Stimmen Hören 9783945867341

368 62 94MB

German Pages [286] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Stimmen Hören
 9783945867341

Citation preview

STIMMEN HÖREN ciconia ciconia No. 34

STIMMEN HÖREN

X

SOUNDCHECK 009

FELSCH 013

AGUIGAH 059

DETJEN 039

D E W E C K 095

ERNST 087

/

VAGT 213

GRASSMUCK 271

WEINGARTEN 173

KITTLER 221

WICHERN 277

GADERER 237

VON MÜLLER 287

/

BAECKER 293

NAKE 083

MÜGGENBURG 105

SPRENGER 147

EBEL 185

TYRADELLIS 179

BRUNSEN 035

KLAUT 069

VEHLKEN

MAEDER 145

MÜLLER 033

BEYES 025

WARNKE 065

GAMMEL 097

THOMÄ 137

LANDWEHR 125

VON GROTE

SCHMITZ 017

REICHART 243

PETER 299

PFALLER 123

GUMBRECHT 153

MACHO 191

SANDER 249

PIAS 161

RIEGER 199

VELMINSKI 255

SCHNÖDL 307

ROTHERMUND 317

w

H

Wolgang Hagen bei der Veranstaltung Grundlagen der Rhythmuslehre — Night ofthe Profs, am 13. Mai 2017 im Salon Hansen in Lüneburg. (Copyright Originalton Lüneburg, Johannes Koch)

SOUNDCHECK

Wolfgang Hagen ist in den Medien. Und diesen verleiht er eine Stimme: Den philosophisch-historiographischen Fragen an unsere aus analogen und digitalen Verwitterungen bestehenden Zeit, den darin aufgezeichneten und gespeicherten Radio- und Internetwellen, den Vorlesungen, Se­ minaren, Prüfungen und den daraus entstehen­ den jungen Lebensläufen, den Telefonen und Zu­ schaltungen, den Formaten und Programmen, den unwillkürlichen und bildenden Systemen und den selbstredenden »Vernetzungen«. Alles, was selbstverständlich scheint, wird auf diese Weise hörbar — denn Stimmen muss man nicht nur hören, um sie wahrnehmen zu können; man wird ihnen folgen oder lässt sie sinnieren, man kann sie vermessen oder vergessen, man gibt ih­ nen Raum oder schreibt ihnen eine innere Einge­ bung zu. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur zum 30-jährigen Jubiläum des World Wide Web sagt er: »Wir sind alle kleine Unternehmer« — und diese rastlose Unternehmung ist für Wolf­ gang Hagen die Medienwissenschaft. ------------------------ Geht man von den vielen Orten aus, die Texte Wolf­ gang Hagens besitzen — die Regale internationaler und urbaner Biblio­ theken, die Schreibtische Lehrender und Studierender, die Online-Spei­ cher von Magazinen, Plattformen und Textarchiven —, lässt sich die 9

Frage ableiten, in welcher Form sich Biographien schließlich ins Digi­ tale aufschreiben. Als recherchierbare Bibliographie mithilfe eines ver­ linkten Verzeichnisses käuflicher Exemplare, als Mediographie von Mit­ schnitten, Podcast- und Sendebeiträgen, als Diskographie vergangener Moderationen, tabellarisch, narrativ in Schriftform, oder in gescann­ ten Redeanteilen (die institutionelle Akte sind und damit auch eine Form kontrollierter Eigenregie), oder als frei zugelassene Kommentare eines Bio-Threads, in dem sich Freunde und Follower temporär verewigen können? Die Seite whagen.de beginnt mit dem zweiten Eintrag nach dem Artikel »Hausmusik im Atomzeitalter« mit dieser Entschlüsselungsges­ te: Die erste datierbare digitalbiographische Einschreibung ist die Datei eines gescannten Typoskripts mit der Abiturrede vom 31. Mai 1968. Dar­ in spricht Wolfgang Hagen als Stimme im Namen seiner Mitabiturienten und rechnet vorab die Sprechzeit auf die verlangte Kürze in acht Minu­ ten um. Diese Rede beginnt mit den »eminent wichtigen geschichtlichen Prozessen«, die Wolfgang Hagen nicht nur erlebt, sondern wissenschaft­ lich mit hervorbringt, als historio-semantische, medienepistemologi­ sche, resonanz-sensorische Methodenarbeit, als die erst ermöglichende Möglichkeit einer »so zu nennenden Medienwissenschaft«. ----------------------------------- Aus den Unternehmungen der Appara­ te und Maschinen, die sich patentrechtlich anschicken um Legitimati­ on zu erfahren, die unermüdlich senden und übermitteln und sich dem kulturtechnischen Ereignen und Übereignen von Wissensinhalten ver­ pflichten, die aus ihren institutionellen Indienstnahmen und Verein­ nahmungen heraus schalten und walten, generieren sich nicht nur die Artefakte, Bruchstellen, Löcher und Amnesien, die Wolfgang Hagen er­ mittelt und analytisch präzisiert — sondern auch einen Befund zum Un­ genügen von disziplinären Setzungen, hin zu Verbindungen, die nur mehr als produktiver Übergang denkbar sind, als rite de passage, von ei­ nem Lebensjahr zum nächsten. Oder als Fluchtbewegung aus einem Le­ ben in mehrere Leben, die nur in der Vielzahl erlebbar sind und in der nicht-endenden Aufzählung der unzähligen Leben des Wolfgang Ha­ gen eine Art Übersicht gewinnen möchten, die letztendlich jedoch je­ der Form der Sortierung widersteht. Als organisiertes, dezidiertes Her­ ausfallen aus der einen Biographie, als »Fliehen, ja doch im Fliehen nach einer Waffe suchen.« (Deleuze/Parnet, Dialoge, Ffm. 1980, in »Wie No-

10

maden reisen« von Leo G. Wahnfangg) Und so liest sich mit Wolfgang Hagens Beschreibung des Medienbegriffs in »Metaxy« und der Überset­ zung des Livius-Zitats »Wer flieht, rennt seinem Schicksal mitten in die Arme«, Biographisches als beständigen Aufbruch und eine permanen­ te Ausdifferenzierung möglicher Lebens-Läufe in die Richtung, die sich schon immer im Rückspiegel befindet und sich aus dem Auf- und Davon des Ortes abzeichnet, an dem man gerade verweilt — um schließlich den leisesten Verdacht irgendeiner Stagnation geradewegs in die Flucht zu schlagen und ihr vorauszueilen. ----------------------------------- So ist dieses Buch keine Festsetzung, son­ dern die Übersetzung eines Stimmgewirrs zu einem Zeitpunkt, den wir auf den 28. Februar 2020 festlegen wollen. Und das sind bis dato nur 70 Jahre der vielen Leben Wolfgang Hagens. Das was sich im Transfer in die englische Übersetzung ergibt, als auditive Aufmerksamkeitsdifferenz des Hörens und Zuhörens »to hear is not to listen«, fällt in dieser Wid­ mung an die Arbeit Wolfgang Hagens in einer Wendung als Prozess des gleichzeitigen hear & listen zusammen: »Stimmen hören« und das bedeu­ tet, Wolfgang Hagen hören. Die Herausgeber

11

HAGEN ÜBER HAGEN Philipp Selbstdarstellung, — katholische Jugendbewegung Felsch mit 15 Schulsprecher protokolliert — in der SMV mitgearbeitet2 von Merve Lowien1, — Hausmusik, um zu gelten und zu ergötzen mit Anmerkungen — Abwehr der Idiotie der bügerl. Schule und Erläuterungen früh mit scholastischer Philosophie beschäftigt versehen* (nicht verstanden, aber darüber geredet) mitAUSS3 Konflikte, Zugang nicht gefunden Abi-Rede gehalten (Gespürfür Doppelbödigkeit derbürgerl. Emanzipation) nach Wien, um der Emanz. auszuweichen (Beschäftigung mit der Philos. war unpolitisch, um repressionsfreien Trip in der bürgerlichen Gesellschaft zu bekommen) in Wien kannte mich keiner, und so konnte ich von vorne beginnen stud. Philosophie und Musikwissenschaft (Platon, Heinkel-Seminar4) Perspektive Lehrer praktisch politische Tätigkeit in der FLNS (Kant, Feuerbach, Frühschriften) Schah Besuch viel agit.6 war von der spontanen Solidarität sehr beeindruckt Demonstrationen, teach-in, Diskussion engen Kontakt mit vielen Menschen 13

— — — — — — — — — — — — — — — — —

nach Schah Abschlaffung, dann nach Berlin Fleischer-Seminar keinen Kontakt Beschäftigung mit dem Kapital, dann zur WiSos, in die Gründung der Rotzök fasziniert von der inhaltlichen Arbeit der Rotzök zur Krüger-Fraktion10 Erfahrungen mit der Unione-Dis. (an den Bedürfnissen der Massen vorbei)11 im Zentralrat12 die Unmittelbarkeit des Parteiaufbaus war zu sehr auf mechanische Logik eingeschränkt Klassenanalytischer Positivismus (Technik, Angestellte) Aufbau der Angestellten-Gruppe Arbeit bei Siemens Verlag15 hektische Entwicklung Erfahrungen der Arbeiterklasse Sehnsucht, in Gruppen zu arbeiten Moment der Zärtlichkeit, wurde in Wien zur Praxis, ging aber durch Funktionärstum verloren

14

I.

Namensgeberin des 1970 gegründeten Westberliner MerveVerlagskollektivs, zu dessen ersten Mitgliedern Wolfgang Hagen gehörte. Als ich vor einigen Jahren begann, über die Geschichte von Merve zu recherchieren, legte mir Wolfgang Hagen Merve Lowiens weitge­ hend vergessene, bei Merve erschienene Verlags­ geschichte Weibliche Produktivkraft. Gibt es eine andere Ökonomie? von 1977 ans Herz, deren dokumenta­ rischem Anhang seine Selbstdarstellung entnommen ist. Hinweis: In Lowiens Verlagsgeschichte tritt Wolfgang Hagen unter dem Pseudonym »Oskar« auf.

2. Schülermitverwaltung

3Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler 4Konnte nicht ermittelt werden.

5Konnte nicht ermittelt werden.

6. Im Januar 1969 kam der iranische Schah zum Staatsbesuch nach Wien. Die Szenerie ähnelte jener, die sich anderthalb Jahre zuvor in West-Berlin ereignet hatte. Immerhin gab es diesmal aber keinen Toten. 7Der marxistische Philosoph Helmut Fleischer

8. Fakultät für Wirtschafts­ und Sozialwissenschaften 9Rote Zelle Ökonomie

10. Möglicherweise ist Antje Krüger gemeint, eine Kommunardin der Kommune 1, die sich zwischenzeitlich jener Fraktion der Umher­ schweifenden Haschrebellen zugehörig fühlte, die später nicht in Richtung Bewegung 2. Juni abdriftete. Aber das ist nicht mehr als Spekulation.

11. Unione dei Comunisti Italiani, eine 1968 gegründete, maoistische Partei, die als Vorbild für die 1970 in West-Berlin gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (Aufbau­ organisation) KPD/AO diente.

12. Einen Zentralrat hatten um 1970 viele, sogar die Umherschweifenden Haschrebellen. Vermut­ lich — wie auch bei den folgenden Stationen — aber KPD/AO 13S. Fußnote 1

* Mit Dank für wertvolle Hinweise an David Bebnowski

Ich habe keine Bücher, die Bücher haben mich

Peter Gente

/TMP/IN_PRESSIS_VERBIS/ MERVE_VERLAG Intervention im Merve Verlag Berlin 2016

Lisa Im Verlagsraum des Merve Verlags in Schmitz Berlin-Schöneberg stehen alle Bü­ cher mit dem Rücken zur Wand. Die temporäre Rauminstallation bezieht neben dem Bestand des Verlagspro­ gramms ebenfalls eine umfangrei­ che Bibliothek, Archiv, Arbeitstische und sonstige Objekte mit ein. Text­ informationen sowie bildliche Ver­ weise sind dem wahrnehmenden Blick entzogen. Gleichzeitig öffnen sich die Bücher in den Raum hinein, indem die Textur des Buchschnit­ tes sichtbar wird — dennoch sind sie verschlossen. ---------------------------------------- Der Ort der Ansammlung komplexer Gedanken und Wissensverflechtungen verändert sich, das Bücher­ regal mutiert zu einer Reflexionswand. Fehlen die Titel der Bücher, Kataloge und Zeitschriften, dann stellen sich Fragen: Wie präsent ist das, was nicht da ist und durch einen verborgenen Text belebt und ar­ tikuliert wird? Was erscheint warum und auf welche Weise verschie­ den. Wie lässt sich Differentes wahrnehmen? Es entsteht eine para­ doxale Situation, die einen erweiterten Raum der Imagination und des freien Denkens ermöglicht.

17

V

ÜMb

M

----------------------------------- Die Photoserie /tmp/in_pressis_verbis/merve verlag besteht aus ioo Aufnahmen. Seit 1995 sind in 30 privaten und öffentlichen Bibliotheken /tmp/in pressis verbis Rauminstallatio­ nen, Photoserien und /tmp/mapping Videoanimationen entstanden, die auf performativen Eingriffen und Interventionen beruhen: Vil­ la Aurora Los Angeles, Siegfried Zielinski Köln, Karl Schlögel Berlin, Peter Weibel und ZKM Karlsruhe, b books Buchladenkollektiv Ber­ lin, Vilem Flusser Archiv Köln, Forschungszentrum Jülich, Dmitrij Prigov Moskau, Andrew Solomon New York, Vadim Zakharov Köln. Arbeiten aus dem Werkzyklus wurden kontextuell in Archiven, Bi­ bliotheken, Forschungszentren, sowie anlässlich von Konferenzen und Ausstellungen gezeigt — ZKM Karlsruhe, Forschungszentrum Jülich, UBA Dessau, Vilem Flusser Archiv Köln, Mille Plateaux Volks­ bühne Berlin, Medienfassade Münster. Lisa Schmitz,/tmp/in_pressis_verbis/merve_verlag, Intervention, Berlin 2016

Fotos Seite 16-22 Copyright VG Bild-Kunst, Bonn

23

KLINGEN DES W., GELÄCHTER Vor ein paar Jahren erstand ich in einem Berliner Antiqua­ riat ein Exemplar von Band 54 der Internationalen marxistischen Diskussion des Merve Verlags aus dem Jahr 1975: Jacques Rancieres Wider den akademischen Marxismus. ------------------------------------------------ Dank bibliothekarischer Pfle­ ge der per Stempel ausgewiesenen Ruhr-Universität war Rancieres Abrechnung mit Althusser und dem Althusserismus in recht gutem Zustand — die alte Billigklebebindung, mit der im Merve-Kollektiv zu dieser Zeit Handarbeit gedacht und Theorien gehandhabt werden sollten, per Schutzumschlag zusammengehalten.1 Zu meiner Überra­ schung war das Buch in Teilen übersetzt und mit editiert vom »Ge­ nossen Wolfgang Hagen«. Am Ende des Buches fand sich ein Nach­ wort von Genosse W. mit dem etwas ominösen Titel »Klingen des Ich, Machttheorien«. Dieser Text muss das Kollektivgemüt so er­ regt haben, dass sein Verfasser in der ebenfalls abgedruckten Stel­ lungnahme und Rechtfertigung des Kollektivs, »Warum wir Ranciere publizieren«, sein Fett abkriegte: In »Wolfgangs Kritik« gehe die politische Brisanz der Texte von Ranciere verloren, weil W. »die Kri­ tik Rancieres an der Produktionsweise des Intellektuellen scheinbar aufnimmt, aber nur um sie [...] skrupellos, in unangefochtener Ego­ zentrik, beizubehalten« und um den Genossen Otto Kallscheuer und seine Rezeption der Texte »abzuschießen«.2 Ich staunte. Zu spät ge25

Timon Beyes 1. »[W]ir versuchen im kollekti­ ven Arbeitsprozess fremdbe­ stimmtes Leben, Arbeiten und Denken zu durchbrechen: wir arbeiten nicht als Lohnarbei­ ter, haben keine hierarchisch gegliederte Arbeitsorganisa­ tion; wir versuchen, Handar­ beit zu denken, Theorien zu handhaben, Texte in Bezug auf unsere alltägliche Praxis zu hinterfragen und auf diese Weise ein neues Verhältnis zu Menschen und Gegen­ ständen zu entwickeln.« So das Kollektiv in Band 54 zur Frage »[w]arum wir Ranciere publizieren«, in: Jacques Ranciere: Wider den akademischen Marxismus, Berlin 1975, S. 91.

2. Ebd., S. 92.

3Siehe Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie, München 2015 für die Geschichte des Merve Kollektivs als eine Kulturgeschichte der Theorie, in der auch Band 54 sowie Wolfgang Hagen als Stichwortgeber auftauchen.

boren für Genese oder Teilnahme am langen Sommer der Theorie^ kannte ich Wolfang Hagen durch seine Lehrtätigkeit an der Schwei­ zer Wirtschaftsuniversität St. Gallen und vor allem durch die ge­ meinsame Arbeit im Rahmen der mit EU-Geldern sattsam alimen­ tierten Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten im »Schwerpunkt Digitale Medien« an der Leuphana Universität Lüneburg. Zu weit er­ schien der Weg von HSG und Leuphana, von Managementschmiede und Medientheorie, zum Genossen W., seiner Arbeit im Merve-Verlag zu Beginn der 1970er und seinen Diskussionen mit dem Merve-Kollektiv, aus denen der gut zwanzigseitige Anhang zu den Ranciere-Texten in Wider den akademischen Marxismus entstanden war. Als ich ihn irgendwann darauf ansprach, lachte er und biss den Filter einer ge­ schnorrten Zigarette ab, damit er filterlos rauchen konnte. ----------------------------------- Nach Neulektüre des Buches aus gebo­ tenem Anlass scheint mir der Weg weniger weit, die Diskrepanz zwischen Ranciere und Hagen weniger markant. Anstatt über ver­ meintliche Brüche und Konversionen des Denkens zu spekulieren, geschweige denn der öden Geschichte über den Niedergang und die Eingemeindung radikaler Kritik das Wort zu reden, möchte ich drei Motive benennen, die in W.’s Text (und möglicherweise in der hef­ tigen Reaktion des Kollektivs) am Werk sind: Polizei, Materialität und Gelächter. Diesen Motiven vorausgestellt sei ihre Bedingung: der den Kolleginnen und Kollegen von W. wohlbekannte Klarsinn, der sich durchaus mit scharfer Klinge äußern kann. Dieser Scharf­ sinn ist also mindestens 44 Jahre alt. »Klingen des Ich, Machttheo­ rien« zeigt luzide, wie die Ranciere-Rezeption im Nachwort von Ge­ nosse O. einer Fehllektüre aufsitzt, die Rancieres Einsatz verfehlen muss. Und die dessen Althusser-Kritik gewissermaßen noch einmal bestätigt, verbleibt sie doch in den theorieimmanenten — mit Ranci­ ere gesprochen: theoriepolizeilichen — Dualismen der »universitä­ ren Kapellen« und seinen »Verbotstafeln«, die festzuhalten suchen, wer wann worüber in welcher Sprache sprechen darf. Theorie und wissenschaftliche Systematizität sind rein zu halten von der bloßen Rede des Pöbels und von den ungefilterten Ereignissen. »Aber Ran­ ciere«, schreibt W., »hat in Wirklichkeit nirgendwo behauptet, dass die »Arbeiterklasse erst innerhalb der Arbeiterwissenschaft theoreti-

26

sehe Existenz erhält< , weil er es wahrscheinlich für ein »existentielles< Problem des Intellektuellen gehalten hätte, dass er, um seine be­ drohte Existenz zu retten, anderen eine »theoretische Existenz< geben muss«. Das sitzt. Ereignisse, so der Ranciere’sche Hagen, bräuchten nicht innertheoretisch zum Klingen gebracht werden. Sie sind bereits Klingen, die die kommode und machtvolle akademische Unterschei­ dung zwischen denen, die theoretisch sprechen, und jenen, für die theoretisch gesprochen wird, zerschneiden.4 ----------------------------------- In der Verteidigung Rancieres gegen sei­ ne deutschen Leserinnen und Leser zeigt sich ein erstes Motiv, ein Un­ behagen am »Status des Intellektuellen«, an Denkerfürst und »Verbin­ dungsoffizier« und ihren diskursiven Polizeioperationen, die immer auch Machtpositionen zu sichern versuchen. Man mag hier den Au­ ßenseiter erkennen, oder genauer: den, der mit einem Bein innerhalb und mit dem anderen außerhalb der universitären Kapellen steht und schlicht besser sehen kann, wie — in den Worten von 1975 — drinnen die »Isolation durch normative Setzung [ihres] Machtvermögens« ver­ kannt wird und »die permanent falschen Fragen, permanent falschen Dualismen und Problemkonstellationen« reproduziert werden. Man ist desweiteren — wiederum: als dafür zu spät Gekommener — zumin­ dest versucht, dieses Motiv im Weg in den Rundfunk und in der lang­ jährigen Arbeit an Kulturprogrammen am Werk zu sehen. Diese Arbeit kann eben nicht theoriekirchlich immanent verfahren, sondern stellt sich den veränderlichen Bedingungen der Kulturproduktion und -Zir­ kulation. Es scheint mir das anti-diskurspolizeiliche Motiv zu sein, dass sich zum Beispiel 35 Jahre später in einer nicht minder scharfen Ausei­ nandersetzung mit der konservativen Kultur- und Medienkritik und ihrem »wissend selbstverliebtfen]« »Rausch des Normativen« äußert. Es ist fehlende intellektuelle Redlichkeit, die Hagen bei denen erkennt, die immer schon zu wissen glauben, was Kultur bzw. Hochkultur heißt und wie sie medial zu vermitteln ist. Wieder erkennt W. »polizeiliche Maßnahmen«, die mit der sachlichen Dürftigkeit eines medienkriti­ schen Hochkulturverständnisses einhergehen. Letzteres steckt selbst »tief in den Medien« und lebt »gut von ihnen«, während es »durch die inflationäre Verbreitung immer derselben Irrtümer ganz wesentlich zu jener kulturellen Ausdünnung [...] beiträgt, die [es]beklagt«.

27

4Wolfgang Hagen: Klingen des Ich, Machttheorien, in: Jacques Ranciere: Wider den akademischen Marxismus, Berlin 1975, S. 103-109.

5Wolfgang Hagen: Normative Hohlmünzen, in: Zeitschriftfür Medienund Kulturforschung 2/2011, S. 48-55.

6. Wolfgang Hagen: Gegenwartsvergessenheit: Lazarsfeld-Adorno Innis -Luhmann, Berlin 2003, S.61.

7Wolfgang Hagen: Effekt-Affekt Computer. Eine kleine Fußnote zu archäologischen Fragen, 2019 8. Wolfgang Hagen: Warum »das Digitale« (wenn überhaupt) ein Medium ist, aber keinefeste Form hat. — Überlegungen von Hertz bis Moore, 2013

----------------------------------- Mit den Medien und ihrer Polizei ist ein zweites Motiv angesprochen, dass bereits im Ranciere-Nachwort steckt. W. betont, dass der Philosoph in einer französischen Denk­ tradition stehe, die »das Verhältnis von Theorie und materialer Argu­ mentationsbedingung von Theorie thematisiert«. Es handelt sich um eine materiale Diskursanalytik, die reflexiv ihre eigenen Konstituti­ onsbedingungen des (in Rancieres Fall) zirkulierenden Wortes mit­ denkt, die also Apparate sowie Macht und strategische Organisation der materiellen Zirkulationsbedingungen des Diskurses in den Mit­ telpunkt rückt. Ein solches Verständnis ist dem jungen Merve-Verlag und seinen Gebrauchsbüchern für die theoretisch-praktische Hand­ arbeit und Handhabbarkeit ja eingeschrieben, obschon das Kollektiv in Band 54 genau diese Denkfigur in W.’s Nachwort nicht wahrzuneh­ men gewillt zu sein scheint. Auch bei diesem Motiv ließe sich wieder über die Arbeit am und im Medium des Rundfunks spekulieren, die ein Verständnis der materialen Bedingtheit des Diskurses ganz prak­ tisch ermöglicht oder einfordert. In jedem Fall argumentiert W. in seinen medientheoretischen Schriften und Einlassungen verlässlich luzide gegen »[d]ie Verkennung der materialen Bedingungen techni­ scher Medien«, wie es in Gegenwartsvergessenheit auf Adorno gemünzt heißt.6 Diese Verkennung des Materials, sei es noch so unsichtbar, vorbewusst, umweltlich oder geheim, ist dann auch in aktuelleren Formen eines an spekulative Metaphysik gemahnenden Nachden­ kens über eine antihumanistische Medientheorie am Werk.7 Ganz zu schweigen von der Parole des Digitalen und des Geredes von Digitali­ sierung und digitaler Gesellschaft: Weil hier eine nebulöse Worthül­ se an die Stelle der Analyse unterschiedlicher materialer Funktionen und Praktiken gesetzt wird, erklärt W. das Digitale zur größten Illusi­ onsmetapher der Wissensgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte.8 ----------------------------------- Der antipolizeilichen und materialen Diskursanalytik, die in »Klingen des Ich, Machttheorien« bereits an­ gelegt ist, möchte ich schließlich ein drittes Motiv an die Seite stellen: das Gelächter. W.’s Nachwort zum Ranciere-Band schließt sarkas­ tisch: So sei der Prozess, in dem »die Theoretiker der Rebellion erst mal sämtliche Kostüme der Arbeiterbewegung [...] neu anprobiert ha­ ben, noch immer nicht abgeschlossen; es scheint, dass erst noch eini28

ge bürgerliche Requisiten kommen werden«. W. empfiehlt das Ranciere-Kostüm. Das ist lustig und nimmt vorweg, was den späteren Aferve-Diskurs in der Anrufung von Foucaults berühmtem Gelächter über linke und linkische Reflexion prägen sollte.9 Und schon höre ich den Lüneburger W. ansteckend lachen — über das Absurdistan von Uni-Verwaltung und Hochschulpolitik, über allzu simple, medienund materialitätsgeschichtsvergessene Theoreme und Parolen, über die Marotten der Exzentrikerinnen und Exzentriker des Denkens und dergleichen mehr. Die Ranciere-Requisite, die ich W. übergezo­ gen habe, hat hier wohl ausgedient. Wer das Vergnügen hat, mit Wolf­ gang Hagen zusammenzusitzen und ihm zuzuhören, der hat Respekt und vielleicht ein bisschen Bammel vor seiner scharfen Klinge. Und große Freude am gemeinsamen Gelächter.

29

9Felsch: Der lange Sommer der Theorie, a.a.O., S. 109-114.

Wolfgang Müller Riesenalk

Die Geschichte der Menschheit wird immer eine Geschichte der Bilder und Phantasmen sein, da die Imagination der Ort ist, an dem nicht nur der Bruch zwischen Individuellem und Intelligiblem verläuft, sondern auch die dialektische Neuzusammenfassung geleistet werden muss.

Giorgio Agamben, Nymphae, Berlin, 2005

für Wolfgang Hagen zum 70. Geburtstag VOGELSTIMMEN Wolfgang AUS DEM JENSEITS Schade, dass der Gesang des Riesenalks für Müller immer verschwunden ist, sagte ich 1994, als ich das einzige Exemplar des Vogels im Isländischen Naturkundemuseum sah. ------------------------------- »Nein, Gesang kann man das wohl nicht nennen!«, erwiderte ?Evar Petersen, der Vogelexperte des Museums. Es sei eher ein gurgelndes Gekrächze gewesen: »Wie die Rufe einer Trottellumme!« Es war zufällig das 150jährige Jubiläum seiner Aus­ rottung. Drei isländische Seemänner hatten die beiden letzten Vögel, ein brütendes Paar, 1844 auf der Insel Eldey erschlagen. Sammler hat­ ten viel Geld geboten, um mit einem Balg des längst raren Vogels ihre Balg-Sammlung zu komplettieren. ------------------------------- Eine langjährige Freundin, die Schauspie­ lerin Kristbjörg Kjeld war die erste Isländerin, die dann im Hörspiel­ studio des isländischen Staatssenders rüv die gurgelnden, krächzen­ den Laute nach den vorhandenen wissenschaftlichen Beschreibungen rekonstruierte. Tatsächlich hört man nicht die Stimme eines Men­ schen oder der Grande Dame des isländischen Theaters — es ertönt der Riesenalk! Erstmals wieder seit 150 Jahren! ------------------------------- Später förderte ich weitere ausgestorbe­ ne Vogelstimmen zutage, die der Mauritiusfruchttaube, des Ha­ waii-Krausschwanz und des Jamaika-Teufelssturmvogels. Die Se­ ance Vocibus Avium, die Vogelstimmen aus dem Jenseits können auch als Geburtstagsständchen eingesetzt werden. Hier zum Beispiel, für Wolfgang Hagen, als gemischter Chor aus den Rufen von Norfolkstar, Neuseelandwachtel und Guadeloupe-Caracara. 33

Im Dezember geht's los aufBremen Vier Soll's auchbei euchlosgeh'n, musst ihr am Radio dreh'n Auf101,2 ist ganz Bremen dabei Der Bremerhavener macht sein'saufioo,8

ICH SAG BREMEN DU SAGST VIER

Erinnerst Du Dich? Oktober 1986. Wir bei­ de sitzen im Tonstudio und machen uns an einen Rap, der dann vier Wochen lang non­ stop im Radio die Geburtsstunde unseres Ba­ bys ankündigen sollte.1 Wir nannten es »Bre­ men Vier«. Und natürlich war es einzigartig. Nicht nur für uns als »Eltern«, sondern auch für die Großeltern und Paten wie Radio Bremen und die ARD. Denn es war die erste Jugend­ welle, die erste wirkliche Rock- und Popstati­ on im öffentlich-rechtlichen Radio. --------------------------- Bis das Baby laufen konnte, holte es sich noch manche Beulen, fiel hin, stand wieder auf und lernte dabei jede Men­ ge. Heute ist Bremen Vier 33 Jahre alt und aus dem Gröbsten raus — auch (und vielleicht gerade) ohne uns...

Das ist Pop das ist Rock, das ist Rock’n’Roll eure Musik jeden Tag und auch Funk & Soul Musik von Abba über Zappa zu den Simple Minds da spielen wir alle Stücke nur von Heino gibt’s keins

--------------------------- Lange her, dieses Bremen Vier — unsere Über­ schrift für eine gemeinsame berufliche Zeit. Aber es war viel mehr als das. Diese Zeit hat uns geprägt und wirkt bis heute nach. Ganz sicher bei mir. Und ich vermute, auch bei Dir. Ich will erklären, warum. --------------------------- Das duale Rundfunksystem stand in den Start­ löchern und Dir war es damals gelungen, die Leitung des Hauses und 35

Berthold Brunsen

1. Und ich Idiot habe nicht dran gedacht, den Song bei der GEMA anzumelden, wodurch mir, wie ich später nachrechnete, eine kleine Eigentumswohnung durch die Lappen ging. Butit's no use crying over spil t milk...

nicht zuletzt die Gremien davon zu überzeugen, dass es an der Zeit ist, ein Experiment zu wagen, um junge Leute an Radio Bremen zu bin­ den (schon damals ein Thema) und um eine adäquate Antwort auf die­ se neuen Privatradios zu finden, die wir im Gegensatz zu einigen an­ deren großen ARD-Anstalten weder belächelten noch unterschätzten. ----------------------------------- Und Dir war es gelungen, Menschen wie mich wieder mit dem Radiovirus zu infizieren. Warum wieder? Weil ich eigentlich gerade kündigen wollte. ----------------------------------- Ich träumte schon als Kind davon, der Mann im Radio zu werden. Lötete als Jugendlicher Schwarzsender, um damit verbotener Weise mein Heimatdorfund später das Studen­ tenwohnheim mit meinem Radio zu bespielen. Ich nahm Kassetten mit eigenen Sendungen auf, um sie zu verschenken und war für ein normales Berufsleben als Musiklehrer in dem Moment verloren, als ich den SWF3-Moderatoren in Baden-Baden beim richtigen Radio über die Schulter gucken durfte. ----------------------------------- Irgendwann bot Radio Bremen mir einen Job als Musikredakteur an und ich wähnte mich am Tor zum Him­ mel — um mich schon bald in einer verstaubten, öffentlich-rechtli­ chen Behörde wiederzufinden, die mich mit ihren Tentakeln und xfachen Durchschlägen zu ersticken drohte. Das war nicht mein Radio. Da wollte ich raus! ----------------------------------- Und als ich gerade dabei war, meinen Traum zu begraben und mich mit einem Berufsleben als Musiklehrer anfreundete, kamst Du um die Ecke. Du erzähltest mir von einer Idee, einer neuen Radiofrequenz. Und fragtest mich, ob ich Lust hätte, zu­ sammen mit Dir in einem neuen Team ein neues Radio zu machen. Du öffnetest deinen imaginären Koffer und legtest all die schönen RadioSpielzeuge auf den Tisch, von denen ich dachte, sie seien bei Radio Bre­ men nicht vorhanden, vergessen oder verboten. Und ob ich Lust hatte! ----------------------------------- Wir trafen uns in deiner Souterrain-Kü­ che, sammelten Ideen, machten Pläne, holten DJs und Plattenver­ käufer ins Team und erfanden zusammen ein neues Radio. Mit unse­ rer Musik, unseren Themen, unseren Stimmen und unseren eigenen Händen an Plattenspielern und Reglern. All das gab es vorher so noch nicht! Wir durften es ausprobieren, durften in unserer Radio-Sand-

36

kiste spielen und bekamen auch noch Geld dafür! Du gabst den »Dr. Nox« und ich spielte die »B-Seiten«. ----------------------------------- Über die Jahre versuchten wir, aus dem kleinen Radio ein großes Radio zu machen. Vielleicht waren wir bei­ de dabei sowas wie Lennon und McCartney. Du warst eher der John. Der Denker, der Zynische, der Verrückte, der Geniale. Und ich mach­ te den Paul. War der Entertainer, der Populäre, der Mann für die Mas­ sen. Wir befruchteten, steuerten und bremsten uns gegenseitig. Und ich glaube, das war auch gut so. ----------------------------------- Dass es uns anschließend in unterschied­ liche Richtungen gezogen hat (Dich in die Kultur, in die Forschung, an die Uni und mich ins Digitale, in die Werbung, auf die Bühne und wie­ der ins Radio), ist eine andere Geschichte, die, was Dich angeht, ande­ re besser erzählen können. ----------------------------------- Wenn heute das Telefon klingelt und ich Dich dann ansatzlos fragen höre: »Ey Berger, Zeit für’n Bier?«, dann weiß ich, dass Wolfgang wiedermal sein riesiges Wohnmobil in Bre­ men geparkt hat, dass er sich natürlich nicht vorher gemeldet hat, dass ich selbstverständlich alles möglich mache und dass wir wieder eine schöne Zeit vor seinem »Schiff« oder an der Weser haben wer­ den. Denn dann reden, diskutieren, fabulieren und lachen wir. Freu­ en uns, dass es uns gibt und spüren auch nach all’ den Jahren immer noch ein bisschen Bremen Vier in uns. Lust auf Neues. Keine Angst, an­ zuecken. Menschen begeistern. Ideen spinnen. Fehler machen. ----------------------------------- Lieber Wolfgang, Du warst es also, der mich fürs Radio gerettet hat. Durch Dich durfte ich irgendwann der sein, der ich immer werden wollte: der Mann im Radio. Der Radio­ mann. Ich weiß nicht, ob ich Dir das jemals so gesagt oder geschrie­ ben habe. Wenn nicht, ist heute wohl eine der besten Gelegenheiten, das nachzuholen. Ob in der Schule in der Pause oder ob zuhause Ob im Autoradio, mit ’nem Walkman auf’m Klo Was ihr gerade macht, ist völlig einerlei Radio Bremen Vier ist aufjeden Fall dabei Denn ich sag Bremen — und Du sagst Vier.

