymen ›Wir‹« im ersten Teil der vorliegenden Arbeit.

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Finsternis ihr Territorium. Diese Szene der Territorialisierung wird folgendermaßen fortgeführt. Nachdem die Akteurinnen den Boden der Bühne erreicht haben, tastet sich jede einzelne langsam voran, um eine Lampe anzuschalten. Im schwachen Licht erscheint ein Wohnzimmer aus den dreißiger Jahren mit wuchtigen, kleinbürgerlichen Möbeln – samtene Sofas, hölzerne Schreibtische und ein Schrank – in einem Kellerbunker. Alle Kostüme und Bühnenausstattungen sind – sei es dunkler, sei es heller – erdfarbig gehalten. Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat in die Wand ein einziges Fenster eingebaut, in dem lediglich schwebende Wolken erscheinen, obwohl das Zimmer unter der Erde liegen muss. Der Ort verkörpert Himmel und Erde zugleich. Die Erde, die durch das Wohnzimmer symbolisiert ist, ist mit den »heiligen« Worten vergöttlicht und in den Himmel transfiguriert worden.23 Dadurch entsteht eine absurde Doppeldeutigkeit, die sich im inszenierten Zimmer offenbart. Der himmlische und irdische Ort bzw. das Wohnzimmer, auf dessen Boden die Frauen gelandet sind, gehört einer abwesenden, vermutlich männlichen Person: Auf dem Schreibtisch steht eine Flasche Cognac und in einem massiven Glasaschenbecher daneben raucht noch eine dicke Zigarre; der Besitzer ist offenbar kurz zuvor noch da gewesen. Was für ein Mann er ist, lässt der Gesamtstil der Einrichtung erahnen. Sie weist auf einen »beschützenden, ›strengen aber gerechten‹ vater« hin, wie es Jelinek im oben angeführten Text formuliert. Aus der Dunkelheit kommt die Einrichtung für die tastenden Frauen als etwas Unvertrautes in das spärliche Licht. Die Einrichtung distanziert sich von den Frauen, als ob sie etwas Erhabenes wäre. In diesem Setting stehen die sechs Frauen im Kreis und sprechen, als wollten sie sich ihrer gegenseitigen Solidarität vergewissern: »Wir sind bei uns. [Gundi Ellert] Wo lebt Leben sonst? [Ulrike Grote] 24

Schön bei sich sein. [Anne Weber]«

23 Diese Verbindung des Wohnzimmers mit der Erde kann als Anspielung auf »Mutter Erde« oder auch die »Mutterscholle« verstanden werden. 24 Jelinek, 2000, S. 9.

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Es beginnt ein Chorgesang unter der Leitung von Gundi Ellert. Die zarten Frauenstimmen singen »Wir bleiben hier«. Der Komponist Wolfgang Siuda verfasste für das Stück Chorlieder, die mit ihren gemütvollen, für jeden leicht zu singenden Melodien und versöhnlichen Harmonien wie alte Volkslieder klingen. Die Frauen singen im Kreis, eine der Akteurinnen dirigiert die Gruppe. Ihr zentripetal auf den Mittelpunkt des Kreises gerichteter Gesang bildet ihr eigenes Territorium in einer fremden Dunkelheit. Nach dem Gesang spricht jede Akteurin unterschiedliche Textstellen, die dem Theatertext entstammen. Dabei wird der Text in der Aufführung nicht in Jelineks ursprünglicher Reihenfolge gesprochen; die einzelnen Sequenzen sind vielmehr extrahiert, umstrukturiert und neu angeordnet. Gleichzeitig gelingt es den Schauspielerinnen durch ihr scheinbar naturalistisches Spiel, einen harmonischen Zusammenhang zwischen den doppelt umstrukturierten Zitaten herzustellen, sodass Jelineks intertextueller Text eine wolkige Einheit des »Wir« entstehen lässt. Während Marlen Diekhoff noch spricht, ertastet Marion Breckwoldt den großen Lichtschalter und schaltet ihn an. Mit der plötzlichen Aufhellung des Raumes endet auch die Rede Diekhoffs. Das Wohnzimmer zeigt sich nun in seiner gesamten Gestalt. Die Frauen untersuchen das vor ihren Augen erschienene Zimmer, indem sie den Sitzkomfort der Sofas prüfen, die Schreibtische streicheln und an der rauchenden Zigarre ziehen. Die Tapete, die bislang in der Dunkelheit unsichtbar war, zeigt nun ihre Muster, die, von fern gesehen, wie schräge Kreuze aussehen, genauer betrachtet aber Militärflugzeuge darstellen, die Kondensstreifen hinter sich lassend in den Himmel aufsteigen. Die ockergelbe Tapete harmoniert so gut mit der Einrichtung, dass sie auf den ersten Blick Teil eines ganz harmlosen Wohnzimmers zu sein scheint. Aber sie signalisiert bereits an dieser Stelle und auf (un)heimliche Art und Weise den gefährlichen Charakter des Ortes. Die Frauen erkennen zwar die Konturen des Zimmers, aber es bleibt ihnen in diesem Moment noch unklar, um was für einen Ort es sich bei dem scheinbar gewöhnlichen Wohnzimmer handelt. Erneut beginnt eine Akteurin das Lied zu summen, das bereits in der Dunkelheit chorisch gesungen wurde. Zu Anfang trifft ihre Stimme nicht die richtigen Tonhöhen und -längen und bildet kaum die Gestalt eines Liedes, wenn auch die Melodielinie ungefähr erkennbar ist. Nach und nach summen die anderen Stimmen mit und sowohl Tonhöhe als auch Rhythmus werden im Summkreis reguliert. Anders als in der zuvor beschriebenen Szene dirigiert hier keine Ak-

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teurin, die Gruppe bildet keinen Kreis mehr, und jede Stimme konkurriert mit den anderen um ihre Lautbarkeit. Dennoch singen die Akteurinnen schließlich dieselbe Melodie in einem gemeinsamen Rhythmus. Dadurch bleibt die zentripetale Kraft, welche die Singenden an einem Ort versammelt, bestehen. In der Schublade des Schreibtisches finden die Akteurinnen mehrere alte Schwarz-Weiß-Fotos, Hefte, dicke Bücher und eine Pistole, während sie in einem Schrank eine große Menge Dokumente entdecken. In einem anderen Schrank findet sich die Jacke einer Militäruniform, aus deren Tasche ein Dolch herausfällt. In den Schließfächern werden unterschiedliche Orden und ein Militärhelm sichtbar. Der starrende Blick und die vorsichtig betastenden Handbewegungen der Frauen, die nun die entdeckten Dinge in die Hände nehmen, zeigen eine Mischung aus Furcht und Bewunderung vor den unvertrauten, aber offenbar zugleich wertvollen Objekten. Die Funde werden sorgsam ausgelegt und betrachtet, als handelte es sich um Ausstellungsstücke eines Museums. Bisweilen verstimmt, bisweilen stockend dauert der Summ-Chor an und verstärkt sich. Die stummen Stellen werden wie Pausen in die Chormusik hineingenommen. Das wortlose Summen verwandelt sich allmählich in eine Musik aus den Echos von Untoten. Die Stimmen der Frauen werden dann als Echos in der Gegenwart auftreten. Dieser Prozess wird in den folgenden Abschnitten näher analysiert.

1-3. D IE V ERWURZELUNG DER E CHO -S TIMMEN Während des gerade beschriebenen Summens im Chor liest die Schauspielerin Ilse Ritter eine Notiz (oder eine ausgerissene Seite), die in einem Buch gefunden wurde, klar artikulierend vor: »Wie wenn die Feiertage, das Feld zu sehn, ein Landmann geht, des Morgens, wenn aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen die ganze Zeit und fern tönt der Donner. [...] Schön bei sich sein und bleiben, und es trinken himmlisches Feuer jetzt die 25

Erdsöhne und kommen zu uns ins öde Haus. Es gibt uns. Es gibt uns.«

25 Ebd., S. 9f.

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Gundi Ellert, die bedeckt mit der Militäruniform auf dem Sofa sitzt, führt mit einer verzückten, geradezu klebrigen Stimme den Text fort: »Wir sind allein, aber schön bei uns.«26 Während Ellert und die anderen Frauen im Vordergrund sprechen, wiederholt Ritter als basso continuo ihr Zitat. Interessant an dieser Wiederholung ist, dass sie die Worte nicht wie in der zuvor beschriebenen Szene repetiert, sondern sie umordnet und dabei – wie ein defekter Automat – vor allem die letzte Phrase »Es gibt uns« wiedergibt. Daraufhin ertönt die Stimme von Marion Breckwoldt, die einen Kopfhörer an ihr Ohr hält, im Vordergrund: »Der Deutschen gedenken die Deutschen gewöhnlich zuletzt, entweder aus Bescheidenheit, oder weil man das Beste für das Ende aufspart.27 Volk und Vaterland in dieser Bedeutung, als Träger und Unterpfand der irdischen 28

Ewigkeit [...]«

Breckwoldt leiert die zitierten Worte derart unsicher herunter, dass sie nicht einmal an den Stellen pausiert, wo die Sätze grammatisch enden. Es wird deutlich, dass sie nicht dem Sinn der Worte folgt, sondern nur der Stimme aus dem Kopfhörer. Es ist nicht der begriffliche Sinn der Worte, sondern vielmehr der sinnliche Wort- und Stimmklang und das zu diesem Klang imaginierte Bild, was die Frauen anzieht. Ein Beispiel liefert Marion Diekhoff, die ein Heft öffnet und einen Text vorliest, in dem ein Schiff in seiner Heimat landet und das Leid des Volks hymnisch glorifiziert wird: »Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom, von Inseln fernher, wenn er geerntet hat. So kommen wir zur Heimat, und hätten wir auch Güter so viele wie Leid geerntet. Ihr teuern Ufer, ganz gehört ihr uns, und ein goldener Herbst verwandelt dem armen Volk in Gesänge die Seufzer.«

29

Daraus wiederholt Diekhoff die letzte Phrase: »in Gesänge die Seufzer«. Im Gewirr der wiederholenden Stimmen spricht Gundi Ellert über die

26 Ebd., S. 10. 27 Ebd., S. 22. 28 Ebd., S. 25. 29 Ebd., S.13.

1. NATIONALSTAAT UND HEIM | 113

Wendung des »Wir« zur Innerlichkeit,30 während sie mit den Fingerspitzen über die Schneide des Dolchs fährt, der aus der Militäruniform herausgefallen ist. Daraufhin artikuliert sie den letzten Satz: »In der Scholle des Vaterlands wollen wir uns verwurzeln.«31 Das »Wir« ruft auf zu einer Territorialisierung desjenigen Landes, das vermeintlich dem »Wir« gehört. Beim letzten Wort »verwurzeln« stoppen ihre Finger auf der Schneide und Gundi Ellert reißt die Augen weit auf, als sei sie durch das Wort getroffen worden. In diesem Augenblick hört auch das Gewirr der Stimmen auf, das bisher den Raum erfüllt hat. Eine Stille beherrscht nun den Hörraum, die von der Aufmerksamkeit der anderen Frauen für das soeben gesprochene Wort zeugt. Ellert wiederholt den letzten Satz, und beim Wort »verwurzeln« erhebt sie ihr Gesicht und richtet einen träumerischen Blick in die Ferne. Im zurückgekehrten Stimmengewirr tritt die Stimme Anne Webers in den Vordergrund, die nun den Satz fragmentierend wiederholt . Weber liest vor, während sie das Innere des leeren Militärhelms aus verschiedenen Winkeln betrachtet, so als würde sie aus dem Gehirn eines abwesenden Mannes Folgendes herauslesen: »Des Vaters Strahl, der reine, versengt uns nicht und tiefschüttert, die Leiden des Stärkeren mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen des Gottes, wenn er uns naht wenn er uns naht. Wir sind bei uns zuhaus.«

32

Am Anfang klingt ihre Stimme derart stockend, dass es scheint, als könne sie den Worten selbst nur mit großer Mühe folgen. Erst bei den letzten Worten scheinen ihr Stimmklang und ihr Gesichtsausdruck voller Zuversicht. Sie hebt den Kopf und wiederholt mit sicherer Stimme: »Wir sind bei uns zuhaus.« Ilse Ritter hält nun eine »Rede«; die Rede schließt ein Ge-

30 Ebd., S. 28. »Wir leben vorzugsweise in der Innerlichkeit des Gemüts und des Denkens. In dieser einsiedlerischen Einsamkeit des Geistes beschäftigen wir uns damit, bevor wir handeln gedenken, sorgfältigst zu bestimmen [in der Aufführung: überprüfen]. Daher kommt es, daß wir etwas langsam zur Tat schreiten von den Heiligtümern, den Waffen des Wortes, die scheidend ihr uns, den Ungeschickteren, zurückgelassen.« 31 Ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 10.

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dicht über den »Untoten« bzw. die »Seele des Vaterlandes« ein, das auf einem Zettel geschrieben steht: »Wann erscheinest du ganz, Seele des Vaterlands, daß wir tiefer uns beugen, daß die leiseste Saite selbst uns verstumme vor dir, daß wir beschämt, eine Blume der Nacht, himmlischer Tag, vor dir enden mögen mit Freuden.«

33

Kurz nach den ersten Worten der »Seele des Vaterlands« beginnt Ellert, die mit geschlossenen Augen die Klinge des Dolches auf die eigene Stirn legt, in Ekstase »Vaterland« zu seufzen. In einer Atempause der Lesestimme Ritters hebt die Hauchstimme von Breckwoldt, die den Kopfhörer weiterhin am Ohr hält, das Wort »Deutsche« hervor, während Dieckhoff aus dem geöffneten Heft lesend »Heimat, Heimat...« murmelt und Grote »wie wir, zuhaus sein« ruft. Kurz nach den enthusiastischen, zuversichtlichen Ausrufen »mit Freuden«, »bei sich sein« reißt Dieckhoff plötzlich einige Seiten aus dem Heft heraus und liest laut daraus vor: »Und hielten wir uns in der Nacht, wir wären doch geduldig in unserem Bann und lächelten uns an. Wir wären uns gewohnt und wohnten unter uns. Wir glauben uns. Zu Haus sein. [Heimat, Heimat, Heimat...]«34

Die Echos, die »Vaterland«, »Deutsche« und »Heimat« durcheinander vor sich hin murmeln, werden lauter und steigern sich zu Klagerufe. Das Summen des Chores in der Dunkelheit wird nun sprichwörtlich zum Klagelied des Echos. Klagend knüllt Diekhoff die Papiere zusammen, aus denen sie den Text vorgelesen hat, und setzt ihr Klagen ohne den Text fort. Mit dem Ruf »Heimat, Heimat...« stopft sie die zusammengeknüllten Papiere in ihren Mund. Während sie versucht, zu kauen und zu schlucken, dauert ihr Klagen fort. Diese Geste Diekhoffs, so kann man interpretieren, symbolisiert die stimmliche Verkörperung des geschriebenen Textes. Das Gewirr der Stimmen, das sich nach und nach im Theaterraum ausbreitet, behauptet ein Territorium und hält es durch die automatisierte Wiederholung der Zitate fest. Wie beschrieben sind alle Worte, die hier hartnä-

33 Ebd., S. 23. 34 Ebd., S. 10. »Heimat« usw. steht in Jelineks Original nicht an dieser Stelle und wurde offenbar für die Inszenierung hinzugefügt.

1. NATIONALSTAAT UND HEIM | 115

ckig wiederholt werden, lediglich Fragmente von Zitaten aus verschiedenen Stellen des Textes. Die Akteurinnen wiederholen diese Fragmente wie defekte Automaten; sie ähneln darin zugleich einem mythischen Wesen: der Nymphe Echo.

1-4. T ÖDLICHE Z WÄNGE

DER

N YMPHE E CHO

Der griechische Mythos der Echo kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Während Zeus um die Gunst der Nymphen buhlt, betritt seine Frau Hera die Szene. Die Nymphe Echo hindert sie mit ihrem ständigen Reden daran, ihren Mann zu verfolgen. So können Zeus und seine Geliebten dem Zorn der Hera entfliehen. Gleichzeitig ruft die Tat Echos den Ärger der Göttin hervor. Sie erlegt Echo die Strafe auf, nie wieder selbst sprechen zu können, sondern lediglich die Worte anderer zu wiederholen. Infolge dieser Gottesstrafe kann Echo mit niemandem mehr kommunizieren. Daran scheitert auch ihre einseitige Liebe zu Narziss, die ihren Körper nach und nach zum Verschwinden bringt. Die Philosophin Petra Gehring analysiert den Mythos und arbeitet darin drei tödliche Zwänge heraus, die auf Echo ausgeübt werden, sowie deren Resultat: (1) einen Sprechzwang, (2) einen Wiederholungszwang, 3) einen Zwang zur Kürze, sowie, als Resultat, 4) einen Ruin der »Stimme« in der Rede.35 Diese vier Aspekte treffen auch auf die Echo-Stimmen der Frauen in Wolken. Heim zu. Sie wurden zwar nicht von einem göttlichen Wesen bestraft oder zu etwas gezwungen. Die Frauenfiguren sprechen und handeln scheinbar nach ihrem eigenen Willen und nach ihrem eigenen Begehren. »Willkürlich« wollen sie daheim sein und immer dort bleiben. Ihr »Wille« und ihr »Begehren«, sind es, die sich auf die Spuren der abwesenden, untoten Männer richten. Aber in der Tat funktioniert jede von ihnen nur als ein Rad in einer Maschinerie, die wiederum Mythen des Alltags reproduziert. In der Dunkelheit teilen sie zum Beispiel die Worte: »Wir sind bei uns. Wo lebt Leben sonst? Schön bei sich sein.«36 Im nächsten Moment singen sie im Kreis stehend ein Chorlied. Dabei richten sie sich ganz nach innen dem Zentrum des Kreises zu. Im Fenster des Bühnenraumes schweben in der

35 Vgl. Gehring, 2006. 36 Jelinek, 2000, S. 9.

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Finsternis leuchtende Wolken, die ihre gemeinschaftliche Gestalt widerspiegeln. Diese Bühnenausstattung und die von den Schauspielerinnen gebildete Figur des Hörraums machen ihren Glauben daran sinnfällig, dass es kein Außen gibt. Diese Auffassung entspricht jedoch bloß ihrer vermeintlich »natürlichen« Welt. Der starke Glaube an diese »Natürlichkeit« wird in dem Sinn vergöttlicht, dass er keinen Zweifel zulässt. Den in Wahrheit zweifelhaften Charakter dieser mythischen »Natürlichkeit« zeigt das Schauspiel der Frauen auf der theatralen Metaebene. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich zunächst das von den Schauspielerinnen gespielte Echo mit der Figur des mythischen Wesens Echo vergleichen. 1) Sprechzwang bedeutet ein konkretes Verbot des Schweigens; das Vermögen zu schweigen als eine Art von Antwort, als ein wortloser Widerstand oder aber als Aufforderung zur Antwort wird unterbunden. Die stillen Momente, die zwischen den Frauen in Wolken. Heim. entstehen, werden für alle zu gesetzten Pausen in einer Partitur des gemeinsamen Singens und Sprechens. Ihnen wird – wie der Nymphe Echo – die Freiheit gegeben auszuwählen, »ob sie kommunizieren [wollen] oder nicht«,37 aber nur solange sie in der Gemeinschaft sind. 2) Wiederholungszwang bedeutet »die Festlegung aufs bloße Wiederholen«.38 In der Maschinerie, die kontinuierlich Mythen reproduziert, werden die Frauen zur Wiederholung der untoten Worte gezwungen. Ihre Stimmen folgen ausschließlich den Spuren der untoten Männer. Jossi Wieler und die Schauspielerinnen lassen zwar aus Jelineks monologischem Text scheinbare Dialoge unter den Frauen entstehen. Aber ihre Stimmen, die bloß die Worte der Untoten wiederholen, ergeben »keine Aussage, die im Dialog für sich stehen kann und in diesem Sinne ›spricht‹«.39 Sie sprechen nur als »ein ›toter‹ Automat«,40 dessen groteske Wiederholung die Kommunikation mit anderen verhindert, wenn auch sein schauerlicher Charakter innerhalb der geschlossenen, vermeintlich homogenen Gemeinschaft nicht erkennbar ist. Auch die Nymphe Echo ist zur Wiederholung gezwungen bzw. zur Wiedergabe der letzten Teile eines vorangegangenen Satzes. Ihr wird der Beginn und damit auch die Intention einer Aussage verwehrt. Sie bleibt stets

37 Gehring, 2006, S. 93. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 95.

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abhängig von der Rede eines oder einer anderen; zudem bleibt die Kommunikation einseitig und wird dadurch von vornherein unterbunden. 3) Durch den Zwang zur Kürze wird »[d]ie zuvor gehörte und dann wiederholte Aussage [...] nicht vollständig wiedergegeben, sondern gekappt – und ohne Rücksicht auf den Sinn, sodass Unsinn entsteht oder, schlimmer: verzerrter, grotesker Sinn«.41 Die Möglichkeit sprachlich ausgedrückter Intelligenz der sprechenden Echo wird durch den Zwang auf das Verstümmelte radikal vermindert. Der »Zwang zur Kürze« beschränkt Echos sprachliche Möglichkeiten »auf das Äußerungsniveau von Kindersprache«.42 Durch die Verkürzung der Worte der »großen« Männer klingt die Sprache der Frauen, die aus den Zitaten nur Fragmente wie »Heimat«, »verwurzeln« oder »Vaterland« wiederholen, so albern wie eben »Weibergeschwätz«, ein Ausdruck, der seinerseits auf dem Mythos basiert, Männer seien von Natur aus intelligenter als Frauen. 4) Ein Ruin der »Stimme« in der Rede ist das Resultat der skizzierten drei Zwänge. Alle drei Zwänge »untergraben nicht nur den ›Sinn‹ beim Sprechen, sondern schlechthin dessen Geltung als Rede«.43 Gehring fragt daher, »inwieweit eine solche Stimme noch eine Stimme ist – und inwieweit diejenige, die so reden muss, noch ein vernünftiges oder sogar ein lebendiges Wesen ist, sofern wir nämlich ›Lebendigkeit‹ als die Möglichkeit verstehen, eine aktive, das Anerkennungsspiel des Kommunizierens überhaupt noch mitspielende Position innezuhaben«. 44 Die Stimmen der gespielten Frauen sind derart ruiniert, dass selbst ihre Gültigkeit als Stimme fraglich wird, wenn man mit Gehring die Funktion der Stimme so versteht: »Nicht im Gesagten, sondern in der Möglichkeit, etwas zu sagen, liegt das Ureigenste der Stimme«. 45 Die Echo-Stimmen stehen außerhalb jeglicher Kommunikation. Sie besitzen kein Vermögen mehr, an einer Kommunikation teilzunehmen. Ihre eigenen Positionen werden – seien sie gesichert oder ungesichert – nicht als solche anerkannt, sondern stehen stellvertretend für die Untoten, deren Worte sie zitieren. Diese Stimmen entsprechen

41 Ebd., S. 96. 42 Ebd., S. 97. 43 Ebd., S. 97. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 99.

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zwar soufflierten Stimmen,46 denen die Worte der Untoten von anderer Stelle vorgegeben werden. Zugleich bleibt jedoch der Prozess des Soufflierens unsichtbar und die Stimmen werden als quasinatürlich inszeniert. Die soufflierten Stimmen wirken als die »eigenen« Stimmen der Frauen. Aber alle Eigenschaft ihrer Stimmen werden durch den Status als Echo auf eine zudem noch schlechte Kopie der Worte der untoten Männer reduziert. Dadurch verlieren die Echo-Figuren nicht nur ihre sinnhafte, sondern auch ihre sinnliche Zuhörwürdigkeit. Ihr Sprechen wird zu unsinnigem Gerede. Ihre Inhalte sind unwichtig, sie werden ignoriert. Gleichzeitig aber lassen der Regisseur Wieler und die sechs Schauspielerinnen die Stimmen auf einer anderen Ebene vernehmen. Diese andere, für das Theater typische Metaebene wird im folgenden Abschnitt analysiert.

1-5. T HEATRALE W IDERLEGUNG DES H EIMATMYTHOS DURCH

DIE

S ATIRE

Der Titel »Wolken. Heim.« erinnert mit Absicht an die deutsche Übersetzung eines Stadtnamens in der altgriechischen Komödie Die Vögel von Aristophanes: »Wolkenkuckucksheim«.47 Die Germanistin Margarete Kohlenbach weist darauf hin, dass die satirische Färbung des Ausdrucks »Wolkenkuckucksheim« in Jelineks Parodie »Wolken. Heim.« nicht mehr deutlich hervortritt. Das Element »-kuckucks-«, das die Karikierung bewirkt, ist gestrichen, so dass lediglich eine harmlose Wortreihe bleibt. Daher erscheint unklar, ob der Titel »Wolken. Heim.« ein satirischer Ausdruck ist oder aber ein ironischer Nachhall der im Stück zitierten Dichter und Denker. 48 Zwischen Satire und Ironie liegt ein entscheidender Unterschied. Nach dem Theaterwissenschaftler Jens Roselt drückt die Satire eine deutliche Abwertung aus, während die Ironie das Zaudern vor einer klaren Entscheidung zwischen zwei (oder mehreren) Wertungen markiert. 49 Während Jelineks Theatertext die Zitate der Untoten auf ironische Weise verlautbart,

46 Vgl. Derrida, 1976, S. 259f. Vgl. dazu auch Finter 2014. 47 Vgl. Kohlenbach, 1991, S. 121. 48 Vgl. Ebd. 49 Vgl. Roselt, 1999.

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stellen die sechs Schauspielerinnen die Worte der untoten Männer eher satirisch dar. Das wird bereits in der oben beschriebenen Szene deutlich: Die genannten Merkmale des Echos, welche die Hörwürdigkeit der Stimmen der Frauen unterlaufen, wie auch das – absichtlich – theatralisch übertrieben ekstatische Spiel lassen eine satirische Ausrichtung gut erkennen. Entscheidend ist vor allem die letzte Szene. Die sechs Frauen, die nach der Spurensuche die Spuren der Männer verkörpert haben und von der gefundenen Flasche Cognac allmählich betrunken sind, beginnen sexuelle Bewegungen auszuführen. Die Akteurinnen, die zuvor so ordentlich ausgesehen und sich äußerst damenhaft benommen haben, grölen plötzlich mit tiefen, aggressiven oder keuchenden, orgastischen Stimmen, während sie die gefundenen Spuren wie Militäruniform, Waffe oder Zigarre tragen und sich mit den Händen in die Leistengegend greifen. Die Szene hebt ohne jegliche Romantisierung der Sexualität eine rohe Form der Selbstbefriedigung hervor, die wiederum als Symbol des extremen Nationalismus zu sehen ist. Indem die Schauspielerinnen die Figuren der von Untoten soufflierten Witwen und Töchter bis ins Detail karikieren und so eine deutlich ausgewiesene Satire gegen die Zitate der Untoten setzen, entlarven sie mit den Waffen, Uniformen und vor allem dem aggressiven Brüllen den vergöttlichten Heimatmythos als brutale, gefährliche Erfindung. Hier scheint es mir hilfreich, die Satire des Heimatmythos strukturell zu erklären. Nach Roland Barthes strukturiert sich das System der Mythen des Alltags wie in dem folgenden Schema dargestellt. Schema: Mythen des Alltags50

(Objekt-) Sprache

1. Bedeutendes

2. Bedeutetes

3. Zeichen Ⅰ. BEDEUTENDES MYTHOS

Ⅱ.BEDEUTETES

Ⅲ. ZEICHEN

Das Zeichensystem des MYTHOS verbirgt die künstliche Beziehung zwischen dem Signifikanten bzw. »1. Bedeutendes« und dem Signifikat bzw.

50 Kolesch, 1997, S. 37. Vgl. dazu auch Barthes, 2013, S. 259.

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»2. Bedeutetes«. Der Mythos hält diese künstliche Beziehung für eine natürliche Voraussetzung. Daher nimmt er »das Zeichen der Objektsprache als Bedeutendes [Ⅰ. BEDEUTENDES] und weist ihm ein neues Zeichen [ Ⅲ. ZEICHEN] und eine neue Bedeutung [Ⅱ. BEDEUTETES] zu«.51 Jossi Wieler und die sechs Schauspielerinnen heben dagegen die Veränderbarkeit der Bedeutungen der Objektsprache hervor, indem sie dem (ersten) Bedeutenden eine jeweils andere Möglichkeit hinzufügen. Sie geben der Sprache eine andere Bedeutung als jene Bedeutung (2. Bedeutetes), die bereits in den Mythos eingeordnet ist. Die Schauspielerinnen lassen von der mythischen Ordnung abweichende Stimmen und Bilder spüren, obwohl diese Stimmen und Bilder nicht konkret dargestellt werden. Die Veränderbarkeit der Ordnung beweist, dass ihr Schauspiel die vermeintliche »Naturgegebenheit« des Heimatmythos widerlegt.

1-6. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTE 1: M YTHISCHES E CHO Die Stimmen in Jossi Wielers Aufführung von Wolken. Heim. bilden einen Hörraum, der die Heimat der Sprechenden/Singenden widerspiegelt. Obwohl die Stimmen psychologisiert und individualisiert werden, formen sie schließlich die einheitliche Stimmfigur einer »wolkigen« bzw. anonymen »Wir«-Gemeinschaft. Diese Stimmfigur richtetsich dadurch auf ihre Heimat aus, dass sie sich zentripetal sammelt und extrem nationalistisch alles ausschließt, was außerhalb davon liegt. In der Finsternis und Dunkelheit territorialisieren die Stimmen den Theaterraum mit ihrem Gespräch und ihrem Gesang, die durch ihre Verlautbarung eine Ordnung und eine Versammlungskraft hervorbringen. Wie die Stimme der bestraften Nymphe Echo (ent-)sprechen die Stimmen der Akteurinnen dabei nicht eigenen Intentionen. Sie wiederholen lediglich die Sprache von anderen, in diesem Fall die Worte bestimmter deutscher Denker und Dichter. In Wielers Aufführung werden die Worte der Männer von Schauspielerinnen gesprochen, was eine Struktur bildet, in der Frauen zu einem Echo abwesender Männer

51 Ebd.

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werden. Die Akteurinnen repräsentieren diejenige Heimat, welche die Männer gebildet haben, und reterritorialisieren deren Spuren im Theaterraum. Die Schauspielerinnen agieren dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Auf der Spielebene verlieren die Echo-Stimmen ihre Zuhörwürdigkeit. Sie verwandeln sich in Automaten zur Reproduktion des Heimatmythos, dessen künstliche Erfindung als naturgegebene Wahrheit ausgegeben wird. Auf der theatralen Metaebene des Spiels signalisieren ihre Stimmen dagegen die Künstlichkeit des Heimatmythos selbst, indem sie die zum Mythos vergöttlichte angebliche »Naturgegebenheit« der Heimat unterlaufen. Die Echo-Stimmen der Schauspielerinnen klingen wegen der Fragmentierung ihrer Sprache wie eine schlechte Kopie des Originals, was durch die Echo-Figuren erneut satirisch hervorgehoben wird. Die topologische Stimmgeste des mythischen Echos reterritorialisiert also den Theaterraum durch die Wiederholung bzw. die Reproduktion des mythisierten Ortes. Gleichzeitig deterritorialisiert die Stimmgeste den mythisierten Ort auf der theatralen Metaebene, indem sie in der Wiederholung die eigene prozessuale Veränderbarkeit offenbart.

2. Stadt und Heimat: Autodafé von Masataka Matsuda

Verführung ist die wahre Gewalt. (Gottfried Ephraim Lessing) Drum verkünd‘ ich sie euch, dass jeder sie wisse; wir mögen Sterben, oder entfliehn dem schrecklichen Todesverhängnis. Erst befiehlt uns die Göttin, der zauberischen Sirenen Süße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wiese. (Homer)

2-1. H ETEROGENER O DYSSEUS . H EIMAT ALS DOPPELTER O RT Europa kennt einen alten, weit verbreiteten Heimatmythos, der gleichsam als Urbild des Heimatmythos überhaupt begriffen werden kann: die Odyssee. In diesem Kapitel behandele ich eine weitere Inszenierung von Masataka Matsuda, die Homers Odyssee parodiert und deren Motiv der Heimkehr in Frage stellt.1 Das Stück heißt Autodafé (2006 in der AI-Hall, Osaka uraufgeführt).2 Darin kommt der Protagonist in seine Heimat zurück, um deren Geschichte zu verfassen. Sein Name ist Odysseus A. Allein durch

1

Zum Folgenden auch Harigai 2015.

2

Die Aufführung konnte ich nicht live erleben; meine Analyse von Autodafé beruht daher auf einer Videoaufnahme.

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diesen Namen mit seinem anonymisierenden Buchstaben »A«, der die mögliche Existenz eines Odysseus B, C usw. andeutet, wird der singuläre mythische Held Odysseus in eine bloß exemplarische Figur, den unbestimmten Heimkehrenden, verwandelt. Der Heimatmythos der Odyssee wird so verallgemeinert und pluralisiert. Gleichzeitig zeigt Matsuda die Heterogenität der Heimatgeschichte. Denn Odysseus A ist ein doppeltes, heterogenes Wesen. In seiner Heimat trifft Odysseus A sein Alter Ego, Odysseus A’.3 Obwohl sie einander zunächst nicht erkennen, ist dem Alter Ego der Namen Odysseus A bekannt. Anders als Odysseus A lebt sich sein Alter Ego gut in der Heimat ein. Odysseus A’ ist das Spiegelbild von Odysseus A; durch ihn ist Odysseus A verdoppelt und zugleich gespalten. A bemüht sich darum, sein Spiegelbild A’ nachzuahmen, um so die Spaltung zu überwinden. Jedoch gelingt es ihm nicht: Er kann sich weder so vorzüglich als Mitglied der Gemeinschaft betragen noch so gut seine Muttersprache erlernen wie sein Alter Ego. Aber nicht nur der Protagonist Odysseus A, sondern auch der Ort seiner Zugehörigkeit wird als ein heterogener Ort entworfen. Die »Heimat« von Odysseus A heißt »Wese« und ist ein fiktiver Ort, der allerdings auf real existierenden Orten basiert, nämlich auf Matsudas Heimatstadt Nagasaki sowie der ukrainischen Stadt Prypjat in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl. Durch eine Analogie verbindet Matsuda diese beiden voneinander entfernten Orte. Denn beide Städte wurden durch radioaktive Strahlung komplett verwüstet. Jedoch haben manche Menschen das Ereignis überlebt und sind in ihre vertraute »Heimat«, die es letztlich nicht mehr gibt, zurückgekehrt.

3

Der erste Dialog zwischen A und A’ verläuft wie folgt: A’: Wer bist du?! A: Ich bin A. A’: A. A: Von ABC. A’: Bist du also Odysseus A? A: Ja, der von den langen Wanderungen. A’: Ich bin Odysseus A’. Welche Überraschung, dass ich eben hier mit dir arbeite! Zitate aus Autodafé wurden übersetzt von M.H. unter Mitarbeit von Astrid Hackel.

2. STADT UND HEIMAT

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Durch diese Strukturierung der Heterogenität versucht Matsuda, das verborgene Leben derjenigen Menschen darzustellen, die nicht in einer einheitlichen, ortsgebundenen Gemeinschaft miteinander verschmelzen können, sondern die ortlos leben und neben ihrer scheinbaren Identifizierung mit einer Gemeinschaft ihre Heterogenität insgeheim bewahren. Den Ort solcher heterogener Menschen beschreibt Matsuda so: Zum ortlosen Ort, zum »Nichtort« Im Herzen ein nicht assimilierbares Geheimnis haben. Plötzlich von einem gewohnten Ort vertrieben werden und in eine fremde Stadt auswandern müssen. Wegen eines unvermeidlichen Schicksals unter Qualen überleben. An einen solchen Punkt gebracht, können diese Menschen weder einen Standpunkt noch eine Rolle einnehmen, die in den gesellschaftlichen Rahmen passt. Trotzdem sind sie nicht außerhalb dieser Welt. Sie können nur als ein unnennbares Wesen in dieser Welt sein. Und auch in Zukunft nur sein. Sie leben an einem ortlosen Ort, an einem Nichtort.

4

»Ortloser Ort« und »Nichtort« sind meine Übersetzung des japanischen hiba (非場). Dieses Wort gehört nicht zum üblichen Vokabular der japanischen Sprache und ist als eine Neuprägung von Matsuda zu verstehen. Die Vorstellung entspricht einerseits Marc Augés Konzept der »Nicht-Orte«5, worunter Augé, wie bereits erwähnt, Übergänge zwischen verschiedenen Orten wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Kaufhäuser versteht. Dementsprechend sind alle Figuren von Autodafé als Reisende dargestellt. Andererseits versteht Matsuda einen »ortlosen Ort« auch als »non-lieu« im Sinn von Jacques Derrida, der eine Philosophie der Marranen – der konvertierten Juden Spaniens – entwickelt hat. Der japanische Historiker Akira Kogishi sieht eine Analogie zwischen jenen Marranen, die insgeheim ihren jüdischen Glauben weiter leben, und den heimlichen Christen in Nagasaki. 6 Derridas Essay »Apories. Mourir – s’attendre aux ›limites de la vérité‹«7 folgend bezeichnet er beide Zugehörigkeiten als solche von Menschen, die

4

Masataka Matsuda, Kommentar zu dem Libretto von Autodafé, Besitz der Thea-

5

Vgl. Marc Augé, 2011.

6

Vgl. Akira Kogishi, 2002.

7

Derrida, 1994, S. 309-338.

tergruppe.

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inmitten einer Gemeinschaft verborgen an einem »Nichtort (non-lieu)«8 leben. In seinem Essay bemerkt Derrida zur Lebensweise der Marranen, dass sie ihr heterogenes Leben verbergen und auf ihre Rettung warten. Dabei leben sie zwar scheinbar an einem klar bestimmten sozialen und politischen Ort, aber sie richten ihr Leben auf einen verborgenen, doppelten Ort aus. In einem vergleichbaren Sinn wird die Heimat von Odysseus A als »ortloser Ort« sowie als »Nichtort« benannt.9 Im Folgenden beschreibe ich die Anfangsszene von Autodafé, in der die Figuren als Reisende auftreten und gemeinsam eine heimatliche Gemeinschaft bilden. In der heimatlichen Erde, auf der Odysseus A angekommen ist, öffnet sich ein riesiges, rechteckiges Loch, das sowohl wie eine Müllgrube als auch wie ein Grab aussieht. Darüber hängt ein riesiger Stein, der genau auf die Öffnung passt. Ich vermute aus der Videoaufnahme der Aufführung, dass die massive Steinattrappe trotz ihrer Künstlichkeit einen bedrohlichen Eindruck auf die Zuschauer ausübt, die nicht in einem abgetrennten Zuschauerraum, sondern am Rand der Bühne sitzen. In dem Loch liegen alte Bücher, lose Manuskripte und Trödel verstreut. Die Objekte hat ein Mann mit einem Handwagen von einem Müllhaufen hinter der Grube hergebracht und hineingeworfen. Die verstreuten Dinge sind als das (noch) nicht archivierte Gedächtnis der zerstörten Stadt zu sehen, denn einige von ihnen werden später von Odysseus A ausgegraben und ausgestellt. Odysseus A, der mit einem Koffer in der Hand auftritt, folgen noch andere Reisende. In ihrer gemeinsamen Betroffenheit durch radioaktive Strahlung bilden diese Reisenden eine heimatliche Gemeinschaft. Zu betonen ist hier, dass Matsuda diese Heimatgemeinschaft nicht als naturgegeben begreift, sondern als einen Erzeugungs- und Vergöttlichungsprozess darstellt, den ich im Folgenden beschreibe. Die Angekommenen versammeln sich im Kreis um Odysseus A und blicken ihn scharf und aggressiv

8

Der »Nichtort (im Sinn von Derridas non-lieu)« kann im Unterschied zur »Utopie« nicht imaginiert werden, während er, anders als die »Atopie«, kein affektiv zu spürender Ort ist.

9

Augés Argument folgend, dass Nicht-Orte als dynamische Räume, die mit verschiedenartigen Verkehrsströmen verbunden sind, immer pluralisch auftreten, schreibe ich, wo nicht anders angegeben, das Wort durchgehend im Plural, während ich mit »Nichtort« im Singular sowie mit »ortlosem Ort« den »non-lieu« Derridas meine.

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an, wodurch Odysseus A als ein Ausgeschlossener erscheint. Der Müllträger – ein das Gedächtnis Stapelnder oder ein ironisierter Archivar – richtet ein Gerät auf die Menschengruppe, das die Form eines Kassettenrecorders hat, des er aber genau wie einen Fotoapparat hält. Erst vor dieser »Kamera« löst sich der Kreis und die Menschen stellen sich der Reihe nach vor dem Gerät auf. Diesen Moment nutzt Odysseus A. Er versucht, sich der Gemeinschaft zu nähern und mit ihnen zusammen fotografiert zu werden. Doch er bleibt weiterhin ausgeschlossen. So kann er sein Gesicht der »Kamera« nur teilweise und aus der zweiten Reihe zeigen. Bei der ersten Aufnahme spricht der Müllsammler die Gruppe statt mit Worten wie »Cheese!« oder »Cheers!« mit folgender Äußerung an: »Bücher der Asche, Asche der Bücher. Ja, ich bin da.«10 Dabei imitiert er mit dem Mund das Geräusch eines Kameraauslösers. Unterschwellig ist hier ist ein Wortspiel zu bemerken, denn »Hai« kann auf Japanisch zugleich »Asche« und »Ja« bedeuten. Das Wortspiel lässt assoziieren, dass die Anwesenheit an diesem Ort den Menschen den Tod brachte und zugleich ihr Gedächtnis vernichtete. Vor der »Kamera« rücken die Aufgenommenen Schritt für Schritt enger zusammen, schauen ernsthaft in das Gerät und posieren dann freundlich lächelnd wie für ein Gruppenbild, während Odysseus A noch immer außerhalb bleibt, hinter der Gruppe steht und die anderen ungeschickt nachahmt. Ihre Gesichter werden allmählich von einem Licht bestrahlt, das sich im Laufe der Zeit verstärkt. Die Münder der anderen Darsteller sind weit geöffnet, als würden sie stumm schreien, während der Mund von Odysseus A halb geschlossen bleibt, fast wie zusammengebissen. In dem Augenblick, in dem das Licht am stärksten strahlt, ertönt Mozarts »Kyrie, Andante moderato« aus der Großen Messe in c-Moll (KV 427), dessen Orchestertöne von einem anfänglichen Höhepunkt abfallen und dann stufenweise wieder ansteigen. Geblendet und schaudernd beugen alle sich steif zurück, als wären sie Bild, das der unheimliche Mann mit seiner KassettenrecorderKamera aufgenommen hat. Der Mann kniet vor diesem Bild wie vor einem Heiligtum. In die gespannte Erwartung nach dem Orchestervorspiel ertönen nun pathetische Chorstimmen: »Kyrie Eleison«. Der »Kameramann« steht auf und geht langsam zum Publikum, während er die KassettenrecorderKamera weihevoll über sein Gesicht hebt wie eine Reliquie in einem Ri-

10 Im japanischen Original: Hai no shomotsu, shomotsu no hai. Hai, watashi wa koko ni imasu.

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tual. Es scheint, als ob die christlich-sakrale Musik in die geöffneten Münder eingegossen würde und der »Kameramann« die aufgenommenen Chorstimmen aus dem Bild der Menschen wiedergäbe. Von den Stimmen des »Kyrie Eleison« und von dem starken Licht getroffen, geraten die Menschen in Krämpfe, die ihren Affekt anzeigen. In diesem Moment fallen ihnen die Koffer aus den Händen und sie ziehen sich wie besessen ihre Kleidung aus. Nun gehört Odysseus A auch zur Menschengruppe: Er benimmt sich genauso wie die anderen Besessenen. In weißer Unterwäsche bilden sie nun eine Massenfigur, die gemeinsam ins gleißende Licht starrt, sie treten zaghaft zurück und stürmen dann in das Loch hinein. Dort verwandeln sie sich in »Heimische«, gekleidet in die gleichen grauen, armseligen Uniformen und sich ihre Heimatgeschichte erzählend. Das Licht, das die Menschen in das Loch gestürzt hat, ist der Blitz der Kamera, aber es erinnert auch an radioaktive Strahlung. Ein Lichtstrahl hat den Anwesenden ein gemeinsames Schicksal auferlegt und sie alle in ein Foto eingebrannt. Somit entsteht hier eine Passionsgeschichte mit der Frage: »Warum muss ich leiden, nur weil ich gerade hier war?« Um diese Frage zu beantworten, haben die Überlebenden in Nagasaki versucht, das plötzliche, unbegreifliche Ereignis als Imitatio Christi – als Nachfolge der Passion Christi – zu deuten.11 Nach dieser Sichtweise ist der Lichtstrahl ein »Blitz Gottes« gewesen, der die Menschen, die zu diesem Zeitpunkt anwesend waren, Gott zum Opfer brachte. Die Überlebenden leiden unter einem Pathos, das sie heimsuchte, aber zugleich geraten sie dadurch in einen Rausch.12 Den Rausch kann aber Odysseus A mit den anderen nicht ganz teilen, wie sein zusammengebissener Mund zeigt, der den Chor des Kyrie

11 Diese Idee stammt vor allem von dem christlichen Arzt Dr. Takashi Nagai, der als Radiologe an der Universität Nagasaki kurz nach dem Atombombenabwurf die Opfer behandelte und dem darum der erste Ehrenbürger-Titel verliehen wurde. Neben medizinischen Protokollen schrieb er einige Essays über das Leben in der zerstörten Stadt. Einige seiner Bücher waren damals so populär, dass sie verfilmt wurden. Nagasaki no Kane [Glocken in Nagasaki, 1949] wurde zu einem Bestseller. 12 In Matsudas späterer Inszenierung Park City (2009) wird die verspätete Identifikation mit Hiroshima, die einen rauschhaften Zustand beim Protagonisten auslöst, noch stärker thematisiert.

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nicht mitsingen kann. »Seine eigene Heimat« kennt Odysseus A nicht, weder ihre Einwohner noch ihre Geschichte. Sie überfallen Odysseus A nur. Die Chorstimmen mit ihrem Pathos formen sich später in der »Heimat« um in eine verführerische Tanzmusik und in Oratorien der »verborgenen Christen«, die nur mündlich und körperlich überliefert wurden. Der ausgeschlossene Odysseus A wird nun von den sirenenhaften Stimmen der einheimischen Frauen zur heimatlichen Gemeinschaft gelockt. In den folgenden Kapiteln behandle ich zuerst Homers Sirenen, die in Analogie zum Konzept der Mutterstimme in der Psychoanalyse gesehen werden können.

2-2. D IE S IRENEN IN H OMERS O DYSSEE UND DIE M UTTERSTIMMEN IN DER P SYCHOANALYSE Mit unwiderstehlicher Kraft verführen die süßen Gesangsstimmen der Sirenen Odysseus, den Heimkehrenden, in eine trügerische Heimat. Die Verführung quält ihn so sehr, dass er sich seiner Fesselung an den Mast zum Trotz zu den Stimmen stürzen möchte, obwohl sie vanitas vanitatum – das Vergängliche – sind. Schließlich übersteht er dank des Rates der weisen Zauberin Kirke die Verführung und fährt in seine »wahre« Heimat. Diese »wahre« Heimat ist für Odysseus der Ort, an dem seine Familie – seine Frau Penelope und sein Sohn Telemach – auf ihn wartet. Im Gegensatz zu diesem rationalen, sich selbst fesselnden Heimkehrenden werden die Sirenen gemeinhin als sinnliche Verführerinnen dargestellt. Adorno und Horkheimer finden etwa im Sirenengesang die natürliche Schönheit der Kunst, vor allem der Musik. 13 Aber die unwiderstehliche Anziehungskraft der Sirenenstimme beruht nach Peter Sloterdijk weniger

13 Vgl. Adorno/Horkheimer, 1972, S. 39f. und 67. In dieser Interpretation wird zwar die Lockkraft der Sirenenfigur in der Odyssee nicht einfach nur auf die Sinnlichkeit zurückgeführt, sondern im Zusammenhang mit der Anstrengung der Selbsterhaltung ausgelegt. Aber es ist klar zu erkennen, dass die Autoren vor allem die weibliche Sinnlichkeit im Sirenengesang finden. Im Folgenden wird die Funktion der Sirenenfigur anders verstanden.

