Organisierte Gesundheit: Das deutsche Gesundheitswesen als sozialethisches Problem [1 ed.] 9783428510191, 9783428110193

Die Probleme des deutschen Gesundheitswesens sind in den letzten Jahren aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Bedi

146 60 39MB

German Pages 378 Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Organisierte Gesundheit: Das deutsche Gesundheitswesen als sozialethisches Problem [1 ed.]
 9783428510191, 9783428110193

Citation preview

Thomas Bohrmann . Organisierte Gesundheit

Sozialwissenschaftliehe Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, Cardiff . Hans Bertram, München . Karl Martin Bolte, München . Lothar Bossle, Würzburg . Walter L. Bühl, München · Lars Clausen, Kiel · Roland Eckert, Trier · Friedrich Fürstenberg, Bonn . Dieter Giesen, Berlin . Alois Hahn, Trier· Robert Hettlage, Regensburg . Wemer Kaltefleiter t, Kiel · Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld . Henrik Kreutz, Nümberg . Heinz Laufer t, München· Wolfgang Lipp, Würzburg . Thomas Luckmann, Konstanz . Kurt Lüscher, Konstanz . Rainer Mackensen, Berlin . Georg Mantzaridis, Thessaloniki . Norbert Martin, Koblenz . Julius Morel, Innsbruck . Peter Paul MüllerSchmid, Freiburg i. Ü . . Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz . Horst Reimann t. Augsburg . Walter Rüegg, Bem . Johannes Schasching, Rom . Erwin K. Scheuch, Köln . Gerhard Schmidtchen, Zürich · Helmut Schoeck t, Mainz . Dieter Schwab, Regensburg . Hans-Peter Schwarz, Bonn . Mario Signore, Lecce . Josef Solar, Bmo . Franz Stimmer, Lüneburg . Friedrich H. Tenbruck t, Tübingen . Paul Trappe, Basel . Laszlo Vaskovics, Bamberg . Jef Verhoeven, Leuven . Anton C. Zijderveld, Rotterdam . Valentin Zsifkovits, Graz

Herausgegeben von

Horst Jürgen Helle, München· Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br.. Nikolaus Lobkowicz, München Arnold Zingerle, Bayreuth

Band 26

Organisierte Gesundheit Das deutsche Gesundheitswesen als sozialethisches Problem

Von Thomas Bohrmann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 3-428-11019-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9

Danksagung Vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2002 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Ich danke meinem Chef Prof. Dr. Alois Baumgartner für die Begleitung und die mir gewährten Freiräume während der Niederschrift meiner Habilitationsarbeit. Aufgrund zahlreicher Gespräche mit ihm wurde mein Interesse für sozialpolitische und gesundheitsethische Fragen geweckt. Prof. Dr. Konrad Hilpert danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens und für seine Verbesserungsvorschläge. Meinem Kollegen Werner Veith M.A. danke ich für die gute Zusarnrnenarbeit am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik sowie für zahlreiche Denkanstöße. Bei Heike Bergrath, Lydia Nahas, Elke Radermacher-Wendland, Matthias Schmidt und Gabi Seiderer möchte ich mich herzlich für die Unterstützung beim Korrekturlesen und für weiterführende Überlegungen bedanken. Auch danke ich Prof. Dr. Amold Zingerle, Prof. Dr. Horst Jürgen Helle, Prof. Dr. Jan Siebert van Hessen, Prof. Dr. Wolfgang Jäger und Prof. Dr. Nikolaus Lobkowicz für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der GÖrres-Gesellschaft". Bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Mikat von der Görres-Gesellschaft bedanke ich mich sehr herzlich für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. München, den 8. September 2002

Thomas Bohrmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

I. Problemstellung...................... ... ..... .... ....... .... ... .. . .. .........

15

11. Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff ............ . ... ... ..... .. ..

17

111. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

IV. Methode und Gang der Untersuchung .. ......................................

28

A. GesundheitswissenschaftIiche und ethische Grundlegung ............ . ....... .. ..

31

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen ........................

31

1. Gesundheitsökonomik - der ökonomiezentrierte Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

2. Gesundheitspolitik - der ordnungspolitische Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

3. Medizinrecht - der rechtspolitische Ansatz .. . . .... ... . ... . ... . .... .... ... . .

39

4. Gesundheitssoziologie - der gesellschaftswissenschaftliche Ansatz .. .. ....

41

5. Sozialethik - der strukturethische Ansatz ........................... .. .....

48

a) Historische und ideengeschichtliche Wurzeln der Sozialethik .......... .

51

b) Gegenstand der Sozialethik: Nonnen, Institutionen und Ordnungen.....

56

c) Methodik der Sozialethik................................ ............ ...

61

d) Proprium der Christlichen Sozialethik ............. .. ....... .. ..... ... ..

62

e) Ethik des Gesundheitswesens als Teilproblem der Sozialethik...........

63

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik ........ .. .......... . ............

66

1. Gerechtigkeit - von der Tugendethik zur Strukturenethik .............. . ...

67

2. Die klassische Trias der Sozialprinzipien ... . .......... ...... .. . ............

74

a) Personalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

b) Solidarität .... ... ......................................... . . .. ..........

82

c) Subsidiarität ............................ . ............... .. ....... . ...... 101

8

Inhaltsverzeichnis 3. Ökonomische Freiheit als Leitidee des Marktes

108

4. Zusammenfassung: Ethische Leitlinien für die Ausgestaltung sozialer Strukturen................................................................. 114

B. Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens im Kontext des Sozialstaates ............................................................................. 118 I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates ............................. 120 1. Gesundheitssicherung als Teil der Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich

121

2. Gesundheitssicherung in der Weimarer Republik........................... 128 3. Gesundheitssicherung in der Zeit des Nationalsozialismus ................. 130 4. Sozialstaatliche Ausgestaltung des Gesundheitswesens nach dem Grundgesetz ..................................................................... 133 11. Systematisch-ethischer Zugang ............................................... 138 1. Die Krankenversicherung im System der sozialen Sicherung............... 139 2. Das Ethos der Sozialversicherung.......................................... 143 C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur des deutschen Gesundheits-

wesens ............................................................................. 147 I. Akteure der Gesundheitssicherung ............................................ 148

1. Gesetzliche Krankenversicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Private Krankenversicherung .............................................. 155 3. Krankenkassenverbände ................................................... 160 11. Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen ............... 160 1. Der ambulante Gesundheitsdienst.......................................... 161 2. Der stationäre Gesundheitsdienst .......................................... 166 3. Berufsgruppen ............................................................. 169 4. Institutionen der Leistungserbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütem ................... 172 IV. Akteure der freien Wohlfahrtspflege .................................. . ....... 178 V. Laien- und Se1bsthilfeorganisationen ......................................... 179

Inhaltsverzeichnis

9

VI. Akteure der Gesundheitspolitik . ..... .. . . ..... ... . .. .. . ... ... .. . .. .... . . ... .. . 181 1. Institutionen des Bundes .. . .... ..... ....... . ..... . ................ . . . . . ....

182

2. Institutionen der Länder ............................................. . ..... 189 3. Kommunale Institutionen.... . . . . . ... . .... . ... .. ... . .... .. .. . .. . .. .. ... . ... 190 4. Internationale Institutionen . ..... . . . ........... . .. .. ............ .. ...... . .. 190 VII. Zusammenfassung: Das Gesundheitswesen - "Kampfplatz" organISIerter Interessen und Ort implementierter Ethik ...... .. . . .. . .... . ...... . ....... .. ... 191 D. Probleme im Gesundheitswesen als Folge fortschreitender Modernisierung . . . . . 199

I. Soziologische Grundlagen des Modernisierungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 11. Funktionale Differenzierung ....... . ......... .. ... . ... . ........ .. . ... . .. ...... 203 1. Die Ausdifferenzierung von Kultursachbereichen .............. . ... .. ...... 203 2. Gesellschaftliche Differenzierung und Stratifikation in der Arbeitsgesellschaft . ..... . . . .. ..... . . . ... .. .. .... ...... . .... . . ....... ... . .. . .. . ... ..... .. 208 111. Rationalisierung . ............. ..... ..... . ....... . ... . ..... . ........ . .... . . . ... 211 1. Rationalisierung und die Entzauberung der Welt. .... . .. ...... . . .. . .... .... 211

2. Rationalisierung und die Herrschaft der Vernunft .. . .. ... . ... . . ... . .... . .. . 215 IV. Individualisierung................. . ............. . .... . .......... . .. . . .. . .. ... 218 1. Individualisierung als Freisetzungsprozess ....... . ... . .. . ......... .. ....... 218

2. Individualisierung von Ehe und Familie .. .. . .... .. .. .. . .. ...... .. . . ..... . .. 222 V. Domestizierung . .. ............... .... ................ . .................. . .... 224 1. Die Beherrschung der Natur .. . ... . . ............. . .... . ...... . .. .. ..... ... . 224

2. Die Beherrschung der menschlichen Affekte . . ... . .... . ...... . .. . .. ... . . ... 226 VI. Gesundheit und Krankheit im Kontext des Modernisierungsprozesses ........ 227 1. Strukturelle Ausdifferenzierung und Gesundheitswesen . ..... . .. .. .... .. ... 228 2. Rationalisierung und Gesundheitsversorgung .. .... . .. . . .... .. ...... .... ... 230

10

Inhaltsverzeichnis 3. Gesundheit als säkulare Heilserwartung . .... ........ .. . ..... .. ...... .. ..... 234 4. Individualisierung und demographische Entwicklung . . .... . ... .... . . . .. .. . 236 5. Domestizierung und Machbarkeitsmentalität .... . ... . ........... . ... .. ..... 244 VII. Zusammenfassung: Konsequenzen der Modemisierung für die Gesundheitsversorgung .. . .. . .. . ..... . ... ... . .. .. .. .. .. ... ... . ... ...... . .... . . .... . .. ... .. 246

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte für die Gestaltung des Gesundheitswesens .......... .... ............ ... . .. .......... ... .... . .......... .. ... . ...... 248 I. Das Arzt-Patienten-Verhältnis: Ausgangspunkt einer Ethik des Gesundheitswesens ..... . .... . . . .. . ......... .... . . ......... . .... .. ............. ... . . ...... 249 1. Vertrauen und Misstrauen im Kontext der Verrechtlichung des ärztlichen Handelns ................... . ...... . ............ . ............ .... ..... .. ... 249 2. Interaktionsmuster in der Arzt-Patienten-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 3. Ethische Folgerung: Vertrauen stärken ....... ... .. .. . .. ........ ... ..... . ... 259 11. Die Gesundheitssicherung als Kembereich des Gesundheitswesens: Zwischen solidarischer Gesundheitsversorgung und Selbstverantwortung . . . ........ . ... 261 1. Begründungsstrukturen einer solidarischen Gesundheitsversorgung ... .. . .. 262 2. Elemente der Entsolidarisierung im bestehenden Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung .. ................ . . . .. .. ........... . .......... 266 3. Reforrnmodell: Duale Gesundheitssicherung . .. . . .. .... . .. .. ...... . ... . .. . . 271 4. Ethische Folgerung: Solidarität und Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. 275 5. Ethische Folgerung: Stärkung der Versicherten- und Patientenposition ..... 285 6. Ethische Folgerung: Wettbewerbs strukturen zulassen .. .. .. . ..... .. . .... . . . 291 III. Exkurs: Werbung als ökonomisches Anreizsystem im Gesundheitswesen ..... 297 1. Werbung als Teil der marktwirtschaftIichen Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298 2. Werbung auf dem Gesundheitsmarkt . ........ . ... .. . .. . .. ... . .... . ....... . . 301 3. Die Ordnung der Werbewirtschaft für Güter des Gesundheitswesens . .. . ... 304 4. Inhaltsethische Kriterien für die Gestaltung von Werbemaßnahmen auf dem Gesundheitsmarkt .............. . ........... . . . ... . ............ .... ........ 312

Ergebnis .......... .... ........ . ........ ... ..... . ........ . .... .... . . .... .. .. ... ... . .... 320

Inhaltsverzeichnis

11

Literaturverzeichnis ..... . ... . .... ............ .. ................ . ................. . ... 327

I. Bücher, Artikel, Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 II. Kirchliche Dokumente Iß. Normative Texte

358 360

IV. Zeitungsartikel .... . . . .... . ...................... . ... . . .. ...... .. .. . .... . . ... . 361 V. Allgemeine Internetadressen . .. . ... . .... . .. . ... .. ... . .. . .. .. .. ... . .. .. . ... ... 361 VI. Texte aus dem Internet ... . .. . ...... . .. . ............. . . .. ...... . .. .... . . . ..... 362 VII. Informationsbroschüren, Faltblätter . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 362 VIß. Parteipolitische Schriften (Programme und Informationen) ...... . .... . . . ..... 363 IX. Statistische Daten .. ... .. . ... .. . . ..... .. . . ..... .... .. .. ... . ... . ... . ... . .. .. .. . 364

Personenverzeichnis . . . ... .... ... .. ... . . ... ... . .. . ...... . ..... ... . . .. .. . ... .. . ....... . 365

Sachverzeichnis... . ...... .. ... . ... . . .. ...... . ......... . ............. . ... . ..... . ....... 371

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Funktionsbereiche des Gesundheitswesens.......................... . . . ...... 147 Abb.2:

Das System der Gesundheitssicherung .................................... . .. 150

Abb.3:

Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung....... 158

Abb.4:

Funktionstrennung auf dem Gesundheitsmarkt .. . ........ . ................... 164

Abb.5:

Allgemeines Handlungsschema ........................ . ..................... 201

Abb. 6: Handlungsschema der Modemisierung ................... . ............ . ...... 202

Abkürzungsverzeichnis AEM

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AMG

Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz)

Art.

Artikel

BfArM

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

BgVV

Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin

BMG

Bundesministerium für Gesundheit

BzgA

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

CA

Centesimus annus

DIMDI

Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information

GG

Grundgesetz

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GS

Gaudium et spes

HWG LE LG MBO MM OA PEI PKV

Heilmittelwerbegesetz Laborem exercens Lumen gentium Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte Mater et magistra Octogesima adveniens Paul-Ehrlich-Institut als Bundesamt für Sera und Impfstoffe Private Krankenversicherung

pp

Populorum progressio

PT QA

Quadragesimo anno

RKI

Robert Koch-Institut

RN RVO SGB

Rerum novarum

Pacem in terris

Reichsversicherungsordnung Sozialgesetzbuch

SRS

Sollicitudo rei socialis

UWG WHO WRV ZAW

Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb World Health Organization Weimarer Reichsverfassung Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (früher: Zentralausschuss der deutschen Werbewirtschaft)

Einleitung I. Problemstellung

Im Juli 2001 veröffentlichte die Wochenzeitung DIE ZEIT auf der Titelseite einen ausführlichen Artikel, der kritisch Stellung bezieht zum gegenwärtigen Gesundheitswesen und weitreichende Reformen anmahnt. Der Beitrag mit der ausdrucksstarken Überschrift "Deutschlands kranke Kassen" beginnt mit folgenden Sätzen: "Das deutsche Gesundheitssystem ist teuer, ungerecht, ineffizient und intransparent. Keine andere europäische Nation gibt so viel Geld für Gesundheitsleistungen aus wie Deutschland und wird gleichzeitig so schlecht versorgt. Das spüren die Versicherten, die Beiträge in Rekordhöhe zahlen und dennoch am Quartalsende oft keinen Arzttermin bekommen. Sind die staatlichen Budgets aufgebraucht, schlieBen viele Mediziner einfach ihre Praxen [ ... ]."\ Solche Töne sind schon seit Jahren in den Medien zu vernehmen. Immer wieder werden die Strukturprobleme des Gesundheitswesens thematisiert, die in die Höhe schieBenden Gesundheitskosten beklagt, ernste Reformen und vor allem Gerechtigkeit gefordert. Politiker / Politikerinnen und Verbandsvertreter / Verbandsvertreterinnen bringen sich zudem immer wieder mit zum Teil sehr abenteuerlichen Reformvorschlägen ins Gespräch und erhitzen damit die gesundheitspolitische Diskussion. Die gesetzlichen Änderungen im Gesundheitswesen der letzten Jahre konnten aber die anstehenden Probleme nicht in den Griff bekommen. Und so jagt eine Gesundheitsreform die andere. Gesundheit ist das große Thema unserer Zeit, und unter den jüngsten Reformvorhaben deutscher Politik - Rentenreform, Steuerreform, Hochschul- und Bildungsreform - nimmt die Gesundheitsrefonn sicherlich eine Schlüsselposition ein. Die zu lösende Hauptaufgabe im Gesundheitswesen besteht darin, die vorhandenen finanziellen Ressourcen mit den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen. Kemprobleme aller modemen Gesundheitssysteme sind die individuellen wie gesellschaftlichen Anspruchshaltungen gegenüber der Gesundheitsversorgung, das gewandelte Verständnis von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung, der medizinisch-technische Fortschritt, der demographische Wandel, aber auch strukturinterne Probleme der Gesundheitssicherung. Hinter diesen kritischen Entwicklungen, die aus soziologischer Perspektive als weitreichende Folgen fortschreitender Modernisierung verstanden werden müssen, steht das gesellschaftliche Grundproblem, dass nämlich der individuelle Gesundheitszustand im Wesentlichen von nicht beliebig vorhandenen Gesundheitsleistungen \ Niejahr, Elisabeth, Deutschlands kranke Kassen, in: Die Zeit, Nr. 31,26.07.2001,1.

16

Einleitung

(z. B. ärztliche Leistungen) und Gesundheitsgütern (z. B. Arzneimittel) abhängt. Die Frage, die heute vor allem in der Gesundheitspolitik gestellt wird, lautet demzufolge: Wie kann die optimale Allokation knapper Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter in einer sich wandelnden Gesellschaft gestaltet werden? An dieser gesundheitspolitischen Grundfrage kann zugleich das sozialethische Problem abgelesen werden: die Verteilung knapper Ressourcen und der dahinter stehende Konflikt zwischen Ökonomie und Ethik. Die Verteilungsproblematik berührt dabei unweigerlich die Frage nach der Gerechtigkeit, d. h. nach speziellen Verteilungsregeln für eine gerechte Gesundheitsversorgung. Doch wann ist ein Gesundheitswesen gerecht? Wenn alle - unabhängig vom gesellschaftlichen Status - die gleichen Leistungen bekommen oder wenn sich die Reichen aufgrund ihrer individuellen Kaufkraft und Leistungsfähigkeit unbegrenzte, bessere sowie jederzeit verfügbare medizinische Leistungen kaufen können und sich die finanziell Schwächeren mit schlechteren Leistungen zufrieden geben müssen? Ziel vorliegender Untersuchung ist es, im Rahmen strukturanalytischer Überlegungen zum Gesundheitswesen konkrete Leitlinien und Orientierungspunkte für die institutionalisierte Gesundheitsversorgung zu diskutieren. Reformansätze machen aber nur dann Sinn, wenn sie in die (bestehende) Struktur des Gesundheitssystems implementiert werden können. Das setzt voraus, dass auch konkrete Akteure benannt werden, die in der Lage sind, die geplanten Veränderungen umzusetzen. Die zu erörternde Problematik um Gesundheit und Krankheit wird von einer bestimmten theologischen Teildisziplin bearbeitet, nämlich von der christlichen Sozialethik. Seit Beginn kirchlichen Wirkens gehört die Sorge um den leidenden, von Krankheit und Not betroffenen Menschen zu den Hauptaufgaben kirchlicher Caritas. Programmatisch kommt die prinzipielle Sorge für den hilfsbedürftigen Menschen im ersten Satz der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, zum Ausdruck. 2 Formen des institutionalisierten Helfens, wie sie für die Kirche(n) zentral sind, sind heute integraler Bestandteil im System sozial staatlicher Versorgung? Die Kirche hat in der modernen, hochkomplexen Gesell2 ,,Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." GS, Art. 1. An anderer Stelle betont die Pastoralkonstitution die Notwendigkeit, den Menschen der modemen Industriegesellschaft in seinen unterschiedlichen Notlagen beizustehen. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Sorge für den "gesundheitlichen Zustand" expressis verbis erwähnt. Vgl. GS, Art. 66. Die Verantwortung für den leidenden Menschen wird darüber hinaus in anderen Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils thematisiert, so etwa in der Kirchenkonstitution: "In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern und sucht Christus in ihnen zu dienen." LG, Art. 66. Vgl. die Übersicht bei Hagen, Thomas, Krankheit - Weg in die Isolation oder Weg zur Identität. Theologisch-ethische Untersuchung über das Kranksein, Regensburg 1999, 215 - 217. 3 Vgl. Hi/perl, Konrad, Organisierte Barmherzigkeit. Motive und Gefahren des Helfens in modernen Gesellschaften, in: ders., Caritas und Sozialethik. Elemente einer theologischen Ethik des Helfens, Paderborn u. a. 1997, 165 - 181.

II. Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff

17

schaft aktiv Anteil an der organisierten Venneidung menschlichen Leids und nimmt im Rahmen des Gesundheitswesens eine wichtige Stellung ein. Ihr Engagement äußert sich nicht nur in der individuumszentrierten Seelsorge an Kranken, Angehörigen und Mitarbeitern der Heilberufe, sondern auch in dem Betreiben von Organisationen der Gesundheitsversorgung (z. B. Institutionen der häuslichen Krankenpflege, Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Hospize). Für die christliche Sozialethik ist entscheidend, dass sie die Strukturen der Gesundheitsversorgung auf der Basis christlicher Anthropologie reflektiert und hierzu nonnativ Stellung bezieht. Der glaubensspezifische Ansatz der Sozialethik geht davon aus, dass Religion und Ethos, Glaube und Moral aufs Engste miteinander verbunden sind. 4 Als ein von Gott geschaffenes Wesen hat der Mensch den Auftrag zur Welt- und GeseIl schaftsgestaltung erhalten. Dieser Auftrag macht dann freilich nicht Halt vor den unzähligen Strukturerscheinungen der modernen Gesellschaft. Reflexionsgegenstand christlicher Sozialethik sind somit alle Kulturschöpfungen des Menschen; diese sind - so die ethische Forderung - auf die menschliche Person hin zu nonnieren. 11. Zugänge zum Gesundheits- und KrankheitsbegritT

In dieser Arbeit wird keine zugrunde liegende Definition von Gesundheit und Krankheit vorgestellt. 5 Forschungsobjekt dieser Untersuchung ist das Gesundheitswesen. Es umfasst die Gesamtheit aller Institutionen, Nonnen, Handlungen, Sachmittel, Personen und Berufe, die das Ziel haben, Gesundheit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen sowie Krankheiten zu verhüten oder zu heilen. 6 Häufig.wird zwischen dem Gesundheitswesen im engeren und im weiteren 4 Vgl. Korff, Wilhe1m, Ethik: 2. Theologisch, in: ders./Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 662. Vgl. zum Zusammenhang von Religion und Ethos auch Lienkamp, Andreas, Systematische Einführung in die christliche Sozialethik, in: Furger, Franz / ders. / Dahm, Karl-Wilhelm (Hrsg.), Einführung in die Sozialethik, Münster 1996, 31-37. 5 Jede Gesundheits- und Krankheitsdefinition ist notwendigerweise fragmentarisch und kann nur aus einer bestimmten Perspektive eine Begriffsbestimmung liefern. Im Zentrum der Studie steht nicht so sehr eine Definition von Gesundheit und Krankheit, sondern das institutionell verfasste Gesundheitswesen. Freilich sollen im Folgenden grundlegende Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff vorgelegt werden, die verschiedene Dimensionen von Gesundheit und Krankheit thematisieren. 6 Vgl. Buchholz, Edwin H., Unser Gesundheitswesen im Überblick, in: ders. (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Vorgestellt von Repräsentanten seiner wichtigsten Einrichtungen, Berlin u. a. 1988,8; Kühn, Hagen, Gesundheit/Gesundheitssysteme, in: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, 268; Labisch, Alfons/ Paul, Norbert, Gesundheitswesen: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 123; Thiemeyer, Theo, Gesundheitswesen: I. Gesundheitspolitik, in: Albers, Willi u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 3. Bd., Stuttgart 1981, 576; Zdrowomyslaw, Norbert/ Dürig, Wolfgang, Gesundheitsökonomie. Einzel- und gesamtwirtschaftliche Einführung, München/Wien 1997,4/5.

2 Bohrmann

Einleitung

18

Sinne unterschieden.? Während das Gesundheitswesen im engeren Sinne den professionell-medizinischen und gesundheitsbezogenen Sektor umfasst (z. B. staatliche Gesundheitspolitik, Krankenkassensystem, ärztliche und nichtärztliche Heilberufe, Krankenhäuser, Pharmaindustrie), versteht man unter dem Gesundheitswesen im weiteren Sinne neben den genannten Bereichen auch alle gesundheitsbezogenen Aktivitäten, die von der Familie und von Laienorganisationen ausgehen. In vorliegender Studie soll sich der Terminus Gesundheitswesen immer auf beide Dimensionen beziehen, da die Sozialethik den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen einen je eigenen Verantwortungsradius zuspricht und im Rahmen ethischer Entscheidungsprozesse komplexe Handlungen ausgeübt werden, die staatliche, öffentlich-rechtliche, privatwirtschaftliche, familiäre und laienweltliche Aktivitäten gleichermaßen umfassen. Nachdem die einführende Begriffsbestimmung deutlich gemacht hat, dass das Gesundheitswesen auf die Vermeidung und Heilung von Krankheiten respektive auf die Wiederherstellung von Gesundheit zielt, werden anschließend verschiedene Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff vorgestellt. Zunächst gilt allgemein, dass Gesundheit - nach der Definition von Wolfgang Kersting - ein "transzendentales oder konditionales,,8 Gut darstellt, denn nur Individuen, die über ein ausreichendes Maß an Gesundheit verfügen, sind auch in der Lage, am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. In diesem Sinne ist Gesundheit zwar nicht alles, aber alles ist ohne sie nichts. 9 Transzendentale Güter "besitzen [also] einen Ermöglichungscharakter, ihr Besitz muß vorausgesetzt werden, damit die Individuen ihre Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können.,,10 Weiterhin bedeutet Gesundheit in einer sehr allgemeinen Formulierung die "Abwesenheit jeglicher Störungen"ll, die sich auf physiologische Vorgänge beziehen. Als Gegenbegriff kann Krankheit - ebenso nach einem einfachen alltags sprachlichen Verständnis als "Störfall körperlicher Handlungsmöglichkeiten,,12 beschrieben werden. I3 Der Vgl. Buchholz. Unser Gesundheitswesen im Überblick, 8/9. Kersting. Wolfgang, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 152. Neben Gesundheit nennt Kersting folgende weitere "transzendentale" Güter: das Leben selbst, körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Wohnung, Handlungsfähigkeit. Vgl. Kersting. Wolfgang, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 1Weimar 2000, 27. 9 So eine Formulierung bei Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 152. 10 Kersting. Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 27. II Sie/er, Gregor, Gesundheit - nur ein Konsumartikel? Überlegungen zur Veränderung der Vorstellungen von Gesundheit in der Gegenwart, in: Arzt und Christ 38 (1992) 151. 12 Labisch. Alfons, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 1992,12. 13 Ein etymologischer Zugang des Krankheitsbegriffs macht deutlich, dass krank mit einem defizitären Zustand des Menschen zu tun hat. Das mittelhochdeutsche Wort "kranc" bedeutet soviel wie sonderbar, verdreht, krumm. Der Ausdruck "kränkeln" ist sprachlich verwandt mit "kringeln", d. h. sich krümmen vor Schmerzen nach einer Verletzung. "Krank" 7

8

11. Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff

19

Krankheitsbegriff darf allerdings nicht auf physische Vorgänge reduziert werden, sondern muss ebenso psychische Störungen beim Menschen mitberücksichtigen. Der kranke Mensch ist folglich in seiner Autonomie eingeschränkt und benötigt Hilfe. 14 Gesundheit und Krankheit sind aber keine isolierten Begriffe und stehen nicht für sich alleine, sondern sind aufeinander bezogen und bilden so genannte Kontrastbegriffe: 15 Wenn der Mensch nicht gesund ist, ist er krank; ist der Mensch nicht krank, dann ist er gesund. Beide Begriffe bringen anthropologische Grundphänomene der menschlichen Existenz zum Ausdruck. Menschliches Leben besteht immer aus beiden Erscheinungen, sie wechseln sich ab oder existieren nebeneinander, "insofern gleichzeitig einzelne Bereiche oder Funktionen des Körpers gesund, andere dagegen krank sein können. Der Verlust eines Organs wird nicht selten durch ein anderes Organ kompensiert.,,16 Das bedeutet, dass man Gesundsein und Kranksein nicht immer scharf voneinander trennen kann und der Mensch somit meist weder ganz gesund noch ganz krank ist. Er lebt in einem Fließgleichgewicht, welches so lange als gesund bezeichnet werden kann, bis dass es von einer bestimmten biologischen, medizinisch-naturwissenschaftlichen Norm abweichtY Durch was diese Norm definiert bzw. wann ein "normaler Krankheitszustand" zur Bedrohung für die physisch-psychische Existenz und somit zur individuellen Belastung wird, kann aber weder präzise noch zufriedenstellend gesagt werden. Letztlich rücken im Zeitalter des medizinisch-technischen Fortschritts zwei Fragen ins Zentrum der öffentlichen Diskussion: Wer ist heute noch gesund? Welcher Gesundheitszustand gilt als normal? In der " Brave new World", die der englische Schriftsteller Aldous Huxley be,eits im Jahre 1932 beschrieben hat, heißt es dazu nüchtern: "Die Erforschung der Krankheit hat so große Fortschritte gemacht, daß es immer schwerer wird, einen Menschen zu finden, der völlig gesund ist.,,18 Diese Erkenntnis ist heute im Zeitalter der Gentechnik und Genomanalyse Realität geworden. wurde seit dem Mittelalter anstelle des Begriffs "Siech" (ein langwieriges Leiden) gebraucht. Vgl. Schipperges, Heinrich, Gesundheit - Krankheit - Heilung, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 10. Teilbd., Freiburg/BasellWien 1980,63. 14 Vgl. Heller, Andreas, Kranke: 11. Praktisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 6. Bd., Freiburg u. a. 31997, 412. Im Lexikon für Theologie und Kirche wird der Aspekt der Hilfesuche expressis verbis in eine Definition von Krankheit integriert: Demzufolge ist Krankheit "ein phys. u. Iod. psych. Zustand, den ein Erkrankter als Störung seines Wohlbefindens empfindet, u. zwar als eine solche, die ihn veraniaßt, beim Arzt um Hilfe u. Heilung nachzusuchen". Lanzerath, Dirk, Krankheit: I. Medizinisch-anthropologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 6. Bd. Freiburg u. a. 31997, 426. 15 Vgl. Schockenhoff, Eberhard, Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz 1993,216. 16 Engelhardt, Dietrich von, Gesundheit, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 112/113 . 17 Vgl. Schockenhoff, Ethik des Lebens, 217. 18 Huxley, Aldous, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Frankfurt a.M. 1991. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Schockenhoff, Ethik des Lebens, 218. 2*

20

Einleitung

Anhand von drei verschiedenen Perspektiven sollen im Folgenden Gesundheit und Krankheit näher betrachtet werden. Dabei kommen grundlegende Bedeutungsinhalte dieser für die Medizin so zentralen Schlüsselbegriffe zur Sprache: 19 (1) Aus der Perspektive der betroffenen, d. h. kranken, Person: Gesundheit und

Krankheit haben zunächst eine subjektive Bedeutung. Es ist ein konkretes Individuum, das sich entweder gesund oder krank fühlt. Dieses Individuum macht während einer Krankheit bestimmte Erfahrungen. Krankheit "tangiert den Menschen in seiner innersten personalen Selbstdefinition, sie macht seine bisherige soziale Einordnung fraglich und stiftet beim gläubigen Menschen religiöse Beunruhigung. In der Krankheit erfährt der Mensch seine Ungesichertheit, Anfälligkeit, Begrenztheit, Ohnmacht und Endlichkeit. In der Isolierung stellen sich Niedergeschlagenheit und Besorgnis ein, zusammen mit Bedenken und Zweifeln, die manchmal Vorboten von Verzweiflung sind. Ernste Krankheit wird erfahren als ein Vorbote des Todes. ,,20 An einer Krankheit kann der Mensch aber auch wachsen; er kann lernen, wie man mit Leid, Gebrechlichkeit und menschlicher Endlichkeit umgeht; der Kranke kann gerade auch im Leid neue Hoffnung und Stärke finden. Für den Betroffenen bedeutet Krankheit also immer eine sehr individuelle Erfahrung, demzufolge ist auch der Krankheitsbegriff zunächst sehr subjektiv und kann - je nach Art der körperlich-seelischen Schwäche - etwas sehr eigenes bedeuten. Gleichzeitig ist das Gesundheitsbewusstsein, d. h. die Wahrnehmung von körperlichen Störungen, abhängig von sozialen Faktoren, wie dem Gesundheits- und Krankheitsverständnis innerhalb der Gesellschaft, von gesellschaftlichen Normen und Werten, von Rationalisierungsmechanismen, wie man mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in bestimmten Situation umgeht oder umzugehen hat. Auch wenn die Erfahrung krank zu sein, etwas sehr persönliches und geradezu intimes darstellt, ist die Gesellschaft beim Umgang mit der konkreten Krankheit stets präsent.

(2) Aus der Perspektive der Medizin: Wird eine Person krank und sucht professionelle Hilfe auf, so kommt sie mit dem Medizinsystem in Berührung. In der Medizin folgt Krankheit einem naturwissenschaftlichen Verständnis. Demnach bedeutet krank zu sein, dass bestimmte biologische Vorgänge im Organismus des Menschen gestört sind. Solche Störungen können z. B. durch Verletzungen, Infektionen oder Unfälle hervorgerufen werden. Der Krankheitsbegriff der Medizin zielt dabei auf die von der biologischen Norm abweichenden phy19 Vgl. zu diesen Perspektiven bzw. zu den hier thematisierten Bezugssystemen von Gesundheit und Krankheit Bäcker, Gerhard u. a., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. 2. Bd.: Gesundheit und Gesundheitssysteme, Familie, Alter, Soziale Dienste, Wiesbaden 32000, 21/22; Siegrist, Johannes, Medizinische Soziologie, München 1Wien 1Baltimore 41988,181; Troschke, Jürgen Freiherr von, Gesundheits- und Krankheitsverhalten, in: Hurrelmann, Klaus 1Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim 1 München 1998, 372. 20 Kramer, Hans, Gesundheit und Krankheit, in: Gründel, Johannes (Hrsg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, 3. Bd., Düsseldorf 1992,124/125.

11. Zugänge zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff

21

siologischen Funktionsstörungen. Gesund ist dann nur der, bei dem die körperlichen Funktions- und Stoffwechselabläufe normal - also gemäß der biologischen Norm - ablaufen.

(3) Aus der Perspektive des Gesundheitssystems: Nachdem die von einer Krankheit betroffene Person einen Arzt aufgesucht, sich einer medizinischen Untersuchung unterzogen und die Bestätigung erhalten hat, dass sie krank ist, beginnt die Krankenrolle bzw. Patientenkarriere im System des Gesundheitswesens. Krank ist demzufolge dann nur der, dem ein professioneller Helfer dies aufgrund der Fachkompetenz bestätigt hat. Die ärztliche Diagnose definiert die Erkrankung und bestimmt die damit verbundene Therapie. 21 Gleichzeitig legt der Arzt / die Ärztin fest, ob eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt und die betroffene Person Anrecht auf Lohnfortzahlung oder Krankengeld hat. Das heißt für das Krankheitsverständnis, dass Krankheit - rein soziologisch betrachtet - ein abweichendes Verhalten darstellt, denn der Kranke ist nicht mehr in der Lage, die von ihm geforderten Rollen- und Aufgabenverpflichtungen innerhalb einer Arbeitsgesellschaft zu erfüllen. Der kranke Mensch ist folglich nicht mehr arbeits- und leistungsfahig. Bei dem hier behandelten Krankheitsverständnis kommt eine funktionalistische Betrachtung zur Sprache, wie sie vor allem Talcott Parsons im Rahmen der medizinischen Soziologie eingeführt hat. 22 Eine psychische Erkrankung bedeutet für ihn die "Unfahigkeit, die Erwartungen sozialer Rollen zu erfüllen,m. Parallel zu dieser Umschreibung definiert Parsons körperliche Gesundheit wie folgt: "Somatische Gesundheit ist, soziologisch definiert, der Zustand optimaler Fähigkeit zur wirksamen Erfüllung von für wertvoll gehaltenen Aufgaben.,,24 Der funktionalistische Zugang, der die Arbeitsrolle im gesellschaftlichen Gefüge in den Mittelpunkt stellt, ist nach wie vor ein für das Gesundheitssystem wichtiges Definitionselement für Krankheit. 25 Die vom Arzt / von der Ärztin attestierte zeitlich beschränkte oder totale Arbeitsunfähigkeit - als ausschlaggebendes Kriterium für die Zuteilung 21 Vgl. Gerhard, Uta, Gesundheit und Krankheit als soziales Problem, in: Albrecht, Günter 1Groenemeyer, Axel/ Stallberg, Friedrich W. (Hrsg.), Handbuch sozialer Probleme, Opladen 1999,402/403. 22 Vgl. Schlicht, Wolfgang, Gesundheit, in: Grupe, Ommo/Mieth, Dietmar (Hrsg.), Lexikon der Ethik im Sport, Schomdorf 1998, 213. 23 Parsons, Taleott, Definition von Gesundheit und Krankheit im Lichte der Wertbegriffe und der sozialen Struktur Amerikas, in: Mitscherlich, Alexander u. a. (Hrsg.), Der Kranke in der modemen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1984, 57/58. 24 Parsons, Definition von Gesundheit und Krankheit im Lichte der Wertbegriffe und der sozialen Struktur Amerikas, 60. Im Original kursiv. 25 In der Sozialrechtssprechung, im Urteil des Bundessozialgerichts von 1972, wird dieses Krankheitsverständnis zu Grunde gelegt: "Unter Krankheit ist ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand zu verstehen, der entweder lediglich die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung oder zugleich (in Ausnahmefällen auch allein) Arbeitsunfahigkeit zur Folge hat." Urteil des Bundessozialgerichts, zitiert nach: Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. 2. Bd., 22.

22

Einleitung

sozialer Leistungen im Krankheitsfall (z. B. Krankengeld, Rente) - stellt dabei ein einseitiges Krankheitsverständnis in den Mittelpunkt, wie es einem althergebrachten naturwissenschaftlich-medizinischen Krankheitsmodell entspricht. Andere Perspektiven von Gesundheit und Krankheit werden damit nicht berücksichtigt. Einen ganzheitlichen Definitionsansatz von Gesundheit und Krankheit - und nicht nur einen naturwissenschaftlich-medizinischen - vertritt die klassische Begriffsumschreibung der World Health Organization (WHO), die so gut wie in allen gesundheitswissenschaftlichen Publikationen zu finden ist. Die WHO beschreibt Gesundheit wie folgt: "Gesundheit ist der Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.,,26 Diese Definition verdeutlicht einen idealen Zustand, der nicht nur den individuellen Aspekt von Gesundheit und Krankheit in den Vordergrund stellt, sondern in gleicher Weise sozialpolitische, rechtliche und ökonomische Forderungen thematisiert. Als gesundheits politische Zielvorgabe ist die WHO-Definition nicht zu vernachlässigen.27 Allerdings ist sie als Maßstab für die Gewährung von Gesundheitsleistungen im Rahmen des Sozialversicherungsrechts unbrauchbar und wird in diesem Sinne auch kritisiert.28 Eine solche Gesundheitsbestimmung "führt zur Illusion,,29 und fördert ganz individuelle Erwartungshaltungen, die im Blick auf begrenzte Ressourcen im Gesundheitswesen keineswegs zu realisieren sind. Trotz der Problematik, die hinter der WHO-Definition steht, verweist sie darauf, dass persönliche Gesundheit auch von sozialen Faktoren abhängig ist. Soziale Einflüsse (z. B. ökonomische Situation, Wohnverhältnisse, Verkehrssicherheit, Umweltqualität, Arbeitsbedingungen, Hygienebedingungen, soziale Integration, Lebensform, Freizeit- und Konsumverhalten, Lebensqualität) und die Ordnung des Gesundheitswesens (z. B. Versorgungsqualität, Zugänglichkeit zu Gesundheitsleistungen) tragen maßgeblich zum Gesundheitszustand, zum Glücksund Wohlbefinden des Individuums bei. 3o Abschließend kann resümiert werden, dass Gesundheit und Krankheit letztlich von der Perspektive des betroffenen Individuums, vom biologischen Faktum, aber 26 Zitiert nach: Schell, Werner, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z. Ein Nachschlagewerk für die Angehörigen der Gesundheitsberufe und interessierte Laien, Stuttgart 1 New York 1995, 86. 27 Vgl. Riege, Fritz, Gesundheitspolitik in Deutschland. Aktuelle Bilanz und Ausblick, Berlin 1993, 18/19. 28 Vgl. Häring, Bernhard, Frei in Christus. Moraltheologie für die Praxis des christlichen Lebens, 3. Bd., Freiburg/BasellWien 1981/1989, 68; Hagen, Krankheit - Weg in die Isolation oder Weg zur Identität, 232 - 234. 29 Fuchs, Michael, Ethische Aspekte der Mittelknappheit im Gesundheitswesen: Die Bedeutung von Leitlinien, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 177. 30 Vgl. Hurrelmann, Klaus, Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitspräventionen und Gesundheitsförderung, Weinheim 1 München 2000, 12.