37

Foto von Bettina Straub, Deutschlandradio 2005

Stephan WOLFGANG HAGEN UND DAS RADIO1. das Radiofeuilleton--------------------------- Detjen FEUILLETON Vordergründig betrachtet war das Ra­ diofeuilleton eine Sendung im damali­ gen Deutschlandradio Kultur, dem zweiten Programm des bundesweiten öffentlichrechtlichen Hörfunks Deutschlandradio. Es wurde an jedem Werktag von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr ausgestrahlt, umfass­ te also zwei zusammenhängende, jeweils dreistündige Sendeflächen am Vor- und Nachmittag. -------------------------------- Tatsächlich war das Radiofeuilleton nicht einfach eine Sendung im klassischen Sinn, die sich in abgeschlosse­ ner Form einem bestimmten Thema widmet, bevor in der folgenden Sendung der Fokus auf ein anderes Thema oder einen neuen Themen­ komplex geschwenkt wird. Das Radiofeuilleton war vielmehr ein um­ fassendes programmliches und redaktionelles Organisationsprinzip für ein modernes Kulturradio, das in einer theoretisch beliebig ver­ längerbaren Sendestrecke Raum und Ordnung für ganz verschiede­ ne Inhalte und redaktionelle Kompetenzen schuf. Jede der sechs Sen­ destunden folgte dazu einer strukturell gleichartigen Stundenuhr mit sechs jeweils etwa zehnminütigen Segmenten oder — wie Wolfgang Hagen es nannte — »Themenfeldern«: am Anfang der Sendestunde standen Nachrichten, eine Themenübersicht sowie kurze Hooklines, einprägsame Ausschnitte aus den Musikstücken unterschiedlicher Genres, die im Verlauf der Sendestunde ganz ausgespielt wurden. 39

Dann folgte ein längeres Gespräch mit Autoren, Kulturschaffenden, Wissenschaftlern oder Künstlern zu aktuellen oder latent aktuellen Themen von kultureller und gesellschaftlicher Relevanz, sodann ein Segment, in dem die bereits angekündigte Musik zum journalisti­ schen Thema wurde: Ein Musikredakteur präsentierte aus aktuellem Anlass (CD-Neuerscheinungen, Jubiläen, Konzerte, Festivals) Mu­ sik und gab dazu fachredaktionelle Erläuterungen. Zur halben Stun­ de gab es kurze Kulturnachrichten, die zuweilen einen anekdotischen oder aphoristischen Stil hatten; darauf folgte immer um kurz nach halb eine Buchkritik in Form eines Live-Gesprächs. Auch in der zwei­ ten Hälfte der Stundenuhr gab es wieder einen fachredaktionell prä­ sentierten Musikblock und — am Ende der Stunde — eine Reportage oder ein Portrait zu Themen und Menschen aus dem breiten Kultur­ spektrum von bildender Kunst bis zur Pop- und Internetkultur. ----------------------------------- Das verbindende Element zwischen die­ sen verschiedenen Segmenten war nicht eine einheitliche Musikfarbe und auch nicht — zumindest nicht allein — die Rolle (und Stimme) ei­ ner Moderatorin oder eines Moderators, die oder der die Hörer gleich­ sam akustisch an die Hand nimmt und durch die Sendung führt. Die Übergänge von einem Thema zum anderen wurden durch akustische Signets gestaltet, Jingles, die in wiederkehrender Form die nächs­ ten Elemente der Sendung ankündigten: »Thema«, »Musik«, »Kultur­ nachrichten«, »Literatur« bzw. »Sachbuch«, »Portrait«, etc. Für die Musikthemen waren die Jingles so gestaltet, dass sie je nach dem da­ nach thematisierten Genre Anspielungen aus Klassik, Rock, Pop oder Jazz enthielten. ----------------------------------- Ein variabel wiederkehrendes Element des Radiofeuilletons waren die Wurfsendungen — Minihörspiele von jeweils nicht mehr als einer Minute Länge, die allein oder in Zweier­ oder Dreierkombinationen als »Wurfpakete« eingesetzt und einmal pro Stunde an unterschiedlichen Stellen in das Programm geworfen wurden. Die Wurfsendungen waren akustisch aufwändig produzier­ te Miniaturen: Alltagsszenen, Gesprächssequenzen, Versatzstücke aus Liedern, Rap-Sentenzen, Reime oder Lautmalereien. Sie ergaben weder als Einzelstücke noch in den nach einem Zufallsprinzip zu­ sammengestellten »Wurfpaketen« Sinn, sondern schufen — nur mit

40

einem Jingle angekündigt, ohne thematischen Bezug zu anderen The­ men der Sendung — überraschende, oft belustigende, zuweilen irri­ tierende und stets bedeutungsoffene Höreindrücke. ----------------------------------- Die Wurfsendung war ein einprägsames Beispiel für die Abbildung und Verzahnung verschiedener redaktio­ neller Kompetenzen im Radiofeuilleton: Die besonderen Leistungen der Hörspiel- und Featureredaktion kamen bis dahin allein in hörer­ armen Abend-, Nacht- und Wochenendsendungen zur Geltung. Mit der Wurfsendung aber war eine Form gefunden, mit der das ganze radiophone Können von Tontechnikern, Produzenten, Redakteurin­ nen, Autorinnen und Künstlern in die reichweitenstarken Kernsen­ dezeiten des Tagesprogramms transportiert werden konnte. Ähnlich funktionierte das Radiofeuilleton als Sendegefäß, in dem in kom­ primierter Form redaktionelle Kompetenzen der Musik-, Literatur-, Wissenschafts- und Reportageredaktion hörbar wurden. Einzelne Themenfelder der Sendung wurden von diesen Redaktionen eigen­ ständig gestaltet. Die Gesamtverantwortung für die Sendestrecken lag bei einer aktuellen Senderedaktion, die primär für Themenaus­ wahl und Gestaltung der Gesprächszeiten am Anfang jeder Sen­ destunde verantwortlich war. Unterschiedliche Kompetenzen, Per­ spektiven, Arbeitsmodi und Planungshorizonte der beteiligten Redaktionen konnten damit bei Wahrung redaktioneller Autonomi­ en in einer einheitlichen Sendestrecke verbunden werden. 2. WOLFGANG HAGEN UND DIE MIGRATION DER RADIOFORMEN -------------

Das Radiofeuilleton war eine Erfindung von Wolfgang Hagen. Als im Frühjahr 2004 die Entscheidung fiel, das zweite Programm des Deutschlandradios mit dem Schwerpunkt Kultur zu profilieren, war Wolfgang seit zwei Jahren Leiter der Hauptabteilung Kultur im Ber­ liner Deutschlandradio-Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz. In seinen Zuständigkeitsbereich fielen ausgedehnte Musik-Sendestrecken am Abend und am Wochenende, Hörspiele, Features und Sendungen für Radiokunst sowie das Vor- und Nachmittagsprogramm. Deutschlandra­ dio Berlin — wie das Programm damals hieß — sendete zwischen 9 und 12 sowie 14 und 17 Uhr eine einstündige Gesprächssendung, traditio­ nelle Radiomagazine sowie Sendungen mit Gesellschaftsreportagen.

41

Deutschlandradio Foto von Christian Kruppa

----------------------------------- Die Mischung des Programms und die Gestalt einzelner Sendungen spiegelte zehn Jahre nach der Grün­ dung von Deutschlandradio noch die ungewöhnliche Geschichte seiner Entstehung: Deutschlandradio war 1994 als institutionelle Auffanglö­ sung für jene deutschen Radiosender geschaffen worden, denen mit der Wiedervereinigung die verfassungsrechtliche Grundlage entzo­ gen worden war. Der Deutschlandfunk in Köln hatte in den Zeiten der Teilung auf bundesgesetzlicher Grundlage ein Programm für Ge­ samtdeutschland ausgestrahlt. So wie diese »qua-Natur-der-SacheZuständigkeit« des Bundes für den gesamtdeutschen Rundfunk DLF, entfiel mit der Wiedervereinigung und dem Ende des Besatzungssta­ tuts auch die Rechtsgrundlage für den ursprünglich von den USA fi­ nanzierten RIAS in Berlin. In der ehemaligen DDR schließlich ging die Rundfunkhoheit auf die neu gegründeten Länder über, die mit Staatsverträgen den MDR sowie den ORB schufen bzw. das Sendege­ biet des NDR auf Mecklenburg-Vorpommern ausweiteten. In Berlin wurden Teile des RIAS privatisiert, das RIAS Fernsehen zum Grund­ stein eines Auslandsfernsehens der Deutschen Welle. ----------------------------------- Während der Deutschlandfunk in Köln seine redaktionelle und programmliche Identität auf neuer Rechts­ grundlage unverändert erhalten konnte, entstand im Berliner Funk­ haus eine ungewöhnliche Mischung aus ganz unterschiedlichen Tra­ ditionen und journalistischen Selbstverständnissen. Redakteure, die ein ganzes Berufsleben lang auf unterschiedlichen Seiten Teil des kal­ ten Kommunikationskrieges im Äther gewesen waren, saßen sich von einem Tag auf den anderen im selben Büro an ihren Schreibti­ schen gegenüber. Ehemalige RIAS-Moderatoren und Reporter, die durch die populären Sendungen des Besatzungsradios in Ost und West zu Bekanntheit gelangt waren, fanden sich in einem neuen Pro­ gramm mit dem (wegen fehlender Frequenzen nicht eingelösten) An­ spruch auf nationale Reichweite, aber ohne gewachsene Hörerbin­ dung wieder. Die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DDR Radios waren überwiegend Kultur- oder jüngere Nachwuchs­ journalisten. Ein großer Teil der politischen Redakteure war bei den Überprüfungen durch die Stasi-Unterlagen-Behörde als IM oder als Parteimitglied eingestuft und nicht in den neuen, öffentlich-rechtli­ 44

chen Rundfunk übernommen worden. Musik- und Kulturjournalis­ ten dagegen hatten im DDR-Staatsrundfunk relativ entpolitisierte Nischen gefunden, die ihnen Räume für die Entfaltung ihrer zum Teil hohen Fachkompetenzen und persönlichen Neigungen geboten hat­ ten. Das prägte auch das Programm sowie die Redaktionskultur im Berliner Funkhaus des Deutschlandradios: Die Identifikation der Re­ dakteure mit »ihren« jeweiligen Sendungen war hoch. Gesprächs­ und Reportagereihen sowie Magazinsendungen wurden mit Liebe zum Detail gestaltet. Musikalisch bot das Programm eine breite Mi­ schung von Pop, Jazz, Weltmusik und Klassik. ----------------------------------- Das Programm hatte mit dieser Mi­ schung indes nie eine klare Kontur gewonnen. Selbst in der internen Wahrnehmung war Deutschlandradio Berlin immer ein publizistischer Gemischtwarenladen im Schatten des etablierten DLF geblieben. Das Programm strahlte einzelne Preziosen, aber wenig erkennbare Ge­ samtidentität aus. Entsprechend blieb auch die Resonanz schwach. Die Hörerzahlen verharrten auf niedrigem Niveau von etwa 250.000 täglichen Hörern. Kurz vor dem zehnjährigen Gründungsjubiläum wurde von Medienpolitikern offen die Frage aufgeworfen, ob der bun­ desweite Hörfunk neben dem anerkannten Deutschlandfunk weiter­ hin ein zweites Programm brauche. ----------------------------------- Das schuf den Reformdruck, aus dem das Radiofeuilleton hervorging, Unter dem neuen Namen »Deutschlad­ radio Kultur« sollte das Berliner Deutschlandradio-Programm ab 2005 ein klareres, kulturjournalistisches Profil erhalten, eine inhaltliche Alternative zum Deutschlandfunk als politisch geprägtem Informa­ tionsprogramm akzentuieren und die medienpolitische Legitimation des zweiten, bundesweiten Hörfunkprogramms des Deutschlandradios untermauern. ----------------------------------- Seine ersten Jahre im Berliner Funkhaus hatte Wolfgang Hagen als eine Art Schläfer verbracht: Er führte die Hauptabteilung Kultur weitgehend geräuschlos, setzte hier und da in­ haltliche Akzente — und veröffentlichte nebenbei seine große Kul­ turgeschichte und Theorie des Radios, mit der er sich an der Univer­ sität Basel habilitiert hatte.1 Es traf sich, dass das Buchprojekt fertig war, als Intendant und Programmdirektor ihn damit beauftragten, 45

1. Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks — Deutschland/USA, München 2005.

sich Gedanken über die Reform des Berliner Programms zu machen. Da erwachte der Radioreformer, Programmgestalter und Vordenker. ----------------------------------- Wolfgang war überzeugt, dass sich der bundesweite Hörfunk mit seinen neuen Sendungen gleichermaßen durch formale und inhaltliche Innovation profilieren müsse. Bei­ des — Form und Inhalt — gehörte dabei für ihn zusammen. Das alte Programm des Senders war aus Sicht des Medienhistorikers noch Ausdruck einer radiogeschichtlichen Formensprache der 70er- und 8oer-Jahre. Damals wurden erstmals streng segmentierte Fachsen­ dungen durch neuartige Radiomagazine abgelöst. Das Magazin funk­ tionierte als publizistischer Container, in dem Inhalte aus ganz un­ terschiedlichen Themenkreisen gemischt und durch eine einheitliche Musikfarbe sowie die Person des Moderators oder der Moderatorin verbunden wurden. Die traditionelle Moderatorenrolle, die auch das alte Deutschlandradio-Programm prägte, beschrieb Wolfgang als die eines »auktorialen Erzählers«, der das Wissen über den Prozess re­ daktioneller Themenauswahl und -Zusammenstellung verkörperte und die Hörerschaft kraft seiner charismatischen Ausstrahlung von dessen Sinnhaftigkeit überzeugen sollte. Für Wolfgang war das nicht nur eine in die Jahre gekommene Gestaltungsidee. Er sah im etablier­ ten Radiomagazin und der damit einhergehenden Moderatorenrolle eine publizistische Grundhaltung, die nicht mehr genügend Möglich­ keiten bot, das Wissen um die komplexe Wirklichkeit des digitalen Zeitalters zu erfassen und angemessen zu vermitteln. Er suchte nach Ausdrucks- und Ordnungsformen, die eine Enthierarchisierung von Themen und den Verzicht auf die journalistische Autoritätsperson des Moderators erlaubte. Stattdessen sollte die Begründung von Re­ levanz durch fachliche Kompetenz gestärkt und zugleich ein Zugriff auf unterschiedlichste Themen und Perspektiven jenseits klassischer Ressortaufteilungen ermöglicht werden. ----------------------------------- In seinem Buch über Das Radio hatte Wolfgang beschrieben, wie sich das Medium durch eine Migration der Formen — insbesondere zwischen den USA und Europa — weiter­ entwickelt hatte. Er identifizierte das Inforadio mit seiner sich formal selbst wiederholenden Stundenuhr als letzte bedeutsame Radioinno­ vation, die Anfang der 9Oer-Jahre in der deutschen Radiolandschaft 46

angekommen war. Die Geschichte der Stundenuhr reicht in den USA viel weiter zurück, bis in die 5oer-Jahre, als mit »Top4O«-Formaten nach strikten Regeln durchgetaktete Musiksendungen den Radio­ markt veränderten. Die regelhafte Formalisierung von Sendestun­ den mit einer festgelegten und sich wiederholenden Abfolge musika­ lischer Typen, Nachrichten, Wetter- und Verkehrsmeldungen sowie anderen Informations- und Serviceelementen veränderte das Hören. Die Stundenuhr, so beschreibt es Wolfgang, stellt »die Differenz von Erwartung und Erfüllung auf Dauer«2, kreiert also strukturell einen Appetit zum Weiterhören, der nie gestillt werden kann. Das lässt sich auch an der Erfolgsgeschichte des Inforadios in Deutschland ablesen. Die formale Gestaltung entwickelte eine Sogwirkung auf die Hörer, die selbst die Macher überraschte: Info-Formate wie Bayern 5 als Pi­ onier des Genres in Deutschland, mdr info oder rbb Inforadio waren mit ihren Viertelstunden- oder 20-Minuten-Rhythmen darauf angelegt, eine schnell wechselnde Hörerschaft beim morgendlichen Zähneput­ zen oder bei den Autofahrten von und zum Arbeitsplatz kompakt zu informieren. Tatsächlich aber lag die durchschnittliche Verweildauer trotz regelmäßiger Wiederholung von Nachrichten und Beiträgen bei knapp eineinhalb Stunden.3 ----------------------------------- Wolfgang Hagens Grundgedanke bei der Konzeption des Radiofeuilletons war es, den Erfolg und die Ge­ staltungsform des Inforadios in ein modernes Kulturprogramm zu übersetzen. Das entsprach nicht allein seiner Neugier und Innovati­ onsfreude, sondern auch seinem wissenschaftlich begründeten Kul­ turverständnis: Dem neuen Programm sollte selbstverständlich ein »weiter, nämlich ganzheitlicher Kulturbegriff« zugrunde liegen. Kul­ tur sollte nicht als »>nice to have< sondern >muss< für alle« erfass­ bar werden. Das zielte nicht allein im Hilmar Hoffmann’schen Sinn darauf ab, Institutionen und Themen eines traditionellen Kulturbe­ triebes zu demokratisieren und für die breite Hörerschaft eines mo­ dernen Massenmediums zu erschließen. Die kulturelle Perspektive des modernen Kulturradios sollte es erlauben, die Ganzheit der Le­ benswelt in einer modernen, funktional ausdifferenzierten Welt in den Blick zu nehmen. In einem internen Konzeptpapier formulierte Wolfgang: »Kein Bereich der Gesellschaft, weder Politik, noch Religi­

47

2. Ebd.,S. 329.

3Annette Mende: Inforadios im digitalen Zeitalter, in: mediaperspektiven, 10/2014, S.485.

on, noch Wirtschaft oder Wissenschaft, kann sich länger gegenüber übergreifenden Fragen nach seiner kulturellen Kompetenz verschlie­ ßen. Aber anders als beispielsweise die Politik oder das Recht, hat die Kultur selbst kein eigenes, klar abgestecktes »Sachgebiete Kultur hat es vielmehr mit dem >Überschuss< an Sinn (und Unsinn) zu tun, den moderne Gesellschaften stets und ständig produzieren«. Der gan­ ze Bereich der Kunst von den darstellenden Künsten bis zu Literatur, Musik, Film und Pop bildet nach diesem Verständnis nur eines von vielen Funktionssystemen der Gesellschaft, deren Eigengesetzlich­ keiten als Ausdruck kultureller Praxis betrachten werden können. Aus diesem weiten Kulturbegriff ergab sich logisch die Notwendig­ keit, die journalistische Beobachtung und Beschreibung von Kultur neu zu ordnen und den publizistischen Raum dafür zu schaffen. Das Radiofeuilleton war ein solcher Beobachtungsraum. 3. KAIROS -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

4In: Die Zeit, 24.2.2005.

5Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.03.2005.

6. Berliner Zeitung, 21.03.2005.

Das Radiofeuilleton war ein Erfolg. Noch bevor das neue Programm am 7. März 2005 auf Sendung ging, stand das Berliner Funkhaus des Deutschlandradios auf einmal als Ort eines hochinteressanten Innova­ tionsprojekts im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Berlin sei derzeit die »Hauptstadt der Radio-Erneuerung«, leitete die Zeit in einem ausführ­ lichen Dossier mit dem Titel Rettet das Radio4 ihren Bericht über die Entwicklung des Radiofeuilletons ein. »Plötzlichkeit versus Muff, so einfach ist das«, schrieb Zeit-Redakteur Ulrich Stock über das Kon­ zept. »Der Krach ist vorbei — Deutschlandradio entdeckt die Kultur«, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.5 »Selten ist in jüngster Vergangenheit eine Programmreform mit so viel Vorschusslorbeeren bedacht worden« beobachtete kurz nach dem Sendestart der Medien­ journalist Rainer Braun in der Berliner Zeitung und beschrieb das neue Format nach ersten Höreindrücken als »ausgesprochen spannend und täglich überraschend«.6 »Berauschend bunt« fand auch Tom Peuckert im Tagesspiegel das Radiofeuilleton: ----------------------------------- »Das Sendeschema erinnert an scharf kalkulierte Flugpläne auf einem internationalen Airport: Alle drei Minuten hebt ein glänzender Jet in eine neue Himmelsrichtung ab. Eben noch philosophierte ein Buchkritiker über den Schicksalsbe-

48

griff der Naturwissenschaften, schon dröhnt ein alter Maffay-Song, garniert mit sachkundigen Anmerkungen zum deutschsprachigen Pop. Ein Glossist glossiert eine Filmpremiere nebst dazugehöriger Pressekonferenz, die besten Reporterfragen werden im O-Ton vor­ gespielt: >Frau Potente, wie machen Sie das, dass Sie so schön aussehen?< Wunderbarerweise ist genau das sehr reizvoll. Lauwarm infor­ 7mieren und allzu Bekanntes noch einmal breittreten, das kann jeder. Tagesspiegel, Diese gewisse geistreiche Anarchie hört man im Moment wohl nur 14.03.2005. beim neuen Deutschlandradio.«7 ----------------------------------- Innerhalb kurzer Zeit wurde Deutschland­ radio als eines der bedeutenden Kulturmedien der Republik wahr­ genommen. Die gesamte Radiofeuilleton-Redaktion erhielt für das Format den Medienpreis des Deutschen Kulturrats. Künstler, Kul­ turpolitiker, Autoren und Wissenschaftler kamen im Stundentakt zu Studiogesprächen ins Funkhaus am Hans Rosenthal Platz. Kulturins­ titutionen suchten Medienpartnerschaften mit dem Programm. Auch die Hörerzahlen gingen nach oben. Fünf Jahre nach der Programm­ reform hatte Deutschlandradio Kultur seine Hörerschaft auf einen Rekordwert von 453.000 täglichen und etwa 3,5 Mio regelmäßigen Hörern gesteigert. Mit Blick auf das Radiofeuilleton stach bei den Analysen vor allem ins Auge, dass der bei anderen Programmen wie dem Deutschlandfunk messbare Abriss der Hörerzahl nach der Pri­ metime am Morgen beim Deutschlandradio Kultur nicht stattfand. Bei aller unvermeidlichen Unschärfe der Messungen bestätigten die Da­ ten der Hörerforschung, dass die Bindungskraft des Formats, die Wolfgang Hagen in seiner Radiotheorie beschrieben hatte, auch in der Praxis des Radiofeuilletons funktionierte. ----------------------------------- Mit seinen konzeptuellen Überlegungen hatte Wolfgang die Grundlage dafür geschaffen. Dass es tatsächlich funktionierte, hatte indes auch mit der glücklichen Fügung personel­ ler Konstellationen zu tun. Wolfgang selbst hat das Zusammenwir­ ken aller Faktoren einmal als »Kairos« beschrieben. Es führte dazu, dass sich ganz unterschiedliche Personen und Charaktere in einer re­ lativ kurzen Phase ihrer Berufslaufbahn begegneten und dabei ein produktives Zusammenwirken entstand, das ihre jeweils besten Fä­ higkeiten und Eigenschaften für das gemeinsame Projekt zur Gel­ 49

tung brachte. In einer solchen Konstellation gelingt es, die individu­ ellen Potentiale aller Akteure zu verstärken, ihre jeweiligen Energien in die passenden Bahnen zu lenken und ihre Schwächen auszuglei­ chen. In einer schwerfälligen Institution wie dem öffentlich-rechtli­ chen Rundfunk gelingt das nur selten. ----------------------------------- Dass wir das Radiofeuilleton so produk­ tiv entwickeln und erfolgreich umsetzen konnten hatte zunächst mit kontingenten Entwicklungen zu tun. Am Anfang stand ein medien­ politischer Betriebsunfall: Nachdem die langjährige Programmdi­ rektorin von Deutschlandradio Berlin in den Ruhestand gegangen war, scheiterte die von Intendant Ernst Elitz zunächst geplante Nachbe­ setzung aus parteitaktischen Gründen in den Aufsichtsgremien des Senders. In dieser Notlage erklärte sich der bisherige Programmdi­ rektor des Deutschlandfunks in Köln, Günter Müchler, bereit, die Gesamtverantwortung für beide Programme und Redaktionsstand­ orte des Deutschlandradios zu übernehmen. Wolfgang Hagen sah in Müchler damals einen durch Intelligenz und strategisches Geschick im öffentlich-rechtlichen System herausragenden Publizisten und Rundfunkmanager. Müchler verband die Übernahme der hausüber­ greifenden Funktion mit der programmatischen Entscheidung, das Berliner Programm mit einem neuen Kulturschwerpunkt gegenüber dem Deutschlandfunk in Köln zu profilieren und dies auch in einem neuen Programmnamen auszudrücken. Gewohnt, das Kölner Funk­ haus mit patriarchalischer Geste bis in feine Verästelungen von Pro­ gramm- und Personalentscheidungen beherrschen zu können, stand Müchler dem Berliner Haus einerseits mit Skepsis und innerer Dis­ tanz gegenüber. Zugleich aber erkannte und schätzte er das kreative Potential, das er dort in der Person des Kulturchefs vorfand. Faszi­ niert und reformbegeistert, aber auch nicht ohne Misstrauen such­ te Müchler nach Kontrolle über die Energien, die er entfesseln wür­ de, wenn er Wolfgang Hagen mit der Programmreform betraute. So kam ich ins Spiel. ----------------------------------- An einem sonnigen Nachmittag im Frühsommer 2004 saß ich Wolfgang an einem kleinen Tisch vor dem Cafe Einstein Unter den Linden gegenüber. Ich war damals politischer Korrespondent im Deutschlandradio Hauptstadtstudio, das ein paar 50

Schritte entfernt im Zollernhof beim ZDF untergebracht war. Wolf­ gang war aus Schöneberg nach Mitte gekommen, weil der Programm­ direktor meinte, er solle mich mal kennenlernen. Gesucht wurde der Leiter für eine Entwicklungsredaktion, die das Grundkonzept für die neuen Kultursendungen weiter ausarbeiten und dann umsetzen soll­ te. Die Idee, ich könne das sein, war, gelinde gesagt, kühn. Ich war Nachrichtenredakteur beim Bayerischen Rundfunk und rechtspoliti­ scher Korrespondent in Karlsruhe gewesen, bevor ich als Parlaments­ korrespondent nach Berlin kam. Mein journalistisches Selbstver­ ständnis war in jeder Hinsicht traditionell, ganz auf Text und Inhalte bezogen. Nie hatte ich eine Redaktion geleitet. Wolfgang hätte für die Reformaufgabe im Berliner Funkhaus gewiss einen erfahrenen Kul­ turjournalisten, jemanden aus der Redaktion eines Magazins für Di­ gitalkultur oder eine dynamische Programmacherin vom Fernsehen abgeworben, wenn er freie Hand gehabt hätte. Aber er wusste, dass er diese zentrale Personalie nicht allein in der Hand hatte — und ak­ zeptierte das souverän und neugierig. So saß er mir gut gelaunt plau­ dernd im Cafe Einstein gegenüber und beobachtete mich dabei durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. ----------------------------------- Alles was folgte, war für mich und vie­ le andere eine bis heute nachwirkende Lehrzeit. Dass es uns gelang, das Projekt gemeinsam zum Erfolg zu bringen, hatte mit Souverä­ nität, Geduld, publizistischer Leidenschaft und gegenseitigem Res­ pekt zu tun. Das galt auch für Ernst Elitz, den Intendanten, der unse­ re Reformideen zunächst mit offener Skepsis und Kritik betrachtete. Als ich die Leitung der Projektredaktion übernahm, empfahl er mir, statt FAZ, Spex und Wired lieber die Bunte und Gala zu abonnieren. Elitz schwebte seit jeher ein gehobenes Boulevard-Programm mit urban­ kultureller Anmutung vor. Nach den ersten Pilotsendungen prophe­ zeite er uns das Scheitern, machte dann aber (der Programmdirektor hatte kurz, aber heftig interveniert) deutlich, dass er sich nicht wei­ ter mit der Autorität des Intendanten in die Programmentwicklung einmischen werde. Dafür erhielt ich nach jeder weiteren Testsendung »vom Journalisten und Kollegen Ernst Elitz« seitenlange, tief ins De­ tail gehende Kritiken, stets mit der Aufforderung, sie als rein kolle­ giale Anregungen anzunehmen oder zu verwerfen. Einige davon, 51

zum Beispiel Elitz’ Idee von kurzen Musik-Hooks am Beginn der Sen­ destunden, haben wir aufgenommen und umgesetzt. Auch unter den Redakteurinnen und Redakteuren der Kulturabteilungen im Berliner Funkhaus war das Radiofeuilleton zunächst auf viel Skepsis gesto­ ßen. Schließlich wurden Sendungen, die über Jahre mit viel redaktio­ nellen Engagement betreut worden waren, eingestellt, um die Sende­ flächen für das Radiofeuilleton zu schaffen. Der theoretische Überbau des Konzepts wirkte auf manche anfangs überdreht, auf andere ab­ schreckend. Doch schon bald nach dem Sendestart bildete sich ein hoch engagiertes Team, das die täglichen Themendiskussionen auf den Redaktionskonferenzen zu schätzen lernte und die Sendung be­ lebte. Die letzten Skeptiker ließen sich vom evidenten Erfolg überzeu­ gen. Am Ende verteidigte die Redaktion ihr Radiofeuilleton und seine Grundidee vehement, als eine neue Leitungsmannschaft im Berliner Funkhaus das Programm erneut reformierte. ----------------------------------- Das Ende des Radiofeuilletons begann mit dem Ende der personellen Konstellation, die an seinem Anfang gestanden hatte. Ich selbst ließ mich vom Angebot verlocken, Chefre­ dakteur des Deutschlandfunks zu werden und ging 2008 nach Köln. Die Amtszeit von Ernst Elitz ging 2009 zu Ende. Nach heftigen Verwer­ fungen in der Geschäftsleitung ging auch Günter Müchler 2011 vor­ zeitig in den Ruhestand. Wolfgang Hagen nahm seine Professur an der Leuphana in Lüneburg an. Die neue Programmleitung setzte eine umfassende Reform im Deutschlandradio Kultur in Gang. Das Radio­ feuilleton wurde eingestellt und durch traditionelle Spartensendun­ gen in einem von formatierter Musik geprägtem »Tagesbegleitpro­ gramm« ersetzt. Das letzte Radiofeuilleton wurde am 20. Juni 2014 ausgestrahlt. ----------------------------------- Radio ist ein vergängliches Medium. Es kreiert Momente, die verfliegen, sobald sie auf dem Sender entstan­ den sind. Die besten von ihnen bleiben als unvergessliche Erinnerun­ gen, die Lebensgeschichten, Gesellschaften und schließlich das Medi­ um selbst dauerhaft prägen. Das sind die Glücksmomente des Radios. Das Radiofeuilleton ist einer davon.