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auf ihrer Sinnlichkeit als vielmehr auf der Verortungsfunktion des Lobgesangs, den sie »vom Ort der Hörenden her« singen: »Die Unwiderstehlichkeit der Sirenen hat ihren geheimnisvollen Grund in dem Umstand, daß sie seltsam skrupellos nie ihr eigenes Repertoire vortragen, sondern immer nur die Musik des Passanten; auch die Idee einer eigenen Melodie ist ihnen fremd; sogar die Süße ihrer Stimmen ist keine musikalische Eigenschaft, die ihrem Vortrag unentäußerlich anhaftete, und die Tradition nennt ihre Stimmen öfter schrill als schön. Wenn die Sirenen in allen Hörern bis zu Odysseus – und in diesem besonders – begeistert hingezogene Opfer finden, so deswegen, weil sie vom Ort des 14

Hörenden her singen.«

Indem die Sirenen den Namen und die Taten des Hörenden in einer Hymne preisen, schaffen sie eine akustische Sphäre, in der eine zuversichtliche Subjektivität der Hörenden gebildet wird. »Was bei ihnen [den Sirenen; M.H.] Unwiderstehlichkeit heißt, ist die Versetzung des Subjekts ins Zentrum der hymnischen Regung, die aus ihm selber aufzuquellen scheint und die ihn unter die Sterne versetzt.«15 Odysseus versinkt umso tiefer in sich, je tiefer er die Stimmen der anderen hört. Die Stimmen loben die heldenhaften Taten während seiner Reise zu fremden Ländern. Indem sie eine Geschichte von fernen Ländern singen, singen sie in der Tat nur vom hörenden Helden. Sie verkünden, dass sie die Geschichte des Odysseus schon kennen, und lobpreisen ihn: »Komm, gepriesner Odysseus, du großer Ruhm der Achäer! Lege dein Schiff hier an, um unsere Stimme zu hören; Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh er die honigtönende Stimme aus unseren Mündern Hörte; er kehrt dann heim, erfreut und reicher an Wissen; Denn wir wissen alles, wieviel in Troja, dem weiten, Die Argeier und Troer mit Willen der Götter gelitten, Wissen, was immer geschieht auf der vielernährenden Erde.«

14 Sloterdijk, 1998, S. 496f. Vgl. auch Kolesch 2004. 15 Sloterdijk, 1998, S. 497. 16 Homer, 2010, S. 377.

16

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Sloterdijk interpretiert diese Passage folgendermaßen: »Laß die Ägäis schrumpfen zu deinem privatesten Gewässer! […] Verzichte auf das Rauschen der Welt und gehe ein in deine eigene Musik, deine erste und letzte!« 17 Das Anderen-Zuhören verwandelt sich hier in das In-SichHineinhören im geschlossenen Sirenenkreis. Die Sirenen singen nicht von außen, sondern von innen die Wünsche des Odysseus selbst. Ihr Lied verleiht ihm die imaginäre Ganzheit seiner Existenz. Im Unterschied zu Lacans Theorie des Spiegelstadiums, nach der die Subjektivität zuerst optisch, im Spiegelbild gebildet wird, betont Sloterdijk das Sirenen-Stadium als auditives Moment der Bildung von Subjektivität: »Die Wahrheitsmomente, die Lacan seinem irrlichternden Theorem vom Spiegelstadium mitgegeben hat, treffen der Sache nach nicht auf das optische, sondern auf das auditive und audiovokale Selbstverhältnis des Subjekts zu. Im Voraus-Hören des Ich-Motivs knüpft das Individuum den Pakt mit seiner eigenen Zukunft, aus dem die Freude erwächst, auf die Erfüllung hin zu leben. Jedes unresignierte Subjekt lebt in der orthopädischen Erwartung der intimsten Hymne, die sein Triumphmarsch 18

und sein Nachruf in einem sein wird.«

Unter Rekurs auf die Forschungen des Arztes Alfred Tomatis 19 weist Sloterdijk auch auf die Analogie zwischen der Sirenenstimme und der Mutterstimme hin. Das Motiv der Heimkehr wurde bekanntermaßen schon seit Sigmund Freud psychoanalytisch gedeutet. Freud findet in dem für Menschen »Unheimlichen« das für sie »Heimliche-Heimische«; »dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«.20 Das »Heimliche-Heimische« bedeutet hier »de[n] Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes«, nämlich zum Mutterleib. »Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat

17 Sloterdijk, 1998, S. 500. 18 Sloterdijk, 1998, S. 503. 19 Vgl. Tomatis, 1994. 20 Freud, 2008, S. 160f.

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des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. »Liebe ist Heimweh«, behauptet ein Scherzwort, […]. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe »un« an 21

diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.«

Während Freud die menschliche Lust als ein Heimweh, in dem man seine Subjektivität erhalten will, auf die Sehnsucht nach dem Mutterleib zurückführt, wird in der psychoanalytischen Überlegung Sloterdijks ein dezidierter Unterschied zwischen Sirenen- und Mutterstimmen benannt: Während die Sirenen dem Hörenden einen Nachruf schaffen und sein Leben vollenden, heißen die »guten Mutterstimmen« ihr Kind willkommen ins neue Leben.22 »Das Lied vom Helden bedeutet […] schon eine Willkommenheißung im Jenseits, denn die fabelhaften Sirenen sind, wie die Alten wußten, der anderen Seite zugehörig. Ihr Gesang schließt die Akte eines Heldenlebens mit dem Vermerk: besungen und vollendet. Doch während die homerischen Sängerinnen den Männern unwiderstehliche Einladungen zur Vollendung ins Ohr träufeln, übermitteln die guten Mutterstimmen den Zeugen in ihrem Leib die Einladung, mit einem eigenen Dasein leb23

haft zu beginnen.«

Im Uterus hört der Fötus die Stimme seiner Mutter von außen, aus einem Außerhalb des Uterus. Mutterstimmen hören heißt also gerade nicht, sich auf den Mutterleib zu richten, sondern auf die Außenwelt.24 Die stimmliche Heimkehr ist deshalb zugleich die Reise in Richtung der Außenwelt, die man weder sehen noch berühren kann. Das menschliche Subjekt wird nach Sloterdijk nicht durch das Sehen gebildet, sondern dadurch, dass es nach außen hört und sich darum auf die Reise begibt. Sowohl Mutterstimmen als auch der Sirenengesang heißen also in einem Jenseits willkommen, aber

21 Freud, 2008, S.164. 22 Der Nachruf, der hier gemeint ist, darf nicht mit dem »Nachleben« verwechselt werden, von dem Walter Benjamin spricht. Denn das Nachleben, das Benjamin meint, bringt keine Vollendung, sondern die Möglichkeit, das Leben des Gestorbenen anders auszulegen. 23 Sloterdijk, 1998, S. 516. 24 Zur Argumentation für diese These vgl. Sloterdijk, 2007.

2. STADT UND HEIMAT

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anders als die Mutterstimmen beendet, reproduziert und konserviert der Sirenengesang das Leben des Hörenden. Stimmen, die in der Aufführung des Gesangs von Sirenen dem hörenden Helden einen Nachruf verleihen sollen, sind allerdings flüchtig und ephemer.25 Um »die flüchtige Stimme festzuhalten und ihre Sterblichkeit zu bannen«,26 sind künstliche Operationen nötig. Dazu wurden nicht nur die Schrift oder das Grammophon erfunden, sondern auch jene Mutterstimme, die die Nationalsprache überliefert. Friedrich Kittler beschreibt die Funktion der »Aufschreibesysteme« gegen 1800, als die deutschen Mütter ihren Kindern die Nationalsprache als die »schöne Muttersprache« beibrachten. 27 Die Sinnlichkeit der Muttersprache wird »von Staats wegen« benutzt, um die vernunftvolle Nationalsprache zu erhalten, die die nationale Geschichte überliefert. Die Jungen schreiben später als erwachsene Männer in dieser Sprache und lassen Frauen das Geschriebene lesen und loben. Auch die Lehrbücher, nach denen die Mütter lehrten, wurden von Männern geschrieben. So ordnen sich die Mutterstimmen in die »Aufschreibesysteme« ein. In Autodafé wird die Gefahr aufgezeigt, dass die Sprache der lehrenden Mutterstimmen im Rahmen von »Aufschreibesystemen« wie Sirenengesang funktionieren können. Matsuda stellt die sirenenhaften Mutterstimmen der Heimat, die der Ursprung und zugleich das Ziel eines Heimkehrenden sind, in Frage. Die sirenenhaften Stimmen locken den Hörenden in eine Heimat, die eine geschlossene Gemeinschaft konstruiert und ihn an einen Ort fesselt.

25 Vgl. Kolesch, 1999. Erika Fischer-Lichte findet ein bezeichnendes Merkmal der Flüchtigkeit der Aufführung in ihrer Lautlichkeit: »Geradezu paradigmatisch für die Flüchtigkeit von Aufführungen ist ihre Lautlichkeit. Was könnte flüchtiger sein als ein (v)erklingender Laut? Aus der Stille des Raumes auftauchend, breitet er sich in ihm aus, füllt ihn, um im nächsten Augenblick zu verhallen, zu verwehen, zu verschwinden. So flüchtig er sein mag, wirkt er doch unmittelbar – und häufig nachhaltig – auf den ein, der ihn vernimmt. Er vermittelt ihm nicht nur ein Raumgefühl […]; er dringt in seinen Leib ein und vermag häufig, physiologische und affektive Reaktionen auszulösen.« (Fischer-Lichte, 2004, S. 209) 26 Kolesch/Schrödl, 2004, S. 9. 27 Vgl. Kittler, 2003, S. 37-86.

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2-3. V ERFÜHRENDE S TIMMEN In Autodafé sind merkwürdige Inszenierungen weiblicher Stimmen zu hören, die in einem analogen Verhältnis zu den Sirenen und Odysseus stehen. Die Stimmen im Stück sind insofern denen der Sirenen analog, als ihre Verführungskraft nicht einfach auf ihrer Sinnlichkeit beruht, sondern vielmehr auf den Wunsch der Hörenden nach einer eigenen Geschichte zurückgeht. Diese Geschichte wird in der geheimnisvollen Sprache einer geschlossenen Gemeinschaft erzählt, die die Geschichte ihrer Heimat spüren lässt. Während sinnliche Musik und Körpergesten die Stimmen begleiten und Odysseus A verführen, sind die Stimmen selbst hier ohne jede sinnliche Verfühungskraft als schrilles Gekreisch inszeniert, was die Gefahr der Stimmen evident macht. Im Loch werden die persönliche und die offizielle Geschichte der Heimat ineinander verflochten erzählt. Die Frauen schreien nacheinander eine lange Chronik des fiktiven Ortes »Wese« aus sich heraus. Ihre Stimmen klingen dabei allzu diszipliniert, schrill und feurig wie in einer fanatischen Propaganda-Rede. Die Chronik ist mit Zahlenangaben scheinbar plausibel formuliert und läuft stellenweise parallel zur realen Historie, auf die parodierte Namen verweisen wie z.B. »Hamnibal« oder »Kathargo«: »66 von 143A, der zweite Pakt zwischen Dunja und Mertogo. In dem Monat 142144C, Hamnibal Krieg, Dunja unterwirft Reichsstadt Ulda. Die Allianz von Kathargo löst sich auf. 4J von 331, der erste Konsul aus dem einfachen Volk in Dunja. Explosion der Freude in der anständigen Graswurzelbewegung. Vereinigung der Gewerkschaft auf dem Platz. Fähnchen schwenken […]«

Die Chronik erzählt nicht nur einen »grand récit«, sondern auch kleine Episoden wie die Freude namenloser Menschen oder ihr Fähnchenschwenken. Die Heimatgeschichte mit den eingeflochtenen Episoden zieht Odysseus A an. Er nähert sich den schreienden Frauen und fragt sie nach seinem verlorenen Koffer, der sein einziger Besitz war: »Kennen Sie meinen Koffer?« Mit diesem Koffer hat er die Heimat erreicht, aber bei der Lichtbestrahlung hat er seinen einzigen Besitz im Müllhaufen verloren. Während der sirenenhaften Rede entnimmt Odysseus A dem Loch verschiedene Fundstücke und stellt sie an den Rand des Lochs. Es sind alltägliche, aber veraltete Geräte, ein Ventilator, ein Plattenspieler, eine Tisch-

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lampe usw., die nicht direkt von der Stadtgeschichte sprechen, aber etwas von früheren Zeiten spüren lassen. Die Ausstellung alter Dinge erweckt Assoziationen zur Dauerausstellung der Museen in Nagasaki und Hiroshima, in denen verschiedene Gegenstände des Alltagsgebrauchs ausgestellt sind, die beim Atombombenabwurf verstrahlt wurden.28 Die stummen Objekte lassen den Rezipienten das Ereignis wortlos erfühlen bzw. imaginieren, während die Stimmen die Geschichte der Stadt laut herausschreien. An das Ende der Chronik schließt sich eine Frauenstimme an, die diszipliniert, grell und zugleich monoton, eine persönliche Episode vorträgt: »Flüchten Sie bitte, flüchten Sie bitte, sagte der Lautsprecher und ich ging raus. Die Luft draußen war wie immer, aber genau betrachtet, funkelte sie. Vielleicht entzündete sich der Dokumentarfilm, den ich danach gesehen habe, weil er auf Radioaktivität reagierte. Dann wurde ich damals also selbst in einen künftigen Dokumentarfilm geritzt? Das ist ein Beweis der Wissensfähigkeit Weses! Es lebe Ursenko! Aber ich war real und muss es jetzt noch sein. Der Lautsprecher donnert, alle sollen in Busse einsteigen, um wegzukommen. Damals war ich 4 Jahre alt. Seitdem bin ich noch nie hierher zurückgekehrt. Hunderte von Bussen in einer langen Reihe nach Mordeaux mit hoher Geschwindigkeit. Einen Tag vor der großen Flucht gab es eine Hochzeit im Nachbarhaus. Der Schleier der Braut folgte unseren Bussen, die durch den Himmel die Stadt verließen, lang wie die Ewigkeit. Sayonara,29 unsere Stadt und meine Braut! rief mein Papa und daran erinnere ich mich ganz genau. Der weiße, klare Schleier, im Wind, er war wie der Schrei meines Papas. Sayonara, unsere Stadt und meine Braut! Komischerweise sah ich, zum ersten Mal, mit eigenen Au30

gen die Existenz einer Stimme schlechthin.«

28 Das Konzept der theatralen Ausstellung nach dem Vorbild des Friedensmuseums wurde in Hiroshima-Hapcheon (2010) und Dokumente der Reise zu Antigone und deren Aufführung (2013) weiterentwickelt. 29 »Sayonara« ist ein japanischer Abschiedsgruß. Oft übersetzt mit »Auf Wiedersehen«, schließt er oft auch die Bedeutung eines endgültigen »Lebe wohl« mit ein. 30 Matsuda 2006. Die Stelle erinnert an den Unfall des Kernkraftwerks in Tschernobyl, das Matsuda für den Fernseh-Dokumentarfilm CAMOCER (Television Nishi-nippon Corporation, 2005) besuchte. Der Dokumentarfilm behandelt ehemalige Bewohner, die wegen des Unfalls ihre Heimat verlassen mussten und trotz des staatlichen Zutrittsverbots in ihre kontaminierte Heimat zurückgekehrt

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Das »Ich« als Subjekt dieser Sätze ist im japanischen Original ausgedrückt mit »boku« (僕), was eine männliche und zumeist junge Person bezeichnet. Die Geschichte kann also nicht von der erzählenden Frau selbst stammen, sondern von jemandem, der eventuell als Kleinkind seine Heimatstadt verlassen hat. Bei den Worten, »daran erinnere ich mich ganz genau« beginnt die Stimme der Frau zu beben. Sie presst ihre Stimme fast quälerisch heraus, während sie zugleich noch immer eher automatenhaft als menschlich klingt; sie bringt ihre Stimme weder psychologisch plausibel noch »wie es der Sinn jedes Satzes selbst verlangt«31 hervor. Durch die Stimminszenierung widersetzt Matsuda sich der poetischen Schönheit seiner Texte und dem leidenschaftlichen Heimweh, in das nun auch Odysseus A gerät. Die Stimmen verwandeln sich am Ende nahezu in ein schmerzhaftes Stöhnen. Die Stimme gerät in einen entblößten Zustand, in dem automatenhaftes Handeln und Gefühl miteinander verschmelzen. Die Qual, die in der Körperlichkeit der Stimme zu vernehmen ist, verwischt hier nicht den Inhalt des Gesagten, sondern drückt ihn eher noch stärker dadurch aus, dass die Stimme sich zunehmend verfremdet: Das Schauspiel zeigt auf dem Weg dieser Verfremdung eine pathetische Frauenfigur. Die sirenenhaft gespielten Frauen sind aber keine boshaften Monster jenseits unseres Verständnisses, sondern sie fungieren im Rahmen von »Aufschreibesystemen«, die sie sirenenhaft handeln lassen. Odysseus setzt unter dem Klang der Stimmen seine Grabungsarbeiten im fort, als glaubte er, darin etwas Eigenes finden zu können. Die sirenenhaften Frauen schreien nicht nur die Geschichte heraus, sondern sie verwenden auch eine eigenartige Sprache, die Odysseus A nicht versteht. Eine Frau lehrt ihn die geheimnisvolle Sprache und verführt ihn damit in ihre Gemeinschaft. Diese Szene möchte ich kurz schildern. Eine Frau aus der Gruppe schreit in einer fremden Sprache, die zwar japanisch klingt, deren Bedeutung die japanischen Zuhörer aber nicht verstehen können. »Gururiyōza dōmino...«. Es handelt sich nicht um Japanisch, sondern es sind Worte aus einem Orasho, dem ursprünglich lateinischen Oratorium »O gloriosa Domina«, das von spanischen Missionaren vor 400 Jah-

sind. Die Zurückgekommenen heißen auf Russisch bzw. Ukrainisch »CAMOCER« (Samosjoly bzw. Samosely): Das Wort bezeichnet »Selbstsiedler« außerhalb der staatlichen Kontrolle. 31 Goethe, 1977, S. 77. Vgl. auch Fischer-Lichte, 2002, S. 220.

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ren nach Nagasaki gebracht und nach 250jährigem Verbot des Christentums ohne europäische Missionare völlig japanisiert wurde. Die Bedeutung des ursprünglichen Textes ist im Orasho völlig verloren, die lateinischen Laute japanisch verballhornt. Während der gewaltsamen Unterdrückung des Christentums mussten die Anhänger ihren christlichen Glauben und ihre heiligen Gesänge verbergen.32 Die Gesänge wurden folglich nur mündlich und bei strenger Geheimhaltung unter den Dorfbewohnern überliefert, um nicht von Fremden gehört zu werden. Der eigentümliche Glaube und die gewachsenen Rituale, die sich im Verborgenen und in Distanz zur Mutterkirche in Rom weiterentwickelt hatten, überdauerten die Verfolgung noch lange. Im Stück nähert sich eine Sprecherin dieser verborgenen Sprache Odysseus A zu den Klängen spanischer Tanzmusik aus den zwanziger Jahren tanzend und bringt ihn dazu, mit ihr zu tanzen. Dieser Akt kann als Prozess der körperlichen Anpassung des Fremden an die Gemeinschaft aufgefasst werden. In dem Moment, in dem die Tanzmusik anhebt, steigt ein männlicher »Heimischer« auf eine schwarze Säule. Diese Säule ist, wie nach und nach klar wird, nach einem spanischen Missionar, Camillo Constanzo, benannt, der als Märtyrer in der Zeit der Christenverfolgung (1622) in Nagasaki verbrannt wurde. 33 Als dessen Anhänger stützen die anderen »Heimischen«

32 Das Christentum wurde erst 1549 von dem spanischen Jesuiten-Missionar Francisco de Yasu y Xavier nach Japan gebracht. Vor allem die Präfektur Nagasaki wurde zu einem wichtigen Stützpunkt der Mission. 1587 befahl der damalige Machthaber Hideyoshi Toyotomi die Deportation der Missionare. Das Christentum wurde in Japan offiziell verboten. Danach wirkten jedoch die Missionare heimlich weiter, weil christliche Fürsten ihnen Zuflucht boten und anfänglich die japanische Regierung den Handel mit katholischen Ländern noch nicht untersagte. Nach und nach wurde aber die Unterdrückung strenger und grausamer; dazu wurde der Handel mit dem Ausland mit Ausnahme von Holland, China, Korea und Okinawa verboten (lediglich Niederländer durften auf der kleinen Insel Dejima vor Nagasaki bleiben). Dazu Miyazaki, 1996. 33 Der Missionar im Text Autodafé, Camillo Constanzo, starb als Märtyrer in der Zeit der Verfolgung (1622). Bis 1565, also fast 250 Jahre lang, bewahrten die japanischen Christen heimlich ihren Glauben ohne unmittelbare Verbindung mit der Kirche. Nicht zuletzt dadurch wurde der Glaube so stark japanisiert, dass manche Anhänger sich nicht mehr mit dem europäischen Christentum identifi-

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die Säule, um sie aufrecht zu stellen. Das Aussehen der Säule erinnert an das Kreuz Christi, aber auch einen Phallus, wie in einer patriarchalischen Gemeinschaft die Heimatkultur erhält. Die Musik aus einem Lautsprecher geht anschließend in die Märtyrergeschichte des Missionars über, wobei eine Frau auf der Bühne den Märtyrer spielt, indem sie seine von der Hitze des Feuertodes gequälte Stimme mit einem europäischen Akzent nachahmt. Aus ihrer Stimme ist die mystische »Kommunion« einer fremden und einer heimischen (hier der japanischen) Sprache zu vernehmen, die allerdings mit einiger Komik dargestellt wird und keine rechte Einfühlung auf Seiten der Zuhörer erlaubt. In dieser Szene zeigt sich deutlich, dass die heimatliche Kultur nicht autochton an ihrem Ort geboren, sondern mindestens teilweise von außen herangebracht wurde und insofern wurzellos ist. Im weiteren Verlauf der Szene ertönt eine ruhige Orgelmusik. Zu diesen rituell anmutenden Tönen grüßt eine Frau Odysseus A stumm mit der Hand. Darauf antwortet auch er gestisch. Die Frau zieht nun ihren Rock mit einem Ruck hoch. Auch Odysseus A zieht seine Hose hoch. Die Geste ist zwar nicht direkt erotisch, weist aber andeutungsweise eine obszöne Komik auf. Beide wiederholen die Geste zweimal. Dann geht die Frau einige Schritte weiter. Nachdem sie die Hände neben ihr Gesicht hebend eine lockende Pose eingenommen hat, beginnt erneut ein spanisches Tanzstück zu spielen. Von der Musik begleitet, nähert sich die Frau tanzend Odysseus A. Auch andere Frauen beginnen, den Männern Schritt für Schritt zu folgen. Anfangs stoßen die Männer die Frauen von sich, aber später empfangen und umarmen sie die Frauen. Auch Odysseus A beginnt mit der Frau, die mit ihm flirtet, zu tanzen. Die Musik bricht ab. Dabei schreit die Frau Odysseus A mit jenen Worten an, die sie auch in der Anfangsszene verwendet hat: »Gururiyōza, domino...« Das Orasho dürfen eigentlich nur Männer lernen und weitergeben. Im Stück des Regisseurs Matsuda jedoch lehrt es eine Frau Odysseus A. Odysseus A versucht, die heiligen Worte »Gururiyōza…« zu wiederholen und sie sich einzuprägen, aber sie sind ihm so fremd, dass er sie nur stottern kann. Er benimmt sich also wie ein von einer Frau verführter Mann

zierten und sich auch nach der Legalisierung des christlichen Glaubens nicht zum Katholizismus bekannten. Beispiele für die großen Veränderungen sind mit dem Buddhismus oder dem Shintoismus gemischte Riten, japanisierte Altargemälde oder eben Oratorien (Orasho). Dazu erneut Miyazaki, 1996.

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und gleichzeitig wie Kleinkind, das von seiner Mutter lernt. Auch in diesem Sinn wird das Orasho hier wie eine Muttersprache artikuliert, die man in einer Gemeinschaft oder Gemeinde spricht. Die Verführung der Frauen übermittelt die »heiligen« Worte für das patriarchalische Ritual, die einen geschlossenen Kulturraum bilden, obwohl und gerade weil die Worte aus der Ferne kommen – aus Spanien hinter dem Ozean und dem Himmel im Jenseits. Die ganze Gemeinde, Frauen wie Männer, umringt nun Odysseus A und singt ihm ihre heiligen Worte vor, die mit einer japanisierten europäischen Melodie gesungen werden. Sowohl der Klang als auch die Bedeutung sind Odysseus A fremd, denn das Original des japanisierten Oratoriums stammt aus Spanien. Die Kultur der Hafenstadt Nagasaki – von der Geschichte über das Stadtbild bis zur Esskultur – ist ebenfalls von ausländischen Einflüssen aus der Zeit geprägt, als der der Ort eine wichtige Rolle als Hafenstadt spielte. Nagasaki wird gerade dadurch innerhalb der japanischen Geschichte wie auch für Touristen aus Ländern, die damals Handelspartner waren (Spanien, Portugal, Holland, China) identifiziert und unterscheidet sich gerade dadurch von anderen Kulturgebieten in Japan. Das Fremden-Zuhören verwandelt sich durch den Sirenen-Effekt in ein SichSelbst-Zuhören. Die sirenenhafte Willkommenheißung verwandelt in Matsudas Inszenierung eine fremde Welt nicht nur in eine intime Welt des hörenden Subjekts selbst, sondern auch, vermittels einer mythischen Kommunion, in eine intime Welt der Gemeinschaft.

2-4. U NSICHTBARE F OTOGRAFIE , NICHT ZU HÖRENDE S TIMME Die Sirenenstimmen, so zeigt sich, schlingen sich hartnäckig um Odysseus A, indem sie sich in verschiedenen Motiven der gemeinschaftlichen Zentripetalkraft wiederholt zeigen: in schreiend erzählten Geschichten, in spanischer Tanzmusik, im Oratorium verborgener Christen usw. Dabei sucht Odysseus A seinen Koffer, seinen einzigen Besitz, der ihm zugleich auch das Reisen ermöglicht und seine materialisierte Identität enthält. Am Ende der Aufführung, nachdem er seinen verlorenen Koffer endlich gefunden hat, weist Odysseus A die sirenenhaften Stimmen ab, die ihn verlocken und ihm scheinbar seine eigene Heimatgeschichte erzählen, die ihm aber letzt-

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lich auf seiner Suche nicht weitergeholfen haben. Er findet zudem ein Buch über die Heimatgeschichte, das er von seinem Alter Ego erhalten hat. Aber die Schrift im Buchs ist durch Übertragungsfehler korrumpiert, so dass nur noch unsinnige Zeichen darin stehen. Das Buch ist so wie das Orasho, das infolge der Übertragung und Überlieferung nicht mehr verständlich ist, das aber seine rituelle Kraft bewahrt hat. Odysseus A, der sich nun irregeführt fühlt, wirft das Buch weg und reißt sich von den verführerischen Frauen los. Er zieht seinen eigenen Anzug an und geht erneut auf die Reise. Schließlich fragt er nach dem Foto seiner Eltern, das er nicht in seinem Koffer gefunden hat: »Kennen Sie das Foto meiner Eltern?«. In der Inszenierung steht das verlorene und bis zum Ende nicht aufgefundene Foto in einem unübersehbaren Gegensatz zum redseligen Geschichtenerzählen. Die Geschichte, die in der geheimen Sprache geschrieben ist, weiß nichts von den Eltern des Odysseus A, obwohl diese Geschichte, bei der es sich um seine Heimat handelt, viel besprochen und sogar laut geschrien wird. Das endlose Erzählen der Geschichte bringt Odysseus A, der auf der Suche nach seiner Heimat ist, keinen Gewinn. Eine ähnliche Erzählstruktur findet sich bei Roland Barthes. Dieser hält in seinem Buch über die Fotografie Die helle Kammer ein Foto seiner verstorbenen Mutter für seinen Ariadnefaden, er beschreibt das Foto und schreibt viel darüber, aber zeigt es niemals in seinem Buch. Er weiß, dass es keinen Sinn hat, ein Foto, das nur für ihn wichtig und besonders ist, anderen zu zeigen. »(Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen »Gegenstands überhaupt«; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Begriffs begründen; bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzen würde es Sie nicht 34

im mindesten.)«

Odysseus A sucht am Ende statt seines Koffers jene Fotografie, die im Koffer fehlt. Den gesuchten Koffer interpretierte ich als Symbolisierung der Subjektivität von Odysseus A. Im Koffer aber fehlt die Photographie. Sie kann weder gefunden noch gezeigt werden. Die persönliche Beziehung zu

34 Barthes, 1989, S. 83.

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den Personen auf der Photographie kann nicht sozial, geschweige denn politisch, anerkannt werden. Die – sirenenhafte und mütterliche – zentripetale Anziehungskraft, durch die das Subjekt gebildet wird, bauen trotzdem in einer mystischen »Kommunion« nicht nur das Subjekt, sondern die ganze Gemeinschaft auf. Denn das hörend gebildete Subjekt eignet sich auch die gehörten Stimmen an, die von der Ferne sprechen. Die Zentripetalkraft unterschlägt sowohl das Subjekt als auch die Gemeinschaft. Am Ende läuft Odysseus A hinter die unsortierten Müllhaufen außerhalb der Bühne, also seines Heimatorts, und verschwindet ins Dunkel. Die anderen Heimischen murmeln Fragmente aus den verschiedenen Geschichten. Über dem Murmeln auf der Bühne ertönt währenddessen eine technisch aufgezeichnete Stimme, die völlig monoton die persönliche Geschichte des Jungen wiederholt, der aus seiner Stadt fliehen musste. Die elektronische Stimme erinnert an die »Kassettenrekorder-Kamera«, mit der der Müllsammler in einem komischen Ritual die Bestrahlung in der Heimat aufgenommen hatte. Zum Geräusch des Murmelns kehrt Odysseus A zurück, leblos auf dem Wagen des Müllsammlers liegend. Lediglich die monotone Stimme aus dem Lautsprecher bleibt: »[…] Einen Tag vor der großen Flucht gab es eine Hochzeit im Nachbarhaus. Der Schleier der Braut folgte unseren Bussen, die durch den Himmel die Stadt verließen, lang wie die Ewigkeit. Sayonara, unsere Stadt und meine Braut! Komischerweise sah ich, zum ersten Mal, mit eigenen Augen die Existenz einer Stimme schlechthin.« In der wiederholten Erzählung wird der weiße, flatternde Schleier der Braut des Nachbarn mit der Stimme seines Vaters identifiziert: »Der weiße, klare Schleier im Wind, er war wie der Schrei meines Papas.« Der farblose Schleier, der vom Kopf der Braut weggeflogen ist, schwebt formlos im Wind. Obwohl es nicht die Braut des Vaters, sondern die des Nachbarn ist, eignet sie sich der Vater in seinem Schrei an. Obwohl der Vater mit dem Wort »Sayonara« von »unsere[r] Stadt und [seiner] Braut« Abschied nimmt, folgt ihre Spur dem davonfahrenden Vater und seinem Kind »wie in die Ewigkeit«. Im Gegensatz zur Photographie der Eltern wird hier die Stimme des Vaters beschrieben. Während die Photographie erfolglos gesucht wird und die Zuschauer keine Informationen darüber erhalten, ist die Identität der Stimme durch die erzählten Informationen völlig verwirrt: Die Stimme spricht in der Pluralform und der Sprecher eignet sich ein Liebesverhältnis zwischen einem Nachbarn und dessen Braut an, das tatsächlich unverwechselbar persönlich sein muss. Die Stimme des Va-

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ters wird in der Erzählung somit nicht als eine individuelle, sondern als eine kollektive beschrieben. Dadurch wird die Stimme des Vaters zu den Stimmen der Heimat. Die Stimme des Vaters bzw. die Stimmen der Heimat ist/sind allerdings nicht zu hören, so wie auch das Gesicht der Eltern auf der Photographie nicht gezeigt wird. Sie wird nur monoton von einem Lautsprecher erzählt. Die Eigenart jener Stimme kann in der Erzählung nicht mehr überliefert werden. Nach Abschluss der Erzählung kriechen die anderen Akteure wieder in das Loch. Dann wird Odysseus A von dem unheimlichen Müllsammler in die Grube – ins chaotisch aufgestapelte Gedächtnis der Stadt – geworfen oder, anders interpretiert, mit den anderen zusammen begraben. Doch im Loch erstehen alle wieder auf. Unter dem riesenhaften Stein, der nun in einem dunkelroten Licht glüht und gleichzeitig wie ein Grabstein und wie eine Grabplatte aussieht, heben sie gespenstisch stumm die rechte Hand, als ob sie jemanden ansprechen wollten. Jetzt ist das titelgebende »Autodafé« zu sehen; die Inquisition tritt auf, wobei das Ereignis selbst verbrannt wird und dennoch seine Spur hinterlässt. Denn der mülltragende »Archivar« nimmt die Szene mit seiner »Kassettenrekorder-Kamera« auf. Dann wendet er die audiovisuelle »Kamera« auch den Zuschauern/Zuhörern zu. Allmählich schwindet das glühende Licht und im Dunkel hört man nur noch das Knarren der Schubkarre des Müllmannes – des ironisierten Archivars. Die persönliche Geschichte wird also in der Gemeinschaft und von einer fremdartigen Maschine weitererzählt. Die Erzählstimme hallt in der körperlosen Maschine monoton wider. Wiederholt wird hier nicht das Ereignis selbst, sondern nur die Erzählung, die das Ereignis spüren lässt. Odysseus A, der auf der Suche nach seinen Eltern Heimkehrender und Reisender zugleich ist, wird mit Trödel und anderen Menschen im Loch des heimatlichen Gedächtnisses begraben. Ihre Geschichten werden mithin in Zukunft wiederholt werden. Es bleibt offen, ob und inwiefern die Stimmen ihre Geschichten sirenenhaft »vollenden« oder ihnen mütterlich ein »Nachleben« verleihen werden. In der Stille warten sie aber auf ihre »Rettung« – wie die Marranen.

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2-5. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTE 2: S IRENEN /M UTTER Sowohl die Echostimmen in Wolken. Heim. als auch die Sirenenstimmen in Autodafé stehen in einem engen Verhältnis zum Begriff der Heimat. Während die Echostimmen die gesprochenen Worte im Nachhinein wiederholen und den Heimatmythos maschinell reproduzieren, nehmen die Sirenenstimmen die Sphäre der Geschichtenerzählung vorweg, in der das Subjekt – sei es kollektiv, sei es individuell – gebildet wird. Und im Gegensatz zu den Echostimmen, die ihre »Zuhörwürdigkeit« verloren haben, üben die Sirenen eine starke Anziehungskraft aus, welche die Hörenden in deren eigener Hör-Sphäre verführt. In diesem Sinn offenbart die Sirenenstimme auch eine Analogie zur Mutterstimme. Aber während die Sirenen das Leben der Hörenden zum Tode führen, eröffnet die Mutter ihrem Fötus eine neue Welt. In Autodafé lassen die Schauspielerinnen die Stimmgeste der Sirenen in den Stimmgesten der die gemeinsame Sprache und Geschichte lehrenden Mutter vernehmen. Sie ziehen sowohl den Protagonisten Odysseus A an, der aus seiner Heimat ausgeschlossen ist, als auch sein Alter Ego Odysseus A’, das sich seiner Heimat anpasst. In den auf der Bühne dargestellten weiblichen Stimmen betont Matsuda allerdings eher das sirenenhaft Schrille, das die Hörenden die Verlegenheit und den Schrecken von Odysseus A wahrnehmen lässt. So lässt der Regisseur die Anziehungskraft und den Eros der Stimme nicht als solche akustisch und körperlich vernehmen, sondern zeigt sie nur durch die körperlichen Gesten, Bewegungen und Haltungen an. Der Eros der weiblichen Stimmen wird vor allem durch das Spiegelbild von Odysseus A gezeigt, das Odysseus A’ heißt: Odysseus A’, der in der heimatlichen Gemeinschaft integriert ist und sich genauso wie andere Männer benimmt, fühlt sich durch die Frauen angezogen, ohne dies in Frage zu stellen. Matsudas Odysseus ist somit als ein gespalteter Zuhörer der heimatlichen Frauenstimmen dargestellt, der ein ambivalentes Gefühl zur eigenen Heimat hat. Diese Ambivalenz wird in der letzten Szene durch eine Stimme dargestellt, die einen Text über schweres Heimweh leise und monoton vorliest, sowie durch die Stille der Menschen, die trotz ihres Schweigens eine sprechende Körpergeste zeigen. Die Zuhörer im Zuschauerraum, die einerseits die schrillen Stimmen hören und andererseits die Anziehungskraft der Stimmen sehen, in Worten imaginieren und in der Musik

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nachvollziehen, werden ebenfalls gespalten und geraten so an den Nichtort, an dem die Marranen gelebt haben.

3. Deterritorialisierung am Ort des Ich. Die Hamletmaschine von Robert Wilson

HAMLETMASCHINE [...] kann gelesen werden als Pamphlet gegen die mörderische Illusion, daß man in unserer Welt unschuldig bleiben kann. (Heiner Müller)1

3-1. N ICHT -O RTE DES S UBJEKTS IM T HEATERTEXT D IE H AMLETMASCHINE Anhand der bisher angeführten Beispiele von Theaterinszenierungen habe ich betrachtet, wie die Aufbau- und Erhaltungsprozesse vorgegebener, gemeinschaftlicher Orte entlarvt und repräsentierte Orte aufgelöst werden können. Am Ende des ersten Teils möchte ich nun einen wesentlichen Ort jedes Menschen behandeln: den Ort des Ich, wie er in einem klassischen Beispiel des postdramatischen Theaters auftaucht.2 Heiner Müller verfasste den Theatertext Die Hamletmaschine 1977 als eine dramaturgische Übersetzungsarbeit von Shakespeares Hamlet,3 wobei er eine Vielzahl verschiedener Zitate wie auch persönliche Erlebnisse in

1

Müller, 1986/87.

2

Zum Folgenden siehe auch Harigai, 2015.

3

Heiner Müller, Werke, Bd. 9, S. 229f. Müllers Texte werden im Folgenden aus den Werken von 1998-2011 durch Angabe des Bandes und der Seitenzahl im Text zitiert.

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den Text einflocht. Das gespaltene, provisorische Subjekt dieses intertextuellen Theatertextes,4 das von Shakespeares Hamlet hergeleitet, aber nicht mehr dessen Hamlet ist, kämpft in und mit sich selbst und wünscht sich Grenzüberschreitungen und Transformationen in andere Figuren, vor allem in Ophelia. Für meine Fragestellung bemerkenswert ist, dass in diesem Theatertext die Maskierung des Subjekts als ein Versuch der Grenzüberschreitung, und zwar des topologischen Übergangs in andere Standpunkte erscheint. Hier ist sogar der eigene Körper des »Ich« kein eigener Ort mehr. Der Körper des »Ich« wird deterritorialisiert und dem vermeintlichen Besitzer entzogen. Das geschieht nicht nur durch Sprechakte, die aus dem Theatertext hervorgehen, sondern auch durch (Stimm-)Gesten in der Inszenierung, die die Figuren maskieren. Zunächst möchte ich die topologischen Merkmale des Textes vorstellen. Wie der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi aufweist, reflektiert der Text eine Erfahrung von Nicht-Orten,5 die von Müllers längerem Aufenthalt in den USA 1975/1976 – dem politischen und symbolischen Gegenpol zu Müllers sozialistischem Umfeld schlechthin – geprägt ist. »In einer Welt des totalen Konsums (HEIL COCA COLA) und die ›Ruinen von Europa‹ bereits im Rücken, reflektiert der Text eine Erfahrung von Nicht-Orten (Fernsehen, Kaufhallen, Flughäfen etc.), die das lineare Schreiben und auch das 6

Spielen eines Dramas unmöglich gemacht haben.«

Der Standpunkt von Müllers »Hamlet« liegt in einem Zwischenraum, in einem Bereich von Nicht-Orten. Der Sprecher, das »Ich« des ehemaligen Hamlet, erzählt: »Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.« (4, 545) In dieser Szene steht der Sprecher Hamlet an einer Küste, deren Kontur in der Brandung zerfließen wird. Es ist die Brandung selbst, die auf seine Rede antwortet mit »BLABLA«, wobei die Silbe »BLA« die erste Silbe »Bra« in »Brandung« aufzunehmen scheint. Jenes BLABLA, das das »Ich« im Theatertext

4

Zur Intertextualität von Die Hamletmaschine vgl. Lehmann, 1985.

5

Zum Begriff der Nicht-Orte Augé, 2011 sowie die Kapitel 1-3. »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« und 2-1. »Heterogener Odysseus. Heimat als doppelter Ort« im ersten Teil der vorliegenden Arbeit.

6

Primavesi, 2009, S. 268.

3. D ETERRITORIALISIERUNG

AM

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DES I CH

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spricht, ist also als eine Brandung zu hören, durch deren Erosion ein Ort seine Kontur verlieren wird. Hinter ihm liegt Europa, wo der dänische Prinz Hamlet das Reich seines Vaters erben sollte, das nun aber in Trümmern liegt. Das »Ich« kann nicht mehr heimkehren und will es auch nicht mehr. Seine Willen- und Orientierungslosigkeit wird offenbar in der Geste, dem Ort den Rücken zuzuwenden. Die Kontur »seines« Ortes zerfließt an den überallhin zerstreuten Nicht-Orten, in den Fernsehapparaten, den Flughafenanlagen und auch in Hamlets bedeutungsloser Rede: BLABLA. Das »Ich« steht an der Küste – am Rand des Konglomerats der Nicht-Orte, wo die Küstenlinie zerfließt, – und wendet sich nicht mehr dem Land zu, sondern dem Meer, in dem man die Orientierung verlieren und letztlich Schiffbruch erleiden würde. Verloren ist allerdings nicht nur Europa, das die Heimat bzw. der gemeinschaftliche Ort Hamlets sein könnte, sondern auch der jeweilige Ort eines jeden sprechenden Subjekts. Der Text wird als gescheiterter Dialog nicht von bestimmten Subjekten getragen, sondern von zwei amorphen Figuren, die man allenfalls provisorisch Hamlet und Ophelia nennen kann. Amorph sind diese Figuren, weil sie konturlos und nicht identifizierbar sind. Die Grenze zwischen ihnen schwebt und zerfließt unaufhörlich. Diese Besonderheit des Textes formulieren Genia Schulz und Hans-Thies Lehmann folgendermaßen: »›Hamletmaschine‹ ist ein Text, in dem das schreibende Subjekt sich in einer Serie von Identitäten, die ineinander übergehen, zersetzt: Shakespeare, Ophelia, Hamlet, Vater, Mutter, Hure, Sohn; Aufständischer und Machthaber.«

7

Das Subjekt zersetzt sich »in einer Serie von Identitäten«. Das »Ich«, mit dessen Worten »Ich war Hamlet« (545) der Text beginnt, ist nicht mehr der Hamlet Shakespeares, sondern nur noch eine Serie theatraler Identitäten, die nacheinander unterschiedliche Verkleidungen durchlaufen. In dieser Serie gibt es keinen Vorrang des Originals mehr; es sind allenfalls wiederholt angelegte Verkleidungen zu finden. Das serielle Subjekt erscheint im stetigen Wechsel sowie im Gewand der jeweiligen Verkleidung. 8 »Hamlet« wird von rebellierenden Opfern namens »Ophelia« überschritten, trans-

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Schulz/Lehmann, 1980, S. 149.

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Vgl. Deleuze, 2007, S. 367f.

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grediert, und wünscht sich, er könnte sich in sie trans-formieren, wenn er sagt, »Ich will eine Frau sein« (4, 548) oder »Dann laß mich dein Herz essen, Ophelia, das meine Tränen weint« (4, 547), obwohl er, im zweiten Fall, Ophelia töten müsste, um sich seinen Wunsch zu erfüllen und die Transformation zu vollziehen. 9 Die ersehnte Transformation ist letztlich unmöglich. Stattdessen vollzieht sich eine endlose Maskerade. Die Eigennamen »Hamlet« und »Ophelia« tragen dabei viele, ineinander übergehende Masken wie die von Schulz und Lehmann erwähnten: Vater, Mutter, Hure, Sohn, Aufständischer, Machthaber u.a. In der Bühnenanweisung der zweiten Szenenfolge »Europa der Frau« steht zum Beispiel »Ophelia (Chor/Hamlet)« (4, 547). Gemäß dieser Bühnenanweisung ist Ophelia hier nicht allein ein weiblicher Gegenpart zur männlichen Figur Hamlet, sondern sie ist als eine Maske zu verstehen, die ebenso gut Hamlet tragen könnte und die in sich vielschichtige andere Masken verbindet. Neben diesen Masken lässt Müller gar noch den »Hamletdarsteller« in seinen Text eintreten, der somit aufhört, Hamlet zu spielen. Dadurch provoziert er ein postdramatisches Schauspiel, das die Desillusionierung der repräsentierten Rollen einschließt. Unter den mannigfaltigen Masken wird neben der Titelrolle »Hamlet« der Name Ophelias hervorgehoben. Dieser Umstand wird in Müllers Kommentar zum Text begründet: Als Inspirationsquelle für Die Hamletmaschine nennt er Kafka. Für eine kleine Literatur von Gilles Deleuze und Felix Guattari, wo Frauen als »Provinzen« auftreten und sich an die mobilisierende, »begehrende Maschine« anschließen: »Die Maschinen-Metapher hat vielleicht auch mit dem Kraftwerk gegenüber dem Haus in Sofia zu tun. Ohne die Amerika-Reise hätte ich das Stück so nicht schreiben können, überhaupt nicht ohne die West-Reisen. Wichtig war das Kafka-Buch von Deleuze und Guattari, weil es von Provinz handelt, von der Mobilisierung der Provinzen. Auch die Kriminalität ist eine Provinz.« (9, 231f.)

In ihrem Buch arbeiten Deleuze/Guattari in Kafkas Erzählungen und Romanen die Figuren derjenigen jungen Frauen heraus, deren Weiblichkeit nicht durch ihre produzierenden Mutterleiber anerkannt ist, sondern die in

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Nach dem Verweis von Schulz/Lehmann, 1980, S. 150.

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ihrer ›Anti-Ehelichkeit‹ und ›Anti-Familialität‹ marginal wirken, die Ordnungen zerschlagen und letztlich zu einer Deterritorialisierung führen: »Sie sind teils Schwestern, teils Dienstmädchen und teils Huren. Sie sind antiehelich und anti-familial. [...] Die drei Qualitäten entsprechen drei Komponenten der Fluchtlinie und zugleich drei Freiheitsgraden: Freiheit der Bewegung, Freiheit der Rede, Freiheit des Verlangens. 1. Die Schwestern: Sie sind diejenigen innerhalb der Familie, die am ehesten Lust verspüren, die familiale Maschine leck- oder kaputtzuschlagen. [...] 2. Die Dienstmädchen, kleinen Angestellten usw.: Sie sind diejenigen innerhalb der Bürokratie, die am ehesten Lust verspüren, die bürokratischen Maschine leck- oder kaputtzuschlagen. [...] 3. Schließlich die Huren: Sie stehen für Kafka anscheinend im Schnittpunkt aller Maschinen, der familialen, der ehelichen und der bürokratischen, die sie allesamt um so nachhaltiger kaputtschlagen. Das Gefühl des Erstickens, die erotische Atemnot, in die man bei ihnen gerät, kommt weniger vom Druck ihres Gewichts als vielmehr daher, daß man sich mit ihnen in eine Deterritorialisierung stützt, die einen fort in die Fremde führt.«

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Müllers Ophelia bzw. die weibliche Seite des »Ich« ist also nicht im Sinn einer wie immer geläufigen Weiblichkeit zu verstehen, sondern als die marginalisierte Kraft, die uns in den Bereich des Ignorierten mitnimmt. In der zweiten Szenenfolge des Stückes werden nacheinander verschiedene Szenen von Morden sowie Selbstmorden skizziert, die nicht nur an Shakespeares Ophelia, sondern auch an andere unterdrückte Frauen erinnern, zum Beispiel an Müllers verstorbene Frau Inge Müller, deren endgültigem Selbstmord mehrere gescheiterte Selbstmordversuche vorangingen; an die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, die in ihrer Zelle erhängt aufgefunden wurde; oder an Rosa Luxemburg, deren Leiche man fand als »[d]ie [Frau], die der Fluss nicht behalten hat« (4, 547).11 Der Tod von Müllers »Ophelia« ist somit nicht einmalig, denn die marginalisierte Kraft, die in der Maske »Ophelias« allegorisch erscheint, wird immer wieder zunichte gemacht. »Ophelia« repliziert sich, sie vermehrt sich zu einem Chor. Ophelia bzw. der Chor oder sogar Hamlet im Sinn der Bühnenanweisung »Ophelia (Chor/Hamlet)«, protestiert oder protestieren gegen die »Männer«, die sie »geliebt« und die sie »gebraucht« haben (4, 548). Die Masken

10 Deleuze/Guattari, 1976, S. 89f. 11 Vgl. Ludwig, 2009, S. 235.

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der toten Ophelia singen, schreiben und sprechen, während sie Selbstmord oder Mord begehen. »Ophelia (Chor/Hamlet)« proklamiert: »Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.« Ihr bleibt nur ihr Körper: »Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß.« (4, 547) Die Körper, die einzig für sich bleiben, wandern ortlos umher: »Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. [...] Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. [...] Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.« (4, 547f)

Laut Müllers Bühnenanweisung soll in der dritten Szene Ophelia Hamlet eine Hurenmaske schminken. An dieser Stelle äußert er den Wunsch: »Ich will eine Frau sein.« (4, 548) Wie bereits in der Bühnenanweisung der zweiten Szene »Ophelia (Chor/Hamlet)« angedeutet, 12 schließen sich »Ophelia« und »Hamlet« zusammen. Schulz/Lehmann kommentieren die Struktur des Textes in dem Sinn, dass Müllers Ophelia und Hamlet »zu zwei Aspekten einer Szenerie des Bewußtseins« werden: »Die Verschmelzung Hamlets mit Ophelia strukturiert den Text: Ophelia/Hamlet werden zu zwei Aspekten einer Szenerie des Bewußtseins, die immer wieder in ihre Teile zerfällt: in der die eine (weibliche) der Wunsch der anderen (männlichen) ist: in der aus dem männlichen-menschlichen Ekel eine (maschinelle) Kraft werden soll. ›Hamletmaschine‹ zeigt, daß dieser Prozeß mißlingt.«

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Dadurch, dass das Bewusstsein immer wieder in zwei Teile zerfällt, vertritt Müllers Ophelia die unterdrückte Körperlichkeit, während Müllers Hamlet sich die gescheiterte Politizität aufbürdet, was aber keine Trennung der beiden Pole bedeutet, sondern sie dauerhaft aneinander bindet. Beide sind keine eigenständigen Personifikationen, sondern eben »zwei Aspekte einer Szenerie des Bewußtseins«. Die »Hamletmaschine«, die durch den Trans-

12 Hinzu kommen etwa in der ersten Szene inzestuöse Worte Hamlets über seine Mutter. Der Satz »Der Mutterschoß ist keine Einbahnstraße« zum Beispiel drückt offenbar Hamlets Wunsch zur Wiedervereinigung mit der eigenen Mutter aus. 13 Schulz/Lehmann, 1980, S. 150.

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formationswunsch der sich ekelnden 14 Männer vorangetrieben wird, läuft nicht, weil ihre Transformationskraft von »Ophelia« rückgängig gemacht wird. Die »Hamletmaschine« verweilt in der Suspendierung und zögert – wie Shakespeares Hamlet. Im Theatertext treten des Weiteren historisch bekannte Revolutionäre – Marx, Lenin, Mao – auf. Dabei spielt das Motiv der gescheiterten Revolution eine besondere Rolle. Die Hoffnung auf eine Revolution wird in Müllers Theatertext nicht erfüllt – die rebellierende Ophelia/Elektra wird in einen »Rollstuhl von unten nach oben in Mullbinden« (4, 553) geschnürt und bleibt bis zum Ende »reglos in der weißen Verpackung« sitzen (4, 554). An Ophelias Stelle tritt meiner Interpretation nach eine bestimmte Form der Stimminszenierung. Zu deren Analyse interpretiere ich die »Revolution« hier nicht als eine konkret politische, sondern als eine (topo)logische und ästhetische Revolution, die die Örtlichkeit des »Ich« betrifft. Das Wort »Ich« wird im Theatertext sowohl von »Hamlet«, als auch von »Ophelia« sehr häufig verwendet, obwohl die Identität des »Ich« vollkommen aufgelöst wird. Die Linguisten Émile Benveniste und Roman Jakobson weisen darauf hin, dass den Personalpronomen die besondere Funktion zukommt, den Übergang zwischen der Langue – dem sprachlichen Code bzw. dem grammatischen und lexikalischen System der Sprache einer Sprachgemeinschaft – zur Parole – dem jeweiligen Sprechen, das diese Sprache hier und jetzt artikuliert – zu tragen. So bedeutet z.B. das Pronomen »ich« das singuläre Subjekt, welches – anders als »du« oder »er« – den Ausgangspunkt der Perspektive bildet und weist gleichzeitig auf die den Satz sprechende Person hin. Das Personalpronomen bleibt somit allein innerhalb eines sprachlichen Codes sinnlos und funktioniert erst in der Beziehung zu der Person, auf die es hinweist. Die vielfältige Verwendung des Pronomens »ich« im Text Die Hamletmaschine als Theatertext fordert nun geradezu zu einer stimmlichen Aufführung auf. Anderenfalls würde das »ich« auf nichts verweisen, es bliebe sinnlos. In den folgenden Kapiteln möchte ich analysieren, wie die Stimmen, die diesen Theatertext und das – rein textimmanent – sinnlose Pronomen übernehmen, die im Text vorgeschriebenen Nicht-Orte des Ich im Theaterraum darstellen.