III. Stand der Forschung

23

auch von der Definitionsmacht des medizinischen Fachpersonals und der Gesellschaft abhängig sind. Ob jemand gesund oder krank ist, wird von sehr subjektiven Empfindungen und von der individuellen Fähigkeit bestimmt, mit physisch-psychischen Beeinträchtigungen umzugehen. Demnach kann Gesundheit auch "als die Fähigkeit verstanden werden, mit den Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden, d. h. auf Störungen angemessen zu reagieren bzw. diese Störungen zu beseitigen oder zu kompensieren.,,31 Freilich ist die Krankheitsbewältigungskompetenz (Lebensbewältigungskompetenz) immer auch abhängig von der sozialen Mitwelt, die uns unterstützt und notwendige Rahmenbedingungen für gelingende Lebensformen zur Verfügung stellt.

111. Stand der Forschung Bislang hat sich die christliche Sozialethik in ihrer evangelischen und katholischen Ausprägung mit dem gesellschaftlichen Teilsystem Gesundheitswesen nur rudimentär beschäftigt. Fragen, die sich mit Gesundheit und Krankheit beschäftigen, werden innerhalb der Theologie von der Moraltheologie behandelt, doch sind moraltheologische Arbeiten primär im Kontext der medizinischen Ethik zu verorten. Die medizinische Ethik stellt traditionellerweise die Frage nach der individuellen Verantwortung des Arztes / der Ärztin, der Pflegekräfte und der Forscher / der Forscherinnen in den Mittelpunkt und beschäftigt sich weniger mit sozial- oder strukturethischen Fragestellungen. An dieser Stelle soll aber keineswegs die Meinung vertreten werden, dass Individualethik, die konkrete ethische Problemstellungen des individuellen Handeins reflektiert, und Sozialethik, die sich auf konkrete ethische Probleme der Ordnung sozialer Gebilde bezieht, scharf voneinander getrennt werden müssten und könnten. Individualethische Fragen mischen sich gerade heute mit sozialethischen Problemen und umgekehrt. 32 Der Zusammenhang zwischen diesen beiden ethischen Zugängen kann exemplarisch am Gesundheitswesen verdeutlicht werden: Ein gesundheitsschädigendes Verhalten einer Person, beispielsweise Zigaretten- oder exzessiver Alkoholkonsum, ist aus der Perspektive der Individualethik nicht unproblematisch. Der Mensch hat - in Beziehung zu sich selbst - Verantwortung für das eigene Leben und seine individuelle Gesundheit; ein beeinträchtigendes Konsumverhalten schädigt sein Leben, ja, kann es sogar leidvoll machen und verkürzen. Erkrankt die betreffende Person und nimmt Leistungen der Versichertengemeinschaft in Anspruch (z. B. Arztbesuche, Untersuchungen, Therapien, Arzneimittel), so hat individuelles Verhalten sogleich weitreichende soziale Auswirkungen und berührt damit die Fragestellung der Sozialethik: Soll eine Krankenversicherung auch die Heilkosten für ein selbstverschuldeSchell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 86. Vgl. Hunold, Gerfried W. / Laubach, Thomas / Greis, Andreas, Annäherungen. Zum Selbstverständnis Theologischer Ethik, in: dies. (Hrsg.), Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen / Basel 2000, 7/8. 31

32

24

Einleitung

tes Fehlverhalten übernehmen? Sollen Raucher so genannte Risikoprämien innerhalb ihrer Krankenversicherung bezahlen, um damit potenzielle Kosten abzudecken? Gerade dieses Beispiel, das die enge Verbindung der individualethischen und sozialethischen Frage ausdrückt, wird innerhalb der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung immer wieder diskutiert. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe von Beiträgen, die sich mit ethischen Strukturfragen im Hinblick auf das Gesundheitswesen beschäftigen, doch fehlt bislang eine systematische Monographie, die das komplexe Thema der Gesundheitsversorgung im Kontext sozialethischer Reflexionen behandelt, die die ethische Logik im Gesundheitswesen anhand einer Strukturanalyse nachzeichnet und normative Leitlinien für die Gestaltung des Gesundheitssystems aufzustellen versucht. Vorliegende Studie soll in diese Lücke platziert werden. Fragen zur Gestaltung des Gesundheitswesens werden zumeist von der Gesundheitsökonomie, neuerdings aber auch verstärkt von der Philosophie gestellt. Eine sozialethische Analyse muss freilich dialogisch und kombinatorisch vorgehen, denn nur im interdisziplinären Wissenschaftsgespräch zwischen Ethik, Medizin, Ökonomie, Recht, Politik und Soziologie können die anstehenden Fragen sachgerecht erörtert werden. Gustav Gundlach 33 hat 1964 in einem kleinen Beitrag die Frage nach dem Ort des Gesundheitswesens in der katholischen Soziallehre gestellt. In diesem Aufsatz wird der grundsätzliche Ordnungsauftrag der Christen für die menschliche Gesellschaft betont, zu der auch die Gesundheitsversorgung gehört. Vom Standpunkt der christlichen (katholischen) Sozialethik können weiterhin Beiträge u. a. von Alois Baumgartner34, Elke Mack35 und Michael Schramm36 angeführt werden?7 Für Baumgartner stehen die für die Ethik zentralen Begriffe der Solidarität und Eigenverantwortung, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen, im Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung. Während Mack grundlegende Probleme des Gesundheitssystems in ihrem Beitrag erörtert und dabei auch auf Gerechtigkeitsvorstellungen zu sprechen kommt, behandelt Schramm konkrete Problemfelder der gegenwärtigen Gesundheitsversorgung und ordnet die von ihm angesprochenen 33 Vgl. Gundlach, Gustav, Der Ort des Gesundheitswesens in der katholischen Soziallehre, in: ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, 2. Bd., Köln 1964,614-620. 34 Vgl. Baumgartner, Alois, Solidarität und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, in: Medicine Today and our Image of Man. 8th European Congress of FEAMC Prague, Czech Republic, June 5 -9, 1996, Prague 1996, 149-156. 35 Vgl. Mack, Elke, Ethik des Gesundheitswesens, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 3 (1998) 173-189. 36 Vgl. Schramm, Michael, Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems. Sozialethische Überlegungen, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 43 (1997) 233 - 244. 3? Bei den hier genannten Beiträgen handelt es sich um herausragende und weiterführende Ansätze, wie sie von Vertretern bzw. Vertreterinnen der christlichen (katholischen) Sozialethik in den letzten Jahren vorgelegt wurden. Dabei erhebt diese Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

III. Stand der Forschung

25

kritischen Punkte der Sozialstaatsproblematik zu. Aber auch in moraltheologischen Studien lassen sich neuerdings Hinweise auf sozialethische Probleme der Gesundheitspolitik bzw. der Gesundheitssicherung finden, so beispielsweise in der Dissertationsschrift von Thomas Hagen. 38 Die Frage nach dem Zugang zu Gesundheitsleistungen wird seit einigen Jahren vor allem im Rahmen eines Gerechtigkeitsdiskurses - im Wesentlichen bestimmt von Philosophen und evangelischen Theologen - gestellt. Als der Philosoph Otfried Höffe 39 im Januar 1998 im Deutschen Ärzteblatt einen kurzen Artikel über die Ressourcenknappheit im deutschen Gesundheitswesen veröffentlichte und die Maßhaltung bzw. Besonnenheit (Sophrosyne) - und eben nicht die Habsucht bzw. Verschwendung (Pleonexie) - als moralische Grundhaltung für die Gesundheitsversorgung betonte, entfachte er mit seinen Positionen eine breite Kontroverse, die in einem Schwerpunktheft der "Zeitschrift für Evangelische Ethik" zusammengefasst wurde. 4o Peter Dabrock41 , der daraufhin in einem Grundsatzartikel den Ansatz von Höffe kritisierte, relativierte die von Höffe vorgeschlagene Tauschgerechtigkeit im Gesundheitswesen und plädierte prinzipiell für einen Vorrang der Teilhabe aller an der Gesundheitsversorgung. Auf Dabrocks Kritik wurden dann drei Repliken abgedruckt, von Traugott Jähnichen42 , Wolfram Stierle43 und Christofer Frey44. Schließlich wurde knapp ein Jahr später in derselben Zeitschrift eine Replik von Höffe45 veröffentlicht, die sich auf die Argumentation Dabrocks bezog. 38 Vgl. Hagen, Krankheit - Weg in die Isolation oder Weg zur Identität, 256-270, 280-287. 39 Vgl. Höjfe, Otfried, Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 5 (30. 01. 1998) A-202-205. 40 Die Beiträge sind innerhalb des Bochumer "Forum Sozialethik" entstanden. 41 Vgl. Dabrock, Peter, "Medizin in Zeiten knapper Ressourcen". Eine Auseinandersetzung mit Otfried Höffe, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 2-22. Vgl. auch einen weiteren Aufsatz von Dabrock, der sich mit den Gerechtigkeitsvorstellungen innerhalb des Gesundheitswesens auseinandersetzt: Dabrock, Peter, Capability und Decent Minimum. Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium möglicher Priorisierung im Gesundheitswesen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 45 (200 1) 202 - 211. 42 Vgl. lähnichen, Traugott, Die soziale Konstruktion von "Knappheit". Über die Unausweichlichkeit von Verteilungskonflikten im Sozialsystem, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 22-25. 43 Vgl. Stierle, Wolfram, Der Preis der Gesundheit. Zur ökonomischen Argumentation des philosophischen Plädoyers für die Tauschgerechtigkeit, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 26-32. 44 Vgl. Frey, Christofer, Zur Begründung und zum Verständnis der Gerechtigkeit. Thesen zu P. Dabrocks Kritik an O. Höffe, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 32 - 35. 45 Vgl. Höjfe, Otfried, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Zivilcourage. Über Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen - eine Replik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 44 (2000) 89 - 102. Höffes Replik entspricht im Wesentlichen einem kurz vorher publizierten Beitrag zur Gerechtigkeits- und Ressourcenproblematik im Gesundheitswesen. Vgl. Höjfe, Otfried, Besonnenheit und Gerechtigkeit: Zur Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen, in: Schlicht, Wolfgang I Dickhut, Hans H.I Badura, Bernhard (Hrsg.), Gesundheit für alle.

26

Einleitung

Ein anderer Autor, der die Probleme im Gesundheitswesen mit Ansätzen aus der Gerechtigkeitstheorie zu diskutieren versucht, ist Wolfgang Kersting46 • Der Philosoph Kersting hat sich in den letzten Jahren mit verschiedenen Publikationen zum Gerechtigkeitsverständnis im Sozialstaat - im Sinne einer politischen Philosophie - und speziell im Gesundheitswesen zu Wort gemeldet. 47 Als weitere Fundstelle für ethische Positionen zur Ordnung des Gesundheitswesens kann das "Lexikon der Bioethik" aus dem Jahre 1998 dienen. Hier werden Probleme des Gesundheitssystems unter verschiedenen Stichwörtern thematisiert. Allerdings fällt auf, dass der weiterführende Artikel "Gesundheitswesen" in drei Themenblöcke aufgeteilt ist48 und von unterschiedlichen Autoren verfasst wurde, die allesamt keine Ethiker sind.49 Expressis verbis kommen dann aber ethische Fragen in dem Artikel "Medizinische Ethik" unter dem Unterpunkt "Ethik des Gesundheitssystems" zur Sprache. 5o Neben den philosophisch-ethischen Ansätzen sind auch gesundheitsökonomische Publikationen zu erwähnen, die sich in den letzten Jahren mit Reformvorschlägen beschäftigt und dabei zum Teil auch die für die Ethik zentralen Begriffe, wie etwa Solidarität und Subsidiarität, aufgegriffen haben.51 Fiktion oder Realität?, Schattauer 1999, 155-184. Vgl. auch Hö!fe, Otfried, Medizin in Zeiten knapper Ressourcen, in: ders., Medizin ohne Ethik?, Frankfurt a.M. 2002, 202-241. 46 Vgl. Kersting, Wolfgang, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, 467 - 507; Kersting, Wolfgang, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1997, 170-212; Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 143 - 173; Kersting, Wolfgang, Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung, in: ders., Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist 2002, 143 - 189. 47 Vgl. z. B. Kersting, Wolfgang, Sozialstaat und Gerechtigkeit, in: Hockerts, Hans Günter u. a., Sozialstaat - Idee und Entwicklung, Reformzwänge und Reformziele, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, 35. Bd., Köln 1996, 243 - 265. 48 Vgl. Labisch/ Paul, Gesundheitswesen: 1. Zum Problemstand-, 122-135; Pitschas, Rainer, Gesundheitswesen: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 135 - 141; Henke, Klaus-Dirk/ Göp!fahrt, Dirk, Gesundheitswesen: 3. Gesundheitspolitisch / gesundheitsökonomisch, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 141-145. Henke hat zusammen mit Michael Hesse den Gesundheitsartikel im Handbuch der Wirtschaftsethik verfasst. Vgl. Henke, Klaus-Dirk/ Hesse, Michael, Gesundheitswesen, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999, 249-289. 49 Diese Feststellung darf aber nicht als Kritik verstanden werden, sondern deutet lediglich an, dass freilich auch außerhalb der ethischen Zunft normative Probleme im Hinblick auf Strukturfragen diskutiert werden. 50 Vgl. Fuchs, Michael, Medizinische Ethik: 2. Systematisch (Ethik des Gesundheitssystems), in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 659 - 661. 51 Vgl. z. B. Klas, Christian, Gestaltungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen, Wiesbaden 2000; Ruckdäschel, Stephan, Wettbewerb und Solidarität im Gesundheitswesen. Zur Vereinbarung von wettbewerblicher Steuerung und solidarischer Sicherung, Bayreuth 2000.

III. Stand der Forschung

27

Vonseiten der evangelischen Kirche ist die Studie mit dem Titel Mündigkeit und Solidarität aus dem Jahre 1994 zu nennen.52 Das von den Mitgliedern der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Soziale Ordnung verfasste Dokument stellt Grundprobleme des Gesundheitssystems dar und formuliert praktische Konsequenzen für eine Strukturreform. In dem Vorwort wird das Grundanliegen der Stellungnahme wie folgt beschrieben: "Der Studie geht es vor allem um die Stellung der Patienten und Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Immerhin sind rund 90% der Bevölkerung in diese Versicherung einbezogen. Die Studie versucht, die Position der Versicherten bzw. Patienten grundsätzlich neu zu bedenken und Vorschläge zu deren Stärkung zu entwickeln. Die Kirche kann dabei weder eine Tendenz zur Versorgungsmentalität noch einer die Solidarität gefährdenden reinen Marktorientierung das Wort reden.,,53 Die katholische Kirche hat bislang eine so umfassende Studie zum Gesundheitswesen noch nicht vorgelegt. Allerdings ist sie sich sehr wohl bewusst, wie zentral die strukturelle Ordnung des Gesundheitssystems für eine Gesellschaft ist und wie sehr ein Staat verpflichtet ist, ein funktionierendes Gesundheitswesen aufzubauen und zu erhalten. 54 Im gemeinsamen Wort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit von 1997 wird die Frage nach der Gesundheitsfürsorge im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme angeschnitten. 55 Die Kernforderung an ein zukünftiges Gesundheitswesen lautet hier: ,,Auch in Zukunft müssen eine vollwertige medizinische Versorgung für jedermann und ein freier, von der Einkommenssituation unabhängiger Zugang aller zur Gesundheitsfürsorge unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Bedürfnisse gewährleistet sein.,,56 Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich - so hat die kurze Darstellung wichtiger Beiträge zur Thematik gezeigt - mit ethischen Problemen im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung und -sicherung in der modernen Gesellschaft. Neben der Theologie sind es - in weitaus stärkerer Form - vor allem die Philosophie und die Gesundheitsökonomie, die den Diskurs prägen. Kernthema der aktuellen Diskussion ist die Frage nach der gerechten Gesundheitsversorgung und die damit verbundene schwierige Aufgabe, Verteilungskriterien für die knappen Ressourcen im Rahmen des nationalen Gesundheitssicherungssystems zu entwickeln. Vorliegende Untersuchung möchte die zitierten Beiträge zum Teil aufnehmen, kritisch reflektieren und gegebenenfalls weiterentfalten, gleichzeitig aber ei52 VgJ. Mündigkeit und Solidarität. Sozialethisehe Kriterien für Umstrukturierungen im Gesundheitswesen, Eine Studie der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Soziale Ordnung, Gütersloh 21995. 53 Mündigkeit und Solidarität, 8. 54 VgJ. z. B. PT, Art. 11. 55 VgJ. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover / Bonn 1997, Art. 185/186. 56 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 185.

28

Einleitung

nen eigenen Ansatz vorstellen, wie über Gesundheit und Krankheit, über die organisierte Gesundheitsversorgung im Kontext der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft aus sozialethischer Perspektive nachgedacht werden kann. Freilich wird es unmöglich sein, eine umfassende ethische Arbeit über das Gesundheitswesen zu schreiben. Aufgrund der Komplexität der Thematik können notwendigerweise nicht alle Probleme zur Sprache gebracht werden. In diesem Sinne kommt z. B. die stationäre Gesundheitsversorgung nur am Rande vor, da sie nochmals auf eine ganz eigene ethische Fragestellung verweist. Was im Folgenden geleistet werden soll, ist die Erörterung der ethischen Grundprobleme des Gesundheitswesens, ihre Einordnung im Kontext einer sozialethischen Strukturanalyse und schließlich die Diskussion konkreter Vorschläge für eine Strukturreform. Mit dieser Studie soll eine systematische Monographie vorgelegt werden, die - um der komplexen Materie gerecht zu werden - nur interdisziplinär angelegt sein kann. Sie bezieht in ihre Argumentation gesundheitsökonomische, gesundheitspolitische, medizinrechtliche und soziologische Positionen ein und reflektiert mit Hilfe ethischer Schlüsselbegriffe die Struktur des deutschen Gesundheitswesens. Im Mittelpunkt des im Schlusskapitel vorgestellten Reformvorschlags steht die Frage nach der Ausgestaltung der Gesundheitssicherung. Das Krankenversicherungssystem regelt die Finanzierung der notwendigen Leistungen und Güter innerhalb des Gesundheitswesens und ist innerhalb der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion ein besonderer Streitpunkt zwischen den einzelnen Akteuren.

IV. Methode und Gang der Untersuchung

Um Orientierungspunkte für die institutionalisierte Gesundheitsversorgung aufzustellen, erscheint es nötig, das deutsche Gesundheitswesen anhand einer eingehenden Strukturanalyse zu beschreiben und die Gründe für die kritische Entwicklung des Gesundheitssystems anzuführen. Das Gesundheitswesen ist ein gesellschaftliches Teilsystem, das sich wiederum in verschiedene Funktionsbereiche untergliedern lässt, die einerseits zwar eine eigenständige Logik haben, aber andererseits auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Erst wenn die Fragen "Wer erbringt die Leistungen?", "Wer bezahlt die Leistungen?", "Wer entscheidet über die Verteilung VOn Leistungen?" im gegenwärtigen System der deutschen Gesundheitsversorgung geklärt sind, können auch Strukturreformansätze thematisiert werden. In diesem Sinne folgt die Arbeit einem strukturanalytischen Zugang. Vor diesem Hintergrund wird dann die normative Frage im Hinblick auf eine gerechte Gesundheitsversorgung diskutiert. Ziel vorliegender Arbeit ist aber nicht nur einfach die ethische Diskussion VOn konkreten Gestaltungsleitlinien, SOndern die Einordnung der Gesundheits-Krankheits-Problematik in einen größeren systematischen Rahmen. Im Einzelnen gliedert sich vorliegende Studie in fünf Hauptkapitel: Zunächst werden in einem ersten Teil ausgewählte Disziplinen vorgestellt, nämlich Gesund-

IV. Methode und Gang der Untersuchung

29

heitsökonomik, Gesundheitspolitik, Medizinrecht, Gesundheitssoziologie und schließlich Sozialethik, die aus ihrer je eigenen Wissenschaftsperspektive Gesundheit thematisieren und Einfluss nehmen auf die Gestaltung des Gesundheitswesens. Mit der Darstellung von Gesundheit und Krankheit im Kontext unterschiedlicher Disziplinen kann deutlich gemacht werden, wie Gesundheit im Einzelnen beschrieben, erklärt und auch gestaltet werden kann. Innerhalb des ersten Kapitels nimmt die Behandlung des sozialethischen Zuganges zur Gesundheitsproblematik einen breiten Raum ein. Das liegt daran, dass in dieser Studie ein grundlegendes Konzept von (christlicher) Sozialethik erarbeitet werden muss, an dem sich die zu behandelnde Thematik zu orientieren hat. So stehen Geschichte, Aufgabe, Gegenstand und Methode der christlichen Sozialethik im Vordergrund der Erörterung. Damit die Sozialethik aber soziale Strukturen, die als ihr eigentlicher Reflexionsgegenstand gelten, bewerten und gegebenenfalls korrigieren kann, ist sie auf normative Orientierungen angewiesen, die ihr die Richtung weisen, wie Gesellschaften und institutionelle Gebilde geordnet werden sollen. Im zweiten Kapitel sollen dann die Grundlinien der Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens im Rahmen des Sozialstaates nachgezeichnet und dabei zentrale historische Epochen bedacht werden. So werden die Gesundheitssicherung in der traditionellen Gesellschaft sowie zu Beginn der Industrialisierung kurz thematisiert. Weiterhin kommen die Krankenversicherungsformen in der Weimarer Republik, in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland zur Sprache. Nach der Darstellung der historischen Entwicklungslinien werden das gegenwärtige Krankenversicherungsmodell im System der sozialen Sicherung sowie das Ethos der Sozialversicherung beschrieben. Das dritte Kapitel widmet sich der bestehenden Funktionslogik des Gesundheitssystems, wobei im Zentrum nicht nur die Analyse der einzelnen Funktionsbereiche stehen soll, sondern besonders auch die darin enthaltene ethische Strukturlogik. Es soll gezeigt werden, dass im deutschen Gesundheitswesen eine so genannte inhärente Ethik vorhanden ist, die sich in besonderer Weise anhand des Solidaritätsund Subsidiaritätsprinzips nachzeichnen lässt. Das Gesundheitswesen in Deutschland besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Institutionen und Akteure, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten und wiederherstellen wollen. Eine sozialethische Reflexion des Gesundheitswesens zielt auf vier strukturelle Steuerungskomponenten: (1) Gesundheitssicherung, (2) Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen, (3) Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern und (4) Gesundheitspolitik. Diese Bereiche stehen aber nicht isoliert nebeneinander, sondern kooperieren miteinander und bilden in ihrer Gesamtheit eine komplexe Struktur. Die schon seit vielen Jahren vorzufindende kritische Entwicklung des Gesundheitswesens, wie sie sich insbesondere in steigenden Ausgaben für Gesundheitskosten und -gütern sowie Rationierungsmechanismen widerspiegelt, ist - so die These der Studie - die Folge der fortschreitenden Modernisierung, die alle Lebensformen und sozialen Institutionen erfasst hat. Im vierten Kapitel wird ein soziolo-

30

Einleitung

gisches Modernisierungskonzept, das die Prozesse der Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung in den Mittelpunkt rückt, vorgestellt. Nach der Darstellung der soziologischen Grundlagen der Modernisierung können die daraus resultierenden Probleme für die Gesundheitsversorgung zur Sprache kommen. Den Abschluss der Arbeit bilden im fünften Kapitel grundlegende ethische Überlegungen, die für eine strukturelle Weiterentwicklung des Gesundheitswesens von Bedeutung sein könnten. Die im ersten Kapitel erörterten normativen Orientierungen (Gerechtigkeit besonders in Form der sozialen Gerechtigkeit, Personalität, Solidarität, Subsidiarität - vor allem auch im Sinne der Selbstverantwortung - und ökonomische Freiheit/Wettbewerb) schaffen dabei die Basis, um im Hinblick auf die Gesundheitssicherung, die Gesundheitsversorgung und die Gesundheitspolitik Reformüberlegungen aus der Perspektive der Sozialethik zu entwickeln. Im Mittelpunkt der ethischen Erörterung steht ein Gesundheitswesen, das einerseits solidarisch ausgerichtet ist und keinen Bürger / keine BÜfgerin von notwendigen Gesundheitsleistungen ausschließt und andererseits die Eigenverantwortung für die Gesundheitsversorgung zu integrieren ·sucht. Eine so genannte solidarische Wettbewerbsordnung verbindet Prinzipien einer kollektiven Gesundheitssicherung mit marktwirtschaftlichen Prinzipien. Im Rahmen dieser ethischen Überlegungen wird auch ein Exkurs zum Thema Werbung im Gesundheitswesen entfaltet, da Werbung für Gesundheitsgüter ein unverzichtbares Element einer Wettbewerbs gesellschaft darstellt.

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung Gesundheit und Krankheit gehören zu den Grundbegriffen der Medizin. Dabei implizieren der Gesundheits- und der Krankheitsbegriff immer auch normative Wertungen, die darüber Auskunft geben, was eine Gesellschaft im Einzelnen als "krank" oder "gesund" definiert und durch welche (gesundheits)politischen Maßnahmen Gesundheit - auf der Basis eines bestimmten Krankheitsverständnisses wieder hergestellt wird. Im Folgenden sollen ausgewählte Wissenschaftsdisziplinen skizziert werden, die sich mit dem Thema Gesundheit beschäftigen bzw. mit dem Gegenbegriff Krankheit, der immer mitgedacht werden muss. Es sollen vor allem solche Disziplinen im Mittelpunkt stehen, die die sozialstrukturelle Seite des Gesundheitswesens betonen, also Gesundheitsökonomik, Gesundheitspolitik, Medizinrecht, Gesundheitssoziologie und Sozialethik, und die nicht so sehr die soziale Interaktion zwischen zwei Individuen, in der Regel zwischen Arzt/ Ärztin und Patient / Patientin, thematisieren. 1 In der nachfolgenden Erörterung nimmt die Behandlung des sozialethischen Zugangs zur Gesundheit einen besonderen Raum ein. Das liegt zum einen daran, dass in dieser Studie ein grundlegendes Konzept von (christlicher) Sozialethik vorgelegt werden soll, an dem sich die zu behandelnde Thematik orientiert. Zum anderen bedarf die Behandlung des Gesundheitswesens im Rahmen sozialethischer Reflexionen einer genauen systematischen Verortung, damit die besondere Relevanz der Beschäftigung mit Problemen des Gesundheitswesens für die Sozialethik deutlich wird. Damit Sozialethik aber soziale Strukturen, die als ihr eigentlicher Reflexionsgegenstand gelten, bewerten und gegebenenfalls korrigieren kann, benötigt sie normative Maßstäbe, an denen sie sich orientieren kann. Diese normativen Orientierungen werden dann im weiteren Verlauf des Kapitels vorgestellt. I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen Die in diesem Einleitungskapitel skizzierten wissenschaftlichen Disziplinen können zusarnrnenfassend als Gesundheitswissenschaften bezeichnet werden. Dabei geht dieser akademische Terminus auf ein von Adolf Gottstein u. a. herausgegebenes Buch zurück, das 1925 unter dem Titel "Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge" erschien.2 In diesem Grundlagenwerk wurden mediI Das heißt freilich nicht, dass die Beziehung zwischen Arzt I Ärztin und Patient I Patientin nicht auch von den Strukturen des Gesundheitswesens determiniert ist.

32

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

zinische und sozialwissenschaftliehe Fachdisziplinen erstmals zusammengeführt und systematisch erschlossen. Die gesundheitswissenschaftliche Forschung konnte dann allerdings in Deutschland während des Nationalsozialismus nicht weitergeführt werden. Erst mit dem Handbuch der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann und Ulrich Laaser wurde der Begriff Gesundheitswissenschaften wieder in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt und erlebt seitdem eine Renaissance? Der Ausdruck "Gesundheitswissenschaften" will darauf hinweisen, dass hier unterschiedliche Wissenschaftsbereiche mit jeweils verschiedenen theoretischen und methodischen Grundlagen zusammenkommen. Damit wird aber gleichzeitig - wie die beiden Herausgeber betonen - die interdisziplinäre Bedeutung des Begriffs erkennbar. 4 Gesundheitswissenschaftliche Forschung ist immer auf Interdisziplinarität angelegt, da Krankheit und Gesundheit gleichermaßen von medizinischen, psychologischen, soziologischen und ökonomischen Faktoren abhängig sind. 5 Die im Folgenden vorzustellenden wissenschaftlichen Arbeitsfelder der Gesundheitswissenschaften sind - nach einer Definition von Alfons Labisch und Wolfgang Woelk - solche Wissenschaften, "die Aussagen darüber machen, wie Gesundheit beschrieben, erklärt und ggf. vorausgreifend gestaltet werden kann.,,6 Diese allgemeine Umschreibung wird der Pluralität der Fächer und der interdisziplinären Arbeitsweise durchaus gerecht, da damit zugleich medizinische Disziplinen, wie etwa die biologische Grundlagenforschung, die humanmedizinische Grundlagenforschung, die klinisch-medizinische Forschung, die sozialmedizinische Grundlagenforschung, Verhaltens- und sozialwissenschaftliche Forschungsgebiete und schließlich Fachrichtungen der System- und Versorgungsforschung angesprochen sind? Sozialethische Fragestellungen werden nach dieser Dreiteilung in besonderer Weise im Kontext der System- und Versorgungsforschung behandelt, denn diese gesundheitswissenschaftlichen Forschungsgebiete beschäftigen sich mit den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, damit Gesundheit ermöglicht bzw. Krankheit beseitigt werden kann. 8 2 Vgl. Gottstein, Adolf u. a. (Hrsg.), Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge. Grundlagen und Methoden, 1.-6. Bd., Berlin 1925 -1927. 3 Vgl. Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften. Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis, Weinheim/Basel 1993. Mittlerweile ist eine aktualisierte und ergänzte Neuauflage erschienen, da das erste Handbuch bereits nach nur vier Jahren vergriffen war. Vgl. Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998. 4 Vgl. Hurrelmann, KlauslLaaser, Ulrich, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1993, VIII I IX. 5 Vgl. Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich, Gesundheitswissenschaften als interdisziplinäre Herausforderung: Zur Entwicklung eines neuen wissenschaftlichen Arbeitsgebietes, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1993, 7 - 9. 6 Labisch, Alfons I Woelk, Wolfgang, Geschichte der Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheiml München 1998, 77. 7 Vgl. Hurrelmannl Laaser, Gesundheitswissenschaften als interdisziplinäre Herausforderung, 10 /11.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

33

1. Gesundheitsökonomik - der ökonomiezentrierte Ansatz

Unter Wirtschaft versteht man - nach Wilhelm Korff - die "Beschaffung, Herstellung und Verteilung von Gütern einschließlich der dazu erforderlichen Dienstleistungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse,,9. Anhand dieser Definition lassen sich mehrere spezifische ethische Themenfelder herausstellen, die für eine systematisch zu entwickelnde Wirtschaftsethik konstitutiv sind: Der Wirtschaft geht es um die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sowie um die Frage nach einer gerechten Eigentums- und Wirtschaftsordnung. Weiterhin ist Wirtschaften nicht ohne den Einsatz von menschlicher Arbeit denkbar. Da moderne Wirtschaft erst aufgrund technischer Methoden und Instrumente produktiv werden kann, gehört das weite Feld der Technik ebenso zur wirtschaftsethischen Betrachtung. Ein wesentliches Charakteristikum der modernen Industriegesellschaft ist die sozialstrukturelle Transfonnation der menschlichen Beziehungswelt, die erst durch die Trennung von Produktionsstätte und familialer Lebenswelt entstanden ist. Besonders auch die Quantität der Bevölkerungsentwicklung spielt eine große Rolle im Wirtschaftsprozess und bei der ökonomischen Entwicklung eines Landes. Wirtschaft ist schließlich ohne den Eingriff in den natürlichen Haushalt des Menschen nicht denkbar, so dass die ökologische Dimension besonders in der modernen Wirtschaft zum drängenden ethischen Problem geworden ist. 10 Diese hier skizzierten allgemeinen Problemfelder betreffen alle Formen des Wirtschaftens sowie alle Produktbereiche und Dienstleistungen. Von daher ist es zunächst einmal irrelevant, von welcher Art der Bedürfnisbefriedigung innerhalb der Wirtschaft die Rede ist. Ziel aller ökonomischen Aktivitäten ist die Versorgung mit Gütern, die der Erhaltung des menschlichen Daseins dienen und zu einer menschenwürdigen Lebensführung beitragen sollen. 11 Ein wesentliches Charakteristikum für das Entstehen 8 Während in der ersten Auflage (1993) des gesundheitswissenschaftlichen Handbuches von Hurrelmann / Laaser noch kein eigenständiger Beitrag zur ethischen Problematik des Gesundheitswesens bzw. der Gesundheitswissenschaften enthalten ist, werden in der Neuauflage (1998) grundlegende Fragestellungen der Ethik im Rahmen gesundheitswissenschaftlicher Forschung ausdrücklich - wenn auch nur in einem sehr allgemeinen und einführenden Verständnis - erörtert. Vgl. dazu Bittner; Rüdigerl Heller; Sonja, Ethik in den Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim 1München 1998, 425 - 440. Diese Tatsache bedeutet gleichwohl nicht, dass ansonsten die Ethik in der ersten bzw. in der zweiten Auflage bei Hurrelmann 1Laaser gar nicht bzw. nicht weiter vorkommt. Eine so genannte inhärente Ethik lässt sich bereits in den Artikeln nachweisen, die sich mit gesundheitspolitischen, gesundheitsökonomischen sowie gesundheitsrechtlichen Problemkreisen beschäftigen. 9 Korff, Wilhelm, Konstitutive Bauelemente moderner Wirtschaftsethik. Neue Dimensionen der bedürfnisethischen Frage, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,30. IO Vgl. Korff, Konstitutive Bauelemente moderner Wirtschaftsethik, 30/31. Vgl. dazu auch Korff, Wilhelm, Orientierungslinien einer Wirtschaftsethik, in: Hunold, Gerfried W.I ders. (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, München 1986, 78 - 80.

3 Bohnnann

34

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

wirtschaftlicher Prozesse und Ordnungen ist der Knappheitsfaktor, der in der oben genannten Begriffsbestimmung von Korff noch nicht expressis verbis enthalten ist. Wirtschaft kann also erst dort entstehen, wo Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht in ausreichender Weise vorhanden sind. Knappheit meint, dass "aufgrund nur begrenzt verfügbarer Ressourcen nicht alle angestrebten Ziele verwirklicht werden können.,,12 Freie Güter, die im Überfluss da sind, gehören demzufolge nicht zum Bereich des menschlichen Wirtschaftens. In einem "Schlaraffenland" muss der Mensch also nicht wirtschaften, keine Kosten-Nutzen-Betrachtungen anstellen und keine ökonomische Ordnungs struktur etablieren. Aufgrund der Knappheitsproblematik, die alle Gesellschaften und Zivilisationen zu lösen haben, stellt sich die wirtschaftsethische Frage, denn wenn Güter und Dienstleistungen nicht beliebig vorhanden sind, müssen sie nach bestimmten Kriterien verteilt werden. Die Ökonomie spricht hier von der Allokation knapper Güter oder Ressourcen, die sowohl gerecht als auch effizient sein sollte. 13 Mit der Allokationsproblematik werden aber gleichzeitig normative Fragen angesprochen: Wer soll welche Güter erhalten und damit seine spezifischen Bedürfnisse befriedigen? Welche Bedürfnisse sollen vorrangig befriedigt werden? Welchen quantitativen Umfang sollen die Güter zur Bedürfnisbefriedigung haben? Nach welchen Kriterien sollen knappe Güter verteilt werden? Das hier genannte Hauptproblern der Ökonomie, also die Ressourcenknappheit, beherrscht ebenso das Gesundheitswesen und ist der zentrale Streitpunkt innerhalb der gegenwärtigen öffentlichen und politischen Diskussion. 14 Gesundheitsökonomik beschäftigt sich - um es auf eine simple Formel zu bringen - mit der Knappheit von Ressourcen, die der Gesundheit dienen. 15 Solche Ressourcen sind einerseits Gesundheitsgüter, also produzierte Waren zur Erhaltung von Gesundheit bzw. zur Bekämpfung von Krankheit, und andererseits Gesundheitsleistungen, also Dienstleistungen im Bereich der Gesundheitsversorgung. Gesundheitsgüter und Gesundheitsleistungen werden von Konsumenten, die diese benötigen, nachgefragt und von Produzenten angeboten. 16 Gesundheit erweist sich somit einerseits als ein menschliches Bedürfnis und andererseits als ein wirtschaftliches Gut. Das Spezifikum einer ökonomischen Betrachtungsweise von Ge11 Vgl. Nell-Breuning, Oswald von I Sacher; Hennann, Wirtschaft, in: Wörterbuch der Politik, 4. Heft, Freiburg 1949,2. 12 Suchanek, Andreas, Knappheit, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/Basel/Wien 1993,518. 13 Vgl. Cansier; Dieter, Allokation: I. Ressourcenökonomisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 113. 14 Vgl. Oberender; Peterl Hebborn, Ansgar, Allokation: 2. Gesundheitsökonomisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,116. 15 Vgl. Herder-Domeich, Philipp, Gesundheitsökonomik. Systemsteuerung und Ordnungspolitik im Gesundheitswesen, Stuttgart 1980, I. 16 Vgl. Herder-Domeich, Gesundheitsökonomik, I.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

35

sundheit liegt lediglich im Gegenstand, da ansonsten alle ökonomischen Ansätze und Theorien, die für knappe Wirtschafts güter gelten, auch hier Anwendung finden. In diesem Sinne werden in der gesundheitsökonomischen Forschung allgemeine Modelle der Ökonomik verwendet (z. B. mikroökonomische Verhaltenstheorie, Wettbewerbstheorie, Versicherungstheorie, ökonomische Theorie der Politik).!7 Der Gesundheitsökonom Matthias Graf VOn der Schulenburg definiert seine Disziplin wie folgt: "Gesundheitsökonomik ist einfach die Analyse der wirtschaftlichen Aspekte des Gesundheitswesens, und die Theorie der Gesundheitsökonomik ist die Verwendung VOn Konzepten der ökonomischen Theorie auf Fragen des Gesundheitswesens.,,!8 Mit dieser Beschreibung wird transparent, dass es auch bei jeweils unterschiedlichen Wirtschaftsgütern lediglich nur eine ökonomische Betrachtung geben kann. Demnach sind die Grundbegriffe, methodischen Instrumente und theoretischen Konzeptionen der Wirtschaftswissenschaften auch von genereller Bedeutung für die Beschäftigung mit Gesundheitsgütern und Gesundheitsleistungen. Die fundamentalen Problemstellungen von Angebot und Nachfrage, von Markt und Wettbewerb, von Kosten und Nutzen, von Leistung und Gegenleistung, von Rationalisierung und Effizienz, von Steuerungssystemen und Ordnungsstrukturen, die innerhalb der Ökonomik ihren systematischen RefIexionsort haben, gehören unmittelbar auch zu den Kernfragen der gesundheitsökonomischen Analyse. Wie stehen die einzelnen Elemente, die den ökonomischen Prozess auf dem Gesundheitsmarkt bestimmen, miteinander in Beziehung? Die Nachfrager nach Gesundheitsgütern bzw. Gesundheitsleistungen stehen mit den Produzenten, die dementsprechende Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in einem spezifischen Verhältnis. Wenn im Kontext des Gesundheitswesens von Nachfragern gesprochen wird, dann sind damit nicht nur die klassischen Konsumenten gemeint, also die Patienten, sondern ebenso die Ärzte I Ärztinnen, die ja Gesundheitsleistungen im Namen ihrer Patienten nachfragen. Die ärztliche Nachfragerolle wird insbesondere dort deutlich, wo Ärzte I Ärztinnen ihre Patienten zu Fachärzten I Fachärztinnen, Physiotherapeuten I Physiotherapeutinnen etc. überweisen oder eine Einweisung in den stationären Versorgungsbereich vornehmen. Für die Güter und Leistungen zur Erhaltung der Gesundheit werden Kosten erhoben, die VOn den Versicherungsnehmern bezahlt werden müssen. Die Gesundheitskosten wiederum kommen in der Regel den Anbietern bzw. Produzenten zugute. Anbieter, Nachfrager, Güter bzw. Leistungen sowie Kosten stehen in einem Zusammenhang und prägen den vereinfachten Kreislauf der Gesundheitsversorgung.!9 Dieser Kreislauf sagt aber noch 17 Vgl. Schulenburg, Matthias Graf von der, Die Entwicklung der Gesundheitsökonomie und ihre methodischen Ansätze, in: Schöffski, Oliver/Glaser, Petra/ders. (Hrsg.), Gesundheitsökonomische Evaluation. Grundlagen und Standortbestimmung, Berlin u. a. 1998, 21/22. 18 Schulenburg, Matthias Graf von der, Theorie der Gesundheitsökonomik, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 82 (1993) 74. 19 Vgl. Herder-Domeich, Gesundheitsökonomik, 1.