52

STUDIO 1O

J

Foto von Markus Bollen, Deutschlandradio 2008

, -Z



1■ 1

ST

Foto von Bettina Straub, Deutschlandradio

Foto von Bettina Straub, Deutschlandradio 2008

Foto von Sandro Most, Deutschlandradio

für Wolfgang Hagen

BEGEGNUNGEN 2012/2019

Rene 2012. Die erste Begegnung fand in Aguigah Büchern statt. In Büchern nicht zuletzt aus dem Merve Verlag, in diesen Bändchen mit der Raute, die Leute wie ich gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts teils verschlangen, teils scannten, teils sammelten. Zum Beispiel in einem Band mit dem Titel Mehr Licht!, in dem es nicht um Goethes letzte Worte ging, sondern — jene Medi­ enwissenschaft war nicht zuletzt eine Wissenschaft der Buchstäb­ lichkeit — einfach um mehr Licht. Wobei das so einfach, natürlich, auch wieder nicht war. ------------------------------------------- Wolfgang Hagen skizziert in dem Band eine »Genealogie der Elektrizität«. Und die war jedenfalls kaum weniger schwierig zu verstehen als die Texte der Autoren neben ihm, darunter etwa Paul Virilio oder Friedrich Kittier. ------------------------------------------- Erst viel später, lange nach dieser ersten, unpersönlichen Begegnung eines Lesers mit einem Autor, er­ fuhr ich, dass Wolfgang Hagen Anfang der siebziger Jahre selbst in diesem Verlag gearbeitet hatte. Dass er Teil hatte an dieser Flaschen­ post namens Merve, die von der Crellestraße in Berlin-Schöneberg aus die gesamte Bundesrepublik versorgte, und zwar mit französischer 59

Theorie und mit deutscher Medienwissenschaft. Erst sehr viel spä­ ter erfuhr ich, dass Wolfgang Hagen seine »Genealogie der Elektrizi­ tät« von damals noch ausbauen würde: jetzt nämlich, demnächst, als Medienwissenschaftler. Und irgendwann erfuhr ich auch, dass die­ ser Wolfgang Hagen, der da in Merve-Bändchen schrieb, Radio mach­ te. Dass er vor allem Radio machte. ----------------------------------- Lieber Wolfgang, liebe Radiomenschen, ich möchte von ein paar Begegnungen mit oder Blicken auf Wolfgang Hagen erzählen. Von ein paar Momenten berichten, die ich innerhalb dieses Radio-Apparats mit Wolfgang erlebt habe. ----------------------------------- Eine zweite Begegnung also. Die zweite Begegnung fand in seinem Büro statt. In diesem denkmalschutzwür­ digen Raum von gefühlten hundert Quadratmetern, holzgetäfelt, mit der lachenden Legende Hans Rosenthal an der Wand. Ich kam als Re­ porter einer Literaturzeitschrift. Es ging um Literatur im Radio, um Literaturvermittlung. Ich werde nicht rekapitulieren, was genau der Theoretiker, Praktiker, Organisator und Manager von Literaturver­ mittlung im Radio mir damals alles erzählt hat. Aber der Eindruck, mit dem ich damals in das Gespräch ging, gilt noch heute: Mit dem zum Standard erhobenen Kritik-Gespräch über Bücher, das im Ra­ diofeuilleton täglich sechs Mal zu hören ist, ist etwas Einzigartiges geschaffen worden, einzigartig in der deutschen Radiolandschaft (und, nebenbei: auch in der deutschen Literaturlandschaft). Das gilt auch für das Radiofeuilleton insgesamt: Bei dieser Sendung handelt es sich, so würde ich das sagen, um einen segensreichen dritten Weg. Es handelt sich eben nicht um Kulturradio alten Typs, in dem tags­ über zehnminütige Manuskripte verlesen wurden. Und selbstver­ ständlich nicht um diese Schwundstufe von Kulturradio, in der nur noch Kultürchen Platz finden. Das Radiofeuilleton ist nicht nur ein Organisationskunstwerk, zu dem täglich nicht weniger als vier Ab­ teilungen beitragen. Es ist vor allem ein Ort, an dem Kultur in jeder denkbaren Dimension ihren Platz findet: E-Kultur und U-Kultur, Dis­ kurs und Debatte, oder auch Kultur, die spielerisch sich selbst genügt (Wurfsendung). Wer das in differenzierteren Worten lesen will, schaue ins Strategiepapier des Intendanten. Dieses Radiofeuilleton gäbe es nicht ohne Wolfgang Hagen.

60

----------------------------------- Meine dritte Begegnung war der Beginn unserer Arbeitsbeziehung. Da hat es offizielle Gespräche gegeben, ge­ regelte Verfahren, natürlich. Ganz zu Anfang aber auch ein winziges Handytelefonat von wenigen Sekunden. In diesem Nebeneinander von spontanem Telefonat und den Mühlen des Apparats steckte schon ein bisschen davon, wie ich Wolfgang Hagen dann kennenlernte. Als einen Mann von immenser Reaktionsgeschwindigkeit, Entschieden­ heit, Durchsetzungsstärke. Als einen Mann, der zugleich aber, ausge­ stattet mit einem Schatz an Wissen über Vorgänge im Apparat, sich auf das Tempo des Apparats einlassen kann; des organisatorischen wie technischen Apparats. ----------------------------------- Meine vierte Begegnung mit Wolfgang Hagen ist die, jetzt zu Ende geht. Die gut zwei Jahre von seinem gan­ zen Jahrzehnt in diesem Haus, in denen er mein Vorgesetzter gewe­ sen ist. Schauplatz vor allem: sein Büro. In dieser holzgetäfelten Re­ sidenz fand noch die kleinste Sitzung statt, zum Beispiel die der Sachbuch-Redaktion oder der Breitband-Redaktion. Regelmäßig die seiner Hauptabteilung Kultur und Musik. Ungezählte andere kleine und große Sitzungen. Der »Zugang zum Machthaber« schien stets durch die Zimmer des Sekretariats zu führen. ----------------------------------- Ich kann mir keine kleine oder große Sit­ zung vorstellen, in der Wolfgang Hagen nicht bestimmt und kom­ petent mitgeredet hätte. Der philosophische Sammelband, den die Sachbuch-Redaktion für den übernächsten Monat eingeplant hat­ te, lag immer schon auf seinem Tisch. Mit den Musikkollegen wur­ de darum gewettet, welches die richtige Opuszahl von Beethovens Sonate Der Sturm ist. Die Hörspiel-Kollegen berichten, wie aus ei­ ner guten Idee unter Wolfgang Hagens Händen eine tolle Idee wur­ de. In der Kantine plaudert er über die kleinen Wunder in Mendels­ sohn Bartholdys Oktett, mit den Technik-Chefs über die Details des Pults im Redaktionsstudio 5. Und mit mir über die Frage, ob die letz­ te Folge der vierten Staffel der Serie Mad Men nun ein Happy ending hat oder nicht. Es ist nicht meine Perspektive, eine vollstän­ dige Liste von Wolfgang Hagens Meriten in diesem Haus in diesem Jahrzehnt zu verlesen. Stichworte möchte ich aber doch nennen: das Radiofeuilleton; die Wutfsendung; die sonic art’s lounge im Rahmen der

61

Maerzmusik; die Erschließung der digitalen Kultur unter dem Ti­ tel Breitband; Präsenz im Programm, mit Sendungen wie die 26-teilige Reihe von Gesprächen mit Walter Levin und dem LaSalle Quartett, oder demnächst, zu Ostern, Gespräche mit Ivan Nagel... Und es ist ja beleihe nicht so, dass Wolfgang Hagens Wirkung auf die Hauptabtei­ lung Kultur und Musik beschränkt gewesen wäre: Bauprojekte, Da­ tenfluss, Medienforschung. ----------------------------------- Es muss in diesem Jahrzehnt manchmal so gewirkt haben, als könne dieser Mann alles. So scheint es mir. Und dieser Eindruck, klar, kann andere manchmal verletzen. Ich habe da­ mit umgehen gelernt. Und mich beeindrucken lassen. Und zwar nicht allein von der Masse von Wissen und Fertigkeiten, von Details und Prozessen, die Wolfgang Hagen verarbeitet. Mich beeindruckt am meisten, dass in Deiner Arbeit das Schisma zwischen den »zwei Kul­ turen« gar nicht zu existieren scheint. Natur und Technik einerseits, andererseits Kultur, Kunst, Geist: Die Trennung dieser beiden Sphä­ ren nehmen wir meist unhinterfragt hin, seit der Soziologe C. P. Snow sie in diese Formel von den »zwei Kulturen« gegossen hat. In Wolf­ gang Hagens Arbeit scheinen Technik, Kunst, Philosophie, Manage­ ment, Verwaltung, Sozialforschung, Musik fast bruchlos ineinander überzugehen. Insofern bin ich fast sicher, dass die Grenzen auch der Universität nicht weit genug sein werden. Dass der Lehrer und For­ scher, der Professor, auch Radiomann bleibt und natürlich Autor. ----------------------------------- Abschiednehmen ist schwierig, und Lo­ ben und Preisen ist schwierig, für alle Beteiligten, wie ich kürz­ lich von Hans Ulrich Gumbrecht und Joseph Vogl gelernt habe: Das sei Genre-bedingt, das Loben und Preisen stehe in der Moderne un­ ter Peinlichkeitsverdacht. Drum möchte ich zum Schluss schlicht ein paar Zeilen zitieren, aus einem Merve Band Von der Freundschaft, von jenem Michel Foucault, der zu den mindestens methodischen Inspi­ rationen in Wolfgangs »Geschichte und Theorie« des Radios zählt: »Ich träume von einem neuen Zeitalter der Wissbegierde. Man hat die technischen Mittel dazu; das Begehren ist da; die zu wissenden Dinge sind unendlich; es gibt die Leute, die sich mit dieser Arbeit beschäfti­ gen möchten. Woran leidet man? Am >Zuwenigschlechte< Infor­ mation durchkommt und die >gute< erstickt. Man müsste eher die Hin-und-Her- Wege und Möglichkeiten vermehren... Was nicht hei­ ßen soll, wie man es oft befürchtet, Uniformierung und Nivellierung von unten aus. Sondern im Gegenteil, Differenzierung und Gleichzei­ tigkeit unterschiedlicher Netze.« Alles Gute, Wolfgang. ----------------------------------- Nachtrag, 2019 Bilder von Wolfgang im Radio: Wie er mich spontan im Büro auf eine Zigarette besucht, ob­ wohl er längst nicht mehr raucht. Wie er mich, als ich es trotz seines Kalenderkorsetts mit einem Spontanbesuch bei ihm versuche, her­ auskomplimentiert, weil er gerade den Intendanten berät. Wie wir im Studio Gudrun Krämer aus zwei unterschiedlichen Richtungen zu ih­ rer Geschichte des Islam befragen. Bilder aus der Zeit nach dem Radio: Wie wir, den Blick auf die Dächer von Kreuzberg, nichts Menschelndes, Allzumenschelndes auslassen. Wie er, der mich in der hierarchi­ schen Logik öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, hat aufstei­ gen lassen, dabei berät, wie man innerhalb derselben Logik wieder absteigt. Bilder, Begegnungen, die ich vermisse. Der Textbasiert aufder Rede, die RA 2012 zu Wolfgang Hagens Abschied von Deutschlandradio Kultur gehalten hat.

63

Foto von Bettina Straub, Deutschlandradio

2008 F

STIMME HÖREN

Den nachdrücklichsten und intensivsten Ein­ druck machte mir Wolfgang Hagen: als RadioStimme. Dabei haben wir ja doch auch viel per­ sönlich miteinander geredet, und uns auch zu­ gehört, etwa in gemeinsamen Seminaren. Aber sechsundzwanzig eineinhalbstündige Folgen im Radio zu hören, bei denen Wolfgang Hagens Stimme eine wesentliche Rolle spielte, im Zu­ sammenklang mit anderen Stimmen und mit exquisiter Musik, diese fast vierzig Stunden mit hypnotischer Sogwirkung, die sind bislang an Eindrücklichkeit nicht übertroffen. Es handelt sich dabei um Walter Levin und das LaSalle Quar­ tett. Eine musikalische Biographie von 2009, die im Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt wurde, und die es irgendwie auf die Festplatte meines Rech­ ners und damit auch in den Cloudspeicher mei­ nes Smartphones geschafft hat und so den Weg in meine Ohren, allabendlich, für etwa einen Monat. ------------------------- Wolfgang Hagen war damals Hauptabteilungs­ leiter »Kultur und Musik« im Deutschlandradio Kultur, er hat zusammen mit Werner Grünzweig den langjährigen Primarius-Geiger des LaSal­ le-Quartetts, Walter Levin, zum Erzählen gebracht. Wolfgang Hagens Rolle war es, die An- und Abmoderation für das Publikum zu verlesen und im Gespräch Einwürfe und Nachfragen beizusteuern, Ergänzun­ gen und kleine, höchst informierte Dirigate des Verlaufs dieser wun­ derbaren Erzählung vorzunehmen.

65

Martin Warnke

----------------------------------- Die allererste Impression: was für eine Radiostimme! Welche ausgefeilte und doch unaufdringliche Rhe­ torik, welch Naturtalent! Es gibt nur noch eine weitere Stimme, die mich wegen ihrer klanglichen Qualitäten ähnlich verblüfft hat, und das ist die Arno Schmidts, der ja bekannter Weise seine Nachtpro­ gramme selbst eingesprochen hat. ----------------------------------- Und dieser Stimmvergleich fördert auch gleich Unterschiede und damit auch Bestimmungen dieses in diesem Band unbedingt zu Ehrenden zu Tage: während Schmidt seine Tex­ te in von ihm erwartbarer besserwisserischer, misanthropischer und querulantischer Manier intoniert, strömt bei Wolfgang Hagen das Gesagte sonor und klug betont, auf Verständlichkeit und genaue Prü­ fung durch die Hörerschaft angelegt, aus dem Radio. Seine Stimme trägt sachlich und anteilnehmend vor, seine Genauigkeit in der Aus­ sprache ist weder affektiert wie bei Schmidt, noch deklamatorisch sich entziehend wie bei Paul Celan, wie Wolfgang Hagen selbst in sei­ nem Aufsatz zu Goebbels’ Stimme von 2017 schrieb. Wolfgang hat viel geschrieben über die Stimme im Radio, aber natürlich nie über seine eigene. Was hiermit endlich nachgeholt werden soll. ----------------------------------- Der Moderator Hagen tritt dann also in ein langes Gespräch ein, dessen Protagonist ein Musiker ist, der so musikalisch spricht, als sei seine Stimme sein Instrument: rhythmi­ sche Periodisierung, klangliche Artikulation, raffinierte Tempofüh­ rung, das ist das Metier des Geigers Levin, der immer wieder betont, wie nah sich Streichinstrumente und Stimmen musikalisch stehen, und wenn er nicht Schönberg gespielt hätte, er wäre auch ein passa­ bler Rapper geworden. Und nun geschieht, was wohl nur zwischen Musikern so geschehen kann, denn auch Wolfgang Hagen ist Instru­ mentalist, spielt das Piano und die Geige und hört ungeheuer viel. Es ereignet sich nämlich ein Ensemble-Gespräch! Hagens Stimme zeigt ihren Tonumfang, kann fragend im Tenor, sehr hoch, fast singend, beginnen und feststellend im Bass am Ende des Satzes einen Punkt machen, dabei so klar und bestimmt wie das Violinspiel Yehudi Menuhins. Er entzieht sich nicht, sondern zeigt Ausdruck, in dieser Sen­ dung meist aufgrund des Eindrucks, den Walter Levin auf ihn macht. Da reißt ihn etwas mit, da spielen sich Musiker zu, und das ist schön

66

und packend zu hören. So werden sechsundzwanzig Mal eineinhalb Stunden kurzweilig. ----------------------------------- Um diesen Eindruck von Hagens voka­ lem Ausdruck zu schärfen, lohnt sich das Hineinhören in ein anderes von ihm produziertes Tondokument, die Gespräche mit Niklas Luh­ mann, die er 1997 geführt und dann auch als Buchbeiträge publiziert hat. Auf Wolfgangs Webseite kann man sich die Tondokumente be­ schaffen. Da spricht er also sehr klug mit diesem berühmten Mann, dem absolut nüchternen Soziologen, dem schärfsten Beobachter, mit Niklas Luhmann, der es, wenn er die Wahl hat, selbst am liebsten mit dem Teufel und sich für im Wesentlichen bockig hält, so nachzule­ sen im Band, den Wolfgang Hagen 2004 herausgegeben hat, in einem wiederum anderen Gespräch, zwischen Alexander Kluge und Luh­ mann, in »Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann?« ----------------------------------- Da pilgert Wolfgang Hagen also nach Oerlinghausen bei Bielefeld und versucht, ein Gespräch mit demje­ nigen zu führen, der alles Selbstverständliche zum schier unlösba­ ren Problem zu machen im Stande war, um es zu zerlegen, mit dem Wissenschaftler, der uns seinem kontraintuitiven Begriff von Kom­ munikation zugemutet hat. Und es strömt die Wechselrede dann auch nicht. Information. Mitteilung. Verstehen. Hagen kann mit Luhmann nicht musizieren, es ereignet sich kein Ensemblespiel, hier kommt Wolfgangs Stimme nicht so recht zum Klingen, wird manchmal ge­ radezu monoton. ----------------------------------- Doch ein magisches Klang-Ereignis stellt sich dann doch ein: während Luhmann unter Alexander Kluges Vi­ deo-Kreuzverhören wie auch sonst immer in seiner gewohnten Fis­ telstimme spricht, überträgt Wolfgang Hagen seinen Bass auf ihn! Luhmann beginnt ein wenig zu klingen, wird stimmlich tiefer, fast sonor, in ganz ungewöhnlicher, klarer, angenehmer Weise. Immer­ hin. ----------------------------------- Es hat also eine ganz besondere Be­ wandtnis mit Wolfgang Hagens Stimme. Sie steckt an zum Einstim­ men, zur Festigkeit, zur Klärung, zu unerschütterlich-freundlich ge­ stimmter präziser Anteilnahme, zum bewegten Austausch. ----------------------------------- Lauschen wir ihr! 67

für Wolfgang aka Dr. Nox MEDIALE DISKOGRAPHIEN Musik aufzulegen setzt nicht nur das Bedienen einer Maschine vo­ raus, die aus Turntables, einem Rechner, Klinke auf Cinch, Kopf­ hörern, Kenntnissen in Traktor Scratch und dem richtigen Sitz an Kabeln funktioniert — das wich­ tigste ist das innere Verfahren, das sich gegen das rein technische Funktionieren scheinbar unkom­ pliziert kompiliert aus Fügung, Rhythmus, Gefühl für die Hören­ den, Popularität und Nicht-Pop. Der Sampler verlangt nach ei­ ner Geschichte, die erzählt durch Songs einen eigenen Beat zulässt und vor allem vergessen lässt, dass die Maschine da ist: »Denn dann ist nur noch Musik da.«* -------------------------------------------- Die DJs heute haben im besten Fall die Hände frei — das Kompilieren verändert sich als Technik mit den verschiedenen Medien: Während man DJ-Sets auf Festplatten oder in Clouds speichert, um sie später als Variation live zu spielen, waren die apparativen Liebeserklärungen der 9Oer-Jahre-Jugend zu­ nächst auf MC und damit auf Magnetband gespeichert, die es je nach Genre-Knowledge, musikalischem Mitteilungsbedürfnis und weit-

69

Manuela Klaut

*

Hier täuscht sich meine Erinnerung. In dem Hamburg-Film Absolute Giganten (1999, Sebastian Schipper) sagt der Protagonist Floyd überhaupt nicht: »Dann ist nur noch die Musikda«, er sagt: »Weißt Du, was ich manchmal denke? Es müsste immer Musikda sein, bei allem was Du machst. Und wenn's so richtig Scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da. Und an der Stelle, wo's am allerschönsten ist, da müsste die Platte springen und Du hörst immer nur diesen einen Moment.«

Das Prinzip lässt sich leicht an Kubricks HAL 9000 in 2001: a Space Odyssey nachvollziehen: HALs Stimmmodule sind aufgezeichnete gläserne MCs — in der Szene als HAL abgeschaltet wird, fängt das Lied an zu leiern und die Stimme wird tiefer, getaktet ist Daisy schließlich nur noch durch Daves Atem.

reichend geplanter romantic weirdness in der Ausgabe zu 60 oder 90 Minuten gab. (»this machine will, will not communicate.«1) Die später in Mode gekommenen CD-Sampler waren im Prinzip schon immer falsche Freunde, weil man die sorgfältig ausgewählten Songs einfach so skippen konnte. Die Kassette musste man aushalten oder spulen und oft landete man dann doch inmitten des nicht-ganz-so-inninggeliebten Songs, oder am knapp verpassten Anfang des wunderschö­ nen nächsten Liedes. Kassetten-Beziehungen sind und waren immer schwierig und dennoch voller guter Kompromisse. ----------------------------------- Vielleicht liegt darin der Zauber, Songs festschriftlich kompiliert aufzuschreiben — man kommt gar nicht in den Verdacht, dass es maschiniert und einer Aufführung bedarf, oder an der Auswurftaste festhaken könnte. Die Zuhörer werden die in­ nere Lese-Stimme nicht zum Umschalten zwingen und bleiben von Zweifeln verschont, wenn sich die Batterieanzeige im Gerät auf die 2% im roten Bereich hinbewegt und es nicht sicher ist, ob man den nächsten Song noch beginnen sollte, um nicht Gefahr zu laufen, dass die mit letzter Geräteenergiekapazität angespielten ersten 10 Tak­ te ein nur noch größeres Verlangen nach dem Lied hervorrufen. Die Kassette kündigte das Ende der 4 R6-Batterien im Walkman mit dem beginnenden Leiern der Lieder an. Die Stimme wurde tiefer und der Song langsamer — sich wehren war zwecklos. Man musste abschal­ ten aus Respekt vor der Kunst. Der Song sollte so in Erinnerung blei­ ben, wie er war. Die MC ist lange vor den Online-Sendemediatheken das letzte Medium, das dem Radio gegenüber eine analoge Aufzeich­ nungsfunktion unterhält: »Home taping is killing music«, so lautete 1980 die Kampagne der British Phonographic Industry mit dem Un­ tertitel »and it’s illegal«. Die Debatte wird 2006 erweitert, mit »DRM is killing music« — darunter ist ein iPod zu sehen und der Untertitel »and it’s a rip off«. ----------------------------------- Das Medium ändert die Botschaft, denn in den Kassetten-Samplern ging es vor allem um eine geheime Bot­ schaft, die sich als Schlüssel die Liedtexte nahm und so war die Qua­ lität der Aufzeichnung fast egal — zumal im Ende der Songs oft gan­ ze 10 Sekunden fehlten, die von emsigen Radiomoderatoren als Fade out und gesprächliche Überleitung zum nächsten Song genutzt wur­ 70

den. Diese Sekunden peinlicher Leere wurden kompilationskunst­ voll mit der Pause-Taste am Tape-Recorder wegfrisiert. Die abrupten Pausen konnten prima mit Ausschnitten aus alten Märchenkassetten verblendet werden — sofern es sich bei dem Aufnahmegerät um ein Doppelkassettendeck handelte — und so war es möglich, die Kassette von anderen kleinen Maschinen erzählen zu lassen, z.B. von Spinn­ rädern, die Stroh zu Gold weben, von fliegenden Teppichen und wei­ ßen Kaninchen, oder von Turmuhren an deren Zeiger jemand sich und die Zeit festhält. P L AY (►) 1 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

In Welcome To TheMachine erwidern Pink Floyd*** diese vergessene Ma­ schine mit dem Synthesizer, der die Zeilen summt, die mit dem Text »it’s alright, we told you what to dream«2 zusammenfließen. PAUSE® ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Auszug aus der Hörkassette mit Arthur C. Clarkes »2001. Odyssee im Weltraum«-

Dr. Heywood Floyd, Präsident des Nationalen Rats für Astronautik, be­ findet sich auf dem PanAm-Flug zur Landebahn, auf der das schein­ werferbestrahlte Raumschiff Orion III wartet, um ihn mit dem Son­ derflug drei, Kap Kennedy, zur Raumstation Eins zu bringen: »Doch all diese Dinge gehörten bereits der Vergangenheit an, und er befand sich auf dem Weg in die Zukunft.«4 Dem Flug von Floyd geht in Ar­ thur C. Clarkes Roman die »Ur-Nacht«, also eine Art Gründungssze­ nario der Menschheitsgeschichte als Mediengeschichte voraus, die im Abschnitt Der neue Felsen den ersten Kontakt der Menschenaffen mit dem Monolithen beschreibt: »Nach mehreren Minuten schar­ fen Überlegens kam er zu einer beruhigenden Erkenntnis. Es war nichts anderes, als ein Felsen, der während der Nacht gewachsen war. Er kannte das Phänomen von vielen Pflanzen — kieselförmigen Ge­ wächsen, die über Nacht aus der Erde schossen. Sie waren zwar klein und rund, während dieses Ding groß und scharfkantig war, aber ge­ lehrtere Männer als Mond-Schauer waren in späteren Zeiten bereit, ebenso auffallende Widersprüche in ihren Theorien großzügig zu übersehen.« Die äußere Erscheinung des Monolithen lässt diese the­ oretische Verwechslung und das Übersehen zu, aber nicht die Stim-

71

***

Und die Fragen nach Pink Floyd sind immer medienwissenschaftlich: Als ich 2002 im Einführungs­ projekt Medienkulturbei Lorenz Engell an der Bauhaus-Uni in Weimar sitze, für das wir Texte von Wolfgang Hagen lesen, ist eines der möglichen Referatsthemen Pink Floyds Live in Pompeji als MedienEreignis.

****

In einem kurzen Atemzug muss hier die Pause-Taste gelöst werden, um Medien­ geschichte als Maschinen­ geschichte und dennoch als Dysfunktionalitätsgeschichte zu schreiben. Der Begriff Maschine beschreibt eine Verfahrensweise und einen gangbaren Rhythmus, der die Maschine unterhält. Die trägen maschinellen Machen­ schaften setzen jedoch alles daran, widergängig in den Rhythmus des vorgesehenen Verfahrens einzugreifen. Maschinelle Abläufe können nicht einheitlich verwaltet werden. Jeder Durchgang bedarf eines neuen Zugangs. Kittiers letzte große Odyssee 2006 gesteht der Medienwis­ senschaft im Interview Rock me, Aphrodite eines zu: »Ich wollte Mediengeschichte und nicht einfach Medien­ wissenschaft oder -Theorie, weil schon Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts absehbar war, dass sich von McLuhan ausgehend eine sehr aktualistische Medientheorie breit macht. Viele, die umge­ sattelt sind, kamen aus der So­ ziologie oder aus der Massen­ medienforschung, beides sehr ahistorische, ungeschichtliche oder kurzatmige Wissenschaf­ ten.« Friedrich Kittier: Rock Me, Aphrodite, in: Telepolis, Heise online, 24. Mai 2006.

me, die Frequenz in der er sendet. Das Geräusch des Monolithen ist imstande, Jahrzehnte an Menschheitsgeschichte auszusetzen und sie der Geschichte wieder einzuschreiben. Es ist eine Stimme, die kaum hörbar, vergessen lässt und hypnotisiert, die verdunkelt und dennoch einnimmt: »Die Odyssee — das zeigen nicht erst Kubricks berühm­ te Filmmontagen — war nie nur ein archaisches Epos. Immer schon handelte sie von der Zukunft unserer Vergangenheit.« 5 ----------------------------------- Den ersten realen Kontakt stellen nach dem Erscheinen des Films 2001A Space Odyssee von Stanley Kubrick am 21. Juli 1969 Neil Armstrong und Buzz Aldrin her, als die Raum­ fahrtmission Apollo n zum ersten Mal auf dem Mond landet. Die ers­ ten Stimmen aus dem All berichten, dass die Oberfläche aus sehr fei­ nem Puder beschaffen ist und es werden die bekanntesten Worte der Mediengeschichte aufgezeichnet: »That’s one small step for a man, one giant leap for mankind.« Und im Fast Forward der Ereignisse liegt der kompilative Zauber der Maschine, die an dieser Stelle einen Bogen spannen müsste vom Zählwerk in David Bowie’s 1969-er Space Oddity und Björks 2001er Cyber-Love-Story All is Full ofLove: »2001 ist eine Verdichtung — zum einen aus einem konkreten und jederzeit problemlos auf DVD digital abrufbaren Kunstwerk und zum anderen aus einem Mythos, aus zu Lebensgeschichte sedimentierten generati­ onsspezifischen Erfahrungen.«6 (Das Kanu der Odyssee wendet audi­ tiv auf großer Fahrt und bleibt im ungezielten Mittendrin: 1996.) PLAY® 2

Linda Perry — Machine Man7

Have you been told / About the machine man / His leather gloves / Hide his machine hands / And when I sleep / I feel him stroke my hand / I am awoke by the machine man. PAUSE®

Ausgehend von Welcome To The Machine lässt sich noch eine weitere Geschichte schreiben: Die Graphik von Gerhard Seyfried, die zum Titelbild des 1977 erschienen Buchs von Wolf Wagner Uni-Angst und Uni-Bluff führt, besitzt ebenfalls den Titel Welcome To The Machine. In §10 der vorliegenden Fassung vom 30. Juni 2016 der RPO8 der Leupha72

Gerhard Seyfried, Welcome To TheMachine,

1977

na-Universität steht zu den Hochschulinformationssystemen in Ab­ satz 2: »Die Studierenden sind verpflichtet, die Richtigkeit ihres On­ line-Kontos regelmäßig zu prüfen, um die Fristen gemäß §18 Abs. I zu wahren.« Doch welche juristische Identität besitzt das Konto und wer überprüft unsere Eingaben, die wir für »richtig« erachten — und wa­ rum besitzt das Online-Konto keine aufschiebende Wirkung für Prü­ fungs-Deadlines, sobald man offline ist? Die Zeichnung von Seyfried weiß 1977 noch nichts von online-Zugängen zu digitalen Prüfungs­ identitäten und Wagners Neu-Auflage des Buches Uni-Angst und UniBluff aus 2007 trägt einfach kein Titelbild mehr. Dennoch deutet die Zeichnung von 1977 an, dass die selbstkontrollierte Aufzeichnung zur Maschine gehört — die mit »Video« beschrifteten Kästen, die aus den Bilder-Ecken herausstarren, beschreiben die beginnende Überwa­ 73

chung öffentlicher Räume und die Geschichte der aufgezeichneten, gefilmten und versagenden Leistungskapazität. Und was Eckpunk­ te der verwalteten Leistungsschlüssel für Bachelor-Prüfungen sind, geht schließlich unter im hämmernden monolithischen Rhythmus: »Die >indizielle< Individualisierung der Leistung löst die Universität als sozialen Forschungs- und Lehrzusammenhang in eine Landkarte von eifersüchtig bewachten Schrebergärten auf, die sich bestenfalls mit Gartenzwergen schmücken. Die Versuche, Kriterien und Indizes wissenschaftlicher Leistungen festzulegen, zeigen sehr schön die Ab­ surdität des Unterfangens, den Pudding wissenschaftlicher Leistun­ gen an die Wand zu nageln.«9 PLAY(k)3 --------------------------------------------------------------------------------------------------------

Blumfeld — Ich-Maschine10

Die Geschichte ist alt und wird älter / auf Tanzflächen, Tresen, Vinyl und Papier, Zelluloid und bei Dir / heissen hier: Ü-Räume; sind Si­ cherheitszonen in der Realität / ein Lebender, der nicht weiß, wie das geht, steht vor dem Haus / steht zwischen den Gleisen und dem Gar­ ten, in dem die Apfelbäume warten. PAUSE® --------------------------------------------------------------------------------------------------------