14 Zum Begriff des Ekels siehe unten, Kapitel 3-3. »Ekel. Die Schwelle zur extremen Körperlichkeit« im ersten Teil dieses Bandes.

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3-2. M ASKIERENDE M ASCHINE . R OBERT W ILSONS S TIMMINSZENIERUNG Eine der erfolgreichsten postdramatischen Inszenierungen von Die Hamletmaschine ist die des amerikanischen Regisseurs Robert Wilson, die 1986 am Thalia-Theater in Hamburg uraufgeführt wurde.15 Wilson lässt die Darsteller den Text nicht interpretieren, sondern »verpflanzt« bzw. souffliert den geschriebenen Text und die sehr präzise komponierte Stimme als einen Fremdkörper in die einzelnen Körper der Darsteller hinein, die zum Zeitpunkt der Aufführung Schauspielschüler waren. Interessant daran ist, dass mögliche Referenten des Textes weder optisch noch akustisch auf der Bühne repräsentiert sind, sondern das Gesprochene mit völlig andersartigen Bühnenausstattungen sowie mit Eigenheiten der Kostüme und Gestik eher zusammenstößt. Körpergebärde und Musik spielen in Wilsons Inszenierung eine große Rolle. Den fünf Szenen des Theatertextes fügt Wilson zu Beginn noch eine wortlose Szene hinzu, die eine choreographierte Körpergebärde und einen simplen Refrain ohne Worte enthält. Ich möchte hier von der »0. Szene« sprechen. Diese etwa 15-minütige Szene mit sehr langsamen, rätselhaften Körpergebärden und einer mysteriös wirkenden Melodie hebt hervor, dass bereits ohne die Worte des Theatertextes oder sonstige verständliche Zeichen etwas stattfindet, wenn auch dieses »etwas« nicht eindeutig dingfest zu machen ist. Insofern sind die wortlosen Körpergebärden und Bilder keineswegs bloße Dekoration, sondern sie deuten eine besondere Ereignishaftigkeit an. In den weiteren fünf Szenen werden dieselben Körpergebärden und die Musik wiederholt, so dass sie dem Publikum immer wieder aus anderen Perspektiven entgegentreten. Die »unverständlichen« Ereignisse werden also insgesamt sechsmal wiederholt und dabei jeweils aus einer anderen Perspektive gezeigt und erzählt, wenn auch die »Erzählung« nach erzähltheoretischen Kriterien nicht kohärent erscheint. Der Theatertext wird nicht in einer konventionell linearen, sondern vielmehr in einer »wälzen-

15 Ich selbst (M.H.) habe die Aufführung nicht im Theater erleben können, sondern als Videoaufzeichnung von »Die Hamletmaschine« in der Kunsthalle der Studiobühne des Thalia Theaters in Hamburg, 1986-1987; Fernsehaufzeichnung des NDR (DVD).

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den« Zeitform16 gespielt, in der das hic et nunc des Ereignisses immer wieder zurückkehrt, ohne sich doch eindeutig entziffern zu lassen. In der Inszenierung wird etwas Unbegreifliches, Ereignishaftes in jeder der Szenen aus einer unterschiedlichen Perspektive wiederholt. So erscheint die Zerstörung des Heims von »Ophelia« in der 2. Szene als eine andere Betrachtung des ruinierten Europas und der Nicht-Orte des »Ich«, als jene, die wir in der 1. Szene erfahren haben. Jede der beiden Monaden – »Hamlet« und »Ophelia« – erlebt ein jeweils anderes Ereignis und betrachtet zugleich denselben »Ort«. Der »Ort« allerdings wird in der Aufführung in einen disharmonischen Prozess aufgespalten. »Erzählende« Stimmen treten zwar erst in der »ersten« Szene mit Müllers Theatertext auf. Dennoch wirken sie im Zusammenspiel mit den Körpergebärden eigentümlich: Die Stimmen, die hier in verschiedenen Stimmlagen, mit wechselndem Rhythmus und wechselnder Intonation hervorgebracht werden, repräsentieren nicht die im Text beschriebene Szene, sondern sind als eine sonderbare »Sprachmusik« – als genussvolle Sprachtöne, deren Klang zugleich hervorgehoben wird17 – sinnlich zu genießen, während der geschriebene Text, gesprochen von den Stimmen, klar verständlich ist.18 Das Sinnliche findet sich in Wilsons Inszenierung nicht zuletzt in den weiblichen Akteurinnen. Sie treten niemals als »Mutter«-Figuren auf, sondern heben vielmehr eine marginalisierte, sinnliche Kraft hervor. Um ihre Stimmen im gleichen Maß hörbar zu machen wie die der Männer, teilt Wil-

16 Vgl. Lehmann, 1999-1. 17 Helga Finter unterscheidet in einem Essay über die Geschichte der europäischen Stimmästhetik zwischen »Ton« – dem sprachlichen Aspekt, auf dem das Sprechtheater basiert – und »Klang« – dem musikalischen Aspekt, der in der Oper im Vordergrund steht. Nach Finter fügt Robert Wilson dem sprachlichen Ton entschieden den genussvollen Klang hinzu, der in seiner Funktion allerdings nicht mit dem der traditionellen europäischen Musik zu verwechseln ist. Somit zeigt Wilson zugleich neue Möglichkeiten des Tons an, der durch Klang jeweils neuen Sinn erzeugt. Vgl. Finter, 2014. 18 Anders z.B. die Inszenierung von Einar Schleefs »Sportstück«, bei der das Gesetz des Symbolischen oft nur im codierten Rhythmus der Sprache zu bemerken ist. Zur Analyse der Stimminszenierung dieses Stücks Kolesch, 2001, S. 266270.

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son ihre Sprechzeiten paritätisch auf: Obwohl die Längen der Texte unterschiedlich sind, haben die ersten drei Szenen beinahe exakt die gleiche Dauer von ca. 15 Minuten. In der 0. Szene gibt es keinen Text; für die 1. Szene, in der die männlichen Schauspieler »Hamlet« sprechen, ist der Text zweieinhalb Seiten lang; für die 2. Szene, in der die Schauspielerinnen »Ophelia« sprechen, gibt es nur eine halbe Seite Text. Doch unabhängig davon, wie viele Wörter gesprochen werden, ist die gleiche Zeitlänge vorgesehen. Die kargen – jedoch kraftvollen – Worte Ophelias werden dazu mehrmals wiederholt. Diese Wiederholungen werden durch Rhythmus und Variationen zu einer Art »Musik« im Sinn einer genussvollen Akustik. Die sprachliche Armut der Frauen bringt also in tönenden Stimmen eine sinnliche »Musik« hervor. Dies lässt darauf schließen, dass bestimmte Ereignisse bereits stattgefunden haben, die unverzichtbar wichtig sind, selbst wenn sie nicht oder nur in wenigen Worten beschrieben werden. Die autonome Ereignishaftigkeit wird nicht nur durch stumme Gesten und Musik ohne Text vernehmbar, sondern auch in der Musikalität der Stimmen. In der zweiten Szene spricht eine Darstellerin mit neutralem Ausdruck die Worte der amorphen Ophelia. Die anderen Darstellerinnen wiederholen dieselben Worte musizierend mit sorgfältiger Rhythmisierung, in verschiedener Stimmlage und mit jener Rauheit, die Roland Barthes als die Körperlichkeit der Stimme aufzunehmen empfahl. Die Kraft des Sinnlichen behauptet ihren Bestand, indem sie festhält: »Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.« (4, 547) Der Satz deutet allerdings auf kein Fortbestehen der Person im vollen Sinn, da Müllers Ophelia und den hier sprechenden Darstellerinnen nur ihr Körper zu bleiben scheint: »Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß.« (4, 547) Dieser Satz wird von der Schauspielerin Lena Stolze gesprochen, die mit ihrem grauen und puderigen Haar wie eine verstaubte Hexenpuppe aussieht.19 An der genannten Stelle spricht sie so heiser und gebrechlich, als ob sie im nächsten Moment verschwinden würde. Tatsächlich bricht ihre Stimme ab nach den Worten »Ich bin allein mit... [Herv. M.H.]« Mit dem Sforzato des Auslautes »t«

19 Lena Stolze war in der Aufführung die einzige damals schon professionell arbeitende Schauspielerin. Das Geschlecht der von ihr gespielten Figur ist beim bloßen Anblick nicht genau zu erkennen und wird erstmals beim Einsatz ihrer Stimme klar. Die Stimme klingt dennoch in sich so heterogen, dass über ihre Identität bis zum Ende Unklarheit herrscht.

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öffnet sich ihr Mund und ihre Augen weiten sich erschreckend. Ihre Worte werden daraufhin von anderen Körpern aufgegriffen: zuerst von einer Darstellerin, die die Worte neutral wiedergibt und nach einer kurzen Pause nur die letzte Silbe »-ten« von »Brüsten« ausspricht. Dann werden die Worte von den anderen drei Frauen übernommen, die die Phrase »meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß« mit gekünstelten Stimmen wiederholen, so als spielten sie mit den einzelnen Wörtern. Durch die Zerstückelung der Wörter und die Entleerung ihrer Bedeutung wird die symbolische Funktion jedes einzelnen Wortes aufs Spiel gesetzt. Die Körper der Darstellerinnen bleiben zwar physisch unverändert, aber sie werden durch den Gebrauch der Sprache gefährdet, die einen Körper »meinen Körper« nennt und dadurch implizit behauptet, man könne das »Ich« als den selbstverständlichen Besitzer eines bestimmten Körpers begreifen. Anstelle der Sprache, die dem Körper so einen Besitzer zuordnet, zeigen die Frauen durch ihre Stimmen ihre präsymbolische, unbestimmbare und nicht geordnete Körperlichkeit an. Das »Ich« wird in heterogene Stimmen zerteilt. Die dritte Szene des Textes (genannt »SCHERZO«), in der Hamlet in einen Dialog mit Ophelia tritt, gilt als Wendepunkt des gesamten Textes. Es ist der einzige Dialog zwischen den beiden. Hamlet gesteht Ophelia seinen Wunsch, eine Frau zu sein. Laut Müllers Bühnenanweisung soll Ophelia, die als Hure gekleidet und geschminkt ist, Hamlet daraufhin ebenfalls eine Hurenmaske schminken. Wilson lässt diese Szene jedoch nicht körperlich aufführen, sondern inszeniert sie als einen Film, in dem statt der Szene die von Wilson choreographierte Gestik wiederholt wird, während der Text mitsamt den Bühnenanweisungen als Untertitel mitfließt und dann verschwindet. Der als Untertitel fortlaufende Text ähnelt zwar insofern einer Stimme, als er niemals stehen bleibt und sofort verschwindet. Dennoch ist der entscheidende Unterschied zur Stimme, dass der »fließende« Text weder einen Ton noch einen Klang oder ein Timbre hat. Der Text erzeugt keinen dreidimensionalen Raum, der die Zuhörer umgreifen könnte. Er hält vielmehr einen körperlichen Abstand, in dem die Zuschauer ihre ästhetische Distanz zum Medium beibehalten können. Wenn auch der dem Text zu entnehmende Sinn die Leser schockieren mag, wird dieser literarisch erzeugte Schock durch die zeitgleich gezeigte Choreographie neutralisiert. Der Text stellt sich nicht selbst in Frage, wie die Stimmen es tun. Die Szene verfließt im buchstäblichen Sinn ohne Artikulation, sodass sich kein einziges Wort aus dem theatralen Kontext abhebt. Die bloß geschriebene

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Szene verfließt und verschwindet, ohne in die Körper der Zuschauer dringen zu können. Stattdessen wird das Lied »Der Zwerg« von Franz Schubert wiedergegeben, gesungen von der amerikanischen Sopranistin Jessye Norman. Norman singt die Geschichte einer Königin, die von einem Zwerg erdrosselt wird; dabei übernimmt sie nacheinander die Rolle der Königin, des Zwergs und des Erzählers und den Text somit in stimmlichen Maskierungen hören lässt. Ihre eindeutig weibliche Stimme indessen, die die Rolle des oft selbstverständlich als männlich angesehenen »Erzählers« singt, die weibliche Perspektive auf die erzählte Geschichte hervor. Auf dem Bildschirm wird währenddessen gezeigt, wie Männer im Feuer verschwinden und Frauen sich in Tiere – Gorillas – verwandeln. Die Szene führt weder einen Dialog noch eine Verschmelzung der beiden Figuren vor, sondern lediglich wurzellose Maskierungen innerhalb eines Monologs. 20 In diesen wurzellosen Maskierungen, die die Illusion als solche verraten, lassen sich die Nicht-Orte des Ich spüren. Statt des transzendentalen, einheitlichen Subjektes tritt ein unheimliches Wesen auf, das schließlich unmenschlich wird: die Maschine. In Wilsons Inszenierung treffen wir auf eine Figurengruppe, deren Stimmen ihre Körperlichkeit und ihre zwanghaft inszenierte Unmenschlichkeit besonders hervorheben: drei Darstellerinnen, die nebeneinander an einem Tisch in der Mitte der Bühne sitzen, das gleiche blaue Kleid tragen, mit den gleichen braunen Locken frisiert sind und mit gekünstelten Stimmen die Worte der anderen variierend wiederholen. Die völlig gleich aussehenden Frauen machen den Eindruck, als wären sie einer seriellen Reproduktion entsprungen. Die variierte stimmliche Wiederholung der Worte kann dabei als ein Echo verstanden werden, das hier jedoch nicht dieselbe Wirkungskraft entfaltet wie das Echo in Wielers Wolken. Heim. Denn die Echofiguren in Die Hamletmaschine wiederholen nicht nur die Worte der

20 Wilson lässt hier – wie in seinen anderen Inszenierungen – den Text nicht nur körperlich von den Schauspielern sprechen, sondern gibt hin und wieder aufgenommene Stimmen wieder und souffliert sie somit den Körpern der Schauspieler. An welchen Punkten genau das maschinelle Soufflieren geschieht, lässt sich anhand der Videoaufnahme, die ich zur Analyse verwenden musste, nur schwer nachvollziehen. Ich fasse jedoch das maschinelle Soufflieren aufgenommener Stimmen als eine Variation der Inszenierung der Wurzellosigkeit des sprechenden Ich auf.

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anderen, sondern geben auch die Körperlichkeit ihrer Stimmen genau wieder. Diese Art der Wiederholung kann keineswegs psychologisch erklärt werden, sondern läuft dank der präzise inszenierten Komposition und Choreographie maschinell ab. Die drei Darstellerinnen beginnen allerdings erst in der zweiten Szene zu sprechen. Die Echofiguren wiederholen die Worte, die von einer Frau in weißem T-Shirt in neutralem Ton deutlich hörbar artikuliert werden. Die drei hingegen sprechen in unterschiedlichen Stimmlagen: eine tief, eine mittel und eine hoch. Diese Differenz in der Wiederholung lässt eine Art von »Musik« hören, in diesem Fall allerdings eine spöttisch anmutende: Die Akteurinnen wiederholen beispielsweise Ophelias Worte »Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografie der Männer die ich geliebt habe und die mich gebraucht haben auf dem Bett auf dem Tisch auf dem Boden« (4, 547f) nur teilweise und erinnern dadurch an die mythische Nymphe Echo. Die unvollkommenen Wiederholungen mit leichten Melodieverläufen lassen die Worte als nicht ernst zu nehmen oder gar als sinnlos erscheinen: Zuerst singt eine der Echofiguren mit einer tiefen Stimme »auf dem Tisch«. Ihr folgen die anderen beiden in unterschiedlichen Stimmlagen: »auf dem Stuhl«, »auf dem Boden«. Der »Gesang« wird in einem bestimmten Rhythmus wiederholt. Schließlich wird die Phrase »auf dem Bett, auf dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem Boden« tutti von allen dreien in einem offenbar mokierenden Ton gesungen, wobei sie die Worte der Frau mit der neutralen Stimme unterbrechen und übertönen. Die letzte Silbe »den« wird danach von der hexenartigen Figur stoßweise gemurmelt und verbreitet sich daraufhin im Mund der drei Echofiguren sowie einer weiteren Frau, die an einem Baum steht. Das Murmeln der Laute »den«, »de« und »d« hallt schließlich überall auf der Bühne wieder. Während die mit neutraler Stimme sprechende Darstellerin in der zweiten Szene den Text formvollendet wiedergibt, wiegeln die drei Darstellerinnen das Echo-Werden der Worte auf. Die mythische Echo wurde mit dem sozialen Tod bestraft und des Kommunikationsvermögens der Stimme beraubt;21 Wilsons Echofiguren dagegen behalten in der theatralen und ästhetischen Situation eine besondere und andere Wirksamkeit ihrer Stimmen

21 Vgl. Kapitel 1-4. »Tödliche Zwänge der Nymphe Echo« im ersten Teil der vorliegenden Arbeit.

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bei als in der sozialen Situation: erstens durch die Ironisierung, zweitens durch die Musikalisierung. Die oben zitierten Worte Ophelias, die sich Müllers Versuchen zum Trotz, komische Momente in den Text einzufügen,22 einem stereotypen Opfercharakter anbequemen oder bestenfalls gewöhnliches Mitleid erregen könnten, werden nun durch die Echostimmen vollkommen ironisiert. Die Ironisierung verwehrt es den Zuhörern, sich einfach in einen Stereotyp einzufügen; jede potenzielle Stereotypisierung wird zerstört. Die Störung innerhalb jeder der Echostimmen differenziert in diesem Sinn die Aussage. Durch diese Differenzierung beugen die Echostimmen jedem Prozess einer Stereotypisierung der geopferten Frauen vor. Wie ich im vorigen Kapitel anhand der Analyse des Echo-Mythos von Petra Gehring in Jossi Wielers Wolken. Heim. gezeigt habe, ist in Wielers Schauspiel eine Entsprechung zur mythischen Figur der Echo zu finden: Die Nymphe Echo ist gesellschaftlich tot, da sie keine sinnhafte Stimme mehr besitzt, obwohl sie weiterhin viel redet. In Wolken. Heim. verlieren die Frauenfiguren die Zuhörwürdigkeit ihrer Behauptungen, indem sie als bloßes Echo ihre Stimmen der Wiederholung der Worte von abwesenden Männern bzw. der Reproduktion der »phallogozentrischen« Sozialstruktur widmen müssen. Auf der theatralen Metaebene geben die Schauspielerinnen den Reproduktionsprozess allerdings durch ihr Schauspiel satirisch wieder. Sowohl in Wielers Wolken. Heim. als auch in Wilsons Die Hamletmaschine ist also eine stimmliche Wiederholungsstruktur zu finden.

22 Robert Wilson spricht in einem Interview von der Notwendigkeit des Lachens in Müllers Text: »Heiner ist sehr witzig, er hat eine Menge Humor in sich, und der ist auch in seinem Text, es ist nur so schwer, da dranzukommen. Das Furchtbare der Sache liegt im Lachen. Nur wenn du lachst, wenn die Frau sagt »AND BUTCHEREED A PEEAASANT [die Worte aus der 4. Szene von Die Hamletmaschine »Zerfleischten einen Bauern«, übersetzt ins Englische mit texanischem Akzent.], dann ist das wirklich erschreckend. Wie man das rausarbeitet, weiß ich nicht, aber es ist wesentlich, es ist notwendig. KING LEAR ist niemals Shakespeares große Tragödie, wenn wir nicht über ihn lachen. Und wenn man sieht, wie Minetti oder sonst jemand ihn als große Tragödie spielt, dann ist das fürchterlich. Und das ist auch ein bißchen das Problem an Heiners Text. Spiel das als schweres, deprimierendes, trauriges Stück, und es wird fürchterlich. « (Wilson, 1988, S. 69)

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Aber das Verhältnis zwischen dem Wiederholten und dem Wiederholenden ist in den beiden Inszenierungen unterschiedlich: Während Wieler das Wiederholte satirisch zeigt, gibt Wilson das Wiederholte ironisch23 wieder. Wielers Schauspielerinnen zeigen auf der Bühne deutlich ihre bewusste Aushöhlung des Wiederholten – hier der phallogozentrischen Lust. Die Haltung der Figuren, die den chauvinistischen Männerphantasien24 widersprechen, ist klar zu erkennen. Wilson dagegen verpflanzt Stimmen, Gesten und Mienen in die Körper der Darsteller, damit diese sie nach einer genauen Choreographie und Partitur maschinell wiederholen. In einem solchen Spiel ist keine eindeutige Intention zu finden. Der inszenierte Wiederholungszwang wird vor allem den drei Darstellerinnen auferlegt, die die von den anderen Figuren gesprochenen Worte nochmals sprechen, und zwar als ein »Musizieren« mit den Worten. Die darin liegende Ironisierung lässt keine deutliche Haltung mehr erkennen. Mit Vilém Flussers Informationstheorie formuliert, erhöht diese Ironie die vermittelbare Informationsmenge, macht somit die Information komplexer und verteidigt das Gesagte dadurch gegen den Eindruck, Kitsch zu sein.25 Im Unterschied dazu schützt sich die Satire vor dem Kitschvorwurf, indem sie sich selbst an der Oberfläche ausdrücklich als Kitsch darstellt. Ausgehend von Müllers Text hebt Wilson bei den Echostimmen die Maschinenhaftigkeit der spielenden Körper hervor, ohne eine eindeutige Haltung zu präsentieren. Die von Wilson inszenierten Figuren entziehen sich dadurch aller Psychologisierung. Sie funktionieren als Sprechmaschine schlechthin. Jedoch zerschlagen sie zugleich die Sprechmaschine, die schnell zu einer geläufigen Diskursmaschine werden könnte, und lassen sie anders funktionieren. Denn die Stimmen erweisen durch ihr Vermögen, den Sinn der Worte zu bedrohen, vor allem die Zwecklosigkeit des Sprechens. Die sprechenden Akteurinnen fungieren ohne Ziel und zeigen die Maschinenhaftigkeit der ironischen Wiederholung. Das Moratorium aller Beschlussfassung, das von der Ironisierung erzeugt wird, erkennt die NichtOrte des »Ich« an, sofern ein Ort als ein festgestellter Standpunkt verstanden wird. Die Ironie ermöglicht es, stereotypisierte, erschöpfte wie prekäre

23 Zum Ironiebegriff Roselt, 1999 sowie Kapitel 1 des ersten Teils »Nationalstaat und Heim. – Wolken. Heim. von Jossi Wieler« in der vorliegenden Arbeit. 24 Vgl. Theweleit, 1980. 25 Vgl. Flusser, 1993, S. 17f. Zum Begriff »Kitsch« Braungart, 2002.

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Themen aufzunehmen, bei denen die betroffenen Personen selbst kein eigenes Ziel mehr kennen. Danach zerstört Ophelia ihr Heim und geht allein mit ihrem Körper auf die Straße (vgl. 4, 548), und zwar in Richtung der Nicht-Orte, wie der Text ausdrücklich sagt.

3-3. E KEL . D IE S CHWELLE ZUR EXTREMEN K ÖRPERLICHKEIT Während die Echofiguren durch das Vermeiden der Stereotypisierung das körperliche Wesen »Ophelia« in Richtung der Nicht-Orte freilassen, werden am diskursiven Wesen »Hamlet« dessen Gefangenschaft und Ortlosigkeit hervorgehoben. Er beklagt sich über seinen Ekel vor Nicht-Orten, an die er sich frei zu bewegen das Privileg hat: »Ekel Ein Sichelwagen der von Pointen blitzt/Geh ich durch Straßen Kaufhallen Gesichter/Mit den Narben der Konsumschlacht Armut (4.552) [Herv. M.H.]« Sein Ekel wird durch die extreme Hervorhebung der Körperlichkeit sinnlich wahrnehmbar. Diesen wahrnehmbaren Ekel bewirken vor allem die maschinellen Echofiguren, indem sie die Worte »Hamlets« erodieren: »Doktor Schiwago weint Um seine Wölfe IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN« (4, 553)

Die Worte »IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN« werden von den Echofiguren seziert und wiederholt: »im Winter manchmal kamen sie ins Dorf/im Winter manchmal/kamen sie/im Winter manchmal kamen sie ins Dorf/zer– fleischten einen Bauern/zerfleischten einen Bauern...« Daran anschließend werden die Worte in einzelne Laute zerlegt. Vor allem die Stelle »ZER– FLEISCHTEN EINEN BAUERN« wird dabei intensiv bearbeitet. Das grammatische Subjekt »SIE« weist auf Tiere, nämlich die Wölfe aus dem Film Doktor Schiwago hin. Während dem Text zufolge die Tiere einen Menschen »zerfleischten«, zerlegt auf der Bühne die Körperlichkeit der Stimmen die Worte. Eine der drei Echofiguren macht bei dieser Zerlegung

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der Worte die Körperlichkeit ihrer Stimme bzw. das »Korn« der Stimme26 hörbar; so lässt sie beim Aussprechen von L und ER geradezu ihre Schleimhaut spüren und dehnt die trockenen Reibelaute R und SCH außerordentlich lang. Die Laute in »EINEN BAUERN«, die in den Stimmen körperlich zu hören sind, gehen fließend in ein Heulen, ein Brüllen, ein Erbrechen und in eine oktavierende Gesangstimme über. Die Stimmen zerlegen mithin zwar die Worte und lassen dabei einen körperlichen Ekel und zugleich dessen Vergänglichkeit vernehmen, aber es findet keine Vernichtung der Worte statt. Vielmehr tritt die Phrase »ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN« gerade durch die markant inszenierte Körperlichkeit sinnlich in den Vordergrund. Die Stimmen gehen schließlich in völlig bedeutungslose Geräusche aus Lautfetzen über. Die Spuren des Satzes klingen aber noch in den nächsten Sätzen nach. An dieser Soundscape beteiligt sich auch der so genannte »HAMLETDARSTELLER« (4, 553). Auf der Bühne wird die Bühnenanweisung von Lena Stolze mit neutraler Stimme wiedergegeben: »Hamletdarsteller legt Maske und Kostüm ab.« Dann beginnt ein Darsteller zu sprechen: »Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit.« (4, 553)

Durch die Metaperspektive dieser Worte tritt nun nicht der gespielte Hamlet, sondern der Körper eines Darstellers auf, der Hamlet nicht mehr spielen und nicht mehr in Hamlets Namen sprechen will. Unterhalb dieses Bekenntnisses rauschen erneut die Stimmen der drei Echofiguren, die nicht sprechen, sondern lediglich den Theatertext in seine Laute zerlegen, die Materialität der Worte entblößen und mit dem Material musizieren. In der Soundscape resonieren das Bekenntnis des Hamletdarstellers und das körperliche Rauschen der Echofiguren. An dieser Stelle ist ein deutlicher Kontrast zwischen den menschlichen Worten und der unmenschlichen Körperlichkeit der Stimmen zu verneh-

26 Vgl. Barthes, 1990-2.

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men. Der Hamletdarsteller spielt zwar keine Rolle mehr, die durch die Worte des Theatertextes wiedergegeben würde, aber die Worte werden dennoch auf tierische und musikalische Weise gespielt. Die Darsteller dieser Inszenierung transformieren sich nicht in Figuren, sondern in Tiere, Musikinstrumente, Echos und vor allem Maschinen, die keine für sie selbst bedeutenden Worte finden, sondern bloß ihre eigene Körperlichkeit ausstellen. Die stimmliche Körperlichkeit ist allerdings nicht mit dem Körper identisch. Die Stimme ist immer eine Spur des Körpers. Während die maschinellen Echofiguren eine destruktive Bestialität und komische Animalität der körperlichen Spur verbreiten, die an das Gebiet der Musik angrenzt, hinterlassen sie gleichzeitig Spuren von Worten jener Masken, die »Hamlet« und »Ophelia« heißen.27 Die Stimmen in der Aufführung sind daher die Spuren sowohl der sprechenden Körper als auch der Worte von Masken. Eine merkwürdige Stimminszenierung findet sich aber nicht nur in den weiblichen Stimmen, sondern auch in den männlichen, allerdings nicht in der Figur der Echo, sondern der des Jasagers. Die männlichen Darsteller nämlich übernehmen die Worte des »Hamletdarstellers«, der in sich die Spur einer sozialen und politischen Person (Hamlet) trägt und nun an Nicht-Orten umherschweift. Sie sprechen in Wilsons Inszenierung das Wort »Ekel« im Text mit der Intonation eines »Amen« aus – also wie ein Worts der Affirmation im Gebet: »Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel Am präparierten Geschwätz Am verordneten Frohsinn Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT Unsern Täglichen Mord gib uns heute Denn Dein ist das Nichts Ekel An den Lügen die geglaubt werden Von den Lügnern und niemandem sonst Ekel An den Lügen die geglaubt werden Ekel An die Visagen der Macher gekerbt

27 Wie bereits der Theatertext für Die Hamletmaschine zeigt, ist Müllers »Hamlet« keine Person, sondern eine Maske. Vgl. dazu Kapitel 3-1 »Nicht-Orte des Subjekts im Theatertext Die Hamletmaschine« und Kapitel 3-2 »Maskierende Maschine. Robert Wilsons Stimminszenierung«.

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Vom Kampf um die Posten Stimmen Bankkonten Ekel Ein Sichelwagen der von Pointen blitzt Geh ich durch Straßen Kaufhallen Gesichter Mit den Narben der Konsumschlacht Armut [...]« (4, 551f) [Herv. M.H.]

Die zitierte Stelle wird von einem Darsteller im weißen T-Shirt wie von einem betenden Pfarrer vorgelesen. »Ekel« wird jeweils wie das »Amen« im Gottesdienst von den anderen Teilnehmern bzw. den anderen männlichen Darstellern wiederholt. Doch mitten unter den ernsthaften, tiefen Stimmen ihres »Amen« ertönt die hohe Kopfstimme eines Darstellers, der wie ein Bankangestellter gepflegt, gekleidet und frisiert ist, und dessen Fistelstimme wegen der Diskrepanz zwischen seinem Aussehen und seiner Stimmlage umso mehr Komik hervorbringt. Seine Stimme singt und akzentuiert kurz danach ein satirisches Lob der globalen Nicht-Orte28 mit einer leichten, kinderliedartigen Melodie: »Heil COCA COLA Ein Königreich Für einen Mörder.« (4, 552) In dem Wort »Ekel« lassen die Stimmen somit die Affirmation der gebetsartigen Worte zugleich mit Komik vernehmen. Allerdings sprechen die »Gebete« keine Wünsche aus, die Gott in Zukunft erfüllen möge, sondern den heutigen Zustand, für den alle Wünsche und Gebete zu spät kommen. Wenn am »Jetzt« etwas affirmiert werden kann, dann ist es die »Lüge« der Freiheit an den Nicht-Orten bzw. »die mörderische Illusion, daß man in unserer Welt unschuldig bleiben kann«,29 wie sie Müller dem Theatertext zuordnet und die in ihren Grundzügen den Mythen des Alltags bei Barthes entspricht. Winfried Menninghaus‘ Analyse des Ekels zufolge zeigt der Ekel bei Immanuel Kant als »starke Vitalempfindung« des Menschen die ästhetische und ethisch-moralische Grenze des lebenden »Ich« bzw. die Schwelle zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« an:30

28 In der Szene wechseln die männlichen Darsteller ihre Stelle nacheinander ab, indem einer den Standpunkt des Nachbarn einnimmt und ihn leise vertreibt, als ob nichts gewesen und der Vorgang alltäglich und automatisch wäre. Die körperliche Ortsveränderung der Darsteller verweist zugleich auf die Nicht-Orte als ihren eigentlichen Platz. 29 Vgl. Müller, 1986/87. 30 Vgl. Menninghaus, 2002.

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»Im Ekel scheint nie weniger als alles auf dem Spiel zu stehen. Er ist ein Alarmund Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder 31

Nicht-Sein geht.«

In der historischen Reihe der »Philosophen des Ekels« verortet Menninghaus Friedrich Nietzsche und interpretiert anhand des Stichworts »Ekel« dessen Idee der »ewigen Wiederkehr der Gleichen« als das Vermögen, der ekelhaften Vergangenheit ein »Ja« bzw. »Noch einmal« zusprechen zu können und es auch zu wollen. Das »Ja« schafft demnach aus dem inakzeptablen Schicksal, das wie ein Fremdkörper Ekel erregt, das »eigene« Leben, das wiederum gewollt ist. Das kann aber nur durch den schaffenden Willen geschehen. Denn andernfalls verfällt das »große Ja« des Schaffenden in das »kleine Ja« des untergebenen und resignierenden Jasagers. Die tonale Modulation vom »Amen« zum »Ekel« dagegen lässt keinen schaffenden Willen zum »Noch einmal« erkennen, sondern die körperlichen Stimmen der Hamletdarsteller unterwerfen sich fromm und gehorsam allem ekelhaft Fremden – dem Fremden nicht im Sinn fremder Menschen, sondern im Sinn des Fremden in sich selbst. Denn der »Hamletdarsteller«, der sich als bloßer, für ihn selbst fremder Körper darstellen soll, will es nicht. Er zerreißt das Foto des Autors und schreit: »Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.« (4, 552) Das »Amen« im Wort »Ekel« ist also als das »Ja« des gehorsamen »Jasagers« zu verstehen. Müllers »Hamletdarsteller« steht an der Schwelle des Ekels – zwischen Sein und Nicht-Sein oder zwischen dem vernünftigen Diskurs und dem unverfügbaren Körper –, eines Ekels, der seinen Ort bzw. seinen möglichen Standpunkt bedroht. Was genau ekelt aber den »Hamletdarsteller«? Anders gefragt: Wogegen stellt er sich? Bereits in der ersten Szene von Wilsons Inszenierung stoßen wir auf den »Ekel«. Er wird nicht nur sprachlich erwähnt – »Jetzt binde ich dir [meiner Mutter] die Hände auf den Rücken, weil mich ekelt vor deiner Umarmung, mit deinem Brautschleier« (4, 547) –, sondern er lässt sich auch körperlich in der Stimme hören. Das Wort »Spur« wird hier wie erbrechend ausgespien: »Jetzt nehme ich dich, meine Mutter, in seiner, meines Vaters, unsichtbaren Spur.« (4, 547) [Herv. M.H.]

31 Ebd. S. 7.

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Man kann schließen: Die Spur des unsichtbaren Vaters ekelt den »Hamletdarsteller« in seiner körperlichen Aufführung, während die Umarmung der Mutter die gespielte Rolle des »Hamlet« ekelt. Hamlet steht sowohl außerhalb der väterlichen Worte als auch außerhalb des mütterlichen Körpers. Doch gerade weil der Körper am Ausnahmezustand der beiden beteiligt ist, gehört er mit zum System der Sprache, was eben das Spiel der Schauspieler auf der theatralen Metaebene unvermeidlich darlegt. Der Körper des Darstellers, der nicht mehr spielt, ist nicht selbstständig, sondern er steht in Verbindung mit der Rolle, die etwas symbolisiert, in dem Sinn, dass er sich in einem Ausnahmezustand befindet. Zum Begriff Ausnahmezustand erläutert Giorgio Agamben: »Die Ausnahme ist eine Art der Ausschließung. Sie ist ein Einzelfall, der aus der generellen Norm ausgeschlossen ist. Doch was die Ausnahme eigentlich kennzeichnet, ist der Umstand, daß das, was ausgeschlossen wird, deswegen nicht völlig ohne Beziehung zur Norm ist; sie bleibt im Gegenteil mit ihr in der Form der Aufhebung verbunden. Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht das der Ordnung vorausgehende Chaos, sondern die Situation, die aus ihrer Aufhebung hervorgeht. In diesem Sinn ist die Ausnahme wirklich, der Etymologie gemäß, herausge32

nommen (excaptum < excapere) und nicht einfach nur ausgeschlossen.«

Der Hamletdarsteller steht also an der Schwelle zwischen dem bloßen, sterblichen Körper – zoé – und der zu spielenden Rolle – bios –, nicht einseitig gegen die zoé oder gegen den bios. Beide ekeln ihn, und aus beiden ist er »herausgenommen«. Gerade hier – weder am Körper noch am Wort, sondern dort, wo sich die Spur des Körpers und die des Sprachsystems treffen, – ist der (Nicht-)Ort der Stimme. Wenn die Stimme aber diesen (Nicht-)Ort in den Vordergrund des Gehörs rückt, gerät das sprechende Subjekt in eine Funktionsstörung. Eben das ist der Zustand der viel redenden, diskursiven Figur »Hamlet«.

32 Agamben, 2002, S. 27.

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3-4. D ER NICHTDARSTELLBARE O RT DER R EVOLUTION In der Funktionsstörung des sprechenden »Ich« übernehmen die maschinellen Echofiguren die Worte der Revolutionäre, die als geistige »Väter« des Kommunismus gelten. Als solche sind die Worte jedoch bereits machtlos und dies in doppelter Hinsicht: einerseits durch die Erzählung, dass das Vaterland schon ruiniert sei; und andererseits durch die maschinellen Echostimmen, die die Worte des Vaters aushöhlen. Männliche (Hamlet-)Darsteller stürzen oder legen sich auf den Boden. Nachdem die hexenähnliche Figur der Schauspielerin Lena Stolz die Bühnenanweisung in einem gelassenen, vernünftigen Ton, der nicht den Sinn der Worte entstellt, vorgelesen hat: »Bildschirme schwarz. Blut aus dem Kühlschrank, Drei nackte Frauen: Marx Lenin Mao«, beginnt die Rede der Revolutionäre. Stolz zufolge sprechen die Echofiguren in drei Sprachen, Marx auf Deutsch, Lenin auf Russisch und Mao auf Chinesisch, den Satz: »Es gilt alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«33 Marx’ Worte werden zunächst auf Deutsch, dann mit einer kleinen Zeitverzögerung auf Russisch und auf Chinesisch gesprochen. Die Worte gehen somit aus dem Kreis einer Muttersprache hervor, um dann in eine andere Sprache übertragen zu werden. Die Stimmen verschieben sich ineinander, so dass die Hälfte der Worte nicht zu verstehen ist. Wessen Worte es sind und wie sie eigentlich lauten, bleibt in den Echostimmen unklar, so wie es nicht nur

33 Müller schreibt die Stelle folgendermaßen: »ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN, IN DENEN DER MENSCH...« (4, 553) Die Worte sind Marx’ »Einleitung« in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Marx/ Engels, Bd 1., 1976, S. 378-391) entnommen. Die entsprechende Stelle im Original lautet: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!«

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in der Politik, sondern im Sprachgebrauch überhaupt stets der Fall ist. 34 Die Echofiguren sprechen nun als Echo der drei Revolutionäre selbst. Dadurch ironisieren sie aber gerade diese den Revolutionären zugeschriebenen Worte. Bei der Übernahme der Worte kopieren die drei Darstellerinnen die Körperhaltungen der ursprünglichen Revolutionäre nicht mit, sondern sie kippen die Stühle, auf denen sie sitzen, in einem bestimmten Winkel und kratzen ihre Scheitel rhythmisch mit den Fingerspitzen der linken Hand. Die Extravaganz der optischen Geste fügt den Worten einerseits völlig bezugslose Elemente hinzu und lässt alle Versuche einer Kontextualisierung scheitern. Andererseits erodieren die akustischen Stimmgesten die Bedeutsamkeit der Worte und heben diese Erosion sogar noch hervor: Die schauspielerischen Stimmen verkörpern ihren Text nur dadurch, dass sie unvollkommene Zitate der revolutionären Äußerung durch Stimmlage und Klang der verschiedenen Sprachen quasi musikalisch artikulieren. Ihre Stimmen halten zwar Reden in der typischen Sprechweise von Revolutionären, dies aber in den verteilten drei Stimmlagen, was ihre Stimmen halb als Rede und halb als Gesang klingen lässt. In diesem Sinn betonen die gespielten Revolutionäre die Körperlichkeit des Sprechens. Die Revolution durch die Körperlichkeit in der Sprache wurde von der Poststrukturalistin Julia Kristeva in ihrem Buch Revolution der poetischen Sprache ausführlich thematisiert. Im Folgenden möchte ich den Revolutionsbegriff mit Bezug auf die Stimme ausgehend von Kristeva entwickeln. Für Kristeva ist die poetische »Literatur« weder ein in sich geschlossener Diskurs noch Kunst. »Literatur« verbindet sich vielmehr direkt mit der politischen Praxis, aber nur, solange sie das Subjekt der Sprache konstruiert und dekonstruiert. Ohne Subjekt wäre keine Politik möglich. Die poetische »Literatur«, die mit der Stimme artikuliert wird,35 macht jene Sinnlichkeit der Worte wahrnehmbar, die sich außerhalb der sprachlichen und gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen ereignet. Das Sinnliche entstammt der Körperlichkeit, die in Gesellschaft und Politik unterdrückt wird, die

34 Umberto Eco hält sogar das Liebesbekenntnis »Ich liebe dich« für ein Zitat. Vgl. Eco, 2012. 35 In Polylogue benennt Kristeva die zerstreuten Klänge der Wortsilben, die Intonation und den Leserhythmus als Elemente einer semiotischen Körperlichkeit der Stimme. Vgl. Kristeva, 1977, S. 173f.

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aber als Element der Biopolitik vor allem seit dem 20. Jahrhundert zunehmend eine tragende Rolle erhält. Den heterogenen Prozess einer unvollkommenen Kommunikation nennt Kristeva »signifiance« (Sinngebung). Mit diesem Begriff betont sie, dass die beiden Pole – der biologische und der gesellschaftliche – nur dann wirken können, wenn sie aufeinander einwirken: »Wir werden jenen heterogenen Prozeß […] als Sinngebung (signifiance) bezeichnen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß auf der einen Seite biologische Schübe gesellschaftlich aufgefangen, geleitet und so verteilt werden, daß es gegenüber den gesellschaftlichen Apparaten zu einem Exzeß kommt, und daß auf der anderen Seite diese Funktionsweise der Triebe in eine Praxis mündet, das heißt zur Umwandlung von Widerständen, Endlichkeiten und natürlichen und gesellschaftlichen Stagnationen führt, doch nur dann, wenn diese Funktionsweise auf den Kode sprachlicher und gesellschaftlicher Kommunikation gestoßen ist.«

36

Der Begriff der Revolution – aus dem spätlateinischen re-volutio, »ZurückWälzen«– orientiert sich im Grunde genommen an der Rückkehr zum Alten.37 In ihren Überlegungen zur »Revolution der poetischen Sprache« geht Kristeva als Psychoanalytikerin auch auf die psychologische Urszene des Mutterleibes ein; Sigmund Freud nennt diese Szene die Heimat, die unheimlich erscheint. 38 Kristeva stellt jenseits des Geltungsbereichs der

36 Kristeva, 1978, S. 30f. 37 Noetzel, 2008, S. 531. Walter Benjamin sagt im Anschluss an das Zitat »Ursprung ist das Ziel« aus Karl Kraus’ Worte in Versen I: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat. »Benjamin, 1974, Bd. 1-2, S. 701. 38 Vgl. Freud, 2008, S. 164.

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Langue bzw. des »väterlichen« Gesetzes, das wiederum gesellschaftlich funktioniert, noch einen anderen, körperlichen und »mütterlichen« Ort vor: den Mutterleib, welcher der sprachäußerliche39 bzw. der für das transzendentale Subjekt unverfügbare »fremde« (hétérogène) Ort ist. Der Mutterleib als Geburtsort gilt in ihrer Theorie als Triebauflage,40 die auf die Sprache einwirken und sprachlichen Sinn stiften kann. Der sprachliche Sinn wird also nicht durch das starre Gesetz des Symbolischen gegeben, sondern durch die dynamische Beweglichkeit (motilité) der sinnlichen Triebenergie, die Kristeva »im Lichte des Gebärden- und Stimmspiels« sieht und die eine Bewegung »auf dem Register des sozialisierten Körpers vollführt«.41 Durch diese sinnliche Energie findet die Revolution der poetischen Sprache statt.42 Den »Geburtsort« als Raum des Sinnstiftungsprozesses benennt Kristeva mit einem Ausdruck Platons als »die semiotische chora«, wobei das griechische Wort »χώρα« sowohl »Ort« als auch »Raum« bedeuten und je nach

39 Kristeva, 1978, S. 32. 40 Das Wort »Trieb«, das in diesem Sinn zuerst von Sigmund Freud im psychoanalytischen Kontext benutzt wurde und hier für die gegen die Gesellschaft positionierte Körperlichkeit steht, wird in Kristevas französischem Originaltext nicht mit »instinct«, sondern mit »pulsion« übersetzt. Die Notwendigkeit dieser Wortwahl wurde z.B. von Jacques Lacan nachdrücklich betont. Lacan, 1973, S. 49. Der Trieb, das was Menschen in eine bestimmte Richtung »treibt«, ist nicht bloß biologisch zu denken, wie die vor allem im Englischen verbreitete Übersetzung »instinct« akzentuiert, sondern er ist erst durch die Einwirkung der beiden Pole – des kulturellen und des biologischen – zu verstehen, wie Kristeva ausführt. Diesen Hinweis verdanke ich Kobayashi, 2012. 41 Ebd., S. 37. 42 »Was wir als Sinngebung kennzeichnen, ist eben jene unbegrenzte und nie abgeschlossene Erzeugung, jenes unaufhaltbare Funktionieren der Triebe [pulsion] auf die Sprache zu, in ihr und durch sie hindurch, auf den Austausch und seine Protagonisten, das heißt auf das Subjekt und die Institutionen zu, in ihnen und durch sie hindurch. Dieser heterogene Prozeß ist weder anarchische Zerstückelung noch schizophrene Blockierung, sondern eine Praxis des Strukturierens und Destrukturierens, er ist Vorstoß hin zu den subjektiven und gesellschaftlichen Grenzen [le passage à la limite], und nur unter dieser Voraussetzung ist er Lusterleben [jouissance] und Revolution. « (Kristeva, 1978, S. 31) Dazu auch Kristeva, 1974, S. 15.

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Kontext unterschiedlich übersetzt werden kann. 43 Kristeva erläutert den Raum des Sinnstiftungsprozesses als den »Geburtsort des Subjekts« [lieu d’engendrement du sujet], der auch »der Ort seiner Negation« [le lieu de sa négation] sei, »an dem seine Einheit dem Prozess von Ladungen und Stasen weicht, der diese Einheit allererst herbeiführt«.44 Die semiotische chora werde durch eine semiotische, vorsprachliche Funktionalität, nämlich eine gestische und stimmliche, reglementiert,45 die das ammenhafte und mütterliche »Empfangende« sei. Kristevas Idee, dass der sprachliche Sinn nicht allein in einem symbolischen System, sondern erst im dynamischen Prozess zwischen dem Symbolischen und dem Körperlichen bzw. Sinnlichen gestiftet wird, macht zwar auf die körperliche Funktion der Stimme in der sprachlichen Tätigkeit aufmerksam. Allerdings vermeidet Müller es deutlich, die Metapher des Mütterlichen mit der Körperlichkeit zu vermischen. Seine Ophelia hebt zwar ihre Körperlichkeit hervor, aber sie negiert ausdrücklich die angebliche Urszene des empfangenden und fruchtbaren Mutterleibes. 46 Mit Blick auf die Problematik des Ursprungs warnt auch Jacques Derrida davor, den unbegreiflichen Ursprung durch andere, vorgegebene Strukturen wie die »chora« oder den Mutterleib zu begreifen. Die Kritik an einer Metaphorisierung des Ursprungs, welche die Metapher dogmatisiere, entspricht nicht nur Roland Barthes‘ Kritik an der Mythisierung des Zeichens, sondern auch Judith Butlers performance theory, welche die unhinterfragte Voraussetzung der Naturgegebenheit der Geschlechtsidentität kritisiert und deren performative Erzeugungsprozesse hervorhebt.47 Sie alle bezweifeln eine Gegebenheit des Ursprungs bzw. eine Rückführung des Ursprungs auf eine angeblich biologisch bestimmte Geschlechtsidentität. Aus diesem Grund orientiere ich mich im Folgenden an der Struktur von Kristevas le sujet en procès bzw. am Sprachsubjekt in einem dynamischen Prozess, einem Vorgang, der sich

43 Stephan Günzel zum Beispiel übersetzt »chora« mit »Raum« (vgl. Günzel, 2005). Edward S. Casey spricht von »chora« als »place« (also Ort, im Unterschied zu »space«) in The fate of place, 1997. 44 Kristeva, 1974, S. 39 sowie im französischen Original (1974), S. 27. 45 Vgl. ebd., S. 37f. 46 Vgl. Kapitel 3-1. »Nicht-Orte des Subjektes im Theatertext Die Hamletmaschine« im ersten Teil dieser Arbeit. 47 Vgl. Butler, 1991.