3*

36

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

nichts darüber aus, nach welchen ökonomischen Steuerungskriterien die Verteilung der Güter bzw. Leistungen erfolgt, wie also die Allokation abläuft. Zwei grundsätzliche idealtypische Allokationsmechanismen werden innerhalb der Wirtschaftswissenschaft zur Lösung dieser Fragen angeboten: (1) Die dezentrale Allokation im Kontext einer marktwirtschaftlichen Ordnung und (2) die zentrale Allokation im Kontext staatlicher Regulierungsmaßnahmen. 2o In vielen Ländern ist die Ordnung des öffentlichen Gesundheitswesens eine Mischform aus beiden hier genannten Steuerungsformen. Bei der marktwirtschaftlich orientierten Steuerung läuft die Allokation über den Markt-Preis-Mechanismus, d. h. unter Wettbewerbsbedingungen, ab. Die Konsumentensouveränität, also das ökonomische Leitbild des mündigen Verbrauchers, ist bei der marktwirtschaftlichen Ordnung im Rahmen des Gesundheitswesens allerdings eingeschränkt, da beispielsweise Markttransparenz als Bedingung für einen funktionierenden Gütermarkt nicht vorhanden ist. Wir haben es hier mit einer unzureichenden Konsumentensouveränität zu tun, da der Patient zum großen Teil auf die Hilfe und das Wissen der Gesundheitsexperten angewiesen ist. Patienten können in den meisten Fällen weder die verschiedenen ärztlichen Angebote qualitativ vergleichen - hierzu fehlt den Betroffenen der Überblick -, noch alle nötigen Informationen über Medikamente oder Therapien selbst zusammentragen?! Rationale Konsumentscheidungen wie bei alltäglichen Gebrauchsgütern sind im individuellen Krankheitsfall, bei dem die physischen und psychischen Potenzen behindert, wenn nicht sogar ganz ausgeschaltet sind, nur schwer möglich. Neben diesen Gründen, die auf ein Marktversagen im Gesundheitswesen hindeuten, impliziert das marktwirtschaftliche Ordnungssystem die grundsätzliche Problematik der Verteilung. Bei einem reinen Markt-Preis-Mechanismus erhalten all jene Individuen optimale Gesundheitsgüter und -leistungen, die über die erforderliche Finanzkraft verfügen, finanziell Schwächere werden folglich benachteiligt. 22 Hier setzt nun die politische Steuerung ein. Gesundheitsgüter werden nicht dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen, sondern der Staat schafft einen gewissen Ausgleich im Sinne von Umverteilungsmaßnahmen. Peter Oberender und Ansgar Hebborn sprechen in diesem Zusammenhang von einer "Re-Distributionspolitik'.23. Das deutsche Gesundheitswesen kann als Mischform beider hier explizierten Allokationsformen bezeichnet werden, da sowohl marktwirtschaftliehe Prinzipien als auch politische Steuerungsmechanismen, die mehr oder weniger zentralistisch getroffen werden, den Gesundheitsmarkt regeln. 24 20 Vgl. Oberenderl Hebborn, Allokation: 2. Gesundheitsökonomisch, 116; Herder-Dorneich, Gesundheitsökonomik, 2. 21 Vgl. Wasem, Jürgen, Gesundheitsökonomie und Versicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 82 (1993) 133. 22 Vgl. Oberenderl Hebborn, Allokation: 2. Gesundheitsökonomisch, 116. 23 Oberenderl Hebborn, Allokation: 2. Gesundheitsökonomisch, 116. 24 Dieser Gedanke wird im weiteren Verlauf der Arbeit konkreter entfaltet.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

37

2. Gesundheitspolitik - der ordnungspolitische Ansatz

Als eine so genannte "Bindestrichpolitik" beschäftigt sich die Gesundheitspolitik mit einem konkreten Handlungsfeld politischer Praxis, nämlich mit dem Gesundheitswesen. Unter Gesundheitspolitik, die überwiegend der Sozialpolitik zuzuordnen ist, versteht man alle Maßnahmen des Staates sowie überstaatlicher Organisationen zur Sicherung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit. 25 Gesundheitspolitische Maßnahmen stehen aber nicht isoliert, sondern haben vielfältige Wechselbeziehungen zu anderen Politikbereichen, so beispielsweise zur Arbeits-, Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Sport-, Verkehrs- und Kommunalpolitik. 26 Aus diesem Grund ist der eher traditionelle Begriff der Gesundheitspolitik - also Gesundheitspolitik im engeren Sinne - von einer umfassenderen "Politik für die Gesundheit" zu unterscheiden. 27 Die Arbeits- und Sozialpolitik sorgt z. B. für die Leistungsfähigkeit und Finanzierung des Gesundheitswesens, die Bildungspolitik regelt u. a. die Ausbildung für die unterschiedlichen Berufe des Gesundheitswesens, die Umweltpolitik trägt z. B. Sorge für den Immissionsschutz und die Abfallbeseitigung, die Sportpolitik unterstützt etwa den Breitensport und trägt damit zur allgemeinen Gesundheitserhaltung bei, die Verkehrspolitik regelt z. B. die Schadstofffreisetzung, die Kommunalpolitik richtet sich beispielsweise auf den Ausbau von Gesundheitsämtern. 28 Nach der angloamerikanischen Dreiteilung des einheitlichen deutschen Politikbegriffs können unterschiedliche Dimensionen der Gesundheitspolitik differenziert werden. Demnach bezieht sich Politik erstens auf politische Ziele (policy), zweitens auf politisches Handeln (politics) und drittens auf politische Institutionen (polity).29 Ziel der Gesundheitspolitik (health policy) ist - allgemein gesprochen - die Verbesserung des Gesundheitszustands bzw. die Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung. Dieses oberste Ziel kann anhand zahlreicher Unterziele konkretisiert werden: z. B. Förderung der Lebensqualität für alle, Förderung der Gesundheit von Kindern, Reduzierung chronischer oder übertragbarer Krankheiten, Bekämpfung bestimmter, häufig auftretender Krankheiten (etwa Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen)30, aber auch der gleiche Zugang zu einer Gesundheits(grund)versorgung, die Gewährleistung eines hohen Maßes an Wahlfreiheit auf dem Gesundheitsmarkt, die Stärkung der Selbstverantwortung hinsichtlich des Umgangs mit Gesundheitsleistungen und -gütern?) Rolf Rosenbrock definiert das Ziel gesundheits25 Vgl. Zdrowomyslaw/ Dürig, Gesundheitsökonomie, 103; Murswieck, Axel, Gesundheitspolitik, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Lexikon der Politik, 3. Bd., München 1992, 129; Thiemeyer; Gesundheitswesen: 1. Gesundheitspolitik, 576. 26 Vgl. Schell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 99. 27 Vgl. Zdrowomyslaw / Dürig, Gesundheitsökonomie, 104. 28 Vgl. Schell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 99. 29 Vgl. Sutor; Bernhard, Kleine politische Ethik, Opladen 1997, 27. 30 Vgl. Zdrowomyslaw / Dürig, Gesundheitsökonomie, 105 / 106. 31 Vgl. Henke / Göpffahrth, Gesundheitswesen: 3. Gesundheitspolitisch/ gesundheitsökonomisch, 142.

38

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

politischer Aktivitäten wie folgt: "Das Ziel von Gesundheitspolitik ist die Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung durch die Minderung krankheitsbedingter Einschränkungen der Lebensqualität und des vorzeitigen Todes. Dies schließt die Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten (Prävention) durch Minderung (pathogener) Belastungen und die Förderung (salutogener) Ressourcen ebenso ein wie die Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung und der Rehabilitation.,,32 Bei der Analyse der Gesundheitsziele ist zunächst wichtig, dass sie sich an einer möglichst patienten- und ergebnisorientierten Krankenversorgung ausrichten. Das heißt, nicht die Finanzierung und die damit verbundene Problematik soll im Vordergrund stehen, sondern die Behandlungsnotwendigkeit. Aber gerade diese beiden Felder machen auf einen Grundkonflikt innerhalb der gesundheitspolitischen Ziele aufmerksam, nämlich zwischen medizinischen Zielen - im Sinne der medizinischen Notwendigkeit - und ökonomischen Zielen - im Sinne eines rationierten Einsatzes von bestimmten Ressourcen. 33 Gesundheitspolitische Ziele stehen aber immer in enger Beziehung zu den Institutionen des Gesundheitswesens, in denen diese Ziele realisiert werden, und zu den politisch Handelnden, die innerhalb politischer Prozesse gesundheitspolitische Vorstellungen oder Programme umsetzen. Gesundheitspolitisches Handeln (health politics) ist in den meisten Fällen das Resultat von politischer Macht oder auch von Kompromissen zwischen verschiedenen Interessengruppen, die nach einer konkreten Lösung suchen. Auch wenn das Gesundheitswesen durch Institutionen getragen wird, arbeiten in diesen Einrichtungen Menschen, die diese innerhalb eines politischen Prozesses gestalten. Verantwortungsträger der Gesundheitspolitik sind im engeren Sinne alle politischen Akteure (im Rahmen der Institutionen des Bundes, der Länder sowie kommunale und internationale Institutionen), die für die Gesundheitsversorgung, Gesundheitssicherung und die Verbesserung des Gesundheitszustandes institutionell eintreten und bestimmte gesellschaftspolitische Ziele vertreten. Im weiteren Verlauf der Arbeit (in Kap. C) wird die Struktur des deutschen Gesundheitswesens erläutert, und es werden die Akteure der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung, der Gesundheitspolitik sowie die Akteure der freien Wohlfahrtspflege und der Laien- und Selbsthilfeorganisationen vorgestellt. Bezogen auf die genannten Akteure kann man Gesundheitspolitik folglich auch im weiteren Sinne verstehen, da nicht nur Sozial- und Gesundheitspolitiker, Gesundheitsminister, politische Parteien gesundheitspolitische Ziele verfolgen und umzusetzen versuchen, sondern ebenso die Interessengruppen der Leistungserbringer, der Pharmaunternehmen, der Wohlfahrtsverbände. Auch die Laien- und Selbsthilfeorganisationen verfolgen eine bestimmte Politik und versuchen politische Entscheidungen zu beeinflussen. 32 Rosenbrock, Rolf, Gesundheitspolitik, in: Hurrelrnann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998, 707. 33 Vgl. Henke I Göpffahnh, Gesundheitswesen: 3. Gesundheitspolitisch I gesundheitsökonomisch, 142.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

39

Innerhalb der Gesundheitspolitik ist die Gestaltung der gesundheitspolitischen Ordnung (health polity), die sich vor allem in den Institutionen der Gesundheitssicherung verwirklicht, von zentraler Bedeutung. Gesundheitspolitik im Sinne dieser Politikdimension setzt die Rahmenordnung für alle Aktivitäten der Gesundheitsberufe - besonders aber der wirtschaftlichen -, der Patienten bzw. Versicherten, der Krankenhausträger, der Krankenkassen, der Pharmaunternehmen, der Apotheken etc., so dass das gesundheitspolitische Grundziel, die Gesundheit der Bevölkerung bestmöglich zu erhalten, erreicht werden kann?4 Gestaltung der Gesundheitspolitik - basierend auf wissenschaftlichen Daten zum Gesundheitswesen35 - bedeutet immer auch die Implementierung institutioneller Steuerungsmaßnahmen. Solche Maßnahmen, die das Gesundheitswesen weitreichend reglementieren, beeinflussen Angebot und Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt; weiterhin bestimmen gesundheitspolitische Maßnahmen die Inanspruchnahme von Gesundheitsgütern sowie deren Produktion; ebenso wird die Distribution von Gesundheitsgütern beeinflusst. 36 Hinsichtlich der staatlichen Steuerung des Gesundheitswesens können verschiedene gesundheitspolitische Ordnungsmodelle unterschieden werden: (1) das wirtschaftsliberale Modell (ursprünglich in Großbritannien, zur Zeit hauptsächlich in den USA, Australien und Neuseeland), das das Gesundheitswesen primär der Logik der Marktwirtschaft unterwirft; (2) das konservative Modell oder Mischmodell (insbesondere in den kontinentaleuropäischen Ländern, wie Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien), das einerseits auf einer staatlichen und andererseits auf einer unternehmerorientierten Gesundheitssicherung basiert; (3) das sozialdemokratische Modell (hauptsächlich in den skandinavischen Ländern und Großbritannien), das eine weitgehend staatliche Gesundheitsversorgung vorsieht. 37 3. Medizinrecht - der rechtspolitische Ansatz

Unter dem Begriff Medizinrecht versteht man eine interdisziplinäre Verbindung zwischen medizinischen und rechtlichen Fragen, wobei im Vordergrund der zahlreichen medizinrechtlichen Regelungen die Gestaltung des Gesundheitswesens 34 Vgl. Metze, Ingolf, Gesundheitspolitik. Ökonomische Instrumente zur Steuerung von Angebot und Nachfrage im Gesundheitswesen, Stuttgart u. a. 1982,9. 35 Sozialmedizinische, epidemiologische und strukturelle Daten zum Gesundheitswesen werden in der Gesundheitsberichterstattung zusammengefasst, damit die Gesundheitspolitik fundiertes Zahlenmaterial für Entscheidungen erhält. Während andere Länder, wie Großbritannien, USA, die skandinavischen Länder, eine langjährige und ausgebaute Gesundheitsberichterstattung vorweisen können, befindet sich Deutschland hinsichtlich solcher Daten noch in den Kinderschuhen. Vgl. Rosenbrock, Gesundheitspolitik, 717. Der erste umfassende Gesundheitsbericht des Bundes, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, erschien 1998. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1998. 36 Vgl. Thiemeyer; Gesundheitswesen: I. Gesundheitspolitik, 576-580. 37 Vgl. Rosenbrock, Gesundheitspolitik, 711 /712.

40

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

steht, das als Ganzes für den Schutz der menschlichen Gesundheit einzustehen hat. 38 Für das Medizinrecht - und das Recht allgemein - ist zentral, dass hinter rechtlichen Bestimmungen immer nonnsetzende, nonnverwaltende und nonnexekutierende Verantwortungsträger zu finden sind. Medizinrechtliche Nonnen werden demzufolge erzwungen, das heißt, sie werden mit Sanktionsinstrumenten durchgesetzt. 39 Von einer rechtlichen Ausgestaltung im Gesundheitswesen sind Personen - im Sinne der im Gesundheitswesen arbeitenden Personengruppen -, Institutionen, Behandlungsmethoden und Gegenstände betroffen.4o Dabei meint man mit Personen zum einen die Leistungserbringer (Ärzte / Ärztinnen und Angehörige anderer Heilberufe) und zum anderen die Leistungsempfänger (Patienten/ Versicherte). Häufig ist in der Literatur statt von Medizinrecht auch vom Arztrecht die Rede, wenngleich diese Umschreibung das gesamte medizinische Problemfeld nur unzureichend und einseitig erfasst. Der Begriff Arztrecht wurde ca. seit den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts verstärkt gebraucht und betont nicht so sehr den Patienten und seinen rechtlichen Status, sondern den Arzt und seine Nonnen. 41 Albin Eser spricht in diesem Zusammenhang von einer arztzentrierten Betrachtungsweise, "die den Patienten mehr als Objekt der (Be-)Handlung und weniger als (rechtlich) gleichgeordnetes Subjekt des Behandlungsverhältnisses begreift. ,,42 Weiterhin beschäftigt sich das Medizinrecht mit der rechtlichen Ordnung der Institutionen des Gesundheitswesens (z. B. Krankenhäusern, Krankenkassen), mit (neuen) medizinischen Behandlungsmethoden, die zum Beispiel bei neuen Krankheiten eingesetzt werden, aber auch mit Arzneimitteln und medizintechnischen Gegenständen. 43 Die verschiedenen nonnativen Regeln, die das (deutsche) Gesundheitsrecht bilden, umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Gesetze, die die oben genannten Bezugselemente in den Blick nehmen. 44 So gehören beispielsweise zum Berufsrecht 38 Vgl. Koch, Hans-Georg, Medizinrecht, in: Eser, Albin I Lutterotti, Markus von I Sporken, Paul (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg/BasellWien 1989,726. 39 Vgl. Korff, Wilhelm, Grundfragen einer Ethik des Rechts, in: Faulhaber, Theo I Stillfried, Bernhard (Hrsg.), Auf den Spuren einer Ethik von morgen, Freiburg 200 1, 27. 40 Vgl. Koch, Hans-Georg, Medizinrecht, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,663/664. 41 Vgl. Laufs, Adolf, Arzt und Recht im Wandel der Zeit, in: Eser, Albin (Hrsg.), Recht und Medizin, Darmstadt 1990, 387/388. Arztrecht wird wie folgt definiert: "Das Arztrecht umfaßt die Summe der Rechtsnormen, unter denen der Arzt und seine Berufstätigkeit stehen. Es erscheint freilich weder in einem abgeschlossenen System noch in einer umfassenden Kodifikation, wenngleich einzelne Berufsgesetze und besondere Satzungen erlassen sind. Immerhin erhalten die großen Zivil-, Straf- und Verfahrensgesetze verstreute Vorschriften, die sich im besonderen an den Arzt richten." Laufs, Adolf, Arztrecht, München 51993, 13. 42 Eser, Albin, Beobachtungen zum "Weg der Forschung" im Recht der Medizin. Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Recht und Medizin, Darmstadt 1990,6. 43 Vgl. Koch, Medizinrecht (1989), 726. 44 Vgl. zur Übersicht der wichtigsten Gesetze im deutschen Gesundheitswesen Backes, Ottol Stebner, Frank A., Gesundheitsrecht, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998, 753 - 777.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

41

die Bundesärzteordnung, das Heilpraktikergesetz, die Bundesapothekenverordnung, Richtlinien anderer Heilberufe (etwa für Berufe in der Krankenpflege). Die Arzneimittelsicherheit wird mit dem Arzneimittelgesetz, mit dem Betäubungsrnitteigesetz und - was den Arzneirnittelmarkt betrifft - mit dem "Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens" (Heilrnittelwerbegesetz) geregelt. Das Bundesseuchengesetz, das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten sowie verschiedene Regelungen zur Immunschwächekrankheit AIDS bilden die normativen Grundlagen für die Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Besonders aufgrund neuer medizinischer Technologien wird das Medizinrecht in der technisch-wissenschaftlichen Kultur herausgefordert. Hier ist beispielsweise das "Gesetz zur Regelung der Gentechnik" (1993) und das "Gesetz zum Schutz von Embryonen" (1990) zu nennen, die dem wissenschaftlichen und ärztlichen Handeln deutliche Grenzen ziehen. Auch das Transplantationsgesetz (1997) ist das Resultat des medizinisch-technischen Fortschritts. Damit will der Gesetzgeber die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen zum Zweck der Transplantation auf andere Menschen sowohl zivil- als auch strafrechtlich regeln und die Tätigkeit von Transplantationszentren unter juristischen Gesichtspunkten ordnen. Nach dem Gesetz ist in Deutschland der Handel mit zu transplantierenden Organen verboten. 45 Ein weiterer großer Bereich des Medizinrechts befasst sich mit der rechtlichen Struktur des Systems der Krankenversicherung. Kriterien für Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung finden sich vorrangig im V. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) sowie in den Reformgesetzen der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier wird exemplarisch deutlich, dass die einzelnen Disziplinen der Gesundheitswissenschaften nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern ineinander greifen und sich gegenseitig bedingen. Rechtliche Regelungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung sind immer abhängig von gesundheitspolitischen Diskussionen und Entscheidungen. In diesem Kapitel wurden erste, allgemeine Themenfelder des Medizinrechts skizziert. Im fünften Kapitel (E) der Arbeit werden dann medizinrechtliche Fragen in besonderer Weise anband der Juridisierung der Arzt-Patienten-Beziehung behandelt. 4. Gesundheitssoziologie der gesellschaftswissenschaftliehe Ansatl6

Nach Karl M. Bolte ist Soziologie eine Wissenschaft, die sich mit den Erscheinungsformen, Bestimmungsgründen und Wirkungen menschlichen Mit- und Vgl. Backes / Stebner; Gesundheitsrecht, 769 - 771. Im Vergleich zu A.U (Gesundheitsökonomik), A.1.2 (Gesundheitspolitik) und A.I.3 (Medizinrecht) wird der wissenschaftliche Ansatz der Gesundheitssoziologie ausführlicher entfaltet. Dies gründet in der Beobachtung, dass vor allem die Soziologie auf die Verschränkung von individueller Gesundheit (bzw. Krankheit) und Strukturgestalt des Gesundheitswesens aufmerksam macht und hier Probleme andeutet, die für die folgenden ethischen Reflexionen des Gesundheitswesens wichtig sind. 45

46

42

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Gegeneinanders beschäftigt. 47 Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des Faches haben sich Soziologen und Soziologinnen mit unterschiedlichen Gegenstandsbereichen befasst, bei denen das Mit- und Gegeneinander von Menschen mit jeweils unterschiedlichen Forschungsanliegen betrachtet wurde. 48 Die klassische Definition von Max Weber richtet den Blick auf die zentrale Kategorie "soziales Handeln" und führt damit einen wichtigen Ansatzpunkt soziologischer Problembeschreibung ein: "Soziologie [ ... ] soll heißen eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären Will.,,49 Menschen handeln immer dann sozial, wenn sie einerseits mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden und wenn ihr Handeln andererseits auf das Verhalten anderer bezogen ist. Soziales Handeln orientiert sich demnach am Anderen oder hat direkte Auswirkungen auf das Leben anderer. 50 Innerhalb der soziologischen Diskussion gibt es verschiedene Vorschläge, wie man jene Bindestrichsoziologie bezeichnen soll, die die Thematik Krankheit und Gesundheit zu systematisieren versucht. Herkömmlicherweise werden in der akademischen Debatte in Deutschland die Begriffe Medizinische Soziologie und Medizinsoziologie bzw. Soziologie der Medizin verwendet. 51 Diese Termini fokussieren aber aus soziologischer Perspektive zu sehr den medizinischen Sektor und die medizinische Versorgung der Bevölkerung, wie Hurrelmann betont.52 Aus diesem Grund vermeidet er den Begriff Medizinsoziologie und ähnliche Wortschöpfungen und befürwortet mit dem Ausdruck Gesundheitssoziologie eine Bezeichnung, die stärker einen positiven Gesundheitsbegriff betont und die die soziologische Erforschung von Gesundheitsstörungen sowie die Analyse des Gesundheitssystems berücksichtigt. 53 Bereits George Rosen schlägt in seiner sozialhistorischen Untersuchung über die Medizin vor, statt von Medizinischer Soziologie von Soziologie der Gesundheit zu sprechen, da seiner Ansicht nach mit einer solchen Bezeichnung das Gesundheitswesen und die gesellschaftlichen bzw. medizinischen Aspekte von 47 Vgl. Bolte, Karl M., Der achte Sinn. Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, Bad Harzburg 1971, 18. 48 Vgl. al1gemein zur geschichtlichen Entwicklung der Soziologie und der damit verbundenen Forschungsfragen Klages, Helmut, Geschichte der Soziologie, München 1969; Korte, Hermann, Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opladen 21993; Mikl-Horke, Gertraude, Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, München! Wien 41997; Schoeck, Helmut, Geschichte der Soziologie. Ursprung und Aufstieg der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, Freiburg 1974; Wiese, Leopold von, Geschichte der Soziologie, Berlin 91971. 49 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, Tübingen 51985, 1. 50 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. 51 Vgl. z. B. Hillmann, Karl-Heinz, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 41994,538-540; Ridder, Paul, Einführung in die Medizinische Soziologie, Stuttgart 1988. 52 Vgl. Hurrelmann, Gesundheitssoziologie, 9. 53 Vgl. Hurrelmann, Gesundheitssoziologie, 8!9.

1. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

43

Gesundheit und Krankheit stärker Berücksichtigung finden. 54 Medizinische Soziologie wird in Deutschland primär im Kontext der medizinischen Ausbildung betrieben und gehört zu den kanonisierten Lehr- und Prüfungsfachern zukünftiger Ärzte und Ärztinnen. 55 Aufgrund dieser Art der "Okkupierung" soziologischer Fragen innerhalb der Medizin scheint der Ausdruck Medizinsoziologie durchaus verständlich. Als weiterer Tenninus ist im englischsprachigen Raum die Rede von Sociology 0/ Health and Illness,56 womit der Akzent auf die sozialen Dimensionen sowohl von Gesundheit als auch von Krankheit gelegt wird. Im Folgenden soll die soziologische Beschäftigung mit Gesundheits- bzw. Krankheitsproblemen mit dem Tenninus Gesundheitssoziologie betitelt werden. Als Bereichssoziologie erlaubt dieser Begriff anhand sozialwissenschaftlicher Methoden und Theorien die Analyse des institutionell verfassten Gesundheitswesens sowie die gesellschaftliche Bestimmung von Gesundheit und Krankheit am besten. 57 Es lassen sich vier Gegenstandsbereiche der gesundheitssoziologischen Forschung klassifizieren: (1) Konzeption von Gesundheit und Krankheit, (2) gesellschaftliche Bedingungen für den Gesundheits- und Krankheitszustand der Bevölkerung, (3) interaktions- und rollentheoretische Überlegungen, (4) Struktur, Funktion und Wandel der Institutionen des Gesundheitswesens.

Konzeption von Gesundheit und Krankheit: Das, was eine Gesellschaft als gesund oder krank bezeichnet, obliegt nicht nur biologischen Prozessen, sondern ist in den meisten Fällen abhängig von gesellschaftlichen Leitbildern, Normen und besonders gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen. Demzufolge kann man davon ausgehen, dass in verschiedenen Gesellschaften bzw. kulturellen Epochen jeweils andere Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit diskutiert wurden. Vor allem in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation haben die Fortschritte in der Medizin den Definitionsbereich von Krankheit und Gesundheit auffällig ausgedehnt. Als Beispiel kann hier die Reproduktionsmedizin genannt werden, die nicht nur dabei hilft, den "unfruchtbaren" Körper in einen "fruchtbaren" zu verwandeln, sondern die diese Art der Unfruchtbarkeit auch indirekt als "Krankheit" bezeichnet. Das Problem der Machbarkeit von Fruchtbarkeit impliziert zahlreiche ethische und sozialpsychologische Fragestellungen, die von verschiedenen Wissenschaften (z. B. Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft, Theologie, Philosophie) aufgegriffen und reflektiert werden. Die Soziologie hat sich mit Konzeptionen und ZuschreibuRgsprozessen individueller sowie sozialer Identitäten schon im54 Vgl. Rosen, George, Die Entwicklung der sozialen Medizin, in: Deppe, Hans-Ulrichl Regus, Martin (Hrsg.), Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt a.M. 1975, 121. 55 Vgl. Kaupen-Haas, Heidrun, Medizinische Soziologie, in: Korte, Hermann 1Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Praxisfelder der Soziologie, Opladen 21997, 98. 56 Vgl. dazu beispielsweise MarshalI, Gordon (Ed.), The Concise Oxford Dictionary of Sociology, Oxford/New York 1994,211 1212. 57 Vgl. Pflanz. Manfred, Medizinsoziologie, in: König, Rene (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, 14. Bd., Religion, Bildung, Medizin, Stuttgart 21979, 238.

44

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

mer intensiv beschäftigt. Besonders durch den Beitrag der Schule des Symbolischen Interaktionismus kann gezeigt werden, dass die Rede von Krankheit und Gesundheit in vielen Fällen von der Definitionsmacht gesellschaftlicher Agenten und Institutionen abhängig ist. 58

Gesellschaftliche Bedingungen für den Gesundheits- und Krankheitszustand: Weiterhin ist aus soziologischer Perspektive zu berücksichtigen, dass Gesundheit und Krankheit nicht allein von so genannten personalen Faktoren, wie Alter, Geschlecht, genetischen Dispositionen etc., abhängen, sondern im Wesentlichen auch von sozialen Einflüssen sowie gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. 59 Somit können als weitere Einwirkungsfaktoren für den Gesundheits- und Krankheitszustand Bildungsgrad, Lebensgewohnheiten (z. B. Fehlernährung, Zigarettenoder Alkoholkonsum, Bewegungsmangel) und Bewältigungskompetenz individueller Krankheitserfahrungen genannt werden. Neben diesen eher personalen Faktoren sind zudem soziale Ursachen zu diagnostizieren, zu denen u. a. wirtschaftliche Lage, Wohnverhältnisse, Sicherheit im Straßenverkehr, soziale Integration,60 Umweltqualität, Arbeitsanforderungen, Arbeitsschutz, Betriebsklima und Ausgestaltung privater Lebensformen (Partnerbeziehung, Familienstand) gehören. Schließlich ist die Struktur des Gesundheitswesens zum Beispiel in Form der Erreichbarkeit, Zugänglichkeit und Verteilung medizinischer Leistungen und Güter direkt daran beteiligt, welchen Gesundheits- und Krankheitszustand eine Bevölkerung aufweist. Besonders dieser letzte Punkt macht auf die besondere Brisanz einer sozialethischen Analyse des Gesundheitssystems aufmerksam, da Fragen der Verteilung von Leistungsangeboten in der Medizin immer auch Gerechtigkeitsprobleme berühren und somit normative Assoziationen wecken. Interaktions- und rollentheoretische Überlegungen: Ein weiteres Feld der gesundheitssoziologischen Forschung bezieht sich auf handlungstheoretische Fragen im Gesundheitswesen, wobei der soziologischen Rollentheorie 61 , die sich mit der Rolle des Arztes / der Ärztin und des Kranken bzw. Patienten befasst, eine besondere Bedeutung zukommt. Der Rollenbegriff gehört seit den 1950-er/ 1960-er Jahren zu den zentralen Kategorien innerhalb der Soziologie in Deutschland, wobei die Diskussion hierzulande mit der klassischen Studie "Homo sociologicus" von 58 Vgl. Siegrist, Johannes, Medizinische Soziologie, München/Wien/Baltimore 51995, 18/19. 59 Vgl. hierzu die Übersicht bei Hurrelmann, Gesundheitssoziologie, 11/12; Bandura, Bernhard/ Strodtholz, Petra, Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim/München 1998,145-174. 60 Die erste medizin- oder gesundheitssoziologische Arbeit, die empirisch und theoretisch angelegt war, wurde von Emile Durkheim verfasst, der in seiner klassischen Studie über den Selbstmord individuelles Leiden mit der gesellschaftlichen Integration des Einzelnen in Beziehung gesetzt hat. Vgl. Durkheim, Emile, Der Selbstmord, Neuwied 1973. 61 Vgl. zur Einordnung der Rollentheorie innerhalb der soziologischen Theoriebildung Käsler, Dieter, Wege in die soziologische Theorie, München 1974.

1. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

45

Ralf Dahrendorf anfing. 62 Aber bereits vor ihm wurden innerhalb der US-amerikanischen Soziologie rollentheoretische Konzepte entwickelt, die mit den Namen George H. Mead63 und Ralph Linton64 verbunden sind. Nach Hans P. Bahrdt sind soziale Rollen Bündel von speziellen Verhaltenserwartungen, "die von einer Bezugsgruppe (oder mehreren Bezugsgruppen) an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden. Von den Positionsinhabern wird erwartet, daß sich aus der Erfüllung der speziellen Normen regelmäßiges und daher voraussehbares Verhalten ergibt, auf das sich das Verhalten anderer Menschen, die ihrerseits gleichartige oder andere Positionen innehaben (dementsprechend gleichartige oder andere Rollen spielen) einstellen kann. Hierdurch wird regelmäßige und kontinuierlich planbare Interaktion möglich. ,,65 Bei der Rollentheorie handelt es sich also um eine theoretische Perspektive, die Verhaltenserwartungen an Gesellschaftsmitglieder bzw. an Positionsinhaber betont. Wer diese Erwartungen einfordert, sind allgemein gesprochen - die anderen Gesellschaftsmitglieder, im Speziellen aber handelt es sich um die Bezugsgruppen, die nicht nur die Erwartungen formulieren, sondern auch deren Erfüllung kontrollieren und gegebenenfalls Sanktionen aussprechen. Wichtig ist, dass die Verhaltenserwartungen zwar an Individuen herangetragen werden, sie sich aber auf die Positionen beziehen, die die Individuen einnehmen. Die "Individualität" des Individuums ist demnach für die Rollentheorie gleichgültig, es zählt nur die Position, also die Stellung innerhalb der Gesellschaft; das Individuum wird zum Positionsträger typisiert. Mit jeder Position gibt die Gesellschaft dem Gesellschaftsmitglied eine soziale Rolle an die Hand, die es zu spielen hat. Zu einem Individuum gehören aber immer verschiedene Positionen, demzufolge muss es auch verschiedene Rollen spielen, man spricht hier von einem Rollenbündel (role-set). Aus der Tatsache, dass Menschen mehrere Rollen gleichzeitig besetzen, resultieren häufig Rollenkonflikte (besser gesagt Interrollenkonflikte).66 Die Rollentheorie kann für die Gesundheitssoziologie insofern fruchtbar sein, als die Rollenerwartungen und die damit verbundenen Interaktionen zwischen verschiedenen Rollenträgern im Zentrum stehen. Zwei Rollen stehen vor allem im Mittelpunkt des Gesundheitswesens: Arzt und Patient. 67 Obwohl es im Gesundheitssystem noch zahlreiche andere Akteure und Rollen gibt, bilden Arzt- und Patientenrolle den Kern verschiedener Erwartungshaltungen im Rahmen institutiona62 Vgl. Dahrendorf, Ralf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen 15 1977. 63 Vgl. Mead, George H., Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M. 8 1991. 64 Vgl. Linton, Ralph, The Study of Man. An Introduction, New York 1London 1936. 65 Bahrdt, Hans P., Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 31987, 67. 66 Vgl. Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie, 68-72; Mikl-Horke, Soziologie, 228/229. 67 Vgl. Heim, Nikolaus, Arzt und Patient, in: Schuller, Alexander 1ders.l Halusa, Günter (Hrsg.), Medizinsoziologie. Ein Studienbuch, Stuttgart 1Berlin 1Köln 1992,98-103; Pflanz, Medizinsoziologie, 253 - 257.

46

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

lisierter Gesundheitsleistungen, die entweder - wie beim Arzt - angeboten, oderwie beim Patienten - konsumiert werden. Wichtige Überlegungen zur Rolle des Kranken in der Gesellschaft stammen von Talcott Parsons, die er im Rahmen seiner Handlungstheorie bereits in den 1950-er Jahren vorgetragen hat. 68 Für seinen auch heute noch diskutierten Ansatz ist entscheidend, dass der Gesunde bei einer auftretenden Krankheit eine neue gesellschaftliche Rolle, nämlich die Krankenrolle 69 , zugeschrieben bekommt, die man wie folgt charakterisieren kann: (I) Der Kranke wird von den normalen und alltäglichen Rollenverpflichtungen befreit, weil seine Rolle neue Handlungsmuster verlangt. (2) Der Kranke wird weitgehend entbunden von der Verantwortung für seinen Zustand. (3) Krankheit entspricht nicht der sozialen Norm und ist sozial unerwünscht. Damit wird vom Kranken erwartet, dass er gesund wird, dass er zumindest an seiner Gesundheit "arbeitet". (4) Eine Krankheit zu haben bedeutet, auf die Hilfe von Spezialisten angewiesen zu sein und sich fachkundiger Hilfe zu übergeben. In diesem Sinne verlangt die Krankenrolle eine Kooperation mit den professionellen Gesundheitsexperten. Besonders der letzte Punkt macht darauf aufmerksam, dass der Kranke auf die Interaktion mit den im Gesundheitswesen Beschäftigten angewiesen ist, um seine Gesundheit wiederherzustellen. Vor allem der Arzt! die Ärztin muss als direkter Ansprechpartner des Kranken gesehen werden. Aufgrund der Interaktionen zwischen Arzt/ Ärztin und Kranken kann man von einer ,,komplementären Rollenstruktur,,70 sprechen. Die Arztrolle charakterisiert Parsons ebenfalls mit vier Merkmalen: 71 (1) Der Arzt / die Ärztin verfügt über ausreichende fachliche Kompetenz, die aber gleichzeitig ein universelles medizinisches Wissen impliziert. Zur Arztrolle gehört die funktionale Spezifität (im Unterschied zur funktional-diffusen Orientierung). (2) Das therapeutische Handeln des Arztes / der Ärztin muss universal ausgerichtet sein, das heißt, dass er / sie allen Menschen, die seine / ihre Hilfe benötigen, beistehen soll, ohne Unterschiede individueller Merkmale (wie etwa Geschlecht, Alter, Schicht, Nationalität, Religionszugehörigkeit). (3) Weiterhin verlangt die Arztrolle ein großes Maß an emotionaler Neutralität gegenüber den Patienten. So dürfen weder persönliche Sympathien noch Antipathien des Arztes / der Ärztin das Handeln zu stark beeinflussen. (4) Der Arzt / die Ärztin ordnet während der Berufsausübung seinelihre privaten Interessen dem Beruf unter und nimmt z. B. längere Arbeitszeiten bei besonderen Problemen (Operationen) in Kauf; es geht ihm/ihr im Kern 68 Vgl. Parsons, Struktur und Funktion der modemen Medizin, in: König, RenetTönnesmann, Margaret (Hrsg.), Probleme der Medizin-Soziologie. Sonderheft 3 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln/Opladen 1958, 10-57; Parsons, Talcott, The Social System, New York/London 1951,439-447. 69 In dieser Arbeit werden die Begriffe Kranke und Patient bzw. Krankenrolle und Patientenrolle synonym gebraucht. 70 Pflanz, Medizinsoziologie, 254. 71 Vgl. Parsons, Struktur und Funktion der modemen Medizin, 10-57; Parsons, The Social System, 447 -463.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

47

um den Einsatz für andere. Demnach fordert die Arztrolle keine Selbstorientierung, wie das beim gewinnstrebenden Unternehmer der Fall ist, sondern eine Kollektivorientierung. Mit diesen charakterisierenden Kennzeichen (fachliche Kompetenz bzw. funktionale Spezifität, Universalismus, emotionale Neutralität, Kollektivorientierung) hat Parsons typische Orientierungsmuster für das Handeln des Arztes / der Ärztin im Kontext des institutionalisierten Rollenhandelns erarbeitet. Diese Charakteristika entsprechen den so genannten pattern variables von Parsons, die zu seinen großen handlungstheoretischen Grundbegriffen und zum Kernbestand der soziologischen Kategorienlehre gehören. 72 Das Verhältnis zwischen Arzt / Ärztin und Patient kann aus soziologischer Perspektive als eine "strukturell asymmetrische soziale Beziehung,,73 gedeutet werden. Das heißt, dass die hier anzutreffenden Interaktionen durch unterschiedliche Macht- und Herrschaftsstrukturen gekennzeichnet sind. Aufgrund der Position, dass der Arzt! die Ärztin Experte und der Patient in der Regel Laie und unwissend ist, was seine Krankheit anbelangt, hat man es hier mit einem ungleichem Machtverhältnis zu tun. Die Arztrolle verleiht dem Spezialisten des Heilens somit weitreichende Handlungsmöglichkeiten, die der Patient nicht durchschauen kann; der Arzt / die Ärztin besitzt Expertenmacht. 74 Während die Krankenrolle vom Kranken verlangt, dass der Betreffende zum Arzt / zur Ärztin geht und mit ihm / ihr kooperiert, besitzt der Arzt/ die Ärztin die weitgehende Definitionsmacht über den Kranken (z. B. Diagnoseerstellung, Krankschreiben, Therapieren, Weiterüberweisen)?5 Fachliche Kompetenz, funktionale Spezialisierung und herausragender sozialer Status ermöglichen dem Arzt! der Ärztin weiterhin die Ausübung von Steuerungsmacht über Patienten. Das kann so aussehen, dass diese lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, dass der Arzt / die Ärztin weitere Sprechstundentermine bestimmt oder er / sie dem Patienten nur wenig Behandlungszeit gewährt?6 Damit wird deutlich, dass Experten-, Definitions- und Steuerungsmacht des Arztes / der Ärztin eine ungleiche Beziehungsstruktur aufbauen, die zwar einerseits "in der Natur" der institutionalisierten Arztrolle liegt, die aber andererseits dem Arzt! der Ärztin - ge72 Parsons hat fünf pattern variables herausgearbeitet, die mögliche Wertorientierungen individuellen Handeins beschreiben. Diese Typen sind Situationsorientierungen, zwischen denen der Handelnde wählen muss. Die pattern variables lauten wie folgt: Affektivität affektive Neutralität, Selbstorientierung - Kollektivorientierung, Universalismus - Partikularismus, Zuweisung - Leistungsorientierung, Diffuses Verhalten - spezifisches Verhalten. Menschliches Handeln bewegt sich also jeweils zwischen diesen Polen. Vgl. Parsons, Talcott, Towards a General Theory of Action, Cambridge, Mass. 1951. 73 Siegrist, Medizinische Soziologie (1995), 244. 74 Vgl. Siegrist, Medizinische Soziologie (1995), 244; Siegrist, Johannes, Arzt-PatientenBeziehung: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,241. 75 Vgl. Siegrist, Medizinische Soziologie (1995), 244; Siegrist, Arzt-Patienten-Beziehung: 1. Zum Problemstand, 241. 76 Vgl. Siegrist, Medizinische Soziologie (1995), 244; Siegrist, Arzt-Patienten-Beziehung: 1. Zum Problemstand, 241.