In der Ausgabe von 1977 schreibt Wagner in Uni-Angst und Uni-Bluff: »(Ich habe mir übrigens angewöhnt, alles gleich mit Durchschlag in die Schreibmaschine zu schreiben.)«11 In Kracauers Text vom Schreibmaschinchen vollzieht sich die ganze Palette aus Sicherheitsempfin­ den und Liebe gegenüber der Maschine, bis hin zur bloßen Tätigkeit des Bedienens als Stau aus Leere und Erlernt-Haben und der finalen und unvorhergesehenen Technik-Aggression gegen die Maschine: »Hatte ich früher mit dem Geschriebenen etwas ausdrücken wollen, so lernte ich nun begreifen, daß allein die Tätigkeit des Schreibens selber erstrebenswert sei.«12 Die Maschine offenbart in dem Moment ihres Nicht-Funktionierens all die Ängste, die uns mit dem eigenen Versagen konfrontieren. Die brutale Sekunde, in der die Maschi­ ne aufgibt, liefert uns aus: Wir müssen einen Plan aufgeben, unge­ niert unsere Nicht-Kompetenz erkennen und erliegen ohnmächtig der vergehenden Zeit, die in der Eile um eine hastige Lösung zu rasen 74

scheint. Auch diese Einrichtung der unmaschinellen Schreib-Sze­ ne ist in der Ich-Maschine von Blumfeld thematisiert, als ein System des ungerichteten Verfassens eines permanenten gesellschaftlichen Deplatziert-Seins: »Ich sehe mich neben Dir, meine Tentakel seh’ ich auch / Ich hab’ keine Knochen mehr, dafür Tinte für zwanzig Bücher im Bauch...«13 Immer wenn die Stimme Jochen Distelmeyers erkennt, dass Sie sich selbst eigentlich abschalten möchte, kommt ihr die ei­ gene Aufzeichnung in die Quere, mit der etwas Gesagtes bleibt und dazu führt, sich in den Diskurs und in das Funktionieren der Maschi­ ne wieder einzuschreiben: »Es gibt über diese Mischung aus verschö­ nerten Scherben, linkem Schlager und Blood Ort The Tracks jedenfalls mehr zu reden und zu debattieren, als über das meiste sonst. Auch dadurch wird ein Missverständnis um den Begriff >Diskurspop< kor­ rigiert: Es geht darum, Diskurse auszulösen, nicht sie zu repräsentie­ ren«. P L AY (►) 4 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Einstürzende Neubauten — NNNAAAMMM13

New No New Age Advanced Ambient Motor Music Machine / ... / Das Lied schläft in der Maschine / In der Maschine schläft das Lied / Das Lied schläft in der Maschine / In der Maschine schläft das Lied PAUSE® ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

1988 erscheint imMerve Verlag von Blixa Bargeld Stimmefrisst Feuer. Ne­ ben den Liedern, die in der Maschine schlafen, enthält das Buch auch seine handschriftlichen Notizen und einen gezeichneten Schaltplan der »Individuen in verseh. Zuständen« und verwirrende, ausschwei­ fende Wellenzeichnungen, die mit »alber Mensch senses & transmitter« übertitelt sind. Diese »Dokumente einer negativen Bauweise«11 fragen nach den musikalischen Details, hinter denen die Maschine steht. Bühnenaufbauten der Neubauten sehen aus, wie riesige, geord­ nete Kraftwerke, die systematisch aber nicht ungewollt zerstören und die Vermutung nahe legen, man könnte die Maschine beherrschen, oder wenigstens entherrschen. Als wir im Seminar Filmgeschichte des Computers den Film Alphaville von Godard mit den Studierenden sehen, sagt Wolfgang im Verlauf der Diskussion: »Ich glaube nicht bloß an

75

den bösen Fascho-Computer. Sehen Sie genau hin. Was ist da noch?« Und hier beginnt das systematische Zerlegen. Beim zweifelnden Hin­ sehen zu einer Maschine, die nur eine Stimme hat und deren Prozes­ se unsichtbar bleiben. PAUSE® ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

PLAY®S ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Heiner Müller — Hamletmaschine17, in der Hörspielfassung der Ein­

stürzenden Neubauten: Universität der Toten. / Gewisper und Gemurmel. PLAY®6 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Kraftwerk — Die Mensch-Maschine18

Die Mensch-Maschine / Halb Wesen und halb Ding / Die MenschMaschine / Halb Wesen und über Ding / Mensch-Maschine / MenschMaschine / Mensch-Maschine PAUSE® ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Was als aktuelle Stimmlage der Popmusik in jedem zweiten RadioSong mit Auto-Tune einfach hingenommen wird, war 1973 in der Ar­ beit mit dem analogen Vocoder für Kraftwerk konzeptuell das musika­ lische Verschmelzen des Menschen mit der Maschine — dabei sollten keine unstimmigen Tonlagen kaschiert werden, sondern als Medien­ technik verfremdet werden: »Maschinen wurden lange als schlimm angesehen. Das war bei uns nie der Fall. Wir arbeiten mit den Maschi­ nen zusammen. Zwischen uns und ihnen herrscht Kameradschaft.«19 Als 1975 das fünfte Kraftwerk-Album mit dem Titel Radio-Aktivität er­ scheint, stellt sich die Frage danach, ob man im Medium selbst über das Medium schreiben kann. Wenn das Radio selbst im Text vor­ kommt, ist es nicht nur eine Übersetzung ins Radio, sondern mit dem Radio als Metapher. Das Radio kommt zur Sprache und spricht als Stellvertreterin für ein Gefühl — mit dem wir lauter drehen, umso leiser wir uns fühlen. Wir hören Stimmen und wissen nicht, wer uns hört, wie wir Stimmen hören. Das bleibt uns gegenüber den Maschi­ nen als Gefühl medialer Melancholie: 76

Im Radio gibt es keine Pause, keine Stummheit, keine Stille und kein Schweigen. Eine Moral des Hörens muß dieses Aufhören zurückgeben, das in der Weise der technischen Zurichtung des Medi­ ums inexistent geworden ist. Da hört eben nichts auf, was nicht sofort durch ein Neues abgelöst würde. Das Radio hat kein Ende, ist unun­ terbrochener Fluß. Das Hören bestimmt den Punkt des Aufhörens al­ lein; eine Moral des Aufhörens indessen, — sie müßte um das Singen [4] wissen, d.h. um den Klang des Sprechens und der Stimme, um Mu­ sik und Geräusch, — sie würde das Radio zurückführen in eine Geo­ graphie des Vergessens, die am jenem Punkt der Geschichte, wo diese sich des dramatischen Prinzips der Wiederholung entschlagen muß, neu und wieder zu entdecken wäre.20

----------------------------------- In der Maschine schläft das Lied und im Radio die Lieder über das Radio, die seine Geschichte schreiben... Die­ se mediale Radiographie lässt sich nur auditiv beleuchten: P L AY (►) 7-X21 ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Drehen wir am Radiophon, vernehmen wir den Sendeton, durch Tas­ tendruck mit Blitzesschnelle erreichen wir die Kurze Welle. Nach Fein­ einstellung mit der Hand lauschen wir dem Morseband: Elektronen­ klänge aus dem Radioland.22 // Ich wünschte, wir könnten zu den alten Tagen zurückkehren, zurück zu den Radio-Tagen. Erinnerst Du Dich daran, als die Zeit auf unserer Seite war?23 // Hast Du mich neulich ge­ sehen? Das Radio verändert sich, aber ich war im Radio da draußen. Ir­ gendwo da draußen in Amerika regnet es.24 // ich würde mich gern zu­ rückziehen und den Eichhörnchen hoch in den Bäumen zusehen. Sie mögen die Radio-Lieder ja doch nicht und außerdem würden sie nie­ mals mit mir sprechen.25 // Also bin ich in Ruhe und allein. Hallo, wach und Kaffee kochen, ich schalt das Radio wieder ein und denke: Jochen, lieber alleine allein als zu zweit alleine sein.26 // Der Mann im Radio er­ zählt von etwas, das niemandem nützt und damit zerstört er meine ei­ gene Phantasie.27 // Ich habe deshalb Deinen Hinweis ernst genommen und alle Kabel herausgezogen. Du sagtest, das würdest Du auch tun.28 // Für unsere Ohren bricht dann die Welt zusammen. Mache ich das Radio an, kann ich nichts hören.29 // Vor langer Zeit beamten Piraten Sendewellen vom Meer. Aber all diese Sender sind heute verstummt, denn sie haben keine Regierungslizenz.30 // Wir hören doch nur noch 77

Radio Ga Ga. Radio Goo Goo. Radio bla bla. Gibt es etwas Neues, Ra­ dio? Dann zeig es mir. Denn es gibt immer noch Menschen, die dich lieben. Bitte verkomme nicht zum Hintergrund-Geräusch, zur bloßen Kulisse für Jungs und Mädchen, die sowieso keine Ahnung haben und sich nur beschweren, wenn du nicht da bist. Einst saß ich allein in mei­ nem Zimmer, sah Deinen leuchtenden Lichtern zu. Du warst mein ein­ ziger Freund in den einsamen Teenager-Nächten.31 // Die Decke über den Kopf ziehen und im Bett liegen. Das Radio unter sich versteckt, so dass es niemand bemerkt.32 // Ich wünschte, wir könnten zurückkeh­ ren zu den Rad io-Tagen.33 // Denn alles was ich weiß — ich weiß es von dir, vom Radio.34 // Lass uns gemeinsam zum Radio tanzen.35 PLAY® -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Hidden Track

März — Introductory 36

... Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zei­ chen, Zeichen an den Häuser wänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden... Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier

----------------------------------- Eine Maschine, die nicht aufhört, hat sich auch die Band März von Rolf-Dieter Brinkmann geliehen: Den Song kann man nur in reiner Plastizität auf CD oder auf Vinyl hören. Es gibt ihn nicht als Stream bei Spotify oder als Album-Cover-Musikvideo-Ersatz-Filmchenbei YouTube. Die Tonträger machen insgeheim auf ihre Weise mit dem Brinkmann weiter. ----------------------------------- In unserem gemeinsamen Büro hängt ein Plakat mit dem Zitat von Deleuze und Guattari: »Einem jeden sei­ ne kleinen Maschinen« von der Jahrestagung der GfM am 1. Oktober 2013 in Lüneburg. Das war mein erster Arbeitstag an der Leupharta und die erste Live-Begegnung mit Wolfgang. ----------------------------------- Dieser Text ist nicht zu Ende, nur weil hier nichts mehr steht. PAUSE®

78

I.

Radiohead: StreetSpirit (Fade out), Album The Bends, Parlophone (EMI),

7Linda Perry: MachineMan, Album In Flight, Interscope Records, 1996

1995

2. Pink Floyd: Welcome To The Machine, Album Wish You WereHere, Columbia Records, 1975

3Arthur C. Clarke: 2001: Odyssee im Weltraum, Der Audio Verlag, 2008 4Arthur C. Clarke: 2001: Odyssee im Weltraum, übers, von Egon Eis, München 1969, S. 34.

5Burkhardt Wolf: Aufgroßer Irrfahrt, in: Tagesspiegel-Beilagen HUBerlin, Sommersemester 2007 6. Diedrich Diederichsen: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag, Köln 2005, S. 105

8. Leuphana Universität Lüneburg, Rahmenprüfungsordnung, in: Gazette, Amtliches Mitteilungsblatt der Körperschaft und der Stiftung, 30. 06. 2016 9PROKLA-Redaktion: Die Universitäten: Im Kern verrottet, oder das Beste, was wir derzeit haben?, in: PROKLA Zeitschriftfür kritische Sozialwissenschaft, Heft 104-26. Jahrgang 1996, Nr. 3, S.326

10. Blumfeld: Ich-Maschine, Album Ich-Maschine, Blumfeld Tonträger GbR, 1992 11. Wolf Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff, Berlin 1977, S. 99

12. Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, S. 82 13Blumfeld: Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen, ohne sich umzubringen, Album Ich-Maschine, Blumfeld Tonträger GbR, 1992 14. Diederichsen: Musikzimmer, a.a.O., S. 71

15Einstürzende Neubauten: NNNAAAMMM, Album Ende Neu, Mute Records, 1996 16. Blixa Bargeld: Stimmefrißt Feuer, Berlin 1988, S.95

17Einstürzende Neubauten: Heiner Müller. Die Hamletmaschine, Our Choice (Rough Trade), 1992

18. Kraftwerk: Die Mensch-Maschine / The Man-Machine, Album Die Mensch-Maschine, Kling Klang,

1978 19Ralf Hütter im Gespräch mit Christoph Dallach: Die Maschinen spielen uns, in: Spiegel 29/2003

20. Wolfgang Hagen: Stimmen die stimmen, 28. Juli 1986,17.39 Uhr, Die im Text ausgewiesene Fußnote 4 beinhaltet folgen­ des: »Singen ist vielleicht, an ein uraltes Verfahren von Säugetieren oder Walfischen wiederanzuknüpfen, welches darin besteht, wo nicht Besitzergreifung, so doch

zumindest das Durchqueren eines Ortes zu kennzeichnen. Als Durchquerung einer gewissen Anzahl von Orten wäre die Musik zunächst eine Geographie des Menschen, bevor sie eine Geschichte ist und hat; und diese Geogra­ phie gilt es heute vielleicht neuzuerfinden. Charles: 1980, 92«

Dieser Radio-Subtext entstand in gemeinsamer Hör-Arbeit mit Michael Bartlewski 22. Kraftwerk: Radioland, Album Radio-Aktivität, EMI / Capitol Records, 1975

23. Donots: Radio days, Album Pocketrock, Gun Records, 2001

24. Counting Crows: Haveyou seen me lately, Album Recovering theSatellites, DGC Records, 1996 25. Eels: Iwri leihe b-sides, Album Souljacker, DreamWorks-Records 2001

am 13. Mai 2017 im Salon Hansen in Lüneburg. (Copyright Originalton Lüneburg, Johannes Koch)

26.

Blumfeld: Anderes Ich, Album Die Welt ist schön (Drei Singles 1991/92), Blumfeld Tonträger GbR, 2002

27. Catpower: (I Cant Get No) Satisfaction, Album Rhythms del Mundo Classics, Polystar, 200, Blumfeld Tonträger GbR, 2002 28. Grandaddy: why tookyour advice, Album Under the Western Freeway, V2 Records, 1997

29. R.E.M: Radio Song, Album Out of Time, Warner Bros. / Concord Records,

1991 30. The Clash: Capital Radio One, Album Black Market Clash, Epic Records, 1980

3iQueen: Radio Ga-Ga, Album The Worts, EMI Capitol, 1984 32. The Ramones: Rock'n'Roll Radio, Album End ofthe Century, Sire, 1980

33Donots: Radio Days, a.a.O. 34Queen: Radio Ga-Ga, a.a.O. 35Joy Division: Transmission, Single 7” Vinyl, Factory,

1979 36. März: Introductory, Album LoveStreams, Karaoke Kalk, 2002

Frieder Nake damj 7

2018

WOLFGANG HAGEN, STETS OHNE HM

Frieder Kann heute noch ir­ Nake gendeiner sprechen und reden, ohne stän­ dige Injektionen von Ähms und Hms in un­ terschiedlich ästheti­ sierender Unkonzen­ tration? Wenige nur noch sind es. Sie zeich­ nen sich dadurch aus, dass sie wissen, wovon sie reden, und nicht re­ den über das, wovon sie nichts wissen. Einer von diesen wenigen ist Wolfgang Hagen. --------------------------------------------------------- Ich habe ein Interview angehört, in dem er im Deutschlandfunk über »dreißig Jahre Inter­ net« befragt wird. Perlen der Nachdenklichkeit, der klaren Ansagen, des dialektischen Denkens, was ja, wie jeder wissen sollte, nicht we­ niger heißt als des Denkens schlechthin. --------------------------------------------------------- Der durchaus in be­ stimmten Kreisen schlechte Ruf, der das Internet umweht, sagt uns Wolfgang Hagen, ist der Freiheit geschuldet, die diese technologische Revolution befeuert. Sie hat zu einem Epochenwechsel geführt, der vergleichbar ist nur dem Übergang vom Scriptorium zum Buchdruck,

83

wie Wolfgang Hagen sagt. Der feine Unterschied zum gewöhnlichen Reden über jene Kulturrevolution ist die ausdrückliche Formulierung des Wechsels und damit notwendig die Erwähnung des Scriptoriums als der dann mit der druckenden Zunft verschwindenden Technolo­ gie. Ich möchte wetten, dass wir Wisser, die wissen, das Internet wis­ se alles, nun erst einmal googeln nach »Scriptorium«. Schade eigent­ lich. Wolfgang Hagen wird nicht unter ihnen sein. ----------------------------------- »Wir sind alle kleine Unternehmer. Wenn wir in facebook unsere Seite aufhübschen, ist das eine Art Anprei­ sung dessen, was wir »Unternehmern im ganz buchstäblichen Sinn.« Sagt er. ----------------------------------- Höre ich einen leicht kulturkritischen Unterton heraus, wenn er zum Smartphone befragt wird? Es ist — das ist keine sonderliche Einsicht, sondern auf jeder Straße und in jedem Bus dieser Republik öffentliche Demonstration ihrer Bürger — ein extremer Verstärker der Eigenschaften des Internet, mit dem dabei Kommunikation auf ihre rein visuelle Dimension reduziert wird, die große Fähigkeit des Menschen zur Existenz im Symbolischen also zugeschüttet wird. ----------------------------------- Die völlig neue Ökonomie, die das pure Verhalten der Menschen beobachtet und ausbeutet, ist die Folge, die wahrlich dunkle Seite dieser riesigen technischen Infrastruktur, ohne die sich sehr viele das Leben nicht mehr vorstellen können. Wolfgang Hagen formuliert den entscheidenden Schritt als den von den Sachen zu den Daten. Unsereins sagt das Gleiche mit anderen Worten: von der Welt der Dinge zur Welt der Zeichen. ----------------------------------- Die Schattierungen in den Formulierun­ gen sollen uns nicht kratzen. Wir sind Brüder im Geiste. Zweimal ist er in meinem Leben aufgetaucht, der Wolfgang Hagen, und war dann da. Als wir in irgendeinem Garten in Bremen in lauer Sommernacht saßen und Friedrich Kittier zuhörten oder widersprachen. Und spä­ ter wieder, als wir entdeckten, dass wir beide mit der Leuphana Uni­ versität zu tun hatten, auf unterschiedliche Weise, gewiss, und Me­ dien waren unser gemeinsames Metier. In Lüneburg sind nahezu alle, die da agieren dürfen, um die Studierenden anzustacheln, Gäs­ te. Was, rein genommen, so naturgemäß nicht zutrifft. Wolfgang Ha84

gen ist dort eine feste Größe. Doch wenn wir dort sind, an der Leuphana, wie man sagt, dann fragen manche sich von uns, vielleicht, was der Herr Luhmann eigentlich tun soll? Ich weniger, Wolfgang Hagen schon mehr. ----------------------------------- Ein Kramen im Gedächtnis der Ereig­ nisse, ein Denken an Wolfgang Hagen, braucht keine Ähms und Hms. Es ist durchzogen von warmem Licht und lebt von klaren Linien, das Denken an den Wolfgang Hagen.

85

EIN MEDIEN(ER)KENNER

Wolfgang Nein, keine zwischenmenschliche Ernst Anekdoten hier aus Anlass des (bei­ derseitig) unerbittlichen Zeitpfeils eines fortschreitenden Lebens, den die kalendarische Chronologik mit ihrer pythagoreischen Harmonik »runder« Zahlen nur unvollkommen in die symbolische Ordnung des Er­ träglichen überführt. --------------------------------------- Wortgewaltige Radio- und Vortrags­ stimmen sowie die Schriften von Gelehrten lassen sich nicht in Form von Leben, sondern von Signalanalyse und statistischen Übergangs­ wahrscheinlichkeiten fassen. Von daher einige gezielte Anmerkun­ gen zum medienepistemologischen Momentum in Texten Wolfgang Hagens, die Anlass gaben und geben, zeitinvariante Erkenntnisfun­ ken daraus zu schlagen — als aktuelle Erfrischung der Medienwis­ senschaft. --------------------------------------- Angesichts von Siegfrieds Ermor­ dung durch Hagen und den unmittelbaren Zeitpunkt danach fragt der Chor in Richard Wagners Ring-Oper Götterdämmerung in Akt 3, Szene 2, zunächst erschrocken: »Hagen, was tust Du?« Es folgt ein Schweigen, unterbrochen bestenfalls durch Husten aus dem Kon­ zertsaal oder dem Knistern der Langspielplatte selbst. Diesem Zeit­ intervall folgt dann die Nachfrage: »Was tatest Du?« Hiermit wird grammatologisch das Ereignis gefasst als etwas, das passiert, oszillie­ rend zwischen Vergehen und Vergangenheit, französisch passer und 87

Musik-Konzepte 19, (Karlheinz Stockhausen,... Wie die Zeit verging...), München 1981.

2. Karlheinz Stockhausen: ... wie die Zeit vergeht..., in: Die Reihe. Information über serielle Musik, Heft 3, Wien, Zürich, London 1957, S. 13-42. 3Denis Gabor: Acoustical Quanta and the Theory ofHearing, in: Nature Nr. 4044,159 , S. 591-594. 4-

passe, »...wie die Zeit verging...« lautet das Thema von Heft 19 der Mu­ sik-Konzepte, gewidmet Karlheinz Stockhausen.1 Damit ist die Epoche der Elektronischen Musik angesprochen, in Anspielung auf Stock­ hausens frühen Aufsatz Wie die Zeit vergeht2, der nicht die umfassende Makrohistorie, sondern die polychrone Signalzeit anspricht — die zu vernehmen erst das technomathematische Gehör der Spektralana­ lyse gewährt. Denis Gabor antwortete auf das seit der Fourieranalyse vertraute Dilemma, Klang immer nur entweder im Zeit- oder Fre­ quenzbereich fassen zu können, mit der Modellierung »akustischer Quanten«3. Der Bezug auf quantenphysikalisch bedingte Unschärfen ist ein roter Faden in Wolfgang Hagens Diskussion materialnaher Si­ gnalszenen. ----------------------------------- Unvergessen (nun doch eine Anekdo­ te?) Wolfgang Hagens Auftritt am 10. Juli 2001 im Oberseminar des einstigen Lehrstuhls Ästhetik und Geschichte der Medien am (eben­ so einstigen) Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Ber­ lin — selige Sophienstraße 22a. Sein Vortrag Die Entropie der Fotografie. Skizzen zur einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung ließ unter Bezug auf Roland Barthes’ Die helle Kammer verlauten:

Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zur einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung, in: Paradigma Fotografie Frankfurt/M. 2005 S. 234

Analoge Fotografie war/ist die unwiderrufliche Einschreibung ei­ ner Entropie am Material, erzeugt durch Belichtung. Da unsere Au­ gen schlecht messen, aber gut trügen, dachten wir, wir sähen — uns. Im entropischen Spiegel der Urdoxa einer irreversiblen Prozedur des Fotografierens sahen wir uns Sterbliche, sahen wir die Melancholie un­ seres Seins und erblickten — unsere Geschichte.4

5Siehe Stefan Höltgen: Hertz aus Glas. Silicium als Medium in den Medien, in: Margarete Vöhringer, Christof Windgätter (Hg.): Glas. Materielle Kultur zwischen Zeigen und Verbergen, Bielefeld 2019

----------------------------------- Was aber, wenn das Gesichts des Men­ schen nicht mehr schlicht verschwindet »wie am Meeresufer ein Ge­ sicht im Sand« unter den sich brechenden Wellen, wie von Michel Foucault am Ende der Ordnung der Dinge formuliert, sondern im reinen Sand selbst, dem Silizium?5 Nanophysikalische Spuren der Schall­ wellen des damaligen Vortrags, eingeprägt durch die Dynamik des Schalldrucks, mögen in messtechnischer Archäoakustik durch Pa­ trick Feaster (den Klangarchäologen) oder Wolfgang Heckl (den Nano­ physiker) aus den rauchgeschwärzten Wänden des damaligen Semi­ narraums noch abtastbar sein gleich den phonographischen Spuren 88

eines rußbestrichenen Kymographen. Was im Sinne von Charles Babbages Spekulation über die Luft als Klanggedächtnis (sein 9th Bridgewater Treatise) einer irreversiblen thermodynamischen Entro­ pie anheimfällt (oder schlicht übertüncht wurde), überlebt nach- wie vorlesbar als Zeichenkette: Wolfgang Hagens Zweitkörper als Druckund Onlineversion. ----------------------------------- Hagen, dem Epistemologen, geht es im­ plizit (daher liest diese Interpretation zwischen den Zeilen seiner Texte und den Schallwellen seiner Reden) um das Kerndrama der technologischen Welt: der Begegnung (oder gar Inkommensurabilität) des Symbolischen mit dem Realen der chemischen, elektrophysi­ kalischen oder gar quantenmechanisch transzendenten Materie. ----------------------------------- Anstatt sich in diesen Zusammenhängen in philosophischen Spekulationen zu verlieren, hält Hagen, der Ra­ diopraktiker, den Bodenkontakt mit den technischen Medien. Wahr­ haft medienarchäologisch geht er in solchen Fragen medias in res. Der aktuelle Trend der (immerhin noch) techniknahen Medienwissen­ schaft geht dahin, diskursive und ästhetische Qualitäten von Medien­ kultur nicht länger auf Effekte von determinierenden Eigenschaften einer Apparatur zu reduzieren6; sie hebt sich damit von der medien­ wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung der frühen 1990er Jahre ab. Ist eine diskursbetonte, nichtsdestotrotz technik- und algorithmen­ nahe Form der Analyse möglich, oder lässt sich in einer medienepistemischen Unschärferelation nur das Eine um den Preis des Anderen fassen, als Oszillation zwischen medienhistorischer und medienar­ chäologischer Fokussierung?7 Die Alternative zur Liberalisierung der These vom technischen Apriori ist, die analytische Techniknähe im Gegenteil noch zu radikalisieren. In ihrer Radikalität gibt sich Wolf­ gang Hagens Thematisierung der sogenannten digitalen Photogra­ phie nach wir vor zu lesen, die dem darin vermittelnden CCD-Chip als Mikroszene auf den Grund geht und damit die Elektronenbewe­ gungen zu den eigentlichen Hauptdarstellern im Medientheater er­ klärt. Was sich im Untertitel ausdrücklich als »eine epistemologische Anmerkung« zu erkennen gibt, gewinnt gerade aus der präzisesten technischen Deutung eine grundsätzliche Erkenntnis: »Es gibt kein »digitales BildDigital< können wir beliebig Bilder herstellen, überlagern, vermischen, fraktalisieren, >dithern< etc., ohne auch nur ein Pixel in diesem Pro­ zess zu verlieren. Im Digitalen reicht der >UndoMusik< im John Cage’schen der Fotografie, Sinn. Das geschähe ebenso verlustfrei wie ein Bildherstellungspro­ a.a.O. zess und wäre diesem vollständig äquivalent.11

----------------------------------- Was aber, wenn der Rechner auch jene »time of non-reality«, die Norbert Wiener während der Macy-Konfe90

renzen zur Kybernetik benannte, buchstäblich mit einkalkulierte — als nicht-diskrete, überabzählbare Menge von Zeitpunkten zwischen zwei verschiedenen Schaltzuständen einer Flipflop-Schaltung? ----------------------------------- Wolfgang Hagen ist einer der wenigen wirklichen Medienepistemologen, falls ihn nicht gerade die kultur­ wissenschaftliche Lust an medienkulturellen Diskursphänome­ nen (bevorzugt der Spiritismus) erfasst. Dieses Oszillieren zwischen zwei Methoden ist kein unentschiedenes, sondern ein notwendiges, denn es ist das Symptom einer Inkommensurabilität. Unvergessen (die zweite Anekdote) ein epistemologischer Disput am Frühstücks­ tisch in einem Wiener Hotel, am Rande der Tagung 100 Jahre Radio. Die Debatte kreiste um die archaischen Erprobungen von Sendung und Resonanz elektromagnetischer Wellen. Sind die Experimente ei­ nes Heinrich Hertz oder Oliver Lodge exklusiv aus der Wissensge­ schichte seiner Zeit diskursiv ableitbar, etwa die Theoriefiktion eines Mediums namens »Äther«, oder artikuliert sich durch diese Subjek­ te nicht vielmehr ebenso eine im techno-logischen Kern aller histori­ schen Kontextbefangenheit oder wissens- und kulturgeschichtlichen Relativierung enthobene Wahrheit der technisch waltenden Welt? Es gibt etwas an technologischen Medien, das sich in gleichursprüngli­ chen, immerfort wiederkehrenden und neuformulierten Appellen an menschliches Wissenwollen adressiert. ----------------------------------- Ein Satz resoniert, mit dem Wolfgang Ha­ gens radiogene Stimme mit einem Schlag alle möglichen Diskursver­ doppelungen durch Cultural Studies durchschnitt: »Elektromagneti­ sche Wellen sind nicht Teil des Sozialen.«12 Angesprochen ist damit zugleich das doppelte Zeitwesen der Radiostimme, von der Men­ schenohren nur das niederfrequente Signal vernehmen, während die Bedingung seiner Hörbarkeit als Radioempfang, die hochfrequente elektromagnetische Trägerwelle, vom eigentlichen Empfänger, dem Radioapparat, sublim ausgefiltert wird. Als sich James Clerk Maxwell daran machte, mit mathematischen Gleichungen eben jenes elektro­ magnetische Feld zu berechnen, mit dem Michael Faraday phänomenotechnisch experimentiert hatte, war dieses Kräfteverhältnis nicht schlicht diskursgeschichtlich relativ. Es tut sich etwas durch Tech­ nologien kund, dem kulturelles Wissenwollen als Experimentalan91

12. Künstlergespräch aus der Reihe Anhörung! über Oper & Radio-Utopien, aus Anlass der Installation von Jan-Peter E. R. Sonntags Radio-Oper RUNDFUNK AETERNA X, Rundfunk Aeterna x, Akademie der Künste, Berlin, 2. Februar 2019.

13Dazu Georg Trogemann, Alexander Nitussov, Wolfgang Ernst (Hg.): Computing in Russia. The history ofComputer devices and information technology revealed, Braunschweig 2001.

14. Wolfgang Hagen: Die Camouflage der Kybernetik, in: Claus Pias (Hg.): Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Conferences 1946-1953, Bd. 2 (Essays und Dokumente), Zürich 2003, S. 191-207.

15Hagen: Das Radio, a.a.O., S. 10.

Ordnung nicht schlicht hinterherspürt, sondern das damit überhaupt erst herausgefordert wird. Die konkrete Modellierung solchen Medi­ enwissens mag wissensgeschichtlich variabel sein, doch geerdet ist sie in einem ahistorischen/undamentum in re. ----------------------------------- Die Chronik von Technik verzeichnet eine Koemergenz der ansonsten einseitig als Eccles-Jordan-Trigger vertrauten Schaltung.13 Am 27. April 1918 berichtet Michail Alexandrovich Bonch-Bruyewitch vor der Russischen Gesellschaft der RadioIngenieure über die von ihm (erstmals) erfundene, vollelektronische, bistabilen Kippstufe avant la lettre; im Oktober des gleichen Jahres pu­ bliziert er den Befund in einem russischen Fachorgan zur drahtlo­ sen Telegraphie und Telephonie. Was besagt diese Gleichzeitigkeit? Emergiert Medienwissen synchron? Hier ist vielmehr der Begriff von Gleichursprünglichkeit angebracht. Diskursanalytisch (oder um­ gangssprachlich) formuliert gilt hier, dass ein Wissen »in der Luft liegt«, weil ein Wissen um elektronische Vollzugsweisen neu entdeckt und in den internationalen Zeitschriften heftig (und weitgehend of­ fen) verhandelt wird. Ein Netz neuen Wissens verdichtet sich und zei­ tigt so an verschiedenen Orten isomorphe Entdeckungen und Erfin­ dungen. Und doch finden sich medienepistemische Dinge nicht allein durch publizistische Zirkulation, sondern ebenso in technischer Ei­ genlogik. ----------------------------------- In welchem Verhältnis also stehen die wissenshistorische Genesis und das Geltungswissen technomathe­ matischer Verhältnisse zueinander? Aufgehoben in Mikrochipar­ chitekturen ist die Vergangenheit ihrer Vorgänger, die fortwährend gilt. Die arche als Prinzip ist nicht auf den historischen Moment re­ duzierbar. Doch Wolfgang Hagen insistiert zugleich auf der kultur­ wissenschaftlichen Dekonstruktion solcher Verhältnisse (logoi). Die von-Neumann-Architektur des speicherprogrammierbaren Compu­ ters schleppt ihren Entstehungsgrund, nämlich die Notwendigkeit der Beschleunigung der Berechnung zeitkritischer Prozesse wie der Auslösung einer nuklearen Kettenreaktion durch konventionelle Ex­ plosionen, bis in die Smartphones der heutigen Mobilkommunikati­ on fort.14 Somit verlangen technische Medien sowohl das Wissen um ihre Historizität wie die Anerkennung des Zeitz’nvarianten darin.

92

----------------------------------- Physikalische Experimente werden ge­ nau dann theoriefähig, wenn sie konsistent mathematisierbar, d. h. in der Forschergemeinschaft ubiquitär reproduzierbar sind. Wirksam aber sind sie allein im Medienvollzug. Für hochtechnische Medien heißt dies die Verkörperung des logos in technischer Materie. Etwas muss als Schaltung real (Verkabelung) oder symbolisch (Program­ mierung) anschreibbar sein. Ist das geschehen, ist es mit solchen Wis­ sensformen als »>Geschichte< im engeren Sinn«15 vorbei. So bedarf es einer zugleich historischen und nicht-historischen Begründung von Mediensystemen. Hagen schreibt ebenso eine Medienarchäologie wie eine Geschichte der Medien, aufgehoben in einer »medialen« (sit venia verbo) Genealogie16, deren Teil er als Autor und Sprecher im Medien­ archiv selbst ist; radikal präsent.