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als »Rechtsstreit« zwischen dem Sinnlichen und dem Sinnhaften abspielt. Die Variationen dieses Prozesses konnten wir bereits im Ekel beobachten, der die körperliche Schwelle zwischen Sein und Nicht-Sein markiert. Das Sprachsubjekt im Prozess tritt niemals entweder auf die Seite des Körpers oder auf die des Wortes, sondern es maskiert sich, wie in Die Hamletmaschine deutlich vorgeführt, immerfort seriell dazwischen. Das Sprachsubjekt im Prozess wälzt sich zurück, aber nicht an einen darstellbaren Ort, sondern an einen nichtdarstellbaren Ursprungsort. Daher schlage ich vor, die Struktur der Hamletmaschine nicht auf einen Agon zwischen den beiden Geschlechtern zurückzuführen, sondern die Struktur vielmehr aufgrund ihrer prozessual und seriell laufenden Maskierungen zu verstehen. Die drei Revolutionäre/Väter werden am Ende der 4. Szene vom »Hamletdarsteller« getötet. Die Tötung wird nicht auf der Bühne gezeigt, sondern die entsprechende Bühnenanweisung wird erneut von der hexenähnlichen Frau nüchtern vorgetragen: »(Hamletdarsteller) Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.« (4, 553) Der Hamletdarsteller, der »Kostüm und Masken ab[legt]« (4, 553) und nicht mehr Hamlet spielt, legt nun eine Rüstung an, die als eine harte, undurchdringbare Haut seinen »Platz« (4, 552) schützt. An diesem Platz will er »allein mit seinem Blut« sein: »Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut.« (4, 552f ) Sein Platz liegt in seinem »Blut«, das auch nach dem Ausfließen noch als seines gilt, und in der »Scheiße«, die nach Antonin Artaud als eigenes Werk zu verstehen ist; »Ich nehme Platz in meiner Scheiße, meinem Blut.« (4, 552) Wenn er auch mit der Rüstung und dem Beil versucht, sein Werk und den eigenen Körper vor den Revolutionären zu schützen, so kehren diese doch in den Figuren des ironischen Echos zurück. Das Echo gewinnt damit gleichsam als ästhetischer Revolutionär theatral wirksame Stimmen, wenn diese auch in der »regulären« sozialen Situation als verrückt definiert und ignoriert werden müssten. Solange die Echostimmen nicht nur die geschriebenen Worte, sondern immer wieder auch die Körper der Sprechenden in sich spüren lassen, indem sie beide nur als Spur zu vernehmen geben, spielen sie Revolutionäre, die den ursprünglichen Ort des sprechenden Ich in die unvorstellbaren, nicht lokalisierbaren Nicht-Orte bzw. in den Zwischenraum der Stimme zurück-wälzen. In der letzten Szenenfolge verwandelt »Ophelia« sich in eine Revolutionärin, indem sie aus einem bestimmten Ort heraus proklamiert, dass sie

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eine rächende Frau sei, nämlich Elektra, und dass sie jede mütterliche Produktivität zunichtemache: »Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße alle Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. [Herv. M.H.]« (4, 554)

Das »Ich« spricht an einem Ort: »hier«. Aber es bleibt rätselhaft, wo jenes »hier« sein soll. Auf diesen Ort beziehen sich Beschreibungen wie »Im Herzen der Finsternis« und »Unter der Sonne der Folter«. 48 Die Phrase »Im Herzen der Finsternis« spielt auf den Roman »Heart of Darkness« von Joseph Conrad an, der nicht nur die damalige Vorstellung vom »dark continent«, sondern auch den moralischen Verfall der Kolonialisten im ausgebeuteten Kongo-Freistaat andeutet. »Unter der Sonne der Folter« ist ein Zitat aus dem Vorwort von Jean-Paul Sartre zu dem den Kolonialismus scharf kritisierenden Buch »Die Verdammten dieser Erde« des algerischen Revolutionärs Frantz Fanon. Beide Zitate zeigen Orte an, die im Rahmen eines Eurozentrismus marginalisiert sind und blinde Flecken darstellen. »Ophelia« bzw. »Elektra« verkörpert also »im Namen der Opfer« als ein marginalisiertes Wesen nicht nur die Frauen, sondern auch die ignorierten, verlassenen Menschen in weit entfernten Ländern. Von diesem unsichtbaren Ort aus bedrohen die Stimmen »Ophelias« bzw. »Elektras« »die Metropolen der Welt«. Sie suchen so auch die Orte bzw. Standpunkte der Hörenden heim, die noch glauben, eine eigene, gesicherte Position innezuhaben. Das »hier« der »Ophelia« ist in diesem Sinn unsichtbar und marginalisiert, wird jedoch geradezu gewalttätig proklamiert, während Müllers »Hamlet« immer wieder seine Ortlosigkeit beklagt und sich vor NichtOrten ekelt. Im Gegensatz zu »Hamlet« kommt in Ophelias oben zitierten Worten trotz der Fülle ihres ordnungswidrigen, antisozialen Taten ankündigenden Vokabulars keine einzige Verneinung zur Sprache. Wenn das

48 Vgl. Primavesi, 2009-2.

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»hier« zwar nicht in der Gesellschaft lokalisierbar ist, so verkündet »Ophelia« ihr Da-Sein dennoch viel positiver als »Hamlet«.

3-5. ATOPOS

IN ENT - SETZENDEN

S TIMMEN

Der im vorigen Abschnitt zitierte Absatz (»Hier spricht Elektra…«) wird in Wilsons Inszenierung insgesamt dreimal wiederholt. Das Pronomen »ich« wird dabei in der zweiten Sequenz jeweils durch weibliche Stimmen nacheinander lang gedehnt geschrien. Die wiederholten Schreie klingen metallisch und ohrenzerreißend wie Todesschreie. Jenseits aller Psychologisierung stechen die auffällig hervorgehobenen Schreie ins Ohr und hinterlassen dort auch nach ihrem Verklingen einen Schrecken, ohne dass ihre Bedeutung darstellbar würde. Das »ich« ist in der ersten Sequenz beim Aussprechen dieser Worte sprachlich klar zu vernehmen, wird aber in der zweiten Sequenz durch Schreien verzerrt. Die Schreie klingen so entsetzlich, dass die schreienden Figuren geradezu als unbegreifliche, unmenschliche Monstren erscheinen, mit denen keine Kommunikation mehr möglich ist. Das Wort »ich« gehört, insofern es in Müllers Theatertext auftaucht, zur Langue. Es wird jedoch in Wilsons Inszenierung durch die Schreie, die sich zwischen der Parole und einem sinnfreien Lärm halten, »ruiniert«. Das heißt, es wird nicht ausgelöscht, sondern insofern »ruiniert«, als das »Ich« der Langue an seiner einstigen Stelle nur noch zu spüren ist. Denn im Schreien vernimmt man die Spur des Pronomens »ich«, das in den geschrienen Sätzen zwar fehlt, aber die ihm entsprechende Konjugation hinterlässt. Dem fehlenden Wort »ich« wird dabei eine besondere Funktion in den Sätzen zugesprochen: Das »Ich« erscheint in den schreienden Stimmen eben als das Sprachsubjekt im Prozess. Wilsons Inszenierung macht gerade die Spaltung zwischen der Sprache und der Körperlichkeit der sprechenden Stimme wahrnehmbar. Hier, an der Stelle des Ich als eines Kernelements von Langage – im Sinn Saussures der Fähigkeit zur Sprache bzw. zum Sprechen überhaupt –, tritt die nicht darzustellende, nicht in die Sprache einzuordnende Körperlichkeit der schreienden Stimmen hervor. An der Stelle des Ich findet sich allerdings nicht etwas spurlos Neues, sondern eine in einen Maskierungsprozess übergegangene Spur des Ich: Die schreienden Stimmen zeigen den Übergang vom sprechenden Subjekt zum schreienden, nicht mehr kommunizierenden Fremden.

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Menschen beziehen erst durch die Vermittlung des Wortes »ich« ihr eigenes körperliches Wesen auf die sprachliche bzw. soziale und menschliche Welt. Wenn die Stimmen aufhören, als sprachliche Mittel zu funktionieren, und ihre Körperlichkeit stärker hören lassen, setzen sie keine sprachliche Bedeutung mehr, sondern ent-setzen sie. Der Ort der Schreienden wird im Hör-Raum von den übermäßig schrill schreienden Stimmen ent-setzt. Die »entsetzende Gewalt« erscheint nach Werner Hamacher und Walter Benjamin in einer zwecklosen Suspendierung der rechtssetzenden Gewalt – wie in einem Generalstreik.49 In dem gezeigten Aufführungsbeispiel wird ein identifizierbarer Ort des Ich nicht gesetzt, sondern ent-setzt. Nach Walter Benjamin soll der Generalstreik eine rechtsvernichtende Gewalt ausüben, das heißt nach Hamacher eine Gewalt, die die Gewalt des Rechts ent-setzt bzw. unterbricht. Allerdings ist die »Unterbrechung« in den schreienden Stimmen weder als Leerstelle noch als ein Stillstand zu begreifen, in dem die Stimmen stillschwiegen und der akustische Fluss stoppte. Um die Art der Unterbrechung des Langage in den schreienden Stimmen besser zu begreifen, hilft die Unterbrechung, wie sie im Begriff der »revolutionären Politik« bei Kristeva auftritt. Kristeva definiert die »Politik« als etwas, das einen gemeinsamen Maßstab vorgibt und somit eine Gemeinschaft existieren lässt.50 Die Politik ist also hier im Sinn der griechischen »Polis« zu verstehen. Dieser gemeinsame Maßstab als Basis der »Politik« und der Gemeinschaft ist nach Kristeva die Sprache als Langage. Kristeva findet in der »revolutionären Politik« eine Möglichkeit, die Politik bzw. den gemeinsamen Maßstab, also Sprache als Langage, zu unterbrechen. Allerdings stoppt Kristevas »revolutionäre Politik« den politischen Redefluss nicht, sondern sie lässt in diesem Redefluss einen »Polylog« entstehen. Der Polylog wird nicht allein durch die Symbolik der Sprache gestiftet, sondern entsteht zwischen dem Symbolischen und der Körperlichkeit des Vorlesenden, die von der Sinnlichkeit der Sprachklänge stimuliert wird. Auch die schreienden Stimmen von Wilsons Ophelia bringen keinen Stillstand in den theatralen Hörraum, sondern derart exzessiv viel Sinn, dass man nicht mehr imstande ist, »den« Sinn zu begreifen. Während Müllers Hamlet seinen Standpunkt negiert und seine Ortlosigkeit betont, indem er immer wieder das Nicht proklamiert, stört Ophelia die Or-

49 Hamacher, 1996, sowie Benjamin, 1978, S. 29-65. 50 Kristeva, 1977, S. 13.

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tung des Ich dadurch, dass sie ein Zuviel auf die Bühne bringt, dass sie in Form von Zitaten etwa als Elektra, als Sartre, als Conrad, als marginalisierte Menschen, in der Form ihres Körpers oder auch als Chor der Schauspielerinnen spricht. Die Figuren unterliegen ständigen Maskeraden bzw. Veränderungen der Standpunkte. Die Aufführung von Die Hamletmaschine lässt die Hörenden unabsehbar viele Orte bzw. Standpunkte imaginieren und einen Polylog entstehen. Eben darum können die Standpunkte des sprechenden »Ich« nicht lokalisiert werden. Die schreienden Stimmen Ophelias führen die Hörenden also nicht zu einem bestimmten politischen oder sozialen Standpunkt, sondern zu derart vielen, dass sie die Hörenden nicht mehr ganz begreifen können. »Entsetzen« bedeutet im militärischen Jargon das Befreien von Besetzung und Belagerung. Die ent-setzenden Stimmen in Wilsons »Hamletmaschine« suchen in diesem Sinn nicht nur die Standpunkte der Hörenden heim, sondern sie befreien auch das schreiende Ich von aller möglichen Belagerung: Alle gegebenen Orte und Körper werden – mit Deleuze/Guattari formuliert – in den Stimmen de-territorialisiert. Das »Ich« der Schreienden zerstreut sich im theatralen Hörraum zentrifugal. Die Entstehungsorte der schreienden Stimmen, die nicht begreiflich, die fremd und »andere« sind, sind mit keinem Ort eindeutig zu identifizieren:51 weder mit den Körpern der Schreienden noch mit den zitierten Standpunkten. Selbst der Körper des appellierenden »Ich« ist also in diesen Stimmen lediglich als ein Fremdkörper wahrzunehmen. Die Sprache erscheint für das »Ich« nicht in eigenen Worten, sondern in Wilsons Inszenierung nur in soufflierten Zitaten. Die in den Stimmen Appellierenden sind nicht die Darstellerinnen auf der Bühne, denen Ophelias drohende Worte nur als Fremdkörper eingepflanzt sind. Stattdessen vernehmen wir in den Stimmen das Dasein der marginalisierten, ignorierten und daher unsichtbaren Abwesenden, die uns fremd bleiben und die auch nicht vermögen, sich auf der Bühne zu präsentieren. Das appellierende »Ich« entzieht sich in den Stimmen, doch zugleich wird es in den Schreien als durchdringend wahrgenommen, die den Hörenden einen Schock, einen Schreck, versetzen. In der Durchdringlichkeit dieser schreienden Stimmen ist das »punctum«52 zu finden, das Roland Barthes in der Photographie seiner geliebten

51 Zum Begriff des »Anderen« Deleuze, 2007, S. 326f. sowie S. 350f. 52 Vgl. Barthes, 1989.

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verstorbenen Mutter fand. Barthes definiert zwar das »punctum« über die Photographie und findet es genauer in der Zeitlichkeit der Photographien von Gestorbenen: »Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.«53 In dem Begriff des »punctum« sieht allerdings Hans-Thies Lehmann allgemeiner – und damit nicht unbedingt abhängig von photographischen Merkmalen – eine »SinnPause«, die er formuliert als »das zufällige Detail, die Einzelheit, eine nichtrationalisierbare Eigenheit am Abgebildeten, ein undefinierbares Moment.«54 Nach Lehmann führt das postdramatische Theater den Zuschauer auf dieses »punctum« hin. Barthes meint in seinem Text über die Photographie mit dem punctum »etwas, das mich sticht«, während er als das »studium« der Photographie ein nüchternes, intellektuelles Interesse bezeichnet. Anders als das »punctum« der Photographie kann jedoch das »punctum« der Stimme in der hier behandelten Theaterszene nicht nur zeitlich begriffen werden, sondern auch räumlich. Die durchdringenden Stimmen bei Wilson erzeugen unmittelbar ein enges, sogar im weiteren Sinn intimes Verhältnis zwischen den Appellierenden und den Hörenden, obwohl der Appell nicht von lang vertrauten Familienmitgliedern oder Freunden, sondern von völlig fremden Menschen kommt. Somit »sticht« das stimmliche punctum die Hörenden auch ohne Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit. Der »Stich« im »punctum« der Stimme beruht nicht auf der Vergangenheit wie bei einer Photographie, sondern auf einem nichtrationalisierbaren, schmerzhaften Schock, der zwischen den Appellierenden und den Hörenden entsteht. Wenngleich die Hörenden den Schmerz der Appellierenden nicht verstehen, »sticht« sie ein stimmlicher Schmerz. Denn das stimmliche Phänomen kann nicht auf ein Subjekt – seien es die Sprechenden, seien es die Hörenden – zurückgeführt werden, sondern es entsteht immer im Zwischenraum und trifft die Hörenden von dort her. Doris Kolesch bemerkt dazu: »Die Stimme ist kein abgrenzbarer Gegenstand, kein Ding, sondern ein raumgreifendes, ja raumschaffendes akustisches Geschehen. Stimmen können uns umhüllen,

53 Barthes, ebd., S. 106. 54 Lehmann, 1999-1, S. 368f.

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wir können in sie eintauchen, sie können uns aber auch wie ein Pfeil, ein punctum treffen oder uns schleichend, hinterhältig einnehmen; immer jedoch bindet die Stimme in besonderer Weise die Sprecherin an ihr Sprechen und an ihre Zuhörer ebenso wie sie die Zuhörer mit der Sprecherin verbindet. [...] Wenn das bislang Gesagte zutrifft, überschreitet die Stimme etablierte Grenzen: Sie gehört weder dem sprechenden noch dem zuhörenden Subjekt; sie ist weder nur bei der, die spricht, 55

noch bei dem, der hört.«

Das hörende oder sprechende »Ich« taucht erst im Hörraum der Stimme auf, die nach Kolesch »in besonderer Weise die Sprecherin an ihr Sprechen und an ihre Zuhörer [bindet], ebenso wie sie die Zuhörer mit der Sprecherin verbindet«. Die Stimme hat so als ein akustisches Phänomen ein unmittelbares, durchdringendes Wirkungspotential: Die ent-setzenden, alle Standpunkte auflösenden Stimmen können sich in einem »punctum« verdichten und uns »treffen«, ohne sich darum positionieren oder identifizieren zu lassen. Gerade im in die hörenden Körper stechenden punctum situieren sich die Hörenden. Sie werden an den Punkt des punctums versetzt. Das punctum, das sich hier als ein affektiver Punkt ausdrückt, lässt die so »Gestochenen« unendliche Maskierungen der Stimmen imaginieren. Unter »Affekten« verstehe ich hierbei nichts menschlich-subjektiv Psychisches, sondern, mit Deleuze und Guattari, »Arten des Werdens«. 56 Im »punctum« werden die Stimmen zu Maskierungsmaschinen, die die Ich-Identität der Appellierenden in einzelne Serien auflösen, sie in je Andere verwandeln und im »punctum« unaufhörlich zu weiteren Maskierungen treiben. Das symbolische Zeichensystem, das die Ordnung und Verortung ermöglichte, wird unterbrochen. Das »punctum« ist weder darstellbar noch lokalisierbar, aber es wird trotzdem intensiv gespürt. Von diesem Standpunkt aus wird der Entstehungsort der gehörten Stimmen gespürt, der seinerseits weder darstellbar noch lokalisierbar ist: Der Entstehungsort erscheint hier als »Atopos«57 – als nichtqualifizierbarer Ort. Der Standpunkt des sprechenden »Ich« wird in den ent-setzenden Stimmen auf der semioti-

55 Kolesch, 2003, S. 275. 56 Deleuze/Guattari, 1992, S. 349. 57 Vgl. dazu das Kapitel 1-3 »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit.

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schen Ebene zentrifugal aufgelöst, aber die stimmliche Kraft des EntSetzens »sticht« die Hörenden auf der ästhetischen Ebene im zentripetalen »punctum«. Von diesem Punkt her vernehmen die Hörenden den »Atopos« der appellierenden Stimmen. Nach Kolesch stellt »[d]iese Nichtqualifizierbarkeit [...] keinen Mangel, sondern eine Qualität dar – die zu entdeckende Qualität des Vermischten, des Gemenges, des Beweglichen, Flüssigen, Vielfältigen, Passageren.«58 Das negative Präfix »a« bei A-topie bedeutet also – anders als das »u« in »Utopie« – keinen Mangel am »Dasein«, sondern entspricht vielmehr einer anderen Weise des »Daseins«. Die schreienden Stimmen in Wilsons Die Hamletmaschine lassen deutlich erkennen, dass sie sich der Lokalisierung bzw. der Setzung ihres Ortes entziehen, indem sie in einem Zwischenraum schweben und unendliche Maskierungen treiben. In dem Zwischenraum der Stimmen, der weder den Hörenden noch dem Appellierenden gehört, werden die für gewöhnlich angenommenen Standpunkte beider Seiten unterlaufen, indem die theatral maskierenden Stimmen sie ent-setzen. Aber zugleich lassen diese Stimmen auch besondere Standpunkte auf beiden Seiten entstehen: das »punctum« der Hörenden und den »Atopos« der Appellierenden. Die Stimmen appellieren: »Ich bin da, wenn ich auch unsichtbar bin.« Dieses »da« befindet sich im Atopos, der weder bestimmbar noch qualifizierbar ist, der aber dennoch existiert. Am Atopos werden die Hörenden zusammengerufen, indem die Stimmen sie immer weiter fragen lassen: »Wo bist du?« Nur solange man sich diesem prozessualen, sich immer der Setzung entziehenden Zwischenraum der Stimmen überlässt, vernimmt man den Entstehungsort der Stimmen – den Atopos.

58 Kolesch, 2003, S. 275.

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3-6. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTE 3: M ASCHINE DER R EVOLUTION Die topologische Stimmgeste der »Maschine der Revolutionäre« basiert auf der grundlegenden Stimmgeste der Sprechmaschine. Denn der Regisseur Robert Wilson lässt die Schauspieler den Theatertext nicht interpretieren, sondern er souffliert den Text mitsamt einer präzise inszenierten Sprechweise als Fremdkörper in die Körper der Schauspieler und übt so beinahe einen Zwang aus. Die Akteurinnen und Akteure bringen dadurch Eigenschaften einer Maschine zu Gehör. Erstens sprechen sie ihre Worte ohne die geringste Psychologisierung, sodass die Hörenden in keiner Weise mehr nachvollziehen können, was die Figuren, die Akteurinnen oder der Regisseur nun genau »meinen«. Zweitens betonen sie die Körperlichkeit ihrer Stimmen, indem sie ihre Körper als bloße Sprechmaschinen fungieren lassen. Dabei verkörpern vor allem drei Akteurinnen die topologische Stimmgeste der »Maschine der Revolution«, wenn sie nicht nur die Worte »Ophelias« und »Hamlets«, sondern auch Passagen der historischen Revolutionäre Marx, Lenin, Mao und Franz Fanon wiederholen. Sie zerstückeln die Worte in die einzelnen Konsonanten und Vokale und bringen dabei die Körperlichkeit ihrer Stimmen intensiv zu Gehör. Mithin repräsentieren die Maschinenstimmen nicht einfach die Worte der historischen Revolutionäre, sondern sie transportieren die Hörenden zu einem anderen Standpunkt als denen der historischen Personen: »Revolution« kann hier nicht als konkret politisches, in die Geschichte eingegangenes oder in Zukunft eingehendes Ereignis verstanden werden, sondern eher im etymologischen Sinn als ein »Zurück-Wälzen« in den Ursprung. Nach Kristeva führt die Revolution der poetischen Sprache die Lesenden an den Ursprung bzw. den Geburtsort des Sprachsubjekts zurück, an dem das Sinnliche bzw. das Körperliche das Symbolische empfängt und in einer dynamischen Bewegung der jeweilige Sinn gestiftet wird. Zwar passt Kristevas Metapher des Ursprungs als Gebärmutter nicht zu den Figuren in Die Hamletmaschine, die gerade nicht ihre Produktivität, sondern die Vernichtung der Welt proklamieren. Aber Müllers Theatertext Die Hamletmaschine und Wilsons Inszenierung negieren nicht bloß diese Produktivität, indem sie immer wieder ein Nicht proklamieren. Sie stören das Hervorbringen einer gemeinsamen Illusion auch dadurch, dass sie ein Zuviel auf

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die Bühne bringen. Die Figuren betreiben ständige Maskeraden und Veränderungen ihrer Standpunkte, was letztlich unabschließbare Wanderungen durch Nicht-Orte im Theaterraum anstößt. Kristeva meint eine »Revolution« eben in diesem Sinn: weder Konservierung noch Revision einer politischen Macht, sondern Produktion eines Polylogs. Zwar passt die Metapher der chora als Mutterschoß hier nicht mehr ganz, aber es ist unvermeidlich, dass die Aufführung von Die Hamletmaschine die Hörenden unendlich Diverses imaginieren und so einen Polylog entstehen lässt. Darum können ihre Standpunkte nicht lokalisiert, sondern nur zersprengt werden. Die »Maschine der Revolution« erzeugt indessen an dem aufgelösten Ort die zwei kontrapunktisch aufeinander wirkenden Orte der Appellierenden sowie der Zuhörenden, wenn die Stimmgeste die letzte Proklamation der »Ophelia« übernimmt. In der letzten Szene verwandeln sich alle weiblichen Schauspielerinnen in jene gewalttätige »Maschine der Revolution«, die das Subjekt der Sätze zerteilt, wiederholt und so den Sinn des Wortes »ich« umwälzt: Die Echofiguren stoßen das Subjekt »Ich« in ihren Sätzen so schrill wie einen Todesschrei hervor, sodass das Wort »ich« nicht mehr als solches klingt und ihre Schreie ohne Bedeutungen den ganzen Hörraum und die Hörenden durchdringen. Die Proklamation »Ophelias« fordert die Hörenden dazu auf, darüber nachzudenken, wo eigentlich jenes »hier« sein soll, der Ort, an dem »Ophelia« spricht. Während »Hamlet« seinen eigenen Ort stets negiert, spricht »Ophelia« in dieser Szene zwar ohne jede Negation über ihren Standpunkt: »hier«. Die schreienden Stimmen aber legen keinerlei festen Standpunkt dar. Gewalttätig ent-setzen, befreien, suspendieren sie vielmehr jeden zu positionierenden Ort. Suspendiert wird in dieser Szene aber weder der Prozess der Produktion von Orten noch die Imagination, die unaufhörlich fortschreitet, sondern die Bestimmung einer Imagination und eines Standpunktes. Suspendiert wird eine solche Bestimmung durch die schreienden Stimmen nicht in dem Sinn, dass sie aufhört, sondern gerade dadurch, dass sie im Widerspruch und in der Differenz unendlich wiederholt wird. Die Stimmen, die wurzellose Echos ohne ihnen eigene Originale schreien, wiederholen die Worte zerstückelnd und immer anders. Daher darf das Ent-Setzen durch die Echostimmen nicht als Stillstand verstanden werden, sondern als zentrifugale Befreiung. Das ent-setzende Herausschreien des »Ich« erzeugt also zentrifugale Nicht-Orte, hinterlässt zugleich aber auch das zentripetale stimmliche »punctum«, einen Schmerz in den Ohren der Hörenden, wenngleich die

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Stimmen sich nicht identifizieren oder verstehen lassen. Das stimmliche »punctum«, das in die Körper der Zuhörenden einsticht und schmerzhaft in ihnen zurückbleibt, lässt den Atopos bzw. den nicht identifizierbaren Ort der Appellierenden vernehmen. Mit der ent-setzenden Gewalt wälzt die topologische Stimmgeste der »Maschine der Revolution« die Zuhörenden also an das »punctum« zurück, und das »punctum« bringt sie zum »Atopos« der Appellierenden, der zwar nicht lokalisierbar, aber doch da ist.

Zweiter Teil: (An-)reisen. Erzeugungsprozesse theatraler Versammlungsorte

1. Konstruktion der Orte in Zusammenhang mit Geschichte und Zeit am Beispiel von Jan Lauwers’ Trilogie Sad Face/Happy Face

Im ersten Teil habe ich dargelegt, wie sozial, politisch und geographisch gegebene Orte im Theaterraum (re-)präsentiert werden können. Manche realen Orte waren namentlich genannt wie Hiroshima und Hapcheon in Hiroshima-Hapcheon oder nur angedeutet wie Nagasaki und Pripyat in Autodafé, Deutschland in Wolken. Heim und Osteuropa in Die Hamletmaschine. Die benannten oder angedeuteten Orte sind in den besprochenen Aufführungen allerdings nicht nur politisch (im engeren Sinn) und geographisch bestimmt, sondern durch individuelle Zugänge zu ihnen ausgestellt: Die jeweiligen Orte gelten etwa als »Heimat« bei Matsuda und Jelinek oder als der Standpunkt des »Ich« bei Heiner Müller. Die bereits gegebenen Orte werden im Theaterraum in Frage gestellt und aufgelöst. Diese Auflösungsprozesse wurden in den Stimminszenierungen in verschiedener Weise deutlich. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit werden dagegen nicht real existierende Orte behandelt, die durch die Stimminszenierungen im Theater erst erzeugt werden. Die Theaterräume sind in diesen Fällen Versammlungsorte, an denen Menschen zusammen kommen und sich etwas ereignet. Bei solchen Orten geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines Ortes, wie sie bei schon existierenden Orten vielleicht entscheidend ist, sondern auch um den Zusammenhang der Orte mit der

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Zukunft und der Gegenwart, die die versammelten Menschen miteinander teilen und teilen werden. Als künstlerisches Modell zu diesem Thema scheint mir die Trilogie Sad Face/Happy Face: Die drei Geschichten über das Wesen des Menschen von der belgischen Theatergruppe Needcompany besonders geeignet. Die Gruppe wurde 1986 von dem bildenden Künstler Jan Lauwers gegründet. Wie bereits der Name andeutet, versuche die Gruppe eine gewünschte, gewollte oder begehrte (need) Gemeinschaft des Theaters zu erzeugen. Die Trilogie steht für den Versuch, einen besonderen Versammlungsort für diese Gemeinschaft zu erschaffen. Zugleich vermeidet die Gruppe allerdings, die versammelten Menschen zu vereinheitlichen und die Verschmelzung im Rahmen einer Gemeinschaft kritiklos zu glorifizieren. Der belgische Theaterwissenschaftler Erwin Jans nennt die Art von Gemeinschaft, auf die der Name von Needcompany hindeuten kann, »a broken community«.1 Auf der Bühne werden die Geschichten nicht aus einer, sondern mehreren Perspektiven erzählt. Sie werden immer wieder durch andere Stimmen und theatrale Zwischenfälle unterbrochen und schweifen ab. Aber nicht nur auf der Bühne, sondern auch zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum ereignen sich Unterbrechungen. Ähnlich wie Hans-Thies Lehmann, der die Spielart der Gruppe als »einen Abend bei Jan und seinen Freunden«2 beschrieb, erkennt Erwin Jans in der Trilogie zwar »considerable familiality and intimacy« an, aber er weist auch darauf hin, dass Lauwers’ Theater oszilliert zwischen »was (es erzählt)« und »wie (es erzählt)« und daher eine gewisse Entfremdung in seinem Spiel bewahrt. 3 Diese subtile Spielweise erläutert Lehmann mit dem Stichwort »détachement«.4 Lehmann betont, er sage »bei (nicht mit) Jan und seinen Freunden« und weise damit auf das subtile Verhältnis zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum hin. Beide existieren nicht bruchlos nebeneinander, sondern zwischen ihnen liegt immer eine gewisse Distanz, ein Riss. Laut Lehmann werden die Besucher des Theaters von Needcompany im folgenden Modell situiert:

1

Jans, 2007, S. 305.

2

Lehmann, 1999-1, S. 194.

3

Jans, 2007, S.

4

Lehmann, 2008, S.151f.

1. K ONSTRUKTION DER O RTE | 187

» [...] wir sehen einer Gesellschaft zu, aber die Tür ist nicht ganz geöffnet. Daher schaut man gleichsam wie in eine Party entfernter Bekannter hinein, nimmt aber nicht wirklich teil. Man könnte sagen: der Zuschauer verbringt einen Abend bei (nicht mit) Jan und seinen Freunden.«

5

Mit Hilfe dieser feinen Distanz und Verbindung schaffen Needcompany theatrale Versammlungsorte. Diese Orte nun werden vor allem in der Trilogie Sad Face/Happy Face: Drei Geschichten über das Wesen des Menschen hervorgehoben. Die Trilogie besteht aus drei Stücken, die alle mit fiktiven Ortsnamen betitelt sind: Isabellas Zimmer (2004), Der Lobstershop (2006) und Das Hirschhaus (2008). Die Orte werden erst auf der Bühne hervorgebracht, wo die Performer die jeweilige Geschichte des Orts erzählen. Auch der unterhaltsame Gesang spielt im Gegensatz zu den früheren Inszenierungen der Gruppe eine große Rolle. Die meisten Lieder werden von den Performern gemeinsam gesungen und auf Instrumenten begleitet, während dazu getanzt wird. Vor allem dieser gemeinsame Gesang auf der Bühne erzeugt eine theatrale bzw. (quasi-)rituelle Gemeinschaft: »Singing [...] harks back to a ritual dimension. It is a form of exchanging energy different from the spoken word, and as such it creates a different type of communication with the public. Singing is associated with festivity and celebration.«

6

In den gemeinsamen Gesängen der Trilogie finden sich nicht nur gemeinschaftliche Emotionen, sondern auch delikate Strategien für die »gebrochene Gemeinschaft« wieder. Durch die weitere Analyse möchte ich diese Strategien genauer hervorheben und erläutern. In der folgenden Analyse begreife ich Isabellas Zimmer, den Lobstershop und das Hirschhaus nicht als Räume, sondern als Orte, die mit wiedererkennbaren Namen benannt sind und an denen wir Theaterbesucher uns versammeln können. Ein solcher Ort hat nicht – wie die Orte im ersten Teil der vorliegenden Arbeit – eine zwingend gemeinsame Identität, sondern er ruft heterogene Menschen zusammen, ohne auf eine einheitliche Identität zu drängen. Jans konstatiert an dieser Stelle – mit dem Soziologen Manuel Castells – eine Spannung zwischen Deterritorialisierung und Territorialisie-

5

Lehmann, 1999-1, S.196.

6

Jans, 2007, S. 308.

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rung. Das Theater ist demnach ein Ort (oder kann es sein), an dem Verhandlungen über eine heterogene Identität stattfinden, die weder individuell noch kollektiv ist: »Over and against these collective identities stand the oftentimes transient and ephemeral individualistic identities characteristic of a network society, the so called ›shopping and surfing‹ identities. The sociologist Manuel Castells refers to a tension between ›the individual mobility, virtuality, and constant deterritorialization, and the entrenchment in collective certainties, authenticity, and territory‹. The theatre is (or could be) a place where negotiations over a different identity, neither individual nor 7

collective, could take place.«

Um das Theater als einen solchen Versammlungsort erscheinen zu lassen, der nicht stetig vorliegt, sondern immer der Deterritorialisierung ausgesetzt bleibt, ist es notwendig, dass das Publikum nicht nur die erzählte Vergangenheit des Ortes mitdenkt, sondern auch seine Gegenwart und Zukunft. Lauwers erklärt, dass die drei Stücke der Trilogie in jeweils unterschiedlicher Art und Weise Geschichtserzählungen thematisieren: 8 In Isabellas Zimmer erzählt eine Frau von ihrer Vergangenheit. Dabei kommuniziert sie mit verstorbenen Menschen aus einer erzählten früheren Zeit. In Der Lobstershop geht es um einen Versuch, mit Fremden aus einer globalen Zukunft zusammenzuleben. In Das Hirschhaus schließlich wird die Gegenwart einer Gemeinschaft thematisiert, deren Mitglieder immer wieder Konfrontationen ausgesetzt sind und nur schwer zusammenleben können. Bei der Trilogie geht es also um Orte des Zusammenlebens zeitlich und räumlich voneinander entfernter Menschen. Ich möchte in diesem Teil die Entstehungsprozesse der theatral hervorgerufenen Versammlungsorte, vor allem im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit eines jeden Stücks analysieren. Auf der Grundlage der unterschiedlichen Zeitformen der Stücke werde ich außerdem die Zeitlichkeit der Stimmen untersuchen, die im Theaterraum immer schon verklingend erzählen, schreien und singen.

7

Ebd., S. 311.

8

http://www.needcompany.org/en/sad-face-happy-face-a-trilogy

2. Isabellas Zimmer: Persönliche Geschichte. Vergangenheit

2-1. I SABELLAS Z IMMER

ALS

P ASSAGE

Im ersten Stück der Trilogie ist der Entstehungsprozess eines persönlichen, aber zugleich theatralen Erinnerungsortes mit dem Namen »Isabellas Zimmer« zu beobachten. Anhand von Isabella, einer 89jährigen erblindeten Frau, wird fast die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Wir als Zuschauer/Zuhörer sehen und hören ihre Erinnerungen auf der Bühne. Sie erzählt in und aus der Perspektive ihres Zimmers. Dieses Zimmer ist nun eine Bühne für ihre eigene Lebensgeschichte, die aber nicht allein ihre persönliche, sondern zugleich auch eine kollektive Geschichte ist und auch nicht als Monolog vorgetragen wird. Isabella als Erzählerin ist kein einheitliches Subjekt; auch Isabellas Körperteile wie etwa ihre erogenen Zonen treten als »der Erzähler« auf, die rechte und die linke Hirnhälfte kommentieren das Vorgetragene. Streckenweise wird die Geschichte im Gespräch mit toten oder geistig verwirrten Menschen fortgeführt, die in dem Zimmer umherstreifen. Zwischen den Verstorbenen und den Lebenden wird die Geschichte nicht nur erzählt, sondern auch gespielt. Andere auf der Bühne sehen und hören die gespielte Vergangenheit, gleichzeitig bleibt aber stets deutlich, dass die Toten tot sind und die Vergangenheit vergangen ist. So hört Isabella die Stimmen der Verstorbenen und unterhält sich mit ihnen, während sich jedoch die Lebenden darüber wundern, mit wem Isabella spricht. Diese toten und lebenden Anderen und die Anderen in ihrem eigenen Körper unterbrechen immer wieder Isabellas Lebensgeschichte. Gerade dadurch indessen sieht man die Zusammenhänge zwischen der persönli-

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chen Geschichte und historischen Ereignissen wie dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dem Pariser Surrealismus, der ersten bemannten Reise zum Mond oder dem Ersten Kongokrieg. Die Erzählung verwandelt das Zimmer bzw. die Bühne in verschiedene Orte: eine europäische Insel, Paris, Hiroshima und »Afrika«; dennoch bleibt die Bühnenausstattung vom Anfang bis zum Ende der Aufführung unverändert. »Isabellas Zimmer«, in dem die Geschichte erzählt und gespielt wird, ist ein Erinnerungsort, an dem jemand etwas erzählt und der sich dadurch verwandelt. Der Ort wird zwar »Isabellas Zimmer« genannt und ist im Stück in Paris lokalisiert. Aber diese Lokalisierung wirkt im theatralen Spiel wie eine Allegorie, die nicht als Symbol eine gegebene Bedeutung abrundet, sondern deren Bedeutung sich in der jeweiligen Konstellation »ruiniert« bzw. verwandelt.1 Auf der Bühne von »Isabellas Zimmer« ist wie in einem ethnologischen Museum eine Sammlung exotischer Antiquitäten ausgestellt, die Isabella von ihrem Vater Arthur geerbt hat. Arthur hatte Isabella gegenüber immer behauptet, dass nicht er, sondern »der Wüsten-Prinz« ihr Vater sei, der »auf einer Expedition verschwunden« ist. Deshalb nannte sich Isabella selbst »die Wüsten-Prinzessin« und »beschloss, das Geheimnis [ihr]es Vaters eines Tages aufzudecken«.2 Sie träumt mit Begeisterung von Afrika und wird »Anthropologin mit dem Spezialgebiet Afrika« (26). Isabellas Zimmer liegt zwar geographisch in Paris, aber als Bühne verwandelt es sich in verschiedene Orte; als Isabellas Erzählort wird das Zimmer zu einer Insel, zu Isabellas Geburtsort, oder zu »Afrika«, ihrer erträumten Heimat. Isabellas Lebensgeschichte überlagert die reale Lebensgeschichte von Regisseur Jan Lauwers’ verstorbenem Vater Felix Lauwers, dem er das Stück gewidmet hat. Die Sammlung, die auf der Bühne Isabellas Zimmer charakterisiert, hat tatsächlich der Regisseur von seinem Vater geerbt, und auch Isabellas Lebenszeit entspricht der von Felix Lauwers, der fast das gesamte 20. Jahrhundert erlebt hat und 2002 gestorben ist. Die exotische Sammlung spiegelt die Geschichte der kolonialen Ausbeutung Afrikas wider, an der auch Belgien beteiligt war. Walter Benjamin macht in »Über

1

Zu diesen Begriffen von »Symbol« und »Allegorie« Benjamin, GS. 1974, Bd.

2

Lauwers, 2008-1, S. 19. Lauwers’ Texte aus der Trilogie Sad Face/ Happy Face

1-1. von 2008 werden im Folgenden durch Angabe der Seitenzahl im Text zitiert.

2. I SABELLAS Z IMMER | 191

den Begriff der Geschichte« auf die Beziehung zwischen dem Kulturerbe und dessen Ausbeutung durch die Sieger aufmerksam: »Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab.«

3

Isabella übernimmt von ihrem Vater nicht nur ein kulturelles Erbe, das sich von der »Barbarei« nicht freimachen kann, sondern auch eine andere »barbarische«, trügerische Geschichte: Arthur erzählt seiner Tochter Isabella, dass ihr Vater der verschollene Wüstenprinz sei. Aber diese Geschichte ist eine »Lüge«. In Wahrheit vergewaltigte Arthur eine Frau, Anna; er war in Anna verliebt, aber sie hatte seine Liebe nicht erwidert – und Isabella ist die Frucht dieser Vergewaltigung. Anna, also Isabellas Mutter, war während der Tat ohnmächtig, weil Arthur sie hinterrücks niedergeschlagen hatte. Er nutzte ihre Ohnmacht aus und log ihr vor, dass ein angeblicher Anderer sie angegriffen habe, dass er selbst zufällig vorbeigekommen sei und ihr geholfen habe. Anna glaubte seine Lüge. Er zog mit Anna auf eine Insel, wo er als Leuchtturmwächter arbeitete. Isabella wuchs dort als vermeintliches Adoptivkind von Arthur und Anna auf, denn Anna behauptete, dass sie nicht ihre wahre Mutter sei – Auch das eine »Lüge«. Trotz der Anhäufung von »Lügen« sagt Anna: »Das Einzige, was mich die Vergangenheit vergessen ließ, waren die Partys mit Arthur« (20). In der Anfangsszene hört man den fröhlichen Gesang Arthurs 4 und sieht beide miteinander tanzen und lachen. Isabella hat von ihren »Eltern« gelernt,

3

Benjamin, 1974, Bd. 1-2., S. 696f.

4

Auf der Bühne wird das Lied von Hans Petter Dahl gesungen, der mit Maartan Sehgers die Lieder für die Trilogie komponierte und in dem Stück Isabellas Zimmer Alexander spielt, einen von Isabellas Geliebten.

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»Klavier zu spielen, Gedichte zu schreiben, und vor allem, viel zu lachen« (19). Doch der Frohsinn beruht auf einer Vielzahl von Lügen und Ereignissen, die »barbarisch« sind. Benjamin stellt der Barbarei den Blick des »historischen Materialismus« gegenüber, der sich von der barbarischen Vergangenheit distanziere. Auch Isabella hält Distanz, allerdings als erblindete Frau und auf eine andere Weise als Benjamin es beschreibt: Sie distanziert sich durch das Hören, das Sprechen und das Singen. Die bereits erwähnte Ausstattung, nämlich allerlei »afrikanische Objekte«, ist auf der Bühne nicht bloß stumm ausgestellt, sondern die Inszenierung verleiht den Objekten Stimmen. Beispielsweise tritt in der Szene »1928 Isabellas Zimmer«, nach Annas Selbstmord und Arthurs Verschwinden, Isabella zum ersten Mal in das Zimmer. Bevor Arthur seine Tochter verließ, gab er ihr »das Foto eines bärtigen Mannes, mit einer Adresse in Paris auf der Rückseite, und einen Brief, den [sie] erst nach seinem Tod lesen durfte« (23). Isabella, die Arthurs Geheimnis noch nicht kennt, glaubt, dass »die Adresse auf dem Foto, das Arthur ihr gegeben hat, sie schließlich nach Afrika und zu ihrem richtigen Vater, dem Wüsten-Prinz, führen wird« (26). In dieser Szene erklären die Performer nacheinander die einzelnen Objekte. Die belgische Theaterwissenschaftlerin Christel Stalpaert weist darauf hin, dass diese Erklärung die große Reichweite der vergessenen Stimmen und des unsichtbaren Gedächtnisses verkörpert. 5 Jene Stimmen erzählen die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht linear, sondern »polyphonisch«: »Their random arrangement means the objects and sculptures tell both their own story and that of their ›collective‹ fate. Their voices call out to the spectator in a polyphonic chorus.«6 »Polyphonisch« heißt hier, nicht bloß die Geschichte eines einzelnen Menschen, sondern auch ihre »kollektive« Dimension hören zu lassen. Walter Benjamin hat in seinem unvollendeten Passagen-Projekt versucht, im Rückblick auf das vergangene Jahrhundert persönliches Erlebnis und kollektive Erfahrung zu verbinden und eben dadurch Geschichte zu schreiben. Benjamin war von den Pariser Passagen, die ein neues Verhalten der Massen hervorbrachten, die aber zu Benjamins Zeit schon aus der Mode gekommen waren, zur Konzeption dieses Projektes inspiriert worden. Allerdings schreibt er in seinem Passagen-Projekt weder nur über ein Ge-

5

Stalpaert, 2007, S. 320.

6

Ebd.

2. I SABELLAS Z IMMER | 193

sellschaftsphänomen, noch lediglich über die historische Architektur in einer bestimmten Stadt, sondern er zeigt vielmehr eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung daran auf: Als halbträumender Flaneur sammelt er in den Passagen Fragmente der Vergangenheit, aber aus der Konstellation dieser Fragmente erkennt er mit wachen Augen Geschichte. Geschichte muss nach Benjamin auf der Schwelle zwischen dem kollektiven Traum des 19. Jahrhunderts und dem individuellen Bewusstsein seiner Gegenwart geschrieben werden, und diese Schwelle nennt er »Passage«. Der Germanist Winfried Menninghaus interpretiert Benjamins Projekt daher als »eine vielfach variierte ›Schwellenkunde‹«7, und findet eben in dem Passagen-Werk das Hervortreten dieses Merkmals. »Die Arkana der Benjaminschen Schwellenkunde sind die Passagen selbst, der ›Passagenmythos‹ (V 516f., 995). Schon der französische Terminus für die Riten des Schwellenübergangs, ›rites de passage‹ (V 617), markiert die Verwandtschaft von Passage und Schwelle. Die Passage ist eine Schwelle, die als Übergangsbereich zwischen der Straße einerseits, den einzelnen Läden andererseits nicht durch theoretische Ideologie, sondern in ihrer ›unmittelbaren Präsenz‹ eine ›Phantasmagorie‹ der Ware entfaltet (V 1256). Und an dieser Passage als Schwelle nimmt Benjamin selbst eine doppelte [sic] rite de passage vor: er will die in ihr sinnlich gegenwärtigen ›Traumbilder‹ an die ›Schwelle des Erwachens‹ führen, indem er einen rite de passage durch herausgebrochene Zitate aus der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts 8

konstruiert.«

Ausdrücklich entnimmt Benjamin das Wort »Passage« nicht nur der Pariser Passage, sondern auch den »rites de passage«, Riten des Übergangs: »Rite de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist. (Aber damit auch das Erwachen.)«

7

Menninghaus, 1986, S. 51.

8

Menninghaus, 1986, S. 49.

9

Benjamin, 1982, Bd. 5-1, S. 617.

9

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Mit Blick auf die Pariser Ladenpassage wendet Benjamin den räumlichen Begriff der »Passage« zeitlich an. Sein Passagen-Werk selbst bildet einen Zeit-Raum der Passagen: Er beschreibt nicht nur Pariser Passagen, sondern bewirkt vor allem eine »Passage« zwischen der kollektiv geträumten Vergangenheit und dem gegenwärtigen, individuellen Blick des Lesers auf die Vergangenheit. Dabei unterscheidet er die Schwelle deutlich von der Grenze. Er nennt die Passage »eine Zone des Übergangs«.10 »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremoniellen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.«

11

Auch die theatrale »Reise« bzw. die Verwandlungen des theatralen Raums, finden nicht nur in sprachlichen bzw. symbolischen Ortswechseln statt, geschweige denn nur in physischen Ortswechseln, sondern durch (rituelle) Übergänge. Dadurch nehmen die Beobachtenden die Umgebung anders wahr, nämlich mit dem Auge und dem Ohr des Fremden, solange man den Ort nicht als einen geographisch gegebenen Punkt versteht, sondern als einen Standpunkt in einer vorläufigen Konstellation. Es geht um jene Prozesse, in denen ein Standpunkt erst entsteht. Im Theaterstück Isabellas Zimmer ist der Entstehungsprozess von Isabellas Standpunkt in einer Konstellation zur kollektiven Vergangenheit zu betrachten. Die Aufführung von (und in) Isabellas Zimmer stellt etwas wie die verzeitlichte Passage Benjamins erneut als eine räumliche Passage dar, in der Figuren aus der Vergangenheit vor die in der Gegenwart Lebenden treten und mit ihnen kommunizieren. Der Erinnerungsort Isabellas Zimmer erscheint als ein Treffpunkt der Toten und der Lebenden, als eine Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die dargestellte Vergangenheit von Isabellas Leben setzt sich aus »Lügen« und aus dem kollektiven (Selbst-)Betrug des 20. Jahrhunderts zusammen. Isabella dagegen hört mit »erwachenden« Ohren die lügenreiche Geschichte. Ihr Zimmer, in dem »Passanten«, Menschen und Dinge, sich

10 Benjamin, 1982, Bd. 5-2, S. 1025. 11 Benjamin, 1982, Bd. 5-1, S. 618.

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treffen und in dem die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts im Gespräch zwischen Isabella und den vergangenen Stimmen der Toten und der sozial Vergessenen erzählt wird, ist als eine Passage im Benjaminschen Sinn zu verstehen. Auch bei Benjamin sehen die »erwachenden Augen« des »historischen Materialismus« die Passage als Zwischenzone zwischen dem kollektiven Traum und dem Bewusstsein des wachen Individuums. Isabella übernimmt jene optische Geste des »historischen Materialismus« jedoch in einer anderen Weise: Sie erwacht aus dem Traum der Vergangenheit, weil sie in der Vielzahl der Stimmen einen betrügerischen Kitsch erkennen kann. Im Folgenden wird zunächst die Ästhetik des Kitsches behandelt, der sowohl im Passagen-Werk Benjamins als auch in der Aufführung von Isabellas Zimmer bedeutsam ist. Kitsch bezeichnet ein bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit. Er macht in »Isabellas Zimmer« des Treffpunkt mit den Anderen aus. Es folgt ein Moment des Erwachens aus dem Kitsch des vergangenen Jahrhunderts, der die Positionierung der Erinnernden neu bestimmt.

2-2. D RAMATURGIE

DES

K ITSCHES

»Wir konstruieren hier einen Wecker, der den Kitsch des vorigen Jahrhunderts zur 12

›Versammlung[‹] aufstört.«

Benjamin versucht im Passagen-Werk, »den Kitsch des vorigen Jahrhunderts« aufzuwecken. In seinem kurzen Essay »Traumkitsch« erläutert er seine Definition des Begriffs Kitsch in Bezug auf den Traum der Vergangenheit näher. Will man die Geschichte eines Traums bzw. der Vergangenheit schreiben, so darf man den Traum nicht romantisch betrachten wie Heinrich von Ofterdingen, sondern materialistisch. Die Vergangenheit und der Traum sind nicht in Seelen, sondern in Dingen zu suchen. Im Traum wiederum sind die Dinge als Kitsch zu sehen. »Die Seite, die das Ding dem

12 Benjamin, GS. 1982, Bd. 5-1, S. 271.

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Traume zukehrt, ist der Kitsch«,13 der »von Gewöhnung abgescheuert und mit billigen Sinnsprüchen garniert ist«.14 »Kitsch« ist für Benjamin ein Gegenbegriff zur »Aura«, die traditionelle Kunstwerke auszeichnet. »Aura« bestimmt Benjamin als »[e]in sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.15 In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschreibt er den Verfall der Aura. Dagegen kommt im »Kitsch« das Ding auf den Menschen zu: »Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt. Nun aber rückt im Kitsch die Dingwelt auf den Menschen zu; sie ergibt sich seinem tastenden Griff und bildet schließlich in seinem Innern ihre Figuren.«

16

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart definiert den Kitsch allgemein als »das schlechte Gewissen der Kunst« 17 und dadurch als »Gegenbegriff zu Kunst«18 und Hochkultur. Es ist allerdings, wie Braungart betont, schwer zu beurteilen, welche Kunst schlecht und welche gut ist. Der Begriff »Kitsch« ändert sich dem Wandel des gesellschaftlichen Wertungsmaßstabs entsprechend, worauf auch Ute Dettmar und Thomas Küpper, die Herausgeber des Sammelbands Kitsch, hinweisen. Bereits der Begriff des Kitsches als solcher ist relativ jung: »Dieser Begriff kommt erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf, als es durch die neuen technisch-industriellen Voraussetzungen möglich wird, Kulturwaren massenhaft und billig zu produzieren«,19 was gerade Benjamin in seiner Zeit beobachten und analysieren konnte. Der Kitschbegriff wird nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ernst genommen und heute von »Kitsch-Künstlern« wie Jeff Koons taktisch genutzt, um traditionelle Begriffe von Kunst in Frage zu stellen. Gleichzeitig hängt Kitsch eng mit den gesellschaftlichen Wertesystemen zusammen. Benjamin war

13 Benjamin, GS. 1989, Bd. 2, S.620. 14 Ebd. 15 Benjamin, GS. 1974, Bd. 1-2, S. 440. 16 Benjamin, GS. 1989, Bd. 2, S.621. 17 Braungart, 2002, S. 2. 18 Ebd. 19 Dettmar/Küpper, 2007, S. 13.