48

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

wollt oder ungewollt - unzählige Freiräume des medizinischen Handeins eröffnet. Eine solche asymmetrische (soziale) Beziehung ist nicht frei von ethischen Problemen und ruft geradezu die ethische Reflexion mit den im Gesundheitswesen ablaufenden Interaktionen herauf. Struktur, Funktion und Wandel der Institutionen des Gesundheitswesens: Nach der Darstellung der Konzeption von Gesundheit und Krankheit, der Beschreibung gesellschaftlicher Bedingungen für den Gesundheits- und Krankheitszustand der Bevölkerung und der Behandlung interaktions- und rollentheoretischer Überlegungen wird der vierte und letzte Gegenstandsbereich der gesundheits soziologischen Forschung behandelt, der die Organisation und den institutionellen Aufbau des Gesundheitswesens in den Blick nimmt. Die Konzeption von Gesundheit und Krankheit sowie die Arzt- und Patientenrolle benötigen einen institutionellen Rahmen, der im Gesundheitssystem77 gefunden wird. Dabei muss das Gesundheitssystem als ein Teilbereich der Gesellschaft verstanden werden, der neben anderen Subsystemen besteht, gleichzeitig aber auch mit diesen Systemen kooperiert. Ohne das politische System, das Wirtschaftssystem, ohne Wissenschaft und Technik wären Ordnungsstrukturen, Professionalisierungen und Innovationen auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung nicht denkbar. Soziologische Forschung untersucht zum einen das Gesundheitswesen als Teilgebiet der (modemen) Gesellschaft und kann ganz in Sinne der Systemtheorie - anhand des Codes HeilenlNichtheilen bzw. gesund/krank ein weiteres elementares Funktionssystem der Modeme bestimmen. Neben einer systemtheoretischen Betrachtung können weiterhin die einzelnen Institutionen im Gesundheitswesen (z. B. Krankenhaus, Arztpraxen, Versicherungsorganisationen, Wohlfahrtsinstitutionen) gesondert betrachtet und unter organisationssoziologischen Gesichtspunkten analysiert werden. Organisationen des Gesundheitswesens haben gemeinsam, dass sie erstens auf Dauer errichtet worden sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dass sie zweitens eine festgelegte und allgemeinverbindliche Ordnung bzw. Struktur besitzen und dass sie drittens die Handlungen ihrer Mitglieder und die zur Verfügung stehenden Mittel so koordinieren, dass das geplante Ziel dauerhaft garantiert wird. 78 5. Sozialethik - der strukturethische Ansatz Ethik ist die methodische Reflexion menschlichen Handeins, sofern es unter der Differenz von Gut und Böse, Gut und Schlecht steht. 79 Ethische Probleme lassen 77 In dieser Arbeit werden die Begriffe Gesuruiheitssystem und Gesundheitswesen synonym gebraucht. 78 Vgl. Gukenbiel, Hermann L., Institution und Organisation, in: Korte, Hermann 1 Schäfers, Bemhard (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992,

104/105.

79 Vgl. Honecker, Martin, Ethik, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/Basel/Wien 1993, 250; Lesch, Walter, Ethik und Moral/Gut und

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

49

sich anhand dreier unterschiedlicher Perspektiven unterscheiden: 8o Individualethik, Sozialethik und Umweltethik. Bei der individualethischen Perspektive stehen das moralische Subjekt und die konkrete Praxis, also Handlungen, Einstellungen und Haltungen, der individuellen Person im Mittelpunkt. Die Verantwortung für die soziale Mitwelt, für überindividuelle gesellschaftliche Gebilde, kommt in der sozialethischen Perspektive zum Ausdruck. Der Mensch steht in Beziehung zu anderen Menschen und agiert im Kontext sozialer Strukturen, denen er einerseits gegenübersteht und die er andererseits aktiv mitgestalten kann. Schließlich lebt der Mensch in einer ihn umgebenden natürlichen Umwelt, die ohne den Menschen zwar auch - wenngleich nicht in dieser Form - da wäre, die aber doch an den Menschen stets rückgebunden bleibt. Bei der umweltethischen Perspektive rückt die Verantwortung für die Umwelt, die der Mensch gestalten muss, will er mit und in ihr leben und überleben, ins Zentrum. Aufgrund der besonderen Relevanz, die in der Moderne ökologische Fragen gewonnen haben, kann die Umweltethik - so betont Korff - nicht mehr nur als eine spezifische Bereichsethik verstanden werden, die auf der gleichen Stufe steht wie die Vielzahl der Bereichsethiken, sondern sie muss als eine eigenständige Ethikperspektive neben Individual- und Sozialethik betrachtet werden. 81 Bedenkt man, dass ökologische Probleme weitreichende, in die Gesellschaft hineinwirkende Folgen und Nebenfolgen haben, wird deutlich, wie zentral eine eigenständige umweltethische Perspektive im Kontext der ethischen Diskussion ist. 82 Gleichwohl lassen sich die drei Ethikbereiche nicht so einfach voneinander trennen; sie bedingen und stimulieren sich gegenseitig. 83 Individualethik, Sozialethik und Umweltethik bilden also die grundlegenden "Strukturierungsformen des ethischen Anspruchsfeldes,,84. Innerhalb der ethischen Diskussion werden allerdings noch andere denkbare Strukturierungsformen des Ethischen vorgetragen. So geht Arthur Rich von vier elementaren Beziehungen des Menschen aus, die vier ethische Grundaspekte nach sich ziehen: Neben der Individual-, Sozial- und Umweltethik spricht er weiterhin von der Personalethik, unter der er die Ich-Du- bzw. Ich-Ihr-Relation versteht. 85 Böse/Richtig und Falsch, in: Wils, Jean-Pierre/Mieth, Dietmar (Hrsg.), Grundbegriffe der Ethik, Paderborn u. a. 1992,64-72; Pieper; Annemarie, Einführung in die Ethik, Tübingen 21991, 17 -30. 80 Vgl. Korff, Wilhelm, Sozialethik, in: ders. /Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 378; Korff, Wilhe1m, Sozialethik als Strukturenethik. Individualethik, Sozialethik und Umwe1tethik in ihrer Differenz und Interdependenz: Geschichtliche und systematische Einordnung, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,207 - 212. 81 Vgl. Korff, Sozialethik, 378. 82 In der Agenda 21 wird z. B. betont, wie sehr die individuelle Gesundheit von den Umweltbedingungen abhängt. Vgl. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro - Dokumentation - Agenda 21, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Berlin 21997, 33 - 43. 83 Vgl. Korff, Sozialethik, 378. 84 Korff, Sozialethik, 378. 4 Bohrmann

50

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Personalethik meint demzufolge die "Verpflichtung zur interpersonellen Humanität,,86. Rich ist sich aber der Problematik der Abgrenzung seiner explizierten Formen der Ethik sehr wohl bewusst und geht daher von einer gleichzeitigen Interdependenz und - ähnlich wie auch Korff - von einer gegenseitigen Durchdringung von Individual-, Personal-, Umwelt- und Sozialethik aus. Das Modell einer gegenseitigen Bedingung und Stimulierung bietet sich für die moderne Ethikdiskussion geradezu an, da individuelle Handlungsweisen immer auch von sozialer Bedeutung sind und das Soziale immer auch in einem größeren ökologischen Zusammenhang einzuordnen ist. Innerhalb des ethischen Diskurses haben sich im Laufe der Entwicklung der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation eine Fülle verschiedener bereichsspezifischer Ethiken herausgebildet, die die ethische Reflexion auf die konkrete Gestaltung und Strukturierung eines gesellschaftlichen Teilsystems lenken. Neben dem Terminus Bereichsethik werden häufig auch die Bezeichnungen "Ethik der Sachbereiche", "Angewandte Ethik" (engl. applied ethics), "Praktische Ethik", "Bindestrichethiken,,87, "Spezielle Ethiken" oder "Regionale Ethiken" gebraucht. 88 In Zukunft werden weitere bereichs spezifische Ethiken auszumachen sein, da die moderne komplexe Gesellschaft mit ihren ständig wachsenden Entscheidungsproblemen und Risiken neue ethische Lösungsformen provoziert. Die speziellen Ethiken sind teilweise nicht eindeutig einem konkreten gesellschaftlichen Teilsystem zuzuordnen. Weiterhin kann von einer Untergliederung der explizierten bereichsspezifischen Ethikformen ausgegangen werden, da sich etwa die Medienethik in eine Ethik der Information, eine Ethik der Unterhaltung und eine Ethik der Kunst einteilen lässt. 89 Die Bereichsethik ist nicht zu verwechseln mit der Berufsethik, die sich auf ein konkretes Berufsethos und damit verbunden auf eine bestimmte sozia8S Vgl. Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 21985, 58-67. Auch Martin Honecker und Walter Kerber differenzieren zwischen Individual-, Personal- und Sozialethik, allerdings ordnen sie die Umweltethik den Bereichsethiken bzw. der Ethik nach Sachgebieten zu und gewähren ihr keinen eigenständigen Status, wie das Korff und Rich in ihren ethischen Entwürfen tun. Vgl. Honecker, Ethik, 250/251; Kerber, Walter, Sozialethik, Stuttgartl Berlin 1Köln 1998,9-14. 86 Rich, Wirtschaftsethik, 60. 87 Der Terminus "Bindestrichethiken" erinnert an den Ausdruck "Bindestrichsoziologien", unter dem jene soziologischen Disziplinen zu verstehen sind, die sich auf einzelne sozialkulturelle Bereiche, wie etwa Wirtschaft, Familie, Jugend, Religion, Bildung, beziehen. Nach dem Selbstverständnis der Soziologie als einer empirischen Wissenschaft werden diese gesellschaftlichen Komplexe unter Anwendung soziologischer Begriffe und Theorien und mit Hilfe der Methoden der empirischen Sozialforschung analysiert. 88 Vgl. Honne/elder, Ludger, Ethik: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwinl Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 660/661; Honecker, Ethik, 250. Solche Bereichsethiken sind beispielsweise Wirtschaftsethik, politische Ethik, Technikethik, Medienethik, Sportethik, Familienethik. 89 Vgl. Hausmanninger, Thomas, Christliche Sozialethik in der späten Modeme. Grundlinien einer modemitätsintegrativen und -korrektiven Strukturenethik, in: ders. (Hrsg.), Christliche Sozialethik zwischen Modeme und Postmoderne, Paderbom u. a. 1993,78.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

51

le Berufsrolle (z. B. die des Arztes/der Ärztin) bezieht und in diesem Sinne eben nicht die moralische Integrität einer individuellen Person meint, sondern die soziale Funktion des Berufsträgers. 90 Nach der Darstellung verschiedener Strukturierungsformen des Ethischen sollen im Weiteren die historischen Wurzeln der Sozialethik, ihr Gegenstand, ihre Aufgabe, ihre Methode sowie der typische Ansatz einer christlichen Sozialethik formuliert werden. Schließlich kann - vor dem Hintergrund der erarbeiteten Konzeption - die Frage beantwortet werden, weshalb sich die Sozialethik mit dem Gesundheitswesen beschäftigt und welche grundlegenden Themenfelder eine Ethik des Gesundheitswesens zu berücksichtigen hat. a) Historische und ideengeschichtliche Wurzeln der Sozialethik Auch wenn es im deutschsprachigen Raum bislang keine einheitliche Bezeichnung für die theologische Disziplin gibt, die sich mit sozialethischen Fragen beschäftigt, so machen alle unterschiedlichen Lehrstuhlbezeichnungen an Universitäten und Hochschulen, wie etwa "Christliche Gesellschaftslehre", "Christliche Sozialwissenschaften", "Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften", "Christliche Sozialethik", darauf aufmerksam, dass im Zentrum der wissenschaftlichen Reflexion dieser Lehrstühle die Gesellschaft bzw. das Soziale steht. Gesellschaftliche Zusammenhänge werden im Rahmen der sozialethischen Disziplin aber nicht nur einfach im Sinne empirischer Tatbestände beschrieben, sondern normativ behandelt. Kern der sozialethischen Reflexion ist die Lösung von sozialen Problemen bzw. sozialen Fragen, wobei normative Grundsätze als leitende Orientierungspunkte dienen. 91 Soziale Probleme sind - nach einer soziologischen Definition - Phänomene, "die 1) größere Gruppen von Gesellschaftsangehörigen (bis hin zur Gesamtbevölkerung) in ihren Lebenssituationen beeinträchtigen, 2) öffentlich als veränderungsbedürftig definiert und 3) zum Gegenstand spezieller Programme und Maßnahmen gemacht werden.,,92 Das bedeu90 Vgl. Rendtorff, Trutz, Konsens und Konflikt: Herausforderungen an die Ethik in einer pluralen Gesellschaft, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999, 202/203. Verantwortung im Rahmen der Ausübung einer Berufsrolle bezeichnet Franz-Xaver Kaufmann mit dem Begriff ..Positionsgebundene Verantwortung" bzw. ..Positionsverantwortung". Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver, Über die soziale Funktion von Verantwortung und Verantwortlichkeit, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989) 204 - 224; Kaufmann, Franz-Xaver, Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt, Freiburg 1992,70-95. Somit ist Berufsethik - wie es Trutz Rendtorff ausdrückt - ..ein sozialethischer Begriff, kein Begriff der individuellen Moral." Rendtorff, Konsens und Konflikt, 203. 91 Vgl. Nell-Breuning, Oswald von, Soziale Frage, in: Sacramentum Mundi, 4. Bd., Freiburg/Basel/Wien 1969, 606. 92 Stallberg, Friedrich W. (Hrsg.), Soziale Probleme. Grundlegende Beiträge zu ihrer Theorie und Analyse, Neuwied 1983, 14. Vgl. dazu auch Hillmann, Wörterbuch der Soziolo~ie, 803; Stegmann, Franz J., Soziale Frage, in: Staatslexikon, 4. Bd., Freiburg/Basel/Wien 1988, 1231. Vgl. dazu auch die klassische Definition von Oswald von Nell-Breuning und

4*

52

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

tet, dass wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit sozialen Problemstellungen beschäftigen, eine praxisrelevante Bedeutung haben. Die systematische Reflexion der christlichen Sozialethik (bzw. katholischen Soziallehre) hat mit einem bestimmten sozialen Problem angefangen, das die europäischen Kulturen des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise herausgefordert hat: die Situation der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Die Arbeiterfrage, die in der Gedankenwelt der katholisch-sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts eingehend erörtert wurde,93 mündet schließlich in die erste Sozialenzyklika der katholischen Kirche: Rerum novarum (1891) von Papst Leo XIII. Zwei Jahre später wurde bereits der erste Lehrstuhl für christliche Gesellschaftslehre in Münster mit dem Ordinarius Franz Hitze gegründet. 94 Das heißt aber nicht, dass erst mit der sozialen Frage oder mit Rerum nova rum das sozialethische Denken in Form der Beschäftigung mit sozialen Zusammenhängen bzw. Problemen angefangen hat. Gesellschaftliche Themen wurden bereits in der griechischen Antike, im Alten und im Neuen Testament behandelt. 95 Der entscheidende Faktor für das Aufkommen der Arbeiterfrage ist die daran gekoppelte Frage nach einer gerechten und humanen Gesellschaftsordnung. Erst im 18. und 19. Jahrhundert werden gesellschaftliche Gebilde zum Problem, die der Mensch systematisch reflektiert und zu verändern sucht. Vorher wurde die Gesellschaftsordnung als gottgewollt, natürlich oder einfach als eine selbstverständliche, nicht näher hinterfragte Erscheinung begriffen. Die Institution der Sklaverei - Oswald von Nell-Breuning bezeichnet sie als die soziale Frage der Antike 96 - ist ein klassisches Beispiel für die Selbstverständlichkeit sozialer Gebilde innerhalb der antiken Gesellschaftsordnung. Auch das Urchristentum hat die Sklaverei als fest institutionalisierten Lebensstand keiner grundsätzlichen sozialethischen Kritik unterworfen. Paulus selbst ruft im Korintherbrief dazu auf, im Sklavenstand zu bleiben. 97 Auch Hermann Sacher: "Die Soziale Frage ist wirklich das, was der Name sagt: die Frage um die menschliche Gesellschaft, näherhin die Frage nach Störungen ihrer Ordnung, wodurch namentlich bestimmte Menschengruppen in bedrängter, elender, unwürdiger Lage sich befinden, nach den Ursachen dieser Störungen und nach den Mitteln, um ihnen abzuhelfen und so zu einer gesellschaftlichen Ordnung zu kommen, wie sie von Rechts wegen sein soll." NellBreuning, Oswald vonl Sacher, Hermann, Soziale Frage, in: Wörterbuch der Politik, 3. Heft, Freiburg 1949, 2. Die Bezeichnung soziale Frage hat nach dieser Definition eine sehr weite Bedeutung, die klassische soziale Frage in der Industriegesellschaft ist aber die Arbeiteifrage. 93 Vgl. Klüber, Franz, Katholische Gesellschaftslehre, 1. Bd., Geschichte und System, Osnabrück 1986,201-256. 94 Vgl. Böing, Günther, Hitze, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 5. Bd., Freiburg 21960/1986,395. 95 Vgl. Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderbom u. a. 1998, 19-34. 96 Vgl. Nell-Breuning, Soziale Frage, 607. 97 ,,Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter." 1 Kor 7,20/21.

1. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

53

wenn sich die Alte Kirche nicht prinzipiell gegen den Sklaven stand ausspricht, so tritt sie aber für eine humane Beziehung zwischen Herr und Sklave ein. Die Institution soll bleiben, sie wird jedoch humanisiert und erhält eine andere Qualität, die ihre Wurzeln in der neutestamentlichten Liebesbotschaft hat. 98 Klassisches Beispiel für die neue Beziehung zwischen Herr und Sklave ist der Brief des Apostels Paulus an Philemon, einen Sklavenbesitzer, dem sein Sklave Onesimus weggelaufen ist. Paulus schickt den Sklaven an Philemon zurück und bittet in dem Brief, den Entlaufenen wieder aufzunehmen, allerdings "nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder...99 Das christliche Liebesgebot hat zwar keine ungerechten Strukturen aufgelöst, dafür aber auf die Haltungen (Tugenden) der Menschen gezielt und diese zu verändern versucht. 100 Drei soziologische Prozesse bilden die Voraussetzung für die Infragestellung der Gesellschaftsordnung, wie sie in Europa jahrhundertelang existieren konnte: Erstens die Revolution des Geistes, das heißt die Aufklärung, zweitens die politische Revolution, das heißt vor allem die Französische Revolution (1789), und schließlich drittens die bereits genannte industrielle Revolution. 101 Diese sozialgeschichtlichen Entwicklungsprozesse sind dann auch für die Entstehung der christlichen Soziallehre bzw. für die christliche Sozialethik als Wissenschaft von Bedeutung. Das Aufkommen der sozialethischen Fragestellung ist aufs Engste verknüpft mit der Aufklärung, der Industrialisierung und der politischen Revolution. Das neuzeitliche Denken des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, wonach sich der Mensch als eigenständiges Subjekt begreift, wird philosophiegeschichtlich mit dem Terminus Aufklärung bezeichnet. 102 Mit dem Prozess der Aufklärung wird das geschlossene mittelalterliche Gesellschaftsverständnis aufgebrochen, der Mensch wird sich zunehmend seiner Autonomie und Rationalität bewusst und beginnt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. 103 Mit der Aufklärung beginnt Vgl. Korff, Sozialethik, 382. Phlm 1,16. lIlO Als weiteres Beispiel für die Beibehaltung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen mit gleichzeitiger Humanisierung der Beziehung der Menschen untereinander kann die christliche Haus- oder Familienordnung gelten. Vgl. KoI3,18-4,1; Eph 5,21-6,9. lIll Vgl. Helle, Horst J., Einführung in die Soziologie, München/Wien 21997, 23. lIl2 Vgl. Anzenbacher; Christliche Sozialethik, 52; Hinske, Norbert, Aufklärung, in: Staatslexikon, 1. Bd., Freiburg/Basel/Wien 7 1985,390-400. lIl3 Was unter Aufklärung im klassischen Sinne zu verstehen ist, beschreibt Imrnanuel Kant wie folgt: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andem zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der WalIispruch der Aufklärung." Kant, Immanuei, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Werkausgabe 11. Bd., hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a.M. 91991, 53. 98 99

54

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

die "Wende der Vernunft nach außen"I04. Das neuzeitliche Aufklärungsdenken führt zum Konzept der Modeme, das nach Thomas Hausmanninger vier wesentliche Strukturmomente aufweist: Rationalisierung, Subjektivation, Autonomisierung und Demokratisierung. l05 Rationalisierung bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass sich der Mensch die ihn umgebende Welt untertan macht, er ordnet und systematisiert die Welt mit dem Ziel, sie berechenbar und beherrschbar zu machen. 106 Mit der Bezeichnung Subjektivation kann die Konsequenz aus dem Prozess der Rationalisierung beschrieben werden. Der Mensch ist das vernunftbegabte Subjekt, das sich selbst begreift und aktiv handeln lernt. Das führt letztlich zur Autonomisierung (Autonomie) des Menschen, da er nicht mehr fremdbestimmt oder einer scheinbar natürlichen, nicht zu hinterfragenden Ordnung unterworfen ist, sondern er kann seine Lebensgeschicke, seine Gesellschaftsordnung, seine sozialen und politischen Entscheidungszusarnmenhänge selbst in die Hand nehmen und ordnen. Dabei muss die menschliche Vernunft als das entscheidende Kriterium autonomer Lebensvollzüge gedeutet werden. 107 Die Prozesse der Subjektivation und Autonomisierung haben letztlich die Bestimmung des Menschen als Person zur Voraussetzung. Denn der Mensch ist nicht nur autonomes Subjekt, sondern er ist aufgrund seiner Konstitution immer auch zugleich moralisches Subjekt. l08 Der Mensch ist Person, weil er ein individuelles, sittliches Subjekt ist, das über das Vermögen verfügt, "sich in Freiheit durch Vernunft zum Handeln zu bestimmen, das daher zu sich selbst (Selbstverhältnis, Selbstbewusstsein) sowie zu seiner Mit- und Umwelt (Sozialität, Kulturalität) in ein bewusstes Verhältnis treten, Verantwortung und Pflichten übernehmen (Zurechenbarkeit), Zwecke und Interessen verfolgen sowie sein Leben im Bewusstsein seiner Vergangenheit entwurfsoffen zu einem einmaligen, unverwechselbaren Schicksal gestalten kann. ,,109 Die hier explizierte Grundkonstitution des menschlichen Personseins fußt nicht auf dem neuzeitlichen Entwicklungs prozess, so dass man glauben könnte, Personalität sei erst das Resultat der Modeme. Die Bestimmung des Menschen als Person ist jedem Menschen soKorff, Sozialethik, 379. Vgl. Hausmanninger, Christliche Sozialethik in der späten Moderne, 51-56; Hausmanninger, Thomas, Die Krise der späten Moderne im Licht einer christlichen Sozialethik, in: Holderegger, Adrian (Hrsg.), Fundamente der theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze, Fribourg 1996,363-366. 106 Vgl. Loo, Hans van der/ Reijen, Willem van, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, 118. Das Konzept der Rationalisierung - ein Schlüsselbegriff der Modernisierungstheorie - soll an anderer Stelle dieser Arbeit nicht nur ausführlicher behandelt, sondern vor allem innerhalb des Modernisierungsprozesses bzw. des sozialen Wandels eingeordnet werden. Vgl. Kap. D. 107 Vgl. Hausmanninger, Christliche Sozialethik in der späten Moderne, 54. 108 Vgl. Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 181; Hilpert, Konrad, Person, Personalität: Theologisch-ethisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 104

105

50-52.

109 Wild/euer, Armin G., Person: I. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 5.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

55

wohl zeit- als auch kulturübergreifend eigen. Der Mensch war immer schon zum moralischen und verantwortlichen Handeln fähig. Allerdings verändert sich im Kontext der Modeme das Selbstverständnis der Menschen und das bedeutet quantitativ betrachtet - vieler Menschen. Der Mensch traut sich mehr zu, er wird mündig und aufgeklärt, er wird Herr seiner eigenen Geschicke, er legt die Heteronomie ab und nimmt stattdessen immer mehr die Autonomie an. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Strukturen bleibt das Verständnis des Menschen als ein sich selbst bewusstes, autonomes Subjekt nicht folgenlos. Dieses hier entwickelte Menschenbild der Modeme drängt auf eine Gesellschaftsform, die diese Grundidee erfüllt und dem Menschen Raum gibt, sich dementsprechend auch zu entfalten. 110 Mit dem Prozess der Subjektivation wird ideengeschichtlich eine Entwicklung eingeleitet, die zur Auflösung aller geschlossenen Gesellschaftsformen führt und in diesem Sinne die vorneuzeitliche Gesellschaftsordnung substantiell angreift. So kommt es zur grundlegenden Verwandlung gesellschaftlicher Strukturen, zur Veränderung der Öffentlichkeit und schließlich zur Genese demokratischer Strukturen. In der Demokratie hat der Mensch Anteil an den politischen Strukturen, er stimmt beispielsweise im Akt allgemeiner Wahlen der Regierungsform zu. 111 Zudem fordern die Menschen bestimmte (Menschen)Rechte ein, die ihre humane Entwicklung auf der individuellen und kollektiven Ebene gleichermaßen unterstützen. Unter Menschenrechten sind fundamentale Rechte zu verstehen, die jedem Menschen als Menschen zukommen. Es ist also nicht entscheidend, ob jemand über bestimmte Merkmale oder Eigenschaften, wie etwa Hautfarbe, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Alter, verfügt oder ob er bestimmte individuelle Leistungen erbringt. Menschenrechte werden allen Menschen in gleicher Weise zugesprochen, weil sie Mitglieder der Menschheitsfamilie sind. Menschenrechte haben universelle Gültigkeit. Der Anspruch auf ihre Wahrung besteht also auch dort, wo Rechtsordnungen ihre Anerkennung verweigern oder die politische Praxis diese missachtet und im Kern zu zerstören versucht. 112 Die Skizzierung der sozialhistorischen und ideengeschichtlichen Wurzeln der Sozialethik hat gezeigt - so kann mit Korff zusammenfassend gesagt werden -, dass neuzeitliche Ethik mit der Wende zum Subjekt anfängt. ,,Die Entwicklung der modemen Sozialethik zu einer nach Methoden und Aufgabenstellung funktional eigenständigen Disziplin innerhalb der Ethik muss im geschichtlichen Zusammenhang mit der Wende zum Subjekt gesehen werden, die für das neuzeitliche Ethikverständnis bestimmend geworden iSt.,,113

Vgl. Hausmanninger, Christliche Sozialethik in der späten Moderne, 55/56. Vgl. Hättich, Manfred, Demokratie, in: Staatslexikon, 1. Bd., Freiburg/Basel/Wien 71989, 1183. 112 Vgl. HUpert, Konrad, Menschenrechte: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,671. 113 Korff, Sozialethik, 377. 110 111

56

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

b) Gegenstand der Sozialethik: Normen, Institutionen und Ordnungen Vereinfacht ausgedrückt beschäftigt sich Sozialethik mit sozialen Gebilden bzw. gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen geschaffen haben und die für gelingende Lebensvollzüge sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Gesamtheit notwendig sind. Sozialethische Fragen beziehen sich somit auf die Strukturprobleme der Gesellschaft, die nicht mehr nur als hochkomplexe, modeme Industriegesellschaft begriffen werden muss, sondern längst als global vernetzte Weltgesellschaft. 114 Drei Erscheinungsarten von sozialen Gebilden können unterschieden werden: Normen, Institutionen und Ordnungen. 115 Der Begriff Norm gehört zu den Grundbegriffen sowohl der empirischen Sozialwissenschaften als auch der normativen Ethik. 116 Bedeutung erlangt der Begriff Norm vor allem dann, wenn er inhaltlich gefüllt wird, d. h., wenn davon die Rede ist, was mit einer bestimmten Norm geregelt werden soll, welche Normen für wen gelten sollen, in welcher Weise jeweils die Geltung von Normen durchgesetzt wird, wie sich ein gesellschaftlicher Normenwandel entweder synchron oder asynchron vollziehen wird. Allgemeine Betrachtungen über den Normbegriff sind für die Sozialwissenschaften und die Ethik allerdings auch von Interesse, wenn über die anthropologischen Grundlagen der Gesellschaft bzw. des menschlichen Handeins nachgedacht wird. Nach Korff kann unter dem Normbegriff Folgendes verstanden werden: "Normen sind die elementaren Regulative menschlichen Deutens, Ordnens und Gestaltens. Der Normbegriff fungiert sonach als Subsumtionsbegriff, der zur Kennzeichnung der Ordnungsstruktur unterschiedlichster Handlungsinhalte und Handlungsformen dient, seien diese nun wissenschaftlicher, technischer, ökonomischer, religiöser, ästhetischer, sozialorganisatorischer oder ethischer Natur. In jedem Fall haben Normen, gleichgültig welchem Bereich sie gelten, eines gemeinsam: Sie regeln Einzelvollzüge und Einzelinhalte. ,,117 Anhand dieser Umschreibung regeln Normen (1) menschliches Handeln; der Begriff kann (2) als Ober114 Vgl. Furger; Franz, Sozialethik, in: Rotter, Hans/Virt, Günter (Hrsg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck / Wien 1990, 695. 115 Vgl. Korff, Sozialethik, 380. Korff differenziert hier Normen, Institutionen und soziale Systeme. In dieser Arbeit ist statt von sozialen Systemen die Rede von gesellschaftlichen Ordnungen. Der Ordnungsbegriff hat innerhalb der christlichen Sozialethik bereits eine lange Tradition - er findet sich etwa bei Nell-Breuning oder Gundlach - und berücksichtigt m.E. weitaus stärker ein normatives und zu regulierendes Moment, als das der soziologische Systembegriff auszudrücken vermag. 116 Vgl. zum Normbegriff innerhalb der Soziologie z. B. Bellebaum, Alfred, Soziales Handeln und soziale Normen, Paderborn 1983; Lautmann, Rüdiger, Wert und Norm, Köln/Opladen 1969; Opp, Karl-Dieter, Die Entstehung sozialer Normen, Tübingen 1983. Zur ethischen Einordnung des Normbegriffs vgl. z. B. Korff, Wilhelm, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Freiburg/München 21985, 113-128; Korff, Wilhelm, Normen als Gestaltungsträger menschlichen Daseins, in: Hertz, Anse1m u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, 1. Bd., Freiburg/Basel/Wien 21979,114-125. 117 Korff, Sozialethik, 380. Hervorhebungen im Original.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

57

begriff für unterschiedliche Aspekte menschlicher Regulierungsmechanismen benutzt werden 118 ; Normen geben (3) an, wie sich der Mensch im Einzelfall, also in einer ganz konkreten Situation, verhalten soll. Bahrdt bezieht in seiner Normdefinition zusätzlich zu Korffs Umschreibung den Wertbegriff, den Aspekt der Erwartbarkeit sowie die Frage nach der sanktionellen Absicherung mit ein. "Normen sind allgemein geltende und in ihrer Allgemeinheit verständlich mitteilbare Vorschriften für menschliches Handeln, die sich direkt oder indirekt an weitverbreiteten Wertvorstellungen orientieren und diese in die Wirklichkeit umzusetzen beabsichtigen. Normen suchen menschliches Verhalten in Situationen festzulegen, in denen es nicht schon auf andere Weise festgelegt ist. Damit schaffen sie Erwartbarkeiten. Sie werden durch Sanktionen abgesichert.,,119 Normen sind demnach (1) allgemein gültig, (2) Vorschriften für menschliches Handeln, sie orientieren sich (3) an Wertvorstellungen und legen (4) soziales Handeln 120 situativ fest, sie schaffen (5) erwartbares Handeln und werden schließlich (6) mit Hilfe negativer Sanktionen gesichert und durchgesetzt. Der Grad der gesellschaftlichen Sanktionierung hängt dabei ab von der Verbindlichkeit sozialer Normen. Man kann drei Verbindlichkeitsgrade von Normen unterscheiden: Muss-Normen (z. B. Gesetze), Soll-Normen (z. B. Sitten) und Kann-Normen (z. B. Bräuche und Gewohnheiten).121 Die beste Kontrolle über die Einhaltung von Normen ist für eine Gesellschaft dann gegeben, wenn die normativen Gehalte internalisiert worden sind. Internalisierung bedeutet, dass die durch Normen gestellten Forderungen das individuelle Bewusstsein und das Selbstverständnis der betroffenen Individuen prägen. Je geringer dabei der Grad der Internalisierung einer Norm ausfallt, desto größer wird die Notwendigkeit eines institutionalisierten Systems sozialer Kontrolle, das abweichendes Verhalten von der Norm mit Hilfe sanktioneller Mechanismen zu verhindern sucht. Nach der Darstellung des Normbegriffs ist die Frage nach den Normadressaten und Normproduzenten zu stellen. Normen sind keine schicksalhaften, naturgegebenen Erscheinungen, die der Mensch vorgefunden hat, sondern menschliche Konstrukte, die sich im Laufe der kulturell-zivilisatorischen Entwicklung des Menschen herausgebildet haben. In diesem Sinne ist die Rede davon, dass der Mensch als 118 Eine technische Norm ist z. B. DIN = deutsche Industrienorm, eine ästhetische Norm schlägt sich in bestimmten Kunstrichtungen nieder, religiöse Normen sind Riten bei liturgischen Feiern oder auch Glaubensbekenntnisse, eine wissenschaftliche Norm ist eine bestimmte Forschungsmethode. Vgl. Korff, Wilhelm, Normen, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg I Basel! Wien 1993, 762. 119 Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie, 49. 120 Indem sich Menschen an normativen Gehalten orientieren, die zum einen selbst von anderen Menschen gemacht worden sind und zum anderen menschliche Interaktionen zu regeln versuchen, ist ein Handeln, das sich an Normen orientiert, immer auch ein soziales Handeln. 121 Vgl. Schäfers, Bernhard, Die Grundlagen des HandeIns: Sinn, Normen, Werte, in: Korte, Hermann/ders. (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, 27.

58

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Produzent seiner normativen Gehalte auftritt; er ist ein "rule-maker" 122. Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur als Normadressat den ihn umgebenden Regeln begegnet, sondern auch als Normproduzent auftritt. Normen gegenüberzustehen und diese zu erfüllen, gleichzeitig aber auch Normen zu produzieren und zu gestalten, ist jenes ambivalente Zuordnungsverhältnis, das im Kern den ethischen Horizont des Normbegriffs absteckt. 123 Anhand dieser Ambivalenz lässt sich mit Korff eine dementsprechende Verantwortungshaltung ausmachen. Einerseits hat der Mensch eine Gehorsamsverantwortung vor Normen und andererseits zugleich eine Gestaltungsverantwortungfor Normen. 124 Gehorsamsverantwortung bedeutet, dass der Mensch "zum Gehorsam gegenüber dem Anspruch einer Norm gerufen ist, wo immer er diese als sittlich gut und geeignet erfährt, um ein von ihm als gesollt erkanntes gutes Ziel zu verwirklichen.,,125 Demgegenüber zielt Gestaltungsverantwortung auf ein weitreichenderes menschliches Handlungsfeld. Der Mensch soll gegebene Normen nicht nur einfach befolgen, sondern existierende Normen, wenn der jeweils konkrete Einzelfall dieses gebietet, neu formulieren, um sie somit zu normativen Ansprüchen im moralisch richtigen Sinne zu transformieren. 126 Wenn man innerhalb der Ethik von einer Gestaltungsverantwortung für Normen spricht, dann kann das nur heißen, dass Ethik aufgerufen ist, Normen qualitativ zu hinterfragen und dabei - im moralischen Sinne - zwischen guten und schlechten Normen zu differenzieren. Während Normen Einzelvollzüge und Einzelinhalte regeln, geht es bei Institutionen, der nächstgrößeren Einheit der hier dargelegten sozialen Strukturierungsform, um spezifische Handlungsfelder, hinter denen bestimmte Leitziele stehen. Der normative Anspruch wird den Menschen durch Institutionen vermittelt; den Institutionen liegen somit immer konkrete Normen zugrunde. Ändern sich Normen, heißt das aber noch lange nicht, dass sich auch die Institutionen wandeln müssen, da sie von übergreifender Bedeutung sind und die Normen erst einfordern und ausbilden. 127 Die Definition im neuen Lexikon für Theologie und Kirche führt wesentliche Charakterisierungskriterien für den Institutionenbegriff an: "Institutionen sind komplexe soziale Gebilde und Organisationen, welche die Handlungsund Beziehungsschemata menschlichen Zusammenlebens auf Dauer normativ strukturieren. Sie gründen auf elementaren sozialen Wert- und Zielvorstellungen 122 Korff, Wilhelm, Nonn/Nonnen, in: ders./Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,770. 123 Vgl. Korff, Nonn/Nonnen, 770. 124 Vgl. Korff, Wilhelm, Kernenergie und Moraltheologie. Der Beitrag der theologischen Ethik zur Frage allgemeiner Kriterien ethischer Entscheidungsprozesse, Frankfurt a.M. 1979, 25; Korff, Nonnen als Gestaltungsträger, 115. 125 Korff, Kernenergie und Moraltheologie, 25. 126 Vgl. Korff, Kernenergie und Moraltheologie, 25. 127 Vgl. Korff, Sozialethik, 380; Vogt, Markus, Institutionen als Organisationsfonnen menschlichen Handeins, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999, 268.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

59

und ordnen Lebenszusammenhänge des Menschen, in denen sich seine Bedürfnisse, Interessen und Sinnbezüge konkret verwirklichen.,,128 Demnach legen Institutionen im Rahmen komplexer Gesellschaftsgebilde soziales Handeln fest. Mit einer institutionalisierten Handlungsstruktur entlasten Institutionen das einzelne Individuum von der Notwendigkeit, ständig neue situationsgerechte Handlungsweisen zu kreieren, sie tragen somit zur Entwicklung konsistenter Handlungssequenzen innerhalb der Gesellschaft bei. Nur wenn Menschen regelmäßiges Verhalten von ihren Mitmenschen erwarten und sich darauf einstellen können, vermögen sie selbst konsistent zu handeln und soziale Beziehungen aufzubauen. Institutionen strukturieren somit soziale Interaktionen. Warum Menschen überhaupt Institutionen geschaffen haben, ist eine Grundüberlegung innerhalb der philosophischen Anthropologie und der Soziologie. Wichtige Anknüpfungspunkte sind die Funktionen, die die Institutionen für den Menschen zu erfüllen haben und welche Gründe zu ihrer Entstehung führen. Die anthropologische Forschung hat darauf hingewiesen, dass der Mensch - im Unterschied zum Tier mit seinen vielen Instinkten - kaum über zweckmäßige Verhaltens- und Kooperationsfonnen verfügt, die angeboren oder erblich festgelegt sind. Im Vergleich zum Tier ist der Mensch, wie es Amold Gehlen fonnuliert hat, morphologisch hauptsächlich durch seine Mängel bestimmt. 129 Trotz dieser Konstituierung kann der Mensch in weltoffener Gestaltungsmacht seine biologische Antriebspotenz gebrauchen, um seine Lebensbedingungen so zu verändern, dass seine Insuffizienz aufgehoben wird. 130 Menschen sind nicht nur in hohem Maße lembedürftig, sondern sie sind auch fähig, Lernprozesse auszuüben. Als Teil einer stabilen und äußeren Ordnung geben die Institutionen das vor, was, wann, mit wem und wie etwas zu tun ist; sie stabilisieren, steuern und kanalisieren das Verhalten von Menschen. 131 Ein dementsprechender Lernprozess führt schließlich dazu, "daß ein solches praktisches Gewohnheitsverhalten beim Menschen an der Stelle steht, wo wir beim Tier die Instinktreaktionen finden,,132. An anderer Stelle beschreibt Gehlen den Sinn gesellschaftlicher Institutionen mit folgenden Worten: "Dabei hat sich nun aber vor allem gezeigt, daß die Institutionen einer Gesellschaft, ihre Einrichtungen, Gesetze und Verhaltensstile, daß die stehenden Fonnen ihres Zusammenwirkens, wie sie als wirtschaftliche, politische, soziale, religiöse Ordnungen vorliegen, daß diese Institutionen als Außenstützen, als Halt gebende 128 Zelinka, Udo, Institution, Institutionalisierung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 5. Bd., Freiburg u. a. 31996, 545. 129 Vgl. Gehlen, Amold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 13 1986, 33. 130 Vgl. Gehlen, Mensch, 34-37. 13l Vgl. Gukenbiel, Institution und Organisation, 102/103. 132 Gehlen, Amold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden 51986, 23. Vgl. dazu auch Korff, Wilhe1m, Institutionentheorie: Die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensformen, in: Hertz, Anselm u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, 1. Bd., Freiburg/BasellWien 21979,170/171.