93

16. Wolfgang Hagen: Technische Medien und Experimente der Physik. Skizzen zu einer medialen Genealogie der Elektrizität, in: Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.): Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/M. 1998, S. 133-173-

70. W.H

Roger de Weck Wissen er mehrt, Denken er lehrt. Den Bus er fährt, und unversehrt.

Mit Wohlbehagen, singen und sagen die Entouragen über W. Hagen:

Und sie und er ziehen umher, mal Berliner, neu Alt-Zürcher.

Er kann alles, und der kann es, Kerl für Klares, Mann für Wahres.

Nie scheint er müd, wenn er so blüht in Nord und Süd und sprüht und glüht

Kennt die IT, die Strategie, Akademie und Nathalie.

für sein Amour und die Kultur, zwei pour toujours. Doch die Sanduhr?

Nix da, H. bleibt jung, ein Wolfgang mit Schwung, Feuer, Schalk, Bildung. Uns gibt er Hoffnung. 95

I shall be gone and live or stay and die.

Shakespeare

DAS WILDE CAMPEN Mobiles Wohnen als Kulturtechnik

Claude Levi-Strauss verabscheute Reiseanekdoten, angeblich sogar das Rei­ sen an sich. Die heute viel beschwore­ ne Feldforschung war für Levi-Strauss nichts als »Schlacke«, von der man die Wahrheiten der Völkerkunde befrei­ en müsse. »Für das Abenteuer gibt es im Beruf des Ethnologen keinen Platz«, schreibt er zu Beginn von Traurige Tropen. --------------------------------- Hin und wieder gibt die Lektüre LeviStrauss dennoch den Blick frei auf die Lebensumstände, aus denen seine Denkfiguren hervorgegangen sind. Exemplarisch dafür ist ein Foto aus dem Bildband Brasilianisches Album: Ein Auto sieht man dort, die Reifen eingegraben in den Matsch eines steilen Hohlwegs. Drum­ herum ratlose Männer in Regenmänteln, im Hintergrund eine tropi­ sche Nebelwand. Die Bildunterschrift referiert lakonisch: »Die Rei­ se fand in den ersten Septembertagen des Jahres 1937 statt, zunächst mit dem Auto auf schlechten Straßen [...], dann zu Pferd und schließ­ lich zu Fuß.« Tiefere Bedeutung gewinnt das Bild durch den Ver­ gleich mit einem Foto aus Sao Paolo, einige Seiten zuvor. Hier steht dasselbe Auto vor einem großbürgerlichen Haus. Am halbgeöffne­ ten Tor lehnt Levi-Strauss’ Vater und fotografiert mit einer hand­ lichen Kleinbildkamera. Beschriftung: »Der noch nicht allzu alt­ modische Ford erschien mir als Symbol sozialen Aufstiegs, denn ich hatte in Frankreich nur einen als Gelegenheitskauf erworbe­ nen 5CV Citroen mit drei sogenannten >KleeblattEs gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu seinWohnwagen< scheint sagen zu wollen, dass die Dialektik des unglücklichen Bewusstseins dabei ist, überholt zu werden, und dass wir dabei sind, glücklich zu werden.« ----------------------------------- Kein Wunder also, dass die Narrative der Moderne und Postmoderne durchzogen sind von mobilen Bast­ ler- und Entdeckerfiguren: Die amerikanischen Siedler im Planwa­ gen gehören ebenso dazu wie die Hobos, die in Güterzügen die Great Depression überlebten. Bezeichnenderweise hat sich gerade die Kin­ der- und Jugendliteratur dieser dauerreisenden Hoffnungsträger an­ genommen. Huckleberry Finn in seiner Tonne, Robbi und Tobbi in ih­ rem Fliewatüüt, Peter Lustig in seinem Bauwagen und nicht zuletzt Dorothy, die in Der Zauberer von Oz mit ihrem Haus durch die Luft ge­ wirbelt wird: sie alle zeigen dem Nachwuchs wie man ohne festen Wohnsitz vorankommt. ----------------------------------- Dorothy nimmt in dieser Reihe gleich mehrere Funktionen ein. Ihre Freundschaft mit dem feminin gehal­ tenen feigen Löwen machte sie zur Ikone der Lesbenbewegung und zum Symbol des Aufbruchs zu neuen Ufern der sexuellen Orientie­ rung (»Somewhere over the rainbow...«). Ihr Ritt auf dem Wirbel­ sturm wurde zum Synonym des kreativen Drogentrips, wie ihn Pink Floyd mit The Great Gig in the Sky feierten. Startet man das Album The Dark Side of the Moon beim dritten Brüllen des MGM-Löwen im Vor­ spann von The Wizard of Oz, dann erscheint die Musik als perfekter Soundtrack zum Geschehen auf der Leinwand. ----------------------------------- Der drogeninduzierte Trip durch die Landschaften des Unterbewusstseins ging für viele Hippies ein­ her mit dem physischen Trip im VW-Bus zu den einschlägigen Opi­ um-Anbaugebieten in Afghanistan. Vorreiter dieser Fahrten war der Schweizer Autor und Lebenskünstler Nicolas Bouvier. »Im Wagen schlafen, schlafen, sein Leben träumen«, schwärmt er in Die Etfahrung der Welt:

Der Traum ändert bei jedem Stoss die Richtung und Farbe; er führt seine Geschichte schnell zu Ende, wenn eine tiefere Querrinne oder ein jäher Gangwechsel einen schüttelt [...]. Man drückt den schmer­ zenden Kopf gegen die Fensterscheibe, sieht im Morgennebel eine Bö-

ioo

schung, Baumgruppen, einen Flussübergang. Ein Hirtenmädchen in bunten Lederpantoffeln mit einer Haselgerte in der Hand treibt eine Schar Büffel vorbei, deren heißer, stark riechender Atem einen voll­ ends aufweckt. Es ist schön, in einer solchen Wirklichkeit aufzuwa­ chen.

----------------------------------- Die konkrete Wirklichkeit des Wohnmo­ bilfahrens begann 1921 mit einem Artikel des amerikanischen Kör­ perkulturpioniers Bernarr Macfadden: »Das Automobil gewinnt ge­ rade enorm an Bedeutung für die Förderung der Gesundheit«, schrieb er. »Man gelangt damit ins Freie, man begibt sich ins Zwiegespräch mit der Natur. Man verlässt damit die Straßen der Stadt, den Rauch und die entkräftende Atmosphäre dicht besiedelter Ortschaften«. In dem reich bebilderten Artikel findet sich auch eine Anleitung für den Umbau normaler Autos in vielseitige Wohnmobile mit Doppelbett. Der von Macfadden propagierte Doppelnutzen von Gesundheitsbil­ dung und Naturerfahrung hat seine Spuren im amerikanischen Be­ griff »Recreational Vehicle« hinterlassen; anstelle der selbst gebas­ telten fahrenden Zelte erfreut sich der Wohnmobilfan heute aber am Komfort einer voll ausgestatteten fahrenden Wohnung. ----------------------------------- Das erste ernstzunehmende Wohnmo­ bil bescherte den Deutschen ein schwäbischer Tüftler — bricolage lässt grüßen: Arist Dethleffs aus Isny im Allgäu konstruierte das Gefährt für seine Frau Fridel Dethleffs-Edelmann. Die Landschafts­ malerin wollte ihren Gatten auf seinen Geschäftsreisen begleiten und wünschte sich dafür ein mobiles Atelier. Die unmittelbare An­ schauung scheint der Malerin Inspiration gewesen zu sein; sie und die Tochter Ursula brachten es im Rahmen der Oberschwäbischen Sezes­ sion zu lokaler Berühmtheit. ----------------------------------- Zu den Annehmlichkeiten eines jeden Wohnmobils gehörte schon früh das Autoradio. Ist der Rundfunk auf gewisse Weise doch ohnehin sein immaterielles Pendant. Lötkol­ ben und ein paar Drähte verschafften Zugang zu weit enfernten Ge­ danken- und Klangwelten. Und bei aller Horizonterweiterung tra­ gen Rundfunk und Wohnmobil immer auch ein Stück Heimat in die Fremde. Rudolf Arnheim jedenfalls beschreibt diesen Vorgang ein­ dringlich zu Beginn von Rundfunk als Hörkunst. Der Medienwissen-

101

schaftler hatte in einem süditalienischen Fischerort beobachtet, wie die Ortsansässigen über Funk einem deutschen Männergesangsver­ ein zuhörten. »Und die Fischer, von denen wohl kaum einer je in ei­ ner großen Stadt, geschweige im Ausland gewesen war, horchten, ohne sich zu rühren.« Für Arnheim sind solche Szenen Ausdruck des »großefn] Wunderjs] des Rundfunks. Die Allgegenwärtigkeit dessen, was Menschen irgendwo singen und sagen, das Überfliegen der Gren­ zen, die Überwindung räumlicher Isoliertheit, Kulturimport auf den Flügeln der Welle, gleiche Kost für alle, Lärm in der Stille.« ----------------------------------- Ob die Reise über den Äther oder den Highway führt, die Erweiterung lokaler Horizonte gilt vielen als Heil­ mittel gegen Totalitarismus und andere Katastrophen. Eine Reihe von Denker/innen ziehen daraus den Schluss, dass der Mensch an sich ein mobiles Wesen ist. Bruce Chatwin etwa führt in Traumpfade die mo­ derne Zivilisation und deren Rechtssprechung auf das Nomadentum zurück: »Nomos ist griechisch und bedeutet >WeideNomade< ist ein Häuptling oder Stammesältester, der die Zuweisung von Weidegründen beaufsichtigt. Nomos nahm daher die Bedeutung >Gesetz t

■'

' i

AWI &

Areyou readyfor the time ofyourlife? It's time to stand up andfight It's alright, it's alright Hand in hand we take a earavan to the motherland One by one we gonna stand up with pride Onethatean'tbe denied Stand up, stand up

The Housemartins, Caravan ofLove, 1986

CARAWAHN DER WEISSE RIESE ---------------------------------------------------------------

Sebastian Vehlken

Den Beginn jeder Sommerferienzeit markiert ein / Zusammenfall von Nomadentum und Apokalyp­ Jan se, besser bekannt als »Verkehrsinfarkt«, aus dem Müggenburg1 ein Typus von Fahrzeug in jüngeren Reisefeuille­ tons besonders herausragt: Ein Leviathan der Pri­ vatmobilisierung, der wie einst Melvilles Moby Dick an verschiedenen Orten zugleich auftaucht. Dieser treibt jedoch nicht mehr alternde Käpt’ns in den Wahnsinn; vielmehr haben sich die Seiten vertauscht, und letztere sitzen klischeegerecht als junggebliebene »Golden Agers« hinter dem Steuer­ rad der nun vielbereiften weißen Wale. Die Rede ist natürlich von der Konjunktur des Wohnmobils oder Caravans. -------------------- Hermann Pfaff, der Präsident des deutschen Cara­ vaning Industrie Verbands (CIVD) nennt eindrucksvolle Absatzrekor­ de: Mehr als eine halbe Million Wohnmobile sind hierzulande zuge­ lassen, um fast 25 Prozent stieg der Verkauf von Wohnmobilen 2016 im Vergleich zum Vorjahr. »Caravaning ist in der Gesellschaft ange­ kommen«2, sagt der Branchenkenner. Die mobile Urlaubsform ste­ he für Freiheit und Unabhängigkeit — kurz: »Der Caravan ist jetzt cool«3 und sei längst nicht mehr Inbegriff des Spießertums. Wo aber das Rettende ist, wächst die Gefahr auch: Zunächst und erstens macht ein Beispiel aus der beliebten Rubrik Deutschlandkarte des Zeit Maga­ zins aus dem Sommer 2019 stutzig: »Das Lieblingsziel von deutschen

105

Wohnmobilnutzern ist laut Deutschem Tourismusverband nämlich Deutschland.«4 Statt wie im Summer of Love mit dem Bulli auf den Balkan geht es heute eher mit dem Caravan nach Kempen, Lüneburg oder Westerland. Denn: »Für sein neues Wohnmobil gibt man im Schnitt unglaubliche 73.000 Euro aus. Das können sich oft nur Men­ schen leisten, die dafür ein paar Jahrzehnte gespart haben. Und die bleiben mit dem teuren Gefährt, vielleicht aus Angst, es könne ge­ klaut werden, offenbar eher innerhalb der Landesgrenzen.«5 Schlim­ mer aber wird es zweitens noch, wenn die Leviathane nicht in den si­ cheren Häfen deutscher Campingplätze anlegen, sondern sich für die Zwischenreisezeit in autobahnzubringerfreundlichen Stadtrandla­ gen ansammeln und Bewohner wie Behörden traktieren: »Machtlos gegen Wohnmobile. Viele Wohnmobile stehen im Winter still, blo­ ckieren Parkplätze und schränken die Sicht ein. Anwohner können dagegen nichts tun«.6 Es geht aber noch ein bisschen nassforscher, wie eine Episode aus der Senderstadt Langenberg verrät: »Ein Wohnmo­ bil parkt in Langenberg tagaus, tagein auf einer Bushaltestelle. Brav zahlt der Besitzer die Knöllchen des Velberter Ordnungsamtes. Sonst aber geschieht nichts. >Uns sind die Hände gebunden — mehr als Ver­ warnungen zu schreiben, können wir nicht tum, sagt die Stadt«. ----------------------------------- Should Istay orshould Igo? Wozu diese Rei­ he von Caravan-Fällen in einer Festschrift für jemanden, dessen Ca­ ravaning-Routinen doch über alle Zweifel erhaben, dessen Niesmann Bischoff Flair ordnungsgemäß auf einem sonnenstandsoptimierten Dauercamping-Stellplatz vertäut liegt, und der auch schon ohne Ca­ ravan kein Spießer war? Nun, die Beispiele verweisen auf ein durch den Caravan aufgespanntes paradoxales Raumverhältnis zwischen Allgegenwart und Niemandsland, dem es genauer nachzugehen lohnt. Im Caravan sieht sich — wenn man es mit Michel Foucault sa­ gen will — ein heterotopisches Prinzip par excellence materialisiert:

Es gibt gleichfalls — und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisati­ on — wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Ge­ sellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und

106

gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.8

----------------------------------- Die These, dass der Caravan dabei in Fou­ caults Heterotopologie zwischen dem Typus der Abweichungs- und der Illusionsheterotopie siedelt und fährt, steht im Zentrum der volgenden Betrachtung. Dies betrifft einerseits die Raumgenese des Ca­ ravans oder Wohnmobils selbst, aber auch verschiedene Außen- oder Weltverhältnisse des Caravans. Auf den folgenden Seiten werden wir diese anhand von vier exemplarischen Orten exerzieren, zwischen denen die Caravans stets weiterziehen: Wir begeben uns auf den Campingplatz, in die Wüste, auf den Schrottplatz, und auf die Straße. GENTLEMAN GYPSIES ---------------------------------------------------------------------------------------------1

»Drive, arrive, and thrive in style: Doch wovon schreiben wir eigentlich, wenn wir vom mobilen Woh­ the new Horizon is calling.« nen schreiben? Die allbekannte Online-Enzyklopädie beginnt ihren Motto für das WinnebagoTopmodell Horizon9

Eintrag zunächst klipp und klar mit lediglich drei Begriffen im ers­ ten Satz: »A motorhome (or motor coach) is a type of self-propelled recreational vehicle (rv) which offers living accommodation combined with a vehicle engine.«10 Doch dann geht es schon los: »Motorhomes are part of the much larger associated group of mobile homes which includes Caravans, also known as tourers, and static Caravans« — ge­ nau jene größere Gruppe also, die uns hier interessieren soll. Und ab Zeile drei wird es dann richtig konfus:

The term motorhome is offen used interchangeably with American RV and campervans, though the terms are not entirely synonymous. The term Recreational Vehicle (rv) is actually a blanket term that refers to all forms of mobile, temporary, dwelling vehicles of this type (and as such includes motorhomes, as well as travel trailers, fifth wheels, and truck campers). Campervans are typically smaller than motorhomes and are constructed differently. Whilst campervans are focused on mobility and low cost, motorhomes have more emphasis on comfort. For example, campervans generally lack built-in toilets and showers, or a divide between the living compartment and the cab.11

107

----------------------------------- Und damit sind erst die definitorischen Differenzen des angelsächsischen Sprachraums abgesteckt:

In the United Kingdom and United States, the word motorhome is commonly used. On occasion, other Synonyms are used, such as motor home and motor caravan. In Germany, a motorhome is referred to as a >WohnmobilHusbil< means motorhome. In France, a motorhome is called a >camping-carCamper< is used to mean motorhome in general, and the term >Motorhome< refers to Class A motorhomes in particular. Spain and Por­ tugal use >Auto Caravana< or >Auto-CaravanaCamper< is used. In Australia and New Zealand, the term campervan is frequently used for smaller vans, either with a low top or high top that don’t have a toilet and shower. In New Zealand you may also hear the term >housebus< that is frequently used for larger motorhomes.12 ----------------------------------- Anders als Wikipedia könnte man in Bezug auf die Geschichte des Caravans natürlich nicht erst im Frei­ zeit-Kontext ansetzen. Wie man richtig vermuten würde, leitet sich der Begriff Caravan von der Karawane ab, also einer Gruppe Reisen­ der, Pilger oder Händler, die sich in vornehmlich nordafrikanischen und westasiatischen Gebieten zum gegenseitigen Schutz zusammen­ schlossen und mit Kamelen, Maultieren und Eseln unterwegs waren. Im Englischen und Deutschen ist der Begriff seit dem 16. Jahrhundert verbreitet, vom mittelfranzösischen »caravane«, italienischen »caravona« sowie dem lateinischen »caravana« abgeleitet. Diese Ausdrü­ cke wurden wahrscheinlich während der Kreuzzüge im 13. Jahrhun­ dert vom arabischen »qairawan« und persischen »karwan« — beide als »Gruppe von Wüstenreisenden« oder »Kamelzug« übersetzbar — übernommen.13 ----------------------------------- Seit den 1670er Jahren soll »caravan« im englischen Sprachgebrauch für die Bezeichnung eines »large covered carriage for conveying passengers« genutzt worden sein.14 Promis wie Napoleon und Goethe reisten an der Wende zum 19. Jahrhundert in Wagen, die mit Bett und Schreibtisch ausgestattet waren.15 Und auch auf die Wagen des sogenannten »fahrenden Volks« der Schaustel­ 108

ler oder der Sinti und Roma übertrug sich später diese Bezeichnung. Jene nutzten ab dem 19. Jahrhundert derartige Wagen nicht mehr nur zum Transport (um selbst daneben im Zelt zu schlafen), sondern auch zum Bewohnen.16 Denn beispielsweise durch Maßnahmen wie die Einführung des Preußischen Wandergewerbescheins 1869 erweiter­ ten sich die Reisegebiete von Schaustellern derart, dass neue Anfor­ derungen an das mobile Wohnen gestellt wurden. Parallel zu ersten Karussellfirmen gründeten sich somit u.a. in Thüringen Firmen zur professionellen Herstellung von Schausteller-Wohnwagen, die äu­ ßerlich an Eisenbahnwaggons angelehnt waren und bis 1900 bis hin zu »Luxuswohnwagen« ausgebaut wurden.17 Diese Form hielt sich in Deutschland bis in die 1960er Jahre. Erst ab dann begannen Schau­ stellerfamilien auf das Angebot »moderner« Wohnmobil- und Wohn­ wagenherstellern umzuschwenken. ----------------------------------- Der erste Freizeit-Caravan in Anhänger­ form wurde 1880 von William Gordon Stahles in Auftrag gegeben. Er fuhr mit seinem Wanderer, wie er den Wagen nannte, durch das Ver­ einigte Königreich, verfasste darüber als selbsternannter Gentleman GypsylS mehrere Bücher und löste damit einen regelrechten Caravan-Hype unter gutbetuchten Engländern aus — auch damals musste man über das nötige Kleingeld sowie die Freizeit verfügen, um sich so einen Wagen leisten zu können.19 Caravaning — der Überbegriff für das Reisen bzw. Campen auf Rädern — wurde zu einer beliebten Frei­ zeitaktivität: In England wurde 1901 der Camping and Caravanning Club und 1907 der Caravan Club gegründet.20 ----------------------------------- Während die ersten Modelle noch von Pferden gezogen wurden, brachte die Verbreitung des Automobils bald auch hier Veränderung. 1919 stellte die britische Firma Eccles Mo­ tor Transport den ersten von einem Auto gezogenen Wohnwagen vor.21 Deren Technikgeschichte beginnt mit der ersten Präsentation eines Wohnmobils auf der Madison Square Garden Auto Show 1910 durch die Pierce-Arrow Motor Company, und seither ist — wie oben gesehen — be­ grifflich unklar, wo das Wohnmobil anfängt und der Campervan auf­ hört. Vielleicht ist es ohnehin treffender, in definitorischer Hinsicht dem Septic’s Companion zu folgen, einem »poorly-researched dictionary of British Slang words and phrases, writtenby some guy off the in­ 109

ternet« genau auf Augenhöhe unseres Beitrags. Ihm zufolge handelt es sich bei einem Campervan nämlich schlicht um einen »motorised caravan in which you can take your entire family for a horrible holiday«, und bei dem Caravan um ein »terrible device which attaches to the back of your car and allows you to take your whole family on holiday at minimal expense and with maximum irritability.«22 TIN CAN TOURISTS --------------------------------------------------------------------------------------------------

Mag die Sache mit dem »horrible holiday« noch Ansichtssache sein, ist der Aspekt der minimalen Kosten nicht unbedingt verallgemein­ erbar: Zwar hat sich der Wohnmobil- und Caravanmarkt in den ver­ gangenen einhundert Jahren in alle erdenklichen Marktsegmente se­ gregiert, doch waren Wohnmobile immer auch am Stand der (Wohn-) Technik orientiert: »RVs have always been as comfortable as they can be for the time period«23, so der US-amerikanische Wohnmobil­ sammler David Woodworth. Pierce-Arrows’ wegweisender Touring Landau aus dem Jahr 1910 wies folglich Ausstattungsmerkmale wie eine zu einem Bett umklappbare Rücksitzbank, ein Klapp-Waschbe­ cken an der Rückseite des Chauffeur-Sitzes, verschiedene Staufächer für Reiseutensilien, ein Telefon für die Kommunikation zwischen Fahrer und Reisenden, und last but not least einen Nachttopf auf.24 Möglich machten dies nicht zuletzt Fortschritte bei der Verarbeitung von Aluminum, welches wie kein zweites Material für den sich bald abzeichnenden Boom der Recreational Vehicles stehen sollte.25 ----------------------------------- Neben einem mit der Verbreitung des Automobils in den USA ab den 1920er Jahren einsetzenden Trend zu »housecar«-Eigenbauten von teils zweifelhafter Stilsicherheit auf der Basis von LKW- oder Bus-Chassis26, deren Gestaltungsspekt­ rum von der Almhütte bis zu Designinspirationen aus dem Flugzeug­ bau reichten, begannen Firmen wie Los Angeles Trailer Works oder Au­ to-Kamp Traders bereits in den 1910er Jahren mit der Serienproduktion von Caravans. Beides folgte einem wachsenden Interesse an einer als »American Icon« verkauften und wahrgenommenen Art des »blazing [one’s] own trail and getting out there and seeing all these places«27, der bald als »Tin Can Tourism« bekannt wurde — getauft nach dem diese Art des Reisens begleitenden Essen aus gaskochergewärmten 110

Konservendosen. Eine Bezeichnung, die der mit dieser Festschrift Geehrte selbstredend auch heute noch in standesgemäßen Ehren hält, verabschiedete er sich doch einst von einem Sommerfest seiner Lüneburger Arbeitsstätte mit den Worten: »Ich fahr’ jetzt zurück auf den Platz, mach’ mir ne Dose auf, und ess’ ’nen kalten Fisch.«2 ----------------------------------- Popularisiert wurde das Camping an­ fangs zudem von einer Gruppe von Prominenten, den »self-styled Vagabonds« Thomas Edison, Henry Ford, Harvey Firestone sowie dem Naturforscher John Burroughs, über deren jährliche Trips zwischen 1913 und 1924 medial in großem Stil berichtet wurde und die nationa­ le Bekanntheit erlangten.29 Ford hatte zu Beginn des Jahrzehnts die folgenreiche Entscheidung getroffen, sein Model-T um eine Wohnka­ bine zu ergänzen.30 Die selbsterklärten Vagabunden wurden in der Regel von einem Tross aus Reportern und Journalisten begleitet und luden oft prominente Gäste zu sich »auf den Platz«. Je nach Grad der Prominenz wurden Komfort und kulinarisches Angebot der Mobil­ heime dann angepasst. Überliefert ist etwa, dass John Burroughs an­ lässlich des Besuchs von Präsident Warren G. Harding und bezüglich eines von Ford extra herbei geschafften »food Wagons« leicht spöt­ tisch von einem »Waldorf-Astoria on Wheels« sprach.31 1919 wurde dann auch in den USA der erste Campingclub gegründet und bis Mitte der 1930er Jahre stieg dessen Mitgliederzahl bereits auf 150.000 Per­ sonen an. Diese erfreuten sich am offiziellen Club-Song The More We Get Together und begrüßten sich mit einem speziellen Handschlag.32 ----------------------------------- Hier zeichnet sich auch schon eine erste jener zahlreichen Paradoxien ab, die das Caravaning kennzeichnen: Sind seine Vehikel einerseits zwar eine grundsätzliche Verkörperung von Individualität, so sammeln sie sich am Ende des Reisetages doch massenhaft in temporären Nachbarschaften an, und die Reisenden aka Clubmitglieder stärken sich am Gaskocher mit standardisierter Massennahrung — das The More We Get Together als intrinsische Ne­ benbedingung des individuellen Reisens. ----------------------------------- Ab den 1950er Jahren entwickelte sich dann rasch eine eigene Wohnmobil-Industrie, mit Frank Motor Homes (dessen Gründer Raymond Frank auch die Begriffsprägung von »motor home« zugeschrieben wird), Travco oder Winnebago als führeniii

den Firmen.33 Deren Modelle symbolisierten in Bezug auf Größe und Komfort das genaue Gegenteil jener seinerzeit hierzulande populä­ ren Reisegefährte, für die der Volkswagen Westfalia Camper Pate steht. Versammelte letzterer auf engstem VW-Bulli-Raum ergonomische Kleinstmöbel in Gedenken an Schütte-Lihovskys Frankfurter Küche, dehnten sich in den amerikanischen Modellen bereits großflächige Wohnlandschaften aus. ----------------------------------- Und damit fällt bis heute jeder »New Horizon« im Stile der oben genannten Winnebago-Werbung zusammen mit dem sicheren Gefühl, immer schon zu Hause anzukommen — ein zweites Caravan-Paradox: Das Gehäuse des mobilen Heims schließt jedes neu explorierte Reiseziel sogleich mit einem gewohnten Zuhau­ se kurz, lässt Ferne und Nähe in eins fallen, und bringt in Gegenden des Niedagewesenseins stets ein gewohntes »Dasein«. Das Wohnmo­ bil lässt sich deshalb auch als Antithese zu jenen »Non-Places« be­ greifen, wie Marc Auge jene un/beruhigend unpersönlichen und kulturfreien Orte genannt hat, auf die wir uns an allen Ecken des globalisierten Kapitalismus verlassen34: von den, aus der Innenper­ spektive des Frequent Travellers ununterscheidbaren, supermodernen Flughäfen über die Standard-Business-Zimmer global operierender Hotelketten bis hin zu den universalen Wohnzimmer-Simulationen der Starbucks-Filialen. ----------------------------------- Der eigene Wohnwagen ist im Vergleich zu diesen Nichtorten radikal idiosynkratisch, ein an die eigenen Vor­ lieben, Routinen und Fähigkeiten angepasster Nicht-Nicht-Ort, der jeden McDona/ds-Parkplatz zum Vorgarten des mobilen Eigenheims macht. Das Recreational Vehicle (rv) sorgt für Erholung, eben weil es ermöglicht, das Vertraute mit dem Neuen zu verbinden. Gleichzeitig wird die gewohnte Umgebung aus ihrem eigentlichen Kontext gelöst und ent-fernt. Das Wohnmobil ist immer auch Rückzugsort und »Safe Space« in Bezug auf die Gesellschaft durch die es bewegt wird. Es bie­ tet die Möglichkeit, die Existenzweise etablierter Felder, wie etwa die des akademischen Betriebs, zu konterkarieren. Und damit ist es kon­ zeptuell glücklicherweise meilenweit entfernt von jener spätpuber­ tären Millenials-Marotte, die seit einiger Zeit unter dem — natür­ lich! — Hashtag #vanlife die Runde macht: 112

Gemäß der Zeitschrift The New Yorker hat sich hinter dem Hash­ tag #vartlife eine »Boheme Social MediaVordenker< ausgelöst werden. Die Arbeit würde dann in einer Art Trance-Zustand erfolgen. ----------------------------------- Wolfgang Hagen weist auf das faschisto­ ide Potential dieser Überlegungen Ardennes hin, und er weiß natür­ lich auch um deren Nähe zu neueren Visionen vom download des Ge­ hirninhalts sowie auch zur neurowissenschaftlichen Forschung, die daran arbeitet, im Gehirn gespeicherte Informationen direkt, ohne Umweg über menschliche Expressivität, abzugreifen. Statt mich nun in diese aktuelle Diskussion einzumischen, möchte ich mich der Vor­ geschichte der Phantasie Ardennes zuwenden. Wolfgang Hagen sieht einen Zusammenhang zwischen Ardennes Phantasie und der Ent­ wicklung des Radios, zu der dieser Ingenieur mit der Entwicklung des »Ortsempfängers OE 333« beigetragen hat. Der spiritistische Traum von den kommunikativen Wellen geht der Erfindung des Radios frei­ lich um mehr als hundert Jahre voraus. Geträumt wurde er von Franz Anton Mesmer in den 1770er und 80er Jahren in Wien und Paris. ----------------------------------- Mesmer warb damals für seine Theorie des »animalischen Magnetismus«, deren wissenschaftliche Fundie­ rung noch viel wackliger war als diejenige Manfred von Ardennes, aber nach einem ähnlichen Modell funktionierte. Mittels magneti­ scher Wellen sollte direkter Einfluss auf das Innenleben eines Men­ schen genommen werden. Mesmer versprach sich von diesen Wellen wahre Wunderdinge. Als Arzt ging es ihm besonders um deren Heil­ kraft. Alissa Walser erzählt in ihrem Roman Am Anfang war die Nacht 139

»Gedanken hören«, in: Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.): Traneemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick aufdie Moderne, Bielefeld 2009, S. 34I-34S. Die im Text folgenden Zitate Ardennes entnehme ich diesem Text.

6. Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik, Roman, München 2010, S.24.