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eine Art Pionier, der angesichts eines gesellschaftlichen, sozialen und politischen Wandels versuchte, mit der ästhetische Taktik des Kitsches überkommene Wertesysteme umzugestalten. Historisch gesehen wurden vor allem Weiblichkeit, Gefühl und Natur/Körper als Kitsch kategorisiert.20 Aber mit einem anderen Wertmaßstab ändert sich auch die Bedeutung dieses Begriffs. Isabella nun betrachtet die ererbte Sammlung exotischer Objekte mit ihrem eigenen Wertmaßstab. In der Szene »1928 Isabellas Zimmer« treten einzelne Performer, die Personen aus Isabellas Vergangenheit sowie personifizierte Teile ihres Gehirns spielen, nacheinander an den Rand der Bühne, präsentieren die Objekte und referieren deren Geschichte und Herkunft, verknüpft mit Kommentaren von Isabella selbst. Obwohl Isabella sich nach »Afrika« sehnt, empfängt sie die Objekte nicht ohne Skepsis: Die von ihr aufrichtig geschätzte afrikanische Kunst legt die Unterdrückung der Kolonialzeit offen, wie ein Objekt im Besonderen uns spüren lässt: »Ein Paar rostige Sklavenfesseln aus Schmiedeeisen. Von der Sorte, die man nur einmal schließen konnte. Sie wurden in dem Wrack eines Sklavenschiffes gefunden, das auf dem Weg nach Amerika gewesen war. Wenn ein Sklave auf der Überfahrt starb, wurden seine Hände abgehackt, um ihm die Fesseln abzunehmen, da die Fesseln aller Sklaven an einer einzigen Kette befestigt waren und da die Leiche zu stark zu riechen anfangen würde. Wussten Sie, dass Sklaven kastriert wurden?« (29)

Isabellas Kommentare und Erklärungen selbst scheinen zwar sachlich und kaum emotional, aber in der akustischen Inszenierung sind Zorn und Zweifel zu vernehmen. Während der Szene hört man klassische Orchestermusik: die ersten Sätze der Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98 von Johannes Brahms. Die Musik ertönt zuerst leise, dann aber werden die Töne in der Inszenierung elektronisch so verzerrt, dass man fast nur noch das Hauptthema erkennen kann. Die anderen Themen sind zumeist von Geräuschen überlagert. Die zu Anfang noch neutralen, sogar freundlichen Stimmen der Performer werden zum bedrohlichen Geschrei, das sich mit der verzerrten Brahms-Symphonie zum Lärm steigert. Das schöne, exotische Afrika, der Ort von Isabellas Sehnsucht und ihre trügerische Heimat, enthüllt in dem bedrohlichen Getöse die scheinbar harmlosen Phantasien der Kolonial-

20 Ebd., S. 11.

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mächte. Als unterdrückt erweisen sich jedoch nicht nur männliche Sklaven; viele der Antiquitäten sind erotische Objekte, die zugunsten der einheimischen Männer die weibliche Lust und sexuelle Freiheit unterdrücken. Isabella erkennt, dass Geschichte stets aus männlicher Sicht geschrieben wurde: »Ein extrem schwerer Mongo-Fußgelenkreif aus Bronze. Wieder für Frauen. Damit sie nicht zu schnell davonlaufen konnten. Es fiel Isabella auf, dass Geschichte noch nie aus weiblicher Sicht geschrieben worden war. (29)« Isabella behandelt die Objekte mithin nicht als auratische Kulturgüter, die – wie es Benjamin formuliert – in der Ferne erscheinen und im Triumphzug mitgeführt wurden. Sie lässt die Dinge an sich heran, indem sie sie im Alltag verwendet. »ANNA Sie verwendete das Trankopfergefäß als Salzfässchen, und der schwere Walpenis stand hinter der Tür, für den Fall, dass Einbrecher kämen. Sie hängte ihren Schlüsselring an den Nagel eines afrikanischen Nagelfetischs. Er befand sich gleich neben einem der »Man-weiß-ja-nie«-Kruzifixe. Isabella war schließlich eine sehr pragmatische Frau, derer Meinung nach Schönheit nur dann wirklich von Bedeutung war, wenn die auch nützlich war.« (30)

Isabella aber ist blind; sie berührt die Dinge und geht taktil mit ihnen um. Nach Christel Stalpaert schützt sie die Blindheit vor der von Freud analysierten Tyrannei des Blicks: »His Theory of castration anxiety, for example, is heavily based on the visual. The female sex is linked to the dread of there being nothing to see. […] The paradigm of the gaze is experienced as limiting and as imposing boundaries. By eluding this paradigm, Isabella unfolds the power of tactile apprehension. She exchanges the detached, appropriating gaze for the nearness of tactile perception.«

21

Isabella negiert so den Freudianischen Okular- und Phallozentrismus. Aus einer solchen »weiblichen« und insofern angeblich »kitschigen« Sicht wird die maskuline Geschichte der Sammlung in Frage gestellt; nun erscheint

21 Stalpeart, 2007, S. 323. Die Idee eines engen Zusammenhangs zwischen Blindheit und Sexualität in Isabellas Zimmer verdanke ich der Dissertationsarbeit von Astrid Hackel: Vgl. Hackel, 2017.

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vielmehr das Verhalten, ohne Rücksicht auf andere Sichtweisen derartige Objekte zu sammeln, als kitschig. Isabella verneint allerdings die »kitschige« Vergangenheit nicht einfach, sondern sie lässt, indem sie zuhört und berührt, den Traumkitsch in ihre Nähe kommen. Auch Benjamin behauptet die Wichtigkeit der taktilen Rezeption. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit bemüht er sich, in der optischen Rezeption – etwa von Architekturen – dem Taktile nachzuspüren, und weist deutlich auf, dass die »bloß[e] Optik« bzw. die Optik »der Kontemplation« außer Kraft treten wird: »Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich, nach Anleitung der taktilen Rezeption durch Gewöhnung bewältigt.«

22

Die taktile Rezeption verbindet sich mit dem Kitsch, in dem Benjamin den Weg zur Erlösung findet. Nach Ute Dettmar und Thomas Küpper wird im Traumkitsch »der Mensch von einer ausgestorbenen Dingwelt umfangen, während Kunst Distanz voraussetzt«. 23 Benjamin versucht, sich auf die Schwelle zwischen zwei Wertungssystemen – Kitsch und Kunst – zu begeben, indem er den taktilen Traumkitsch in seine Nähe kommen lässt, ohne sich ihm hinzugeben. Taktilität findet sich immer auch in der akustischen Sphäre. In der zuvor behandelten Szene sind Musik und Stimmen wahrzunehmen, deren Akustik die Hörenden umfangen und Isabellas »Zimmer« zu einem Hörraum werden lassen. Allerdings taucht man nicht einfach träumend in die Akustik ein, sondern sie erweckt die Hörenden zugleich aus ihren Träumen. Denn die am Anfang noch harmlose Akustik verwandelt sich allmählich in ein bedrohliches Getöse; sie kritisiert so gerade das gewohnte Versinken in die bürgerliche Hochkultur und entlarvt es als wenig hochwertigen Traumkitsch entlarvt. An dieser Stelle müssen wir genauer auf das Paradox des Kitsches eingehen. Kitsch bezeichnet keinen bestimmten Gegenstand, sondern ist ein ästhetischer Abwertungsbegriff. Während als »Kitsch« sentimental aufge-

22 Benjamin, GS. 1974, Bd. 1-2, S. 466. 23 Dettmar/Küpper, 2007, S. 159.

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ladene, altmodische, triviale oder banale Objekte wie auch der kritiklose Geschmack an solchen Objekten bezeichnet werden, markiert jemand, der etwas Kitsch nennt, vor allem seine dezidierte Distanz zu dieser Schwärmerei. Das Verhalten, einen Gegenstand in die eigene Nähe kommen zu lassen, verwischt die Aura des unantastbaren Kunstwerks. Aber indem der Beobachter den kitschigen Gegenstand als Kitsch bezeichnet, entkommt er gerade der kitschigen Schwärmerei. Die »Distanz«, die man zu den Objekten einnimmt, wenn man sie Kitsch nennt, darf nicht mit der »Ferne« der Aura verwechselt werden. Die »Distanz« des Kitsch-Nenners ruft nicht die auratische Ferne zurück, sondern spricht ein harsches Urteil über den Gegenstand. Isabella liebt zwar ihre Erbstücke, träumt von Afrika und erforscht die Objekte enthusiastisch, aber sie preist nicht ihre Aura und ist sich des Kitschigen in den Objekten bewusst. Sie findet Schönheit nicht in der einmaligen Aura des Originals, sondern gerade in der Fälschung: »Ein bronzenes Ife-Triptychon. Es war eindeutig eine Fälschung. Trotzdem hing Isabella sehr an diesen drei Kriegern. Sie nannte sie die drei falschen Grazien.« (28) Eine Haltung, die in der Vergangenheit Kitsch sieht, zeigt sich nicht nur gegenüber den geerbten Objekten, sondern auch gegenüber den erlebten Ereignissen. Auch die Beerdigung von Anna, die Selbstmord begangen hat, ist als Kitsch inszeniert. Die Leiche Annas, gespielt von Annecke Bonnema, wird von den anderen Performern getragen; währenddessen singt die Tote für sich allein durch ein Mikrophon ein Lied. Der Titel lautet Song for Anna. Im Liedtext fragt und antwortet sie selbst: »Why did you cry Anna? I don’t know mama«. Auf alle Fragen kann sie nur antworten: Ich weiß es nicht. Sie schreit mit kindisch einfachen Worten ihre Ahnungslosigkeit heraus. Annecke Bonnema singt das Lied so einfühlsam, dass das Publikum ihr heftiges Weinen für echt halten kann. Ihre Miene und ihre Stimme sind jämmerlich verzerrt, wenn auch der Text noch zu verstehen ist. Doch der Gefühlsausbruch ist übertrieben; auch der Temperaturunterschied zwischen dem bisherigen gelassenen Gesprächston und dem rührseligen Lied ist markant. Der allzu emotionale Gesang brachte mich als Zuhörerin in einer Theateraufführung – und nicht etwa bei einem Rockkonzert – in Verlegenheit, insofern ich nicht in dem dargestellten Gefühl versinken konnte. Kitsch, so sollte man betonen, ist weniger an den elitären Kriterien Theodor

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Adornos festzumachen, der gar noch Jazz als Kitsch verurteilt hat;24 vielmehr besteht Kitsch in der Plötzlichkeit eines Emotionsüberschusses. Jürgen Ollesch weist in seiner Betrachtung über Kitsch und Musik darauf hin, dass es in der Gegenwart fast unmöglich ist, Kitsch in der Musik zu bestimmen, weil durch die Diversifikation der Musikkultur und durch neue Technologien wie die CD oder den Computer ein allgemeingültiger Begriff von Musik-Kunst verloren gegangen ist. 25 In Isabellas Zimmer ist der Kitsch also nicht so sehr musikalisch bestimmt, sondern er zeigt sich im Schauspiel. Die hier eingesetzten Strategien sind nicht so sehr musikwissenschaftlich zu erschließen als theaterwissenschaftlich. Die Frage, was Kitsch ist, lässt sich überhaupt nur im Zusammenhang mit sozialen Kontexten und individuellen Positionierungen beantworten. Es gibt hierzu keine feste Definition, die zu jeder Zeit und in jedem Raum anwendbar wäre. Das Kriterium in der oben beschriebenen Szene ist die Gelassenheit des Schauspiels von Isabella, die den Gesang hört: Die Schauspielerin Viviane De Muynck, die Isabella spielt, beobachtet den Beerdigungszug stumm und reglos, ohne Gefühle zu zeigen. Da es unmöglich ist, dass eine Leiche bei ihrer eigenen Beerdigung ein Lied für sich singt, muss es sich um ein Lied handeln, das allein in Isabellas Imagination gesungen wird. In ihrer Imagination also lässt sie in dieser Form die Emotion der Trauer explodieren. Beim Hören des Trauerliedes jedoch taucht sie nicht in die Emotion ein, die der Gesang erregen könnte. Isabella ruft also eine übermäßige Emotion und die Distanz dazu im selben Zug hervor. Dadurch öffnet sich eine Schwelle, an der ihr die Vergangenheit entgegenkommt, sie aber nicht in ihr versinkt. Wenn man die Trauerszene um Anna etwas genauer betrachtet, so ist zu erkennen, dass die Tränen unter Annas Augen, die feucht funkeln, aus Kunststoff bestehen. Auch auf der Brust von Isabellas schwarzem T-Shirt sehen wir ein großes Herz aus Kunststoff, das wie Annas Tränen (und ähnlich wie Jeff Koons’ umstrittene Kunstwerke) silbern funkelt. Darin deutet sich an, dass die übermäßigen Emotionen in der Szene eine Fälschung sind. Sie sind ein »kitschiges« Spiel, das die Zuschauer im Sinn Benjamins an die Schwelle zwischen verschiedenen Bewertungssystemen – vergangenen und gegenwärtigen – bringt. Im Folgenden möchte ich den Prozess nach-

24 Vgl. Adorno, 1975. 25 Ollesch, 2002, S. 182f.

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vollziehen, in dem »Isabellas Zimmer« bzw. der Treffpunkt ihrer Erinnerungen, kritisch gefährdet wird und sich an der Schwelle – rite de passage – zwischen Gegenwart und Vergangenheit transformiert, indem es jedoch nicht in das Jenseits der Schwelle übergeht und auf der Schwelle verbleibt.

2-3. D IE »L ÜGE «

DER

W ELT

UND

M ITTEL DAGEGEN

In Isabellas Lebensgeschichte ereignen sich nacheinander verschiedene Unglücksfälle. Ihre Mutter Anna beging wegen der Lücke in ihrer Vergangenheit, der Vergewaltigung, Selbstmord. Diese Situation quälte Isabellas Vater Arthur, machte ihn zum Alkoholiker und später zum Verschollenen. Nach seiner Rückkehr sprang er vor Isabellas Augen ins Wasser und ertrank. Nach seinem Tod liest sie Arthurs Brief, der seine »Lüge« – nämlich die Vergewaltigung Annas – aufdeckt. Auch wird ihr im Brief davon berichtet, dass Anna das »Baby Isabella« nicht habe sehen wollen und sogar dessen Tod gewünscht have. Diesen Unglücksfällen folgen neue: Isabellas Geliebter Alexander ging im Zweiten Weltkrieg als Agent des britischen Geheimdienstes nach Hiroshima. Dort wurde er von den Japanern gefangen genommen und hat im Chaos des Atombombenabwurfs eine einheimische Frau, die ihm ein hasserfülltes, verächtliches Wort zuwarf, mit eigenen Händen umgebracht. Nach der Heimkehr verlor er sowohl seine Familie als auch seine Stellung und war nun von Isabella abhängig. Am Ende wurde er geisteskrank. Trotz all des Unglücks, das Isabella widerfahren ist, hat sie ihr Leben und die Welt geliebt. Insgesamt hatte sie 73 Geliebte. Es waren »[w]under– bare Erfahrungen, jeder auf seine Art. Und sie sprach immer mit Respekt und Zärtlichkeit von ihnen« (47). Von keinem ihrer Geliebten verlangte sie jemals Geld, Eheschließung oder sozialen Status. Sie wollte von niemandem abhängig sein und nur ihre Liebe und Lust bzw. die »Leidenschaft für das Leben« verbanden sie mit den Männern. Auch ohne ehelichen Vater wollte sie ihr Kind nicht abtreiben. Ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach Afrika und nach dem »Wüsten-Prinzen« bewahrte sie selbst dann noch, als sie von Arthurs Lügen erfahren hatte. Und sogar Alexander, der alles verloren hatte und die Welt hasste, liebte sie gerade wegen ihrer Liebe zur Welt:

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»ALEXANDER Es gefiel mir, mit Isabella zusammen zu sein. Ich durfte nicht mit ihr leben, aber wir sahen uns jeden Tag. Sie liebte die Welt aufrichtig, und ich hasste sie. Ich hasste die Welt, weil nichts mehr an ihr stimmte. Keiner tat etwas Nützliches, ich war nur noch gereizt, und Isabella war die Einzige, die mich das vergessen ließ.« (42)

Als der Krieg endete, hielt er das Kriegsende für eine »Lüge«. Denn als er im Krieg jene japanische Frau umbrachte, »spürte [er] sofort, dass es keinen Weg zurück gab« (41). Für ihn konnten Krieg, Hass und Verachtung gar kein Ende finden, und doch verbreitete man die »Lüge« und errichtete auf ihr eine neue Weltordnung. »Und das Schlimmste an dieser Lüge war, dass sie jeder glaubte« (42). Die hier gemeinte »Lüge« korrespondiert mit Benjamins »Traumkitsch«, solange »Traumkitsch« ein kollektiver Glaube ist, aus dem man erwachen soll. Alexander glaubt, dass Isabella »[d]ie einzige Waffe gegen die Diktatur der Lüge« sei. Sie ist die »Leidenschaft für das Leben«, die reine »Schönheit«: »Ihre Leidenschaft für das Leben war von einer reinen unerträglichen Schönheit. Die einzige Waffe gegen die Diktatur der Lüge. « (42) Doch auch Isabella hatte die Leidenschaft eines Anderen für das Leben nötig. Nachdem ihr Versuch misslungen war, Alexander »seine überschäumende Männlichkeit« (44) zurückzugeben, und er zu einem »verbitterte[n] alte[n] Mann« (46) geworden war, verlor sie selbst »das Verlangen nach Sex« (47). In dieser Zeit verfiel sie ihrer letzten großen Liebe: ihrem Enkelsohn Frank. Franks Mutter ist die Tochter Isabellas und eines afrikanischen Mannes, den sie in einem Bordell traf. Sie verliebte sich in die Schönheit und Energie des schwarzen Körpers und seiner übermenschlichen sexuellen Energie, in der sich für Isabella (erneut machen sich Züge eines kolonialen, rassistischen Kitsches bemerkbar) Afrika mit ihrer eigenen starken Lebenskraft verbindet. Frank ist geradezu aus Isabellas Sehnsucht nach Afrika geboren. Isabella findet in ihm die »reine Schönheit«: »Es ist reine Schönheit. Jetzt verstehe ich wenigstens, was Leben bedeutet. Ich will keine Verbitterung. Ich will Leben. « (48) Für sie ist Frank der Mensch, der »[d]ie einzige Waffe gegen die Diktatur der Lüge« besitzt. Sie sei seine »Lebenslust«: »ISABELLA Frank brachte mich wieder mitten ins Leben zurück. Seine Lebenslust machte es mir möglich, die Vergangenheit noch besser zu verstehen: Arthurs Lügen. Der Betrug meiner Mutter Anna. Alexanders Verbitterung. […]« (48) Der

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junge Geliebte, der Isabella wirklich liebt, geht an ihrer Stelle nach Afrika, um dort zu arbeiten. Trotz ihrer Leidenschaft für Afrika ist Isabella wegen der aufeinanderfolgenden Unglücksfälle niemals die Reise zum lang ersehnten Kontinent gelungen. Frank jedoch bringt sie zum ersten Mal nach Afrika. Während eines lokalen Konflikts wird er angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Isabella fliegt daraufhin zu ihm. Doch die Verheerung des »gegenwärtigen Afrika« enttäuscht Isabella zutiefst. »ISABELLA Und so kam ich doch noch nach Afrika. Von der Schönheit, die ich so genau in meinem Zimmer studiert hatte, war nichts zu sehen. Der Bürgerkrieg hatte alles zerstört, und die einzigen Blumen, die ich sah, waren Plastiktüten, die an jedem verdorrten Busch flatterten. […]« (51)

Trotzdem freut sie sich, zusammen mit ihrem Geliebten in Afrika zu sein. Aber der sterbende junge Frank gerät in Panik und begreift Isabellas Erklärung ihrer Anreise nicht. Er stirbt mit letzten Worten, die Isabellas »Waffe gegen die Diktatur der Lüge« und ihre »Leidenschaft für das Leben« zunichtemachen. »FRANK Wir kehren um! Du hast mich angelogen! Ich will nicht zurück. Ich will nicht zurück nach Afrika. Sie werden mich töten. Lügnerin! Ich will nicht nach Afrika! Alles Lügen. Lügnerin! ERZÄHLER [auf der Bühne gesprochen von ANNA] Frank starb an einem Herzinfarkt. Das Wort ›Lügnerin‹ blieb zurück, in einer absoluten Leere. Einem Vakuum neben ihrer linken Schläfe. Sie fühlt es jetzt noch immer sanft pochen. Sie hatte nie gelogen. Nie.« (52)

Das Gespräch an Frank Sterbebett wird von einem elektronischen, metallischen Ton überdeckt, der leise beginnt und sich allmählich so laut und bedrohlich wird, dass er in den Ohren der Zuhörer wehtut und das Verständnis des Gesprochenen stört. Dabei wird das Licht dunkler, sodass es scheint, als würden die Konturen der Spielenden immer unklarer und verschmölzen mit der Finsternis. Das düstere Licht unterbricht den elektronischen Ton und die grausigen Schreie Franks, der von Maarten Seghers gespielt wird. Dieser hatte Isabella zunächst mit einer ruhigen Stimme geantwortet, die zwar ängstlich klang, aber zugleich so sanft, dass ihr Liebesverhältnis nicht bedroht wurde, und zwar trotz des metallischen Tons, der Düs-

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terheit des Lichts und Franks verkrampften Gesichts, die zusammen eine beunruhigende Atmosphäre hervorrufen. Der stimmklangliche Schein wird aber im nächsten Moment durchbrochen. Mit den bereits zitierten Worten erhebt Frank plötzlich seine Stimme, die nun laut, rau und bedrohlich klingt. Auch sein ganzer Körper bewegt sich nun unruhig: Er schwingt die Arme heftig auf und ab, eine Bewegung, die eine heftige Verweigerung andeutet. Dazu schreit er mit dem ganzen Körper; mit dem Atem des Schreis spannt er seinen gesamten Körper an und biegt sich. In dieser Körperhaltung wird der Schreiende allein von seiner eigenen Stimme erfüllt. Er ist in seinem Schrei gefangen, die Möglichkeit eines Dialogs ist nicht mehr gegeben. In dem Augenblick, in dem sein Schrei endet, verkündet Anna, Franks Urgroßmutter, in sachlichem Ton seinen Tod. Damit kehrt das helle Licht zurück. Das »Pochen (52)«, das Franks letzte Worte bei Isabella verursachten, spielt sich nun in diesem nüchternen Licht ab. Jenes »Pochen« indessen wird nicht von Vivian De Muynck schauspielerisch dargestellt, sondern durch ein Lied sowie durch bestimmte Körperhaltungen und Schreie anderer Performer. Gleich nach Franks Tod legt dessen Schauspieler Maarten Seghers eine Schallplatte auf. Es beginnt das Lied Rock ‘n‘ Roll Suicide, gesungen von Ziggy Stardust bzw. David Bowie. Da Frank ein begeisterter Fan Bowies war, wird bei seiner Beerdigung dieses Lied gespielt. Das Lied ist allerdings keineswegs willkürlich dem Repertoire Bowies entnommen, sondern es entfaltet eine große Bedeutsamkeit für die Szene. Rock ‘n‘ Roll Suicide bildet das Ende von Bowies Konzeptalbum The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars. Das Album erzählt die Geschichte einer fiktiven Figur, Ziggy Stardust, die von Bowie gespielt wird. Mit dem Album erzielte Bowie einen großen Erfolg und wurde in der Figur des »Ziggy Stardust« weltweit zu einem Idol. Am 3. Juli 1979 jedoch verkündete er bei einem Konzert in London, gerade bevor er Rock ‘n‘ Roll Suicide sang, dass er nicht mehr die Rolle des Ziggy Stardust spielen werde. Das Lied deutet vor diesem Hintergrund in der hier behandelten Szene Franks »Selbstmord« als fingierte Figur bzw. als Produkt einer kollektiven »Lüge« an. Frank, der aus Isabellas Traum von Afrika geboren wurde und dessen Lebenslust sie »wieder mitten ins Leben« zurückgebracht hat, stirbt in dem Glauben, dass alles Lüge sei. Frank liebte die »Lüge«, eine Figur zu spielen wie »Ziggy Stardust«, aber er konnte die »Lüge« am Ende nicht mehr ertragen.

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Während des Liedes zeigen die Performer bedrohliche Gesten: Alexander legt mit beiden Händen seine Revolver in Anschlag; die Tänzerinnen und Tänzer ballen vor ihren Unterleibern die Fäuste fest zusammen, zeigen ihre Muskeln und zornige Fratzen. Dann schreien sie gemeinsam gegen den Zuschauerraum an, ohne sich länger mit Isabella zu unterhalten, die nun allein am hinteren Rand der Bühne steht. Isabellas »linke Gehirnhälfte« bzw. »sister joy«, die von der Tänzerin Louise Petterhoff (in späteren Aufführungen von Yumiko Funaya) gespielt wird, schweift zwischen den bedrohlichen Figuren umher, wobei sie ihr weißes Kleid hochhebt und damit ihr Gesicht wie eine Verbrecherin verhüllt. Dabei bedeckt sie ihre nackte Brust mit den Händen, beugt die Knie und blickt wie ein Tier unruhig umher. Diese Geste erweckt den Anschein, als würde sie sich ihrer Sexualität schämen. Der Körper dagegen, der Isabellas »rechte Gehirnhälfte« bzw. »sister evil« darstellt und von der jungen, knabenhaft anmutenden Tänzerin Tijen Lawton gespielt wird, stimmt mit den anderen in die Kraft der Bedrohung ein. Die Körper werden hier nur entweder mit aggressiver Kraft oder mit entwürdigter Sexualität vorgestellt. Von diesem Moment an findet sich nun keine erfreuliche Lust mehr, wie sie Isabella bisher zeigte. Isabella wird nun von der »Lüge« heimgesucht und in eine Krise geraten. Ihr Zimmer ist von einer gewaltsamen Unruhe bedrängt, die Isabella in Verzweiflung stoßen könnte und ihr gelassenes Balancieren auf der Schwelle in Gefahr bringt.

2-4. D AS L IED DER G ENESUNG Dem Lied Rock ‘n‘Roll Suicide folgt in Isabellas Zimmer unmittelbar ein weiteres Lied. Isabella selbst singt davon, dass sie bei den Unglücks- und Todesfällen geliebter Menschen keine Trauer gefühlt hat. »When Anna died/I felt no sorrow/When Arthur died/I felt no pain/It’s all in vain/It’s all in vain/When Alex went mad I wasn’t lost/When Franky died/I didn’t feel sad/It’s all in vain/It’s all in vain« (53). Die Darbietung des Liedes lässt eine Heiterkeit aufleuchten, die der zornigen oder depressiven Düsterheit der in Moll gehaltenen Komposition entgegentritt. Die tiefe, kräftige Stimme von Vivian De Muynck, die Klänge der Musikinstrumente der anderen Performer und die Bewegungen der Körper verweben sich im Rhythmus des Liedes. Am Anfang des Liedes

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klingt Isabellas Gesang, der nur wenig in der Tonhöhe variiert, eher wie ein langsamer Monolog als wie eine Melodie. Die Stimme lässt aber bereits eine gewisse Musikalität wahrnehmen, die aus der verzweifelten, hoffnungslosen Erzählung heraus Hoffnung zu schöpfen scheint. Isabella singt/erzählt an dieser Stelle mit einer tieferen, klangreicheren Stimme als sonst. Kräftige Nachklänge, wie sie ähnlich etwa in der Soulmusik zu finden sind, verleihen den erzählenden Worten – z.B. Ausdrücken wie »died«, das wie »die-yeah-d«, »pain«, das wie »pai(n)-yay« gesungen werden – Musikalität. Aus Isabellas tiefer, rauer Stimme spricht keine kokette Weiblichkeit, sondern eine Kraft, die jenseits dominanter Geschlechtsbilder steht. Hinzu kommt eine allmähliche Rhythmisierung der Stimmen und Töne. Anfangs klingen die Instrumente noch abgehackt, trotzdem liegen auch hier schon musikalische responsive Verhältnisse zwischen den Singenden, den Musizierenden und den Tanzenden vor. Der Rhythmus, den sie bilden, beschleunigt sich nach und nach, während immer mehr Töne und Bewegungen hinzukommen. Die Performer lächeln einander zu und machen deutlich, dass sie Genuss beim gemeinsamen Musizieren empfinden. Gleichzeitig springt mit einem breiten Lächeln am Rand der Bühne vor den anderen Performern »sister joy« hervor, die zunächst ihre Schönheit verhüllt hatte. In dem genussvollen Spiel der Tänzer und Schauspieler während des düsteren und traurigen Liedes, das von Isabellas unglücklicher Vergangenheit berichtet, findet etwas von der Geste der »Genesung« wieder, die Zarathustra bei Friedrich Nietzsche erfährt. Nietzsches Zarathustra fällt vor Ekel vor der ewigen Wiederkehr des kleinen Menschen zu Boden und liegt da wie gestorben. In ähnlicher Weise schwankt Isabellas Lebenslust dadurch, dass ihr Liebster durch eine »Lüge« bzw. durch einen falschen Glauben gestorben ist; während Franks Beerdigung hat sie nur schweigend zugehört. Aber wie Zarathustra, der von seiner Krankheit genesen ist, erholt sich Isabella wieder, indem sie von dem kritischsten Moment der Vernichtung ihrer Lebenskraft mit einem Lächeln singt. Auch Zarathustra lässt seine Seele singen. Dabei schenkt er seiner Seele seine ganze Güte und Dankbarkeit. »Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermuth, so wirst du singen müssen, oh meine Seele! – Siehe, ich lächle selber, der ich dir solches vorhersage:

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– singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dass sie deiner Sehnsucht zuhorchen, – […] – schon glühst du und träumst, schon trinkst du durstig an allen in der Seligkeit zukünftiger Gesänge! – – Oh meine Seele, nun gab ich dir Alles und auch mein Letztes, und alle meine Hände sind an dich leer geworden: – dass ich dich singen hiess, siehe, das war mein Letztes! Dass ich dich singen hiess, sprich nun, sprich: wer von uns hat jetzt – zu danken? – Besser aber noch: singe mir, singe, du meine Seele! Und mich lass 26

danken! –«

Isabella singt, indem sie aus dem verheerenden Zustand ihrer Lebenslust neue Kraft schöpft und diese neue Lebenskraft an den Zuhörenden verschenkt. Sie singt nicht automatisch und antriebslos, sondern dadurch, dass sie ein Potential für sich findet, das das Negative ihres traurigen Schicksals, das ihre Lebenslust verneint, abstößt: »When Franky died/I didn’t feel sad«. Das Negative der Traurigkeit abzustoßen weist dabei keinesfalls auf eine Kaltblütigkeit hin. Vielmehr klingt hier die Idee einer Ethik an, die Nietzsche von Spinoza übernommen hat. Diese »Ethik« ist nach Gilles Deleuze die Theorie des Vermögens, während die »Moral« die Theorie der Pflichten ist.27 In seiner Ethik kritisiert Spinoza demnach ein Leben, das der Pflicht bzw. dem Willen eines Tyrannen gehorcht, eine »Moral« wie die der Ressentiment-Menschen bei Nietzsche, die ihre Leidenschaft aus dem Willen zur Rache beziehen für die »alles Glück eine Beleidigung ist«, und die »[ihre] einzige Leidenschaft aus Not oder Unvermögen bezieh[en]«.28 Spinoza versteht die Traurigkeit als das Böse und die Freude als das Gute, weil es nach ihm das böse ist, was die Bewegungsfähigkeit abnehmen lässt.29 Im Fall der Unlust zielt unser Vermögen oder unsere Potenz als conatus laut Spinoza ausschließlich darauf, einem Schmerz nachzugehen und den Gegenstand zurückzudrängen und zu zerstören, der dessen Ursache ist. Unser Vermögen wird dadurch bewegungsunfähig und kann nicht mehr reagieren. Bei Lust hingegen expandiert unser Vermögen, verbindet sich mit

26 Nietzsche, 1988, S. 280f. 27 Deleuze, 1988, S. 137. 28 Ebd., S. 37. 29 Vgl. ebd., S. 102f.

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den Vermögen anderer und vereinigt sich mit dem geliebten Gegenstand.30 Dieses Verständnis von »Gut und Böse« bedeutet, auf Isabella angewandt, allerdings nicht, dass sie den Schmerz der Verstorbenen oder Vergessenen zugunsten ihres eigenen Fortbestehens ignorieren würde, sondern dass sie gerade im tiefsten Schmerz nicht auch noch sich selbst in eine lähmende Verzweiflung versetzt. Isabellas ausgeprägtes Lustempfinden ist so verstanden keine gedankenlose und verantwortungslose Ausschweifung der Wollust, sondern eine Allegorie für die Potenz des Lebens. Ihre Liebe erlegt ihren Liebsten kein Sollen auf – z.B. heiraten, etwas geben oder auch nur zurücklieben zu sollen –, sondern sie zeigt nur ihr eigenes Können, – ihre Fähigkeit, auch im kritischsten Moment schenken, tanzen und singen zu können. Needcompany erzählt aber in »Isabellas Zimmer« nicht bloß von den Möglichkeiten des Könnens, sondern die Gruppe selbst entfaltet ein künstlerisches Können in ihrem Spiel, indem sie die Zuschauer/Zuhörer diesem düsteren Lied aussetzen und sie zugleich die Heiterkeit darin vernehmen lassen. Gilles Deleuze klagt in seiner Nietzsche-Interpretation besonders das negative Sollen an. Denn wer zu einem negativen Sollen ja sage, bemühe sich nicht darum, etwas zu schaffen, anderen etwas zu geben so und die Lebenspotenz Aller zu stärken, sondern darum, die allgemeine Potenz zu reduzieren, um daraus eigene Potenz zu erwerben. Der Ja-Sager glaubt bei einem solchen Sollen, dass die Potenz eine Art Ware sei, die man gewinne, indem man sie anderen nehme und dass man dafür bezahlen solle. Isabella dagegen sagt ja zum Können. Sie wertet das Unglück um und schafft daraus ihre Lebenslust. Der Ja-Sager des Sollens dagegen kennt keine schaffende Umwertung, sondern nur den Tauschwert. Das Können zeigt sich in der Aufführung als Ethik des Künstlers, der die Schönheit des Lebens schafft, während das Sollen die Moral der Wirtschaft ist, die eine bereits gegebene Ware verteilt. Isabellas Weisheit gehört ganz dieser künstlerischen Ethik. Negationen wie »no« und »not« in Isabellas Lied verneinen das Negative, das die Potenz des Lebens verwirkt. Die Verneinung des Negativen aber bereitet die Affirmation eines neuen Werts vor, wie Deleuze mit Blick auf Nietzsche ausführt:

30 Vgl. ebd, S. 132f.

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»Aktiv wird die Zerstörung in dem Maße, wie das Negative umgewertet und in affirmative Macht umgewandelt wird: ›die ewige Lust des Werdens‹, die in einem Augenblick zum Vorschein tritt, ›Lust am Vernichten‹, die ›Bejahung des Vergehens und Vernichtens‹. Das ist das ›Entscheidende in einer dionysischen Philosophie‹: der Punkt, an dem das Negative gleichsam Blitz und Donner einer Macht zum Jasagen wird. Höchster, transzendenter oder Brennpunkt, Mitternacht, die bei Nietzsche sich nicht durch ein Gleichgewicht oder die Versöhnung von Gegensätzen definiert, vielmehr durch eine Konversion. Konversion des Negativen in sein Gegenteil, Konversion der ratio cognoscendi in die ratio essendi des Willens zur 31

Macht.«

In der letzten Szene hören wir also ein affirmatives Lied, das auf die »Konversion des Negativen« folgt und »die ewige Wiederkunft des Gleichen« feiert. So kann Isabella letzlich doch auf der Schwelle zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart stehenbleiben.

2-5. D AS DER

WIEDERKEHRENDE

T RUGBILD

V ERGANGENHEIT

In der letzten Szene verliert Isabella die letzte ihr noch verbliebene Einkommensquelle und ihre Kamera, die ihr eine künstliche Sehkraft verlieh. Anna schlägt ihr vor, einige Stücke aus der Sammlung zu verkaufen, damit Isabella und Alexander nicht verhungern. Isabella aber hat keinerlei Interesse an Geld und widersetzt sich dem Vorschlag ihrer Mutter, die geerbte Sammlung, die ihre Leidenschaft nach Afrika verkörpert, aufzulösen. »Wie bitte? Meine Skulpturen verkaufen?! Wie kannst du nur daran denken. Sie sind mein Leben! Diese Skulpturen, das bin ich. Ich.« (56) Dennoch kommt es zu einen Umbruch in der Szene, und Isabella entscheidet sich nun doch, die gesamte Sammlung zu verkaufen. Sie selbst nennt den Grund für ihre Entscheidung: »Diese Objekte sind alle Betrug und Täuschung. Betrug und Täuschung. Vielleicht fand Arthur gerade das so anziehend an ihnen. Der Schein von Unveränderlichkeit.

31 Deleuze, 1985, S. 189.

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Die Sehnsucht nach Ewigkeit. Und vor allem die Erkenntnis, dass man diese Objekte nur an der Oberfläche verstehen konnte. Verstehst du? Ich lebte nur an der Oberfläche der Dinge. Das Innere verursachte Angst. Und Angst, mein Freund, bedeutete, Zeit zu verlieren.« (56)

Isabella verkauft die Objekte weder weil sie Täuschungen sind, noch weil sie Kulturgüter sind, die nur infolge eines barbarischen Betrugs in ihrem Zimmer liegen. Isabella erkennt vielmehr ihren Wert gerade darin, dass die Objekte alle Betrug und Täuschung sind und so den »Schein von Unveränderlichkeit« bzw. die »Sehnsucht nach Ewigkeit« erzeugen. Es geht nicht um eine ewige »Wahrheit«, die im »Inneren« verborgen läge, sondern um »die Erkenntnis, dass man diese Objekte nur an der Oberfläche verstehen« kann. Diese Worte lassen sich erneut durch einen Rekurs auf Nietzsche besser verstehen. Für Nietzsche ist die Idee einer absoluten, unveränderlichen inneren Wahrheit, nach der Metaphysiker dogmatisch suchen, eine Fiktion.32 »Alles, was tief ist, liebt die Maske.«33 Auch Deleuze zufolge ist die Bedeutung nicht in einem unsichtbaren Inneren verborgen, sondern sie entsteht erst durch die »Expression« an der Oberfläche. So verlor beispielsweise Frank sein Leben aufgrund der Angst, die ihm sein Glaube an eine verborgene Wahrheit verursachte, obwohl eine solche Wahrheit nicht existiert. Isabella fährt nun fort. Wie sie in dem Text des zuvor erwähnten Liedes All in Vain, fehlte ihr selbst in den kritischsten Momenten eine »heftige Bewegung der Seele« oder ein »emotionales Herumkokettieren«. Diese Haltung hat sie von ihrem Vater gelernt. Ein friedvolles Lied, das Arthur ihr in ihrer Kindheit vorgesungen hat und das auch zu Beginn der Aufführung gesungen wurde, kehrt nun aus der Vergangenheit zurück. Die Wiederholung des Liedes kann man hier wiederum als »die ewige Wiederkunft des Gleichen« vernehmen. Das Lied selbst enthält rhythmische Wiederholungen des Vokals »o«, in dem man einen Nachklang des »no« in Isabellas Lied All in Vain vermutenkann. »He’s the man who never stops. He says flop and hop and hop and hop

32 Vgl. Nietzsche, KSA 5, 1988, S.16f. 33 Ebd, S. 57.

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Three flops in a row He feels the flow yahoo yahoo He’s the man He’s the man who never stops [...]« (19f.)

In der Anfangsszene tanzte zu diesem Lied Benoît Gob, der Arthur spielt, als renne er im Wasser und spiele mit Anna Fangen. Das Subjekt im Text ändert sich nun aber von »he« zu »we«: »We are the people who never stop We say flop and hop and hop and hop Three hops in a row We feel the flow yahoo yahoo We are the people The people who never stop We just go on and on and on We just go on and on and on [...]« (20)

Allmählich steigen die Performerinnen und Performer in den Gesang ein, bis am Ende alle auf der Bühne singen. Auf der Bühne sind nicht nur Schauspieler, sondern auch Tänzer, Musiker, die Dramaturgin und der Regisseur. Sie überlassen sich der Musik und bewegen sich im Rhythmus. Offenbar kommt es nicht darauf an, ob ihr Gesang professionell ist; gezeigt wird vor allem die gemeinsame Lust am Singen. Im Lauf der Geschichte hat sich der scheinbare Friede als »Lüge« bzw. als »Traumkitsch« der Welt entlarvt, weswegen Isabellas Liebste sterben mussten: Anna konnte ihre »Lüge« nicht mehr ertragen. Arthur büßte für seine »Lüge« und bezahlte bei einem nachfolgenden Unglück mit seinem Leben. Alexander ist zwar nicht tot, verfiel aber in die Geisteskrankheit, weil er die »Lüge« der Welt hasst. Frank glaubte nicht an das, was er hörte; er glaubte an keine »Oberfläche«, sondern nur an die »Lüge«, nämlich an eine eingebildete »innere Wahrheit«. Im Unterschied zu all den Dahingegangenen unterwirft sich Isabella nicht der »Diktatur der Lüge«. Sie lässt das Lied aus der Vergangenheit wiederkehren und findet gerade in der »Lüge« der Vergangenheit einen ewigen Wert.

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»Als ich lernte, Frank zu lieben, dachte ich, dass alle Lügen endlich verschwinden würden. Und so, verstehst du, verschwand er in einer Lüge. Was für Sentimentalität, altes Mädchen. Schau, hier, das Foto des Mannes mit dem Bart. Der Mann, der aus einer Lüge geboren wurde: Mein Wüsten-Prinz. Er wird immer da bleiben. Nicht wie Anna, Arthur, Alexander und Frank: gegangen. Für immer. Er ist der Einzige, der noch existiert, mein Wüsten-Prinz. Selbst ohne meine Kamera sehe ich ihn kristallklar: Felix. F.E.L.I.X. Und das bedeutet »Glück« in einer toten Sprache. Betrug und Täuschung.« (57)

Der Wüsten-Prinz, gespielt von Julien Faure, tanzt nun das Lied so, wie Arthur es einst tanzte. Die Choreographie ist zwar gleich, wie auch die Komposition der Musik getreu wiederholt wird. Aber was hier geschieht, ist etwas völlig anderes. Die tanzende Figur des Wüsten-Prinzen ist der neu geschaffene Erbe Isabellas. Isabella affirmiert nicht alles, was die Wiederkehr der »Lüge« hervorgebracht hat, sondern sie liest nur das aus, was die Potenz des Lebens sowie des Da-Gewesen-Seins verstärkt. Nach der Interpretation von Gilles Deleuze bedeutet »die ewige Wiederkunft der Gleichen« Nietzsches, dass das Sein bzw. der Conatus Spinozas eine Auslese ist. »Aus der ewigen Wiederkehr ist zu lernen, daß es keine Wiederkehr des Negativen gibt. Die ewige Wiederkunft bedeutet, daß das Sein Auslese, Züchtung ist. Nur das 34

kehrt wieder, was selbst bejaht oder was bejaht wird.«

Zwar ist das Lied dasselbe wie früher, aber Isabella lässt an diesem Punkt nicht die Erinnerungen an den Selbstmord, die Depression und die Betrunkenheit ihres Vaters zurückkehren, sondern nur Erinnerungen an sein Lachen, Singen und Dichten. Nietzsches Zarathustra benennt drei Verwandlungen des Geistes, der »zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe«.35 Das Kamel ist der Ja-Sager zum Sollen, dessen Kraft danach verlangt, Schweres zu tragen. Es bejaht alle Lasten, verwechselt darin aber letztlich das Sollen mit einem Können. Der Löwe ist der Nein-Sager zum Sollen, der die trügerische Haltung des ersten Ja-Sagers verneint. Das Kind schließlich ist der Ja-Sager zum Können:

34 Deleuze, 1985, S. 204. 35 Nietzsche, KSA 4, 1988, S. 29.

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»Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen. Ja, zum Spiel des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-Sagens: 36

seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.«

Auch Isabella verwandelt sich durch ein Ja-Sagen-Können in ein Kind, das alles Negative an seinem Vater vergessen hat und nur den positiven Wert seines Da-Gewesen-Seins wiederkehren lässt. Hier findet sie seinen wahren Namen: Felix. Der Name bezeichnet nicht mehr eine problematische Person, sondern »›Glück‹ in einer toten Sprache«, das die Person geerbt hat. Der Name »Felix«, der vom Vater des Regisseurs übernommen ist und, von Isabella in ihren Erbstücken gefunden, zum Namen des »Wüsten-Prinzen« wird, ist in den Buchstaben materialisiert und fragmentiert und wird so zu einer Allegorie, deren Bedeutung sich im Lauf der Erzählung Isabellas verändert. Isabella verneint das Negative an ihrem Vaters und zerbricht dadurch die angeblich »wahre« Figur. Die Figur des Vaters bleibt nach Benjamins Theorie der Allegorie »als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück«. So »liegt er [der betrachtete Gegenstand, bzw. hier die Figur des Vaters] vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. Das heißt: eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht.«37 Die Allegorie erhält vom Allegoriker jenes Nachleben, das durch den Tod bzw. den Zerfall in der Differenz ewig wird. Isabella beschwört an der wiederkehrenden Vergangenheit den »Schein von Unveränderlichkeit« des Glücks, der sowohl ihr selbst als auch ihrem gestorbenen Vater das Potential des (Nach-)Lebens verleiht. Als nach der reinen Schönheit und der Lebenslust Suchende benimmt sich Isabella wie der »Künstler«, den Deleuze nach Nietzsche folgendermaßen definiert: »Kunst bildet die höchste Macht des Falschen, sie preist die ›Welt als Irrtum‹, heiligt die Lüge und verwandelt den Willen zur Täuschung in ein höheres Ideal. [...] Das im Leben Aktive kann nur in Beziehung zu einer tieferen Bejahung vollzogen werden. Die Aktivität des Lebens ist gleichsam eine Macht des Falschen: täuschen, verschleiern, blenden, verführen. Aber um ausgeübt werden zu können, muß diese

36 Ebd., S. 31. 37 Benjamin, 1974, Bd. 1-1, S. 359.

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Macht des Falschen gezüchtet, verdoppelt oder vervielfältigt, also auf eine höhere Stufe der Macht gehoben werden: Die Macht des Falschen bis hin zum Willen zur Täuschung, dem künstlerischen Willen, treiben, der als einziger imstande ist, mit dem asketischen Ideal konkurrieren und sich diesem mit Erfolg entgegenzustellen. Eben die Kunst erfindet Lügen, die das Falsche bis zu jener höchsten affirmativen Macht erhebt, sie macht aus dem Willen zur Täuschung etwas, das sich in der Macht zum Falschen bejaht. Schein bedeutet für den Künstler nicht mehr die Verneinung des Wirklichen in der Welt, sondern diese Züchtung, diese Berichtung, diese Verdoppelung, diese Bejahung. Darin gewinnt ›Wahrheit‹ möglicherweise eine neue Bedeutung. Wahrheit ist Schein. Wahrheit bedeutet Vollzug, Wirken der Macht, Aufsteigen zur höchsten Macht. Bei Nietzsche sind wir die Künstler – wir die Suchenden nach Erkenntnis oder Wahrheit – wir die Erfinder neuer Möglichkeit des 38

Lebens.«

Isabellas Zimmer ist eine Passage, in der die (neu erschaffene) kitschige Vergangenheit ins ewige Nachleben übergehen kann, indem sie die gleiche Erinnerung und den mit ihr verbundenen Schmerz immer wiederkehren lässt. Auf der Schwelle stehenbleibend transformiert sich Isabella zugleich. Eine unerschöpfliche Kraft der Transformation macht Isabella zu einer Künstlerin, zur Erfinderin neuer Möglichkeiten des Lebens. Zwei Ideen der ewigen Wiederkunft stehen sich scheinbar widersprüchlich gegenüber: die Benjamins und die Nietzsches. Benjamin sieht, wie auch Adorno, Nietzsches Theorie der ewigen Wiederkehr des Gleichen skeptisch. Er vergleicht drei Denker der ewigen Wiederkunft miteinander und kritisiert unter ihnen Nietzsche: »Mit allem Nachdruck ist darzustellen, wie die Idee der ewigen Wiederkunft ungefähr gleichzeitig in die Welt Baudelaires, Blanquis und Nietzsches hineinrückt. Bei Baudelare liegt der Akzent auf dem Neuen, das mit heroischer Anstrengung dem »Immerwiedergleichen«, dem der Mensch mit heroischer Fassung entgegensieht. Blanqui steht Nietzsche sehr viel näher als Baudelaire, aber die Resignation ist bei ihm vorwiegend. Bei Nietzsche projeziert [sic] sich diese Erfahrung kosmologisch in der These: es kommt nichts Neues mehr.«

38 Deleuze, 1985, S. 112f. 39 Benjamin, GS Bd. 1-2, S. 673.

39

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Zwar betont Nietzsche die ewige Wiederkunft des Gleichen, aber wie schon erwähnt liegt nach Deleuze in Nietzsches Idee der Akzent eher auf dem neuen Wert. Zwar kehrt das immer gleiche Gedächtnis wieder, aber sein Wert wird neu geschaffen. Nach Menninghaus sieht Benjamin in der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht nur einen »zu sprengenden geschichtlichen Zwangszusammenhang«, sondern auch »die Zeitform des ›Glücks‹, des gesprengten mythischen Schicksals«.40 »Die ewige Wiederkunft ist ein Versuch, die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden: nämlich das der Ewigkeit und das des: noch einmal. – Die Idee der ewigen Wiederkunft zaubert aus der Misere der Zeit die spekulative Idee (oder die Phantasmagorie) des Glücks hervor.«

41

Benjamin steht demnach auf der Schwelle zwischen dem Traumkitsch, für den man schwärmt und in den man nur eintaucht, sowie dem wachen Bewusstsein, mit dem man jenen ersten Zustand als »Kitsch« verurteilt, von dem man Distanz einnimmt. Isabella hingegen berührt die ererbten Objekte taktil und taucht durch die Stimmen aus der Vergangenheit in sie ein, gleichzeitig aber lehnt sie das Negative an ihnen ab. Bei Isabella findet sich keine heroische Aufregung, wie jene, die Benjamin in Nietzsches Zarathustra findet, sondern der »friedliche Kreis des Buddhas und die Unverwundbarkeit Mark Antons« (56). Danach wird Arthurs Lied Song for Budhanton genannt. Isabella findet in ihrem Vater eine Figur wieder, die niemals aufhört zu leben – trotz der negativen Seiten der Vergangenheit. »He’s the man who never stops« (19). Dieses »never« in Arthurs Lied und das »no« in dem Isabellas korrespondieren miteinander, das eine findet im anderen seinen Widerhall. Durch dieses »no« hört sie in der letzten Szene das Lied für »Budhanton« erneut. Sowohl sinnhaft – in »never« – als auch sinnlich – im wiederholten Vokal »o« – ist der Widerhall des »no« in diesem Gesang zu vernehmen. Im Lied wird der Refrain »We just go on and on and on« so lange wiederholt, dass er dem Zuhöher beinahe unendlich vorkommt. Das Lied verfügt in der Tat über keine musikalische Schlussbildung; der Refrain könnte strukturell gesehen ewig weiter gesungen werden. Es gibt nur eine einzige tonale Melodie, die aus

40 Menninghaus, 1986, S. 106f. 41 Benjamin, GS Bd. 1-2, 682f.

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einem einfachen Hin und Zurück zwischen drei Tonstufen besteht. Diese Melodie kehrt innerhalb des Songs mehrmals wieder, sodass sie zum Ohrwurm wird und auch nach der Aufführung in den Ohren des Publikums bleibt. In dieser unendlichen Melodie liegt eben »[k]eine heftige Bewegung der Seele« (56), sondern der »friedliche Kreis des Buddhas und die Unverwundbarkeit Mark Antons«. Denn die Tonalität der Melodie ist unerschütterlich, und das Lied weist keine aufregenden Modulationen auf. Sogar in der Krise der geerbten Sammlung hört Isabella diess Lied wieder. Indem Isabella das alte Lied wieder hören lässt, feiert sie auf eine dionysische Weise. Der ausgelassene und fröhliche Klang der Gesangstimmen indiziert eine Affirmation der Schwelle zwischen der Protagonistin in der Gegenwart und den Menschen, die sie in der Vergangenheit verloren hat. Die Geste, das alte Lied des Liebsten zu wiederholen, deutet auf die Bejahung der Schwelle bzw. der Zone des Übergangs, in der das Leben ins ewige Nachleben übergeht, und die gleichzeitig die Bejahung des Zwischenraums zwischen Menschen der Vergangenheit und Menschen der Gegenwart ist.