60

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Verbindungsstücke zwischen den Menschen funktionieren,,133. Institutionen geben demnach Halt, dienen der Entlastung und stabilisieren menschliches Leben. 134 Neben der hier kurz skizzierten anthropologischen Erklärung für die soziale Dringlichkeit und für die grundlegende Bedeutung institutioneller Gebilde für den Menschen als Einzel- und Kollektivwesen, kann man den Sinn von Institutionen auch anhand menschlicher Bedürfnisse, die Institutionen zu befriedigen suchen, ableiten. So regeln Institutionen etwa den Umgang mit Nahrung, Sexualität, Macht, Herrschaft, menschlicher Kommunikation, Nachkommenschaft, Religion. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass diese Bedürfnisse innerhalb der Gesellschaft als existentielle Probleme für das Leben, Zusammenleben und Überleben gelöst werden müssen. 135 Gemeinsam ist allen Institutionen, dass sie grundlegende Leitideen haben; so lauten die Leitideen für die Institutionen Ehe und Familie Lebensgemeinschaft und Nachkommenschaft. 136 Neben Ehe und Familie gehören auch Staat und Privateigentum zu den Fundamentalinstitutionen der klassischen katholischen Soziallehre. 137 Die Leitidee des Staates wäre Herrschen, die Leitidee des Privateigentums wäre individuelles Besitzen und damit verbunden eigenverantwortliches Wirtschaften. Institutionen können entlasten, zugleich aber auch menschliche Autonomie unterdrücken. Das bedeutet - analog zum ethischen Normbegriff -, dass es gute und schlechte Institutionen gibt, die der ethischen Reflexion bedürfen. 138 In der Geschichte der Menschheit gibt es zahlreiche Beispiele, die auch die negativen Seiten von Institutionen offen legen. 139 Wenn wir davon ausgehen, dass Institutionen von Menschen geschaffen sind, um menschliches Leben besser zu regeln und zu ermöglichen, so sind dann Institutionen ethisch defizitär, wenn sie den Menschen in seiner Freiheit unterdrücken. Wenn Institutionen also nur noch um ihrer selbst willen da sind und nicht mehr den Menschen sehen und auf ihn eingehen, ist ihre Existenz ethisch zu hinterfragen. Die dritte Erscheinungsform des Sozialen sind soziale Ordnungen, die Normen und Institutionen verzahnen und zu einer komplexen Gesellschaftsstruktur verdichten. Ordnungen schaffen Rahmenbedingungen - zumeist sind es staatlich gesetzte 133 Gehlen, Arnold, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Harnburg 1961,23. Hervorhebungen im Original. 134 Vgl. Gehlen, Anthropologische Forschung, 70-74. 135 Vgl. Lipp, Wolfgang, Institution: sozialphilosophisch, in: Staatslexikon, 3. Bd., Freiburg / Basell Wien 1987, 99; Vogt, Institutionen als Organisationsformen, 269 - 272; Waschkuhn, Arno, Institutionentheoretische Ansätze, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Lexikon der Politik, 2. Bd., München 1994, 188-191. 136 Vgl. Korff, Institutionstheorie, 169. 137 Vgl. Pesch, Heinrich, Lehrbuch der Nationalökonomie. Grundlegung, 1. Bd., Freiburg 1905,145-215. 138 Vgl. Korff, Sozialethik, 380. 139 Herausragendes Beispiel für eine ungerechte soziale Struktur ist hier - wie bereits oben ausgeführt - die soziale Frage der Antike: die Sklavenfrage.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

61

Rahmenordnungen - für das soziale Miteinander der Menschen. Eine Ordnung bezeichnet allgemein einen stabilen, dauerhaften und ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen aufgrund bestimmter Gesetzmäßigkeiten oder Prinzipien. Als ein sozialwissenschaftlicher Grundbegriff bezieht sich der Ordnungsbegriff auf den durch Weltanschauungen, Werte, Nonnen, Leitideen und Herrschaftsverhältnisse stabilisierten Struktur- und Wirkungszusammenhang der Gesamtgesellschaft. Grundlegend für die Entstehung sozialer Ordnungen ist das Prinzip der Reziprozität. Austauschprozesse und Kooperationen sowie die Herausbildung stabiler Institutionen gehören demzufolge zum Kembestand jeder gesellschaftlichen Ordnung. 140 Die Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen hängt davon ab, inwieweit die bestehende Ordnung von den Gesellschaftsmitgliedern als natürlich, gottgewollt und unwandelbar empfunden oder durch Reflexionsprozesse als geschichtlich bedingt, willkürlich, veränderbar und bewusst gestaltbar eingeschätzt wird. 141 Die Sozialethik hat sich seit den Anfängen ihrer Disziplin im 19. Jahrhundert mit der Ordnungsgestalt der Gesellschaft auseinandergesetzt. Wenngleich sie am Anfang noch nicht alle gesellschaftlichen Ordnungen kritisch begleitet und reflektiert hat - bestimmte politische Ordnungsprinzipien wurden nicht angetastet -, so setzte aber mit der Korrektur der herrschenden, rein liberalistischen Wirtschaftsordnung ein Prozess ein, der in den nachfolgenden Jahrzehnten weiter entfaltet wurde und bis heute - bezogen auf alle gesellschaftlichen Ordnungen - andauert. Innerhalb der Sozialethik können beispielsweise folgende gesellschaftliche Ordnungsfonnen reflektiert werden: Wirtschaftsordnung (also Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft, Planwirtschaft) oder auch Wettbewerbsordnung, politische Ordnung (also die Qualität der politischen Herrschaft), Medienordnung, Sozialordnung (also die sozialpolitische Ordnung im Sozialstaat), Ordnung des Gesundheitswesens. c) Methodik der Sozialethik Die Aufgabe der Sozialethik besteht darin, die sozialen Gebilde auf ihren humanen Aspekt hin zu prüfen und sie gegebenenfalls zu kritisieren und zu korrigieren. Dabei ist der Maßstab aller sozialethischen Entscheidungen der Mensch als Person. 142 Methodisch geht die Sozialethik interdisziplinär und kombinatorisch vor. Dieser methodische Ansatz bedeutet, dass sich die ethische Reflexion erst in der Kooperation mit den empirischen Einzelwissenschaften, besonders den Humanund Sozialwissenschaften, in sachgerechter Weise vollziehen kann. 143 Beschäftigt sich die Sozialethik beispielsweise mit medienethischen Problemen, so muss sie Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 637. Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 637. 142 Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen in A.lI.2.a zum Prinzip der Personalität. 143 Vgl. Hausmanninger; Christliche Sozialethik in der späten Modeme, 79; Marx, Reinhard / Wulsdorf, Helge, Christliche Sozialethik. Konturen - Prinzipien - Handlungsfelder, Paderborn 2002, 42-49. 140 141

62

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

sich zunächst mit den Ergebnissen und zentralen Fragestellungen der Medien- oder Kommunikationswissenschaft vertraut machen, sich über die verschiedenen Medieninstitutionen ausreichend informieren. Je nach zu reflektierender Fragestellung wird die Medienethik weitere Wissenschaften heranziehen, um zu sachkompetenten Entscheidungen zu kommen (z. B. Mediemecht, Medienökonomik, Mediensoziologie, Medienpädagogik). Das heißt, dass ethische Sachfragen immer erst mit den verschiedenen Einzeldisziplinen erschlossen werden können. Mit den grundsätzlichen ethischen Reflexionen und Prinzipien, die quasi zum alltäglichen Handwerkszeug des Sozialethikers und der Sozialethikerin gehören, kann das jeweilige gesellschaftliche Handlungsfeld schließlich analytisch-normativ in den Blick genommen werden. l44 Wissenschaftlich geht die Sozialethik also interdisziplinär oder transdisziplinär vor und kombiniert die ethische Vernunft mit der spezifischen, empirisch begründeten Sachlogik. d) Proprium der Christlichen Sozialethik Das Proprium einer theologischen bzw. christlichen Sozialethik wurzelt im spezifischen Verständnis vom Menschen. Nach den schöpfungstheologischen Aussagen im Buch Genesis sind drei anthropologische Grunddaten für den Status des Menschen herausragend: Der Mensch ist (1) Abbild Gottes (Gen 1,26/27) oderin scholastischer Terminologie - imago dei, das heißt, er ist kraft seiner Vernunft und Freiheit Ursprungsprinzip seiner eigenen Werke.145 Der Mensch wird (2) als Herrscher über die Erde eingesetzt (Gen 1,28). Schließlich ist er (3) ein gesellschaftliches Wesen, das der anderen Menschen zu seiner Entfaltung bedarf (Gen 1,27).146 Aus diesen drei Aussagen können drei Grundverhältnisse abgeleitet werden, die für die Ethik von handlungsrelevanter Bedeutung sind. Da der Mensch imago dei ist, wird dadurch nicht nur seine Sonderstellung innerhalb der Schöpfung ausgedrückt, sondern die Folge eines solchen Verständnisses ist zum einen die Hinwendung des Menschen zu Gott, das heißt, der Mensch ist fähig, in eine Beziehung zu seinem Schöpfer zu treten, und zum anderen auch die Hinwendung des Menschen zu anderen Menschen. Denn wenn der Mensch sich als ein Wesen begreift, das von Gott geschaffen ist, und dieses Geschaffensein universell - also im Hinblick auf alle Menschen - verstanden werden muss, dann hat diese Perspektive Konsequenzen für den Umgang der Menschen untereinander. "Aus dem Glauben an die Zuwendung Gottes zum Menschen ergibt sich die Forderung nach der Hinwendung des Menschen zum Menschen.,,147 Aus der schöpfungstheologisch 144 Vgl. Korff, Wilhelm, Ethik und Empirie, in: ders., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München/Zürich 1985,50/51. 145 Vgl. Korff, Kernenergie und Moraltheologie, 20-22. 146 Diese drei fundamentalen Bestimmungsgründe christlicher Anthropologie werden im ersten Hauptteil der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils unter der Überschrift "Die Würde der menschlichen Person" zur Sprache gebracht. Vgl. dazu GS, Art. 12. 147 Korff, Ethik: 2. Theologisch, 664.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

63

begründeten Sozialnatur des Menschen folgt schließlich der Gemeinschaftsauftrag, der im Sinne einer Hinwendung des Menschen zum Menschen zu verstehen ist. Weiterhin impliziert der schöpfungstheologische Herrschaftsauftrag ein besonderes Verhältnis zur Welt. Diese ist dem Menschen zur verantwortlichen Gestaltung übergeben worden, womit der Mensch an der schöpferischen Tätigkeit Gottes partizipieren kann. 148 Aber der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen (Gen 1,28), darf keineswegs im Sinne einer schrankenlosen und willkürlichen Ausbeutung verstanden werden, wie dies vielleicht im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte gedeutet wurde oder wie das verschiedene Kritiker l49 dem Christentum vorwerfen. Der Herrschaftsauftrag korrespondiert immer zugleich mit dem ebenfalls biblisch fixierten Gärtner- oder Hegeauftrag (Gen 2,15), der darin besteht, die Erde zu bebauen, zu bewahren, zu schützen. 15o Man kann auf der Basis der alttestamentlichen Schöpfungs theologie also einerseits von einem Herrschaftsmodell und andererseits von einem Fürsorgemodell im Hinblick auf den menschlichen Umgang mit der Welt sprechen. 151 Der gestaltende Charakter beschränkt sich aber nicht allein auf die natürliche Umwelt des Menschen, sondern umfasst auch die von Menschenhand und Menschenvernunft gestalteten vielfältigen sozialen Gebilde. Da der Mensch ein moralisches Subjekt ist, verantwortlich für sein Tun und Unterlassen, ist er auch in die Pflicht genommen für seine kulturell-zivilisatorischen Errungenschaften und gesellschaftlichen "Schöpfungen" bzw. Strukturen. Aus den hier entfalteten drei biblischen Dimensionen des Menschseins und den daraus abzuleitenden ethischen Konsequenzen ergibt sich die Verantwortung des Christen und der Christin für Mensch, Umwelt und Gesellschaft. Das bedeutet, dass theologische Ethik bzw. eine christlich inspirierte Sozialethik eine spezifische Form der Ethik darstellt, die sich auf den religiösen Glauben bezieht. Religion und Ethos, Glaube und Moral sind somit aufs Engste miteinander verbunden. 152 e) Ethik des Gesundheitswesens als Teilproblem der Sozialethik Nachdem dargelegt wurde, was Gegenstand, Aufgabe und Methodik der christlichen Sozialethik sind, welche historisch-ideengeschichtlichen Bedingungen für die Konstituierung des Faches ausschlaggebend gewesen sind, soll im Folgenden die Frage geklärt werden, weshalb die sozialethisehe Reflexion in dieser Studie auf das Gesundheitswesen gelenkt wird und was unter einer Ethik des Gesundheits148 Vgl. Korff, Wilhelm, Thomas von Aquin und die Neuzeit, in: Beckmann, Jan P. (Hrsg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 389/390. 149 So z. B. Amery, Carl, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek bei Hamburg 1972. 150 Vgl. Korff, Kernenergie und Moraltheologie, 48/49. 151 Vgl. Irrgang, Bemhard, Christliche Umweltethik. Eine Einführung, München/Basel 1992,143. 152 Vgl. Korff, Ethik: 2. Theologisch, 662.

64

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

wesens zu verstehen ist. Bei dem soziologischen Zugang zur Gesundheitsproblematik ist deutlich geworden, dass Gesundheit und Krankheit nicht allein von so genannten personalen Faktoren wie Alter, Geschlecht, genetischen Dispositionen etc. abhängen, sondern im Wesentlichen auch von sozialen Faktoren, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen bestimmt werden. Damit werden Gesundheit und Krankheit in den Kontext sozialer und sozialethischer Probleme gestellt. Wenn der Gesundheitszustand (Krankheitszustand) einer Bevölkerung von strukturellen Fragen abhängig ist, dann ist es Aufgabe der Sozialethik, gesellschaftliche Defizite zu benennen, die einer humanen, am Personprinzip ausgerichteten Entwicklung des Gesundheitswesens im Wege stehen. Die bereits eingeführte Definition zum Begriff Gesundheitswesen l53 hat deutlich gemacht, dass verschiedene Problembereiche das Aufgabenfeld einer sozialethischen Betrachtung des Gesundheitssektors strukturieren: Unter den vielfältigen Institutionen im Gesundheitswesen sind alle Betriebe, Ämter oder Dienststellen zu verstehen, die spezielle Gesundheitsleistungen erbringen. 154 Solche Einrichtungen umfassen beispielsweise die Gesundheitsbehörden des Bundes, der Länder und der Kommunen, staatliche und kommunale Gesundheitsämter, ambulante und stationäre Einrichtungen der Gesundheitsversorgung (Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäuser), pharmazeutische und medizintechnische Industriebetriebe, verschiedene Forschungseinrichtungen, Krankenkassen, Laien- und Selbsthilfeorganisationen. Unter den im Gesundheitswesen herrschenden Normen sind alle gesetzlichen Grundlagen der Gesundheitspolitik zu verstehen, wie sie etwa im Sozialgesetzbuch, in ergänzenden Gesetzen beispielsweise im Hinblick auf die gesetzliche Krankenversicherung, in besonderen Berufs-, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Gesundheitsberufe zu finden sind. 155 Aber auch die Verhaltensvorschriften des ärztlichen Ethos gehören zu den im Gesundheitswesen geltenden Normen. Die Handlungen, die im Gesundheitswesen ausgeübt werden, erstrecken sich vor allem auf alle Maßnahmen der Krankenversorgung und der gesundheitlichen Betreuung etwa durch Vertreter / Vertreterinnen der professionellen Gesundheitsberufe bzw. durch nichtprofessionelle Helfer (Familienangehörige, Betreuer in Laienorganisationen). Mit den hier angesprochenen Handlungen können beispielsweise auch politische Entscheidungen gemeint sein oder konkrete Unternehmensentscheidungen bei der Entwicklung und Vermarktung innovativer Arzneimittel. Pharmazeutische Produkte gehören neben technischen Hilfsmitteln und Geräten zu den erforderlichen Sachmitteln im Gesundheitswesen, die für die Krankheitsverhinderung, für die Krankheitsdiagnose sowie für den Heilungsprozess unverzichtbar sind. Des Weiteren wäre ohne spezielle Berujsgruppen (z. B. akademische Berufe und Heilberufe) sowie Handlungen von Entscheidungsträgern (z. B. Gesundheitspoliti153 Das Gesundheitswesen umfasst die Gesamtheit aller Institutionen, Normen, Handlungen, Sachmittel, Personen und Berufe, die das Ziel haben, die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. 154 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 287. 155 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 9-12.

I. Gesundheit als Thema wissenschaftlicher Reflexionen

65

kern / Gesundheitspolitikerinnen, Krankenkassenfunktionären, Chemikern / Chemikerinnen) das Gesundheitswesen nicht funktionsfähig. Erst Ärzte / Ärztinnen, Apotheker / Apothekerinnen, Krankenschwestern, Krankenpfleger etc. können die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung gewährleisten und präventive, kurative sowie rehabilitative Ziele verfolgen. Institutionen, Normen, Handlungen, Sachmittel, Personen und Berufe gehören - wie skizzenhaft gezeigt werden konnte nicht nur zu den Strukturierungselementen des Gesundheitswesens, sondern ebenso zu den zentralen Reflexionsbereichen einer Ethik des Gesundheitswesens. Die sozialethische Reflexion des Gesundheitswesens zielt auf drei ethische Ausrichtungen bzw. drei strukturelle Steuerungskomponenten des öffentlichen Gesundheitssystems, die miteinander in enger kooperativer Verbindung stehen, nämlich Gesundheitssicherung, Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik: 156 • Die Gesundheitssicherung hat die Aufgabe, Gesundheitsgüter und Gesundheitsleistungen zu finanzieren, die zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen notwendig sind; damit ist der Bereich der Krankenversicherung angesprochen. • Die Gesundheitsversorgung hat die Aufgabe, Gesundheitsgüter zu produzieren und Gesundheitsleistungen zu erbringen, die zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen notwendig sind; damit sind die Bereiche der ambulanten / stationären Versorgung sowie der pharmazeutischen Industrie angesprochen. • Die Gesundheitspolitik hat die Aufgabe, die Gesundheitssicherung und die Gesundheitsversorgung zu ordnen. Dabei sind der Schutz, die Erhaltung, die Besserung und die Wiederherstellung der Gesundheit aller Bürger und Bürgerinnen in möglichst umfassender Weise zu gewährleisten. Hier geht es also um die Gestaltung der Rahmenordnung, die primär von den politischen Akteuren abhängig ist. Diese drei Bereiche sind eng miteinander verbunden. Man kann hier von einem Kreislaufmodell ausgehen. Die Versicherten sowie - innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung - die Arbeitgeber zahlen an die Gesundheitssicherung Beiträge. Die Gesundheitssicherung finanziert daraus die Kosten für die Gesundheitsversorgung. Die Gesundheitsversorgung erbringt die Dienstleistungen und liefert die Gesundheitsgüter für die Versicherten. Schließlich wird durch die Gesundheitspolitik der Rahmen für die einzelnen Akteure im Gesundheitswesen gesetzt. Anhand dieser drei Bereiche lassen sich die zentralen ethischen Problemfelder für die normative Reflexion des Gesundheitswesens benennen: Eine Ethik der Gesundheitssicherung beschäftigt sich u. a. mit der Struktur des Versicherungsmodells und den damit verbundenen komplexen Fragestellungen der Finanzierung [56 Vgl. Brennecke, Ralph, Steuerungsprinzipien im Gesundheitssystem, in: Schuller, Alexander/Heim, Nikolaus 1 HaIusa, Günter (Hrsg.), Medizinische Soziologie, Stuttgart 1992, 82/83.

5 Bohrmann

66

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

der Güter und Leistungen. Eine Ethik der Gesundheitsversorgung befasst sich, was die Versorgung mit Gesundheitsleistungen anbelangt, mit dem Arzt-Patienten-Verhältnis und den strukturellen Abläufen innerhalb der ambulanten und stationären Versorgung. Darüber hinaus beschäftigt sich eine Ethik der Gesundheitsversorgung, was jetzt die Versorgung mit Gesundheitsgütern betrifft, mit den unterschiedlichen Akteuren der Produktion und Distribution, das heißt mit deren spezifischer Verantwortung für die Gesundheitsversorgung. Eine zu entwickelnde Ethik der Gesundheitspolitik reflektiert unter sozialethischen Prinzipien die grundsätzliche Ordnung des Gesundheitswesens und hat somit direkten Einfluss auf die Gesundheitssicherung und die Gesundheitsversorgung. Der dahinter stehende Ordnungsauftrag, der sich am Humanen orientiert, zählt zu den primären Aufgabenfeldern der Sozialethik. Mit den Akteuren der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung und der Gesundheitspolitik sind zugleich auch die Verantwortungsträger für das Gesundheitswesen gefunden, die mit ihren Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bestimmen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu zeigen sein, dass sich das Gesundheitswesen in Deutschland durch einen hohen Komplexitätsgrad auszeichnet und die verschiedenen Akteure eng miteinander verbunden sind, sie sich aber auch - vor allem was die jeweiligen Interessen betrifft - voneinander unterscheiden. Da Sozialethik interdisziplinär und kombinatorisch vorgeht, verlangt die ethische Beschäftigung mit dem Gesundheitswesen den Sachverstand anderer Disziplinen. 157 Methodisch arbeitet eine Ethik des Gesundheitswesens deshalb mit verschiedenen Gesundheitswissenschaften zusammen. Zur interdisziplinären Problemlösung ist sie vor allem auf die wirtschaftsethische, medizinethische bzw. medizinrechtliche, gesundheitssoziologische und gesundheitspolitische Reflexion angewiesen. 158 11. Normative Orientierungen in der Sozialethik

Sozialethik untersucht soziale Strukturen - also die Normen, Institutionen und gesellschaftlichen Ordnungen - im Hinblick auf ihren humanen Aspekt und fragt, ob das Menschsein durch diese gefördert oder eher behindert wird. Da der Mensch als Schöpfer der sozialen Gebilde und letztlich der gesamten gesellschaftlichen Institutionen zu verstehen ist, trägt er für seine Kulturschöpfungen auch Verantwortung. Innerhalb der Ethik haben sich unterschiedliche normative Maßstäbe entwickelt, die entweder Leitlinien für individuelles Handeln (Individualethik) oder Richtlinien für die Gestaltung der Gesellschaftsordnung (Sozialethik) formulieren. Im Folgenden sollen die grundlegenden und für die vorliegende Arbeit zentralen normativen Orientierungen der christlichen Sozialethik vorgestellt werden. Zunächst kommt das klassische Prinzip der Gerechtigkeit zur Sprache. Der Gerech157 158

Vgl. Mack, Ethik des Gesundheitswesens, 177. Vgl. Mack, Ethik des Gesundheitswesens, 185 -189.

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

67

tigkeitsbegriff ist zum einen dort zu finden, wo es um innere Haltungen des Menschen, also Tugenden, geht und zum anderen dort, wo äußere Beziehungen zwischen Personen und sozialen Institutionen angesprochen werden. Demnach ist Gerechtigkeit sowohl tugendethisch als auch strukturethisch zu verstehen. In folgender Analyse steht die strukturethische Dimension des Gerechtigkeitsbegriffs in Form der sozialen Gerechtigkeit mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen im Zentrum. Vor allem im Gesundheitswesen wird die Frage nach der gerechten Verteilung gesundheitsbezogener Leistungen und die dahinter stehende Frage nach der Einlösung der Chancen- und Bedürfnisgerechtigkeit bedeutsam. Nach der Darstellung der Gerechtigkeitsidee sollen die drei klassischen Sozialprinzipien (Personalität, Solidarität und Subsidiarität), die in den meisten Einführungswerken der christlichen Sozialethik nach wie vor zu finden sind, als weitere Leitideen für die normative Ausgestaltung sozialer Strukturen zur Sprache kommen. Anschließend steht dann der Aspekt der Freiheit - im Sinne der ökonomischen Freiheitsentfaltung - im Zentrum der Erörterung. Aus der Personalität des Menschen folgt nämlich seine Freiheitsentfaltung, die schließlich in verschiedenen sozialen Strukturen zum Ausdruck kommt. Der Markt schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Wirtschaftssubjekte in Freiheit aufeinander treffen und hier wirtschaftliche Austauschprozesse vollziehen können. Vor allem auch für die Diskussion um die Gestaltung des Gesundheitswesens spielt der Markt eine herausragende Rolle, da es darum geht zu prüfen, inwieweit die marktwirtschaftliehe Struktur - und damit also die Freiheit von Produzenten, Distributeuren und Konsumenten - in sinnvoller Weise das Gesundheitswesen gestalten kann. Gerechtigkeit und Markt stehen in einem Beziehungsverhältnis zueinander. Das Gerechtigkeitsprinzip muss im Hinblick auf den marktwirtschaftlichen Prozess als korrigierendes Element verstanden werden, das den individualistischen Akzent des Wettbewerbs "sozial" aufzufangen versucht. 1. Gerechtigkeit - von der Tugendethik zur Strukturenethik Typologie der klassischen Gerechtigkeitsbegriffe

Nach dem traditionellen Verständnis fordert Gerechtigkeit, ,jedem das Seine" (suum cuique) zu geben. 159 Diese insbesondere auf Ulpian (gest. 228 n. Chr.) zurückgehende Umschreibung integriert Thomas von Aquin in seinen Gerechtigkeitstraktat. Gerechtigkeit ist für ihn eine Tugend, kraft deren "der Mensch mit stetem und ewigem Willen einem jeden sein Recht zuteilt.,d60 Gerechtigkeit steht also in Beziehung zum Recht, da die Gerechtigkeit das regelt, worauf ein Rechtsanspruch erhoben werden kann. 161 Im Gerechtigkeitsbegriff kommen unterschied159 Vgl. Furger, Franz, Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung, Stuttgartl Berlin/Köln 1991, 129. 160 S. Th. II-II 58,1. ,justitia est habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate jus suum unicuique tribut."

5*

68

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

liche Interaktionen zur Sprache; es geht um die vielfältigen Beziehungen der Menschen zueinander hinsichtlich ihrer konkurrierenden Interessen, Ansprüche und Pflichten.162 Drei solcher Beziehungen sind für den klassischen Gerechtigkeitsbegriff - wie zu zeigen sein wird - konstitutiv: erstens das Verhältnis der Personen untereinander, zweitens das Verhältnis zwischen den Personen zum sozialen Ganzen (Gemeinschaft/ Gesellschaft) und schließlich drittens das Verhältnis des Staates zu den Personen. Seit Thomas von Aquin l63 , der sich auf Aristoteles l64 beruft, unterscheidet man in der abendländischen Tradition drei Gerechtigkeitsarten, die in allen sozialethischen Lehrbüchern nach wie vor zu finden sind: (1) Tausch-, Verkehrs-, Vertragsgerechtigkeit oder ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), (2) Legalgerechtigkeit oder gesetzliche Gerechtigkeit (iustitia legalis), (3) Verteilungsgerechtigkeit oder austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva).165 Thomas spricht neben dieser Dreiteilung auch von eine Zweiteilung der Gerechtigkeit. Er unterscheidet die allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) - dies entspricht der Legalgerechtigkeit - und die besondere Gerechtigkeit (iustitia particularis), die die ausgleichende und die austeilende Gerechtigkeit umfasst. 166 Die iustitia commutativa bezieht sich auf das Verhältnis der Personen / Personengruppen untereinander und beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Der Grundsatz dieser Gerechtigkeitsart heißt: Das, was man einander schuldet, muss geleistet werden; Verträge müssen erfüllt und eingehalten werden. 167 Gerechtigkeit schafft also hier den Ausgleich zwischen den Forderungen bzw. rechtlichen Verpflichtungen von Personen / Personengruppen, die sich als rechtlich gleiche Partner gegenüberstehen. 168 Es geht also um den Austausch von Leistung und Gegenleis161 Vgl. Kerber, Waiter/Westennann, Klaus/Spörlein, Bernhard, Gerechtigkeit, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 17. Teilbd., Freiburg/ Basel/Wien 1981, 10. 162 Vgl. Höjfe, Otfried, Gerechtigkeit: I. Das Gerechtigkeitsprinzip, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg/BasellWien 71986,895. 163 Vgl. S. Th. II-II 57 -61. 164 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Buch V, in: ders., Die Nikomachische Ethik, übersetzt und eingeführt von Gigon, Olof, München 1991, 1129 a 3 - 1138 b 15. 165 Vgl. z. B. FeIlermeier, Jakob, Abriß der Katholischen Soziallehre, Freiburg 1956, 76177; Höffner, Joseph, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg. von Roos, Lothar, Kevelaer 1997, 80-82; Monzel, Nikolaus, Die Sehbedingung der Gerechtigkeit, in: ders., Solidarität und Selbstverantwortung. Beiträge zur christlichen Sozialethik, München 1959, 53 - 58; NellBreuning, Oswald von, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, München 21985, 357 - 360; Sutor, Bernhard, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn u. a. 21992, 97; Welty, Eberhard, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., Grundfragen und Grundkräfte des sozialen Lebens, Freiburg 21952,234-264. 166 Vgl. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, 363; Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 241. 167 Vgl. Sutor, Politische Ethik, 97/98.

H. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

69

tung, wobei der Maßstab der Tauschgerechtigkeit die arithmetische Gleichheit ist (a = b).169 Insbesondere in der arbeitsteiligen Gesellschaft, in der viele Interaktionen über den Wirtschafts-, Geschäfts-, Güter- und Handelsverkehr ablaufen, hat die Tausch- oder Verkehrs gerechtigkeit ihren festen Platz und trägt letztlich zum sozialen Frieden innerhalb der Gesellschaft bei. 17o Beispiele für die iustitia commutativa in unserem Gesellschaftssystem sind Lohn-, Preis- oder Versicherungsgerechtigkeit. 171 Bei der iustitia legalis geht es nicht um das Verhältnis zwischen Individuen und bestimmten Gruppen, sondern im Vordergrund steht die Beziehung zwischen den einzelnen Bürgern zur Gesellschaft, zur Gesamtheit der Bürger, zum sozialen Ganzen. 172 Die gesetzliche Gerechtigkeit zielt auf die Erfüllung der gemeinwohlorientierten Verpflichtungen des Einzelnen und auf die Bereitschaft, mindestens das zum Gemeinwohl beizutragen, was das Gesetz verlangt. 173 Beispiele für die Legalgerechtigkeit sind der Rechtsgehorsam und die Erfüllung grundlegender staatsbürgerlicher Pflichten (etwa Ausübung der Wahlpflicht, steuerliche Abgaben, Verrichtung von bestimmten Diensten wie Wehr- oder Ersatzdienst). Die iustitia distributiva bezieht sich auf das Verhältnis des Ganzen, des Staates, zu den Einzelnen und Gruppen. 174 Bei dieser Gerechtigkeitsform geht es um die Verteilung von materiellen oder immateriellen Gütern und Leistungen, die dem Einzelnen durch den Staat gewährt bzw. die im umgekehrten Sinne als Ansprüche geltend gemacht werden. 175 So haben die Bürger in einem Gemeinwesen beispielsweise den Anspruch auf inneren und äußeren Schutz oder auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit etwa im Sinne der Gewährung der personalen Grundrechte. 176 Während bei der Tauschgerechtigkeit die Gleichheit der Güter im Vordergrund steht, schafft die Verteilungsgerechtigkeit einen verhältnismäßigen Ausgleich. So168 Eberhard Welty definiert die iustitia commutativa wie folgt: "Die ausgleichende Gerechtigkeit ist jene Art der Gerechtigkeit, die den Menschen geneigt macht, seinen gleichberechtigten Mitmenschen das Ihrige bis zum vollen Ausgleich zu entrichten." Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 244. 169 Vgl. Ricken, Frido, Gerechtigkeit: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,71. 170 Vgl. Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 244. 171 V gl. Sutor, Politische Ethik, 98. 172 V gl. Sutor, Politische Ethik, 99. 173 V gl. Sutor, Kleine politische Ethik, 68. Welty versteht unter der iustitia legalis Folgendes: "Die allgemeine oder gesetzliche Gerechtigkeit ist jene Tugend, die den menschlichen Willen geneigt macht, der Gemeinschaft das zu geben, was ihr gebührt." Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 257. 174 Vgl. Sutor, Politische Ethik, 97. 175 Die iustitia distributiva ist nach Welty ,jene Art der Gerechtigkeit, der es obliegt, Güter und Lasten gleichmäßig auf die Glieder der Gemeinschaft zu verteilen." Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 259. 176 Vgl. Kerberl Westermannl Spörlein, Gerechtigkeit, 38; Sutor, Kleine politische Ethik, 69170.

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

70

mit ist der Maßstab der iustitia distributiva die geometrische oder proportionale Gleichheit (a:c = b:d).177 Das in der Verteilungsgerechtigkeit verankerte Proportionalprinzip kommt etwa dann zur Anwendung, wenn ein Staat seinen Bürgern eine Entschädigung für im Krieg verlorene Güter zahlt (z. B. Lastenausgleich für die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg). In diesem konkreten Fall können die Geschädigten aber nicht einen hundertprozentigen, sondern lediglich einen verhältnismäßigen Ausgleich erhalten, der aufgrund der zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten gewährt wird. 178

Soziale Gerechtigkeit - eine neue Dimension der Gerechtigkeit im Kontext der modemen Gesellschaft Zu der explizierten klassischen Dreiteilung des Gerechtigkeitsbegriffs kommt im 19. Jahrhundert eine vierte Gerechtigkeitsform hinzu: die soziale Gerechtigkeit (iustitia socialis). Sie geht auf Luigi Taparelli und Antonio Rosmini zurück und wird in Quadragesimo anno erstmalig kirchenamtlich erwähnt, wenngleich hier eine klare begriffliche Definition fehlt. 179 Die Sozialenzyklika gebraucht den Begriff iustitia socialis insgesamt achtmal, wobei er in der deutschen Übersetzung sechsmal mit Gemeinwohlgerechtigkeit übersetzt und zweimal mit sozialer Liebe (caritas socialis)180 in Verbindung gebracht wird: 181 Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auf die gerechte Verteilung von Eigentum und Gütern l82 , auf den gerechten Lohn 183 , auf eine gerechte Ordnung des Arbeitslebens und der gesamten Wirtschaft l84 und grundsätzlich auf den sozialen Reformprozess der Kirche l85 . Nach dem Erscheinen von Quadragesimo anno wird eine intensive innertheologische Diskussion über das Verhältnis der iustitia socialis zu den traditionellen Gerechtigkeitsarten geführt. 186 Entweder wird die iustitia socialis mit der iustita legalis gleichgesetzt l87 oder als Gerechtigkeitsart gedeutet, die sowohl die iustita legalis als auch die iustita distributiva I 88 umfasst. 177 V gl. Ricken, Gerechtigkeit: 1. Philosophisch, 71. 178

Vgl. Sutor, Politische Ethik, 101.

179 Vgl. Hö!fner, Christliche Gesellschaftslehre, 82/83.

Vgl. QA, Art. 88, 126. Vgl. Giers, Joachim, Die "Krise" der sozialen Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 17 (1976) 93. 182 V gl. QA, Art. 57/58. 183 Vgl. QA, Art. 71, 74. 184 Vgl. QA, Art. 88, 101, 110. 185 Vgl. QA, Art. 126. 186 Vgl. zu dieser Diskussion die einschlägigen Positionen bei Giers, Joachim, Zum Begriff der justitia socialis. Ergebnisse der theologischen Diskussion seit dem Erscheinen der Enzyklika "Quadragesimo anno" 1931, in: Münchener Theologische Zeitschrift 7 (1956) 180 181

61-74. 187

Diese Position vertritt z. B. Hö!fner, Christliche Gesellschaftslehre, 83/84.