7Diese — und die im Text folgenden — Passagen aus Brissots Un motä l'oreille des academiciens de Paris zitiere ich nach Robert Darnton: Mesmerism and the End ofthe Enlightenment in France, Cambridge, Mass. 1968, 5.95-97, zoif

Musik vom Versuch einer solchen Heilung. Mesmers Patientin war die Pianistin Maria Theresia Paradis, die seinerzeit für ihre Virtuosität bewundert und wegen ihrer Blindheit bemitleidet wurde. Bei Alis­ sa Walser heißt es: »Körper spüren, wo Barometer versagen. Sie sind durchdrungen von diesen Fluten. Von dem Einen. Dem Fluidum. Dem feinsten, allerfeinsten Stoff, den das Universum zu bieten hat.«6 Mes­ mer versagte allerdings kläglich bei seinem Versuch, dem Mädchen das Augenlicht zurückzugeben, wurde mit Schimpf und Schande aus Wien vertrieben und verzog sich 1778 nach Paris. Walsers Roman en­ det hier, doch es lohnt sich, Mesmer im vorrevolutionären Frankreich auf den Fersen zu bleiben. ----------------------------------- Mit der Theorie vom »Fluidum« und vom allgegenwärtigen, unsichtbaren Magnetismus konnte Mesmer auch in Paris Anhänger um sich scharen. Er wollte seine Vision von den magnetischen Wellen, die zwischen Menschen hin- und herge­ hen, nicht nur therapeutisch einsetzen, sondern verband damit die Hoffnung auf wortlose, verlässliche Verständigung — wireless und in sync. ----------------------------------- Robert Darnton, der Trüffelsucher un­ ter den Historikern, hat die Karriere Mesmers in Frankreich nach­ gezeichnet, wo er von Erfolg zu Skandal eilte. Dabei hat Darnton ein anonymes Pamphlet Un mot ä l’oreille des academiciens de Paris aus dem Jahre 1786 entdeckt — verfasst immerhin von Jacques-Pierre Brissot, einen von Geldnöten verfolgten Journalisten und wortmächtigen Aufrührer, der zu einem der wichtigsten Revolutionsführer aufstei­ gen und mit anderen Girondisten im Oktober 1793 guillotiniert wer­ den würde. 1786 legte Brissot sich ausnahmsweise nicht mit politi­ schen Machthabern, sondern mit arrivierten Wissenschaftlern an. In seinem Pamphlet schrieb er: »Ich werde Ihnen eine Lektion erteilen, meine Herren, ich habe das Recht dazu [...]. Ich hänge keinem Vorur­ teil an, während Sie an diejenigen Ihres Standes gefesselt sind.«7 Nach diesem Auftakt brach er eine Lanze für den Mesmerismus. Was aber konnte jemand, der sich für die Revolution warmlief, dem seltsamen Mesmer abgewinnen? ----------------------------------- Brissot sah in Mesmers Lehre von der magnetischen Kommunikation ein Mittel, die »Reichen menschli140

eher« werden zu lassen und die »Stände näher zusammenzubringen«. Er erwartete, dass die Herren mit ihren Knechten in Verbindung tre­ ten, indem sie sie »magnetisieren«, deren Gesundheit befördern und sich deren Sorgen annehmen. Brissot machte den Mesmerismus zum Instrument einer Sozialtechnologie, die den Geist revolutionärer Gleichheit und Brüderlichkeit atmete. ----------------------------------- Doch Brissot erhoffte sich vom Mesme­ rismus auch Unterstützung bei seinen privaten Nöten. Er hatte eine Frau und drei Söhne, deren Schicksal er oft nur aus der Ferne verfolg­ te — zum Teil gezwungenermaßen. So saß er zum Beispiel 1784, im Geburtsjahr seines ersten Sohnes, zunächst wegen Schulden in Lon­ don im Gefängnis, dann wegen aufrührerischer Umtriebe in Paris in der Bastille. Deshalb hoffte er auf den Mesmerismus als Methode zur Sicherstellung privater Harmonie in schwerer Zeit:

Ich, der ich ein Vater bin und die Ärzte fürchte, liebe den Magnetis­ mus, weil er mich mit meinen Kindern eint. Wie süß ist es für mich [...], wenn ich sie meiner inneren Stimme gehorchen sehe, wenn sie sich vorbeugen, in meine Arme fallen und den Schlaf genießen! Der Zustand einer stillenden Mutter ist ein Zustand des permanenten Magnetismus. Wir unglücklichen Väter, die von den Geschäften ver­ einnahmt werden, sind fast nichts für unsere Kinder. Durch den Ma­ gnetismus werden wir wieder Väter. Darin liegt eine neue Wohltat, geschaffen in einer Gesellschaft, die ihrer so sehr bedarf! ----------------------------------- Brissot wollte die magnetischen Wellen nutzen, um in einer Fernbeziehung Kontakt zu halten. Folgt man Ma­ dame Brissot, so scheint der Mesmerismus im Alltag nicht recht funk­ tioniert zu haben. In einem Brief, den sie Ende 1792 an ihre Schwester Nancy in Amerika schrieb, heißt es: »Der Geldmangel und die Acht­ losigkeit meines Mannes gegenüber seinen Kindern stellen auf Dau­ er Hindernisse für deren gute Erziehung dar. [...] Wenn Du darauf zählst, in der Ehe ein unwandelbares Glück zu erreichen, so schlag Dir das aus dem Kopf.« Madame Brissot ließ an ihrem Mann ein gu­ tes Haar: »Man muss ihm freilich Gerechtigkeit erweisen, gegenüber dem jüngsten Kind ist er ein wenig aufgeschlossener.«8 Diesen drit­ ten Sohn namens Anacharsis, der 1791 geboren wurde, konnte Brissot

141

8. Zu Brissots schwierigen Lebensumständen und Gefängnisaufenthalten Jacques-Pierre Brissot: Correspondance et Papiers, Paris 1912, S. 428-434, XXX, XXXVII, LXVII; zum Brief seiner Frau ebd., S. 326 u. 328. Vgl. Dieter Thomä: Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008, S. 103-107.

9Anon. [Anacharsis Brissot de Warville]: Folie et raison, Bd. I, Paris 1815, S. 50,55,118 u. 109.

10. Mark Zuckerberg: Building Global Community.

11. Wolfgang Hagen: Goebbels'Stimme, in: Forum Modernes Theater 28/1 (2013 [2017]), S. 69-79; ders. »Körperlose Wesenheiten«, Über die Resonanz der Radio-Stimme, in: Karsten Lichau (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2009, S. 193-203; ders., »Die Stimme als Gast«, a.a.O.; ders., Wenn alles gesagt ist, werden die Stimmen süß, a.a.O.

freilich nur während dessen zwei ersten Lebensjahren zur Seite ste­ hen; dann wurde er geköpft. ----------------------------------- Dieser Sohn wurde dann Weltreisender, Frauenheld, Weinhändler, Pleitier — und Schriftsteller. 1815 veröffent­ lichte er seine Autobiographie unter dem Titel Wahnsinn und Vernunft (Folie et raison). Nicht nur breitete er darin genüsslich seine zahlrei­ chen Liebschaften aus, an einer Stelle lobte er — man darf unterstel­ len: ohne an Mesmer zu denken — die besondere Gabe seines »Mag­ netismus«, mit der er eine Schauspielerin, die zunächst gar nichts von ihm wissen wollte, dazu brachte, sich ihm hinzugeben. Doch immer wieder geriet, wie er schrieb, »Wasser in seinen Wein«. Das Geld wur­ de knapp, die Frauen wechselten, der Unmut wuchs: »Was bin ich nur für ein Barbar?«, fragte er nicht ohne Koketterie. Und: »Bin ich ver­ nünftiger geworden oder nicht? Das ist eine große Frage.«9 Mit einer Mischung aus Zynismus und Melancholie nahm Anacharsis Brissot hin, dass in sozialen und privaten Beziehungen Missverständnisse aufeinander folgten, Erwartungen einander verfehlten, Verständnis Mangelware war. Damit war der junge Brissot immerhin vernünfti­ ger als Mark Zuckerberg, der 2017 im Ernst behauptete, Facebook sei in der Lage, eine »globale Gemeinschaft« zu schaffen und für allseiti­ ges Verständnis zu sorgen.10 ----------------------------------- Die technisch-spiritistischen Phantasien Brissots und Ardennes und die technisch-soziale Utopie Zuckerbergs haben viel gemeinsam. Sie stehen für den gleichen Albtraum totaler Verständigung. Der Ausweg, mit dem diesem Albtraum zu entrinnen ist, führt zurück zur rauen, brüchigen Stimme — und zu der mit ihr verbundenen Nostalgie und Erotik. Keiner hat den Genuss, Gebrauch und Missbrauch der Stimme klüger und sensibler erkundet als Wolf­ gang Hagen.11

142

1>

3

Ad festschr. W/Nathalie JSO MAEDER. FIG.ltc / April 2019 (a,b) — »Schiebung/loch-stimmgeräusch« (für Wolfgang)

144

Jso Maeder

145

EUROSCRIPT 3.0 UND WHAGEN.DE

»Jeder Tastendruck, den Sie bei der Arbeit mit Euroscript tun, wird vermittels einer inter­ nen Programmfunktion interpretiert.«1 Ma­ schinenschreiben ist Programmieren, so kann man aus Hermann Rothermunds und Wolf­ gang Hagens Einführung in das Textverarbei­ tungsprogramm Euroscript 3.0 von 1990 ler­ nen. Und: »Rechnen im Text ist möglich.«2 Euroscript, in den USA unter dem Namen XyWrite vermarktet, passt auf eine 5,25-Zoll-Diskette. Es wird bei Wikipedia als nunmehr »his­ torisches Programm« geführt, nachdem 1993 das letzte Update angeboten wurde. --------------------------- Den Sprung in Windows3.1 und ein WYSIWYGInterface hat die Software nach einer desaströsen Zusammenarbeit mit IBM nicht geschafft, obwohl sie noch zur Zeit von Rothermunds und Hagens Buch als Industriestandard galt und neben zahlreichen professionellen Autoren — darunter auch die der mit Euroscript 3.0 geschriebenen Einführung — von nahezu allen überregionalen Zei­ tungen in den USA verwendet wurde. Doch der Konkurrenz durch WordPerfect und Word kann die kleine Firma kaum etwas entgegen­ setzen, obwohl ihre in Assemblercode geschriebene Software schnel­ ler und flexibler ist als die großen Programme. Insbesondere heben Rothermund und Hagen die zahlreichen Anpassungsmöglichkeiten und Routinen hervor, die das Schreiben durch das Schreiben erleich­ tern: »»Bedingte Makrosdoppelt< denken; einmal daran, wie er es von Hand machen würde, und gleichzeitig, wie das alles denn zuvor aufge­ schrieben werden soll.«5 Diese Doppelung der Schrift in Botschaft und Befehl entspricht einer einzelnen Kulturtechnik: dem (maschinenge­ bundenen) Schreiben. Euroscript ermöglicht es jedoch, Routinen für den Umgang mit Eingaben zu programmieren, also selbst zu schrei­ ben. All die Makros, die Rothermund und Hagen beschreiben, dienen zur Minimierung des Tippaufwands, müssen aber selbst getippt wer­ den. Dass mit dem Übergang in eine andere Benutzeroberfläche die Befehle an einen anderen Ort wandern, unsichtbar werden und nie­ mand mehr Programmieren können muss, um zu schreiben, ist in Eu­ roscript bereits angelegt, obwohl es diese Fähigkeit noch hervorbringt: »Wer die Anwender-Programmierung dieses Textprogramms Zug um Zug sich zu eigen macht, hat auf diese Weise einen ersten Schritt in Richtung auf das Erlernen von Programmieraufgaben getan und da­ mit ein erstes didaktisches Rüstzeug für das Erlernen von ProgrammHochsprachen wie Pascal oder C erworben.«6 Doch das Buch kommt zu spät, um die Kommandozeile vor der graphischen Benutzerober­ fläche zu retten, hinter der Schrift prozessiert wird, ohne getippt oder gelesen zu werden: »Sinnfälliger ist es allerdings, in die unformatier­ te Textdarstellung zu schalten, in der die Befehle >im Klartext< notiert sind, und dort Veränderungen vorzunehmen.«7 ----------------------------------- Eine vergleichbare Widerständigkeit des Schriftlichen findet noch heute, wer www.whagen.de besucht. Der äl­ teste Eintrag im Archiv der Internet Archive Wayback Machine stammt

148

vom 25. Mai 2002, also gut zehn Jahre nach dem Ende von XyWrite bzw. Euroscript. Abgesehen von einer beeindruckenden Menge neu­ er Einträge in der Bibliographie Wolfgang Hagens hat sich seitdem nichts geändert: 17 Jahre und immer noch nur ein Bild, ein Portrait des Autors, das etwa 2010 aktualisiert wurde. Der Blick auf den Quell­ text, also auf das Geschriebene hinter der Schrift, zeigt, dass die Ar­ chitektur der Seite sich seitdem nicht verändert hat. Lediglich einen IP-Locator enthält die Homepage heute, um dem Besucher die eige­ nen Daten vor Augen zu führen, die im Verlauf der Übertragung er­ hoben werden. Vielleicht auch dies eine Einsicht aus der Arbeit mit 8. Euroscript 3.0: »Jedes Computer-Programm, das gerade in Aktion ist, Ebd.,S. Z02. weiß etwas über den jeweiligen Zustand des Systems.« ----------------------------------- Die Bibliographie wurde hingegen — das sei nebenbei bemerkt — nicht nur aktualisiert, sondern auch in die Vergangenheit erweitert — der erste Eintrag, 52 Jahre alt, lautet heu­ te Hausmusik im Atomzeitalter, Schülerzeitung Pegasus Kleve, hinzugekom­ men ist auch eine lesenswerte Abiturrede von 1968 und die Aufzeich­ nung eines WDR-Radiobeitrags über Alfred Sohn-Rethel von 1972. ----------------------------------- Von den verlinkten Freunden — u.a. Lacan Online, Ereignis (eine Heidegger-Website), Heinz von Foester, Werner Hamacher, Rodolphe Gasche, Sam Weber (The GPS ofThought), Friedrich Kittier, Georg Christoph Tholen — sind nur noch wenige on­ line und — abgesehen von der Heidegger-Seite, die das Seyn trägt — niemand mehr im damaligen Layout. Die Liste steht auch heute noch online, als Zeugnis vergehender Zeit und toter Links. Anders Wolf­ gang Hagen: Noch heute hat seine Homepage die gleichen Formen und Formate wie 2002, reiner Text, HTML, eine Bibliographie, viele Texte und Präsentationen in Vortragsfassungen zum Download, eine Biographie in gerahmter Tabellenform. Doch gerade aufgrund die­ ser Konzentration auf die Schrift (Times New Roman, 12 Punkt) wirkt die Seite, im Gegensatz zu den verlinkten Seiten, nach 17 Jahren nicht aus der Zeit gefallen. Sie hat sich besser gehalten als alle Versuche, die neuesten technischen Möglichkeiten und Datenübertragungsra­ ten auszuschöpfen, weil sie sich auf das konzentriert, was allen ande­ ren Prozessen des Digitalen dort zugrunde liegt, wo sie mit Benutzern Zusammentreffen: Schrift.

149

----------------------------------- Und darin ist Wolfgang Hagens Home­ page auch medientheoretisch konsequent: Sie manifestiert, so könn­ te man sagen, eben jenes schreibende Programmieren und program­ mierende Schreiben, das 1990 an ein Ende kommt. Oder, um sich der Sympathie der Textverarbeitungseinführung anzuschließen: »Uns ist der Individualist sympathisch, für den ein Programm so zu funk9. tionieren und auszusehen hat, wie er sich das vorstellt, und der sich Ebd., S. 20. nicht mit einer vorgefertigten Lösung abspeisen lässt.«

150

Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht

von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte.

Versuche sie dann

jemand zu halten,

versuche jemand, ein Gras und sich

an ihm zu halten, das erst in der Mitte

des Stengels zu wachsen anfängt

IN DER MITTE DES STENGELS Hans Ulrich Gegenwarten mit Kafka denken Es ist eine Zeit her, seit mir Gumbrecht Nathalie, mit der Wolfgang Hagen sein Leben teilt, zwei Sätze schickte, die der sie­ benundzwanzigjährige Franz Kafka am I. Januar 1910, ei­ nem Sonntag, ins Tagebuch schrieb. Wolfgang liebe die­ se Worte, sagte Nathalie, und lese sie immer wieder vor, ohne dass ihr klar sei, was ge­ nau ihn so bewegt: ------------------------------------------------- »Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst ir­ gendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, ver­ suche jemand, ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Franz Kafka: Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.«1 Auch ich war beeindruckt. Tagebücher 1910-1923, Frankfurt am Main, Das Bild von der Mitte des Stengels, an der man sich nicht festhalten 1986, kann, kommt mir wieder und wieder in den Sinn, aber wie Nathalie S. 11. war auch mir nicht gleich deutlich, was an ihm so faszinierend wirkt.

* --------------------------------------------------------------------------------------Erstaunlicherweise ging es Kafka ähnlich. Er notierte zwar, dass die Dinge, die ihm »erst irgendwo gegen ihre Mitte« einfielen, zu einer besonderen Stimmung gehörten, aber identifizieren konnte er diese Stimmung nicht: »Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch 153

nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit, nicht Schwäche, nicht Ermü­ dung, nicht anderes von Interesse, also was ist es denn?« Immerhin hatte er eine Assoziation, die den Blick öffnete auf das, was ihm ge­ schah: »Dass ich das nicht weiß, hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen. Und diese glaube ich zu verstehen, ohne ihren Grund zu kennen.« Was aber hatten »fünf Monate seines Le­ bens, in denen er nichts schreiben konnte, womit er zufrieden gewe­ sen wäre,« mit der Mitte des Stengels zu tun und wie half der Stengel ihm, seine Schreibblockade »zu verstehen?« Die Antwort steckt in einem weiteren, komplexen Bild, das eine nicht gleich evidente Ähn­ lichkeit zum Grashalm hat und mit dem sich Kafka deutlich mach­ te, was es denn wäre, sich an einen Stengel zu halten, der erst in der Mitte zu wachsen beginnt: »Das können wohl einzelne, z.B. japani­ sche Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Lie­ genden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hin­ ausgeht.« Schreiben, wird hier unterstellt, ist nur möglich, wenn ein Anfang und ein Ende, welche die Mitte der Dinge umgeben und dem Boden unter wie der Wand hinter der Leiter entsprechen, dem Autor eine Festigkeit schenken. Diese Festigkeit, erinnert sich Kafka, hat­ te er früher, »z. B. letzte Weihnachten« gehabt: »wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig an dem Boden stand und an der Wand.«

* --------------------------------------------------------------------------------------Nur ist es denn wirklich so ungewöhnlich, dass einem die Dinge »erst irgendwo gegen ihre Mitte« einfallen? Eher entspricht dies doch dem Normalfall, in dem wir Wissen oder Vorstellungen fortschreitend entfalten, um sie dann zu artikulieren. Das Interesse des Biographen an einer Figur der Vergangenheit etwa wird kaum je bei ihrer Geburt oder ihrem Tod (als dem Boden unter und der Wand hinter der Lei­ ter) einsetzen, sondern bei einem »entscheidenden« Ereignis, einer Handlung, einem Unglück in der Mitte des Lebens, die man dann um die Zeit seit der Geburt und bis zum Tod ergänzt. Ähnlich bei der Ge­ schichte eines Landes, wo die Vorzeit »grau« erscheinen und das Ende in eine ehrgeizige Ewigkeit aufgeschoben sein mag. Dies hat bloß 154

oberflächlich mit der Form von Erzählungen und viel grundsätzlicher mit der Sequentialität von Texten zu tun, die wie alle sprachlichen Formen »Zeitobjekte im eigentlichen Sinn« sind (um Edmund Husserl zu zitieren). Ähnlich beim Komponieren von Musik, das, stelle ich mir vor, mit der Intuition eines Motivs anfängt und sich dann über dessen Entwicklung fortsetzt, wobei hier, anders als bei einem Text, wohl schon das Ausgangselement aus einer elementaren Sequenz be­ stehen muss. Allein Gemälde bleiben und entfalten sich in ihrer pri­ mären Gegenwart. Das »action painting« eines Jackson Pollock führt die ersten Spritzer nicht zu einem Anfang oder Ende weiter, sondern steigert als Prozess deren Eindruck zu oft überwältigender Intensität. Eine besondere Herausforderung liegt dabei in der Entscheidung über den Abschluss oder die Fortsetzung der Bewegung, doch diese Ent­ scheidung schreibt sich der Form des Bildes nicht ein. * --------------------------------------------------------------------------------------Es kann also nicht wirklich jenes Einsetzen der »Einfälle irgendwo ge­ gen ihre Mitte« gewesen sein, das Kafkas »Unfähigkeit« zum Schrei­ ben auslöste. Etwas muss sich dem sonst ganz selbstverständlichen Fortschreiten der Vorstellungen von den ersten Bildern oder Begrif­ fen an in den Weg gestellt oder ihm den Boden entzogen haben. Da­ für spricht der Vergleich mit der Leiter, die Festigkeit geben soll: der Fortgang seiner Vorstellungen und seines Schreibens hat Kafka wohl nicht hinreichend überzeugt — und vielleicht sogar mit Panik erfüllt. Für ihn jedenfalls blieben die »Mitte des Stengels« und die »Leiter auf den Sohlen japanischer Gaukler« Bilder für eine Sorge um das Schrei­ ben in einer ungewissen, prekären Stimmung. Ganz anders muss es Wolfgang Hagen gehen, der Kafkas Worte so liebt — und ganz anders geht es mir. Jene Mitte des Stengels verbinde ich mit einer Form der Gegenwart, die sich deutlich von jener spezifischen Gegenwart un­ terscheidet, wie sie seit der Emergenz des sogenannten »historischen Weltbilds« während der Jahrzehnte um 1800 dominierte. Charles Baudelaire hat sie im Peintredela Vie Moderne von 1863 als »nicht wahr­ nehmbar kurzen Moment des Übergangs« aufgefasst. Diese Gegen­ wart, mit der als Matrix des Alltags Wolfgang und ich aufgewachsen sind, hat keine Substanz, man kann sie nicht bewohnen. 155

* --------------------------------------------------------------------------------------Die Gegenwart von der Mitte des Stengels hingegen, die Kafka das Schreiben so schwer machte, ist eine Gegenwart, in der man sich einrichten kann, um mit den Dingen der Welt zu leben. Da Anfang und Ende unbestimmt bleiben, wird sie weder von den Strömen ei­ ner Dynamik durchzogen, welche in die eine oder andere Richtung drängt, noch von der Gewissheit beherrscht, einem Schlusspunkt entgegenzugehen. Als Gegenwart des offenen Verweilens darf sie eine glückliche Gegenwart sein — und dies unter drei verschiede­ nen Modalitäten. Zuerst und offensichtlich entspricht sie der Ewig­ keit als der einen Gegenwart, deren Offenheit sich unendlich in die Vergangenheit und die Zukunft erstreckt. Doch noch ist Ewigkeit den Menschen nicht gegeben — »noch« weil die Möglichkeit, über das Ende des physischen Lebens zu verfügen, ja mittlerweile eine Herausforderung der medizinischen Forschung geworden ist. We­ niger abstrakt und konkreter begehrenswert scheint jene Form der Gegenwart, deren Beginn wir datieren, aber kaum je verstehen kön­ nen und auf deren Fortsetzung wir hoffen. Die englische Sprache hat für sie das Wort »Bliss« zur Verfügung und spielt immer wieder auf die prekäre, aber auch Wünsche weckende Ungewissheit ihrer Form an. Vom »momentary bliss« ist die Rede, um festzuhalten, dass es keine Garantie oder Strategie ihrer Ausdehnung geben kann; oder vom »marital bliss« als Gestalt der Sehnsucht, das Glück eines Paars möge im Leben der Partner nie mehr vergehen. Eine andere Variante der glücklichen Gegenwart ohne gewissen Anfang oder Ende ist das Schweben, über das Heinrich von Kleist nicht nur in dem wunder­ baren Aufsatz über das »Marionettentheater« nachgedacht hat. Von nichts träume ich mehr und naiver als von dem Gefühl, wie ein Vogel die Schwerkraft aufzuheben zwischen Erde und Himmel — und für einen langen Moment mit vom Gegenwind gefüllten Flügeln auch die horizontale Bewegung anhalten zu lassen. So müssen die Stunden gewesen sein, in denen Kleist und Henriette Vogel vor dem gemein­ samen Freitod, auf den sie sich freuten, in verschiedenen Zimmern einer Pension viele Seiten mit den zärtlichen Worten ihrer Liebesli­ taneien füllten.

156

* --------------------------------------------------------------------------------------Vielleicht ist jeder Glückszustand ein Schweben, so dass das Schwe­ ben am Ende auch »Bliss« einschließt. Doch gibt es einen Weg, uns in das Schweben von »Bliss« zu versetzen, da wir weder Vögel zu wer­ den noch Glück durch Leistung zu erzwingen vermögen? Vielleicht bietet sich »Intensität,« so wie sie Deleuze und Guattari in Mille Plateaux definiert haben, als eine Schiene des Eingangs an. Sie schla­ gen vor, Intensität als eine Dynamik, einen Strom gleichsam, aufzu­ fassen, der — außerhalb menschlichen Verhaltens — von absoluter Offenheit, Kontingenz und Entropie hin zum Endpunkt totaler und mithin tödlicher Bestimmtheit im Sinn eines »schwarzen Lochs« strebt. Zwischen maximaler Offenheit (als Vergangenheit) und ma­ ximaler Bestimmtheit (als Zukunft) müsste dann eine Gegenwart be­ lebter Formen liegen, das existentielle Land von »Bliss,« in und über dem wir schweben können. Es käme darauf an, gelassen genug und bereit für diese Dynamik zu sein, sich von ihr tragen zu lassen, aber zugleich auch das Risiko des vernichtenden Endpunkts durch einen Absprung im rechten Moment zu vermeiden, statt dem Schweben im Glück wie einer Sucht zu verfallen.

* --------------------------------------------------------------------------------------Beim Nachdenken über die Gegenwart des Glücks »in der Mitte des Stengels« suchte mich aber auch ein eigentümlicher Albtraum heim. Der Traum von einer Schwangerschaft als Mitte, deren Ursprung in Sex (oder unbefleckter Empfängnis) und deren Ende in Geburt (oder Aufer­ stehung) mir entfallen waren, eine Schwangerschaft ohne jede Verän­ derung also, nichts als die intime Vertrautheit der Schwere. Selbst die Vertrautheit mit einem Organ im Krebszustand, von der eine Freun­ din vor vielen Jahren als einer Form der Liebe mit soviel Genauigkeit sprach, dass ich ihre Worte nie mehr vergessen kann, müsste weniger bedrückend sein als dieser Stillstand von Schwernis ohne Ende. * --------------------------------------------------------------------------------------»Beruflich« sozusagen bin ich überzeugt, dass wir unseren Alltag längst (genauer: wenigstens seit dem späten zwanzigsten Jahrhun­ dert) nicht mehr in der Zeit des »historischen Weltbilds« verbringen, 157

so dass uns auch dessen »nicht wahrnehmbare kurze Gegenwart« entfallen ist. Die unendlichen Diskussionen und Varianten zum Be­ griff des »Anthropozäns« deuten an, dass die neue Gegenwart an­ scheinend ohne Ende in Vergangenheit wie Zukunft ausläuft und sich alles einverleibt, wirklich alles, über den Ursprung und das Ende des Menschen hinaus. In der Mitte dieser besonderen breiten Gegenwart können wir uns aber, so als sei sie Kafkas Stengel, der in der Mitte zu wachsen anfängt, nicht festhalten. Deshalb werden wir von Lee­ re heimgesucht oder von jener »richtungslos intransitiven Mobilma­ chung« (wie sie Jean-Fran^ois Lyotard beinahe visionär heraufbe­ schwor), die uns täglich so auslaugt, weil sie nirgends mehr hinführt. Nicht einmal in den Tod. Und so träumen wir von der anderen Gegen­ wart des Schwebens mit vollen Flügeln und lesen denen, die wir lie­ ben, Worte von verstörender Wärme vor.

158

für Wolfgang, Meister der EXCEL-Prüfungstabelle

DIE LERNALGORITHMIERER Digitalisierung in der Lehre, gestern 1 ----------------------------------------Bereits um 1910 wurden im ame­ rikanischen Rochester erstmals Filme im Unterricht verwen­ det. Und kein geringerer als Tho­ mas Edison proklamierte damals (aus mehr als offensichtlichen Gründen), dass Bücher dem­ nächst überflüssig würden, weil bald jeder Zweig des menschli­ chen Wissens durch Bewegtbil­ der lehrbar sei. --------------------------------------------- 1923 veröffentlichte der renom­ mierte Experimentalpsychologe Edward Thorndike, als sei vor­ her nichts gewesen, seine Schrift Education: A First Book, in der er ei­ nen Apparat vorschlägt, der immer erst dann ein Häppchen Lernstoff nachliefert, wenn das vorangegangene verdaut und abgeprüft ist: »If, by a miracle of mechanical ingenuity, a book could be so arranged that only to him who had done what was directed on page one would page two become visible, and so on, much that now requires personal instruction could be managed by print.«1 --------------------------------------------- Davon beeindruckt begann ein junger Psychologe namens Sidney L. Pressey eine erste Lehrmaschi­ ne zu konstruieren, mit der er 1926 an die Fachöffentlichkeit trat. An­ ders als in der Intelligenzforschung, die Pressey (ebenso wie Thorndi­ ke) unter Kriegsbedingungen beschäftigt hatte, sind Lerneffekte nun I6l

Claus Pias

Edward L. Thorndike: Education: A First Book [1912], New York 1923, S. 165.

nicht mehr kontraproduktiv, weil sie das erwünschte Messergebnis verzerren, sondern werden plötzlich zur Sache selbst. Presseys Ap­ parat zeigte Multiple-Choice-Fragen an, deren richtige oder falsche Antworten er zugleich protokollierte. Der besondere Clou war ein unscheinbarer Hebel, mit dem die Betriebsmodi gewechselt werden konnten: In der einen Einstellung werden die richtigen Antworten gezählt, aber dem Lernenden verborgen, in der anderen jedoch wer­ den sie ihm anschließend vorgehalten, damit er die Prüfungen wie­ derholen und sich selbst verbessern kann. Mit einem simplen Schal­ terwechsel vollzieht sich so das Upgrade von einem panoptischen zu einem kontrollgesellschaftlichen Apparat, der dem Lernenden seine Fehler zeigt, ihn zur Besserung in Eigeninitiative motiviert und end­ los viel Geduld aufbringt, die unbeantworteten Fragen immer wieder zu präsentieren. ----------------------------------- Schon Pressey war klar, dass seine Vor­ schläge »sentimentale Gemüter zum Protest gegen die Erziehung durch die Maschinen aufrufen« würden. Allerdings sind die erziel­ baren Effektivitätsgewinne verlockend. Einerseits habe Erziehung (so Pressey) den geringsten Wirkungsgrad aller denkbaren Unterneh­ mungen, weshalb der Lehrbetrieb arbeitswissenschaftlich optimiert werden müsse. Im Klartext: Wie bekommt man mit möglichst wenig Ressourcen möglichst viel Stoff möglichst schnell in die Köpfe? An­ dererseits zeichnet sich gerade dadurch eine Befreiungsfigur ab, und zwar vor dem Grund, dass diejenigen Teile maschinisiert werden, die maschinisierbar sind, damit man sich genau dadurch umso besser auf das sogenannte »Eigentliche« werde konzentrieren können — also auf wahre Bildung und Erziehung, die eine erhöhte Freisetzung von Kreativität als Gegenleistung zur Automatisierung in Aussicht stellt.

2---------------------------------------------------------------------------------------Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichte Helmar Frank sei­ ne zweibändigen Kybernetischen Grundlagen der Pädagogik (erst 1962, dann in erweiterter Fassung 1969) und richtete eine Tagungsreihe unter dem Titel Lehrmaschinen in kybernetischer und pädagogischer Sicht aus.2 Schon weil die Argumente der Effektivitätssteigerung und der dadurch ermöglichten Befreiung zum »Eigentlichen« sich bis heute so hartnäckig halten, lohnt es sich, wieder in diesem Werk zu blättern. ----------------------------------- Bereits auf den ersten Seiten zeichnet sich eine Gründlichkeit und Vollständigkeit ab, wie sie außerhalb deutschsprachiger Bildungsreformen selten zu finden sein dürfte. Sie hebt damit an, erst einmal eine eigene Terminologie einzuführen: Statt von »Computer« möge man von »Rechner« reden, weil engli­ sche Ausdrücke nur ein Kennzeichen von »Snobappeal« seien. Wofür der Verfasser sogleich eine Formel für den »Snobismuskoeffizienten« aufstellt, nämlich S = (F + 100 M)/W, wobei W die Textlänge in Wör­ tern, F die Auftrittsanzahl von Fremdwörtern und M die Auftrittsan­ zahl von Fremdwörtern aus der zur Zeit herrschenden Modesprache (Englisch) bezeichnet (I, 14). Und der angemessene Begriff für »Sno­ bismuskoeffizient« ist natürlich »Angeberkennzahl«.3 ----------------------------------- Nachdem das schon mal geklärt ist, kann es zur Sache gehen. Der erste Imperativ der kybernetischen Päda­ gogik lautet: »Gebot: Der Lehrer soll anstreben, sich durch Einsatz von Lehrautomaten möglichst weitgehend entbehrlich zu machen« (I, 6) — was insbesondere so anachronistische Formen wie Vorlesun­ gen betrifft. Und es folgen die zwei bereits bekannten, zusammen­ hängenden Argumente. Einerseits sei Technik, so die an Herman Schmidt (den Regelungstechniker des »Dritten Reiches«) angelehnte These, eine Objektivation menschlicher Tätigkeit, die entlastend wir­ ke und es »dem Menschen« erlaube, zu seinem »Eigentlichen« vor­ zudringen. Andererseits liege in ihr das Versprechen enormer Pro­ duktivitätssteigerungen der sogenannten Wissensgesellschaft, die ähnlich exponentiell verlaufen würden wie die der vorangegangenen Industriegesellschaft (I, 2of.).