2-6. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTEN 4: E IN ALTES L IED WIEDERHOLEN Isabellas Zimmer ist ein Erinnerungsort bzw. ein Treffpunkt der Toten und der Lebenden. Dieser Ort ist die Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, weil er die kitschige Vergangenheit in die »schöne Ewigkeit« übergehen lässt. Der Treffpunkt wird im Lauf der Geschichte zwar durch Unglücksfälle und »Lügen« gefährdet, doch hört Isabella nicht auf, die Menschen, die durch »Lügen« ihr Leben verderben, anzusprechen, ihren Stimmen zuzuhören, ihr Lied zu wiederholen. Diese stimmliche Geste Isabellas hält den mehrfach gefährdeten Treffpunkt zusammen. Das Lied der Vergangenheit Song for Budhanton wiederholt sich im Stück zweimal, aber durch Isabellas Auslese aus der Vergangenheit und ihr Jasagen zur ewigen Wiederkehr des Gleichen verwandelt sich das alte Lied in ein Lied der Ewigkeit. Das Lied wird auf der Bühne feierlich zelebriert: Alle Performer lächeln dem Publikum zu und zeigen mit rhythmischen Körperbewegungen offen ihren Genuss am Singen. Die feierliche Atmosphäre breitet sich im gesamten Hörraum aus und der Refrain bleibt auch

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nach der Aufführung in den Ohren, sodass das Publikum das Lied dem Gefühl nach weiter mitsingen könnte. Die Frage ist: Was für ein Verhältnis entsteht dabei zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne? Erika Fischer-Lichte hält die Schwellenerfahrung im Theater nach der performativen Wende für wesentlich und benennt diese Erfahrung mit den Stichwörtern »Liminalität und Transformation«. 42 Sie betont damit die Transformation der Zuschauer und der Performer, wobei die Rollen während der Aufführung wechseln oder aber beide Gruppen sich in Mitglieder einer Gemeinschaft verwandeln. Der Begriff der Liminalität wurde von dem Ethnologen Victor Turner geprägt und basiert auf der Ritualforschung von Arnold van Gennep. Als einen der wesentlichen Mechanismen der Liminalität in den Ritualen benennt Turner in der Zusammenfassung FischerLichtes die »Momente von communitas, die er als gesteigertes Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen«.43 Ist diese communitas auch in »Isabellas Zimmer« zu finden? Das Lied vom Anfang des Stückes, das sich am Ende wiederholt, der Song for Budhanton, wird von unaufgeregten Stimmen gesungen: Das Lied selbst besteht nur aus einem Refrain, hat keinen Höhepunkt und trägt durchgehend eine gelassene Stimmung. Die Gelassenheit kann mit Martin Heidegger als »Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein«44 verstanden werden. In dem feierlichen Lied ist nicht nur das Ja zu vernehmen, sondern es hallt in ihm auch gleichzeitig das Nein wider, das sich gegen eine kritiklose und totale Verschmelzung der Menschen richtet. Im Zuschauerraum hört man – nachdem man mit den anderen in »Isabellas Zimmer« gewesen ist – dieses gleichzeitige Ja und Nein. Erst das Nein erzeugt das Ja zur Erinnerung bzw. zur Versammlung an einem Treffpunkt. Die Zuhörer des in gelassener Stimmung gesungenen Liedes treten nicht in die Vergangenheit ein, sondern sie bleiben an der Schwelle, indem sie zugleich die Vergangenheit zurückkehren lassen. Dieses gemeinsame Singen des Liedes, dem sich in der letzten Szene alle Mitwirkenden anschließen, kann man als das Bild der erwähnten communitas wahrnehmen. In »Isabellas Zimmer« trifft sich die Besitzerin die-

42 Fischer-Lichte, 2004, S. 305. 43 Ebd, S. 306. 44 Heidegger, 2014, S. 23.

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ses Erinnerungsortes am Ende indessen nicht mit realen Personen, sondern mit einer Figur, die aus ihrer Lüge geboren ist: »Der Mann, der aus einer Lüge geboren wurde: Mein Wüsten-Prinz. Er wird immer da bleiben. Nicht wie Anna, Arthur, Alexander und Frank: gegangen. Für immer. Er ist der Einzige, der noch existiert, mein Wüsten-Prinz. Selbst ohne meine Kamera sehe ich ihn kristallklar: Felix. F.E.L.I.X. Und das bedeutet ›Glück‹ in einer toten Sprache. Betrug und Täuschung.« (57)

Zwar ist diese Figur, Felix, nach dem Vater des Regisseurs benannt, aber der Name bezeichnet keine konkrete Person mehr, sondern er verändert seine Bedeutung, indem er in einer »toten Sprache« gelesen wird (und nicht so sehr in der realen lateinischen Sprache, in der felix nicht »Glück«, sondern »der Glückliche« bedeutet). Ebenso bezeichnet auch das Subjekt des Liedes, »we«, keine konkreten Personen mehr, sondern das durch »das gleichzeitige Ja und Nein« herausgebildete »Glück«. Die fröhlichen Gesangstimmen gehören also nicht mehr einzelnen Individuen, sondern dem aufgeführten »Glück«, das nur nach dem Tod bzw. dem Nein entsteht. »Wir« werden in diesem Lied in Stimmen lokalisiert, die niemandem gehören, sondern in eine Allegorie des Glücks verwandelt sind. Es ist diese durch die Wiederholung eines alten Liedes erzeugte, stimmliche Allegorie des »ewigen Glücks«, die den Erinnerungsort »Isabellas Zimmer« zusammenhält. Der Ort, an dem sich in einer persönlichen Geschichte die Vergangenheit und die Gegenwart versammeln, ist also in dieser Allegorie des Glücks territorialisiert, die aus der Wiederholung des alten Liedes bzw. aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit Gelassenheit »ausgelesen« wurde.

3. Der Lobstershop: Globale Geschichte. Zukunft

3-1. D ER L OBSTERSHOP

ALS GLOBALER

N ICHTORT

In der »Rue de Flandre«, einer real existierenden Straße in Brüssel, liegt das fiktive Restaurant »Der Lobstershop«. Der französische Straßenname bedeutet übersetzt »Flandern-Straße«. Die sich im Straßennamen spiegelnde Mischung zweier sprachlich, kulturell und politisch unterschiedener Räume verweist auf die Gesamtsituation Belgiens. Im Restaurant wird Hummer serviert. Neben dieser Delikatesse aus dem Meer werden im Stück Der Lobstershop immer wieder auch Szenen im und am Meer vorgeführt, dargestellt oder erzählt. Das ist weder Zufall, noch hat es einen romantischen Hintergrund; vielmehr zeigt sich hierin ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Restaurant und Meer bzw. eine unvermeidliche Beziehung zwischen Inland und Ausland. Auch der fremdsprachige, nämlich englische Name des Restaurants ist in diesem Kontext intendiert, zugleich handelt es sich jedoch um eine globale Sprache: Auf Niederländisch lautet der Titel des Stückes »De Lobstershop«, auf Englisch »The lobster shop«. Auf Französisch heißt das Stück zwar »Le bazar du homard«, aber das Wort »bazar« deutet einen orientalischen, also nicht inländischen Konsumkontext an. Das englische Wort »shop«, das als Name eines Restaurants recht seltsam klingt, assoziiert zudem den globalen Konsum.1 Wie erwähnt kann man mit dem Ethnologen Marc Augé Orte des globalen Konsums, wie es etwa Kaufhäuser oder Einkaufszentren sind, als

1

Vgl. Troung, 2007, S. 93.

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»Nichtorte« bzw. als nicht lokalisierbare Durchgänge charakterisieren, in denen Menschen und Dingen aus aller Welt verkehren. 2 Das Gebäude des Restaurants »Der Lobstershop« ist zwar in der »Rue de Flandre« lokalisiert, aber der Ort des Theaterstücks Der Lobstershop verliert nach und nach seine Kontur. Die Geschichte, die in diesem Restaurant beginnt, wird an verschiedenen anderen Orten fortgeführt, beispielsweise am Meer, im Zuhause des Erzählers, auf der Straße, in einem Krankenhaus. An allen diesen Orten erscheint ein Hummer oder hinterlässt, auf imaginierte und metaphorische Weise der/ein Hummer seine Spur. In die Geschichte gehen Menschen und Tiere aus aller Welt ein und verwirren jede kohärente Linearität. Der Lobstershop fungiert als ein globaler Nichtort, an dem man sich unvermeidlich der Globalisierung aussetzt.

3-2. M ONADISCHE E RZÄHLWEISE Während im ersten Stück der Trilogie, Isabellas Zimmer, die bereits vergangene Lebensgeschichte der Protagonistin Isabella, relativ linear erzählt wird, ist in Der Lobstershop, wo es um ein zwischen mehreren Figuren umstrittenes Ereignis geht, die Linearität der Erzählung auf zwei Arten völlig verworren. Zum einen sind die kausalen Zusammenhänge der Geschichte nicht selbstverständlich, sondern erschließen sich erst im Nachhinein.3 Ein erfolgreicher Professor der Genetik, Axel, der den ersten menschlichen Klon erschaffen hat, verliert seinen Sohn Jef. Dieser stirbt nach 354 Tagen im Koma. Der Verlust des Kindes führt zu einer Ehekrise zwischen Axel und seiner Frau Theresa und treibt Axel schließlich in den Selbstmord. Die Aufführung beginnt aber nicht mit einem Teil der Geschichte, sondern mit einem scheinbar völlig davon abgelösten Bild. Die Geschichte wird weder in kausaler noch in zeitlicher Reihenfolge erzählt; stattdessen wird eine anscheinend inkohärente Folge von Szenen gespielt oder erzählt, die uns dazu auffordert zu fragen, was für ein Ereignis eigentlich stattgefunden hat.

2 3

Vgl. Augé, 2011. Vgl. Lauwers, http://www.needcompany.org/en/sad-face-happy-face-a-trilogy »In a dream, time, space and place are interchangeable, and in art the beginning is not necessarily the beginning and an end is by no means self-evident.«

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Zum anderen wird jenes Ereignis aus den unterschiedlichen Perspektiven mehrerer Figuren erzählt. Jede Erzählung versucht, kausale Zusammenhänge zwischen der Anfangsszene und dem Tod des Sohnes herzustellen. Die Perspektiven der Erzählungen überschneiden sich zum Teil; dennoch wird die Vielfalt der Perspektiven keineswegs dialektisch aufgehoben, so dass auch am Ende keine lineare, authentische Geschichte entsteht. Ganz am Anfang der Aufführung hört man den Lärm von Seemöwen und sieht hinter der Bühne, die mit weißen, abstrakten Konstruktionen ausgestatten ist, einen Bildschirm, auf dem ein bärtiger Mann in einem Boot auf dem ruhigen Meer treibt. Vor dem Bildschirm treten sogleich alle Performer des Stückes auf: Hans Petter Dahl (Axel, Professor für Genetik), Grace Ellen Barkey (Theresa, Axels Frau), Tijen Lawton (Jef, Sohn von Axel und Theresa), Anneke Bonnema (Catherine, Psychiaterin), Benoît Gob (Vladimir, Lastwagenfahrer/Sir John Ernest Saint James, erster Klon eines Bären), Inge Van Bruystegem (Nasty, ein junges Mädchen), Julien Faure (Mo, ein sich Verwandelnder, z.B. Flüchtling, Kellner, Liebhaber von Theresa), Maarten Seghers (Salman, der erste menschliche Klon). Sie bilden Paare und summen zusammen einige konsonante Akkorde. Mit geschlossenen Augen halten sie den Körper des jeweiligen Partners in den Armen oder halten sich bei den Händen. Eine so harmonische Szene wird im weiteren Verlauf des Schauspiels nicht mehr zu sehen sein. Die Kombination der Paare ist zudem von ihren Rollen unabhängig. In der Anfangsszene wird also ein unmögliches Traumbild des gemeinsamen Wohlergehens gezeigt, das in den folgenden Szenen nicht mehr dargestellt werden kann. Es ist dabei völlig unklar, welcher Zusammenhang zwischen der Szene auf dem Bildschirm und den auf der Bühne versammelten Paaren besteht. Nach dem kurzen Summ-Gesang lösen sich die Paare einfach auf, und eine Frau (Anneke Bonnema) vermeldet in sachlichem Ton: »Act 1, Rue de Flandre«. Dann beginnt der Performer und Musiker Hans Petter Dahl, der Axel spielt, eine Szene zu erzählen, die keinen Zusammenhang mit seinem Sohn zu haben scheint: Er sei in seinem weißen Anzug ins Restaurant in der »Rue de Flandre« gegangen und habe einen Hummer bestellt. Aber ein Kellner (»Mo«, gespielt von Julien Faure) sei beim Servieren gestolpert, und die orangefarbene Hummer-Soße habe Axels weißen Anzug beschmutzt. Infolge des daraus entstehenden Konflikts habe man den Kellner schließlich entlassen. Der Kellner habe dann das Restaurant zerstört und sei

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Axel schreiend mit einem lebenden Hummer in der Hand gefolgt. Dabei habe er geschrien: »What does the lobster mean?« Was bedeutet der Hummer? Die Phrase bringt Axel dazu zu sagen, »dass dieser Satz eine ungeheure poetische Kraft besitzt, und die Antwort auf diese Frage wird nicht einfach sein« (62). Die Szene mit ihrer extravaganten Kombination von Elementen – der starke Kontrast zwischen trockenem Weiß und nassem Orange, die Feierlichkeit des Delikatessen-Restaurants und dessen Einsturz, der wütend rennende Kellner mit dem lebenden Hummer in der Hand – lässt sich nicht einfach interpretieren, aber sie besitzt eine poetische Kraft, wie sie etwa im Surrealismus, Dadaismus oder Magischen Realismus zu finden ist. Hans Petter Dahl erzählt die Szene nicht nur sprachlich, sondern singt dabei hin und wieder auch zu musikalischer Begleitung. So erinnert er sich an eine Szene mit Musik: »Er [der Kellner] begleitete mich zur Toilette und versuchte, das Missgeschick wiedergutzumachen. Ich las ›Nicht an den Duftsteinen lutschen‹, sah mich im Spiegel und wendete mich ab. Dann bemerkte ich Musik.« (61) In diesem Moment ertönt elektronische Musik. Dann setzt Dahl seine Erzählung mit einer melodischen Gesangstimme fort, obwohl seine Worte sich nicht reimen. Dahl benimmt sich in seinem weißen Anzug mit silbernen Dekorationen eher wie ein Sänger als wie ein Schauspieler: Sein Blick, seine Stimme und sein Körper richten sich an das Publikum. Indem er das Publikum anspricht und für es singt, stellt er weniger die erzählte Szene plastisch dar als dass seine Gesten des Erzählens vielmehr unterhaltsam wirken. Mit einer übertrieben theatralischen Gesangstimme erklärt er die chaotische Situation: Können Sie sich das vorstellen: Ich stehe da in der Restauranttoilette mit meiner nassen und schmutzigen Hose, mit einem Kellner, der mich anbettelt, ihn nicht zu verraten, da er sonst seinen Job verlieren würde, weil er bereits zum dritten Mal beim Servieren eines Hummers gestolpert ist [...] (61)

Dahls Gesangstimme färbt die extravagante und erbarmungswürdige Situation so theatralisch, dass der Widerspruch zwischen der Stimmung der erzählten Szene und der Stimmung der erzählenden Stimme unter den Zuhörenden Lachen auslöst. Zudem werden manche Stichworte auch dadurch hervorgehoben, dass in den mitlaufenden Untertiteln auf dem Bildschirm die Schrifttype manchmal groß, fett, kursiv oder dekorativ wird. Die Unter-

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titel können so als nicht bloß informativ, sondern vielmehr, ähnlich wie die Gesangsstimme, als ein ästhetisches Element wahrgenommen werden, das mit anderen Elementen zusammen feierliche, amüsante oder ironische Stimmungen hervorruft. Was in der Anfangsszene geschieht, ist zwar nicht logisch nachvollziehbar, überzeugt aber in seiner Ästhetik. Den logischen Zusammenhang der Anfangsszenen wird erst später die Psychiaterin Catherine plausibel interpretieren; gleichzeitig wird dabei jedoch ihre eigene Rede mehr als fragwürdig erscheinen. Nach Dahl übernehmen die drei Performerinnen – Anneke Bonnema, Grace Ellen Barkey und Inge Van Bruystegem – die Erzählung und auch die ans Publikum gerichtete Sprechweise Dahls. Ihr Erzählen geht oft ins Singen, Tanzen, Lachen und Schreien über, was nicht nur den Inhalt, sondern mehr noch den Akt des Erzählens zu einem genussvollen Erlebnis macht. Später treten sie auch in ihren eigenen Rollen auf: als Psychiaterin Catherine (Bonnema), als Axels Frau Theresa (Barkey) und als Prostituierte Nasty (Bruystegem). Sie stehen der Handlung nicht als Dritte neutral gegenüber und mischen sich in die Geschichte ein. Sie nehmen nacheinander die Erzählungen der anderen auf und ergänzen angeblich weitere »Tatbestände« und Folgen der Ereignisse. Die Psychiaterin erzählt: »Kurz vor seinem letzten Atemzug begriff Axel, warum Mo mit dem Hummer gestolpert war. Mo hatte ihn erkannt. Mo war überzeugt, dass der Mann am Strand tot war, und fuhr daher vor Schreck aus der Haut, als er ihn lebend und gesund im Restaurant sitzen sah.« (63) Die Zuschauer können erst jetzt vermuten, dass der Mann auf dem Bildschirm aus der Anfangsszene Mo als Bootsflüchtling gewesen sein muss. Obwohl die Kombination der Elemente in der Szene im und beim Restaurant höchst ungewöhnlich und fast surreal ist, scheint in der Erzählweise die Begegnung der Männer, die zusammen sterben werden, bereits von Anfang an vorherbestimmt. So wird eine poetische Szene aus kontingenten Ereignissen, im Nachhinein im Sinn einer prästabilierten Harmonie gezeichnet, in der jedes Individuum aus seiner Perspektive dieselbe Welt spiegelt bzw. ausdrückt.4 Die Figuren von Der Lobstershop spiegeln bzw. präsentieren das Gesamtereignis. Dabei scheint es möglich, dass trotz der Verschiedenheit der

4

Vgl. Kapitel 1-3. »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« der vorliegenden Arbeit.

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Perspektiven die erzählten Geschichten in einer Welt zusammen und gleichzeitig harmonisch verwirklicht werden, was Leibniz ihre Kompossibilität nennen würde.5 Jedoch wird zugleich die Disharmonie zwischen ihnen immer wieder offenbar. Die im Nachhinein gebildete Kompossibilität der Erzählungen wird stets von wieder anderen Stimmen in Frage gestellt, so dass immer noch andere Welten hörbar und sichtbar werden. Die Kompossibilität kommt nur dadurch zustande, dass einige Stimmen zum Sprechen auserwählt und die sonstigen Stimmen mundtot gemacht werden. Von allen Figuren erzählt die Psychiaterin Catherine am meisten und anscheinend auch am glaubwürdigsten. Wie einst der berühmte Psychiater Sigmund Freud befragt sie die vermeintlichen »Patienten«, die inkohärente Träume erzählen. Sodann kommentiert und interpretiert sie deren »Träume«. Beispielsweise behauptet die Psychiaterin, die Aussagen Axels basierten auf einer »Lüge« sei. Doch Axels Sohn Jef widerspricht ihr sogleich: CATHERINE Aber natürlich war alles eine große Lüge: Sein Herz wurde allmählich von Schuld zerfressen. […] Vielleicht hätte er seinen Sohn retten können. Vielleicht hätte sein Sohn überhaupt nicht sterben müssen. JEF Ich bin nicht tot. Ich lag fast ein Jahr im Koma. Er kam mich nie besuchen, nicht ein einziges Mal. (70)

Jef lebt nicht mehr und lebt doch noch. Das scheint ein Widerspruch, könnte aber dennoch wahr sein. Denn es ist fragwürdig, ob, wann, wie und in welchem Sinn Jef, der im Koma liegt, gestorben ist. Das suspendierte Sterben lässt die beobachtenden Perspektiven voneinander divergieren. Und der Gott, der nach Leibniz mit der prästabilierten Harmonie die beste Welt auswählt, zaudert und steht still.

3-3. D IE M ETAPHER DES H UMMERS : D IE V ERBINDUNG MIT DEN M UNDTOTEN Die Harmonie und Disharmonie im Lobstershop zeigen sich nicht nur in der Erzählweise, sondern auch in einer metaphorischen Figur, nämlich dem

5

Vgl. Deleuze, 2000, S. 99f., sowie Leibniz, PS, Band 7, 1961, S. 195 und S. 289-291.

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»Hummer«. Während des ganzen Aufführungsverlaufs wird das Wesen mit der harten Schale und den zwei Scheren niemals optisch und real dargestellt. Der Hummer tritt nur als Imagination in den Erzählungen und den Gesprächen auf. Dabei wandelt sich im Verlauf der Erzählung das imaginierte Bild des Hummers. Zuerst tritt er als servierte Meeresfrucht auf, dann aber als erster menschlicher Klon Salman bzw. in Form einer Metapher: THERESA Zu seiner großen Verwunderung stellt Salman fest, dass seine Haut anfängt, sich zu verhärten. Er verwandelt sich allmählich in einen Hummer. JEF Warum einen Hummer? MO Yes, Why? CATHERINE Nun, das ist eine Metapher ... MO Aha. (72)

Was diese Metapher bedeutet, möchte ich nun analysieren. Der Hummer, den der Kellner Mo aus dem Restaurant mitgenommen hat, verbindet den russischen Lastwagenfahrer Vladimir mit Salman, der von Axel geschaffen wurde. Theresa erzählt: »Vladimir und Salman schauen einander direkt in die Augen. Ein Schaudern geht durch beide Körper. Sie erkennen, dass sie durch den Hummer immer miteinander verbunden bleiben werden. Und dieser Gedanke macht sie glücklich.« (66) Die durch den Hummer verbundenen Männer haben beschlossen, das Tier zum Meer zurückzubringen. Axel und Mo begleiten die beiden. Die vier Männer liegen am Strand und beobachten, wie der Hummer ins Meer zurückkehrt. Theresa beschreibt, wie die Männer in diesem Moment harmonisch mit der Welt verbunden waren: THERESA Es ist eine schöne Szene. Der Mond, der Wind und die Felsen. Das Meer in der Ferne. Die Männer, die dort liegen. Unbeweglich. Alles wird eins. Der Mond und das Wasser, der Sand und die Felsen, die Männer und die Dunkelheit. Verbunden durch den Hummer. Können Sie sich das vorstellen? Verbunden durch Zeit und Raum in alle Ewigkeit. (71)

Die Schauspielerin Barkey spricht, als wäre sie tief gerührt, indem sie die Augen schließt, den Kopf leicht zum Himmel richtet und die Arme weit ausstreckt. In dem imaginierten Raum verbreitet sich leise elektronische Musik mit hellen Tönen, die das Flimmern und Glänzen der Sterne und de-

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ren kosmische Einheit assoziiert. Der Hummer bindet die zufällig zusammengetroffenen Männer, deren Beziehung aber nun schon prästabilisiert und kompossibel scheint, aneinander. Der Hummer kann aus der Beschreibung Theresas als eine Metapher der sinnlichen und sinnhaften Verbindung verstanden werden: Nicht nur in der emotionalen Verknüpfung zwischen den Männern, sondern auch in der Kompossibilität ihrer Perspektiven auf die Welt, die ihre Verbindung ermöglicht. Die Erzählerinnen, die wie Theresa mit geschlossenen Augen sprechen, beschreiben nacheinander, wie die Männer während der Flut auf romantische Weise gemeinsam sterben. Der Hummer ist eine Metapher der Verbindung. Er bindet die Perspektiven der Figuren aneinander, die die Ereignisse spiegeln, und eine Konstellation von Welt schaffen. Die kosmische Harmonie wird aber durch die Frage eines Fremden, des atheistischen Flüchtlings Mo, unterbrochen. Mo erhebt sich als Einziger und fragt, »Nous noyons? (Wir ertrinken?)« Seine Frage unterbricht die harmonische Atmosphäre und stoppt die kosmische Musik. Der Hummer verbindet nicht nur Menschen miteinander, sondern auch sinnlichen Ausdruck und sinnhaften. In einem Kapitel des Buchs Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Felix Guattari ist das Bild eines Hummers zu sehen. Dazu schreiben die Autoren, »Gott ist ein Hummer oder eine Doppelzange, ein double-bind.« 6 Damit zielen sie im Anschluss etwa an Michel Foucault und den Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev auf die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt. Die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt wird nicht wie die zwischen Signifikant und Signifikat im Rahmen eines Systems voraus gesetzt, sondern Ausdruck und Inhalt werden erst durch die jeweiligen Ereignisse verknüpft.7 Die Verknüpfung der

6

Deleuze/Guattari, 1992, S. 61.

7

»In einer Schicht gibt es überall Doppelzangen, überall und auf allen Seiten finden sich double-binds und Hummer, eine Mannigfaltigkeit von doppelten Gliederungen, die mal den Ausdruck und mal den Inhalt durchziehen. Bei all dem solle man Hjelmslevs Warnung nicht vergessen: die ›Bezeichnungen Ausdrucksebene und Inhaltsebene und überhaupt Ausdruck und Inhalt wurden im Anschluß an althergebrachte Vorstellungen gewählt und sind völlig arbiträr. Aufgrund ihrer funktionellen Definition ist es nicht zu rechtfertigen, gerade die eine dieser Größen Ausdruck und den andern Inhalt zu nennen und nicht umgekehrt. Sie sind nur dadurch definiert, daß sie wechselseitig solidarisch sind, und keine von ihnen kann darüberhinaus anders identifiziert werden.‹« Ebd, S. 66.

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Elemente in der extravaganten Anfangsszene kann auf diese Weise verstanden werden. Den Szenen fehlt zwar ein logischer Zusammenhang, aber sie werden sinnlich synthetisiert. Diese sinnliche Seite verkörpern vor allem solche Figuren, die mundtot8 sind: Salman, Jef, Mo und Wladimir. Salman, der geklonte Mensch, und Jef, Axels Sohn, stehen einander relativ nahe. Denn wenn auch mit unterschiedlichen Maßnahmen, wurden die Leben der beiden künstlich verlängert. Die Tänzerin Tijen Lawton, die Jef spielt, tanzt und spricht mit einem lebendigen Lächeln, obwohl Jef im Koma liegt. Bewusstlos wird er im Krankenhaus künstlich am Leben erhalten und wird schließlich sterben, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Salman hingegen war todkrank, aber er überlebte als Klonmensch mit zusätzlichen Genen. Dabei veränderte sich sein Verstand so sehr, dass er in eine Identitätskrise geriet. Beide befinden sich also in einem prekären Zustand zwischen Leben und Tod. In der ganzen Aufführung spricht Jef nicht viel. Wenn er aber spricht, will er vom Hummer reden und bringt die Geschichte immer wieder auf den Hummer zurück, obwohl dieser kaum in einem logischen Zusammenhang mit der Handlung steht und seine Rolle rätselhaft bleibt. Jefs wiederholte Behauptung »ich bin nicht tot« widerspricht den anderen und scheinbar den glaubwürdigsten Perspektiven, vor allem der der Psychiaterin. Die Erzählenden ignorieren Jefs Stimme oft, weil sie ihn nicht hören können oder wollen. Bemerkenswerterweise machen eben diese sprachlich Ignorierten beide Musik, die ab und zu, oft ohne Zusammenhang mit den Ereignissen, plötzlich vom Rand der Bühne her ertönt und so die Atmosphäre des gesamten Hörraums färbt. Salman bringt mit einer Gitarre rhythmische, heitere und feierliche Musik auf die Bühne, nach der die Performer zusammen singen und tanzen. Jef lässt am Klavier sentimentale Melodien erklingen. Ihr Spiel endet aber jedes Mal abrupt, was bei den Hörenden widersprüchliche Eindrücke hinterlässt: Die Musik lässt sie etwa in Trauer versinken, reißt sie dann aber wieder abrupt aus dieser Stimmung heraus. Jefs Worte erreichen die anderen Figuren zwar nicht, aber seine Musik kann sie beeinflussen und lässt die Zuhörenden den prekären Status seines Lebens erkennen, ohne diesen Status in seiner Vieldeutigkeit eindeutig zu interpretieren.

8

Im vorliegenden Kontext meine ich mit »mundtot sein«, dass die Rede weggehört, ignoriert und als Sprache ungültig wird, selbst wenn die betroffenen Personen ständig reden.

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Ähnlich wie Jef sind auch der Russe Vladimir und der Flüchtling Mo mundtot gemacht worden. Benoît Gob, der Vladimir und den geklonten Bären Ernest Saint James spielt, sowie Julien Faure, der Mo spielt, sprechen in der ganzen Inszenierung Französisch, während alle anderen Englisch sprechen. Die Sprachbarriere ist deutlich intendiert und markiert die beiden als Außenseiter in der Gemeinschaft. Axel zum Beispiel spricht Mo – den Liebhaber seiner Frau, der nur Französisch spricht – absichtlich auf Englisch an, weil er sich nicht mit ihm unterhalten will. Die fremdsprachigen Stimmen, die zu einer anderen Ordnung gehören und von den scheinbar authentischen Erzählungen divergieren, werden in der kompossibel erzählten Welt missverstanden oder ignoriert. Aber ihre Stimmen bleiben nicht unhörbar, sondern bringen deutlich eine Disharmonie in die Geschichte. Maarten Seghers schließlich, der Salman spielt, spricht merkwürdigerweise kein einziges Wort, obwohl seine Partnerin Nasty seine Sprachfähigkeit bestätigt. Die Mundtoten stehen alle außerhalb der kompossiblen Welt und bringen so in die Erzählung diverse andere Möglichkeiten der Geschichte mit ein.

3-4. W ORTLOSES L IED Axel und Theresa hören ab und zu Jefs Stimme und reagieren darauf, so als lebte ihr Sohn noch. Ihre Reaktion kann vor allem in einer Szene intensiv wahrgenommen werden, in der Theresa mit Jef tanzt und Axel mit Salman singt. Der Gesang und der Tanz werden wortlos aufgeführt und widersprechen den zuvor geäußerten Worten: Nachdem das Krankenhaus abgebrannt ist, in dem Jef im Koma liegt, behauptet Axel, dass das Brandunglück von Salman verursacht worden sei. Theresa kommentiert hingegen, dass Axel durch eine solche Behauptung in einer verkehrten Weise mit seinem Schmerz umzugehen versuche. Daraufhin widerspricht er ihr: »Das ist kein Schmerz mehr (It’s no grief) (82)«. Aber seinen eigenen Worten zum Trotz lässt er gleich darauf einen Schmerzhaften Gesang hören, zu dem Theresa und Jef miteinander tanzen und Salman ebenfalls singt. Auf der abgedunkelten Bühne wird ein Film gezeigt, in dem Hans Petter Dahl einsam am Strand steht. Gleichzeitig geht Axel zu Theresa auf Distanz. In die Stille hinein erklingt elektronische Musik mit künstlichen, starken Windgeräuschen, die die Luft zerschneiden. Axel und Salman be-

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ginnen eine harmonische Melodie so leise zu summen, dass sich die Stimmen im Windgeräusch beinahe verwischen. Die Melodie wiegt sich in einem langsamen Tempo und wirkt, als würde sie sich endlos wiederholen. Die Stimmen harmonieren unaufhörlich miteinander, obwohl die beiden keinerlei Blick- oder Körperkontakt zueinander aufnehmen. Axel schließt fest die Augen, verzerrt schmerzhaft sein Gesicht und singt allmählich lauter und leidenschaftlicher, sodass sein Summen in ein beinahe tierisches Heulen übergeht, ohne jedoch disharmonisch zu werden. An der rechten Seite der Bühne tanzt Theresa, auch sie mit schmerzhaft verzerrter Miene. Ihre Arme sind horizontal weit ausgestreckt, dann kratzt sie sich heftig die Brust und drückt die Arme gegen ihren Unterleib. Neben ihr tanzt Jef, der die Bewegung wiederholt und die Hände vor dem Gesicht schüttelt. Die Bewegungen der beiden zeigen vor allem ein Übermaß an Zentripetalkraft und ein Stocken der Zentrifugalkraft. Diese Art der Bewegung lässt die exzessiven Empfindungen und die Ohnmacht in der Darstellung des Schmerzes assoziieren. Theresa küsst und umarmt Jef leidenschaftlich, aber er lächelt und entschlüpft ihrer Umarmung. Trotz intensiver körperlicher Berührungen verpassen sie sich. Ebenso signifikant ist, dass die beiden dabei immer wieder auch Axel berühren: Vor allem Theresa sucht seine Nähe. Einmal klammert sie sich an seine Hand und küsst sie ungestüm, aber er reagiert darauf nicht mit Blicken oder Körperbewegungen, sondern lässt seine Stimme mit dem Schmerz der anderen resonieren. Der Schmerz, der von den anderen verursacht und von jedem stark empfunden wird, staut sich in jedem von ihnen an, ohne von den anderen verstanden zu werden.9 Im Hörraum des harmonischen Gesangs ruft der Schmerz auf andere Weise als in Form einer Einfühlung eine Resonanz hervor, die alle verbindet, ohne sie jedoch verschmelzen zu lassen. Diese unmögliche sinnliche Verbindung mit dem verstorbenen Sohn und mit einem geistig unzugänglichen Menschen ist allerdings nur in Abwesenheit der Psychiaterin Catherine möglich. Sie geht gleich zu Anfang der Szene an den dunklen Rand der Bühne und spricht nicht mehr. Hinter der Bühne bewegen sich nur bizarre Figuren: Nasty läuft im Handstand und spreizt dabei obszön die Beine. Der Bär wird

9

Diese ausweglose Einsamkeit ist auch auf dem Bildschirm zu sehen. Dort läuft parallel zum Geschehen auf der Bühne ein Film, in dem ein Mann an einem weiten Strand ganz allein gegen den starken Wind läuft, bis er in der Ferne verschwindet.

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in Unter- und Oberkörper zerlegt. Beide Hälften laufen bzw. schwanken getrennt voneinander umher. An dieser Stelle merkt man, wie die Figuren aus der psychisch gesunden, kompossiblen Welt austreten. Dabei geraten sie nach Eiichiro Hirata in eine Melancholie, in der der exzessive Schmerz über den Verlust des liebsten Sohns das Ich der überlebenden Eltern entleert.10 Die Melancholie, die hier gemeint ist, verleiht dem Toten ein künftiges Nachleben, indem sie die Gegenwart der Überlebenden entleert. In dieser melancholischen Szene sehen wir eine unmögliche Konstellation, in der die überlebenden Eltern ihren gestorbenen Sohn berühren, wenngleich die Einseitigkeit der Berührung deutlich ist. Die Vergangenheit und die Zukunft fallen in der entleerten Gegenwart zusammen. In der Realität unserer heutigen Welt stehen uns solche Szenen immer näher bevor. Jefs Tod war ein prekärer Lebensstatus vorangegangen. Auf die Frage, ob ein medizintechnisch künstlich verlängertes Leben ohne geistige Tätigkeit noch als menschliches Leben gelten kann, haben bioethische Debatten keine endgültige Antwort gefunden. Angehörige stehen vor der Entscheidung, ob sie einen geliebten Menschen sterben lassen oder weiter am Leben erhalten sollen. So erklärt Theresa im Stück, dass sie mit Axel schließlich beschlossen habe, Jef nicht länger künstlich am Leben zu halten. In einem Zeitalter hochentwickelter Medizintechnik drängt das menschliche Endstadium immer wieder nach einer Entscheidung über die Zukunft: über den Tod oder dessen technische Überwindung, die allerdings den Tod nur verschiebt. Angesichts einer solchen schwierigen Entscheidung zögert man auf eine zutiefst melancholische Weise. Vor einem im Koma schlafenden Körper können die verzweifelten Eltern keine Trauerarbeit leisten. Der schmerzhafte Gesang wird daher wie endlos wiederholt. Die verlängerten Todesstunden des Sohns können die Eltern in eine verfrühte Melancholie stoßen, aber auch noch nach dem Tod werden die Eltern sich zwanghaft fragen, ob ihre Endscheidung richtig war. Der Naturwissenschaftler Axel dagegen träumt von einer neuen menschlichen Zukunft mithilfe der Klontechnik und verlängert mit dieser Technik das Leben des todkranken Salman. Wie Axel die Klontechnik eine Technik für »körperlose Daseinsformen« nennt, so ignoriert er den neuen Körper; er lässt nur seine Gene übrigbleiben und verbessert sie mit »vor-

10 Vgl. Hirata, 2010, S. 245

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züglichen« Genen wie denen des genialen Gitarristen Jimi Hendrix. Mit den Genen Jimi Hendrix‘ spielt Salman anfangs Gitarre und harmoniert dadurch mit den anderen Figuren bzw. mit der kompossiblen Welt. Aber in der nun gezeigten Szene hebt er seine Hände und die Gitarre hoch und zeigt deutlich, dass er dieses Instrument nicht mehr spielt. Er singt nur noch. So wie Theresa und Jef zusammen tanzen, so harmoniert Salmans Stimme mit Axels Gesang, unterläuft aber eben dadurch die menschliche Vernunft in Axels Stimme. Sein schmerzhafter Gesang wird allmählich zu einem wortlosen und fast tierischen Heulen. Hier sehen und hören wir eine inkompossible Szene, die Szene eines double-bind, in der die normale Welt durch Melancholie ihre Wunden öffnet. Hier werden die diversen Welten aufgenommen, in denen die Mundtoten leben können. Nur in der inkompossiblen Szene kann gehört und gesehen werden, dass die Welten von Salman, Axel, Jef und Theresa miteinander – ohne in einer kosmischen Einheit zu verschmelzen – resonieren, indem sie vor der Entscheidung über Leben und Tod zaudern und in diesem Zustand des Zauderns heraus eine Mehrzahl von Möglichkeiten der Zukunft aufbewahren. Salmans Geste, beide Hände zu heben, und seine rote Jacke, die einzige intensive Farbe in der monotonen Bühnenausstattung, könnte man erneut mit einem Hummer assoziieren.11 Die unsichtbaren Scheren des Hummers verbinden die inkompossiblen Welten in dem Schmerz der geöffneten Wunde.

3-5. ATEMZÜGE

DES

N ICHTS

Nach der melancholischen Szene mit dem wortlosen Lied beginnt der letzte Akt, der die Geschichte von Salman und seiner Sexpartnerin Nasty erzählt. Salman benimmt sich hier, metaphorisch betrachtet, wie ein Hummer. Der Hummer hat zuvor die diversen Welten verbunden, aber, nachdem er in die kompossible Welt zurückgekehrt ist, zeigt er die Unmöglichkeit der Verbindung an. Salman, der keine Gitarre mehr hat, singt jetzt nicht einmal mehr, sondern er macht ekelhafte Grimassen, die mal qualvoll, mal obszön scheinen und die in der »normal« genannten Welt schwer zu verstehen sind. Die Psychiaterin Catherine tritt wieder auf und erzählt: Salman »betrachtete die Hummer, die im ›Lobstershop‹ mit fest zusammengebundenen Scheren

11 Die Szene ist auf dem Umschlag zum vorliegenden Band abgebildet.

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hockten und auf nichts warteten. « (84) Er nennt sich daraufhin der »Hummer-Mann«. Er zerstört die Stadt als Anführer einer Rebellion von jungen »Hummer-Leute[n], die T-Shirts mit der Aufschrift: ›Ich bin nicht‹ trugen« (84). Seine Partnerin Nasty erklärt ihre Beziehung so: »Wir verstanden einander vollkommen, da unsere Menschlichkeit auf mehrfache Weise zerstört worden war. Also zum Teufel mit Gefühlen.« (83) Ein solches Leben nennt Catherine »Zukunft ohne Seele« (89). Ihre Worte sind mit den folgenden Worten Theresas eng verbunden: »Langeweile: Das ist das Problem. Dein neuer Mensch stirbt vor Langeweile. Seine Langeweile ist so überwältigend, dass sie Autos explodieren und Dämme brechen lässt.« (89) Martin Heidegger bemerkt in seiner Analyse der Langeweile, dass der Mensch in der Langeweile durch den zögernden Zeitverlauf hingehalten und von den nichts bietenden Dingen leergelassen werde.12 Es gibt aber Heidegger zufolge nicht nur die durch Beschäftigungen ausgelöste Langeweile – z.B. durch die Lektüre eines Buchs, einen Film oder ein Gespräch – , sondern auch die »tiefe Langeweile« als »das ›es ist einem langweilig‹«. Im Zustand der tiefen Langeweile wird nach dem uneingestandenen menschlichen Dasein gesucht. Zu dieser Analyse Heideggers meint Giorgio Agamben, dass der Mensch sich in der Langeweile den Tieren nähere und an die Schwelle zwischen Menschlichkeit und Animalität trete. Gerade darin sieht er den Kern der »Menschlichkeit« in seinem Sinn.13 Am Ende bleibt Salman, der widerwärtige, emotional wie rational schwer zu verstehende Fratzen zeigt, allein auf der Bühne. Der »Hummer« vom Lobstershop bedeutet nun nichts im Sinn von Heidegger und Agamben. Immer wieder aber sieht man zwischendurch andere Gesichtsausdrücke Salmans – flehende oder verzweifelte Blicke – und hört seine markanten, schwer keuchenden Atemzüge in der Stille. Die Atemzüge können weder als eine redende Stimme noch als ein Schweigen vernommen werden, das nach der Germanistin Claudia Benthien auch beredt ist.14 Sie bedeuten zwar nichts, aber sie lassen das Dasein des Keuchenden deutlich vernehmen. Denn ohne eine Emotion imaginieren zu lassen, in die man sich einfühlen könnte, fordern seine Atemzüge die Zuhörenden auf, seinen Appell zu vernehmen. Die Zuhörenden verstehen ihn nicht im Sinn der üblichen

12 Heidegger, GA, Bd. 77, S. 157. 13 Vgl. Agamben, 2003. 14 Vgl. Benthien, 2006.

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Maßstäbe ihrer eigenen Welt, sondern sie werden aufgefordert, mit einem unverständlichen Lebewesen, das sich in einer schwierigen Lage quält, eine gemeinsame Zeit zu verbringen: Die letzte Szene, in der Salman allein auf der Bühne grimassiert, dauert mehr als eine Minute. Der Hummer-Mann Salman geht Schritt für Schritt, sehr langsam rückwärts. Die Bühne wird immer dunkler: es ist nun so still, dass die Atmosphäre gespannt ist. Ganz am Ende sind nur noch die Atemzüge zu vernehmen. Ohne verständliche, attraktive oder unterhaltsame Elemente müssen die Zuschauer/Zuhörer sich eine gewisse Weile diesem Appell aussetzen, ohne zu wissen, wann die sinnliche und spürbar lange Szene endet. Das Publikum hört in den Atemzügen die mundtoten Stimmen von außerhalb unserer Welt. Sie sind die Kehrseite des wortlosen Gesangs von Axel und Salman. Jetzt aber bringen diese Stimmen – wenn auch ohne melancholische Berührung – das Publikum selbst in den Zustand des Zauderns, angesichts der prekären Frage nach der Affirmation eines fremden Lebens und vor der schwierigen Entscheidung für das menschliche Zusammenleben. Die Atemzüge und Fratzen werden zu unserer eigenen Schwelle, die zwischen diversen, inkompossiblen Welten liegt und sie im double-bind verbindet.