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

71

Berücksichtigt man die Fundstellen bei Quadragesimo anno, so wird ersichtlich, dass soziale Gerechtigkeit sich auf die Struktur der modemen Gesellschaft bezieht und hier vor allem den Akzent auf die Wirtschaftsordnung der Industriegesellschaft legt. Iustitia socialis heißt, mit den Worten Nell-Breunings, ..Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Bereich,,189. Insofern die soziale Gerechtigkeit gesellschaftliche Strukturprobleme in den Blick nimmt, fragt sie zugleich nach der gerechten Gesellschaftsordnung, in der sich alle Menschen frei entfalten können und Anteil haben am sozialen Leben. Strukturfragen sind in einer vormodernen bzw. traditionellen Gesellschaft, in der die klassische Trias der Gerechtigkeit beheimatet ist, noch keine Problemfelder. Erst mit der Aufklärung, den politischen Revolutionen in Europa und der Industrialisierung weitet sich die ethische Frage und wird zur ethischen Reflexion der sozialen Verhältnisse. Erst das gewandelte Verständnis vom Menschen, nämlich als ein aufgeklärtes und autonomes Subjekt, hat zur Folge, dass der Mensch gesellschaftliche Strukturen in Frage stellt und für seine sozialen Institutionen Verantwortung übernimmt. Die soziale Gerechtigkeit verweist deshalb auf eine neue Dimension gesellschaftlicher Probleme, die nicht mehr primär tugendethisch angegangen werden können - im Sinne des traditionellen Gerechtigkeitsbegriffs -, sondern sozial- und strukturethisch. Auch wenn die iustitia socialis ..mit einigem Geschick" in die klassische Gerechtigkeitstrias eingeordnet werden kann, wird übersehen - so resümieren Walter Kerber, Claus Westermann und Bemhard Spörlein -, ..daß ,soziale Gerechtigkeit' nicht als Tugend des Gesetzgebers oder des Bürgers zu verstehen ist, weil sie vom Gesetzgeber oder den einzelnen Bürgern allein auch gar nicht verwirklicht werden kann, sondern einen gesellschaftlichen Zustand bedeutet, zu dessen Verwirklichung alle in der einen oder anderen Weise beizutragen haben, der aber nur gemeinsam durch eine Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins erreicht werden kann."l90 Mit den Begriffen Chancengerechtigkeit und Bedüifnisgerechtigkeit hat Kerber die soziale Gerechtigkeit inhaltlich zu präzisieren versucht. 191 Chancengerechtigkeit bedeutet - negativ formuliert - den Abbau von Diskriminierungen, so dass alle unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religionszugehörigkeit, politischer Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft am gesellschaftlichen Leben partizipieren können und sie individuelle Freiheitsrechte, demokratische Mitwirkungsrechte und soziale Anspruchsrechte einfordern können. 192 Im positi188 Diese Interpretation vertritt etwa We1ty. In diesem Sinne definiert er die iustitia socialis wie folgt: ..Die soziale Gerechtigkeit ist keine neue und selbständige Art der Gerechtigkeit, sondern lediglich ein neuer Ausdruck für die gesetzliche und austeilende Gerechtigkeit zusammengenommen." Welty, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., 266. 189 Nell-Breuning, Oswald vonl Sacher, Hennann, Iustitia socialis, in: Wörterbuch der Politik, 3. Heft, Freiburg 1949, 30. 190 Kerber 1Westermann 1Spörlein, Gerechtigkeit, 66/67. Eigene Hervorhebungen. 191 Vgl. Kerber, Sozialethik, 84-87; Kerber, Walter, Gerechtigkeit: III. Gerechtigkeit in Theologie und christlicher SoziaUehre, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg 1Basel 1Wien 71986, 905 1906; Kerber 1Westermann 1Spörlein, Gerechtigkeit, 56 - 59. 192 Vgl. Kerber, Sozialethik, 84/85.

72

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

ven Sinne heißt Chancengerechtigkeit, dass allen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird, indem ihnen gleiche soziale Zugangschancen eröffnet werden (z. B. zum Bildungswesen, zum politischen System, zum System der sozialen Sicherung). Chancengerechtigkeit darf aber nicht im Sinne von "jedem das Gleiche" gedeutet werden, denn auch die Gewährung prinzipiell gleicher Chancen kann bestimmte Ungleichheiten nicht aufheben. Aufgrund von Eigentum, Besitz oder auch individueller Leistung gibt es soziale Unterschiede, die man gerade wegen der Gerechtigkeit nicht antasten darf; Kerber spricht hier von der Besitzstandsgerechtigkeit und der Leistungsgerechtigkeit. 193 Auch wenn die Chancengerechtigkeit keine vollkommene Gleichheit der Menschen ermöglichen kann, so schafft sie doch gleiche Startbedingungen (z. B. kostenlose Schulbildung) oder den prinzipiell gleichen Zugang - unabhängig von der Abstammung - zu öffentlichen Ämtern. Bedürfnisgerechtigkeit - die zweite wesentliche Ausprägung der sozialen Gerechtigkeit - heißt nach Kerber, dass elementare Bedürfnisse in einer Gesellschaft befriedigt werden müssen. Solche Bedürfnisse sind z. B. Bildung, Gesundheit, Arbeit, Freizeit / Urlaub, Religionsausübung, politische Partizipation, gesellschaftliche Kommunikation, sie werden durch allgemeine Menschenrechte garantiert. 194 In diesem Sinne ist der Staat - nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, die Hilfsbedürftigen und wirtschaftlich Schwachen durch strukturelle Maßnahmen im Hinblick auf Grundbedürfnisse zu schützen und zu sichern. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Bedürfnisgerechtigkeit und die Chancengerechtigkeit eng zusammenhängen, da beide Gerechtigkeitsformen auf fundamentale Bedürfnisse bzw. Grundrechte aufbauen. Die Forderung nach Bedürfnisgerechtigkeit kann aber nicht heißen, dass alle menschlichen Bedürfnisse gleichermaßen im Namen der sozialen Gerechtigkeit befriedigt werden können; hier erhalten die dringlicheren Bedürfnisse den Vorrang. Das Bedürfnisprinzip muss sich ebenso an den vorhandenen Ressourcen orientieren, denn bei knappen Gütern, die menschliche Bedürfnisse zu befriedigen suchen, muss das zugrunde liegende Verteilungsproblem gelöst werden, das beispielsweise hinsichtlich der zu erörternden Distribution von Gesundheitsleistungen eine große gesellschaftliche Herausforderung bedeutet. Soziale Gerechtigkeit, die "auf den Abbau der strukturellen Ursachen für den Mangel an Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen,,195 zielt, kann in einer Gesellschaft aber erst dann zum Tragen kommen, wenn es auch eine große Anzahl von leistungsfähigen Personen gibt, die mit ihren Ressourcen die Gesellschaft und ihre gemeinwohlorientierten Aufgaben unterstüt193 Vgl. Kerber; Sozialethik, 84/85. 194 Vgl. Kerber; Sozialethik, 86. In Deutschland werden diese Bedürfnisse im Wesentli-

chen durch die Grundrechte abgedeckt. 195 Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21991, Art. 155. Zitiert auch im Gemeinsamen Wort der Kirchen, vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 112.

11. Normative Orientierungen in der Sozialethik

73

zen. Damit also Strukturen geschaffen werden können, die grundlegende Bedürfnisse des Menschen befriedigen und gleiche Startbedingungen für alle setzen wollen, ist ein wirtschaftlich stabiles Gemeinwesen nötig, das die Leistungsfähigen mit ihrem Besitz (Eigentum) und ihrem individuellen Können mitgestalten. Deshalb kommt auch die soziale Gerechtigkeit nicht ganz ohne Elemente der Besitzstands- und Leistungsgerechtigkeit aus. 196 Diese beiden Gerechtigkeitsarten können in diesem Sinne als Assistenzformen der sozialen Gerechtigkeit interpretiert werden. Im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs der christlichen Sozialethik werden im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit zudem die Beteiligungsgerechtigkeit und die Zukunftsgerechtigkeit oder intergenerative Gerechtigkeit behandelt: Beteiligungsgerechtigkeit (iustitia contributiva) zielt auf die Realisierung von gesellschaftlicher Mitverantwortung und die aktive und produktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. 197 Während die klassische Verteilungsgerechtigkeit (justitia distributiva) eine Art Umverteilungsmechanismus darstellt, der aber erst im Nachhinein quasi als eine nachträgliche Gerechtigkeit - wirksam wird, setzt die Beteiligungsgerechtigkeit früher an und tritt für die gerechte Verteilung von sozialen Mitwirkungsmöglichkeiten ein. Solche betreffen beispielsweise die Distribution von Positionen im Hinblick auf demokratische Mitwirkungsrechte. Die Beteiligungsgerechtigkeit spricht einen größeren Adressatenkreis an. Überall dort, wo gesellschaftliche Partizipation (im Staat, in der Gesellschaft, im Betrieb etc.) möglich ist, kann sie wirksam werden. Hingegen geht es der Verteilungsgerechtigkeit "nur" um eine Umverteilung vom Staat zu den Einzelnen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl die Beteiligungsgerechtigkeit als auch die Verteilungsgerechtigkeit an die Grundrechte anknüpfen. Die iustitia contributiva bezieht sich auf demokratische Mitwirkungsrechte, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu verorten sind; die iustitia distributiva bezieht sich auf soziale Anspruchsrechte, die primär im Kontext staatlicher Wohlfahrt anzutreffen sind. Demnach geht die iustitia contributiva über die klassische Gerechtigkeitstrias hinaus und findet ihren systematischen Vgl. Sutor; Kleine politische Ethik, 74. Die Beteiligungsgerechtigkeit geht zurück auf den wirtschaftsethischen Hirtenbrief der US-amerikanischen Bischofskonferenz. Vgl. Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle", Aus deutscher Sicht kommentiert von Hengsbach, Friedhelm, Freiburg I Basel! Wien 1987. Das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit wurde in Deutschland im Anschluss an das Gemeinsame Wort der Kirchen in einem Ergänzungspapier vorgestellt. Vgl. Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Beschäftigung erweitern, Arbeitslose integrieren, Zukunft sichern: Neun Gebote für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Memorandum einer Expertengruppe berufen durch die Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 20, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998. Vgl. dazu auch Heimbach-Steins, Marianne, Beteiligungsgerechtigkeit. Sozialethische Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion, in: Stimmen der Zeit 217 (1999) 147 -160; Heimbach-Steins, Marianne, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse - Konfliktfelder - Zukunftschancen, Mainz 2001, 163-167. 196 197

74

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Entfaltungsort innerhalb der iustitia socialis. So heißt es im US-amerikanischen Hirtenbrief: "Die soziale Gerechtigkeit beinhaltet, daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft die Verpflichtung hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen.,,198 Die Zukunftsgerechtigkeit oder intergenerative Gerechtigkeit - eine weitere Gerechtigkeitsform, die der sozialen Gerechtigkeit zuzuordnen ist - bezieht sich auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen vor allem hinsichtlich der natürlichen Umwelt. 199 Diese Gerechtigkeitsforderung meint, dass die heutige Generation stets die Belange der noch kommenden Generationen mitberücksichtigen soll. Das Prinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development) versucht diesen Zukunfts gedanken zu berücksichtigen, indem es darauf verweist, dass die sozialen, ökonomischen und ökologischen Belange miteinander abgestimmt werden müssen, so dass auch die Nachkommen menschenwürdige Lebensbedingungen vorfinden. 2. Die klassische Trias der Sozialprinzipien

Prinzipien sind allgemeine Aussagen, die eine handlungsleitende Bedeutung für den Menschen haben. Als strukturierungs- und verfahrensrelevante Grundsätze führen sie komplexe gesellschaftliche Erscheinungen auf grundlegende Zusammenhänge zurück und wollen soziale Handlungsstrukturen nach übergeordneten Maßstäben deuten, ordnen und gestalten, aber letztlich auch bewerten. zoo Auf das menschliche Handeln bezogen bedeutet das: Prinzipien sind keine konkreten Normen, keine Verordnungen und keine Ausführungsbestimmungen, sondern ganz allgemeine Grundsätze oder Orientierungsgrundlinien für menschliches Handeln. 201 Das heißt, Prinzipien machen von sich aus noch nicht deutlich, wie man im Einzelnen zu entscheiden hat. Besonders in Umbruchszeiten, in denen alte Deutungsund Orientierungsmuster ihre gesellschaftliche Plausibilität und allgemein verbindliche Gültigkeit verlieren, werden solche Grundsätze des Handeins aktuell. zoz Wenn innerhalb der Sozialethik die Rede von Sozialprinzipien ist, dann versteht man darunter aber nicht einfach Grundsätze für das menschliche Handeln, sondern Gestaltungsleitlinien für die Organisation des strukturellen Zusammenlebens in Gesellschaft, Recht und Staat. Z03 Mit den Sozialprinzipien werden dem Menschen Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft, Art. 71. Vgl. Sutor, Kleine politische Ethik, 74. 200 Vgl. Baumgartner, Aloisl Korff, Wilhelm, Sozialprinzipien, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,405. 201 Vgl. Sutor, Politische Ethik, 32. 202 Vgl. Baumgartnerl Korff, Sozialprinzipien, 405. 203 Vgl. HiZJ:,ert, Konrad, Sozialprinzipien, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 2000, 789/790. 198 199

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

75

Orientierungspunkte an die Hand gegeben, mit denen er die von ihm geschaffenen sozialen Gebilde normativ reflektieren und gestalten kann. In der christlichen Sozialethik geht man traditionellerweise von drei Sozialprinzipien aus: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. 204 Die Sozialprinzipien, die semantisch betrachtet allesamt Neologismen sind, müssen als so genannte Baugesetzlichkeiten für entwicklungsoffene bzw. dynamische Gesellschaften verstanden werden, die demzufolge keinem geschlossenen Gesellschaftsbild bzw. Ethikmodell zugeordnet werden können. 205 Damit kommt eine neue Dimension der ethischen Fragestellung zum Ausdruck, die mit der Situation des sozialen Wandels und der Gestaltungsoffenheit sozialer Gebilde (Normen, Institutionen und Ordnungen) zusammenhängt. Mit ihnen wird folglich zum ersten Mal die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen aus ihrer ethischen Neutralität herausgenommen. 206 Sozialprinzipien verdeutlichen also, dass man soziale Gebilde gestalten und verantworten kann (muss) und dass es folglich auch keine ethisch neutralen Strukturen gibt, denn von der konkreten Ausgestaltung der sozialen Gebilde hängt es ab, inwiefern sich der Mensch frei und human entfalten kann. Gesellschaften sind aufgrund des sozialen Wandels stets neu herausgefordert, über ihre sozialen Grundlagen und strukturellen Zusammenhänge nachzudenken und dementsprechend auf Wandlungsprozesse zu reagieren. Sozialer Wandel forciert demzufolge auch die Ausbildung von neuen Prinzipien, so dass die Sozialethik ihren Prinzipientraktat ergänzen muss?07 Ein solches neues Prinzip, das auf die ökologischen Probleme der technisch-wissenschaftlichen Kultur zu reagieren versucht, ist das Nachhaltigkeitsprinzip (im Sinne von sustainable development)?08

204 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte der Sozialprinzipien Giers, Joachim, Die Sozialprinzipien als Problem der Christlichen Soziallehre, in: Münchener Theologische Zeitschrift 15

(1964) 278-294.

Vgl. Baumgarmer/ Korff, Sozialprinzipien, 405. Vgl. Baumgartner/ Korff, Sozialprinzipien, 405. 207 V gl. Anzenbacher; Christliche Sozialethik, 178. 208 Vgl. allgemein zum Konzept der Nachhaltigkeit Münk, Hans J., Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Anmerkungen zum Umweltgutachten 1994, in: Stimmen der Zeit 213 (1995) 55 -66; Vogt, Markus, Das neue Sozialprinzip "Nachhaltigkeit" als Antwort auf die ökologische Herausforderung, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 2. Bd., Gütersloh 1999, 237 - 257; Vogt, Markus, Sustainable development, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 1145. Vgl. zur Entwicklung des Nachhaltigkeitskonzepts innerhalb der Sozialethik bzw. Umweltethik Lienkamp, Andreas, Steile Karriere. Das Nachhaltigkeits-Leitbild in der umweltpolitischen und -ethischen Debatte, in: Herder Korrespondenz 54 (2000) 464-469. Mittlerweile hat das NachhaltigkeitsLeitbild auch seinen festen Platz innerhalb der kirchlichen Sozialverkündigung. Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 122-125; Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 19, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998,53-74; Lochbühler; Wilfried/ Sellmann, Matthias, "Handeln für die Zukunft der Schöpfung". Nachhaltige Entwicklung als Herausforderung für die christliche Ethik und die Praxis der Kirchen, in: Stimmen der Zeit 218 (2000) 39-53. 205

206

76

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

a) Personalität Der Mensch als Person

Der Begriff des Menschen als Person bildet den Ausgangspunkt der christlichen Ethik. Das lateinische Wort persona kommt vom griechischen prosopon (Gesicht, Maske) oder vom phönizischen Wort persu (Maske)?09 Persona oder prosopon bedeuten aber nicht nur einfach die Maske, sondern verweisen auch auf die Rolle, die Figur, den Charakter, den der Schauspieler im Theater verkörpert. 2lo Mit der christologischen bzw. trinitätstheologischen Kontroverse der Alten Kirche (Tertullian, Justinus, Origenes, Augustinus) beginnt der eigentliche Aufstieg des Personbegriffs. Der Ausdruck persona wurde gebraucht im Rahmen der theologischen Auseinandersetzung um die Dreifaltigkeit Gottes und um die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur in ChristuS?l1 Der römische Philosoph und Staatsmann Boethius (480-524) definiert innerhalb dieser geistes- und theologiegeschichtlichen Auseinandersetzung den Personbegriff wie folgt und gibt damit gleichzeitig eine für die weitere Wirkungsgeschichte zentrale Umschreibung: "Person ist die individuelle Substanz einer vernunfthaften Natur." (Persona est naturae rationalis individua substantia.)212 Nach dieser Definition bedeutet Person (1) etwas Selbständiges, (2) etwas Ungeteiltes und eine von allen anderen verschiedene Einheit, (3) etwas von Natur aus Vernünftiges. 213 Im Folgenden sollen die wesentlichen Kennzeichen für den Personstatus des Menschen aufgeführt werden?14 (1) Der Mensch als rationales Wesen: Obwohl der Mensch ein Naturwesen ist, das

grundlegenden biologischen Rhythmen und Bedürfnissen folgt (Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Bewegung), geht der Mensch - im Unterschied zum Tier - nicht total in dieser Natur auf. Als einziges Weltwesen hat der Mensch Selbstbewusstsein und verfügt über die Gabe der Vernunft (Rationalität). Der Mensch ist, um mit den Worten Max Schelers zu sprechen, "Geist in Welt", ein "Geistwesen,.215. "Ein ,geistiges' Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ,umweltfrei' und, wie wir es nennen wollen, ,welt-

209 Vgl. Halder, Alois, Person: I. Philosophisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg 2 1963/ 1986, 287/288; Wild/euer, Person, 5. 210 Vgl. Wils. Jean-Pierre, Person und Subjektivität, in: ders. /Mieth, Dietmar (Hrsg.), Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn u. a. 1992, 110. 2lI Vgl. Werbiek. Jürgen, Person, in: Eicher, Peter (Hrsg.), Neues Handbuch der theologischen Grundbegriffe, 3. Bd., München 1985,339-344; Wild/euer, Person, 5. 212 Boethius, Anicius M. S., Contra Eutychen et Nestorium, in: ders., Die theologischen Traktate. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Elsässer, Michael, Hamburg 1988,74. 213 Vgl. Wild/euer, Person, 5. 214 Die folgende Aufzählung stützt sich auf Überlegungen von Anzenbacher. Vgl. Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 179 -183. 215 Seheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/München 10 1983.

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

77

offen': Ein solches Wesen hat ,Welt'. Ein solches Wesen vermag ferner die auch ihm ursprünglich gegebenen ,Widerstands' - und Reaktionszentren seiner Umwelt, die das Tier allein hat und in die es ekstatisch aufgeht, zu ,Gegenständen' zu erheben und das Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst zu erfassen, ohne die Beschränkung, die diese Gegenstandswelt oder ihre Gegebenheit durch das vitale Triebsystem und die ihm vorgelagerten Sinnesfunktionen und Sinnesorgane erfährt.,,216 Gerade diese aus dem Kontext der Natur herausragende ,weltoffene' Stellung des Menschen verleiht ihm seine einzigartige Würde. Diese herausragende Stellung kommt auch im biblischen Schöpfungsbericht zur Sprache, in dem der Mensch als das ordnende Wesen dargestellt wird, das über die Schöpfung herrschen (Gen 1,28) und den Tieren Namen geben darf (Gen 2,20). (2) Der Mensch als moralisches Subjekt: Da der Mensch animal rationale ist, also über Vernunft verfügt, verliert er sich nicht in den Bestimmungen der Natur. Er kann zu sich selbst Stellung beziehen, über sein eigenes Handeln herrschen, sich selbst und sein Handeln reflektieren. Für Kant sind Freiheit und Vernunft die herausragenden Charakteristika für den Menschen, darin kommt der intelligible Charakter der Menschheit überhaupt zum Ausdruck. 217 Da der Mensch sich selbst aber die Gesetze seines Handelns geben kann, ist er ein freies - also autonomes - Wesen und steht somit auch in der Freiheit der moralischen Entscheidung. 218 Freiheit bedeutet, dass der Mensch im Besitz eines geistigen Grundvermögens ist und er die Grundentscheidung zwischen Gut und Böse, Gut und Schlecht als Lebensentwurf in sich trägt. Ohne Waltlenkönnen, ohne Willens- und Entscheidungsfreiheit kann es keine Sittlichkeit geben.2 19 (3) Der Mensch als schuldfähiges Wesen: Da der Mensch ein autonomes Wesen ist, das sich selbst aufgegeben ist, das durch keine Instinkte weitreichend gesteuert wird, das sein Leben selbst führen und gestalten muss, das Handlungsund Lebensoptionen treffen muss, ist der Mensch somit auch faltig, falsche Entscheidungen im Sinne von schlechten und bösen Entscheidungen zu treffen, die entweder für ihn selbst oder für andere Schaden bedeuten können. Freiheit ist die Voraussetzung für menschliche Schuld. Persönliche Schuld setzt also ein Mindestmaß an Einsicht (Vernunft) und Freiheit voraus. Hätte der Mensch nicht die Fähigkeit, sich seiner Schuld prinzipiell bewusst zu werden und bei falschen Entscheidungen individuelle Verantwortung im Sinne von Rechenschafts- und Haftungsverantwortung220 zu übernehmen, gäbe es Scheler; Die Stellung des Menschen im Kosmos, 38/39. Hervorhebungen im Original. Vgl. Kern, Walter, Person: I. Philosophisch und theologisch, in: Staatslexikon, 4. Bd., Freiburg 1Basel/Wien 71988,330. 218 V gl. Böckle, Franz, Fundamentalmoral, München 41985, 49150. 219 Vgl. Gründel, Johannes, Nonnen im Wandel. Eine Orientierungshilfe für christliches Leben heute, München 21984, 21/22. 220 Vgl. Burkhardt, Bjöm, Verantwortung: 1. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,672. 216

217

78

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

keine sittlich persönlich zurechenbare Schuld. Wollte man dem Menschen grundsätzlich die Möglichkeit des Schuldigwerdens und des Scheiterns absprechen, würde man damit auch den moralischen Status des Menschen, seine Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und Freiheit leugnen,z21 Im Unterschied zum Begriff Schuld, der ein allgemeiner Ausdruck für menschliches Fehlverhalten ist, hat Sünde eine theologische Bedeutung und will den religiösen Aspekt menschlicher Schuld ausdrücken. 222 (4) Der Mensch als soziales Wesen: Als geistiges Wesen ist der Mensch einerseits ein vernunftbegabtes, sich selbst bewusstes Wesen, andererseits aber zugleich ein soziales Wesen, das auf Interaktion und Kommunikation, also auf Beziehungsstrukturen zu anderen Menschen fundamental angewiesen ist. 223 Zum menschlichen Personsein gehört also nicht nur der Selbststand (individualitas), sondern ebenso die so genannte "Sozialnatur" (socialitas), das heißt, "das Offensein gegenüber anderen und der Austausch mit anderen im Geben und Empfangen oder mindestens die Befähigung dazu. ,,224 Gesellschaftliches Sein gehört somit zur Grundkonstitution des Menschen. Insofern kann der Mensch nur innerhalb sozialer Konstellationen und Gebilde Mensch werden. Die menschliche Sprache kann als klassisches Beispiel für diesen Sozialbezug, der freilich immer auch den Selbststand mitdenken muss, gedeutet werden. Auf der einen Seite ist Sprache zwar ein individueller Akt (Ich denke, Ich spreche ... ), auf der anderen Seite bedeutet Sprache immer auch gemeinsame Sprache, die Menschen während ihrer Sozialisation von anderen erlernen,z25 Über die Sprache und die sozialen Symbolsysteme kommuniziert der Mensch innerhalb der Gesellschaft mit anderen und hat Anteil an gesellschaftlichen Erfahrungsprozessen. (5) Der Mensch als transzendentes Wesen: Wenn hier mit dem Ausdruck Transzendenz ein weiteres Kennzeichen der Personalität des Menschen angesprochen wird, dann bedeutet das zweierlei. Zum einen ist der Mensch aufgrund seiner Autonomie und Rationalität frei und offen zur Welt. Er bleibt nicht eingesperrt "im biopsychischen Gefängnis der ,Umwelt' und ihrer eingegrenzten Vgl. Gründel, Johannes, Schuld und Versöhnung, Mainz 1985,70171. Vgl. Gründel, Schuld und Versöhnung, 84. 223 Vgl. Forschner; Maximilian, Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie, Darmstadt 1989, 1-5. Von Henri de Saint-Simon, dem einstigen Arbeitgeber Auguste Comtes - dem so genannten Begriinder der Soziologie -, wird berichtet, dass er eine Art profaner Kirche gegriindet habe. Die Saint-Simonisten hatten eine seltsame Sitte: Sie trugen Uniformjacken mit Knöpfen im Rücken, die man nur mit Hilfe der anderen auf- und zumachen konnte. Damit wollten sie den grundsätzlichen Sozialbezug der Menschen, die Angewiesenheit auf die jeweils anderen eindrucksvoll zum Ausdruck bringen. Vgl. Berger; Peter L. / Berger; Brigitte, Wir und die Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie - entwickelt an der Alltagserfahrung, Reinbek bei Hamburg 1987, 24. 224 Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, 36/37. 225 Vgl. Anzenbacher; Christliche Sozialethik, 181. 221

222

11. Normative Orientierungen in der Sozialethik

79

und bestimmten, dazu unübersteigbaren Möglichkeiten. Von hier aus rechtfertigt und erklärt sich ein neuer und immanenter Gebrauch des Begriffes der Transzendenz. Der Mensch lebt im ständigen Überstieg seiner selbst, seiner jeweils vorhandenen, aus einem Geschichtsprozeß ererbten Möglichkeiten. Er ist sich immer planend und entwerfend voraus; er gewinnt immer neue Eigenschaften, Fähigkeiten, Techniken usw. und gestaltet so sein Wesen immer weiter aus, - wohlverstanden: sein Wesen als das Wesen eines aus dem Ursprung auf ,Welt' und Mitwelt bezogenen Gemeinschaftswesens.,,226 Neben diesem grundsätzlichen Antriebs- und Handlungsüberschuss des Menschen bedeutet Transzendenz zum anderen, dass der Mensch als geistiges Wesen seine Existenz und seinen Tod zu vergegenwärtigen vermag. Ja, der Tod kann für den Menschen selbst zum Problem werden. Das heißt, dass der Mensch sein gesamtes Leben zu transzendieren versucht und die Frage nach seinem Ursprung, seinem Ziel und dem Sinn seiner Existenz stellt. In diesem Sinne ist der Mensch, da er sein Dasein zu ergründen versucht, existentiell religiös?27 Diese grundsätzliche Transzendenzverwiesenheit des Menschen wird zudem deutlich, wenn man bedenkt, dass in allen kulturgeschichtlichen Epochen Menschen bestimmte Religions- und Glaubenssysteme gestaltet haben. 228

(6) Der Mensch als geschaffenes und gottebenbildliches Wesen: Unter A.1.5.d wurden bereits die drei wesentlichen Eigenschaften des Menschen aus der Perspektive der christlichen Anthropologie vorgestellt. Demnach ist der Mensch erstens Abbild Gottes (Gen 1,26/27), zweitens von Gott beauftragt über die Welt zu herrschen (Gen 1,28) und drittens ein gemeinschaftsbezogenes Wesen, da Gott ihn als Mann und Frau geschaffen hat (Gen 1,27). Gottebenbildlichkeit, Herrschaftsauftrag und Gemeinschaftsauftrag sind folglich die konstituierenden Elemente des Menschen auf der Basis der Schöpfungstheologie. Die aufgeführten Kennzeichen haben deutlich gemacht, was den Menschen als Person auszeichnet. Der Mensch ist ein autonomes, verantwortungsfähiges Wesen, er kann sein Handeln reflektieren und bewerten, er kann sich Normen für sein Handeln geben, sich diesen Normen selbst unterwerfen, diese aber auch in Frage stellen und gegebenenfalls modifizieren. Aufgrund seiner sittlichen Verfasstheit "seiner Bestimmung zum moralischen Subjekt,,229 - wird ihm Würde, also ein unbedingter Wert, zugesprochen. 23o Der unaufhebbare Personstatus und die damit verbundenen Rechte und Pflichten werden immer wieder auch in den Dokumenten 226 Schöllgen. Wemer. Die soziologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre. Düsseldorf 1953, 64. Hervorhebungen im Original. 227 Vgl. Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 182. 228 Vgl. Hausmanninger, Christliche Sozialethik in der späten Modeme, 86. 229 Korff, Wilhelm, Zur naturrechtlichen Grundlegung der katholischen Soziallehre, in: Baadte, Günter / Rauscher, Anton (Hrsg.), Christliche Gesellschaftslehre. Eine Ortsbestimmung, Graz/Wien/Köln 1989, 36. Hervorhebungen im Original. 230 Vgl. Schwartländer, Johannes, Menschenwürde/Personwürde, in: Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,688.

80

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

der kirchlichen Sozialverkündigung thematisiert. In Pacem in terris, der Menschenrechtserklärung der katholischen Kirche, wird die Personalität beispielsweise wie folgt beschrieben: "Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Wie sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden. ,,231 Es ist vor allem der Philosophie Kants zu verdanken, den Subjektstatus des Menschen herausgestellt und die wesentlichen philosophischen Argumente für die Begründung der Personwürde I Menschenwürde geliefert zu haben. 232 Als Wesen, das über Vernunft und Freiheit verfügt, ist dem Menschen unbedingt Würde zuzusprechen. In der so genannten Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs formuliert Kant die grundlegende Maxime sittlichen Handeins: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.,,233 Diese ethische Maxime beinhaltet im Kern die normative Formulierung und Forderung, die auch eine christlich geleitete Ethik enthält, indem sie jeden Menschen als Abbild Gottes versteht. Innerhalb der theologischen Anthropologie wird die Würde des Menschen durch die Lehre von der Gottebenbildlichkeit transzendental verdichtet. Durch den Status des Menschen als Abbild Gottes wird der Personbegriff nicht nur um eine religiöse Kategorie ergänzt, sondern im Kontext der christlichen Sozialethik bildet die imago dei-Lehre den zentralen Punkt anthropologischer Interpretationen. Das christliche Verständnis vom Menschen und der philosophisch-anthropologische Subjektbegriff schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern sind miteinander kompatibel. Sie implizieren allgemein gültige normative Prinzipien, mit denen sozialethische Reflexionen ein adäquates oberstes Instrument gefunden haben. 234 Aus der Bestimmung der Personalität des Menschen lässt sich eine Schlussfolgerung ableiten, die nicht nur für die ethische Normsetzung, sondern auch für die rechtliche Ausgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von zentraler Bedeutung ist: Die allen Menschen innewohnende gleiche personale Würde und die - theologisch gewendet - Gottebenbildlichkeit der Menschen begründen die prinzipielle rechtliche, politische und soziale Gleichstellung bzw. Gleichbehandlung aller Menschen ohne Ansehen der Person?35 Der Gleichheitsgrundsatz blickt 231

PT, Art. 9.

Vgl. Schwartländer; Menschenwürde / Person würde, 685/686. Kant, Imrnanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant-Theorie-Werkausgabe 7. Bd., hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Wiesbaden 1956, 6l. 234 Vgl. Hausmanninger; Christliche Sozialethik in der späten Modeme, 70. 235 Dazu heißt es etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Art. 1 AEM. 232

233

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

81

auf eine längere Traditionsgeschichte zurück (z. B. AT, NT), drängt dabei ab der Aufklärung und der Französischen Revolution immer mehr ins politische Bewusstsein und prägt schließlich die Ausgestaltung gesellschaftlicher Strukturen?36 Rechtliche Gleichheit heißt vor allem, dass die Gesetze bei allen Betroffenen in gleicher Weise zur Anwendung kommen. 237 Politische Gleichheit bedeutet insbesondere die Geltung demokratischer Grundsätze, wie sie in der gleichberechtigten Beteiligung an der staatlichen Ausgestaltung (Wahlrecht) zum Ausdruck kommt. Schließlich versteht man unter sozialer Gleichheit, dass der Gesetzgeber durch die Schaffung gesetzlicher Bestimmungen gesellschaftliche Ungleichheiten im Hinblick auf existenznotwendige Ressourcen auszugleichen versucht. 238 Wahrung der Personwürde innerhalb gesellschaftlicher Strukturen

Nachdem die Personalität des Menschen anhand verschiedener Dimensionen charakterisiert worden ist und die daraus abgeleitete Gleichheit aller Menschen expliziert wurde, muss in einem nächsten Schritt die strukturethische Frage behandelt werden. Personalität als Sozialprinzip besagt, dass die sozialen Gebilde, die der Mensch im Rahmen gesellschaftlicher Prozesse geschaffen hat, den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellen müssen. Das Personprinzip als Sozialprinzip erhebt die Forderung, dass soziale Normen, Institutionen und Ordnungen so zu gestalten sind, dass sie dem Menschen gerecht werden. Letzter Maßstab sozialer Gebilde wird damit der Mensch selbst und zwar in seiner Unverfügbarkeit als Person. 239 Soziale Gebilde erhalten nur dadurch ihre ethische Rechtfertigung, dass sie helfen, menschliches Personsein zu entfalten. Man redet hier vom Personprinzip als Sozialprinzip. Dieses Sozialprinzip, das zuerst in der Enzyklika Mater et magistra (1961) von Papst Johannes XXIII. und dann in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) des Ir. Vatikanischen Konzils formuliert wurde, lautet wie folgt: "Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muß auch sein die menschliche Person, die ja von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf."z4o In dieser Formel steckt sowohl eine Seinsaussage ("ist") als auch eine Sollensaussage ("muss auch sein"). Beide Aussagen sind dabei untrennbar miteinander verbunden. 241 Da der Mensch Schöpfer 236 Vg1. Bühl, Walter, L., Gleichheit II., in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg/Basel/Wien 71986, 1065 - 1068; Dürig, Walter, Gleichheit 1., in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg 1Basel 1 Wien 71986, 1068 - 1073; Koch, Traugott, Gleichheit: I. Theologisch, in: Evangelisches Staatslexikon, 1. Bd., Stuttgart 31987,1178/1179. 237 Diese Nonn wird im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 GG festgeschrieben: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Vg1. beispielsweise auch Art. 2 Abs. I und Abs. 2 AEM. 238 Vg1. Koch, Gleichheit: I. Theologisch, 1180. 239 Vg1. Höhn, Hans-Joachim, Personalitätsprinzip, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 61/62. 240 GS, Art. 25. Vg1. auch MM, Art. 219. 241 V g1. Sutor, Politische Ethik, 20.

6 Bohnnann

82

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

seiner eigenen sozialen Gebilde ist, sind all seine gesellschaftlichen Werke auch gestaltbar und veränderbar. Und das bedeutet in der Konsequenz, dass er als moralisches Subjekt für seine Erzeugnisse und Leistungen stets verantwortlich bleibt und dementsprechend auch zur Rechenschaft gezogen werden kann?42 Alle gesellschaftlichen Strukturen müssen dem Personprinzip gerecht werden, denn soziale Institutionen sind um der Menschen willen da und nicht umgekehrt. Das oben genannte, in Gaudium et spes formulierte Personprinzip besagt demzufolge, dass alle gesellschaftlichen Teilbereiche den Menschen in den Mittelpunkt der Entscheidungen stellen sollen und seine ihm eigene und unaufhebbare Würde durch keine sozialstrukturelle Ordnung eingeschränkt, bedroht oder verletzt werden darf. Soziale Strukturen, die menschliches Leben prägen, haben ausschließlich einen funktionalen Charakter bzw. eine Dienstfunktion und sollen dazu beitragen, dass der Mensch als Person in seinem Seinkönnen und in seinen Entfaltungschancen gefördert wird. Soziale Strukturen erhalten ihre ethische Rechtfertigung erst dann - so Alois Baumgartner und Wilhe1m Korff -, wenn "sie sich als funktionale Vollzugs- und Entfaltungsbedingungen menschlichen Personseins erweisen. ,,243 Die Achtung der menschlichen Person, wie sie sich in den sozialen Strukturen zu realisieren hat, ist daher der Ausgangspunkt jeder Sozialethik. 244

b) Solidarität Solidarität - ein begriffsgeschichtlich-deskriptiver Zugang

Neben dem Personprinzip gilt das Solidaritätsprinzip als weiteres zentrales Sozialprinzip der christlichen Sozialethik. Immer dort, wo sich Menschen zusammenschließen, um bestimmte Probleme und Aufgaben besser verwirklichen zu können, kann von Solidarität gesprochen werden. Bei der Solidarität geht es um eine "bewußte Erfahrung von Zusammengehörigkeit und das daraus resultierende Verhalten einer Vielheit als Einheit,,245. Das Gemeinsame, das Menschen "solidarisch" miteinander verbindet, kommt bereits in der etymologischen Herleitung des Begriffs zur Sprache, da Solidarität auf die lateinischen Termini solidum (Boden, fester Grund),246 solidus (fest, dicht, gediegen, ganz)247 oder solidare (fest zusam242 Vgl. Baumgartner; Alois, Das Subjekt der Demokratie: Anmerkungen zum Problem politischer Verantwortung, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 36 (1995) 101. 243 Baumgartner / Korff, Sozialprinzipien, 406. 244 Vgl. Furger; Christliche Sozialethik, 135. So auch Kerber; Sozialethik,28. 245 Baumgartner; Alois / Korff, Wilhelm, Das Prinzip Solidarität. Strukturgesetz einer verantworteten Welt, in: Stimmen der Zeit 208 (1990) 237. 246 Vgl. Baumgartner; Alois, Solidarität und Ehrenamtlichkeit, Subsidiarität und Selbsthilfe. Veraltete Prinzipien der Sozialpolitik?, in: Textor, Martin R., Aktuelle Fragen der Sozialpolitik, München 1996,29. 247 Vgl. Anzenbacher; Christliche Sozialethik, 196.