163

2. Im Folgenden zitiert nach Helmar Frank: Kybernetische Grundlagen derPädagogik, 2 Bände, Baden-Baden 1969.

3Besser wäre es natürlich, gleich eine eigene Schrift zu erfinden, mit der künftige »Lernalgorithmierer« besser arbeiten können als mit der historisch gewachsenen Ortho­ graphie, weil sie den Anforderungen der digitalen Medien besser gerecht würde (maschinelle Sprach­ erkennung und -Synthese, Tauglichkeit für statistische Textanalyse usw.). Eine solche »Technische Lautschrift des Deutschen« (TLD), die wohl nur Hermann Frank selbst wirklich beherrschte, blieb jedoch einzig einem 1963 erschiene­ nen Sammelband mit dem Titel CPRAAXJ UNT CRIFT IN TSAETALTJR DER KÜBÄRNEETIK Vorbehalten.

l*Are'pe'i'Afl»

>"W*lvr

p

—J—

3 --------------------------------------------------------------------------------------Interessanter wird es dort, wo und sobald Frank als Medienwissen­ schaftler avant la lettre spricht. Mit cartesianischem Eifer (und deutli­ chen Spitzen gegen Heideggers Technikphilosophie (I, 29)) zerlegt er das Feld des Pädagogischen. Unterrichten heißt dann: »Gegenstän­ de« in bestimmter »Absicht« und in bestimmten »Situationen« in den »Erkenntnis- und Erlebnishorizont« von Personen zu bringen, wozu man sich bestimmter »Verfahrensweisen« und eben »Medien« be­ dient (I, 44). ----------------------------------- Der »pädagogische Raum«, in dem dies stattfindet, hat wiederum sechs Dimensionen: Man muss den Lehr­ stoff L wählen, das Lehrziel Z definieren, die Psychostruktur des Ad­ ressaten P beschreiben, das Medium M präzisieren, die Methode L klären, und die Soziostruktur S berücksichtigen (1,47). Entscheidend sind Methode und Medium, wobei zur »Medientheorie« erstens die Psychologie der Lehrerpersönlichkeit, zweitens die Lehrmittelkunde und drittens die Lehrautomatentheorie gehören (I, 51). ----------------------------------- Das ist gewissermaßen der Freibrief für eine etwa 250-seitige Einführung in die Kybernetik im Allgemeinen und die mathematische Automatentheorie im Besonderen, die Frank als Medientheorie der Lehrautomaten begreift. Dazu gehören etwa Informationstheorie, Komprimierungsverfahren, Aussagenkalkül, Sys­ temtheorie, sowie Grundbegriffe der Hardwarearchitektur und der Programmierung in Binärcode — obwohl beiläufig darauf verwiesen wird, dass man theoretisch ja auch »bequemere Rechner« mit Compi­ lern (a.k.a. »Übersetzungsprogrammen«) benutzen könne (I, 336). ----------------------------------- Wer sich in den Formelgewittern des ers­ ten Bandes tapfer geschlagen hat, wird an dessen Ende zumindest mit einer Definition von »Medien« belohnt: »Das Medium M ist die ma­ thematische Struktur eines konkreten Lehrautomaten ohne Lehrpro­ gramm« (I, 341), was unter anderem heißt, dass es verschiedene Lehr­ algorithmen haben kann, dass aber für kein endliches Medium jeder beliebige Lehralgorithmus programmiert werden kann. ----------------------------------- Ein »Medium« beinhaltet, so präzisiert dann der zweite Band, die Möglichkeiten eines abstrakten (Lehr-)Automaten (d.h. die Mächtigkeit seiner Zustandsmenge) und zugleich

164

ein materielles Ding (d.h. einen kon­ kreten Lehrautomaten mit einer be­ stimmten »Medium-Stuktur« M (II, 28)). Eine solch abstrakt-kon­ krete Medium-Doublette ist bei­ spielsweise ein Diapositiv, das zu­ gleich Daten und Steuerungscodes auf dem gleichen standardisier­ ten, materiellen Träger enthält. Der medientheoretische Vereinheit­ lichungswille macht dabei auch vor älteren Medien nicht halt: Das Lehrbuch beispielsweise wäre ein offenes, dynamisches System (oder genauer gesagt: ein Moore-Automat mit der aufgeschlagenen Seite als augenblicklichem Zustand), die »Tonbildschau« oder »Lehrfilmvor­ führung« jedoch ein abgeschlossenes, dynamisches System (II, 339).

4 Digitale Medien (denn nur Digitalität wird hier beobachtet) verlangen notwendig nach einer Quantifizie­ rung — heute würde man wohl sa­ gen: Modularisierung — aller soge­ nannten »Inhalte«. Beispielsweise in ALZUDI, der »Algorithmischen Zuordnungs-Didaktik«, die auf ei­ nem Siemens 303p Rechner imple­ mentiert wurde. Das Medium ist hier ein »Lehrstoff-Darbietungsge­ rät« mit Sichtfeld und Papierstrei­ fen (II, 365), das einfach nur Sätze mit Lücken präsentiert, in die der

272

3.53

&( ■; L) ; —

Bild 48: Der Mooro-Automat At ist äquivalent zum Mealy-Automaten Ai. Zur Vereinfachung der Zeichnung sind z. B. alle zum Zustand (z3, L) von A2 führenden gleich (nämlich mit dem Ausgabebuchsta­ ben F) markierten Pfeile als Bündel gezeichnet.

(!) I« = Of^i (ii) (III) 3» = Df 3i U X 3U (IV a) 8/z», X,) = für z* e 3i (IV b) \((zk, xi), xi) = diMMa. xi), xi) für (z*, xt) e 31 X Ii (V a) Xjfz«, X/) = otX.fz*. x,) für z* e 31 (V b) X,( (zk, xt), Xi) = oi^ttzx.xi), xi) für (zk, x/)e 31 x £1 Jedem Zustand zk von Ai entspricht der gleichbenannte Zu­ stand aus 3i C 3- von und umgekehrt. Ferner entspricht jedem Zustand (z„ X/) e 3* x C 3» von At der Zustand °i(xk, Xj) e 31 von Ai. Ist der Mealy-Automat Ai endlich, dann hat der so konstru­ ierte Moore-Automat At

165

Lernende (per multiple choice) etwas einzusetzen hat (das »Lehrquant«). Der Sinn der Erstellung solchen Lehrmaterials bemißt sich an »Ren­ tabilitätsintervallen« (I, 373), was nur heißt: Lohnt sich die Vorberei­ tung von mehrfach und global einsetzbaren Lehrmodulen für ALZUDI zuzüglich Anschaffung der Hardware und ihrer Wartung im Vergleich zu den Stundenlöhnen für entsprechend viele Dozentin­ nen oder Dozenten? Zu diesem Kalkül gehört auch die Aussicht auf »halbautomatische Lehralgorithmierung«, also eigene Programmier­ umgebungen und content management Systeme für bestimmte Typen von Lehrmodulen (I, 375). Geboten wäre hier — so Helmar Frank — eine selbstredend zentrale »pädagogische Organisatorik«, die zu verhin­ dern hätte, dass irgend jemand auf die Idee kommt, zwei verschiede­ ne Programme für den gleichen Lehrstoff zu entwickeln (I, 386f.). ----------------------------------- Der Name dafür wieder ist (und man mag es kaum glauben): BAKKALAUREUS oder auch »Baukastensystem aus kombinierbaren kybernetischen Automaten leistet autonom und rechnergestützt Examinier- und Schulungsarbeit« (II, 43). Das Vor­ bild hierfür bieten Küchenmaschinen wie die (von Wolfgang Hagen so geschätzte) KitchenAid, bei der ein Repertoire von Zubehörteilen je nach Bedarf angesteckt werden kann. Dabei soll BAKKALAUREUS alle Aufgaben des Lehrbetriebs übernehmen: Es vereint Datenerfas­ sung, Inhaltsverwaltung, Lehren und Prüfen sowie Lehrbetriebsor­ ganisation, ist skalierbar, dezentral und standardisiert (II, 44). Und wie eine gute Küchenmaschine, kann man diesen Motor durch immer neues Zubehör erweitern, das ohne größere technische Sachkenntnis ansteckbar ist.

38

166

23

----------------------------------- In diesem Sinne sollten etwa Module wie »Bildwerfer« (II, 53) oder »Modemanschluß« (II, 58) unter Umgehung des Lötkolbens auch von Laien in BAKKALAUREUS eingepflegt wer­ den können. Verbindlich sind nur einige wenige psychologische De­ signrichtlinien (II, 3) wie etwa Segmentierung (nur eine Reaktion pro Lernquant), Zeitadaptivität (nach jeder Reaktion sofort das nächs­ te Lernquant), Feedback in Echtzeit, sowie möglichst keine Schritte (20-40 Sekunden-Zeitfenster pro Lernquant, wobei 10 Bit Informa­ tion pro Lehrschritt nicht überschritten werden sollen). Ansonsten kann so ziemlich alles an gängigen Medien im Rahmen einer bricolage »digitalisiert« werden, was durch Rechner steuerbar ist: Beispiels­ weise 16 Diaprojektoren mit bis zu je 64 Dias, die — einzeln adres­ sierbar — auf die Tastatureingaben der Schüler/innen oder Student/ innen reagieren können (I, 342). Oder auch farbiger Super8-Film, mit dem im Rahmen des Berliner DIDACT-Projekts Versuche vorgenom­ men wurden. Dabei enthalten die einzelnen, vorwärts und rückwärts direkt adressierbaren Filmbilder (immerhin etwa 10.000 bei 45 Meter Film) am Rand Steuerungscodes, die digital ausgelesen werden kön­ nen. Und natürlich können Tonbandgeräte, wie sie in den damals be­ liebten »Sprachlaboren« zur Genüge herumstanden, benutzt werden, um ganze »Tonbildanlagen« (also snobistisch »Multimedia-Systeme«) wie den Prototypen ROBBIMAT von 1965 über Magnetbandspuren zu steuern (I, 35). 5---------------------------------------------------------------------------------------Der nostalgische Charme von dead media und futuristischen deut­ schen Begriffen sollte jedoch nicht vergessen machen, dass moderns­ te Digitaltechnik das Zentrum solcher Vorschläge bilden sollte, deren Funktionsweise kybernetisch begriffen wird. Dafür sind keine aufse­ henerregenden Pioniertaten in Sachen Computergrafik nötig, denen nachzuspüren die Mediengeschichtsschreibung in der Regel lieber unternimmt. Die pädagogischen Versuchsanlagen digitalisierter Leh­ re an der einstigen PH Berlin mögen zwar keine Computeranimatio­ nen zeigen können, aber ihre Rechner kontrollieren doch sehr wohl das Abspielen von Folien und Filmsequenzen und entscheiden per Software individuell, wer wann was und warum zu sehen bekommt.

167

----------------------------------- In Helmar Franks pädagogischem Sys­ tem bildet dies den Bereich der »Psychostruktur«. Lehrerfolg nämlich kann nicht allein über verzweigte Wege (also eine Hypertextstruktur) garantiert werden, sondern man muss den »Lehrgang individuell an­ passen« an jeweils erst »zu erfassende Psychostrukturmerkmale« (II, 50). In diesem Sinne kann Effektivität nur durch forcierte Individu­ alisierung garantiert werden, durch Erfassungs- (und damit Macht-) Strategien, die während der Laufzeit eine »automatische »Dokumen­ tation der GehirneStundenpläne< für ein bis zwei Dutzend Klassen langfristig aufzustellen sind, sondern einige hundert bis tausend Adressaten in ständig neuer Kombination auf die vorhandenen Adressatenplätze so verteilt werden müssen, wie es ihrem Lernfortschritt einerseits und ihrem Lehrplan andererseits entspricht (II, 59).

168

----------------------------------- Um dies zu implementieren braucht es experimentalpsychologische Grundlagenforschung — etwa zum Ge­ dächtnis, zur Bestimmung von Aufnahmekapazitäten, zu subjekti­ ven Zeitquanten, zu Gegenwartsdauer, Apperzeptionsdauer und -geschwindigkeit, zu Akkomodation oder Kanalkapazitäten der Sinne in bit/sec und so weiter —, die als Grundlage für individuelle Bemessun­ gen und profiling dienen. 6---------------------------------------------------------------------------------------So wie Frederick W. Taylor oder das Ehepaar Frank und Lilian Gilbreth einst Tätigkeiten wie das Mauern energetisch optimierten, geht es nun um die Optimierung kognitiver Prozesse des Lernens durch maschinelle Objektivierung. Denn Professoren und Lehrer (so Helmar Frank) verschleudern Information und überfordern Aufnahme­ kapazitäten durch unnütze Sätze und lautes Denken, durch länge­ res Reden als die Gegenwartsdauer oder dadurch, dass sie ihren Stoff nicht ordentlich modularisieren. Vor allem aber können Sie nicht adaptiv-individualisierend vorgehen, sondern müssen sich nach einem Kursdurchschnitt richten (II, 178). Dass mit immer schon ins indivi­ duelle Profil eingekapseltem, kybernetisch-»prädiktivem« Lehren und Lernen auch das Solidaritätsprinzip aufgegeben wird, interes­ sierte schon damals niemanden. ----------------------------------- Und im Prinzip fällt damit bereits Mit­ te der 1960er aus dem Lehrplan heraus, was nicht ins neue Medium passen will — also insbesondere die historischen (Geistes-)Wissenschaften und damit eine Form von Wissen, die ohnehin nur belastet (II, 180). Dazu gehört auch die mittlerweile bis zum Überdruss ein­ geklagte »Medienkompetenz«, die bei Frank als neuer Alphabetismus auftritt: Menschen, die nicht in der einzigen Form schreiben, die einer zivilisierten Gesellschaft noch entspricht — nämlich blind an der Tastatur — können (d.h. sollen) ihr auch nicht mehr angehören (II, 218). Ebenso falle alles, was nicht in die (eigene) TLD-Normschrift übersetzt ist, aus dem Kanon der lehrbaren Texte heraus — was ja auch eine Chance zum Aufräumen anlässlich der Entscheidung sei, welche Teile der kulturellen Überlieferung man digitalisieren will (II, 221). Und zuletzt müsse man insgesamt auf das Ideal der Allgemein­

169

bildung verzichten lernen. Wer sich begabt in einem Fach zeigt, der oder die solle auch sofort darauf berufstauglich spezialisiert wer­ den — eine Entscheidung, die digitale Lehrmaschinen aus den von ihnen erstellten individuellen Lernprofilen ableiten und treffen kön­ nen, um dann solche Begabungen auch gleich in ihrer individuellen Blase zu fördern. Nur wer universelle Begabung zeigt, wird — man ahnt es schon — von den Maschinen dazu erzogen, Philosoph und Kybernetiker zugleich zu sein (II, 222). So wie Helmar Frank eben.

----------------------------------- Wie alle Automatisierungen, denen man in den I9öoern noch hoffnungsfroh entgegenträumte, sollte auch die Delegation des Lehr- und Prüfungsbetriebs an digitale Medien dazu beitragen, die Menschheit von der biblischen Strafe der Arbeit zu be­ freien. Obwohl es wohl nicht zu vermeiden sein würde, »daß wir wei­ terhin ein Drittel unserer Lebenszeit, also täglich durchschnittlich 8 Stunden, verschlafen« (II, 206), besteht doch Aussicht, dass die Arbeit sich gegen 2021 der Nulllinie nähern und alles zu Freizeit geworden sein wird, was auf wundersame Weise auch das Jahr von Wolfgang Hagens Emeritierung sein wird. Bleibt also nur die Frage, »wie die wachsende Freizeit ohne gesellschaftliche Gefahren ausgefüllt wer­ den könnte« (II, 207).

170

|

13 07

>

■___ j__

TO

-- ' I _1

r

u

LAVA

Claudia Unvergesslich: die erste Begegnung mit Wolfgang in Natha- von Grote lies Wohnung überm Cafe Schober, so verwinkelt und klein­ / teilig, dass man nicht wusste, ist sie groß oder klein oder nur Elmar verwinkelt? Platz bot sie für 2 Klaviere! Oh nein, nicht Kla­ Weingarten viere, sondern Turbo-hightech-Keyboards für die vierhän­ dig spielbare klassische Musikliteratur. Der Essplatz war ähnlich eng mit der Küche verbunden, irgendwo gab es im­ mer Holzbalken zum Übersteigen oder zum Bücken. Wolf­ gang schnibbelte ohne Unterlass Apfelschnitze für einen köstlichen Kompott — ohne Unterbrechung seiner lebhaften Rede über Medienlandschaft, Programmkulturen und die in ein XXL-Wohnmobil umgesetzte Erbschaft — eine kreative Lösung fürs ubiquitäre Wohnen. --------- Solch ein zwangloser und phantasievoller Umgang mit dem Leben hat uns begeistert und es war klar: für unser »abgefahrens­ tes« und »schrägstes« Da-Da Programm war Wolfgang der richti­ ge Mann — und klar doch: Nathalie die richtige Frau! Die Reaktion auf unsere Anfrage eindeutig begeistert und angesichts der Wohn­ situation mutig bis realistisch — auf sechs Gäste beschränkt! »DaDa hautnah« (der Zufall entscheidet, die Überraschung ist Prinzip) brauchte »Gastgeber«, die sich auf etwa zehn nach Zufall ausgewür­ felte, also ihnen unbekannte Personen einließen und diesen ein Pro­ gramm boten, von denen die »Gäste« keine Ahnung hatten. Das Pro­ gramm selbst (literarisch, musikalisch, performance) sollte je nach den Interessen der Gastgeber entwickelt werden. Angesichts der Musikleidenschaft von Wolfgang und Nathalie und Wolfgangs ent-

173

schlossener Neigung zu ungewöhnlichen und neuen Wegen, bot sich uns die große Chance, einen höchst originellen Künstler, Mischa Kä­ ser, Komponist und Performer, mit ihnen zusammenzubringen und ihn zu »Stimme« kommen zu lassen: Gesprochene Lava für einen Vokalpoeten\ Über die Köpfe der Leute hinweg wird gesungen, geschrien, geflüstert. Spucke kann ein Problem werden. Wolfgang war da we­ niger besorgt als Mischa Käser. Alle Möglichkeiten der Anordnung von Publikum und Künstler für einen »Sicherheitsabstand« wurden in der verwinkelten Wohnung durchgespielt. Mischa Käser erzählte uns, dass Wolfgang sich extrem ins Zeug gestürzt und Bildmaterial von ihm aufgehängt hatte: rhythmische Ideen, umgesetzt in Strich­ zeichnungen, die schließlich eine Art Graphik ergeben. ----------------------------------- Dann entstand dieser ganz klassisch ze­ lebrierte Dada-Abend: der Hausherr Wolfgang führte den Künstler ein. Mischa Käser trat aus dem Künstlerzimmer auf die Bühne und alles war wie bei DADA: unsinniger Sinn und sinniger Unsinn.

174

FLGSTCHNLDLSTGM

----------------------------------------------------------------------------------------------

Es ergießt sich gesprochene Lava, die aus einer Unmenge von Konso­ nanten und Vokalen besteht, die der Musiker und Performer aus sich heraus feuert. Der Klang ist selten ein gehauchtes Pianissimo, meist herausgeschleuderte Wort-Laut-Fetzen und wirres Buchstabenge­ misch, eben gesprochene Lava. Eben auch ein Naturereignis, der Mensch ein Vulkan. ----------------------------------- »LAVA (ist) wie ein romantischer Zyk­ lus — eine Mischung aus Achter- und Geisterbahn. Virtuos, verstö­ rend, rätselhaft, komisch, und unter Einbeziehung von Nonsenselaut­ sprache die ganz zu Musiksprache wird«, sagt Mischa Käser zu seiner Vokalkunst. Und für Sinnsucher fügt Mischa ein Quasi-Gedicht hinzu: Juuuuuuuuuuuuuuubelgesänge am taufrischen pooooooooooooooo (oh!) Wo verblühte rooooooooooooooooooosen tausend siiiiiiiege feiern (ach...) Bis toooosend schiffe sich über dir ausbreiten zum letzten gebeeeeeet (iiiiii) Uuuuuuuuuuuuuund ein mittlerer segen sich auf das leise lächeln im abendrot leeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeegt (schön!), gerade soooooooooo, dass die wellen dich im stuuuuuuuuuuuurm erobern (wow!!), und man versteht kein wort darob, (welch glüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüüück!), obschon die hinter wilden konsonanten versteckte spraaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaache ihre kreise dreeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeht — unentwegt, (schon näääääääääääääääääääääääääääääääääähern sich die ersten glitzerdunklen sterne....) aber wie ein echooooooooo, so leise wie möglich, naht am horizont schon die erschöpfung — e n d 1 i

175

----------------------------------- Wolfgang — ein Vulkan? Wir konnten, als wir Mischa Käser in das heimelige, jahrhundertealte Zürcher Am­ biente von Nathalie und Wolfgang schickten, nicht ahnen, welchen Volltreffer wir landen würden. Ein Lautkaskaden produzierender Musiker und Künstler begegnet einem um Ideenkaskaden nie verle­ genen Intellektuellen. Für Wolfgang ist kein Feld der Ideen zu weit. In der Musik ist er vertraut mit diversen Stilen und Genres, weiß die Jugend hinter sich, wenn er sie in neuen Rundfunkprogrammen ein­ fangen will, kennt die Welt der klassischen Musik, spielt selbst beein­ druckend Klavier, entdeckt mutig Entlegenes und coached die tapfe­ re Nathalie, wenn sie sich an ein Mozart-Konzert heranpirscht. Über die Medienpolitik weiß niemand mehr. Er hat sie auch am eigenen Leib erfahren. Beide, Nathalie und Wolfgang beherrschen selbst die entlegensten Verästelungen komplizierter IT-Technologie. Und jede Diskussion beherrscht und verändert Wolfgang mit unvorhersehba­ ren Ideenausbrüchen, ganz vulkanisch eben. Aber es gibt auch den Wolfgang, der, wie es in Mischa Käsers Gedicht so schön heißt, ge­ nießt, wenn zuweilen »mittlerer Segen sich auf das leise Lächeln im Abendrot legt« ganz oben auf dem Dach im wilderen Teil von Ber­ lin. Bis dann wieder die Wellen der Einfälle »dich im Sturm erobern«. Doch wann »naht die Erschöpfung«? Mischa Käser, in seinem La­ va-Gedicht, freut sich: »endlich«. Bei Wolfgang heißt es: »noch lan­ ge nicht«, noch lange soll der Ideenkaskadeur zur Freude von uns al­ len sprudeln.

176

HANNA FLOG WEG *G*

Seit Leibniz ist es üblich, dx/dy anzu­ schreiben als formale Bezeichnung der kleinsten Differenz delta. Heuris­ tisch betrachtet lässt sich die Differenz vernachlässigen, um zu einem prak­ tisch brauchbaren Ergebnis zu gelan­ gen. Genauso wie Leibniz’ Formeln allesamt ohne Gott auskommen könn­ ten, weil man ihn rauskürzen könnte, wenn man denn wollte. Leibniz wollte nicht. Das mussten dann andere tun. Aber das ist eine andere Geschichte. ------------------------------------- Seit Ferdinand de Saussure ist es üb­ lich, zwischen Signifikant und Signifikat zu unterscheiden, und es gehört zu den Lehrformeln, dass ihre Beziehung rein arbiträr ist. Be­ deutung sei rein differenziell begründet, so das moderne Credo. Al­ lerdings bleibt die »einigermaßen mysteriöse Tatsache, dass der LautGedanke Einteilungen mit sich bringt« (Saussure). Nicht umsonst hat der Erfinder der Semiologie sein Leben lang nach verborgenen, nicht­ arbiträren Zusammenhängen in der Sprache gesucht, die auf Gott hinweisen oder ein Wink von ihm (oder ihr) sind. Aber das ist eine andere Geschichte. ------------------------------------- So oder so geht es um kleinste Dif­ ferenzen, die Aufmerksamkeit zu erregen in der Lage sind, die also affizieren (»>geht echt abkann ich drauf einsteigennormal< empfunden, dass die Stereo-Anlage ei­ nes vorüberrasenden Automobils vollends dessen eigentliches Fahr­ geräusch noch überdröhnt.« Öffentliche Räume werden zunehmend sonifiziert. Noch vor wenigen Jahren genügten Ampeln, Verkehrszei­ chen oder Rand- und Spurmarkierungen, um den Straßenverkehr zu regeln; neuerdings klopfen die Ampeln für Blinde, Fahrstreifen krei­ schen, wenn sie überfahren werden, und viele Autos piepen den Ab­ stand zu anderen Objekten, was das Einparken und Manövrieren in engen Straßen erleichtern soll. ----------------------------------- Autos hupen, die Züge pfeifen, und die Straßenbahnen klingeln; abgesehen von den Sirenen der Polizei­ oder Rettungsautos werden in manchen Metropolen — etwa in Itali­ en oder in New York — Hupkonzerte als kollektive Existenznachwei­ se veranstaltet. Ich hupe, also bin ich. Auf manchen Flughäfen oder Bahnhöfen verschaffen sich die Fahrer elektrischer Gepäckwägen die nötige Aufmerksamkeit, indem sie Hupgeräusche mit ihren Stimmen imitieren: »beep, beep«. Ein Alarm wird immer seltener optisch si­ gnalisiert; effektiver als rote Absperrungen oder Leuchtraketen sind an- und abschwellende Sirenen oder andere laute, erschreckende Ge­ räusche. Ich warte schon auf den Tag, an dem Stopschilder nicht mehr durch weiße Schrift auf rotem Hintergrund das Anhalten befehlen, sondern durch laute Schreie. Dieser Wandel wird zwar durch sound­ technische Innovationen ermöglicht; doch beruht er auf schlichten, evolutionär tief verwurzelten Faktoren: Augen können geschlossen werden, Ohren dagegen nicht, und kein visueller Effekt ist so erschre­ ckend wie ein lauter Knall oder ein schriller Aufschrei. Horrorfilme ohne Ton oder Geisterbahnen ohne Soundeffekte wirken zuverläs­ sig albern. Die öffentlichen Räume der Gegenwart gleichen daher all­ mählich dem Signalregime einer Intensivstation: Lebensfunktionen werden in vielfältige akustische Signale übersetzt; und die berüchtig­ te Flatline reüssiert — etwa in zeitgenössischen elektronischen Kom­ positionen oder TV-Serien — als Sound, nicht als die visuelle Anzei-

195

5Joseph von Eichendorff: Wünschelrute [1835], in: Ders.: Werke in sechs Bänden, Band 1: Gedichte, Versepen, herausgegeben von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main

1987, S. 328.

6.

Heinz-Klaus Metzger: Zur möglichen Zukunft Weberns, in: Anton Webern, Band I.: Musik-Konzepte Sonderband, München 1983, S. 306-315, hier S. 307.

ge, auf die ihre Bezeichnung eigentlich verweist. Die Alarmsignale auf einer Intensivstation erinnern daran, dass öffentliche Räume vor­ rangig durch die Soundscapes der Warnungen vor Gefahren struktu­ riert werden.

7Vgl. Jacques Attali: Millennium. Gewinner und Verlierer in der kommenden Weltordnung, übersetzt von Bernd Rüther, Düsseldorf/Wien/ New York/Moskau 1992, S. 97-100.

8. Vgl. Marc Auge: Nieht-Orte, übersetzt von Michael Bischoff, München

2OI°-

3 Die neuere Geschichte der Mobiltelefone — dieser Paradebeispiele für Jacques Attalis »nomadische Objekte«7 — kann auch als Geschichte der Individualisierung von Klingeltönen und »Jingles« erzählt wer­ den. Diese Individualisierung der metakommunikativen Signale ver­ stärkt den Anschein der Versöhnung zwischen direkter und indirek­ ter Kommunikation. Keine Abwesenheit muss mehr ertragen werden. Inzwischen bieten Handyfirmen umfangreiche Listen von Klingeltö­ nen an, die bereits auf den Geräten installiert sind; doch diese Lis­ ten lassen sich leicht ergänzen, von Beethovens Schicksalsmotiv bis zu Bernard Herrmanns Twisted Nerve, der gepfiffenen Melodie aus Quentin Tarantinos Kill Bill. Manche Klingelzeichen können sogar be­ stimmten Anrufenden zugewiesen werden, so dass die Angerufenen sofort wissen, wer sie zu sprechen wünscht, die Mutter, der Ehemann, ein Kind oder die Hausärztin. Darum verwandeln sich Straßenbahn­ waggons, Wartezimmer oder Zugabteile häufig in Signalräume, die von den verschiedensten Sounds bespielt werden. Und den individu­ ellen Akteuren dieser akustischen Sphären gelingt es immer leichter, jene passageren Zonen, die Marc Auge einmal als »Nicht-Orte« beschrieben hat,8 in Orte zu übersetzen, die durch unsere persönliche Geschichte, unsere Beziehungen und Zugehörigkeitserfahrungen ge­ prägt sind. Anywhere wird in Somewhere konvertiert. Die Welt der Jingles und der digitalen Telefonie transformiert den Alltagsdschun­ gel in eine vertraute Umgebung, in der die Gleichzeitigkeit und kör­ perliche Präsenz der Kommunizierenden erfolgreich simuliert wer­ den kann. ----------------------------------- Es ist darum nicht verwunderlich, dass Agenturen für Marketing und Produktwerbung seit einer Reihe von Jahren »Soundlogos« entwickeln, die genauer und aufdringlicher als visuelle Markenzeichen operieren. Als bekanntes Beispiel kann das Soundlogo der Telekom gelten, das der Komponist Christopher

196

McHale als Folge von fünf Tönen — »dadadadida« — bereits 1999 ge­ staltet hat. Die Tonfolge wirkt wie eine Umkehrung des erwähnten Schicksalsmotivs: Sie besteht aus den Noten C-C-C-E-C, die in hoher Lage auf dem Klavier gespielt werden; als Intervall fungiert eine gro­ ße Terz. Zeitgleich mit dem ersten Ton wird auch das G mitgespielt, sodass sich implizit der C-Dur-Dreiklang ergibt, denn das Soundlogo ist kurz; es dauert nur knapp eine Sekunde. Soundlogos sollen im Ide­ alfall wie »Ohrwürmer« das Bewusstsein der Zuhörenden okkupie­ ren und einen hohen Wiedererkennungswert erzielen; das Lied, das in den Dingen schläft, soll also möglichst rasch in unserem Kopf er­ klingen, gleichsam als Tinnitus der Werbung und des Konsums. Der Begriff des »Tinnitus« leitet sich übrigens ab vom lateinischen Verb tinnlre, wörtlich: »klingeln«. ----------------------------------- Eine Welt der Jingles bezieht sich nicht nur auf Menschen, zumal manche Tiere noch viel genauer hören als wir selbst. So hat sich das Leibniz-Institut für die Biologie land­ wirtschaftlicher Nutztiere in Dummerstorf mit der Intelligenz von Schweinen beschäftigt und bald herausgefunden, dass diese klugen Tiere bei konventioneller Haltung unter Langeweile und Unterforde­ rung leiden. In Erweiterung der Pawlow’schen Konditionierung ha­ ben die Forscher daher ein System entwickelt, das jedem einzelnen Schwein — eingeübt durch trial and error — ein individuelles Ton­ signal zuordnet, das es als sein persönliches Jingle erkennt. Wenn der eigens konstruierte »Ton-Schalter-Futterautomat« eine bestimm­ te Tonfolge zu einer unvorhersehbaren Zeit spielt, kommt das adres­ sierte Schwein als einziges Tier zum Automaten und muss mit seinem Rüssel mehrmals auf einen Schalter drücken, um die maximale Fut­ termenge zu erhalten. Die Belohnung der Aufmerksamkeit und Lern­ fähigkeit von Schweinen, so gaben die Wissenschaftler 2005 bekannt, nehme einen positiven Einfluss auf das Immunsystem der Tiere und damit auf ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Jedem Schwein sein Jingle.

197

Halt mal kurz, sagt es, und reicht mir das leere Tablett. Ich greife zu. Verdammt, rufich sofort danach, ichbin aufdein Halt mal kurz hereingefallen. Der älteste Trick der Welt, Alter, sagt das Känguru kopfschüttelnd. Ja, wie ärgerlich... Thefootis an underutilised resource as an interaction tool or peripheral manipulator.2

HALT MAL KURZ!