3-6. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTE 5: Z AUDERN »Der Lobstershop« ist ein Ort, an dem sich nicht nur inländische Kunden, Verkäufer und Waren versammeln, sondern auch globaler Konsum betrieben wird. Er ist ein globaler Nicht-Ort. Der Hummer wird aus dem Meer in einen globalen, nicht-örtlichen Geschäftsverkehr eingespeist. Hier trifft man auf unbekannte, fremde Waren und Menschen aus der ganzen Welt. Die Geschichte des globalen »Shops« wird im Stück aber nicht allein aus Sicht der Konsumenten gezeigt, die ein besseres Leben wollen, sondern durch die Stimminszenierung der Mundtoten, die den verkauften »Hummern« beistehen, oder die sogar selbst »Hummer« sind. Betont werden hier die Stimmen der Konsumierten bzw. der Ausgebeuteten. Angesichts einer Zukunft mit Unbekannten – nicht mit den Liebsten wie in Isabellas Zimmer – bzw. mit unvorstellbaren Wesen, die man nicht mit dem gewohnten Wissen verstehen kann, muss man zaudern. Dem späten Heidegger zufolge

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kommt die Zukunft auf uns zu, sie wird nicht vor-gestellt:15 Zukunft ist unvorhersehbar und folgt selten einem Entwurf. Im Lobstershop stoßen Menschen auf unvorstellbare Fremde, die uns nach der Möglichkeit des Zusammenlebens in einer globalisierten Welt fragen. Die Fremden am globalen Nicht-Ort wurden zwar mundtot gemacht und können nicht verstanden werden. Aber ihre Stimmen werden vor allem in zwei Szenen sinnlich intensiv spürbar: im wortlosen Lied und in den Atemzügen des Nichts. Die sinnlich wahrnehmbaren Stimmen verbinden wie der Hummer inkompossible Welten, aber sie schmelzen nicht alle zu einer einheitlichen Gemeinschaft zusammen, sondern verbinden die Welten in einem double-bind. Dabei erscheint eine gemeinsame globale Zukunft nicht einfach vor uns, sondern sie erschließt sich nur im Zaudern vor der Entscheidung über die gemeinsame Zukunft. Das wortlose Lied von Axel und Salman stellt das Zaudern der Eltern dar, die vor der schwierigen Entscheidung in der letzten Lebensphase ihres Sohnes zaudern. Währenddessen lassen die lautlosen Atemzüge und die Grimassen des »HummerMannes« Salman die Zuhörenden/Zuschauenden selbst ins Zaudern geraten. In der theatralen Gegenwart werden wir nun zur Entscheidung über die gemeinsame Zukunft gezwungen, die real geschehen bzw. auf uns zukommen könnte. Wie die topologische Stimmgeste, ein altes Lied zu wiederholen, Resonanz auf der Seite der Zuhörenden bewirken kann, wird die topologische Stimmgeste des Zauderns nicht allein von den Performern dargestellt, sondern die Zuhörenden werden in eine Situation des Zauderns gestürzt. Maarten Seghers, der den Hummer spielt, stellt in der letzten Szene zugleich die Allegorie jener Zukunft der globalisierten Welt dar, die uns immer als etwas Fremdes zuvorkommt, das die gängigen Regeln des Zusammenlebens und die vorherrschenden Moralvorstellungen überschreiten wird. Seghers’ extravaganten Fratzen, die Verdunkelung des Theaterraums und die Stille auf der Bühne assoziieren die Fremdartigkeit der Zukunft, deren Unverständlichkeit die Zuschauenden/Zuhörenden ängstigt. Gleichzeitig sehen sie aber zwischen den Grimassen die flehenden Blicke und hören in der Stille die Atemzüge, die Salmans Willen zum Leben spüren lassen und einen Appell an sie richten. Die groteske Fratze und die Atemzüge spalten den Affekt und die Emotion der Zuhörenden; sie stoßen das Publikum ab und ap-

15 Vgl. Heidegger, 2014.

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pellieren zugleich an es. Das Gefühl verliert aber durch diese Spaltung nichts von seiner Kraft, ja es wird sogar stärker. So erzeugt Seghers affektive und emotionale Kräfte, welche die Zuhörenden/Zuschauenden in Der Lobstershop in Zaudernde verwandeln. Die affektive und emotionale Verwandlungskraft, die auf die Zuhörenden/Zuschauenden ausgeübt wird, ist viel stärker als in Isabellas Zimmer. Die Zuhörenden/Zuschauenden werden durch die appellierende Stimmgeste zu Zaudernden. Wie kann aber eine Stimmgeste die Zuhörenden in Zaudernde transformieren? Und was ist die starke Kraft, die bei einem solchen Zaudern spürbar wird? Diesen Fragen möchte ich anhand einer Erläuterung der performativen Funktion der Geste nachgehen. Die performative Funktion der stimmlichen Geste erklärt Doris Kolesch nicht mit dem »Verhältnis von Mittel und Zweck«, sondern mit der »Relation von Bedingung und Konsequenz«.16 Sie wechselt somit die Perspektive, aus der man die Geste analysiert. Die Wirkung der Geste wird nicht als Zweck in Bezug auf ein Mittel postuliert, sondern sie wird als Konsequenz aus den jeweiligen Bedingungen betrachtet. Auf diese Weise erklärt Kolesch, wie die Geste performativ wirksam wird: »Unter Wirksamkeit verstehe ich [...] nicht die effektive Anwendung bestimmter Strategien, Ideen oder Konzepte, sondern die Ausbeutung des Potentials einer Situation.«17 Durch die Geste können die Bedingungen der Situation vorbereitet werden, so dass es performativ zu einer eindeutigen Konsequenz kommt. Die Zaudernden in Der Lobstershop stehen allerdings in einer Situation, in der gegensätzliche Kräfte aufeinanderprallen. Dieser Zusammenstoß übt auf die Zuhörenden/Zuschauenden einen starken Einfluss aus und verwandelt sie in Zaudernde. Anhand der Überlegungen des Germanisten Josef Vogl findet Eiichiro Hirata in der theatralen Situation des »Zauderns« den Moment, in dem Kräfte kollidieren, die ein Geschehen präsentieren und dieses zugleich abwesend machen. Die Situation befindet sich dann in einem momentanen Gleichgewicht und kommt scheinbar zum Stillstand.18 Das Zaudern wird durch eine unsichtbare Dynamik gegensätzlicher Kräfte

16 Kolesch, 2002, S. 155f. mit Bezug auf Jullien, 1999. S. 82. 17 Ebd. 18 Vgl. Hirata, 2016 sowie Vogl, 2008.

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bewirkt, so dass die Zaudernden stillstehen und nichts mehr zu passieren scheint. Am Ende von Der Lobstershop wirkt einerseits eine emotionale Transformationskraft, die uns dazu auffordert, auf die Appelle der Mundtoten zu reagieren; andererseits wirkt auch die affektive Kraft, die jede konkrete Vorstellung davon, wie wir darauf reagieren sollen, zunichtemacht. So entfalten sich in einer Szene des Zauderns zwei gegensätzliche Kräfte gleichzeitig, ohne dadurch unwirksam zu werden. Solange beide Kräfte wirken, wird das performative Entstehen einer eindeutigen Konsequenz immer weiter verschoben. Die Zaudernden werden von den aufeinanderprallenden Kräften erfasst und oszillieren in einem Prozess der Transformation, die allerdings auf kein Ziel hin strebt. Das ist die Kraft des doublebind des Hummers. Die Situation des Zauderns zwingt die Zuhörenden zu einer Entscheidung, die immer wieder hinausschoben wird. Solange sie aber zaudern, gehören sie zu einer Gemeinschaft, die einer globalen Zukunft gegenübersteht, ohne sich diese Zukunft jedoch schon vorstellen zu können. »Der Lobstershop«, dessen Name den globalen Verkehr in einer fremden Zukunft allegorisiert, erscheint durch die Stimmgeste des Zauderns als (Nicht-)Ort der globalen Zukunft. Über den Versammlungsort »Lobstershop« berichten verschiedene Stimmen – vor allem die der Psychiaterin Catherine – nacheinander in ganz unterschiedlicher Weise. Aber die entscheidenden Berichte bleiben ungesagt. Die Stimmen der »Mundtoten« treten durch die topologische Stimmgeste des Zauderns hervor. Diese Stimmgeste ihrerseits entsteht durch zwei grundlegende Stimmgesten: die des gestischen Schauspielers und die der Sprechmaschine. Die Stimmgeste des gestischen Schauspielers vermag es, bei den Zuschauern soziale Emotionen zu erregen, Emotionen, die uns dahin bringen, mitleiden, jemandem helfen oder ihn verstehen und in die eigene Gemeinschaft einladen zu wollen. Diese Stimmgeste ist vor allem in der Szene zu erkennen, in der das wortlose Lied gesummt und gesungen wird. Die Gesangsstimmen machen die Schmerzen der Einsamen deutlich, die die Hörenden nachvollziehen können. Die so wirksam vermittelten Schmerzen werden allerdings sogleich durch die nüchterne Ankündigung eines Szenenwechsels beseitigt; das Schauspiel wird als solches offen dargestellt. Die Stimmgeste der Sprechmaschine nun, die mit einem zivilisierten Verstand nicht mehr zu begreifen ist, sucht den Hörenden heim, indem

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sie Affekte hervorruft, in denen wir uns vor dem Unverständlichen fürchten und die Orientierung verlieren; zugleich lässt sie die Bejahung des Lebens durch die Fremden deutlich spüren. Diese Stimmgeste liegt vor allem in der letzten, wortlosen Szene vor. Die keuchenden Atemzüge von Maarten Seghers lassen seinen Appell: »Ich bin da!« vernehmen, der allerdings je nach seiner Miene und Bewegung anders zu hören ist: Sehen wir die groteske Fratze, klingen die Atemzüge bedrohlich; sehen wir flehende Blicke, fühlen wir mit, obwohl sich die Atemzüge akustisch nicht geändert haben. Der Atem, der noch in der Finsternis ertönt, fordert die Zuhörenden zur Entscheidung darüber auf, wie sie auf den Appell reagieren werden.

4. Das Hirschhaus: Gemeinschaftliche Geschichte. Gegenwart

4-1. D AS H IRSCHHAUS

ALS

Z UHAUSE

Am dritten Ort der Trilogie, dem »Hirschhaus«, sammelt sich nicht nur eine Familie, die das »Haus« begründet hat, sondern auch Immigranten, die aus verschiedenen Gründen gekommen sind und weiter bleiben wollen. »Das Hirschhaus« ist also ein Zuhause, das nicht nur eine Gruppe von Verwandten bewohnt, sondern das in einer globalisierten Zeit – wie schon in Der Lobstershop gezeigt – Menschen aus aller Welt beherbergt. Das Haus wird von keiner geschlossenen, homogenen Gemeinschaft bewohnt, sondern von einer stets offenen Gemeinschaft, deren Mitglieder nicht miteinander vertraut sind, sondern einander neu begegnen. In dieser Gemeinschaft kommt es häufig zu Kollisionen. Denn sie hat keine gemeinsame Muttersprache, Kultur noch Geschichte, auf der sie gründen könnte. In dem Stück werden solche Kollisionen in extremer Form dargestellt: Es thematisiert Kriegsopfer und die Verkettung der Rache. Daraus erhebt sich die Frage, wie Menschen trotz der unendlichen Verkettung von Rache, Hass und Krieg zusammenleben können. Gemeinsam ist ihnen nur die Gegenwart an einem Ort: dem »Hirschhaus«, in dem sie sich befinden. Hier lässt sich die »Gegenwart« sowohl zeitlich als auch räumlich – im Sinn der Präsenz oder Anwesenheit –verstehen. Das letzte Stück der Trilogie ist also ein Versuch, die Geschichte einer gemeinsamen Gegenwart zu erzählen, die miteinander kollidierende Menschen teilen. Das Stück präsentiert die Gegenwart allerdings nicht einfach als ein auratisches hic et nunc, sondern in der schillern-

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den Verflechtung von Imaginationen und eines vergangenen Ereignisses. In diesem Kapitel möchte ich analysieren, wie die Gegenwart des Versammlungsortes im Stück strukturiert wird.

4-2. V ERFLECHTUNG DER I MAGINATIONEN DES E REIGNISSES

UND

Die Verflechtung von Imagination und Ereignis kann im Lauf der Inszenierung verschiedentlich klassifiziert werden: als singuläres Ereignis, realisierbares Spiel und in Form potenzieller Imaginationen. Diese Verflechtung bildet die theatrale Gegenwart und Ort dieser Gegenwart, an dem eine theatrale Gemeinschaft entsteht. Zunächst wird die Struktur des Stücks skizziert, die auf den unterschiedlichen Variationen der Verflechtung beruht. Die Zuschauer lesen zu Beginn, dass der Bruder einer der Performerinnen im Kosovo erschossen wurde. »In 2001, the journalist Kerem Lawton, brother of Tijen Lawton (the dancer in the white top), was shot dead in Kosovo. We heard the news in the dressing room of a theatre somewhere in Europe. The diary mentioned in the play is fictional.«

Die schockierende und gravierende Information über das Ereignis im Kosovo wird den Verlauf des Stücks entscheidend beeinflussen. Das Stück kann wegen des Bezugs auf ein reales Ereignis geradezu als Trauerspiel bezeichnet werden,1 obwohl es durchaus nicht als Dokumentartheater, sondern als Fiktion aufgeführt wird. Mit Blick auf diese Diskrepanz weist Eiichiro Hirata auf, dass das Stück zwischen realem Ereignis und fiktivem Schauspiel fortwährend oszilliert. So hat sich das Publikum stets zu fragen, ob das heftige Weinen von Tijen Lawton, die tatsächlich ihren Bruder auf gewaltsame Weise verloren hat und im Stück die Schwester eines Kriegsopfers spielt, real oder gespielt ist. Wir Zuschauer werden demnach zwischen der Anwesenheit und der Abwesenheit des auf der Bühne dargestell-

1

Vgl. Hirata, 2016, S. 199f. sowie Müry, 2008, S. 26 und Ufermann, 2009.

4. D AS HIRSCHHAUS | 243

ten Ereignisses in der Schwebe gehalten.2 Dabei bleibt das reale Ereignis – der Tod des Fotojournalisten Kerem Lawton – auf der Bühne unvorstellbar und abwesend. Wir Zuschauer wie auch die anderen Performer auf der Bühne können das Gewicht des Ereignisses und den Schmerz seiner Schwester Tijen letztlich nicht nachvollziehen. Das Stück versucht, das Ereignis zu imaginieren, um die abwesenden Opfer und die schmerzhaft Trauernden zu berühren, allerdings ohne mit einer willkürlichen und selbstzufriedenen Imagination die Lücke auszufüllen. Um sich der im Grunde unmöglichen theatralen Berührung anzunähern, unternimmt das Stück eine Operation, die das reale, einmalige Ereignis zitierbar macht. Zur Erklärung dieser Operation erscheint mir die Analyse Maurice Blanchots hilfreich. Er findet im Tod eines Menschen die Singularität des Ereignisses: Wer einen Tod stirbt, ist nicht ich, sondern man. »Er [Der Tod] ist der Abgrund der Gegenwart, die gegenwartslose Zeit, zu der ich keine Beziehung habe, auf die ich nicht zustürzen kann, denn in ihr sterbe ich nicht, ich habe die Macht zu sterben verloren, man stirbt in ihr, man stirbt unablässig und hört nicht auf zu sterben.«3

Dieses man bedeutet nicht das man im Sinn Heideggers, das der Alltagsbanalität verfällt,4 sondern ist vielmehr im Sinn von Gilles Deleuze zu verstehen als »das man der unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten«5. Was im Theater gespielt werden kann, ist nicht der einmalige, konkrete Tod einer bestimmten Person, sondern der Infinitiv »sterben«, dessen Subjekt keine bestimmte Person mehr ist, sondern ein unbestimmtes Pronomen – man oder es. Deleuze versteht unter einem solchen Infinitiv das »Ereignis«. Es ist sowohl privat als auch kollektiv, sowohl besonders als auch allgemein, aber es ist weder individuell noch universell. Dadurch wird es möglich, das Ereignis zu zitieren und dadurch können sich die anderen Performer und Zuschauer darauf einlassen, ohne die unbegreifliche Lücke des Ereignisses auszufüllen oder auf selbstgefällige Weise den Moment zu repräsentieren. Dieses zitierbar gemachte Ereignis ist das singuläre Ereignis. Ein

2

Hirata, ebd., S. 197f.

3

Blanchot, 1991, S. 160.

4

Vgl. Heidegger, GA. Bd. 2, S. 168f.

5

Deleuze, 1993, S. 190.

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singuläres Ereignis des Sterbens wird somit als Infinitiv mit ins Spiel übernommen. Die darauffolgende zweite Szene spielt in einer Garderobe, in der die Mitglieder einer Theatergruppe in Trainingsanzügen ihren Auftritt vorbereiten, so wie Needcompany selbst es tut. Die Szene wird indessen mit einer gekünstelten Authentizität vorgeführt. Der Begriff »Authentizität« ist in diesem Kontext der Inszenierung als »Natürlichkeit« zu verstehen, als »ein Relationsbegriff, der nur unter Einbeziehung seiner polaren Oppositionen wie Künstlichkeit, Artifizialität oder auch geschichtliches Gewordensein verstanden werden kann«,6 und der »Effekt von – mehr oder weniger expliziten – Inszenierungsprozessen« ist.7 Die Inszenierungsweise verleiht den auf der Bühne gezeigten Ereignissen keine Glaubwürdigkeit, sondern sie betont die Verformbarkeit des Wahrscheinlichen. Es geht um die Imagination8 eines möglichen realen Alltags. Die Szene kann also nur in dem Sinn »authentisch« sein, dass eine Reihe aus den gespielten Ereignissen realisierbar ist. Die Figuren benehmen sich zwar wie in einer realen Garderobe hinter der Bühne und sprechen sich mit ihren realen Vornamen an: Tijen (Lawton), Grace (Ellen Barkey), Anneke (Bonnema), Hans Petter (Dahl), Viviane (De Muynck), Inge (Van Bruystegem), Maarten (Seghers), Benoît (Gob), Julien (Faure), Yumiko (Funaya) und Misha (Downey). Aber zugleich spielen sie auf der Bühne Rollen, die ausgehend von den Biografien der einzelnen Personen tatsächlich hätten entwickelt werden können. Im Gespräch mit den anderen erzählt Tijen von ihrer Reise zum Ort, an dem ihr Bruder verstorben sei. Sie erzählt aber nicht direkt von Kerem Lawton, sondern vom »Sterben« ihres Bruders im Krieg, mithin von dem Ereignis, das für singulär gehalten wird. Im Spiel überschreitet das Ereignis ihr persönliches Erleben, übernommen wird nur die syntagmatische Struktur des Ereignisses. Der verstorbene Bruder ist also nun nicht mehr der Bruder eines Ichs bzw. Tijen Lawtons, sondern der Bruder einer Rolle namens Tijen, deren Bruder Kriegsfotograf war und im Krieg erschossen wurde. In diesem realisierbaren Spiel wird das tatsächlich geschehene Ereignis nicht repräsentiert, sondern als ein nicht Repräsentierbares im Spiel gezeigt. Prä-

6

Kolesch, 2005, S. 220.

7

Ebd., S. 223.

8

Vgl. Kapitel 3-2 »Ästhetische Erfahrungen: Imagination, Affektivität und Körperlichkeit« in der »Hinführung« zu dieser Arbeit.

4. D AS HIRSCHHAUS | 245

sentiert wird also in dem realisierbaren Spiel nur das singuläre Ereignis, das kein einmalig bestimmtes Subjekt mehr hat. Tijen zweifelt auch daran, ob das Tagebuch, aus dem die Performer vorlesen und das sie in einer Tasche voller Fotos gefunden hat, tatsächlich ihrem verunglückten Bruder gehörte. Im Tagebuch finden sie das schockierende Geständnis, dass der Verfasser im Kampfgebiet eine Frau hingerichtet habe. Die Geschichte ist zwar möglich, aber niemand will sie glauben und vor allem Tijen kann sie sich in keiner Weise vorstellen. Die Performer vermuten, dass der Bruder, falls er wirklich eine Frau erschossen habe, zweifellos dazu gezwungen worden sei. Aufgrund der Unsicherheit über dieses real-irreale Ereignis versucht man gemeinsam, den Grund für das Ereignis zu rekonstruieren, und erfindet daraus die Geschichte vom »Hirschhaus«. Aus diesem Vorhaben geht die dritte Szene hervor, die nun vom »Hirschhaus« als einem fiktiven Ort handelt. Es spielen dieselben Performer, aber ihr Spiel ist im Rahmen der Imagination weiter radikalisiert. Sie tragen jetzt keine Trainingsanzüge mehr, sondern Pelzkostüme mit übergroßen künstlichen Ohren. Im Hintergrund, der sich hinter den Wänden der vormaligen Garderobe geöffnet hat, liegen Haufen künstlicher Hirschkadaver. Diese ihre Künstlichkeit deutlich hervorkehrende Bühnenausstattung hebt die Fiktionalität der Szene deutlich hervor. Sie spielen zwar noch unter ihren eigenen Vornamen, nehmen aber darüber hinaus andere Rollen an und fingieren so die Geschichte vom »Hirschhaus«. Hier sind die Rollen nicht mehr nur durch realistische Merkmale strukturiert. In den neuen Rollen behalten die Figuren zwar mehr oder weniger die Merkmale bei, die sie aus der vorigen Rolle übernommen haben, doch expandiert die syntagmatische Struktur des Ereignisses nun mithilfe der Imagination und entwickelt sich zu einer anderen Geschichte. Die Rollen werden so in eine neue Spielwelt mit hinzugefügten Fakten übersetzt, dass ihr Verhalten noch plausibel erscheint. Benoît spielt einen Kriegsfotografen, der gezwungen wurde, eine Frau, Inge, zu erschießen. Er besucht das Hirschhaus, in dem sein Opfer gewohnt hat. Ihn empfängt die Hauswirtin Viviane, Inges Mutter. Bei ihr wohnen ihre geistig behinderte Tochter Grace und die dritte Tochter Anneke, deren Mann Hans Petter und ihr Sohn Maarten. Zwei weitere Bewohner sind die Flüchtlinge Yumiko und Misha. Julien, der Mann der ermordeten Inge, trifft nun ebenfalls im Haus ein und tötet Benoît, den Mörder seiner Frau. Tijen, Benoîts Schwester, kommt zum Hirschhaus, um

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ihren Bruder zu suchen, der aber bereits tot ist. Die Geschichte vor und nach dem singulären Ereignis, dem Sterben des Kriegsfotografen, wird beredt imaginiert, und die Ursachen und Folgen des singulären Ereignisses werden trotz seiner Fiktionalität nachkonstruiert. In dieser Szene gilt es, mögliche Imaginationen zu (er-)finden. Im Lauf des Spiels zeigt sich aber, dass die Imaginationen das Ereignis des realen Sterbens auch verursachen können. Die Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind, und die Ereignisse, die in der Zukunft geschehen können, die aber noch nicht stattgefunden haben, sind im Moment der Gegenwart schon und noch abwesend. Daher erscheint hier die Vergangenheit als singuläres Ereignis, während das noch Zukünftige als mögliche Imagination gezeigt wird. Die Gegenwart, die im Stück erzählt wird, entsteht aus der Verflechtung der möglichen Imaginationen und des singulären Ereignisses. In den zwei folgenden Abschnitten möchte ich zunächst die besondere Darstellung der Gegenwart in diesem Stück genauer analysieren, um auf dieser Grundlage den Bezug zur räumlichen Ebene herzustellen.

4-3. U NFASSBARE M OMENTE DER E REIGNISSE UND DIE R EKONSTRUKTION DER G ESCHICHTE Im Stück suchen einige entscheidende Momente die Menschen heim, an denen die Geschichte unterbrochen wird und sich danach anders entfaltet. Diese kritischen Momente zeigen die Performer mit schweren Verletzungen oder sterbend, was zwar schon im nächsten Augenblick als bloß gespielt entlarvt wird, was sich aber auch in der realen Welt ereignen könnte. In diesen Momenten spaltet sich der gemeinschaftliche, gegenwärtige Ort »Hirschhaus« auf. Die Momente des Sterbens kommen zu schnell, ohne Aura, obwohl sie die Überlebenden am stärksten beeinflussen und die nachfolgende Geschichte in völlig andere Richtungen lenken. Der Fotograf Benoît, der Neuling, wird von Julien, einem Mitglied der Gemeinschaft, ermordet. Seine Ermordung wird aber nicht als eine notwendige Folge gezeigt, denn Benoît wurde trotz des bereits bekannten Konflikts von der Hauswirtin Viviane als ein Mitglied der Familie im Hirschhaus empfangen. Denn wie man erfährt, wurde er gezwungen, entweder Inge oder Inges Tochter hinzurichten. Inges Bitte folgend, habe er sie selbst erschossen, um das Leben der Tochter zu

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retten. Nach der Tat bringt er den Leichnam zu Inges Mutter Viviane, die ihn darum bittet, das Haus zu verlassen. Benoît erwidert, dass er gekommen sei, um ihr sein Leben anzubieten, weil er ihre Tochter getötet hat. Nach einer Zeit der Trauer nimmt ihn Viviane in die Familie auf. »VIVIANE Kommen Sie hierher, Benoît. Sei nicht traurig, Grace. Schau her. Schau her. Wer ist das? [GRACE I don’t know!] Du kennst ihn nicht. Er ist dein neuer Bruder, Benoît. Er kommt, um mit uns zu leben. Was sagst du dazu? ANNEKE Also kann er bleiben? [auf Niederländisch] VIVIANE Möchtest du ihn auch in die Bäume hängen? [auf Niederländisch] GRACE Hallo. Ich bin Grace. BENOÎT Ich bin Benoît. GRACE Ich finde, du bist schön. Ich werde mich gut um dich kümmern. Brennholz hacken und die Hirsche massieren.« (123f.)9

Grace, die geistig behinderte Schwester Inges, hat am Anfang jede Kommunikation mit Benoît abgelehnt, den sie nicht einmal ansah, aber schließlich freundet sie sich mit ihm an. Sie schütteln einander die Hände und lachen. Gerade in diesem Moment tritt Julien auf. Er sieht die Leiche seiner Frau und ist in großer Aufregung: »JULIEN Was ist passiert? Was habt ihr gemacht? Was habt ihr mit meiner Frau gemacht? [auf Französisch] GRACE Du musst still sein. Du solltest nicht so schreien. Sonst könnte sie sich wieder bewegen. HANS PETTER Sie wurde erschossen. Benoît hat sie hierhergebracht. BENOÎT Ich habe Ihre Frau getötet. [...] Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Aber zuerst sollten Sie wissen, dass Ihre Tochter in Sicherheit ist. [auf Französisch]« (124)

Noch während Benoît erzählt, bedrängt und ermordet ihn Julien. Alles geschieht so schnell, dass niemand es zunächst fassen kann. Während die bei-

9

Ich zitiere aus der deutsche Übersetzung, während in der Aufführung zum großen Teil auf Englisch gesprochen wurde. Nur wo in der Aufführung in einer anderen Sprache als der englischen gesprochen wird, markiere ich entsprechend.

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den anfangen miteinander zu raufen, beginnt Viviane zum Publikum zu sprechen: »VIVIANE [...] Stellen Sie sich vor: In intensiven Momenten wie diesen, wenn sich alles verändert, bleibt die Zeit stehen. Zum Beispiel, wenn eine Bombe explodiert. Das Haus explodiert, alle werden sofort getötet. Keiner findet je heraus, was passiert ist. Die Geschichte wurde weggeblasen. Krieg hat die Macht, so etwas zu tun. Krieg kann Geschichten zerstören und welche schaffen.« (124)

Der intensive Moment währt so kurz, dass es schwierig ist, hinterher davon zu berichten. Der Moment bleibt still und unsichtbar wie ein blinder Fleck in der Vergangenheit. Die Geschichte dieses Moments wird »weggeblasen«. Vivianes Wort entsprechend, dass der Krieg nicht nur Geschichten zerstöre, sondern sie auch erschaffen könne, häufen sich nun weitere Geschichten um das unfassbare Ereignis. Viviane setzt ihre Rede fort: »Lassen Sie es uns rekonstruieren. Stellen Sie sich vor, dass wir die Möglichkeit haben, diese Geschichte zu rekonstruieren, oder besser noch, ihren Hintergrund.« (124) Sie erzählt die Geschichte seit der Gründung des Hirschhauses, bis die Flüchtlinge Yumiko und Misha Teil der Familie wurden. »Gut. Mit diesen Fakten können wir Hunderte von Geschichten rekonstruieren.« Allerdings geht Viviane nicht gleich zur Rekonstruktion über. »VIVIANE Jetzt ist alles still im Hirschhaus. Stille am Heiligen Abend. Stille für die Toten. Meine Tochter Inge und ihr Mörder Benoît. Der Fotograf. Müssen wir die Geschichte rekonstruieren, jetzt, da sie tot sind? Was bedeuten Geschichten eigentlich? Diese Menschen müssen sehr trübselig sein, wenn sie Geschichten brauchen. Was für eine langweilige Existenz. Deshalb sind wir ins Hirschhaus gezogen. Weit weg von all diesen Geschichten. Weil wir sonst selbst die Geschichte werden würden.« (127f.)

Sie respektiert die »Stille« des entscheidenden Moments, den niemand begreifen kann, was die Unmöglichkeit einer Geschichte des Moments andeutet. Sie möchte zudem vermeiden, selbst eine Geschichte zu werden. Merkwürdig ist aber, dass sie sagt, dass man eine Geschichte wird. Geschichte ist hier die Existenz eines Menschen selbst. Dazu nennt Vivian noch eine andere, dem widersprechende Konsequenz:

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»[VIVIANE] Deshalb ging Benoît in den Krieg. Er wollte auch eine Geschichte sein. Wenn ich dich da liegen sehe, weiß ich nicht, ob du eine gute Geschichte geworden bist. Und was ist mit meiner Enkeltochter, deren Namen du nicht kennst? Was für eine Art Geschichte wäre sie? Könnte es sein, dass sie jetzt da sitzt, verängstigt und traumatisiert? Was bedeutet es für einen, wenn man sieht, wie die eigene Mutter erschossen wird? Wird sie ein Kindersoldat werden? Systematisch vergewaltigt und schließlich ertränkt werden während der Überfahrt?« (128)

Angesichts der Ereignisse des unerwarteten Todes kann Vivian, die Überlebende, dennoch nicht aufhören, sich eine Geschichte auszudenken und sich somit ein Bild vom Moment des Sterbens zu machen. Die Bewohner des Hirschhauses versuchen, eine für alle »gute Geschichte« zu entwickeln. Darum fordern einige, Julien solle sterben, weil er Benoît umgebracht habe, der jetzt und hier nicht sterben musste, wollte und sollte. Misha sagt: »Die Frage ist: Sollen wir Rache nehmen und Julien töten.« (128) Julien jedenfalls erscheint das nicht als eine »gute Geschichte«. Er widersetzt sich dem Vorschlag seiner Hinrichtung. Dazu äußern auch die Toten ihre Meinungen. Die abwesenden Worte der Toten werden nach der Logik der gegebenen Fakten imaginiert. Die Leiche von Inge, die ihn »aufrichtig geliebt« hat, ist auf Juliens Seite. Dagegen besteht Benoît auf die Hinrichtung: »Ich verstehe diese Liebe. Aber er hat mich getötet. Obwohl ich seine Tochter gerettet hatte.« (128) Die Toten erinnern die Lebenden an die Vergangenheit, in der sie selbst noch lebten, und drängen darauf, die noch Lebenden über die Gegenwart entscheiden zu lassen. Den Äußerungen aus der Vergangenheit fügen die Lebenden ihre Imaginationen von der Zukunft hinzu. Anneke beginnt, sich eine »gute Geschichte« nach dem Tod Juliens vorzustellen. Die gerettete Tochter von Julien und Inge, Juliette, wird nach dem Juliens Tod zur Waise. Das Kind wird von einem guten Paar adoptiert, genießt dort eine gute Bildung und wird schließlich zu einer ausgezeichneten Ärztin, die den Nobelpreis gewinnt. Anneke und Hans Petter spielen Juliette und ihren Ehemann Daniel, die herzensgute Menschen sind. Die Familie im Hirschhaus spielt die Szene des »rührenden Wiedersehens« mit dem »wunderbaren« Paar. Dabei ist Daniel allerdings der Sohn von Julien und Grace, denn Hans Petter meint, dass »gute Geschichten« viel Inzest und Totschlag enthielten und düster seien. Ohne Julien jedenfalls wäre die »gute Geschichte« des schönen Familientreffens nicht realisierbar. Und auch Grace, die einem möglichen Er-

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zählstrang zufolge später ein Kind von Julien zur Welt bringen wird, spricht sich gegen dessen Hinrichtung aus. Soll Julien nun hingerichtet werden oder nicht? Die Meinungen gehen auch in der Rekonstruktion der »guten Geschichte« völlig auseinander. Mehrheitlich entscheidet letztlich die »Familie« bzw. die »Hirschhaus Gemeinschaft« zu Gunsten der hartnäckigen Forderung Benoîts, Julien hinzurichten. Maarten, der Sohn von Anneke und Hans Petter, nimmt die Hinrichtung auf sich. Als er aber das Bolzenschussgerät auf Juliens Kopf richtet, hält Benoît die Hinrichtung an. »BENOÎT […] Julien muss überhaupt nicht sterben. Ich habe euch nur herausgefordert. Tatsächlich bin ich ein Engel, der heruntergestiegen ist, um auf euch aufzupassen, und wenn nötig, euch zu retten. […] die tragische Ära der Phantasie ist lange vorbei. Ich bin der soundsovielte langweilige Verstorbene. Jemandem, der tot ist, ist es wirklich egal, ob jemand anderer tot ist oder nicht. […] [auf Französisch]« (134f.)

Trotz der schlichtenden Worte Benoîts, der den Streit aufgewiegelt hat, fällt Julien von der Hand des »Henkers« Maarten: Noch während Benoît redet, spielt Maarten mit dem Schlachtschussapparat, dessen Mechanismus er nicht kennt, und erschießt dabei zufällig Julien. So erzeugen die Imaginationen und die rekonstruierte Geschichte des unbegreiflichen Ereignisses ein weiteres Ereignis, das »still« und nicht zu rekonstruieren ist. Auch dieser Moment der Tötung kommt so plötzlich, dass niemand ihn begreifen kann. Im Moment der Hinrichtung hört man nur ein undramatisches Klappen. Es gibt überhaupt keine Spannung, die den Höhepunkt des entscheidenden Moments vorbereitet. Selbst Maarten begreift die eigene Tat nicht. »MAARTEN […] Ich habe noch nie so etwas gemacht. Vielleicht wollte ich nur sehen, was passiert. Vielleicht ist der Bolzenschießer von selbst losgegangen. Oder vielleicht wollte ich insgeheim, dass er losgeht. Oder der Drang, ihn abzufeuern, war größer als die Überlegung der Konsequenzen. Er ist so merkwürdig. [auf Niederländisch]« (135)

Um sich zu rechtfertigen, muss er eben eine andere Geschichte erfinden und verneint sogar die Vergangenheit, in der die Familie Benoît großherzig aufgenommen hat.

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»MAARTEN Oder vielleicht sind Sie ein böser Engel, ein gefallener Engel, der Julien tötete. Sie haben Julien und seine Tochter getötet. Der Engel, der Juliens Tochter ermordet hat. Ich wusste es von dem Moment an, als Sie hereinkamen. Ich wusste es. Sie sind ein böser Engel. Hauen Sie ab. Lassen Sie uns in Ruhe. Machen Sie schon, hinaus mit Ihnen.« (135)

Diese Aussage macht die Gefahr der imaginierten Geschichte, die für alle »gut« sein soll und als solche rekonstruiert wird, erkennbar. Die Geschichte wird hier willkürlich und egoistisch imaginiert, indem der Erzähler den abwesenden Toten ignoriert.10 Diese Problematik ist der »guten Geschichte« immanent. Nach einer kurzen Trauerszene, in der die drei Toten auf einem Podium im Zentrum der Bühne liegen und die anderen sehr leise und stockend ein Lied mit dem Titel »Sad Song at an open Fire« singen und dazu tanzen, kommt die Schwester von Benoît, Tijen, in das Hirschhaus, die ihren Bruder sucht. Hier erfährt sie aber von seinem Tod. Sie hat die Leiche Juliettes, der Tochter Inges, bei sich, die Benoît gerettet hatte, die aber jetzt ebenfalls tot ist. Die Ereignisse des Sterbens zerstören erneut die bisher aufgebaute Geschichte: Die imaginierte Geschichte der Nobelpreisträgerin Juliette ist unmöglich geworden. Auch die Geschichte von Benoît, die Tijen sich vorgestellt hat, ist zerstört. »VIVIANE Ihr Bruder ist tot. TIJEN Nein. Das ist unmöglich. In seinem Tagebuch schreibt er, dass er hier willkommen sein wird. Er kann nicht tot sein. So geht seine Geschichte nicht. VIVIANE Ich kenne Ihren Namen nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass niemand seine eigene Geschichte schreibt. TIJEN Benoît, sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass das nicht die richtige Geschichte ist. (138) [...] BENOÎT [zu Tijen] Die Toten haben nichts zu verzeihen. Die Toten sind still, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Es ist die Stille hinter dem Wahnsinn. Die Stille, wel-

10 Eiichiro Hirata weist die Gefahr der Imagination anhand von Terry Eagletons Kritik an der willkürlichen und selbstgerechten Imagination anderer Kulturen durch bestimmte »Liberale« auf. Vgl. Hirata, 2016, S. 202f. sowie Eagleton, 2000.

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che die Hirsche nie kennen werden. Komm her und lass mich dein stiller Engel sein.« (139)

Die Toten sind still, und die Geschichte wird nicht von ihnen imaginiert, sondern immer von den Überlebenden. Denn diese brauchen trotz der jeder Imagination innewohnenden Gefahren unbedingt eine Geschichte, um weiter mit den Verstorbenen leben zu können und um für die Zukunft eine »gute« Entscheidung zu treffen. Jede Gegenwart ist der Moment einer Entscheidung, die allerdings weder nur aktiv noch nur passiv, sondern sowohl aktiv als auch passiv ist. Die Geschichte wird trotz und wegen der Stille der Toten weitererzählt. Das »Hirschhaus« basiert auf solchen Momenten, die still, leer und nicht zurückzubekommen sind, die aber gerade darum mit weitererzählenden Stimmen gefüllt werden. Allerdings garantieren diese Stimmen weder endgültige Erklärungen noch Repräsentationen der Gegenwart, sondern sie setzen überschießend viele Gespräche über den Moment frei, den sie vergegenwärtigen wollen. Die häufigen Um- und Abbrüche der Geschichte enthüllen aber die Unmöglichkeit dieser Vergegenwärtigung; die sprachlichen Sinnsetzungen der sprechenden Stimmen oszillieren hin und her. Wegen der schwer verständlichen sinnhaften Komplexität der Gespräche bleibt in den hörenden Ohren eher der überschießende Fluss der sinnlichen Stimmen haften, die zwischenmenschliche Relationen bilden und zerstören. Nicht der imaginierte Inhalt der Geschichte ist wesentlich für die Berührungen und Versammlungen zwischen Menschen, sondern vielmehr der Versuch der Imagination und der Kommunikation selbst. Diesen Versuch der unmöglichen Imagination und der Bildung einer Gemeinschaft von Menschen, die einander berühren und sich versammeln wollen, wird im Trauergesang »Sad Song at an open Fire« markant dargestellt. Der Gesang wird nur von einem Klavier begleitet und nicht fließend, sondern merklich stockend gesungen: Jedes Wort des Liedtextes wird fast ohne jede Längung der Vokale gesungen. Jede Stimme verklingt flüchtig, gleich nachdem die Trauenden ein Wort gesungen haben. Dazu spielt das Klavier kaum zusammenhängende Melodien, sondern bleibt eher fragmentarisch. Zwischen den Stimmen und den Tönen des Klaviers entstehen Lücken, und diese tonalen Leerräume lassen die Stille der Toten hörbar werden. Die Stimmen singen zudem ohne sonore Stimmfülle; vielmehr murmeln sie lose vor sich hin. Es ist zwar ein gemeinsames Singen, aber kein

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einheitlicher Chor. Obwohl diese Stille keine physische Stille ist – denn immer sind entweder das Klavier, Stimmen, Geräusche oder Nachklänge hörbar –, lassen die Klänge doch ihre einzelne, je eigene Stille hören, indem sie auf die Vergänglichkeit der Stimmen und der Klänge aufmerksam machen. Die Stille gehört jedem Einzelnen, nicht der ganzen Gemeinschaft. Hier sind die Eigenschaft der Stimme und der stimmlichen Gemeinschaft besonders deutlich wahrnehmbar. Jede Stimme, die im Moment ihres Ertönens schon wieder verklingt, lässt in diesem Trauergesang, der in sich die Stille hören lässt, ihre Vergänglichkeit erkennen. Das Lied endet mit der Phrase »And pray for the living before they get cold«. An dieser Stelle wendet sich der Trauergesang nicht nur den in der Vergangenheit Gestorbenen zu, sondern auch den in der Gegenwart oder in der Zukunft Sterbenden, deren Elend die Singenden nicht loslässt. Die nur lose gekoppelten und vergänglichen Stimmen, die sich gemeinsam dem Tod der Anderen zuwenden, erzeugen eine uneingestehbare Gemeinschaft. Eine solche Gemeinschaft beschreibt Maurice Blanchot folgendermaßen: »Anwesend dem nahezubleiben, der sich im Sterben endgültig entfernt, den Tod des Anderen auf mich zu nehmen als den einzigen Tod, der mich angeht, das ist es, was mich außer mich bringt und was die einzige Trennung ist, die mich in ihrer Unmöglichkeit dem Offenen einer Gemeinschaft öffnen könnte. [...] Das stumme Gespräch, das ›ich‹, die Hand ›des Anderen, der stirbt‹11, haltend, mit ihm führte, führe ich [...] um die Einsamkeit des Ereignisses zu teilen, das seine eigenste Möglichkeit und sein unteilbarer Besitz zu sein scheint, in dem Maße, wie sie ihn vollkommen enteignet.«12

Der gemeinsame Trauergesang, der weniger die Verbindung als vielmehr die Stille, die Vergänglichkeit und die Einsamkeit hören lässt, bringt die Menschen außer sich und deterritorialisiert jeden Singenden. Der Hörraum des Trauergesangs gehört also niemandem, aber er wird geteilt, ohne den Tod der Anderen zu usurpieren. Das Hirschhaus wird zum Trauerspiel durch eben jene trauernde Gemeinschaft, die durch Stimmen strukturiert wird, die verklingen und so den singulären Tod besingen.

11 Bataille, 1974, S. 245. 12 Blanchot, 2007, S. 21f.

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Die Stille wird aber nicht nur gesungen und gespielt, sondern auch getanzt: In der erwähnten Szene tanzt Tijen mit anderen Tänzern stumm und schleppt einen offenbar sehr schweren Rucksack. Auch nach dem Gesang bleibt sie allein, weiter tanzend, mit ernsthafter Miene und langsamen Bewegungen, die eine ungewöhnlich spannende Atmosphäre um sie hervorbringen. Ihr Solo-Tanz in der Stille beeindrucken zutiefst, und die Zuschauenden fragen sich, was wohl im Rucksack ist, ohne freilich schon zu wissen, dass er den faulenden Leichnam der kleinen Tochter Inges enthält. In dieser Stille – zwischen Vergangenheit und Zukunft – wird die Gegenwart der Versammelten präsentiert, die sich zusammensetzt aus unfassbaren Momenten, die einst ihre Gegenwart waren und es einmal sein werden. Um eine solche Gegenwart besser begreifen zu können, stütze ich mich im Folgenden auf zwei Zeitbegriffe von Gilles Deleuze.

4-4. D IE G EGENWART DES ÄON . D IE Z EIT DES E REIGNISSES Die Gegenwart hat nicht nur eine, sondern mindestens zwei Lesarten: Chronos und Äon. Gilles Deleuze formuliert den Unterschied zwischen Äon und Chronos deutlich: Während die Gegenwart im Sinn des Chronos Vergangenheit und Zukunft in sich enthält, teilt die Gegenwart im Sinn des Äon die Zeit in Vergangenheit und Zukunft ein. Die Gegenwart, deren Anwesenheit man erlebt, ist die des Chronos: »Chronos zufolge existiert in der Zeit allein die Gegenwart. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nicht drei Dimensionen der Zeit; nur die Gegenwart erfüllt die Zeit, wohingegen Vergangenheit und Zukunft zwei in der Zeit auf die Gegenwart bezogene Dimensionen sind. Das heißt, daß das, was in bezug auf eine bestimmte Gegenwart (mit bestimmter Ausdehnung oder Dauer) künftig oder vergangen ist, Teil einer umfassenderen Gegenwart, einer größeren Ausdehnung oder Dauer ist. Es gibt immer eine weitere Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufsaugt.«13

13 Deleuze, 1993, S. 203.

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Während die Gegenwart des Chronos die Zeit erfüllt, ist die Zeit des Äon leer: »Stets bereits vergangen und ewig noch bevorstehend ist Äon die ewige Wahrheit der Zeit: reine leere Zeitform«.14 »Gemäß Äon insistieren oder subsistieren in der Zeit ausschließlich die Vergangenheit und die Zukunft. Anstelle einer Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufsaugt, eine Zukunft und eine Vergangenheit, die in jedem Augenblick die Gegenwart teilen, sie bis ins Unendliche in Vergangenheit und Zukunft und in beide Richtungen zugleich unterteilen. Oder es ist eher der ganz flache Augenblick ohne jene Ausdehnung, der jede Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft unterteilt, statt in weite und breite Gegenwarten, die in wechselseitigem Bezug die Zukunft und die Vergangenheit umfassen.«15

Während die Gegenwart des Chronos das göttliche und auratische hic et nunc ist, ist die Gegenwart des Äon ein ungreifbarer, leerer Moment. Wie im vorigen Kapitel dargelegt, wird im Stück Das Hirschhaus die Zeitlichkeit des Äon hervorgehoben. Für die unfassbaren, zu schnellen Momente des Ereignisses müssen die Geschichten der Vergangenheit und die der Zukunft rekonstruiert werden, so wie die Gegenwart des Äon nur zwischen der Vergangenheit und der Zukunft entstehen kann. Deleuze meint, ein Ereignis, das kein bloßer Zwischenfall sei, finde im Moment des Äon statt: »Die Ereignisse sind ideelle Singularitäten, die in ein und demselben Ereignis kommunizieren; daher verfügen sie über eine immerwährende Wahrheit, und ihre Zeit ist nie die Gegenwart, die sie verwirklicht und ihnen zur Existenz verhilft, sondern der grenzenlose Äon, der Infinitiv, in dem sie subsistieren und insistieren.«16

Das Ereignis darf nach Deleuze »nicht mit seiner raum-zeitlichen Verwirklichung in einem Dingzustand [vermengt werden]«, 17 sondern Ereignisse sind »ideelle Singularitäten«, die »zwischen den Sätzen und den Dingen«18 einen Sinn produzieren. Die Stimme ist das äonische Wesen par excellence.

14 Ebd, S. 207. 15 Ebd, S. 206. 16 Ebd, S. 77f. 17 Ebd, S. 41. 18 Ebd.

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Sie erzählt in diesem Stück nicht nur eine imaginierte Geschichte, sondern zeigt vielmehr ihre eigene konstitutive Vergänglichkeit, welche den Chronos bzw. die erfüllte Gegenwart unterläuft. Diese Eigenschaft der Stimme ist vor allem im Trauergesang »Sad Song at an open Fire« zu vernehmen. Jede Stimme bezeugt die Singularität, die nicht gemeinsam bestimmt, begriffen oder besessen werden kann. Die stimmliche Gemeinschaft basiert auf der äonischen Zeit, die gemeinsam geteilt19 wird und nur Vergangenheit und Zukunft kennt. In den Stimmen, die nicht nur physisch ertönen, sondern auch in der Lage sind, das singuläre Ereignis zu wiederholen, entsteht ein Sinn, der die äonische Gegenwart spüren lässt.

4-5. E INRICHTUNG VON H ÖRRÄUMEN Soweit wurde die zeitliche Dimension des Stücks analysiert. Nun wird die räumliche Dimension mit hinzugezogen. Wie bereits erwähnt, tragen alle Performer in der »Hirschhausszene« künstliche Ohren. Diese überdimensionierten Ohren erinnern an märchenhafte Wesen. Sie sind aus gelben Kunststoff, und dasselbe Gelb findet sich im Hintergrund als Farbe der ebenfalls aus künstlichem Material bestehenden Hirschkadavern wieder, die wie Leichen auf einem Schlachtfeld daliegen. Farbe und Material der Ohren lassen sich mit dem Tod assoziieren. Die Ohren sind weit geöffnet und symbolisieren eine Bereitschaft zum Aufnehmen schrecklicher Nachrichten, von Nachrichten, die den Tod mitteilen und zu einem weiteren Tod führen werden. Die Ohren öffnen sich nicht nur zu den Lebenden hin, sondern auch zu den Toten. Die bereits Verstorbenen können zwar nicht mehr sprechen, aber dank der großen Ohren können sie im Stück selbst nach ihrem Tod noch hören, was geschieht, und so am Geschehen teilnehmen. Die Hauswirtin des Hirschhauses, Viviane, hört mit ihren großen Ohren die traurige Nachricht vom Tod ihrer Tochter. Wie Viviane kommentiert, kann Trauer auf verschiedene Weise erscheinen, aber sie prägt sich stets ein und hinterlässt tiefe Eindrücke. Der »Druck« der Trauer ist allerdings »knochentrocken und blass« wie die künstlichen Ohren:

19 Vgl. Kapitel 2-1 »Stimmliche Relationen« in der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit.

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»VIVIANE Trauer nimmt viele Formen an. Dunkel und resigniert oder sprühend und voller Leben. Instrumentiert und äußerlich, ein vollkommenes Beispiel dafür, wie es sein soll, oder beschämend oberflächlich. Aber auch: Druck auf der Brust, direkt neben dem Herzen. Knochentrocken und blass.« (142)

Viviane empfängt Tijen, die Überbringerin der schlechten Nachricht und die Schwester des Mörders von Vivians Tochter, indem sie Tijens Kopf küsst und sagt: »Wir werden unser Weihnachtsessen zusammen einnehmen. Es ist für niemanden ein Problem, dass die Toten sich zu uns an den Tisch gesellen, weil wir ein reichliches Mahl zubereitet haben. Die Toten werden wie ein Wasserfall über die Zukunft reden. [...] ich mag die Ruhe nicht. Ich will den Lärm vieler Menschen. Aber kein Jammern. Gute Menschen.« (143f.)