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

83

menfügen)248 zu·rückgeht. Der Solidaritätsbegriff spielt in der Tradition der katholischen Soziallehre bzw. christlichen Sozialethik eine zentrale Rolle und wird hier als fundamentales ethisches Prinzip verstanden, das an ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein gegenseitiges Angewiesensein von Menschen in einer Gruppe anknüpft. Damit der Begriff überhaupt erst von der katholischen Soziallehre aufgenommen werden konnte, waren freilich viele unterschiedliche philosophische, soziologische, politische Vorarbeiten nötig. Diese Entwicklungslinien, die dem Solidaritätsbegriff bzw. dem Solidaritätsprinzip zu einer herausragenden gesellschaftspolitischen (sozialethischen) Bedeutung verhalfen, sollen im Folgenden in aller Kürze skizziert werden. 249 Ursprünglich wurde der Solidaritätsgedanke im Rechtsbereich gebraucht. Der juristische Fachterminus "in solidum obligari" drückt ein Rechtsverhältnis mehrerer Mitschuldner aus und meint, dass jeder verpflichtet ist, für das Ganze (in solidum) zu haften. 25o Mit dem lateinischen Adjektiv solidus wird das Verhältnis der Schuldner untereinander zur Sprache gebracht, das sich durch eine gegenseitige Verpflichtung auszeichnet. 251 Im Deutschen ist die juristische Bedeutung von Solidarität in dem Ausdruck "Solidarobligation" noch erhalten, worunter eine "unbegrenzte Haftung jedes Schuldners für eine Gesamtschuld, die bei Zahlung durch einen für die anderen erlischt,,252, verstanden wird. Die ersten sozialphilosophischen und soziologischen Arbeiten, die den Solidaritätsgedanken in den Mittelpunkt stellen, werden in Frankreich im Laufe des 19. Jahrhunderts publiziert. Zunächst gebraucht Pierre Leroux 1840 den Solidaritätsbegriff, um damit eine wechselseitige Verpflichtung auszudrücken. Menschen sind füreinander wechselseitig verantwortlich, nicht aber aufgrund einer religiösen Basis, sondern aufgrund einer anthropologischen Grundlage. In diesem Sinne will Leroux den christlichen Begriff charite durch den eher anthropologisch oder gesellschaftlich fundierten Terminus solidarite ersetzen. 253 Vgl. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 47. Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung des Solidaritätsbegriffs bzw. Solidaritätsprinzips Schmelter, Jürgen, Solidarität: Die Entwicklungsgeschichte eines sozialethischen Schlüsselbegriffs, Diss. München 1991; Schmelter, Jürgen, Solidarität: Entwicklungslinien eines sozialethischen Schlüsselbegriffs, in: Mertens, Gerhard 1Kluxen, Wolfgang 1Mikat, Paul (Hrsg.), Markierungen der Humanität. Sozialethische Herausforderungen auf dem Weg in ein neues Jahrtausend, Paderbom u. a. 1992, 385 - 394. Trotz einiger Mängel (z. B. der zu starke Rückgriff auf sekundäre Textquellen), die Andreas Wildt herausgestellt hat, bietet die Dissertation von Jürgen Schmelter einen guten, umfassenden Überblick über die historische Genese des Solidaritäts begriffs. Vgl. zur Kritik Wildt, Andreas, Solidarität - Begriffsgeschichte und Definition heute, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998,202-216. 250 Vgl. Schmelter, Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 8. 251 Vgl. Schmelter, Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 8. 252 Wildt, Andreas, Solidarität, in: Ritter, Joachim 1Gründer, Karlfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 9. Bd., Darmstadt 1996, 1004. 253 Vgl. Wildt, Solidarität - Begriffsgeschichte, 205/206; Zürcher, Markus D., Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Zur Phänomenologie, Theorie und Kritik der Solidarität, 248 249

6*

84

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Innerhalb der sich konstituierenden Soziologie als Wissenschaft steht der Solidaritätsbegriff bei den Klassikern des Faches an herausragender Stelle. Vor allem zwei Vertreter, die für die Entwicklung der Soziologie von besonderer Bedeutung sind, müssen hier erwähnt werden: Auguste Comte, der so genannte "erste Soziologe" und "Erfinder" des Namens Soziologie,254 und Emile Durkheim, der 1906 den weltweit ersten Lehrstuhl für Pädagogik und Soziologie an der Sorbonne übernommen hat und längst zum großen Klassiker der Soziologie255 geworden ist. Comte ist der Erste, der die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt stellt und hierzu mit dem Begriff der Solidarität die Antwort gefunden zu haben glaubt. Solidarität ist für Comte das unsichtbare Band, das die Individuen einer Gesellschaft zusammenhält, und in der Arbeitsteilung - dem zentralen Kennzeichen der Industriegesellschaft - gründet nach Comte letztlich die gesellschaftliche Solidarität. 256 Während aber Comte den Solidaritätsbegriff noch nicht als Grundbegriff seiner Soziologie betrachtet - im Zentrum seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen stehen eher Gedanken der gesellschaftlichen Evolution und der geistigen Genese der Menschheit257 -, ist für Durkheim der Solidaritätsgedanke so zentral, dass man ihn als Schlüssel für sein gesamtes Werk betrachten muss. Das, was für Max Weber die Rationalisierung und für Karl Marx die Produktionsweise ist, ist für Durkheim die gesellschaftliche Solidarität. 258 Durkheim hat in seiner Soziologie immer wieder die Frage gestellt, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. 259 Den Solidaritätsbegriff, wie er im Werk von Comte bereits zu finden ist, entfaltet Durkheim weiter und erarbeitet vor allem in drei zentralen Tübingen 1998,56-62. Das von Leroux publizierte Werk, das den Solidaritätsgedanken enthält, heißt: De I'Humanite. De san principe, et de san avenir (Paris 1840). 254 VgJ. Bauer; Eva, Zur Entstehung soziologischer Theorie: Anfange soziologischen Denkens, in: MoreI, Julius u. a., Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze und ihre Hauptvertreter, München/Wien 1989, 8; Karte, Einführung in die Geschichte der Soziologie, 30. VgJ. allgemein zum Leben und Werk von Comte Back, Michael, Auguste Comte, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 22000, 39-57; Massing, Ottwin, Auguste Comte, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 1976, 19-61. 255 VgJ. Karte, Einführung in die Geschichte der Soziologie, 65/66. V gJ. allgemein zum Leben und Werk von Durkheim König, Rene, Emile Durkheim, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 1976, 312-364; Müller; Hans-Peter, Emile Durkheim, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 22000, 150-170. 256 VgJ. Sehmelter; Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 15/16. 257 VgJ. Helle, Einführung in die Soziologie, 32-42; Helle, Horst J., Religionssoziologie. Entwicklung der Vorstellung vom Heiligen, München/Wien 1997, 11-17; Mikl-Horke, Soziologie, 15 - 19. 258 VgJ. Hauek, Gerhard, Geschichte der soziologischen Theorie. Eine ideologiekritische Einführung, Reinbek bei Hamburg 1984,93. 259 VgJ. Müller; Hans-Peter/ Schmidt, Michael, Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in die "Arbeitsteilung" von Emile Durkheim, in: Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, 481.

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

85

Publikationen, Über soziale Arbeitsteilung (1893), Der Selbstmord (1897) und Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), eine soziologische Theorie der Solidarität. In systematischer Form wird der Solidaritätsbegriff in dem Buch über die Arbeitsteilung - Durkheims Dissertationsschrift - entfaltet. 26o Durkheim geht es in seiner Dissertation folglich primär um die Frage, wie die Ordnung der Gesellschaft, also die Integration der Gesellschaft, überhaupt möglich ist. Um zu klären, welche große Bedeutung die soziale Arbeitsteilung für die Gesellschaft hat, unterscheidet Durkheim zwei Gesellschaftstypen: primitive Gesellschaften,261 die aus ähnlichen Gesellschaftsmitgliedem bestehen, und höhere Gesellschaften,262 in denen voneinander verschiedene Gesellschaftsmitglieder miteinander leben und interagieren. Anhand dieser Differenzierung gelangt er zu der für ihn fundamentalen Unterscheidung zweier Formen der Solidarität?63 Gesell260 Der Gedanke der Solidarität wird in dem Buch Der Selbstmord im Hinblick auf die Stärke der Gruppenkohäsion empirisch untersucht. Durkheim will wissen, inwiefern die Zugehörigkeit zu konfessionellen Gruppen mit der Häufigkeit von Selbstmorden korreliert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen sich weniger das Leben nehmen, je mehr sie in einer gesellschaftlichen Gruppe integriert sind, je größer also die gesellschaftliche Solidarität ist. Diese Gruppenkohäsion ist besonders stark innerhalb der jüdischen und katholischen Religionsgemeinschaft, während bei Protestanten die Selbstmordrate höher ist. Je größer also der Gruppenzusammenhalt, desto niedriger die Selbstmordrate; je höher die Autonomie des Einzelnen und geringer der Gruppenzusammenhalt, desto höher die Selbstmordrate. Erstaunlich ist an diesen Ergebnissen, dass eine so individuelle Entscheidung wie der Selbstmord dennoch ein Kennzeichen für die Solidarität der Menschen untereinander ist. Die Studie über den Selbstmord hat gezeigt, dass auch ein so persönliches Phänomen etwas verrät über die Stellung des Individuums zum Kollektiv. Vgl. Durkheim, Der Selbstmord. Auch Durkheims religionssoziologisches Spätwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens verdeutlicht den gesellschaftlichen und somit kollektiven Charakter von Religion. (Daneben geht es in seiner Studie aber auch um evolutionstheoretische Aussagen über die Religion, über die Funktion von Religion und vor allem über charakteristische Elemente jeder Religionsfonn.) Religion - so Durkheims Grundthese - ist ein solidarischer Ort, an dem die Gesellschaft zusammenkommt, hier ihre kollektiven Gefühle leben kann und sich hier jeweils periodisch erneuert. Religion fördert die Vergesellschaftung und trägt dazu bei, dass das Individuum Teil eines solidarischen Kollektivs wird. In diesem Sinne erfüllt die Religion eine für die Gesellschaft wichtige Integrationsfunktion. Vgl. Durkheim, Emile, Die elementaren Fonnen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. Vgl. auch die religionssoziologischen Arbeiten über Durkheim innerhalb der Sekundärliteratur Helle, Religionssoziologie, 26-33; Knoblauch, Hubert, Religionssoziologie, Berlin / New York 1999, 58 - 80. 261 Vgl. Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, 118 - 161. 262 Vgl. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 162-184. 263 Durkheim knüpft in seinen Überlegungen an die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft an, die Ferdinand Tönnies am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die soziologische Diskussion eingebracht hat. Tönnies verfolgt in seinem Werk ein theoretisch-klassifikatorisches und ein sozial- und kulturgeschichtliches Anliegen. Mit seiner Dichotomie hat er im Rahmen seiner so genannten ..reinen" Soziologie versucht, Sozialbeziehungen klassifikatorisch zu bündeln und zwei zentrale, zugleich gegensätzliche Grundbegriffe zu finden, mit denen man die Fülle des sozialen Lebens tenninologisch erfassen kann. Es handelt sich bei seinen bei den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft um zwei Versionen

86

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

schaften, in denen die Arbeitsteilung nicht oder nur wenig ausgeprägt ist, bezeichnet er als segmentäre Gesellschaften. Dieser kollektive Typ zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Mitglieder sich relativ ähnlich sind, es besteht ein geringes Maß an sozialer Differenzierung. Zwischen den einzelnen Segmenten (wie Hausoder Dorfgemeinschaft) existieren nur sehr einfache und lose Formen von Interaktionsprozessen. Die soziale Zusammengehörigkeit, die Solidarität, ist bei diesen Gesellschaften durch einen gemeinsamen Glauben an bestimmte Ideen oder Ideale gebunden. Durkheim spricht hier von der mechanischen Solidarität. Darunter versteht er die Solidarität unter Gleichen, die Solidarität aus Ähnlichkeiten. Diesem Typus von Gesellschaft entspricht ein bestimmter Bewusstseinszustand, den Durkheim Kollektivbewusstsein (conscience collective) nennt. 264 "In dem Augenblick, in dem diese Solidarität [die mechanische, T.B.] wirkt, löst sich unsere Persönlichkeit definitions gemäß sozusagen auf; denn dann sind wir nicht mehr wir selbst, sondern das Kollektivwesen ...265 Nun ist dieses Kollektivbewusstsein etwas, was man nicht unmittelbar beobachten kann, es manifestiert sich besonders in moralischen oder juristischen Normen der Gesellschaft. In segmentären Gesellschaften wirken diese Normen nur im restriktiven Recht oder Strafrecht. Wenn dieses Recht verletzt wird, dann erfolgt die Bestrafung, weil gegen das Kollektivbewusstsein verstoßen wurde, das heißt, das gemeinsame Empfinden über "Gut" und "Böse" wurde missachtet. In der nichtsegmentären Gesellschaft, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung aufgebaut ist, herrscht eine andere Form der Solidarität, die Durkheim mit organischer Solidarität bezeichnet. Bei dieser Form sind sich die Individuen nicht ähnlich - wie bei der mechanischen Solidarität -, sondern sie unterscheiden sich voneinander und ergänzen sich in ihrem Tun. Der eine stellt dann dem anderen genau das zur Verfügung, was diesem fehlt und umgekehrt. Die Grundlage dieser Solidarität ist also immer dort gegeben, wo Arbeitsteilung (Funktionsteilung) vorliegt. Die Funktionsdifferenzierung auf wirtschaftlicher oder politischer Ebene führt zur Individualisierung, aber auch zur Verstärkung der Abhängigkeit zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft. Weiterhin bedeutet Freisetzung funktionale Differenzierung, also Freisetzung vom Kollektivbewusstsein, und Einbindung in eine komplexe, individualisierte Gesellschaft. Durkheim hinterfragt die Intensität der beiden Solidaritäten im Kontext einer auf Arbeitsteilung basierenden Gesellschaftsform. Er stellt ein zunehmendes Übergewicht der organischen Solidarität fest. Die mechanische Solidarität und ihre Basis des Kollektivbewusstseins tritt mit dem Fortschreiten der Funktionsteilung in den Hintergrund, kommt aber des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Sinne einer formalen Soziologie. Vgl. 1Onnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 31991. 264 Im Französischen bedeutet Kollektivbewusstsein zum einen eine gemeinsame Sprachund Denktradition und zum anderen einen gemeinsamen Moralkodex. Vgl. Müller I Schmidt, Arbeitsteilung, Solidarität und Moral, 491. Das Kollektivgewissen dieses Gesellschaftstyps ist also ein gleiches Wert- und Regelsystem, man hat hier gleiche Vorstellungen von der Welt entwickelt, wie sie ist und sein soll. Die Individuen sind folglich eine Kopie des Kollektivs. 265 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 182.

H. Normative Orientierungen in der Sozialethik

87

nicht völlig zum Verschwinden. Auch die organische Solidarität hat nach Durkheim einen moralischen Charakter, ihre Individuen agieren nicht im leeren Raum, sondern fühlen sich einem Kollektiv unterworfen, wenngleich die Verbindlichkeit geringer ist als bei der mechanischen Solidarität. Für Durkheim hat also nicht eine Gesellschaftsform, im Sinne der organischen Solidarität, eine andere, im Sinne der mechanischen Solidarität, abgelöst, sondern es hat nur eine Gewichtsverlagerung ohne Zweifel aber eine bedeutungsvolle - stattgefunden?66 Die Differenzierung in einer mechanischen Solidarität und einer organischen Solidarität, "in der sich die Integration moderner, funktional differenzierter, arbeitsteiliger Gesellschaften vollzieht,,267, bleibt ganz auf dem Boden der deskriptiv arbeitenden Soziologie und darf nicht als Plädoyer für eine bestimmte Gesellschaftsform verstanden werden. Außerhalb der soziologischen Fachdiskussion gewinnt die Solidaritätsidee besonders in der revolutionären Bewegung in Europa an Bedeutung. Der im Rahmen der französischen Revolution verwendete Leitbegriff Jratemite wird durch Solidarität ersetzt. Damit transformiert sich der Solidaritätsbegriff zum politisch relevanten Kampfbegriff. Solidarität drückt nun das Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterklasse aus und verdeutlicht den Selbstbehauptungswillen, sich im politischen Klassenkampf durchzusetzen. 268 Karl Marx radikalisiert schließlich die Solidaritätsidee, auch wenn er das Wort Solidarität nur selten verwendet. 269 Der Begriff wird im Gefolge der sozialistischen und kommunistischen Bewegung zur Interessen- und besonders zur Kampfsolidarität der Arbeiterklasse (Klassensolidarität), was in dem Satz "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!,,27o programmatisch zum Ausdruck kommt. 271 Um die lahrhundertwende ist in Frankreich die Solidaritätsidee nach wie vor aktuell. Charles Gide, Sozialökonom, und Leon Bourgeois, Politiker und späterer Friedensnobelpreisträger, propagieren den Begriff breitenwirksam, indem sie Solidarität in ein ethisch-humanistisches Konzept integrieren und ihren theoretischen Entwurf mit dem Ausdruck Solidarismus (solidarisme) bezeichnen. 272 Für Bourgeois tritt an die Stelle der christlichen Nächstenliebe und der republikanischen Brüderlichkeit die soziale Solidarität. 273 Aufgrund der grundSätzlichen Abhängigkeit der Menschen im Sinne einer gemeinsamen Schicksalsgemeinschaft der Vgl. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 286. Baumgartner, Alois, Solidarität: I. Begriffsgeschichtlich, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 707. 268 Vgl. Baumgartner, Solidarität: I. Begriffsgeschichtlich, 707; Schmelter, Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 37 -45. 269 Vgl. Zoll, Rainer, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt a.M. 2000, 56. 270 Marx, KadI Engels, Friedrich, Manifest der kommunistischen Partei, Bedin (Ost) 1983,77. 271 Vgl. Schmelter, Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 44. 272 Vgl. Schmelter, Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 60-63; Zoll, Was ist Solidarität heute?, 78179; Wildt, Solidarität, 1008. 273 Vgl. Wildt, Solidarität, 1008. 266

267

88

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Menschheit ist Solidarität eine gesellschaftliche Tatsache. Bourgeois bleibt aber nicht bei der Analyse stehen, sondern er versucht, den Solidaritätsgedanken in einer Rechtspflicht auszudrücken, indem Individuum und Gesellschaft einen fiktiven Vertrag eingehen. Dieser Gedanke mündet schließlich in die Idee des Wohlfahrtsstaates. 274 Die von Gide herausgestellte Unterscheidung von solidarite fait (die tatsächlich existierende Solidarität) und solidarite devoir (die Solidarität als Pflicht), die auch Bourgeois in Grundzügen aufgreift und in sein Solidaritätskonzept einbaut, verdeutlicht bereits eine klare Trennung des Begriffs in eine soziologische und eine ethische Kategorie. 275 Diese Unterscheidung wird dann von dem Hauptvertreter des Solidarismus in Deutschland, Heinrich Peseh, aufgegriffen und in sein fünfbändiges Lehrbuch der Nationalökonomie integriert. 276 Über die Arbeiten von Pesch und seiner Schüler Gundlach und Nell-Breuning gelangt der Solidaritätsgedanke im Sinne eines sozialethisehen Prinzips schließlich in die kirchliche Sozialverkündigung. 277 In seiner Grundlegung der Nationalökonomie aus dem Jahre 1905 fragt Pesch nach dem obersten Organisationsprinzip der Volkswirtschaft. 278 Im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden besonders zwei Systeme diskutiert, die jeweils weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen hatten: der Individualismus und der Sozialismus. Der Individualismus betont in extremer Weise das einzelne Individuum und stützt sich auf die Gesetze des Marktgeschehens, die aufgrund des individualistischen Credos ohne soziale Bindung und ohne gesellschaftliche und staatliche Einwirkung ablaufen müssen. Die leitende Idee ist demzufolge die der absoluten Freiheit und Selbständigkeit der jeweiligen Einzelwirtschaften, die nur den eigenen Vorteil suchen,z79 Demgegenüber geht der Sozialismus von einem kollektivistischen Menschenbild aus. Der einzelne Mensch muss sich dem Kollektiv vollkommen unterordnen und darf keine eigenen Ansprüche geltend machen. Der Sozialismus fordert eine völlig einheitliche, zentralisierte Wirtschaftsgenossenschaft, die alle Differenzierungen zwischen Berufsgruppen, Klassen und Ständen verwischt. Aufgrund der Ablehnung des Privateigentums bekommt der Sozialismus eine besondere gesellschaftliche Brisanz. 28o Pesch bemüht sich, ein neues 274 Vgl. Schmelter; Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 76 - 82; Zoll, Was ist Solidarität heute?,80-86. 275 Vgl. Schmelter; Solidarität: Entwicklungsgeschichte, 67; Zoll, Was ist Solidarität heute?, 87/88. 276 Vgl. allgemein zum Werk von Pesch Rauscher; Anton, Heinrich Pesch, in: Aretz, Jürgen/Morsey, Rudolflders. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, 3. Bd., Mainz 1979, 136-148. 277 Vgl. Baumgartner, Solidarität: I. Begriffsgeschichtlich, 707. 278 Die zweite Auflage erschien bereits 1914. Im Folgenden wird jeweils kenntlich gemacht, welche Ausgabe zitiert wird. 279 Vgl. Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 1. Bd. (1905),252-282; Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 1. Bd. (1914), 273-303. 280 Vgl. Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 1. Bd. (1905), 351-401; Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 1. Bd. (1914), 303 - 392.

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

89

System zwischen Individualismus und Sozialismus zu stellen, das er mit dem Terminus Solidarismus bezeichnet. Pesch baut sein solidaristisches System auf dem philosophisch-soziologischen Solidaritätsbegriff auf, der im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich von verschiedenen Autoren, die bereits erwähnt worden sind (z. B. Comte, Durkheim, Gide, Bourgeois), diskutiert wird. Pesch entnimmt den Solidaritätsbegriff zwar der aktuellen Diskussion. Seine originäre Leistung besteht aber darin, dass er diesen Begriff, der zuerst mit politischen und rechtlichen Assoziationen verbunden ist, in die Systematik der katholische Soziallehre einführt. Solidarität ist für Pesch zunächst ein sozialphilosophischer Begriff, und das Lehrgebäude des Solidarismus ist reine Sozialphilosophie und Seinslehre. Ausgangspunkt ist die "Wesensnatur" (Wesensanlage) des Menschen, die in der Hinordnung des Einzelnen auf die Gesellschaft sowie in der Hinordnung der Gesellschaft auf die Individuen besteht. Das solidaristische System stellt also nicht das isolierte Einzelwesen heraus, sondern den Menschen "inmitten der Gesellschaft,,281. So wie aber der einzelne Mensch die anderen benötigt, so ist auch die Gesellschaft auf das Tun ihrer einzelnen Glieder angewiesen. Dieses wechselseitige Verhältnis drückt Pesch mit dem klassischen Slogan" Einer für alle und alle für einen ,,282 aus. Solidarität bezeichnet demnach eine Gegenseitigkeit zwischen mehreren von solcher Art, dass sie miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind. Fundament des solidaristischen Systems ist somit die Sozialnatur des Menschen. Pesch unterscheidet vier verschiedene Formen der Solidarität, bei der die Menschen als Menschen eine Einheit bilden und sich aufgrund dieser gegenseitig in die Pflicht nehmen. 283 Weiterhin gelangt Pesch zu der grundlegenden Differenzierung, 281 Zu Beginn seines Werkes untersucht Pesch die Stellung des Menschen innerhalb der Natur und der Gesellschaft. Für ihn ist der Mensch "Herr der Welt inmitten der Gesellschaft" Pesch, Nationalökonomie, 1. Bd. (1905),26. 282 Pesch, Nationalökonomie, I. Bd. (1905), 382. Hervorhebungen im Original. 283 Vgl. zu diesen vier Fonnen der Solidarität Pesch, Nationalökonomie, 1. Bd. (1914), 414/415. Zuerst spricht Pesch von der "allgemein menschlichen Solidarität", die für alle Menschen gilt und die im Mitmenschen wegen des gemeinsamen Verhältnisses zu Gott und zu Christus den natürlichen Genossen und Bruder erkennt. "Diese allgemein menschliche Solidarität beansprucht Geltung in allen Verhältnissen, wo der Mensch dem Menschen gegenübertritt, in der Familie, im Staats- und Wirtschaftsleben, in den internationalen Beziehungen und Berührungen der einzelnen und der Völker." Pesch, Nationalökonomie, 1. Bd. (1914), 414. Zweitens erwähnt Pesch die "Solidarität der Familie", die die Gesellschaft in ihrer Einheit und Festigkeit stärken soll. Die Verpflichtung für das Wohl der Gesamtgesellschaft bestimmt drittens die "Solidarität der Staatsgenossen ", weil jeder Mensch in den Staat hineingeboren wird. Das Moment der Interessenvertretung charakterisiert viertens die "Solidarität der Standes- und Berujsgenossen", da die Mitglieder in einem korporativen System nur gemeinsam ihre Ziele erreichen können. Im zweiten Band seiner Nationalökonomie mit dem Titel "Allgemeine Volkswirtschaftslehre I" integriert Pesch sein solidaristisches Konzept in den Wirtschaftsprozess und spricht hier vom" solidaristischen Arbeitssystem ". Die an vielen Stellen in seinem Werk explizierte Verbundenheit von Mensch zu Mensch erscheint besonders deutlich in der "Sachgüterwe1t". Hier sind die Menschen solidarisch miteinander ver-

90

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

die einmal den Solidaritätsgedanken soziologisch-deskriptiv und einmal ethischnormativ begrifflich zu fassen sucht. Pesch unterscheidet, indem er die Terminologie von Gide aufnimmt, zwischen der faktischen Solidarität und der Solidarität als Pflicht. 284 Unter der faktischen Solidarität versteht er ein funktionales Prinzip, das den inneren Aufbau eines Organismus beschreibt. Hingegen enthält die Solidarität als Pflicht einen normativen Akzent im Sinne einer sittlichen Verpflichtung. In dieser Solidaritätsform sind alle "in solidarischer Weise verbunden (Gemeinhaftung) mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl durch Pflichten der Gerechtigkeit und mit Rücksicht auf das Wohl des Nächsten überdies noch durch das Gesetz der Liebe,,285. Pesch hat mit seinen Reflexionen zum Solidaritätsbegriff einen maßgeblichen Beitrag zur Systematisierung der katholischen Soziallehre geleistet, die in ihren Anfängen wesentlich von der sozialen Frage bestimmt war. Als einer der ersten Sozialtheologen hat er sich dem interdisziplinären Dialog besonders mit den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gestellt und die wichtigsten zeitgenössischen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze in sein fünfbändiges Lehrbuch integriert. Vor allem sein Solidarismusgedanke wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten von Gundlach und von Nell-Breuning aufgenommen, ausgebaut und vertieft. Obwohl sein Solidaritätsbegriff zunächst ein sozialphilosophischer Terminus ist, klingen ethische Töne bereits an, wenn er von der faktischen Solidarität und der Solidarität als Pflicht spricht. Die Solidaritätsbegründung wurzelt bei Pesch aber noch ganz in der Natur des Menschen und noch nicht in seinem Status als moralisches Subjekt, als Person, als Zweck an sich selbst. 286 bunden, durch Arbeitsteilung, gemeinsame Aufgaben und Ziele in Form der Bedarfsdeckung des Gesamtwohls, "wo einer für alle und alle für einen wirken im Dienste des Ganzen, wo jeder sein eigenes Wohl suchen und finden darf, aber nicht auf Kosten fremder Wohlfahrt, sondern in und mit der Wohlfahrt aller". Pesch, Heinrich, Lehrbuch der Nationalökonomie. Allgemeine Volkswirtschaftslehre I, 2. Bd., Freiburg 2+31920, 220. Das für Pesch adäquate volkswirtschaftliche System ist weder der Individualismus noch der kollektivistische Sozialismus, sondern der Solidarismus. Im individualistischen System, das allein vom Einzelmenschen ausgeht, fehlt der Volkswirtschaft das einheits stiftende Prinzip, eine einheitliche Aufgabe. Es dominiert der wirtschaftliche "Kampf ums Dasein" (im Sinne von Herbert Spencer), bei dem egoistische Ziele vorherrschen und die Schwachen keine Chancen haben. Aber auch der kollektivistische Sozialismus kann für die Wohlfahrt des arbeitenden Volkes nicht garantieren. Weder Klassenegoismus und Klassenherrschaft noch Abschaffung des Privateigentums - also die kommunistische Vergesellschaftung der Produktionsmittel - beschreiben eine am Gemeinwohl orientierte Lösung, sondern diese ist nach Pesch in der Vergesellschaftung der Menschen, im Sinne der Solidarität der Staatsgenossen, der Solidarität der Berufsgenossen und der allgemein menschlichen Solidarität, zu finden. Vgl. zum "solidaristischen Arbeitssystem" Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, 2. Bd., 213 - 284. 284 Vgl. Pesch, Nationalökonomie, 1. Bd. (1914), 416. 285 Pesch, Nationalökonomie, 1. Bd. (1914),416. 286 Diese Interpretation des Solidaritätsprinzips wird vor allem von Baumgartner und Korff in verschiedenen Aufsätzen vertreten. Ihre Deutung wird mittlerweile auch im nichttheologischen wissenschaftlichen Diskurs thematisiert. V gl. Zürcher; Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft, 85 - 87.

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

91

Die Solidaritätsidee wird in zahlreichen Dokumenten der kirchlichen Sozialverkündigung immer wieder thematisiert. Papst Johannes XXIII. und Papst Paul VI. interpretieren den Solidaritätsgedanken im Sinne eines moralischen Appells, der zur tätigen Hilfe für andere aufruft. Vor allem ab dem Pontifikat von Papst Johannes XXIII. gewinnt der weltweite Einsatz, um Elend und Hunger zu bekämpfen, immer mehr an Bedeutung. 287 Im zweiten Teil der Enzyklika Populorum progressio (1967) stellt Papst Paul VI. den weltweiten Entwicklungsgedanken heraus und betont hier insbesondere die Pflicht der (wohlhabenden) V6lker zur Solidarität. 288 In der Sozialverkündigung von Papst Johannes Paul 11. ist der Solidaritätsgedanke von zentraler Bedeutung; ja, man kann den Solidaritätsbegriff sogar als Schlüsselbegriff seiner Soziallehre interpretieren. 289 Die Enzyklika Laborem exercens (1981) spricht beispielsweise (in einer Zwischenüberschrift) von "der Solidarität der arbeitenden Menschen,,29o und verknüpft die Arbeiterfrage aufs Engste mit der Idee der Solidarität?91 In der nächsten Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis Vgl. z. B. MM, Art. 157/158; PT, Art. 98. "Die Pflicht zur Solidarität unter den Menschen besteht auch für die Völker. ,Es ist eine schwere Verpflichtung der hochentwickelten Länder, den aufstrebenden Völkern zu helfen.' Diese Lehre des Konzils muß in die Tat umgesetzt werden. Wenn es auch richtig ist, daß jedes Volk die Gaben, die ihm die Vorsehung als Frucht seiner Arbeit geschenkt hat, an erster Stelle genießen darf, so kann trotzdem kein Volk seinen Reichtum für sich allein beanspruchen. Jedes Volk muß mehr und besser produzieren, einmal um seinen eigenen Angehörigen ein walrrhaft menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, dann aber auch, um an der solidarischen Entwicklung der Menschen mitzuarbeiten. Bei der wachsenden Not der unterentwickelten Länder ist es durchaus in der Ordnung, daß die reichen Länder einen Teil ihrer Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der anderen abzweigen; und ebenso, daß sie Lehrer, Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler ausbilden, die ihr Wissen und Können in den Dienst der anderen stellen." PP, Art. 48. Vgl. auch PP, Art. 44. 289 Diesen Gedanken hat Marie Vianney Bilgrien anhand unterschiedlicher Texte von Papst Johannes Paul II. herausgearbeitet. Vgl. Bi/grien, Marie Vianney, Solidarity: A Principie, an Attitude, a Duty? Or the Virtue for an Interdependent World?, New York u. a. 1999. 290 LE, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1 Kevelaer 71989,586. 291 "Gerade infolge eines solchen Auswuchses von großer Tragweite entstand im vergangenen Jalrrhundert die sogenannte Arbeiterfrage, manchmal auch als proletarische Frage bezeichnet. Diese Frage und die mit ihr verbundenen Probleme haben eine berechtigte soziale Reaktion hervorgerufen und unter den arbeitenden Menschen, in erster Linie unter den Industriearbeitern, geradezu einen Stunn der Solidarität ausgelöst. Der Aufruf zur Solidarität und gemeinsamem Handeln, der sich an die Arbeiter wandte, namentlich vor allem an diejenigen in eintöniger, nur in Teilverrichtungen bestehender, abstumpfender Arbeit in industriellen Großbetrieben, wo die Maschine immer mehr den Menschen verdrängt, erwies sich für die Sache der Sozialethik im hohen Grade wirksam und zugkräftig. Ein gemeinsamer Wille bäumte sich auf gegen die Erniedrigung des Menschen als Subjekt der Arbeit und gegen die damit verbundene unerhörte Ausbeutung im Bereich der Löhne, der Arbeitsbedingungen und fehlender Vorsorge für die Person des Arbeiters. Diese Auflehnung hat die Arbeiterwelt zu einer durch große Solidarität gekennzeichneten Gemeinschaft zusammengeschlossen." LE, II. 8,2. Hervorhebungen im Original. 287

288

92

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

(1987), die zwanzig Jahre nach Populorum progressio veröffentlicht wird, kommt der weltweite Entwicklungsgedanke erneut zur Sprache. Papst Johannes Paul 11. feiert aber nicht nur einfach die Entwicklungsenzyklika von Papst Paul VI., sondern er aktualisiert die Sozialverkündigung der Kirche im Hinblick auf die internationale Entwicklung. Das Dokument enthält eine scharfe Analyse der Situation der Entwicklungsländer, bleibt aber nicht dabei stehen, sondern fordert Solidarität und die Option für die Armen. Solidarität ist für den Papst eine "christliche Tugend,,292 und "die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl' einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind. ,,293 In den lehramtlichen Dokumenten bis Sollicitudo rei socialis wird Solidarität als zentraler Begriff oder christliche Tugend verstanden. Erst in der zum hundertsten Jahrestag von Rerum novarum herausgegebenen Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) wird Solidarität expressis verbis als Prinzip interpretiert. Im Rückgriff auf Rerum novarum stellt Papst Johannes Paul 11. die Grundaussage des Solidaritätsprinzips heraus: "Je schutzloser Menschen in einer Gesellschaft sind, um so mehr hängen sie von der Anteilnahme und Sorge der anderen und insbesondere vom Eingreifen der staatlichen Autorität ab.,,294 Dieser Satz ist eine kompakte Kurzformel des Solidaritätsprinzips?95 Der Papst macht darauf aufmerksam, dass der Begriff "Solidaritätsprinzip" zwar ein zeitgenössischer ethischer Ausdruck ist, der Sache nach bereits aber bei den vorherigen Päpsten anzutreffen ist: Das Solidaritätsprinzip "wird von Leo XIII. mehrmals unter dem Namen ,Freundschaft' angeführt, ein Ausdruck, den wir schon in der griechischen Philosophie finden. Von Pius XI. wird es mit dem nicht weniger bedeutungsvollen Namen ,soziale Liebe' bezeichnet. Paul VI. hat den Begriff mit den heutigen vielfaltigen Dimensionen der sozialen Frage erweitert und von der ,Zivilisation der Liebe' gesprochen. ,,296

In der Sozialverkündigung der deutschen Kirche spielt der Solidaritätsbegriff vor allem in dem gemeinsamen Text der evangelischen und der katholischen Kirche Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit eine herausragende Rolle. Das Dokument, das die wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland analysiert und hierfür wegweisende normative Orientierungen vorschlägt, versteht Solidarität in einem deskriptiven Sinne, denn "Solidarität meint zunächst die Tatsache SRS, Art. 40. SRS, Art. 38. 294 CA, Art. 10. Weiter heißt es dazu: "So erweist sich das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen und an dessen Gültigkeit sowohl in der Ordnung innerhalb der einzelnen Nation als auch in der internationalen Ordnung ich in Sollicitudo rei socialis erinnert habe, als eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung." CA, Art. 10. In der authentischen lateinischen Fassung wird der Begriff "Solidaritätsprinzip" mit dem Terminus "principium solidarietatis" ausgedrückt. 295 Mit dieser Umschreibung des Solidaritätsprinzips liegt eine durchaus mit Quadragesimo anno Nr. 79 (für das Subsidiaritätsprinzip) vergleichbare griffige und klare Kurzformel vor. Diesen Hinweis verdanke ich Konrad Hilpert. 296 CA, Art. 10. 292 293

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

93

menschlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Schicksalsgemeinschaft,,297. Aufgrund von Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder auch wechselseitigen Abhängigkeiten können Menschen ein bestimmtes Wir-Gefühl ausbilden, aus dem ein Impuls für solidarisches Handeln entspringt. Das bedeutet, dass das Solidaritätsprinzip aber nicht bei einer rein empirischen Bedeutung stehen bleiben darf, sondern auf eine normative Sinnauslegung drängt. "Denn die Tatsache der Verbundenheit bzw. der Abhängigkeit fordert zu ethischer Gestaltung heraus,,298. Solidarität wird somit zum ethischen Gestaltungskriterium, das Handlungsanweisungen für Subjekte im Rahmen komplexer Entscheidungen gibt. Solidarität - ein sozialethisch-normativer Zugang

Der Solidaritätsgedanke kann zum einen - wie die oben stehende Begriffsgeschichte deutlich gemacht hat - im Sinne einer soziologischen, rein phänomenologischen Bedeutung, und zum anderen im Sinne einer ethischen Bedeutung verstanden werden. Der soziologische Zugang beschreibt lediglich die Art der Zusammengehörigkeit und den Grund für die Solidarisierung. In der Solidaritätsdefinition von Alfred Vierkandt kommen unterschiedliche Sinngehalte des Begriffs zur Sprache, die aber nicht nur die wesentlichen soziologischen Kriterien für Solidarität zusammenfassen, sondern die darüber hinaus bereits wichtige Anknüpfungspunkte für einen normativen Gehalt des Solidaritätsgedankens bieten. Solidarität bedeutet nach Vierkandt erstens einen "Zustand, in dem eine Vielheit sich als Einheit verhält,,299. In dieser Bedeutung kommt die soziale Bindung in Form eines solidarischen Zusammenhalts zur Sprache. Unwesentlich ist dabei, ob die "Vielheit" aus nur zwei Personen besteht, einem Paar, einer Kleingruppe oder einer unüberschaubaren und anonymen Masse. Entscheidend ist, dass die "Vielen" durch ein wie auch immer geartetes Zusammengehörigkeitsgefühl miteinander verbunden sind. Diese erste Bedeutung muss als Minimaldefinition für einen soziologischen Solidaritätsbegriff verstanden werden. Dabei sagt dieser grundlegende Zugang aber noch nichts darüber aus, wer sich aus welchen Gründen zusammenschließt. 300 Solidarität hat zweitens einen praktischen Sinn und wird durch "störende Eingriffe aus der äußeren Welt,,301 erregt, daraus folgt drittens, dass ein solidarischer Zusammenschluss solche Störungen, Eingriffe oder Angriffe abwehren möchte 302 . 297 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 116. 298 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 116. 299 Vierkandt, Alfred, Solidarität, in: Bemsdorf, Wilhelm (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Berlin 21969,944. 300 Darauf verweist auch Gunter E. Zimmennann in seiner soziologischen Definition: " ,Zusammengehörigkeit', ein Bewußtsein von Gemeinsamkeit zwischen Individuen oder Gruppen, das aus sehr unterschiedlichen Gründen entsteht bzw. existiert und aktualisiert wird." Zimmermann, Gunter E., Solidarität, in: Schäfers, Bemhard (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1998, 307. 301 Vierkandt, Solidarität, 944. 302 Vgl. Vierkandt, Solidarität, 944.