Stefan 1----------------------------------------------------------- Rieger Es gibt Szenen des Alltags, die gerade wegen ihrer Belanglosigkeit ihresgleichen suchen. Und doch erweisen gerade sie sich oftmals als Brennpunkte dessen, was Medien und was den Umgang mit ihnen ausmacht. Eine diese Ur­ szenen hat es geschafft, in Form eines sankti­ onierten Unterhaltungsformats den Markt zu erobern. Das Kartenspiel Halt mal kurz ist Teil des großen Merchandisingkosmos um die kul­ tige Känguru-Trilogie des Berliner Kabarettis­ ten und Kleinkünstlers Marc-Uwe Kling. --------------------------- Dem kommunistischen Känguru, das beim Vietcong gekämpft hat, mit seiner Mutti in der DDR sozialisiert wurde, einen Hang zu Schnitzelbrötchen, Schnapspralinen und geklauten Aschenbechern hat, das trotz seiner kapitalismuskritischen Grund­ haltung mit aberwitzigen Geschäftsideen wie Wurstpralinen, Luftverpestern, beinlosen Stühlen oder kritischen Klingeltönen unter­ wegs ist, das die Musik von Nirvarta und Filme mit Bud Spencer liebt, und das nicht zuletzt ein Schnorrer vor dem Herrn ist, scheint der Satz nachgerade auf den Pelz geschrieben. Mit der Aufforderung zum Halten sorgt es dafür, seine eigenen Hände freizuhaben, indem es die seines Gegenübers blockiert. Das Überraschungsmoment der eben oft unvermittelten Aufforderung befördert seinen Eigennutz und so wird es auf diese Weise sperrige Fahrräder, leer gefutterte Häppchen­ tablets und was auch immer seinem eigenen Vorteil im Wege steht 199

KOSMOS

hmj MAL

quit. Das Halt mal kurz verdichtet die Schläue des Beuteltiers in der In­ teraktion, wobei die Personen seiner Umwelt dabei immer wieder den Kürzeren ziehen. ----------------------------------- Es erscheint daher nur konsequent, auf der Grundlage dieser alltäglichen Situation ein Spiel zu kreieren. Und es versteht sich von selbst, dass in diesem der Känguru-Kosmos voll auf seine Kosten kommt: von der antibürgerlichen Grundeinstellung (»Mein, dein. Das sind doch bürgerliche Kategorien«), der Neuorgani­ sation der Wissensverhältnisse (wahr/falsch wird ersetzt durch witzig/nicht-witzig) über den Umgang mit bestehenden Machtverhält­ nissen (ach, Kapitalismus ist doch scheiße) bis hin zur Einsicht, ganz massiv hinters Licht geführt zu werden und dafür eigens ein Wort erfinden zu müssen, mit dem man adäquat auf den Moment des Ge­ wahrwerdens reagieren kann (das Känguru schlägt dazu »Razupaltuff« vor).3 ----------------------------------- Die Aufforderung Halt mal kurz erschöpft sich nicht in der Kasuistik des tierlichen Eigennutzes. Was dem welt­ weisen Känguru als ältester Trick der Welt gilt, ist zugleich eine Ur­ szene von Sozialität. Die Anlässe, jemandem eine Hand zu leihen, wie es im Englischen in körpernaher Direktheit heißt (cart I giveyou a hand), sind so vielfältig wie der Alltag eben alltäglich ist. Halt mal kurz mei­ nen Schirm, meine Jacke, meine Tasche, damit ich den Schlüssel zie­ hen, die Türe aufsperren, den Kofferraumdeckel öffnen, den Geldbeu­ tel benutzen oder jemandem die Hand drücken kann — und das nach Möglichkeit mit derjenigen Hand, die dem Lateralitätsprinzip fol­ gend als die richtige zu gelten hat. Diese Urszene des Medialen näher zu beleuchten bietet die Möglichkeit, von einer vielleicht als klamaukig empfundenen Einlassung zu einer kleinen Gratulationsschrift für einen lieben Kollegen zu gelangen. Vor allem der Blick auf die Verwis­ senschaftlichung dieser Handreichungssituation vermag es, die Ver­ hältnisse zwischen unterschiedlichen Agenten in soziotechnischen Assemblagen scharf zu stellen und damit dann doch allen Känguruidiosynkrasien zum Trotz etwas Grundsätzliches über unser Sein in der Welt zu sagen.4 ----------------------------------- Die Geschichte, man ahnt es schon, geht für den Menschen, der alle Hände voll zu tun hat, nicht eben gut aus. 200

Dafür verantwortlich zeichnet eine conditio humana, für die er nicht viel kann, ist er doch von Natur aus und von Rechts wegen so, wie er eben ist und eben mit einer doch recht überschaubaren Menge an Gliedmaßen ausgestattet. Vor allem konnte er nicht mit den Verände­ rungen seiner Medien Schritt halten, was Kulturkritiker wie Günter Anders zur Rede von der prometheischen Scham veranlasste, die das vermeintliche Mängelwesen angesichts der Perfektibilität der techni­ schen Artefakte überkommt.5 Es gibt allerdings Orte in der Welt, die sich mit solch resignativen Befundlagen gegenüber der Technik nicht abfinden wollen, stattdessen die Ärmel hochkrempeln und das Heil in der Kooperation mit anderen Wissensformationen suchen. Einer die­ ser Orte ist das berühmte U. S. Naval Research Laboratory, eine Einrich­ tung, die sich unter anderem die militärische Beforschung des Ver­ hältnisses von Psychologie und Design auf die Fahnen geschrieben hat. Dort gelangt man in den Hochzeiten des Kalten Krieges vorbei an allen narzisstischen Beschämungen zum Befund, dass der Mensch mit seiner organischen Ausstattung keine Chance hat, mit der Kom­ plexität der technischen Entwicklung überhaupt annähernd Schritt zu halten. Mit Blick auf die spezifischen Medientechniken und die zunehmende Technisierung der Kriegsführung seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Anforderungen an die Benutzer über den Kopf ge­ wachsen, wie es in einem Text aus der Mitte des letzten Jahrhunderts heißt. Previous to this time, the only role played by psychologists relative to military mechanisms was that of doing research and giving advice on the selection and training of the operators. However, very early in the war, it became apparent that these Procrustean attempts to fit the man to the machine were not enough. Regardless of how much he could be stretched by training or pared down through selection, there were still many military equipments which the man just could not be moulded to fit. They required of him too many hands, too many feet, or in the case of some of the more complex devices, too many heads.7

----------------------------------- Diese eklatante Hand-, Fuß- und Kopflo­ sigkeit fällt dem Menschen im Allgemeinen und den Militärangehö­ rigen im Besonderen auf die Füße. In der Umwelt von Medien erweist 201

sich der Körper in seiner natürlichen Belassenheit als defizitär. Um das zu kompensieren, muss technisch umgesetzt werden, was in Szenari­ en des Multitasking gerne zur Veranschaulichung benutzt und gerne auch an gliederreichere Tiere verwiesen wird. Neben der Vervielfäl­ tigung von natürlichen Gliedmaßen, die auf solchen Bildern oftmals zu sehen sind, gibt es noch andere Optionen, dem Wunsch nach frei­ en Händen zu entsprechen — sieht man von so probaten Mitteln wie den bei Fahrradfahrern beliebten Stirnlampen einmal ab. Neben der Möglichkeit von Substitutionen, die statt der Hände ersatzweise die Füße ins Spiel bringen, empfehlen sich Verfahren, die organisch vor­ gegebene Zahl der Glieder künstlich zu steigern — etwa durch Hin­ zufügung wie im Fall der Supernumerary Robotic Limbs. Aber auch eine findige Interfacegestaltung wird nicht müde, immer neue Verbande­ lungen mit der Welt zu ersinnen — mit dem Ziel, die Hände für ver­ meintlich wichtigere Dinge freizuhalten. Warum also soll man die­ se überhaupt noch bemühen und nicht, wie es ein Vorschlag aus dem Jahr 2018 unterbreitet, die Restwärme des eigenen Atems als Schnitt­ stelle benutzen (Hands-Free Interface Using Breath Residual Heat).9 Es ist hier weder der Ort noch der Anlass, um über die Vervielfältigung sol­ cher Optionen zu berichten, angemerkt sei nur, dass sie konsequent von sämtlichen Möglichkeiten der sinnlichen Affizierung Gebrauch macht.10 Zum Behufe der Interaktion darf und soll sich der Mensch in seinem eklatanten Gliedermangel auch der kulturgeschichtlich ver­ pönten niederen Sinne, der so genannten »tierlichen Sinne«, bedie­ nen. Seit einiger Zeit geraten daher neben dem Tasten und Greifen auch das Riechen und Schmecken ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Schnittstellengestaltern und im Zuge dessen entsteht eine Fül­ le von Vorschlägen zu riechbaren, schmeckbaren und selbstredend auch verzehrfähigen Interfaces (edible interface).11 Weil olfaktorische Signale als weniger ablenkungsintensiv als akustische und visuel­ le gelten, werden auf dem Feld der Arbeitsunterbrechungsforschung Geruchskodierungen erprobt, von denen man glaubt, sie könnten den Arbeitsalltag oder das Verhalten beim Autofahren optimieren. In der Verwendung des Multimodalen, also dort, wo geschnüffelt, gefühlt, geschleckt und geschmeckt wird, liegt aber nicht nur ein großes Po­ tential für irgendwelche Belange der Effizienzsteigerung, sondern 202

auch für die Überschreitung von Artgrenzen.12 Olfaktorische und gustatorische Interfaces egalisieren den Mediengebrauch und erwei­ tern das Feld der HCl (Human Computer Interaction) um nicht min­ der akronymreiche Alternativen wie ACI (Animal Computer Interac­ tion), PCI (Plant Computer Interaction) oder HCBI (Human Computer Biosphere Interaction).13

2---------------------------------------------------------------------------------------Die Situation, die mit dem Halt mal kurz umrissen wird, hat selbstre­ dend auch innerhalb der Wissenschaft Aufmerksamkeit gefunden. Wie so häufig wird dazu einmal mehr eine probate Formel kreiert und diese als Akronym SUD (situationally induced impairments and disabilities) angeschrieben. Was sich hinter dieser Buchstabenverfügung und sei­ ner Geschichte verbirgt, ist gleichermaßen trivial wie scharfsinnig. Zutage gefördert wird damit der wissenschaftlich bestätigte Befund, dass der Alltag uns alle zeitweise in den Zustand einer Behinderung versetzt (und damit zu Nutzern macht, die besonderen Herausforde­ rungen gegenüberstehen) — und zwar immer dann, wenn wir eben keine Hand freihaben.14 Wie sehr derartige Formen einer Teilzeitein­ schränkung als Problem anerkannt wurden, zeigen Reaktionen da­ rauf.15 Einer der damit befassten Autoren, der Amerikaner Jacob O. Wobbrock, datiert die Formel SUD zurück auf einen Text von 2003.16

I’m not the first to make this observation. The way situations affect our abilities has become known in the accessibility community as »situationally induced impairments and disabilities< or >SIIDsLet us be one!iKTai ävev rov cpepovroc;.13

----------------------------------- Even a written message does not arrive without a carrier, wrote the sophist Gorgias in his Defertse ofPalamedes, the mythical hero whose many inventions include two telecom-

223

munication techniques: beacons and the letters of the Greek alphabet. And the Thurn and Taxis System, which had the postal privilege in the Holy Roman Empire and, later, in all the many German states, transported indiscriminately: letters, money in the form of coins, freight, and passengers. If the concept of Information, as we understand it today, implies the seemingly immaterial content of messages traveling at the speed of light, then this is an effect of the new electrical and electro-magnetic media that were developed in the course of the last two centuries. And if that is true, Kleist may well have had a point when he raised the question what we mean when we state that the electrical telegraph cannot transport »letters, reports, attachments, and parcels«, a question which is closely related to the development of the concept of energy in nineteenth- and twentieth-century physics. ----------------------------------- It was Thomas Young who, in his Lectures on Natural Philosophy and the Mechanical Arts, substituted the Aristotelian word »energy« for what Leibniz had called the living force, vis viva.14 The new concept was soon to become one of the central concepts of modern physics, if not the most important of them all, and this is due to the second great invention which, just like that of the electrical telegraph, was to change the fate of humanity once and for all: Watts steam engine, which raised a set of simple questions: How is it possible that heat can be transformed into mechanical work? And how much work can you generate out of a certain amount of heat? ----------------------------------- The answer to the first question is the kinetic gas theory which states that heat is not a substance, but — to use the term which William Thomson first applied to this phenomenon in 1855 — the »mechanical energy«15 of miniscule particles, called molecules. The closer these molecules get to each other, as is the case in the fluid and the solid states of matter, the more they are attracted to each other by forces that are hard to measure, which is the reason why heat is best studied in what physicists call ideal gases because molecules, in the gaseous state, are supposed to be free floating. ----------------------------------- The answer to the second question is a hypothetical machine named after Sadi Carnot, the son of Lazare Carnot, creator of the levee en mässe, who had published an important 224

paper on the problem of the perpetuum mobile. Sadi Carnot was able to show that, because the work done by a heat engine depends exclusively on the difference between two temperatures, the limit of such a machine’s efficiency is determined by the so-called Carnot cycle.

----------------------------------- Imagine a heat engine defined as follows: The pressure inside of the piston is nearly identical to the pressure at its outside16 so that, with the application of a minimal force, the pis­ ton can move back and forth in infinitesimal steps. In Order to make it work, the machine is alternately connected to a heat reservoir, a heat insulator, and a so-called heat sink. We now can plot the Operation of the machine according to the ideal gas law,

pV=nRT, where p is the pressure, V the volume, n the number of molecules (in moles) which, in a closed System, is a constant, R the ideal gas con­ stant, and T the absolute temperature. There are four steps: I. When heat is applied, so that the temperature remains constant, the gas will expand, and the pressure will decrease. 2. Connected to the heat insu­ lator, all three components of the System, pressure, volume, and tem­ perature will sink. 3. Connected to the heat sink, the gas will contract. 4. Connected to the heat insulator again, both the pressure and the

225

volume will increase, and the machine will have reached its original state, the process has been reversed. The area included between the lines connecting points I to 4 is equal to the work performed, which, in the case of a reversible process, reaches a maximum. From this, we can deduce the two Fundamental Laws of Thermodynamics: ----------------------------------- 1. Energy in a closed System is preserved, or, as Rudolf Clausius stated much more generally: The energy of the world is constant. ----------------------------------- The second law results from the fact that the Carnot cycle is a maximum that can never be reached in reality. Because it is impossible to completely isolate a heat engine from its environment, part of the heat applied to it will always leak out of the System. As the first law of thermodynamics states, this heat is not lost, but it can no longer be transformed into work. The cycle of a real heat engine is irreversible, and the amount of energy that cannot be trans­ formed into work will always increase. This is what Clausius meant when — with explicit reference to the sound of the word energy — he coined the term entropy from Greek ev, in, into, and rpomj, turn, turning, words which translate what he calls the »Verwandlungswerth des Wärmeinhaltes,« »transformation value of the heat content.« Clau­ sius concludes, and this is his formulation of the second law of ther­ modynamics: ----------------------------------- 2. The entropy of the world approaches a maximum.19 ----------------------------------- There was one question Clausius could never answer: Is it possible to calculate the energy of a gas on the micro-level of its molecules? It was James Clerk Maxwells who found an answer to his question: The modern atomists have therefore adopted a method which is I believe new in the department of mathematical physics, though it has long been in use in the Section of Statistics. When the working members of Section F get hold of a Report of the Census, or any other document containing the numerical data of Economic and Social Science, they begin by distributing the whole population into groups, according to age, income-tax, education, religious belief, or criminal con-

226

victions. The number of individuals is far too great to allow of their tracing the history of each separately, so that, in Order to reduce their labour within human limits, they concentrate their attention on a small number of artificial groups. The varying number of individuals in each group, and not the varying state of each individual, is the primary datum from which they work.20 ----------------------------------- In his book on The Theory ofHeat, Maxwell conducted a little thought experiment: If heat in a body consists in a motion of its parts, and if we were able to distinguish these parts, and to guide and control their motions by any kind of mechanism, then by arranging our apparatus so as to lay hold of every moving part of the body, we could, by a suitable mechanism, transfer the energy of the moving parts of the heated body to any other body in the form of ordinary motion. The heated body would thus be rendered perfectly cold, and all its thermal energy would be converted into the visible motion of some other body. Now this supposition involves a direct contradiction to the second law of thermodynamics, but is consistent with the first law. The second law is therefore equivalent to a denial of our power to perform the Op­ eration just described, either by train of mechanism, or by any other method yet discovered.21

----------------------------------- It was William Thomson/Lord Kelvin who, in his article on the Kinetic Theory ofthe Dissipation ofEnergy, coined the term Maxwells demon for this mechanism,22 but he conjectured not only about one, but about a whole army of them: To take one of the simplest cases of the dissipation of energy, the conduction of heat through a solid — consider a bar of metal warmer at one end than the other and left to itself. To avoid all needless complication, of taking loss or gain, imagine the bar to be varnished with a substance impermeable to heat. For the sake of definiteness, imagine, the bar to be first given with one half of it at one uniform temperature, and the other half at another uniform temperature. Instantly a diffusing of heat commences, and the distribution of temperature becomes continually less and less unequal, tending to perfect uniformity, but

227

never at any finite time attaining perfectly to this ultimate condition. This process of diffusion could be perfectly prevented by an army of Maxwells »intelligent demons« stationed at the surface, or interface as we may call it with Professor James Thomson, separating the hot from the cold part of the bar.23 To see precisely how this is done, consider rather a gas than a solid, because we have much knowledge regarding the molecular motions of gas, and little or no knowledge of the molecular motions of a solid. [...] Now, suppose the weapon of the ideal army to be a club, or, as it were, a molecular cricket-bat; and suppose for convenience the mass of each demon with his weapon to be several times greater than that of a molecule.24

----------------------------------- Based on this hypothesis, Thomson constructs several scenarios, in which the demons either leave the balance between two gas filled chambers of a Container intact or manage to »disequalise« the energy distribution in the Container. He argues that not only in the case when this activity has stopped, but also in the one, when the movements of all molecules are reversed, [...] the probability of the difference of energy exceeding any stated fi­ nite proportion of the whole energy is exceedingly small.25

----------------------------------- The job even of an army Maxwells de­ mons is impossible because, according to Heisenbergs uncertainty principle, knowledge about the position of one particle implies an extremely low probability for knowledge about its motion, and vice versa. ----------------------------------- The link between thermodynamics and Information theory is statistics. Shannon writes:

Frequently the messages have meaning-, that is they refer or are or are correlated according to some System with certain physical or conceptual entities. These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem. The significant aspect is that the actual message is one selectedfrom a set of possible messages.26 ----------------------------------- The formula »source of Information« is one of the key terms in Shannons paper, but most of the time, he omits the second part of this expression. And if you look for a defini228

tion, you will find none because the term »Information« had already been defined in the two articles he quotes in the opening paragraph of his paper. The first of these, Harry Nyquist’s article Certain Factors Affecting Telegraph Speed, speaks of intelligence, not of Information, a fact which seems to betray a military background. Nyquist writes: It will be shown that the Continental and American Morse Codes applied to circuits using two current values are materially slower than the code which it is theoretically possible to obtain because of the fact that these Codes are arranged so as to be readily deciphered by the ear.27 ----------------------------------- Thus, in Order to optimize telegraph speed, one needs to replace Codes adapted to the human sensorium by ones that are adjusted to machines. ----------------------------------- Ralph Hartley, the second author Shan­ non quotes, goes a decisive step further by replacing Nyquist’s ear with the human psyche. Under the heading The Measurement of Infor­ mation, he writes: As commonly used, Information is a very elastic term, and it will be first necessary to set up for it a more specific meaning as applied to the present discussion. [...] In any given communication the Send­ er mentally selects a particular Symbol and by some bodily motion, as his vocal mechanism, causes the attention of the receiver to be directed toward that particular Symbol. By successive selections a sequence of Symbols is brought to the listener’s attention. At each selection there are eliminated all of the other Symbols which might have been chosen. As the selections proceed more and more possible Sym­ bol sequences are eliminated, and we say that the Information becomes more precise.

Inasmuch as the precision of the Information depends on what other symbol sequences might have been chosen it would seem reasonable to hope to find in the number of these sequences the desired quantita­ tive measure of Information. The number of Symbols available at any

229

one selection obviously varies widely with the type of Symbols used, with the particular communicators and with the degree of previous understanding existing between them. For two persons who speak different languages the number of Symbols avalaible is negligable as compared with that for persons who speak the same language. It is desirable therefore to eliminate the psychological factors involved and to establish a measure of Information in terms of purely physical quantities.28

----------------------------------- Under the heading, Elimination of Psycho­ logical Factors, Hartley continues: To illustrate how this maybe done consider a hand-operated subma­ rine telegraph cable System in which an oscillographic recorder traces the received messages on a photosensitive tape. Suppose the sending operator has at his disposal three positions of a sending key which correspond to applied voltages of the two polarities and to no applied voltage. In making a selection he decides to direct attention to one of the three voltage conditions or Symbols by throwing the key to the Position corresponding to that Symbol. The disturbance transmitted over the cable is then the result of a series of conscious selections. However, a similar sequence of arbitrarily chosen Symbols might have been sent by an automatic mechanism which controlled the po­ sitions of the key in accordance with the results of a series of chance operations such as a ball rolling into one of three pockets.29

----------------------------------- Thus, the best quantitative measure for Information is a random process like the successive results of a roulette game, the movement of the molecules in an ideal gas, or the ran­ dom series, which, according to Shannons paper A Mathematical Theory of Cryptography, dated September 1945, is the only possible means to construct an unbreakable secret code. This is the reason why Shan­ non, in his attempt to find a quantitative measure of Information, ends up with a formula of which he says:

Quantities of the form H =

p{ log p{ (the constant K merely i= In

amounts to a choice of a unit) play a central role in Information theory

230

as measure of information, choice and uncertainty. The form of H will be recognized as that of entropy as defined in certain formulations of Statistical mechanics where p. is the probability of a System being in all i of its phase space. His then, for example, the Hin Boltzmanns famous H theorem.30

----------------------------------- If Shannon, in the first sentence of his paper, refers to Pulse Code Modulation and Pulse Position Modula­ tion, two forms of encoding that could not be further removed from the language of humans, it should not come as a surprise that he ends up defining the measure of information in terms of thermodynamics because information, as Hartley had defined it, is not a human lan­ guage, but the language of machines, the language of physical things as well as, in the case of DNA sequences, the language of living organisms. After all, Shannon, in his PhD-thesis, had developed An Algebra for Theoretical Genetics31, more than a decade before Watson and Crick discovered DNA.

231

1. Samuel Thomas Soemmerring: Über einen elektrischen Telegraphen, in: Denkschriften der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Münchenfür die Jahre 1809 und 1810, Königliche Akademie der Wissenschaften: Munich 1811, pp.401-414. 2.

Heinrich von Kleist: Entwurfeiner Bombenpost, in: id.: Sämtliche Werke (Brandenburger Ausgabe), ed. Roland Reuß and Peter Staengle, vol. II/7: Berliner Abendblätter I, Stroemfeld Verlag: Basel, Frankfurt/Main,

1997, p.58.

3Richard Feynman, Robert Leighton, Mathew Sands: The Feynman Lectures on Physics, vol. I: Mainly Mechanics, Radiation, and Heat, chapter 44: The Laws ofThermodynamics.

5Wendell L. Willkie: One World, Cassell and Company: London 1943.

10. Soemmerring: Über einen elektrischen Telegraphen, loc. cit., P-4O9-

6. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy, University of Toronto Press: Toronto 1962, p. 21.

11. Ibid.: »ungeachtet der Ver­ stand die Gewissheit giebt, dass allerdings ein Unter­ schied Statt haben müsse«.

7Herodotus, transl. A. D. Godley, vol. I, books I and II, William Heinemann: London, G. P. Putnam’s Sons: New York 1921, Book I, p. 2 70 -27z: rüv 9vr|Tüv TÖ TOXIOTOV.

8. Ibid., vol II, book IV, PP- 332-333: öpvu; 6e pciXicrra i'OlKC 171710).

9First mentioned in Pseudo-Hesiod: Shield ofHeracles, p.220: äpmerve Verlag ist die lebenslange Präferenz WHs für die engzeilig gesetzte Helvetica. Sie prägt auch den Satz und die schlech­ te Lesbarkeit der meisten Merve-Verlagsprodukte. In den Jahren der Gefangenschaft im Walled Garden Redmonds meinte WH bei der zu­ mindest auf Papier durch und durch lesefeindlichen Arial Zuflucht nehmen zu müssen, die bislang am sinnvollsten zur Beschriftung von Inflationsgeld (in Zimbabwe) eingesetzt wurde. Sollte er sich gefragt haben, warum seinen Manuskripten seit 2013 mit graduell größerer Aufmerksamkeit und Sympathie begegnet wird, bietet sich die Ab­ kehr von Arial als Antwort an. Immerhin, es war nicht die Schriftart des Kinderschänders Eric Gill. Impuls Verlag --------------- Bremer Verlagsinstitut, dem Wunsch eher verbunden als der Ökonomie, und dabei so dionysisch ausge­ richtet, dass die Großbuchstaben seiner Publikationen meist einen Punkt über der Grundlinie schwebten. ->römer ->jimmy jimmy -------------------------- Resident DJ im->römer ->impuls verlag ->VIER

kleve --------------------------- Niederrheinische Kleinstadt, an deren

Gymnasium 1966 bis 1968 keine Schülerrevolten stattfanden, sondern

319

Kammermusik betrieben wurde, mit WH an der zweiten(!) Geige(l). »Die Mysterien beginnen am Hauptbahnhof« — diesen Satz kann der Klever Spiritist Josef Beuys nicht auf seine Heimatstadt gemünzt ha­ ben, denn sie hat keinen Hauptbahnhof. Bis in die 1970er Jahre hinein war Kleve bekannt für die Schuhfabrikation in vielen kleinen Fabri­ ken und Manufakturen. Als WH ein Kind war, trugen Gleichaltrige in ganz West-Deutschland Elefantenschuhe aus Kleve. Zu seinem müt­ terlichen Erbe gehörte die Schuhfabrik Bernhard Rave/Wilhelm Rogmann. Mit dem demographischen Wandel (»Pillenknick«) war dann die Ära der »Kleefer Schüsterkes« zuende. Lamprecht ------------------- Helmut Lamprecht war einer der ein­ flussreichen Intellektuellen, die in den Kulturprogrammen des west­ deutschen Radios wirkten, ein Brückenkopf der Kritischen Theorie im universitätslosen Bremen vor 1970. Für WH war er ein Gesprächs­ partner und in Radiodingen Mentor und Ermöglicher. merve Verlag --------------- WH arbeitete in der Sponti-Phase des Verlages mit, als er noch A5-Heftchen mit dem Serientitel »Internati­ onale Marxistische Diskussion« und gelegentlich großformatige Son­ derpublikationen verbreitete. Zu diesen gehörte das 1982 erschienene sogenannte Bangkok-Projekt mit dem Titel »Über das Nomadische« (IMD 106). Darin findet sich der Beitrag von -> leo g. wahnfangg: Wie Nomaden reisen. »Weiter treibt, rennt und rast, wen kein Staat bin­ det.« -> HELVETICA

nim ---------------------------- Die Macht der Algorithmen ließ WH be­

reits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre abendliche Besucher spüren, indem er ihnen die Daumenschrauben des Minimax-Algorithmus ansetzte — in Gestalt einer mit ->turbo-pascal nachpro­ grammierten Version von Nim. Zur Entlastung der Besucher, die sich mehrfach übertölpeln lassen mussten, wurden spieltheoretische Le­ sefrüchte — von Neumann und Morgenstern —, sowie süße Backwa­ ren und Beck’s Biere verabreicht. ontologie ------------------- Die meistgebrauchte Vorhaltung WHs gegen metaphysische Positionen in Philosophie und Medientheorie. Whitehead, Stengers, Prigogine, Deleuze, Latour, Haraway und auch die Vertreter einer technologischen Wesensschau, einschließlich neuerer praxeologischer Obskuranten aus der Siegener Medienwis320

senschaft, werden unnachsichtig als Ontologen vorgeführt. Gerade weil die moderne Physik nebem dem ontologischen Status der Natur auch das von ihr bis vor ioo Jahren beanspruchte »Rationalitätskonti­ nuum« aufgegeben hat, muss die Rationalität von punktuellen Analy­ sen und Interventionen immer wieder erstritten werden. Der von WH in diesem Zusammenhang gern verwendete editionsphilologische Begriff der Konjektur legt allerdings nahe, dass in ihm noch ein Rest von Sehnsucht danach waltet, der Urtext könne erschlossen werden. pauli --------------------------- Dass der Pauli-Effekt und das Pauli-Prin­ zip gleichermaßen auf Wolfgang Pauli, den mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Quantentheoretiker zurückgehen, ist eine schöne Bestätigung der These WHs über die spiritistische Fundierung der modernen Physik. ->spiritismus -^Quantenmechanik Quantenmechanik ---------- WH wird nicht müde, darauf hinzuwei­ sen, dass seit 1947/48, als Shockley den Transistor entwickelte, die in­ dustrielle Anwendung der Quantenmechanik die Welt beherrscht. Shockleys Werk Electrons and holes in semiconductors, with applications to transistor electronics und natürlich auch Feynmans Ausführungen über freie Löcher, die sich in Kristallen bewegen, inspirierten ihn zum Plan eines Buchs Das Loch, das er seinen Lesern allerdings seit einigen Jahren schuldig bleibt. Römer ------------------------- Eine Schnittstelle von libidinöser und diskursiver Formation (Lyotard) auf Bremer Territorium. In WHs Biographie ein entspanntes Experimentierfeld zwischen SFBeatund -> vier. Die Destruktivkraft eines geräuschempfindlichen marxisti­ schen Kulturwissenschaftlers hätte 1982 fast die Umwandlung des Etablissements in eine muslimische Gebetsstätte bewirkt. Einige Jah­ re nach der erfolgreichen Abwehr dieser Attacke verlor der Ort seinen Zauber, Libido und Diskurs verflüchtigten sich, und man wünschte sich, sie hätte Erfolg gehabt. Spiritismus ------------------- Eine frühe Entdeckung WHs, in der er möglicherweise eine der vielen Nebenbemerkungen Friedrich Kittlers aufnahm, ist die spiritistische Fundierung der Wissenschaften und Künste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gedan­ kenübertragung, die Freud mit seiner Tochter und seinem Freund Ferenczi zu erwecken versuchten, geisterte noch in technischen 321

Artikeln des Radiopioniers Manfred von Ardenne 1928 herum. Spi­ ritistisch — darauf weist WH in einem heiteren wissenschaftshisto­ rischen Beitrag hin — mutet auch das aktuell umlaufende »anthropische Prinzip« in der Physik an, das in manchen Varianten mit einer »Noosphäre« kombiniert wird, einer auf den gesamten Kosmos aus­ geweiteten Wikipedia. turbo-pascal--------------- Die schönste Programmiersprache der Welt. WH bemerkte aber, dass das Diktum des Urhebers dieser Spra­ che, Niklaus Wirth, »that Software is getting slower more rapidly thanhardwarebecomes faster« vor allem auch auf Anwendungen mit Pascal zutraf. Die C-Sprachen erwiesen sich als effizienter. Universität ------------------ Es ist eine lange Eroberungsfahrt. Der Abfall von den Geisteswissenschaften wurde in einem Medium ohne schriftliche Überlieferung, im Tonstudio und am Turbo-Pascal-Editor bereits vollzogen, während andere von Politiken des Subjekts ge­ genüber den Materialien schwärmten, ohne auch nur eine ungefähre Vorstellung von deren Materialität zu haben. WHs never ending tour ist mit einem institutionell verankerten Lehrstuhl nicht vereinbar, sie findet auf einem mobilen Multifunktionssitz statt. vier ---------------------------- »Ich sag Bremen — du sagst Vier.« Die erste junge Welle im öffentlich-rechtlichen Hörfunk war eine Reakti­ on auf die Einführung des »dualen Systems« und mit einer Kette von Pioniertaten verbunden: Selbstfahrerstudio, Computereinsatz für die Musikauswahl, Live-Chat im Internet. Innovatoren haben es immer schwer, Freunde in den eigenen Reihen zu finden. Eine Moderatorin blickt auf die Gründungsphase zurück: »Unvergesslich die Konferen­ zen, in der Anfangszeit Plenum genannt. Alle mussten kommen. Dann hat der Chef eine neue Programmveränderung vorgeschlagen und sie zur Diskussion gestellt. Zwei Stunden lang sind wir gemeinsam dage­ gen Sturm gelaufen, mit leidenschaftlich vorgetragenen Argumenten. Danach hat der Chef beschlossen, dass sein Vorschlag ab sofort gilt und umgesetzt wird. Und damit war die Konferenz beendet.« wahnfangg, leo G. ------- Niederrheinischer Organist und Zoro­ astrier. Sein Hauptwerk Wenn Nomaden reisen erlebte 1983 und 2001 durch Gottfried von Einem gleich zweimal eine akustisch-szenische Bearbeitung und Aufführung. Als Spätwirkung des Werks kann die

322

zunehmende Verbreitung des mobilen Un/behaustseins im akade­ mischen Lüneburg gelten. Sein Lebensmotto: »Die wirklichen Reisen sind solche ohne Ziel«. XANTEN

schon zur Zeit des Drachentöters Siegfried, dessen Geburtsort Xan­ ten war. Walter Seitter lässt es in seinen bei ->merve erschienenen Vorlesungen über die politische Geographie der Nibelungen auch als möglichen Geburtsort Hagens (von Tronje) gelten. An Kleve reichten seine assoziativen Gedankenspiele 1986 nicht heran. zeitunglesen ----------------- ... des Morgens früh. Hegels »realisti­ scher Morgensegen« brachte WH und den Autor dieses Alphabets zu­ sammen.

323

W

STIMMEN HOREN HERAUSGEGEBEN VON MANUELA KLAUT, CLAUS PIAS UND GOTTFRIED SCHNÖDL

verlegt von Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski

diese Publikation wurde unterstützt aus Mitteln der dfg-Kolleg-Forschergruppe Medienkulturen der Computersimulation, Leuphana Universität Lüneburg (kfor 1927), Leuphana Centre for Digital Cultures, Leuphana Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien und der Volkswagen Stiftung Erste Auflage 500 durchnummerierte Exemplare

© 2020 ciconia ciconia, Berlin Für die deutschsprachige Ausgabe alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-945867-34-1

Printed in Lithuania

: 1 |r—■■ 1 i

MEDTA CULTURES Of COMPUTER «MUTATION

LEUPHANA CENTRE FOR DIGITAL CULTURES

LEUPHANA INSTITUT FOR KULTUR UND ÄSTHETIK DIGITALER MEDIEN

H