Viviane affirmiert das Zuhören mit denselben Ohren, durch die auch schlechte Nachrichten eindringen können, aber sie duldet nicht alle Stimmen. Sie will kein Jammern, das Rache verursacht, sondern »gute« Stimmen, die, wenn wir erneut Spinozas Ethik folgen, den menschlichen conatus vergrößern,20 und nur diese Stimmen will sie aus dem schlechten Bericht herausfiltern, um für alle eine »gute Geschichte« zu erschaffen. »Alle« meint hier nicht nur die anwesende Familie, sondern schließt auch die abwesenden Verstorbenen sowie die Fremden mit ein. Die großen Ohren sind jedoch nicht nur für die eine gemeinsame Sprache der Familie geöffnet. Denn eine »gute Geschichte« für alle kann nicht allein in einer einzigen Sprache erzählt werden. Zudem haben die Menschen im »Hirschhaus« keine gemeinsame Sprache, in der die gemeinsame Geschichte erzählt werden könnte. Die Erzählenden wählen daher, wie ich im Folgenden ausführen möchte, je nach dem Kontext des Gesprächs eine angemessene Sprache aus. Sie schaffen so einen für jeden Angesprochenen angemessenen Hörraum. Die »Geschichte« im Sinn der individuellen Existenz der Beteiligten, die von ihnen zusammen konstruiert und erzählt wird, entsteht erst in diesem zwischenmenschlichen Hörraum der

20 Vgl. den zweiten Teil 2-4 »Das Lied der Genesung« in der vorliegenden Arbeit.

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sprechenden Stimmen, nicht in einem bereits fertig vorausgesetzten Subjekt oder Körper. Die Gespräche, die in dieser mehrsprachigen Inszenierung aufgeführt werden, verweisen auf die Situation Brüssels, wo eine flämische und eine französische Gemeinschaft zusammen mit anderen Minderheiten leben. Beispielsweise sehen wir in der Garderobenszene alltägliche Situationen, bei denen zwischen den Sprachen gewechselt wird: Zuerst beginnt Benoît, auf Französisch von einem Tournee-Erlebnis zu erzählen. Hans Petter kommentiert auf Englisch, und auch Benoît antwortet ihm nun auf Englisch. Das Gespräch setzt sich zwischen ihnen, Misha, Viviane und Tijen auf Englisch fort. Dann stellt Viviane Hans Petter auf Niederländisch eine persönliche, nicht für alle zugängliche Frage, nämlich die, ob er jemals in einem Kriegsgebiet gewesen sei. Er antwortet auf Niederländisch, dass er noch nie einen Krieg gesehen habe und in den Ferien lieber zu Hause bleibe. Welche Sprache man in einer solchen vielsprachigen Situation auswählt, bestimmt sich dadurch, welche Person bzw. welchen Sprachkreis man ansprechen will. Als Hans Petter Misha auf Niederländisch anspricht, obwohl dieser kein Niederländisch versteht, entschuldigt er sich und wiederholt das Gesagte auf Englisch. Darin zeigt er eine freundliche Aufmerksamkeit für Misha. Der Sprechende spricht in der Sprache, in der die Hörenden antworten bzw. von sich aus sprechen können. Diese sprachliche Inszenierung betont, dass man im Gespräch nicht nur Informationen übermittelt, sondern dass darin auch das Verhältnis zwischen dem Sprechenden und den Hörenden spürbar wird. Der Hörraum wird so eingerichtet oder hergerichtet, dass nicht nur die Stimme des Sprechers gehört wird, sondern dass vielmehr der Sprecher zu einem besseren Zuhörer werden kann. Der eingerichtete Hörraum unterdrückt und verletzt jedoch die Hörenden, wenn die Stimmgeste des Zuhörens fehlt. Einerseits kann der Hörraum für einseitige Angriffe eingerichtet werden. Andererseits schließt der Hörraum einer bestimmten Sprache diejenigen, die dieser Sprache nicht mächtig sind, aus und ignoriert sie so. Die Einrichtung des Hörraums für einen einseitigen Angriff zeigt sich beim Eintritt eines fremden asiatischen Mädchens, das am Rand der Garderobe auftaucht. Einige halten sie sofort für eine Diebin. Das Mädchen ist Japanerin und heißt Yumiko. Fast ohnmächtig murmelt sie etwas auf Japanisch, aber niemand versteht sie. Ihre Muttersprache vermag hier keinen angemessenen Hörraum zu erschaffen. Sie geht ins Englische über und behauptet, dass sie mit ihnen zusammenarbeite und

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sie alle kenne, Aber niemand aus der Gruppe erkennt sie als Mitglied der Gemeinschaft, und niemand glaubt ihr. Denn »diese orientalischen Frauen sehen alle gleich aus« (106). Anneke lächelt die Japanerin an und streichelt ihren Kopf, aber ihre Hände greifen zugleich in Yumikos Taschen, um zu kontrollieren, ob sie die Gemeinschaft bestohlen hat. Als sich in ihrer Tasche Annekes Handy findet, hört Anneke nicht mehr auf die Worte der Japanerin, packt sie an den Schultern und schreit sie aggressiv an: »YUMIKO […] Anneke, ich habe dein Handy in meine Tasche gesteckt, weil es so offen dalag. Ich dachte, dass vielleicht jemand... ANNEKE Red doch keinen Unsinn. Du hast es einfach gestohlen. Wenn ich ein Flüchtling wäre, würde ich auch stehlen. Früher nannte man das proletarisches Einkaufen. Diese Art Mensch ist immer hungrig. Was erwarten wir?[auf Flämisch] Es macht mir nichts aus. Aber meine ganzen Telefonnummern sind in dem Handy. Also werde ich sauer, wenn du es klaust. Klau im Supermarkt.« [Hervorhebung von M.H.] (109)

Anneke spricht Yumiko zwar auf Englisch an, damit sie ihre Worte verstehen kann. Aber die Ansprache beruht hier nicht auf einer freundlichen Aufmerksamkeit für die Angesprochene, sondern Anneke ignoriert Yumikos Antwort von vornherein und führt stattdessen einen einseitigen Angriff gegen die »Fremde«. Die Beschimpfung, die auf Niederländisch eingeschoben wird, signalisiert dem fremden Mädchen, das kein Niederländisch spricht, in aller Deutlichkeit ihre Ignoranz. Der sprachliche Ausschluss ist im Stück vor allem beim Gespräch auf Niederländisch auffällig. Die Hälfte der Performer spricht Niederländisch, während die nicht Niederländisch Sprechenden Englisch, Französisch und/oder Japanisch sprechen. Es entsteht eine exklusive, sprachliche Gemeinschaft, die durch das Niederländische gebildet wird, und, unterschieden davon, ein Kreis der »Fremden«, auf die in der Szene in der Garderobe vor allem durch das Japanische verwiesen wird. Die Sprache spaltet die Menschen im Hirschhaus und schafft eine akustische, sprachräumliche Topographie. Diese Topographie übt nicht nur in der Garderobenszene, sondern auch in der Hirschhausszene einen starken Einfluss aus: Die Niederländisch-Sprechenden spielen hier die Familie der Hauswirtin Viviane, die das Hirschhaus gegründet hat und seiter darin wohnt. Die Sprecher der anderen Sprachen spielen Flüchtlinge, geistig Behinderte, Ehepartner, den

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Mörder eines Familienmitgliedes und dessen Schwester, die alle mehr oder weniger von der familiären Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Auffällig ist der sprachliche Ausschluss der »Fremden« vor allem in der Szene, in der um Inge getrauert wird. Ihre Mutter Viviane spricht mit der verstorbenen Tochter auf Niederländisch, was einen intimen Sprachkreis aufspannt. Sie kann in dieser Szene nur an ihre verstorbene Tochter denken, obwohl sie sonst immer großherzig und gastfreundlich ist. Sie vernachlässigt dabei grundlegende Menschenrechte des Flüchtlings Yumiko: Die Mutter fordert die Geflüchtete auf Englisch auf, ihr zu helfen, dem nackten Leichnam etwas anzuziehen. Zu diesem Zweck verlangt sie die einzige Kleidung und sogar die Unterwäsche der Gefllüchteten, während sie auf Niederländisch mit ihrer toten Tochter spricht. Diese Ausbeutung hält die Mutter, die sich nun in ihren eigenen Hörraum eingeschlossen hat, für selbstverständlich. Hans Petter kommt, um zu helfen; Anneke weint. Beide sprechen mit Vivian ausschließlich auf Niederländisch und hinterfragen die Ausbeutung Yumikos mit keinem Wort. Am Ende des Stücks sitzt die seltsame Hirschhaus-Gemeinschaft, bestehend aus Vivians Familienmitgliedern und den Fremden, den Lebenden und den Toten, am Weihnachtsabend an einem Tisch. Sie essen und feiern gemeinsam. Anneke jedoch nimmt die Fremden buchstäblich nicht mehr wahr, während sie mit ihrer Mutter und der verstorbenen Schwester auf Niederländisch spricht. »INGE Anneke, wirst du neben mir sitzen? ANNEKE Ja. Ich komme. INGE zeigt auf Yumiko, die neben ihr sitzt Aber da sitzt bereits jemand. ANNEKE Nein, da ist niemand. Anneke schubst Yumiko sanft weg.« (145)

Yumiko ist zwar physisch im selben Raum anwesend wie Anneke, aber sie gehört nicht zum Hörraum, der zwischen Inge und Anneke besteht. Annekes Worte »da ist niemand« sind richtig, insofern sie sich in einem intimen Hörraum mit ihrer Schwester einschließt. Gleichzeitig wird innerhalb desselben physischen Raums ein weiterer Hörraum geschaffen, der auch Yumiko einschließt: Misha, der auf Englisch spricht, macht darauf aufmerksam, dass Yumiko aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, und macht so

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ihre bisher ignorierte Stimme hörbar. Schließlich erhalten alle mehr oder weniger ihren Platz beim Weihnachtsessen. Die großen Ohren sind auch für vorsprachliche Geräusche (»Noise«) geöffnet. Grace, die geistig behinderte Tochter Vivianes, spricht niemals ihre Muttersprache, Niederländisch, sondern eine Art kindliches Englisch. Anneke wertet Graces Worte als »Noises«, die immer wieder die wichtigeren Gespräche stört. Ihre Wertung markiert, dass Grace keine akzeptierte Sprache beherrscht. Zugleich verfügt Grace jedoch über ein ganz besonderes Vermögen. Denn auf letztlich nicht begreifliche Weise kann sie mit den Hirschen kommunizieren. Die Zuschauer erfahren, wie sie sich um die Hirsche kümmert. Sie versteht die Tiere und öffnet ihre Ohren stets den Hirschen, die zum Verzehr für die Menschen getötet werden. 21 Das Hirschhaus, in dem man sich zum gemeinsamen Weihnachtsessen versammelt, ist gebaut auf den enormen Stapeln der stillen Toten und der Vergessenen – dies deuten die aufgehäuften Hirschkadaver stumm und allegorisch an –, und es besteht durch das immer neu versuchte Zuhören. Grace schafft einen Platz auch für die zu verzehrenden Hirsche, indem sie ihnen ihre Ohren öffnet. Die Sprache in dem Stück zeigt nicht nur die jeweiligen Bedeutungen, sondern auch ihre eigene Materialität. Sie teilt nicht nur Inhalte mit, sondern hebt ihre soziale Funktion hervor, Worte an einen bestimmten Kreis zu richten und dadurch eine sprachliche Gemeinschaft zu bilden, die intim und oft abgeschlossen ist. In zahlreichen Szenen wird deutlich gemacht, dass wer die jeweilige Sprache nicht versteht, nicht zum jeweiligen Sprachkreis gehört. Durch diese soziale Funktion der Sprache wird die Gemeinschaft im »Hirschhaus« immer wieder gespalten. Zugleich versucht die Gemeinschaft, die Stimmen der Fremden zu hören, Hörräume für sie zu öffnen und ihnen dadurch einen Platz zu geben. Die Geste, den intimen Hörraum zu öffnen, zeigt sich vor allem darin, dass die Sprechenden sich einer Fremdsprache bedienen und so aus dem Kreis ihrer Muttersprache treten.

21 Vgl. Lauwers, 2008, S. 143.

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4-6. R EFRAIN

DES

ANSPRECHENS

Eine am Ende des Stücks erzählte Geschichte kann als eine Metapher des Versuchs der Rekonstruktion einer Geschichte verstanden werden, der ein Kernthema von Das Hirschhaus bildet. Hans Petter erzählt von einer Szene, die sich an das gemeinsame Weihnachtsessen anschließt. Grace verlässt den Tisch, um sich um die Hirsche zu kümmern, weil ein ungewöhnlich starker Sturm ausgebrochen ist. Hans Petter erzählt, dass die Rettung gelingt und Grace die Hirsche unter ein Eisdach führt. Es folgt die letzte Szene: »Die Stille wird nun zunehmend von plötzlichen scharfen Lauten unterbrochen. Kraftvolle Sonnenstrahlen brechen durch das Eisdach und zeigen alle Farben des Spektrums, worauf das Echo sich schneller und schneller fortbewegt und immer wieder an der Westseite des Tales in tausend Stücke zerbricht. Die niedrige Frequenz des Hirschgebrülls verbindet sich mit dem dünneren, hicksenden Lachen von Grace, unterstützt vom Beifallklatschen der anderen Bewohner des Hirschhauses, und wird zu einem übermütigen Tribut an die Überlebenden und die Toten, die, ohne einander, von keinerlei Bedeutung sind. Untröstlich in ihrer Ewigkeit.« (149)

In dieser von Hans Petter erzählten Schlussszene wird nicht bloß von der Rettung der Hirsche berichtet. Sie ist vielmehr eine Metapher für das Erzählen von Geschichten über unfassbare, »stille« Ereignisse zu interpretieren. Es geht um die Stille in den unfassbaren Momenten. Vor allem in der Geschichte des verstorbenen Fotografen Benoît wird diese Stille deutlich. Allerdings wird die Stille durch das unweigerliche Erzählen gebrochen bzw. »zunehmend von plötzlichen scharfen Lauten unterbrochen«. Die kraftvolle Lust zum (Nach-)Leben zerbricht die erzählte Geschichte in ein »Spektrum« und in ein »Echo«, das »sich schneller und schneller fortbewegt und immer wieder [...] in tausend Stücke zerbricht«. Das Echo der Laute des brechenden Eises, des Hirschgebrülls, des Lachens und Beifallklatschens bildet eine kontrapunktisch komponierte Soundscape, deren Elemente aufeinander reagieren, nicht aber eine chaotisch verschmolzene Sound-Mischung. Noch während Hans Petters Rede beginnt die Schlussmusik einzusetzen. Sie stellt keine Fortetzung der bisher erzählten Szene dar, sondern den Refrain der Stimmgeste des Zuhörens, die im gesamten Stück thematisiert

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wurde. Zuerst beginnt Anneke zu singen. Es ist ein Lied des Ansprechens mit dem folgenden Refrain: »Hey now, don’t go away Please do stay Oh we are small people with a big heart We are not looking good but we are smart We love each other and it’s a real art To build the deer house so strong That it doesn’t fall apart« (146)

In den Hörraum dieses Liedes lädt Annekes Stimme die Anderen ein. Im Gesang tritt sie aus dem Kreis ihrer Muttersprache heraus und spricht nun auch die Fremden sanft auf Englisch an. Ihr Englisch deterritorialisiert den Hörraum, den sie zuvor mit ihrer Muttersprache gebildet hatte und der nur der Gemeinschaft der Sprecher dieser Sprache offenstand. Entscheidend ist hierbei nicht, dass sie auf Englisch – der Sprache der globalen Verständigung schlechthin – singt, sondern dass sie es schafft, in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache an die Fremden zu appellieren und sie auf diese Weise als Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Wesentlich an dieser Stimmgeste ist also ihre sprachliche Deterritorialisierung ihrer selbst. Der Anruf »Hey now, don’t go away/Please do stay« ruft Menschen zusammen – auch diejenigen, denen man aus dem geschlossenen gemeinschaftlichen Hörraum einst »go away« zugeschrien hatte –, und zwar im Moment der Gegenwart und am Ort des »Hirschhauses«. Das Hirschhaus, von dem das Lied singt, ist nicht bereits da, sondern es muss erst erschaffen und mit Kraft zusammengehalten werden, damit es nicht auseinanderfällt. »We love each other and it’s a real art/To build the deer house so strong/That it doesn’t fall apart«. Das Hirschhaus ist also kein immer schon bestehender Ort, sondern ein Ort als Resultat der unverdrossen wiederholten Produktion eines Hörraums, der jeweils durch die Stimmgeste des Zuhörens hergestellt wurde. So fordert die ansprechende Stimme die Zuhörenden dazu auf, sich zu versammeln, und macht so den Hörraum zum Versammlungsort. Der Hörraum wird hergerichtet, indem die Zuhörenden in ihm auf eine Antwort warten – durch die Stimmgeste des Wartens im radikalen Sinn. Martin Heidegger unterscheidet das Warten dezidiert vom Erwarten.

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»DER WEISE: Warten, wohlan; aber niemals erwarten; denn das Erwarten hängt sich bereits in ein Vorstellen und an dessen Vorgestelltes. DER GELEHRTE: Das Warten jedoch läßt davon ab; oder ich muß wohl sagen: Das Warten läßt sich auf das Vor-stellen gar nicht ein. Das Warten hat eigentlich keinen Gegenstand. DER FORSCHER: Aber wir warten doch, wenn wir warten, immer auf etwas. DER GELEHRTE: Gewiß; aber sobald wir das, worauf wir warten, uns vorstellen und es zum Stehen bringen, warten wir schon nicht mehr. DER WEISE: Im Warten lassen wir das, worauf wir warten, offen. DER GELEHRTE: Weshalb? DER WEISE: Weil das Warten in das Offene selbst sich einläßt.«22

Das wartende – nicht das erwartende, sich etwas schon vor-stellende – Zuhören lässt die Antwort im Hörraum offen: Ein solches Zuhören bedeutet niemals, eine Antwort zu erwarten bzw. sie sich schon im Voraus vorzustellen, sondern auf eine Antwort, die nicht vorzustellen ist, zu warten, auch wenn es eine ganz unerwartete Antwort wie »Ihr Bruder ist tot« (138) ist. Das Zukommende ist allerdings nicht immer Zukunft, sondern auch die Vergangenheit, die als unvorstellbares, singuläres Ereignis immer wieder zurückkommt. Die großen Ohren der Ansprechenden hören die Antwort, und sie hören trotz der Unerträglichkeit der schlechten Nachrichten im Hörraum weiter zu. Die Antwort kann keine abgeschlossene, endgültige Antwort sein. Die noch nicht fassbare Antwort ist geöffnet zum weiteren Zuhören. »Zuhören« ist nach Roland Barthes (wie eingangs erwähnt) ein psychologisches Handeln und muss vom »Hören« im Sinn eines physiologischen Phänomens unterschieden werden. Barthes weist dabei eine neuere

22 Heidegger, GA Bd. 77, S. 115f. Heideggers Auslegung des Wortes »Warten« könnte auch der »attente« bei Maurice Blanchot entsprechen. Dazu Blanchot, 1962, S. 39: »Depuis quand avait-il commencé d’attendre? Depuis qu’il s’était rendu libre pour l’attente en perdant le désir des choses particulières et jusqu’au désir de la fin des choses. L’attente commence quand il n’y a plus rien à attendre, ni même la fin de l’attente. L’attente ignore et détruit ce qu’elle attend. L’attente n’attend rien.« Den Zusammenhang zwischen dem Begriff des »Wartens«, der in der Trilogie eine große Rolle spielt, und Blanchots Roman verdanke ich einem Hinweis von Caroline Krämer.

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Art des »Zuhörens« auf, das – anders als jenes altvertraute Zuhören, das sich wie das Zuhören von Tieren auf Indizien richtet oder das mit den Ohren Zeichen zu erfassen und zu entziffern sucht – den Sprechenden selbst akustisch spüren will. Ein solches »Zuhören« zielt »nicht darauf, was gesagt oder gesendet wird, sondern wer spricht oder sendet«.23 Dieses Zuhören erwartet also keine zu entziffernden Zeichen mehr, sondern es wartet auf etwas nicht zu Entzifferndes. Der Versammlungsort »Hirschhaus« wird durch den Hörraum der in diesem Sinn Wartenden strukturiert. In der Stimmgeste des Wartens hören die versammelten Menschen der stillen, unfassbaren Singularität der in der Vergangenheit Gestorbenen und der in Zukunft kommenden Fremden zu und laden so die Abwesenden in die hörräumliche Gemeinschaft »Hirschhaus« ein. Die Geschichte vom Hirschhaus begann mit dem schockierenden Ereignis eines Todes; das Hirschhaus als Versammlungsort bildete sich um das singuläre Ereignis, das nicht repräsentiert werden kann. An diesem Versammlungsort, an dem auch die Toten in der theatralen Imagination ein Mitspracherecht haben und von ihren Todesmomenten aus mitreden, ist das unfassbare, singuläre Ereignis nicht völlig vergangen, sondern kehrt immer wieder in die Gegenwart zurück. Jeder Moment des Ereignisses wird in den Stimmen allerdings nicht als die bestehende Gegenwart des Chronos, sondern als die vergängliche Gegenwart des Äon wahrgenommen, die sich zwischen der Vergangenheit und der Zukunft teilt und selbst leer ist. Im Äon kann darum keine Gegenwart des vergangenen Ereignisses repräsentiert werden: Wenn man wartend zuhört, kehrt in der gehörten Antwort weder der bestehende noch vorzustellende Moment zurück. Auch die Gegenwart des Erzählens kann künftig niemals als dasselbe Gewesene zurückkommen. Jeder Moment kann also nur in Imaginationen rekonstruiert werden, die man allerdings nicht willkürlich bildet, sondern in denen man stets versucht, sich zuhörend dem unfassbaren Ereignis zu nähern. Im Refrain des Liedes vom Hirschhaus kommt der Moment des Ereignisses zurück, aber jeweils anders. Denn die Singende spricht jenen an, auf den sie wartet, obwohl sie noch nicht weiß, was für eine Antwort zurückkommen wird. Die Sprechenden warten jeden Moment auf die Antworten der Angesprochenen mit »a big heart«. Die Hauswirtin Viviane hört in diesem Sinn zu

23 Barthes, 1990, S. 251. Dazu auch Kapitel 3-3 »Hörraum als akustische Figur« in der »Hinführung« der vorliegenden Arbeit.

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und wartet. Sie akzeptiert die zurückkommende Antwort, indem sie sagt: »Es ist die Wahrheit. Und alles was du tun kannst, ist, es zu akzeptieren. Das ist die einzige Art, einen derartigen Schmerz zu bewältigen.« (114) Sie akzeptiert das Ereignis, ohne daraus eine unmögliche, unlogische Phantasie zu erdichten, und lässt die Antwort Anderer gleichzeitig offen. Nur ein Jammern will sie vermeiden, das die für alle »gute Geschichte« bzw. den conatus der (Nach-)Lebenskraft beschädigen würde: »Ich will den Lärm vieler Menschen. Aber kein Jammern. Gute Menschen« (144). Sie hört zu, um eine für alle »gute Geschichte« zu bilden. Im Refrain lässt man das »Gute« für die (Nach-)Lebenskraft zurückkehren.24 Die Stimmgeste des Wartens öffnet den Hörraum auch zur Zukunft hin, die unerwartete Ereignisse bereithält. Während der letzten Gesangsszene schreit Grace immer wieder laut: »Mama, I did it! I saved the deer!« Ihre kindlichen, undisziplinierten Bewegungen sind unvorhersehbar und mitunter gefährlich – in der Tat hat sie früher ihren Neffen – Annekes Sohn – versehentlich mit Feuerwerk getötet. Dies war der Grund, warum ihre Schwester Inge, die damals schwanger war, sich entschloss, aus dem Hirschhaus fortzugehen, was schließlich zu ihrem eigenen tragischen Tod führte.25 Grace gilt daher nicht nur als ein lautes, sondern auch als ein gefährliches Mädchen, das unerwartete, sogar tragische Ereignisse verursachen kann. Beim gemeinsamen Gesang jedoch hält niemand ihr Schreien für ein störendes Geräusch. Die anderen hören zu und antworten sogar auf ihre Stimme. Allmählich stimmen mehr und mehr Performer in das Lied ein. Sie singen und hören gleichzeitig zu, während einige tanzen, sitzen und freudig schreien. Das Lied des Hirschhauses, das in seinem Hörraum Menschen anspricht und versammelt, zwingt die Hörenden indessen nicht zu einem einheitlichen Zusammensein. Die Zuhörenden lächeln die schreiende Grace an. Einige erheben sich und tanzen mit ihr. Einige wiederholen tanzend die kindische Geste von Grace, die etwa ihre Backen aufbläst und dann den ausgestreckten Zeigefinger in eine ihrer Wangen drückt, so dass die Luft mit einem prustenden Geräusch zwischen ihren geschlossenen Lippen entweicht. Die Geste des Zuhörens wird sowohl akustisch – im Gesang – als auch optisch – in wiederholten Bewegungen und mit lächelnden Gesichtern dargestellt. Geschrei und Gesang bilden ihrerseits eine kontra-

24 Vgl. Kapitel 2-4 »Das Lied der Genesung« im zweiten Teil dieser Arbeit. 25 Vgl. Lauwers, 2008-3, S. 125.

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punktisch komponierte Soundscape wie zuvor das Echo von zerbrechenden Laute, Hirschgebrüll, Lachen und Beifallklatschen, das Hans Petters Erzählung hatte imaginieren lassen. Die komplexe Soundscape »wird zu einem übermütigen Tribut an die Überlebenden und die Toten, die, ohne einander, von keinerlei Bedeutung sind. Untröstlich in ihrer Ewigkeit«. Äon (αἰών) bedeutet auf Griechisch »Ewigkeit«. Die leere Gegenwart wird durch die wiederholten Verflechtungen der Vergangenheit und der Zukunft, die von Stimmen hergestellt werden, zu einer schillernden Ewigkeit. Die zeitliche und räumliche Gegenwart, zu der die Menschen zusammengerufen werden, ist der wartende Hörraum des Hirschhauses. Hier singen keine schon im Voraus bestehenden Subjekte, sondern Antwortende und Zuhörende entstehen erst im Hörraum und teilen sich im selben Moment in beide Seiten auf, indem sie ihre Position wechseln. Dieses Zuhören ist – wie Barthes formuliert – ein freies, zirkulierendes Zuhören, das kein hierarchisches Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer festschreibt, sondern das die Rollen der Zuhörenden und der Sprechenden wechseln lässt, sodass es »durch seine Beweglichkeit das starre Netz der Sprechrollen auflöst«.26 Barthes betont, dass, genauso wie das Ansprechen, auch »[d]as Zuhören spricht«,27 nämlich: »Berühre mich, wisse, dass ich existiere«.28 Es ist die Antwort auf diesen Appell der Zuhörenden, »Berühre mich, wisse, dass ich an dem Ort, hier und jetzt existiere«, die das im Refrain wiederholte Ansprechen im Hirschhaus erzeugt. Durch den Appell werden die Ansprechenden zugleich zu ihrerseits Zuhörenden. Dieses »hier und jetzt« ist eine äonische Gegenwart, die nicht repräsentiert werden kann. Darum spiegelt jeder Einzelne diese Gegenwart in jeweils anderer Weise wider. Und darum erscheint das »Hier« als Atopos,29 der nicht identifiziert werden kann, der aber mit einer zentripetalen Kraft Menschen in sich versammelt und ihr Begehren nach ihm weckt. Der Refrain wird mit einer Melodie wiederholt, die, ähnlich wie »Song for Buddhanton« in Isabellas Zimmer, auch nach der Aufführung lange im Ohr bleibt. In dieser Szene wird die Lust zur Musik weniger durch eine be-

26 Vgl. Barthes, 1990-1, S. 262. 27 Ebd., S. 255. 28 Ebd. 29 Vgl. Kapitel 1-3 »Atopos. Disharmonie der monadischen Welt« in der »Hinführung« zu dieser Arbeit.

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stimmte Stimme eines bestimmten Körpers hervorgerufen, sondern durch das gemeinsame Singen. Hier erscheint also kein intimer Atopos der Liebenden, sondern der Atopos der sich Versammelnden, die auch die abwesenden bzw. aus dem Hörraum abgeschlossenen, unfassbaren Menschen willkommen heißen. Die Lust am Zusammensein wird mit dem Refrain wiederholt, und diese Wiederholung ist es, was den Versammlungsort zusammenhält und eigentlich erst bildet. Der Atopos bleibt in der schillernden Ewigkeit um den stillen Moment gesammelt, sodass man trotz seiner fehlenden örtlichen Identifizierung an diesen Ort zurückkehren kann.

4-7. T OPOLOGISCHE S TIMMGESTE 6: W ARTEN Das Hirschhaus trägt den Untertitel Die Gegenwart. Titel und Untertitel verweisen letztlich auf die Gegenwart des theatralen Versammlungsortes. Das Stück fragt danach, wie man trotz der bleibenden Gefahr, dass Rachegefühle aufkommen, hier und jetzt zusammenleben kann. »Das Hirschhaus« bietet dafür einen Versammlungsort. Die Menschen versammeln sich zunächst wegen eines Todesfalls, der sich in der Realität außerhalb des Theaters ereignete und ein Mitglied der Theatergruppe tiefe Trauer stürzte. Jenes Ereignis aber bleibt unvorstellbar und abwesend, obwohl es das Zentrum der Versammlung sein muss. Der Moment des Todes wird auf der Bühne als singuläres Ereignis zitiert und so thematisiert und gemeinsam betrauert, ohne dass man diesen Moment auf willkürliche und selbstzufriedene Weise repräsentierte. Daher versammeln sich die Beteiligten nicht im auratischen hic et nunc bzw. im Chronos, sondern im Äon, das auf einen nicht zu repräsentierenden leeren Riss zwischen Vergangenheit und Zukunft hindeutet. Die äonische Gegenwart ist zugleich die Gegenwart der Stimme, die im Moment ihres Ertönens schon verklingt und deren Gegenwart in diesem Sinn immer leer ist. Diese Eigenschaft der stimmlichen Gegenwart wird vor allem beim gemeinsamen Trauergesang »Sad Song at an open Fire« wahrnehmbar, in dem jede Stimme ihre Vergänglichkeit und die sie umgebende Stille hören lässt. Die Stimmen singen hier sowohl für die in der Vergangenheit Verstorbenen als auch für die in der Gegenwart und in der Zukunft Sterbenden, indem sie die unfassbare, vergängliche Gegenwart der Stimme und dadurch die Sterblichkeit des Menschen hörbar machen. Die Stille des

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Todesereignisses, das weder zu begreifen noch darzustellen ist, das aber in den vergänglichen Stimmen hörbar wird, versammelt die Zuhörenden und Trauernden mit einer zentripetalen Kraft. Die stimmliche Gemeinschaft, die sich so um den »Tod der Anderen« herum bildet, verbindet als eine uneingestehbare Gemeinschaft, die niemandem gehört und die immer deterritorialisiert ist. Die erzählenden Stimmen wollen die gemeinsame Geschichte rekonstruieren, aber sie lassen nicht einfach den Inhalt dieser Geschichte vernehmen, sondern vielmehr ihre eigene Sinnlichkeit, die zwischen den Menschen ausgetauscht wird und dort Appelle zu Gehör bringt. Stille, leere Momente rufen imaginierte Erzählungen hervor, von denen die Stimmen aufs Neue reden, aber durch die Anhäufung immer anderer Variationen der Erzählungen lässt sich der Sinngehalt der Stimmen nicht festmachen. Ihre Sinnlichkeit dagegen hebt dann vor allem der gemeinsame, einander ansprechende Gesang hervor. So scheitert die Handlung des Erzählens und des Imaginierens immer wieder, was nicht selten eine Verkettung von Gewalttaten verursachen kann. Sinnlichkeit heißt dabei nicht, dass nichts stattfände, sondern in der Sinnlichkeit des Gesangs wirkt eine ästhetische Kraft, selbst wenn der Gesang physisch nicht »kräftig«, sondern eher »sanft« klingt. Der Philosoph Christoph Menke unterscheidet die Kraft, die ästhetisch ist, dezidiert vom Vermögen, das praktisch ist: Während das Vermögen eine zweckmäßige Handlung bzw. eine spezifische soziale Praxis gelingen lassen kann und es somit möglich macht, dass der Handelnde als ein soziales, politisches und poietisches Subjekt auftritt, sind wir im Spiel der Kräfte »vor- und übersubjektiv – Agenten, die keine Subjekte sind; aktiv, ohne Selbstbewußtsein; erfinderisch, ohne Zweck«. 30 Mit einem Zitat Nietzsches bezeichnet Menke »das zwecklose Überströmen der Kraft« als das menschliche »Leben«31 und erläutert: »Als lebendiges ist das menschliche Tun nicht Verwirklichung eines Zwecks, sondern Ausdruck von Kraft«.32 Im gemeinsamen Gesang für das Hirschhaus wirkt eine solche ästhetische Kraft, die das menschliche »Leben« ausdrückt, allerdings nicht das »Leben« eines Menschen, sondern das »Zusammenleben« gesammelter, pluralischer Menschen. Denn Stimmen, aus denen ästhetische Kraft

30 Menke, 2014, S. 13. 31 Vgl. Menke, 2017, S. 117 sowie Nietzsche (1[44]; 9,15) 32 Ebd, S. 118.

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strömt, finden sich nicht an einem Menschen, sondern immer zwischen Menschen. Das Lied für das Hirschhaus wird so gesungen, dass es diese Eigenschaft der Stimme in den Vordergrund stellt: Die Versammelten zeigen die Geste des Zuhörens und rufen, »Hey now, don’t go away/ Please do stay« (146). Hier entsteht eine Kraft, welche die Menschen an einem Ort namens »Hirschhaus« als einem äonisch gegenwärtigen Ort versammeln kann. Die so beschriebene äonische und stimmliche Gegenwart wird durch die topologische Stimmgeste des Wartens zusammengehalten. Das Warten ist im Stück in der Geste des Zuhörens und des Willkommen-Heißens spürbar. Ein solches Warten muss, wie schon erwähnt, mit Heidegger vom Erwarten dezidiert unterschieden werden. Wenn man erwartet, stellt man sich das Erwartete vor; es ist schon bestimmt, bevor es kommt. Wer wartet, wartet auf Unvorstellbares, auch wenn es gefährlich sein könnte. Daher bedeutet Zuhören hier nicht, das wahrzunehmen, was man erwartet, sondern sich auch dem auszusetzen, was man nicht erwartet. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Willkommen-Heißens. Mit der Stimmgeste des InsHirschhaus-willkommen-Heißens empfängt man nicht nur die Bekannten, sondern auch die Unbekannten, selbst wenn sie Mörder von Familienmitgliedern sein sollten. Diese Stimmgesten schaffen nicht nur den Hör-raum, der die Menschen nebeneinander sein lässt, selbst aber vergänglich verschwindet, sondern auch den Ort, der nun als »das Hirschhaus« benannt und zum Versammeln wiedererkennbar ist. Dieser Ort entsteht als Atopos, der zwar nicht identifizierbar ist, der aber mit einer starken zentripetalen Kraft Menschen in sich versammelt. Die äonische Gegenwart kehrt mit dem Refrain von »Lied für das Hirschhaus« zurück. Der Gesang ist eine Allegorie für den Zirkel des Zuhörens – des Wartens – und des Antwortens. Im Zirkel des Zuhörens wird auf die Wiederholung des verlorenen Moments bzw. der äonischen Gegenwart gewartet. Diese Gegenwart bleibt niemals gleich, weil der Äon ein leerer Riss ist und kein repräsentierbares Hier und Jetzt. Wer wartet, weiß um die äonische, nicht repräsentierbare Gegenwart. Der Moment kann nur in der Verflechtung von Ereignissen der Vergangenheit und möglichen Imaginationen der Zukunft imaginiert und so rekonstruiert werden; dabei gibt das gegenseitige Zuhören den Freiraum für diese Verflechtung, ohne jedoch den Moment willkürlich zu repräsentieren. Denn die Gemeinschaft im Hirschhaus vermeidet es letzlich, das singuläre Todesereignis eines jeden

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Verstorbenen und Sterbenden, um das herum Menschen sich versammeln, zugunsten der anwesenden Lebenden zu usurpieren. Die Wiederholung dieser Geste, die ihr zeitliche Dauer verleiht, hält den Ort, an den Menschen zurückkommen können. »Das Hirschhaus« als atopischer Versammlungsort wird durch nichts anderes als den Refrain der Stimmgeste, die eine äonische Gegenwart wiederholt, zeitlich wie auch räumlich zusammengehalten.

Zur Atopie. Wiederholung und Differenz in topologischen Stimmgesten

Die vorliegende Arbeit hat mit zwei Fragen begonnen: Woher appelliert die Stimme, wenn sie im Theater »hier« sagt? Und: Wohin ruft die appellierende Stimme uns als Hörende zusammen? Das Theater ist ein heterogener Ort oder Raum. Im postdramatischen Theater, wie in Heiner Müllers Die Hamletmaschine, wird eine Bestimmung des bezeichneten Ortes oft völlig verwirrt. Stimmen, die im Theater (vor allem im postdramatischen Theater) hervorgebracht werden, übermitteln nicht nur sprachliche Informationen über die Orte, von denen in den Theatertexten die Rede ist und an denen die Szenen gespielt werden sollen. In den Überlegungen und Analysen der vorliegenden Arbeit wurde betont, dass die Stimmen vielmehr die spezifischen, eigentümlichen Orte erzeugen, auf die sich die beiden Ausgangsfragen richten: den Entstehungsort der Stimme (das Woher der Stimme) und den Versammlungsort der Appellierenden und Zuhörenden (das Wohin der Stimme). Im ersten Teil wurde untersucht, wie die Entstehungsorte der Stimmen, die man oft mit politisch, geographisch oder sozial festgestellten Orten identifiziert, prozessual gebildet und aufgelöst werden. Im zweiten Teil wurde dann gezeigt, wie die appellierenden Stimmen theatrale Versammlungsorte schaffen. Die Stimme als solche, so wurde gezeigt, ist ortlos; sie besitzt keinen eigenen Ort, der mit einem Namen identifiziert werden könnte, weil sie im Moment des Ertönens verklingt und somit niemals »festgestellt« werden kann. Die Stimme ist die Spur des Appellierenden, den sie bereits beim Ertönen verlässt, während sie vom Zuhörenden nur als Spur verfolgt werden

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kann und daher immer unterschiedlich gehört wird. Obwohl die Stimme als Index funktioniert, besteht ihre Identität nicht apriorisch, sondern wird immer erst nachträglich hergestellt. Die Stimme ist also weder beim Sprechenden noch beim Hörenden zu verorten, sondern befindet sich immer in einem Dazwischen. Die Stimme lässt uns nicht nur vermittels der Sprache Orte imaginieren, sondern sie lässt auch ihre eigene Fluidität vernehmen und löst dadurch die imaginierten Orte zugleich auf. Sie strukturiert durch ihre Körperlichkeit die jeweiligen Verhältnisse zwischen den Appellierenden, den Hörenden und den imaginierten Orten prozessual. Um diesen dynamischen Erzeugungsprozess des Ortes im Theater zu analysieren, eignen sich akustische Phänomene besser als optische. Während das Sehen besser geeignet ist, die betrachteten Objekte mit bestimmten Orten zu verbinden und diese Orte mit einem gewissen »Überblick« anzuordnen, nimmt das Hören die jeweils festgestellten Orte immer in wesentlich dynamischen Prozessen wahr. Stimmen, die solche Eigenschaften in besonderer Weise hervorheben, habe ich in der vorliegenden Arbeit ortlose Stimmen genannt. Die Stimme selbst ist zwar ortlos, aber sie erzeugt einen Hörraum. Dabei entstehen in einem dynamischen Prozess spezifische Orte: der Entstehungsort der Stimme bzw. der Standpunkt der Appellierenden und der Versammlungsort bzw. der Treff- und Berührungspunkt der Appellierenden und der Zuhörenden. Diesen Prozess, in dem sozial, politisch oder geographisch vorgegebene Orte aufgelöst und theatrale Versammlungsorte erzeugt werden, habe ich in dieser Arbeit anhand spezifischer und markant inszenierter ortloser Stimmen analysiert und einige ihrer Varianten als »topologische Stimmgesten« unterschieden. Die insgesamt sechs topologischen Stimmgesten, die ich in den hier behandelten Aufführungen zum Thema machte, strukturieren im theatralen Hörraum unterschiedliche Verhältnisse zwischen den Appellierenden, den Hörenden und den imaginierten Orten. Die stimmliche Geste figuriert – anders als die Maske, die Rolle oder der Körper – keine »Persona«, sondern nur eine noch unvollendete Tat. Darum hilft der Begriff der Stimmgeste, die Stimme unabhängig von einem persönlichen Körper zu begreifen und ihre verschiedenen Funktionen zu analysieren. Ich habe verschiedene Aspekte von Gesten mit Blick auf den Mythos, die Psychoanalyse und die Philosophie herangezogen, um eine Analyse zu ermöglichen, die nicht vom Begriff einer bestimmten Persönlichkeit abhängig ist und die daher überall – auch im Alltag – zu findende Relationen sichtbar macht.

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Die ortlosen Stimmen, die sich immer dazwischen befinden, immer auf dem Weg sind, schicken uns Zuhörende durch topologische Stimmgesten auf eine theatrale »Reise«. Dabei folgen wir nicht bloß mit den Augen einer Landkarte, sondern wir reisen mit unseren ganzen Körpern. Während die geographische Karte oder die geopolitische Sicht aus der Vogelperspektive auf Orte hinabschaut, führen ortlose Stimmen uns als Zuhörende an einen zwischenmenschlichen Berührungspunkt, indem sie zugleich den kulturellen, politischen und sozialen Standpunkt des Appellierenden akustisch spüren lassen und uns in ihren Hörraum involvieren. Der stimmlich gefundene Ort wird also weder objektiviert noch einseitig manipuliert, sondern jeweils in den zwischenmenschlichen Relationen hervorgebracht. Topologische Stimmgesten erzeugen eben solche Relationen. Ein so beschriebenes Verhältnis zum Ort wird in einem globalisierten Zeitalter, in dem unterschiedliche Perspektiven kollidieren, immer wichtiger. Mit ihm gewinnen wir die Möglichkeit, einen Weg zu öffnen, die »Fremden« zu berühren und mit ihnen zusammenzuleben. Dabei wird auch der eigene Ort niemals selbstverständlich vorausgesetzt; man findet in diesem Sinn »das Fremde in sich selbst«. Aus diesem Grund kann die Funktion der ortlosen Stimmen auch im Zusammenhang mit dem Konzept des »transkulturellen Theaters«1 weiterentwickelt werden, das die angebliche Identität einer jeden Kultur in Frage stellt und die Fremdheit auch innerhalb der eigenen Kultur thematisiert. In den analysierten Aufführungen sind einige Stimmen des scheinbar »absoluten Bösen«, etwa von Terroristen, zu hören, deren Gedanken schwer nachvollziehbar sind und mit denen weder Konsens noch Versöhnung möglich scheinen: so die Rache schnaubende Elektra bzw. Ophelia in Wilsons Inszenierung der Hamletmaschine, die bereits vorgestellt wurde, oder Salman, der »seelenlose« Anführer der Rebellion in Needcompanys Der Lobstershop. Trotz der Schwierigkeit der Versöhnung lassen sich ihre Stimmen im Theater nicht als die von absoluten Feinden vernehmen, die aus der gemeinsamen politischen Basis ausgeschlossen sind, sondern als Stimmen von »Gegnern« im Sinn Chantal Mouffes. Anders als ein Feind bildet der »Gegner« einen »Agonismus«, nämlich »eine Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den Konflikt keine rationa-

1

Vgl. Heeg, 2014 sowie 2017.

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le Lösung gibt«.2 Das Gegenwartstheater macht es möglich, die Stimmen der vermeintlichen »Feinde« als Stimmen von »Gegnern« im Sinn Mouffes auftreten zu lassen. So kann sich ein gemeinsamer Raum der vielen Stimmen bilden, auch wenn ein Konsens noch aussteht und sogar neue Konflikte entstehen können – ein Umstand, auf den Julia Kristeva mit ihrem Begriff der »revolutionären Politik« verwiesen hat. Der stimmliche Ort des Gegenwartstheaters ist dadurch zum Polylog geöffnet und birgt somit auch das Potenzial, zu künftigen, multipolaren Demokratien beizutragen. In diesem Sinn bietet die hier aufgewiesene Funktion der Stimme die Möglichkeit, sich auf die fernsten Fremden zu richten und zu ihnen zu reisen. Im ersten Teil der Arbeit sind wir auf unserer Reise von bereits politisch, geographisch oder sozial anerkannten Orten aus – Hiroshima, Nagasaki, Hapcheon, Pripyat, Deutschland, Europa sowie dem »Ort« des Ich bzw. dem Standpunkt eines Subjekts, auf dem alle menschlichen Verortungen basieren – abgereist. Im zweiten Teil sind wir an erst im Theater erzeugte Orte – Isabellas Zimmer, den Lobstershop, das Hirschhaus – (an-) gereist. Die Klammern um das Präfix »an« sollen andeuten, dass wir kein bestimmtes Reiseziel je ganz erreichen. Die Orte, an welche die flüchtigen Stimmen uns als Zuhörende bringen, werden nur durch eine Wiederholung mit Differenz erzeugt. Die so erzeugten Orte sind nicht schon fertig da, sondern sie müssen weiter zusammengehalten werden. Die Eigenheiten von stimmlich und darum durch eine Wiederholung mit Differenz erzeugten Orten möchte ich abschließend anhand der in der vorliegenden Arbeit behandelten Beispiele zusammenfassen. Da Stimmen vergänglich sind, beruhen stimmlich dargestellte Orte konstitutiv auf der stimmlichen Wiederholung. Die topologischen Stimmgesten entsprechen daher immer einer sich selbst wiederholenden Geste im Sinn der mythologischen »Echo«, der »Sirenen« oder der »Revolution«. Die Sirene besingt die Geschichte der Zuhörenden im Voraus und macht so deren eigenes Leben zur Wiederholung der bereits besungenen Geschichte. Im Sinn einer »Maschine der Revolution« bedeutet Revolution ein Zurückwälzen. Die Revolution wiederholt den (vermeintlichen) Ursprungsort. In der Geste »Das alte Lied wiederholen« ist das Moment der Wiederholung offensichtlich. Die letzten zwei topologischen Stimmgesten – »Zaudern« und »Warten« – scheinen in keinem direkten Zusammenhang mit der Wie-

2

Mouffe, 2007, S. 30.

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derholung zu stehen, und doch bleibt die Wiederholung in ihnen hörbar. Das »Zaudern« nämlich entspricht keinem Stillstand, sondern einem dynamischen Zusammenprall von gegensätzlichen Kräften, zwischen denen die Zaudernden anhaltend oszillieren. Die Zaudernden wiederholen die innere Bewegung eines Hin und Her. Das »Warten« wiederum ist eine Geste, die – anders als das Erwarten – eine unvorstellbare Zukunft und Vergangenheit empfängt. Die Geste des »Wartens« vermeidet es, etwas schon Vorgestelltes oder Vorstellbares sich wiederholen zu lassen. Gleichzeitig kann die Dauer des »Wartens« durch die Wiederholung gezeigt werden – so in dem sich wiederholenden Gesang »Song for The Deerhouse«. In diesem Gesang zeigen die Wartenden ihre ständige Bereitschaft an, das Unvorstellbare aufzunehmen, und eben dadurch halten sie den Versammlungsort »Hirschhaus« zusammen. Die Wartenden – nicht die Erwartenden – sind immer bereit dazu, etwas anderes als das Erwartete zu empfangen. Der Versammlungsort »Hirschhaus« wird also erneut nur in der Wiederholung mit Differenz möglich. Nicht nur das »Warten«, sondern jede topologische Stimmgeste führt zu einer jeweils unterschiedlichen »Wiederholung«: Das »mythische Echo« ist keine Wiederholung des Originals, sondern die zerstückelte, minderwertige Kopie des Originals, wie in Wolken. Heim. die mythische Echostimme satirisch dargestellt. Die Performerinnen zeigen hier das schauspielerische Potential der Echostimme, die noch aus dem Mangel der Sprache eine andere Perspektive zu erzeugen vermag. Die Stimmen der »Sirenen« wiederum werden von den verdoppelten Figuren – Odysseus A und Odysseus A’ – unterschiedlich gehört. Die »Maschine der Revolution« lässt in den schreienden Stimmen eine unendliche Maskerade vernehmen. In »Ein altes Lied wiederholen« übernimmt die Figur Isabella selektiv nur das »Gute« von den Verstorbenen, ohne auch das »Schlechte« zu erben. Das »Zaudern« wird vor allem durch die wortlosen Atemzüge angetrieben, die für eine Theateraufführung relativ lang wiederholt werden und daher auch nach der Aufführung im Gedächtnis bleiben. Die Atemzüge lassen widersprüchliche Bedeutungen ablesen und lösen daher immer andere, widersprüchliche Reaktionen der Zuhörenden aus. So bringen die Atemzüge die Zuhörenden in ein endloses Zaudern. Jedoch bildet eben das »Zaudern« den Ort unserer Zukunft, den »Lobstershop«. Bei ortlosen Stimmen hält nur ihre Wiederholung die Orte zusammen. Die hier dargelegten topologischen Stimmgesten zeigen allgemein vor allem in der Form der Wiederholung mit Differenz,

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dass Ursprungsort, Heim oder Heimat nicht apriorisch existieren, sondern prozessual erzeugt werden. Die Stimme, die oft vornehmlich als ein verbindendes Medium gilt, erzeugt eine Differenz. Durch die Stimmen verschmelzen die Appellierenden und die Hörenden nicht in eine einheitliche Gemeinschaft, sondern die Stimmen werden von beiden Seiten – in der Differenz – geteilt (partage). Das »Lied für das Hirschhaus« wird nicht nur von miteinander harmonisierenden Stimmen gesungen, sondern immer wieder durch schreiende, lachende, geräuschhafte Stimmen gestört. Jedoch eliminiert das für eine Gemeinschaft gesungene Lied die dissonanten Stimmen nicht, sondern es empfängt sie: Der Gesang lässt die disharmonischen Stimmen frei ertönen und tritt eher in den Hintergrund, indem er eine unerschütterlich sanfte Atmosphäre aufrechterhält, in der wir eine Geste des Wartens wie auch des Zuhörens und Willkommen-Heißens vernehmen können. Das Lied wird nicht nur für den familiären Kreis gesungen, der eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur besitzt, sondern gerade für die dissonanten Fremden. Eben durch dieses Aufnehmen von Dissonanz schafft Needcompany in ihrem Stück die »Schönheit« des Gemeinsam-Lebens. Der theatrale Versammlungsort bildet sich gerade dadurch, dass Differenz empfangen und diese Haltung im Refrain wiederholt wird. Der theatrale Versammlungsort, der durch ortlose Stimmen hergestellt wird, ist ein geteilter Ort. Auch die eingangs im Kapitel »Hinführung« genannten grundlegenden Stimmgesten – das »Berichten«, der »gestische Schauspieler« und die »Sprechmaschine«, auf denen die topologischen Stimmgesten basieren – heben eine solche Differenz hervor. Das »Berichten« vermittelt den Hörenden nicht nur Informationen, sondern vielmehr die Spur eines Ereignisses, das sie verfolgen sollen. Der »gestische Schauspieler« macht die doppelte Bedeutung seines Spiels bewusst, indem er das eigene Schauspiel als solches zeigt und die schauspielerisch erzeugte Illusion kritisch betrachten lässt. Die »Sprechmaschine« schließlich vermeidet es, eine klar vorstellbare menschliche Emotion zu repräsentieren und präsentiert an deren Stelle einen schwer vorstellbaren und nachvollziehbaren Affekt. So lässt uns die »Sprechmaschine« eine Spur des jeweils Anderen verfolgen. Der in dieser Arbeit zugrunde gelegte Begriff der Differenz folgt dem Verständnis von Gilles Deleuze, demzufolge die Differenz nicht primär als Abweichung von einer Identität aufzufassen ist, sondern im Gegenteil die Identität auf der Differenz basiert:

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Daß die Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als gewordenes Prinzip existiert; daß sie um das Differente kreist – dies ist die Natur einer kopernikanischen Revolution, die der Differenz die Möglichkeit ihres eigenen Begriffs eröffnet, anstatt sie unter der Herrschaft eines Begriffs überhaupt festzuhalten, der bereits als identisch gesetzt ist.3

Die Identität wird erst durch die Wiederholung des Differenten erzeugt: »Das Selbe, das Ähnliche sind durch die ewige Wiederkunft erzeugte Fiktionen.«4 Die Identität der stimmlich erzeugten Orte wird eben durch die Wiederholung des Differenten gebildet, weil die Stimmen nicht als etwas Vorhandenes, sondern immer als Spuren und daher immer als different wahrgenommen werden. Die Wiederholung mit Differenz, die einen stimmlichen Ort erst ermöglicht, erscheint nicht nur als körperliche, akustisch wahrnehmbare Wiederholung, sondern auch als affektive Wiederholung; sie ist es, die die Stimme konstitutiv ortlos macht und gleichzeitig die Zuhörenden mit einem Ort verbindet. Denn die Stimme erzeugt einen spezifischen, affektiven Ort: den Atopos. Der Atopos ist der unqualifizierbare Ort, der jedoch die Zuhörenden – sei es erotisch, sei es ethisch – stark anzieht und sie sich immer wieder fragen lässt: Ich will dich berühren, aber wo bist du? Dieses »wo« bedeutet kein »egal wo«, sondern es richtet sich auf einen Ort – den Standpunkt des Appellierenden und den Berührungspunkt der beiden –, obwohl jener Ort weder qualifizierbar noch lokalisierbar ist. Der Atopos ist daher der Ort der Frage, der die Appellierenden anzieht und zugleich differente Berührungspunkt zwischen dem zuhörenden Ich und dem appellierenden Du erzeugt. Der Atopos – der Ort der Frage – wird zum Anhaltspunkt, der uns als Hörende zum Standpunkt der Appellierenden und zum Berührungspunkt zwischen Appellierenden und Zuhörenden führen kann. Die »Reise« der ortlosen Stimmen führt die Zuhörenden an den Atopos und eben dadurch an einen zwischenmenschlichen5 Berührungspunkt. Wir Zuhörenden

3

Deleuze, 2007, S. 64f.

4

Ebd., S. 165.

5

Durch die Stimme kann man sich nicht nur der zwischenmenschlichen Berührung annähern, sondern auch einer zwischenanimalischen. Zwar konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit dieses Thema nicht behandelt werden, es ließe

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reisen in Richtung des stimmlichen Atopos immerfort zum appellierenden Du, das uns dabei in ständigen Differenzen entflieht.

sich aber im Zusammenhang mit dem »ökologischen Theater« weiterentwickeln. Dazu Hahn, 2015.

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche Oktober 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 Bd. 27 Oktober 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten August 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance April 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016, Bd. 26 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

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