94

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Nach der Bedrohung, die alle betrifft, folgt die Reaktion aus dem "Geist" der Solidarität. Schließlich basiert Solidarität viertens auf einer Gemeinschaftsgesinnung, das heißt auf einem ausgeprägten Wir-Gefühl. 303 Für Vierkandt ist die solidarische Gemeinschaft aber keine reine Interessenvereinigung, sondern wesentlich ein Zusammenschluss, "der die tiefe Kluft, die sonst den einzelnen Menschen von anderen Wesen und Dingen trennt, überbrückt. Gemeinschaft ist es, wenn die Angehörigen eines Volkes die Siege ihres Heeres bejubeln und als ,unsere' Siege empfinden oder wenn das Mitglied eines Fußballc1ubs dessen Niederlage als eine Sache empfindet, die seine persönliche Ehre angeht. ,,304 Besonders diese Identifikation des Einzelnen mit der Gruppe - also mit den ,,vielen" - ist es, die für den Soziologen Vierkandt den Sinngehalt der solidarischen Gemeinschaftsgesinnung deutlich macht. "Das Kennzeichen der Gemeinschaft besteht darin, daß Angelegenheiten anderer Personen, Gruppen oder Einrichtungen (Fabrik, Behörde, Institut usw.) als die eigenen und insbesondere deren Ehre und Unehre als die eigene Ehre oder Unehre erlebt werden. ,,305 Aber nicht alle Formen des solidarischen Zusammenschlusses, der Gemeinschaftsgesinnung und der inneren Verbundenheit verdienen als ethisch-normative Einlösungen von Solidarität verstanden zu werden. Worin das Proprium eines ethischen Zugangs zum Solidaritätsbegriff liegt, kann anhand folgender Leitfragen deutlich gemacht werden: Wer ist mit wem solidarisch? Wer sind also die Solidaritätsakteure, wer die Solidaritätsrezipienten? In diesen Fragen klingt bereits die Reichweite von Solidarität an. Das Gemeinsame, das das Solidaritätsgefühl begründet, kann sowohl gut als auch schlecht sein, deshalb entsteht auch dort Solidarität, wo sich Menschen zusammenschließen, um andere beispielsweise - auch unter Einsatz von Gewalt - zu bekämpfen. 306 In diesem Sinne handelt es sich hierbei um eine Gruppensolidarität, die andere ausgrenzt. Man identifiziert sich nicht mit allen, man steht nicht mit allen auf einem gemeinsamen Boden, das Gefühl der inneren Verbundenheit kennt somit Grenzen. Der (solidarische) Zusammenschluss beispielsweise von Verbrechersyndikaten, Terrorgruppen oder mafiosen Vereinigungen muss als Binnensolidarität gedeutet werden und erweist sich aus der Perspektive der Sozialethik als ethisch defizitär. Das, was Solidarität nämlich zum ethischen Prinzip, also zum sozialethisehen Schlüsselbegriff macht, ist nach Baumgartner und Korff seine "Hinordnung auf den Menschen als Person •.307. Erst wenn sich ein solidarischer Zusammenschluss an der allen Menschen innewohnenden personalen Würde orientiert und Abschied nimmt von einem rein partikularen Verständnis im Sinne eines reinen Gruppenegoismus, wird Solidarität zum ethischen Prinzip.308 Der sozialethische Begriff der Solidarität enthält demzufolge eine uniVgl. Vierkandt, Solidarität, 944. Vierkandt, Solidarität, 944. 305 Vierkandt, Solidarität, 944. 306 Vgl. Logstrup, Knut E., Solidarität und Liebe, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 16. Teilbd., Freiburg/Basel/Wien 1982, 10011Ol. 307 Baumgartner 1Korff, Das Prinzip Solidarität, 238. Hervorhebungen im Original. 303

304

H. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

95

verselle Dimension. Der gemeinsame Zusammenschluss von Menschen im Geiste der Solidarität kennt keinerlei Ausnahmen; nicht die Exklusivität dominiert hier, sondern die inklusive Ausdehnung, die alle umfasst, die dem Menschengeschlecht angehören. 309 Die gemeinsame personale Würde aller Menschen gilt somit als Bindeglied für das universelle Verständnis von Solidarität. Bereits bei Pesch kann man in Grundzügen einen solchen universellen und inklusiven Begriff von Solidarität finden, der in der gemeinsamen Gotteskindschaft wurzelt. 310 Formen der Solidarität - nach dem Prinzip der Universalität - sind also dann ethisch bedenklich, wenn sie den "Allgemeingültigkeitsanspruch der Menschenwürde,,311 missachten und nur eigene Interessen verfolgen, ohne dabei die umfassendere Solidargemeinschaft zu berücksichtigen. Baumgartner und Korff fassen diese ethische Forderung in folgendem Grundsatz zusammen: "Die Verwirklichung des Wohls der kleineren Einheit muß sich zugleich als Voraussetzung der Verwirklichung des Wohls des Ganzen erweisen.,,312 Der ethische Sinngehalt von Solidarität - wie er hier skizziert wird - sprengt also die engen Grenzen partikularer Interessen und zielt letztendlich auf eine globale und gesamtmenschheitliche Dimension. Solidarität erstreckt sich prinzipiell immer auf alle Menschen, auch wenn sie situativ auf ganz bestimmte Menschen oder Gruppen in speziellen Situationslagen zielt. 313 Indem aber der Solidaritätsgedanke in der gemeinsamen Würde aller wurzelt, besagt der davon abgeleitete ethische Anspruch, dass Solidarität vorrangig denen gelten muss, die in ihrer Würde bedroht sind oder an der Entfaltung dieser Würde gehindert werden. In diesem Sinne kommt im Solidaritätsprinzip eine Vorrangigkeit des Schwächeren zum Ausdruck (d. h. Option für die Armen). Solidarität muss also in besonderer Weise jenen gelten, die aufgrund physischer, psychischer oder materieller (finanzieller) Defizite daran gehindert werden, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren und sich in humaner Weise zu entfalten? 14 Vgl. Baumgartnerl Korff, Sozialprinzipien, 409. Vgl. Baumgartnerl Korff, Sozialprinzipien, 409; Baumgartner, Alois, Freiheit und Solidarität. Anmerkungen zur Zuordnungsproblematik sozialethischer Grundbegriffe, in: Gruber, Hans-Günter I Hintersberger, Benedikta (Hrsg.), Das Wagnis der Freiheit. Theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch, Würzburg 1999, 162/163. 310 Vgl. Peseh, Nationalökonomie, 1. Bd. (1914),414. 311 Baumgartnerl Korff, Das Prinzip Solidarität, 239. 312 Baumgartnerl Korff, Das Prinzip Solidarität, 239. 313 Vgl. Hondrich, Karl Ottol Koch-Arzberger, Claudia, Solidarität in der modemen Welt, Frankfurt a.M. 1992, 12. 314 Vgl. Baumgartner, Solidarität und Eigenverantwortung, 154; Baumgartner; Solidarität und Ehrenamtlichkeit, 31. In der Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis von Papst Johannes Paul II. wird die Option für die Annen und die dahinter stehende personale Würde aller Menschen mit folgenden Worten ausgedrückt: "Die Übung von Solidarität im Innern einer jeden Gesellschaft hat ihren Wert, wenn sich ihre verschiedenen Mitglieder gegenseitig als Personen anerkennen. Diejenigen, die am meisten Einfluß haben, weil sie über eine größere Anzahl von Gütern und Dienstleistungen verfügen, sollen sich verantwortlich für die Schwächsten fühlen und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz zu geben." SRS, Art. 39. 308 309

96

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Nach diesem ersten ethischen Zugang soll der Solidaritätsbegriff weiter entfaltet werden, indem der bereits genannte Gedanke der Reichweite von Solidarität mit Hilfe unterschiedlicher Dimensionen konkretisiert wird. Aus der Perspektive der Sozialethik sind drei Dimensionen der Solidarität zu nennen, die sich im Hinblick auf ihre Reichweite unterscheiden: (1) Mikrosolidarität, (2) Mesosolidarität und (3) Makrosolidarität. 315 Die Mikrosolidarität umfasst jene Personen, mit denen man auf einer persönlichen und intimen Ebene interagiert. Die hier stattfindenden sozialen Beziehungen sind im Wesentlichen relativ stabile und direkte face-to-face Assoziationen, wie sie innerhalb der Familie, der Nachbarschaft, der Freundschaft, der Spielgruppe oder der peer-group zu finden sind. Die Mesosolidarität - also die zweite Dimensionierung von Solidarität - unterteilt sich in einen Nahbereich und in einen Fembereich. Solidarität im Nahbereich zeichnet sich dadurch aus, dass man entweder keine weitreichende persönliche oder nur eine (zeitlich) begrenzte Beziehung zu den Solidaritätsrezipienten hat. Der spontane Zusammenschluss bei einer gemeinsamen Bedrohung, etwa die Solidarisierung mit streikenden Arbeitern für höhere Löhne, das emphatische Gefühl der Zusammengehörigkeit während einer Sportveranstaltung oder auch der situative Beistand (Hilfsbereitschaft) in einer konkreten Notsituation eines anderen sind solche Formen der Solidarisierung. Altruistische Gefühle bilden teilweise die Grundlage für die moralisch motivierte Solidaritätsbekundung oder _aktion. 316 Wenn die gemeinsamen Ziele und Interessen erreicht oder die spontanen Hilfeleistungen geleistet wurden, ist der solidarische Zusammenschluss zu Ende, die Solidarisierung löst sich weitgehend auf, kann aber jederzeit wieder aufgrund störender äußerer Einwirkungen aktualisiert werden. Die Solidarität im Fernbereich ist dadurch gekennzeichnet, dass die sozialen Beziehungen ein hohes Maß an Institutionalisierung bzw. Formalisierung aufweisen und durch Anonymität, weitgehende unpersönliche Interaktionen gekennzeichnet sind. In den meisten Fällen handelt es sich bei dieser Solidaritätsdimension um eine institutionalisierte Interessensolidarität, die lediglich in bestimmten gemeinsamen Zwecken wurzelt, ohne aber von einer inneren emotionalen Verbundenheit getragen zu sein?l? Die ablaufenden Beziehungen sind im Wesentlichen sozial und sachlich vordefiniert. In diesem Sinne könnte man - in Anlehnung an M. Webervon einer rationalen Solidarität sprechen, die vor allem in hochgradig organisierten, auf Zweckrationalität ausgerichteten Gesellschaftsgebilden anzutreffen ist. 318 Empirisch sind solche Formen der Solidarisierung beispielsweise in den verschiedenen institutionalisierten Solidargemeinschaften moderner Gesellschaften zu finden (Versicherungsgesellschaften, Rentenversicherung, Krankenversicherung). Die 315 Paul M. Zulehner u. a. haben in ihrer Studie zum Solidaritätsbegriff eine solche Dimensionierung vorgenommen, die hier in leicht modifizierter Form aufgegriffen wird. Vgl. Zulehner; Paul M. u. a., Solidarität. Option für die Modemisierungsverlierer, Innsbruck/Wien 1996, 55156.

316 Vgl. Wildt, Solidarität, 212. 317 V gl. Vierkandt, Solidarität, 946. 31SVgl. Weber; Wirtschaft und Gesellschaft, 12/13.

H. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

97

Grenzen zwischen der Mikro- und der Mesosolidarität bzw. zwischen der Mesosolidarität-fern und Mesosolidarität-nah sind aber in vielen Fällen durchlässig. Die hier vorgestellten Dimensionen entsprechen - ganz im Sinne von M. Weber - Idealtypen?19 So sind etwa auch in einer Religionsgemeinschaft Solidarisierungen in Form von face-to-face Beziehungen (z. B. Pfarrgemeinde) oder in Form von anonymen Strukturen (z. B. Kirchenverwaltung) anzutreffen. Auf der Ebene der Makrosolidarität schließlich kommt die weltweite Dimension zum Ausdruck. Die Solidaritätsakteure solidarisieren sich mit Menschen, zu denen sie weder eine persönliche Beziehung haben noch in einem lokalen Bezugsverhältnis stehen. Aufgrund der gemeinsamen Würde aller Menschen erwächst aber eine Solidarität "mit allem, was Menschenantlitz trägt'.32o. Diese globale Solidarität kann Formen der finanziellen Hilfeleistungen (z. B. Spenden für Entwicklungsländer oder Erdbebengebiete) oder auch des politischen Engagements annehmen (z. B. wenn sich europäische Studenten mit chinesischen Studenten solidarisieren, um auf Menschenrechtsverletzungen in China aufmerksam zu machen). Die Makrosolidarität hat aber nicht nur eine globale - bezogen auf die ganze Menschheit Dimension, sondern auch eine temporale. In diesem Sinne ist mittlerweile die Rede von der intergenerationellen Solidarität, die sich auf vergangene sowie zukünftige Generationen bezieht. 321 Solidarität mit vergangenen Generationen zielt auf den Topos der Erinnerung und wendet sich gegen das kollektive Vergessen; Solidarität mit künftigen Generationen orientiert sich am Begriff der Zukunftsverantwortung und einer den nachkommenden Generationen gerechten Gesellschaftsgestaltung besonders im Hinblick auf die natürliche Umwe1t. 322 Neben den drei Dimensionen der Solidarität (Mikro-, Meso- und Makrosolidarität), die sich im Hinblick auf ihre Reichweite bzw. ihren Umfang voneinander unterscheiden, kann eine weitere Differenzierung des Solidaritätsbegriffs vorgenommen werden: Gunter M. Prüller-Jagenteufel unterteilt Solidarität - je nach Art der Betroffenheit - in eine Con-Solidarität und eine Pro-Solidarität. 323 Wenn der Solidaritätsakteur von einer Notsituation in gleicher Weise betroffen ist wie der Solidaritätsrezipient, handelt es sich um eine Con-Solidarität; liegt eine ungleiche SituaVgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 3/4. Korff, Wilhelml Baumgartner, Alois, Kommentar zur Enzyklika Sollicitudo rei socialis, in: Sollicitudo rei socialis (Papst Joharmes Paul 11.), Freiburg 1BasellWien 1988, 130. 321 Vgl. Veith, Werner, Solidarität der Generationen, in: Baumgartner, Alois/Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001, 107 -124. 322 Die Verantwortung für zukünftige Generationen ist mittlerweile im deutschen Grundgesetz kodifiziert worden: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung". Art. 20a GG. 323 Vgl. Prüller-Jagenteujel, Gunter M., Solidarität - eine Option für die Opfer. Geschichtliche Entwicklung und aktuelle Bedeutung einer christlichen Tugend anhand der katholischen Sozialdokumente, Frankfurt a.M. u. a. 1998,59. 319 320

7 Bohrmann

98

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

tion vor, kann man von einer Pro-Solidarität reden. 324 Formen der Con-Solidarität sind Solidarisierungen, die auf gleichen Interessen beruhen oder auf einem gleichen Schicksal gründen (z. B. Solidarität von Unterdrückten, von Arbeitnehmern, von Studenten, von Umweltschützern, aber auch von Versicherungsvereinigungen, in denen Menschen zusammengeschlossen sind, die einen möglichen Schaden durch die Leistungen der gesamten Versicherungsnehmer ausgleichen wollen). Bei der Pro-Solidarität gehören Solidaritätsakteure und Solidaritätsrezipienten nicht zur selben Interessengruppe. Motivation für diese Art der Solidarität ist die gemeinsame Menschenwürde, die Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie, aber ebenso die fiktive Möglichkeit, dass man selbst in eine ähnliche Notlage kommen kann und dann auf die solidarische Hilfe anderer angewiesen ist. Pro-Solidarität ist beispielsweise die Solidarität von Arbeitsplatzinhabern mit Arbeitslosen, von NichtUnterdrückten mit Unterdrückten, von deutschen Studenten mit chinesischen Studenten, von einer deutschen Pfarrgemeinde mit einer Gemeinde in Indien?25 Allerdings sind die Grenzen zwischen den dargestellten Solidaritätsarten nicht starr, sondern eher fließend; häufig kommen beide Formen auch gleichzeitig oder nacheinander vor. Jemand, der sich beispielsweise con-solidarisch verhält, weil er als Arbeitnehmer gemeinsam mit seinen Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen streikt, kann sich kurz darauf pro-solidarisch verhalten, indem er Arbeitslosen in einer von ihm gegründeten Arbeitsloseninitiative beisteht und sich für die gesellschaftliche Integration etwa von Langzeitarbeitslosen engagiert. Mit den hier vorgestellten unterschiedlichen Dimensionen bzw. Arten der Solidarität können Solidaritätsphänomene schärfer klassifiziert werden; sie können folglich der systematischen Erfassung gesellschaftlicher Probleme dienen. Der direkte normative Sinngehalt des Solidaritätsbegriffs lässt sich in zwei Perspektiven einteilen, nämlich in eine individualethisch-tugendethische und eine sozialethisch-strukturethische Perspektive. 326 Bei der individualethisch-tugendethischen Ausrichtung von Solidarität steht eine moralische Grundhaltung im Vordergrund, welche die Solidaritätsakteure befähigt, sich in den Dienst anderer oder einer Gruppe zu stellen. Ein so verstandener tugendethischer Ansatz enthält teilweise den Grundgedanken der neutestamentlichen Nächstenliebe, wie er programmatisch in der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37) zum Ausdruck kommt. 327 In der sozialethisch-strukturethischen Perspektive des Solidari324 Vgl. Prüller-lagenteufel, Gunter M., Eine Option für die Opfer. Versuch einer ethischen Kriteriologie zur "christlichen Tugend" der Solidarität, in: Theologie und Glaube 91 (2001) 266/267. 325 Vgl. Prüller-lagenteufel, Solidarität - eine Option für die Opfer, 59. 326 Vgl. Baumgartner, Alois, Solidarität: III. Theologisch-ethisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 709. 327 Vgl. Baumgartner, Solidarität: III. Theologisch-ethisch, 709. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter stellt Zoll in seinem Solidaritäts buch als unkommentierten Prolog voraus. Vgl. Zoll, Was ist Solidarität heute?, 7. Auch Vierkandt nennt in seinem Solidaritätsaufsatz das lukanische Gleichnis, um die Solidarität des Handeins - in Form der Hilfsbereitschaft zu verdeutlichen. V gl. Vierkandt, Solidarität, 945. Ebenso zitiert Logstrup in seiner Unter-

II. Normative Orientierungen in der Sozialethik

99

tätsbegriffs wird ein wechselseitiger Identifikationsprozess und eine Beistandspflicht zwischen Individuum und Gruppe ausgedrückt. 328 Diese Art der Solidarisierung - man spricht hier auch von Solidargemeinschaften - ist institutionalisiert und wird als Sozial- und Rechtsprinzip gedeutet. 329 Die Verortung von Solidarität geschieht somit in den Institutionen und Ordnungen des modernen Rechts- und Sozialstaates, die die Solidaritätsansprüche und -pflichten in rechtlich kodifizierten Normen für alle Gesellschaftsmitglieder in gleichem Maße verbindlich regeln. Aus dieser Perspektive ist Solidarität als ein fundamentales, gesellschaftliches Rechtsprinzip zu verstehen, das institutionalisierbar ist und in die staatliche Rechtsordnung eingehen soll?30 Zwar gibt es nach wie vor zahlreiche Formen der freiwilligen, spontanen und nicht institutionalisierten - und auch nicht institutionalisierbaren - Solidarität,331 doch die besondere Qualität des modernen Sozial- und Rechtsstaates zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die solidarische Haltung erzwungen wird. Der normative Gehalt des Prinzips Solidarität steckt also im rechtlich-formellen Regelsystem und in der Rahmenordnung. 332 Innerhalb der Rechts- und Sozialordnung sind solidarische Strukturen im Steuerrecht, bei sozialstaatlichen Transfers und schließlich - wie im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit noch schärfer herausgestellt werden soll- im System der Sozialversicherung anzutreffen. Hier finden solidarische Umverteilungsprozesse finanzieller Ressourcen statt, bei denen die Leistungsfahigeren und Starken die Last der Bedürftigen und Schwachen tragen. Besonders an dieser Stelle, wo Solidarität als suchung über das Verhältnis von Solidarität und Liebe die Lukasstelle. Vgl. Logstrup, Solidarität und Liebe, 114/115. Bereits in dieser Perikope wird der universelle und inklusive Anspruch von Solidarität vor Augen geführt. Solidarisch - im Sinne der persönlichen Hilfeleistung - ist man mit dem, der diese Hilfe benötigt. Das heißt, jeder Mensch kann dem anderen zum Nächsten werden, allein die individuelle Notlage ist hierfür ausschlaggebend. "Der Nächste ist der, der Hilfe braucht, und von dem man kein Gegengeschenk erwarten kann, wie das bei Freunden, Verwandten und Gleichgestellten sonst der Fall ist [ ... ]. Im voraus läßt sich nicht festlegen, wer der Nächste ist - es stellt sich von selbst heraus. Eben das geht aus der Erzählung vom barmherzigen Samariter [ ... ] hervor, wo zudem auf provozierende Weise derjenige, der Hilfe braucht, ein Jude, und derjenige, der Barmherzigkeit übt, ein Ausländer ist." Logstrup, Solidarität und Liebe, 114/115. 328 Wechselbezogenheit bedeutet, dass der Mensch Teil der Gesellschaft ist und er diese für seine humane Entfaltung benötigt. Ebenso ist aber auch die Gesellschaft auf den Einzelnen, auf das Individuum angewiesen. Vgl. Kerber; Walter, Solidaritätsprinzip, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 9. Bd., Darmstadt 1996, 1015. 329 Vgl. Baumgartner; Solidarität: III. Theologisch-ethisch, 709. 330 Vgl. BaumgartnerlKorjf, Sozialprinzipien, 409/410. Vgl. dazu auch Nell-Breuning, Oswald von, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg 1Basel 1 Wien 1990,48/49. 331 Freiwillige Formen der Solidarität sind das ehrenamtliche Engagement (hier kann man von einer freiwilligen institutionellen Solidarität sprechen) oder die spontane Hilfeleistung in einer bedrohlichen Situation (hier kann man von einer freiwilligen nicht institutionellen Solidarität sprechen). 332 Vgl. Anzenbacher; Christliche Sozialethik, 198/199. 7*

100

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

strukturethischer Begriff interpretiert wird, rückt die Wechselseitigkeit solidarischer Aktionen in den Mittelpunkt. Solidarität bedeutet nämlich in der Regel eine wechselseitige Verpflichtung im Sinne der programmatischen Formulierung "Einer für alle und alle für einen".333 Sowohl der Einzelne als auch die Gruppe tragen Verantwortung für die Realisierung solidarischer Strukturen. In diesem Sinne beschreibt Solidarität keine Einbahnstraße?34 Auf dem Gebiet der sozialstaatlichen Transfers heißt diese wechselseitige Verpflichtung, dass nicht nur die jeweilige Solidargruppe für den Einzelnen einzutreten hat, sondern dass gleichzeitig auch das Individuum Pflichten und Verantwortung übernimmt. In diesem Sinne bedeutet eine solidarische Ausrichtung "immer auch eine Anforderung an die Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung des einzelnen, im Rahmen seiner Leistungsfahigkeit zum allgemeinen Wohl beizutragen beziehungsweise Hilfen der Gemeinschaft nicht in Anspruch zu nehmen für Ziele, die er aus eigener Kraft zu erreichen vermag. ,,335 Wechselseitigkeit ist zwar ein wichtiges ethisches Kriterium für den normativen (aber auch soziologischen) Solidaritätsbegriff, aber keineswegs ein zwingendes Element für jede Art der moralisch motivierten und ethisch einzufordernden Form von Solidarität. Solidaritätsaktionen auf der individualethischen Ebene können ganz ohne Wechselseitigkeit oder Gegenleistung auskommen, wie das beispielsweise in der Erzählung des barmherzigen Samariters zur Sprache kommt. 336 Trotzdem kann auch in einer interpersonalen Solidaritätsbeziehung oder der Solidarisierung mit einer bestimmten Gruppe - beispielsweise mit chinesischen Studenten in Peking oder mit von Abschiebung bedrohten Ausländern, die in einer Kirche Asyl suchen - das Moment der Gegenseitigkeit zumindest fiktiv mitgedacht werden. 337 Von einer fiktiven Wechselseitigkeit kann dann gesprochen werden, wenn man prinzipiell davon ausgeht, dass auch die anderen, die Solidaritätsrezipienten, sich mit den Solidaritätsakteuren solidarisieren würden, wenn ähnliche Probleme vorliegen. Im Unterschied zur synchronen Solidarität kann innerhalb eines diachronen Solidaritätsbegriffs allerdings nicht die Rede von einem wechselseitigen Identifikationsgeschehen sein. Denn diachrone Solidarität ist durch Asymmetrie gekennzeichnet, weil die Initiative des Identifikationsprozesses stets von der heutigen Generation auszugehen hat. 338 V gl. Baumgartner, Freiheit und Solidarität, 162. Vgl. Baumgartner, Alois, Zukunftsfahige Gesellschaft: Sozialethische Reflexionen zu einer langfristig orientierten Verantwortung, in: Impulse aus der Hauptabteilung Schule und Hochschule des Erzbistums Köln, Nr. 50, 2. Quartal 1999, 4. 335 Baumgartner, Freiheit und Solidarität, 162. 336 Für Vierkandt ist das Kriterium der Wechselseitigkeit entscheidend, um von Solidarität aus soziologischer Sicht sprechen zu können. Eine rein individuelle Betätigung der Hilfeleistung, ohne dass Gegenseitigkeit oder eine Ausdehnung auf das Gemeinwohl vorliegt, umschreibt er mit den Ausdrücken Freundschaft und Liebe. Hier liegt Altruismus vor. Solidarität ist aber durch Gegenseitigkeit oder Mutualismus geprägt. Vgl. Vierkandt, Alfred, Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, Stuttgart 21928,194. 337 Vgl. Hondrichl Koch-Arzberger, Solidarität in der modemen Gesellschaft, 14. 338 Diesen Gedanken verdanke ich Wemer Veith. 333

334

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

101

c) Subsidiarität

Subsidiarität - ein historischer Zugang Der Name Subsidiarität kommt vom lateinischen subsidium und bedeutet so viel wie "Hilfe aus der Reservestellung". In der römischen Militärsprache sind die hinter der Front bereitstehenden Reservekohorten die so genannten subsidiarii cohortes. 339 Subsidium ist also mit Hilfe, Beistand, Hilfestellung zu übersetzen. Die klassische Formulierung des Subsidiaritätsprinzips ist expressis verbis erstmalig in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno aus dem Jahre 1931 von Papst Pius XI. zu finden. Die Verkündigung dieses Prinzips fällt nicht zufällig in die Zeit der aufkommenden Totalitarismen in Europa. In Russland breitet sich im Zuge der Oktoberrevolution von 1917 allmählich der Marxismus-Leninismus aus, und in Mittelund Südeuropa drängen Faschismus und Nationalsozialismus an die politische Macht. Während das Solidaritätsprinzip im 19. Jahrhundert entstanden und historisch u. a. im Rahmen der Arbeiterbewegung zu verorten ist, wird der ausdrückliche Ruf nach Subsidiarität in ausgereifter Form jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts laut. Subsidiarität kann zunächst - nach einer sehr einfachen Interpretation - als Appell gedeutet werden, der sich gegen eine zu starke und weitreichende Staatstätigkeit ausspricht, die den einzelnen Menschen zu erdrücken versucht. Dennoch lässt sich schon vor Quadragesimo anno das Prinzip dem Inhalt nach bei unterschiedlichen Autoren wie zum Beispiel Thomas von Aquin, Abraham Lincoln oder Wilhelm Emmanuel Ketteler nachweisen?40 Ketteler drückt im Jahre 1848 den Subsidiaritätsgedanken mit folgenden Worten aus: "Meine Ansicht geht [ ... ] von dem einfachen Satze aus, daß jedes Individuum seine Rechte, die es selbst ausüben kann, auch selbst ausüben darf. Der Staat ist mir keine Maschine, sondern ein lebendiger Organismus mit lebendigen Gliedern, in dem jedes Glied sein eigenes Recht, seine eigene Funktion hat, sein eigenes freies Leben gestaltet. Solche Glieder sind mir das Individuum, die Familie, die Gemeinde usw. Jedes niedere Glied bewegt sich frei in seiner Sphäre und genießt das Recht der freiesten Selbstbestimmung und Selbstregierung. Erst wo das niedere Glied dieses Organismus nicht mehr imstande ist, seine Zwecke selbst zu erreichen, oder die seiner Entwicklung drohende Gefahr selbst abzuwenden, tritt das höhere Glied für es in Wirksamkeit, dem es dann von seiner Freiheit und Selbstbestimmung das abgeben muß, was dieses, das höhere Glied, zur Erreichung seines Zweckes bedarf.,,341 Vgl. Höjfner; Christliche Gesellschaftslehre, 58. Vgl. zu den historischen Spuren des Subsidiaritätsprinzips Höfte, Otfried, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Nörr, Knut W./Oppennann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, 51-53; Höjfner, Christliche Gesellschaftslehre, 60/61; Schramm, Michael, Subsidiarität der Moral. Institutionenethische Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre, in: Mückl, Wolfgang J. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999, 11/12; Waschkuhn, Arno, Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur "Civii Society", Opladen 1995, 19-25. 339 340

102

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Und 1854 beschreibt Lincoln das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung etwa mit folgenden Worten: "Die Regierung hat für die Bevölkerung das zu besorgen, wonach die Menschen ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst überhaupt nicht tun können oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebensogut tun können. In all das, was die Menschen ebensogut selber tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen .• .342 Aber auch schon im Buch Exodus findet sich der Subsidiaritätsgedanke. In Ex 18,17 -22 ("Rat des Jitro") steht nach dem Urteil von Lothar Schneider die eigentliche ,,klassische Stelle der Heiligen Schrift,,343, die Subsidiarität im Sinne der Aufgaben- und Lastenverteilung deutet?44 Zwar wird beim "Rat des Jitro" nur eine organisationstechnische und hierarchische Delegation angesprochen und noch keine grundlegende Leistungskompetenz der kleineren sozialen Einbeit,345 doch lässt sich anband dieser Stelle bereits eine Gesellschaftskonzeption antreffen, die für verschiedene soziale Zuständigkeiten eintritt. Fasst man die zitierten Fundstellen zusarnmen,346 so wird ersichtlich, dass Subsidiarität gesellschaftliche Zuständigkeiten und Kompetenzverteilungen regelt. 341 Ketteler, Wilhelm E., Offenes Schreiben Kettelers als Deputierten der deutschen Nationalversammlung an seine Wähler, in: ders., Religiöse, kirchliche und kirchenpolitische Schriften, 1. Bd., ausgew. und hrsg. von Mumbauer, Johannes, München 21924, 404. An anderer Stelle spricht Ketteler sogar von einem subsidiären Recht. Ketteler, Wilhelm E., Die Katholiken und das neue Deutsche Reich, in: ders., Staatspolitische und vaterländische Schriften, 2. Bd., ausgew. und hrsg. von Mumbauer, Johannes, München 21924, 162. Nach Höffner war Ketteler der erste Vertreter der katholischen Soziallehre, der diesen Ausdruck gebraucht hat. Vgl. Hö!fner, Christliche Gesellschaftslehre, 61. 342 Lincoln, Abraham, zitiert nach: Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 88. 343 Schneider, Lothar, Subsidiäre Gesellschaft. Implikative und analoge Aspekte eines Sozialprinzips, Paderborn u. a. 1983, 19. 344 "Darauf entgegnete der Schwiegervater des Mose: ,Das ist nicht gut, wie du es machst. Du reibst dich und die Leute da bei dir auf. Die Sache ist zu schwer für dich, du kannst sie nicht allein bewältigen. Nun höre auf meine Stimme, ich will dir einen guten Rat geben, und Gott wird mit dir sein. Vertritt du das Volk vor Gott und bringe du ihre Angelegenheiten vor Gott. Belehre sie ferner über die Gebote und Weisungen und zeige ihnen den Weg, den sie gehen, und die Werke, die sie tun sollen. Suche dir aber aus dem ganzen Volk tüchtige, gottesfürchtige und vertrauenswürdige Männer aus, die Gewinn (aus Bestechung) verabscheuen, und bestelle sie zu Vorstehern über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn. Sie sollen dem Volk jederzeit Recht sprechen. Nur die wichtigsten Fälle sollen dir vorgelegt werden; alle minder wichtigen Fälle aber sollen sie selbst entscheiden. Entlaste dich auf diese Weise! Lass sie mit dir die Last tragen .• " Ex 18,17 - 22. 345 V gl. Schramm, Subsidiarität der Moral, 11. 346 Nach dem Urteil von Nell-Breuning, dem Nestor der katholischen Soziallehre, ist das Subsidiaritätsprinzip kein originäres katholisches Prinzip. V gl. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, 57. Auch für Anton Losinger wurzelt das Subsidiaritätsprinzip in sozialphilosophischen Grundüberlegungen, die sich jede Gesellschaft stellen muss. Das Subsidiaritätsprinzip ist von daher - auch wenn es eine ideengeschichtliehe Nähe zur Katholischen Soziallehre hat - kein ,,katholisches" Prinzip, denn auch die Menschenrechte sind - so Losingers Argumentation - nicht nur deswegen "christliche Regeln", weil sie in einem christlich-abendländischen theologischen Begründungskontext formuliert wurden. Vgl. Losinger, Anton, Das Subsidiaritätsprinzip und sein Einfluß auf das Menschen- und Gesellschaftsbild der katholischen

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

103

Was genau unter dem Prinzip der Subsidiarität zu verstehen ist, kann anband der klassischen FundsteIle in der nach Rerum nova rum (1891) verfassten zweiten Sozialenzyklika Quadragesimo anno (Art. 79 und 80) transparent gemacht werden?47 Die nachfolgende Interpretation stützt sich ganz auf diesen Text. Die Entstehungsgeschichte dieser Enzyklika ist mittlerweile gut dokumentiert, was vor allem ein Verdienst von Nell-Breuning ist, der seit den 1970er-Jahren sein Wissen über die Entstehung in verschiedenen Publikationen veröffentlicht hat. 348 Seit Quadragesimo anno ist das Subsidiaritätsprinzip innerhalb der katholischen Soziallehre an unterschiedlichen Stellen immer wieder bekräftigt und auf konkrete Gesellschaftsprobleme angewandt worden, so etwa in Mater et magistra349 , in Pacem in terris 350 , in Octogesima adveniens351 , in Centesimus annus3520der auch im Gemeinsamen Wort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit353 • Soziallehre, in: Mückl, Wolfgang I. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999, 39/40. 347 ,,(79) Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leichter von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Iedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. (80) Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur um so freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt." QA, Art. 79/80. 348 Vgl. z. B. Nell-Breuning, Oswald von, 15. 5. 1931. Erinnerungen zur Entstehungsgeschichte von "Quadragesimo anno", in: ders., Wie sozial ist die Kirche? Leistungen und Versagen der katholischen Soziallehre, Düsseldorf 1972, 127 -136. 349 In MM, Art. 53 wird der Subsidiaritätsgrundsatz aus QA wortwörtlich wiederholt. 350 Das Subsidiaritätsprinzip kommt im Hinblick auf die Problemfelder der politischen Ethik zur Sprache (bezogen auf das Verhältnis innerstaatlicher Institutionen sowie auf das Verhältnis zwischen Staaten und Nationen). Vgl. PT, Art. 140. 351 Papst Paul VI. wiederholt den Kernsatz von QA, Art. 79 (,jedwede Gesellschaftstätigkeit [ist] ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär") und tritt für die eigenverantwortlichen Kompetenzbereiche der Gesellschaftsmitglieder ein. Vgl. OA, Art. 46. 352 Die Enzyklika warnt vor einem falschen Kompetenzverständnis innerhalb der Staatstätigkeit: "Auch auf diesem Gebiet [d. h. auf dem Gebiet des Wohlfahrtsstaates, T.B.] muß das Subsidiaritätsprinzip gelten: Eine übergeordnete Gesellschaft darf nicht in das innere

104

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Subsidiarität - ein sozialethisch-normativer Zugang

Im Prinzip der Subsidiarität kommt eine Verhältnisbestimmung zwischen kleineren und größeren sozialen Einheiten zum Ausdruck. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen Individuum und Staat, Gesellschaft und Staat oder auch um den strukturellen Aufbau der einzelnen Gesellschafts- und Staatsgebilde. Der Subsidiaritätsgedanke drückt aus, wie die sozialen Gebilde zueinander bzw. untereinander geordnet und wie die Kompetenzen verteilt werden sollen. Indem das Subsidiaritätsprinzip sagt, was sein soll, formuliert es normative Forderungen und erweist sich damit als ethisches Prinzip. Allgemein gesprochen ist es ein Zuständigkeitsund Organisationsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip, so wie es in Quadragesimo anno formuliert wird, enthält vier programmatische Aussagen, die zum Kernbestand der christlichen Sozialethik gehören: (1) In den Artikeln 79 und 80 der Enzyklika wird ein ganz bestimmtes Bild vom

Menschen grundgelegt, das die Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und somit Subjekthaftigkeit des Menschen betont. Nach Aussagen der biblischen Schöpfungslehre, die in dieser Arbeit bereits behandelt wurden, kann der Mensch anband dreier Dimensionen beschrieben werden: Der Mensch ist Abbild Gottes (imago dei); er ist Herrscher über Welt und Tierreich; er ist ein soziales Wesen. Auf der Basis christlicher Anthropologie lässt sich folgern, dass der Mensch kraft seiner Gottebenbildlichkeit der Selbstreflexivität und der Entscheidungsfreiheit mächtig ist; als moralisches Subjekt ist er zur autonomen Lebensgestaltung fähig. Das heißt: "Der Mensch ist Subjekt, aktiv, niemals nur Objekt [ . .. ]. Deshalb ist alles das für ihn hilfreich, was es ihm erlaubt, sich als Subjekt zu betätigen und sich dadurch zu entfalten.,,354 Obwohl das Subsidiaritätsprinzip zwar als sozialphilosophischer Grundsatz eingeführt wird, kann es durchaus im theologischen Sinne gedeutet werden. Im subsidiären, aktiven Handeln verwirklicht sich der Mensch folglich in kreativer Weise als Person, als Bild Gottes, als Subjekt der Gesellschaft und seiner Geschichte.355

Leben einer untergeordneten Gesellschaft dadurch eingreifen, daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt. Sie soll sie im Notfall unterstützen und ihr dazu helfen, ihr eigenes Handeln mit dem der anderen gesellschaftlichen Kräfte im Hinblick auf das Gemeinwohl abzustimmen." Vgl. CA, Art. 48. 353 Das gemeinsame Wort der Kirchen ruft die ethische Relevanz des Subsidiaritätsprinzips in Erinnerung und betont sowohl die Eigenverantwortlichkeit der kleineren Gemeinschaften als auch die Hilfestellung durch größere Einheiten. Hier werden also der positive und der negative Gehalt des Subsidiaritätsgedankens ausdrücklich genannt. Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 120/121. 354 Wilhelms, Günter, Subsidiarität im Kontext der ausdifferenzierten Gesellschaft, in: Baumgartner, Alois/Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001, 128. 355 Vgl. Baumgartner, Alois, "Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär". Zur anthropologischen und theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Nörr, Knut W.I

11. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

105

(2) Das Subsidiaritätsprinzip setzt beim Menschen als Person an. Aufgrund seiner Autonomie ist der Mensch, der als ein "offenes Bedürfnissystem,,356 zu verstehen ist, zunächst einmal selbst für seine Bedürfnisbefriedigung verantwortlich. Die Kompetenz für die eigene Lebensgestaltung liegt demzufolge primär beim Einzelnen, d. h. bei der untersten sozialen Einheit, beim Individuum. Individuelle Initiativen und Leistungen dürfen dem Einze1menschen (singularis hominibus)357 folglich nicht entzogen (eripere) und einer anderen, höhergeordneten Instanz übergeben werden. Man spricht hier vom "Prinzip der Kompetenzzuweisung,,358. Immer dort, wo gesellschaftliche oder staatliche Bereiche miteinander um Zuständigkeiten konkurrieren, soll - nach dem Grundsatz der Subsidiarität - die kleinere soziale Einheit den Vorzug erhalten. Dabei kann diese Einheit entweder eine Person, eine bestimmte Form der Vergemeinschaftung (z. B. Familie) oder auch ein Kultursachbereich (wie etwa Wirtschaft oder Kirche) sein. Dort sind die Aufgaben und Probleme zu lösen, wo sie zuvörderst angesiedelt sind. Bezogen auf die staatliche Autorität drückt das Subsidiaritätsprinzip ein "Nichteinmischungsprinzip,,359 bzw. "Kompetenzanmaßungsverbot,,360 aus. Die zweite Sozialenzyklika formuliert diese Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips mit folgenden Worten: "Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung [ ... ] soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen.,,361 Kompetenzen dürfen nicht entzogen werden, die unterschiedlichen Aktivitäten der einzelnen, untergeordneten Sozialeinheiten dürfen von der größeren Einheit weder zerschlagen (destruere) noch aufgesaugt (absorbere) werden. Diese Interpretation fasst die negative Seite der Subsidiaritätsidee zusammen. (3) Das Subsidiaritätsprinzip darf allerdings nicht allein als Kompetenzzuwei-

sungsprinzip interpretiert werden, damit würde man den Sinngehalt des Prinzips verkürzen. Das Subsidiaritätsprinzip hat folglich nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Seite, der diesem sozialethischen Grundsatz erst den Namen gegeben hat. Der positive Aspekt beschreibt den subsidiären Charakter und fordert dann Hilfe von der größeren sozialen Einheit, wenn das kleinere Gebilde aus eigenen Kräften sich nicht mehr selbst helfen kann, wenn also die eigene Kompetenz nicht mehr ausreicht, bestimmte Aufgaben der Lebensbewältigung zu lösen. Der Gedanke der Subsidiarität besagt aber nun

Oppennann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, 19/20. 356 Korff, Wilhelm, Die Energiefrage auf dem Prüfstand, in: ders., Die Energiefrage. Entdeckung ihrer ethischen Dimension, Trier 1992, 14. 357 Die folgenden lateinischen Ausdrücke beziehen sich auf den authentischen lateinischen Text von Quadragesima anno. 358 Baumgartner, Solidarität und Ehrenamtlichkeit, Subsidiarität und Selbsthilfe, 35/36. 359 Baumgartner, Solidarität und Ehrenamtlichkeit, Subsidiarität und Selbsthilfe, 36. 360 Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 213. 361 QA, Art. 80.

106

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

nicht, dass Funktionen ganz abgegeben und Leistungen vollkommen von anderen Organisationsebenen übernommen werden - ein solches Verhalten würde gegen das Verbot der Kompetenzanmaßung verstoßen -, sondern es geht immer nur um eine Hilfestellung, die im Sinne einer "Hilfe zur Selbsthilfe" verstanden werden muss. 362 Die Hilfestellung richtet sich demnach vorrangig auf die Wiederherstellung der eigenen Kräfte. Das Subsidiaritätsprinzip tritt mit anderen Worten für die Subvention der eigenverantwortlich-autonomen Lebensführung ein und nicht für die Absorption von Fähigkeiten. Programmatisch kommt dieser Gedanke im Kernsatz von Quadragesimo anno zum Ausdruck: ,,Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. ,,363 Die positive Seite der Subsidiaritätsidee äußert sich somit im Prinzip der Hilfestellung bzw. im "Hilfestellungsgebot,,364. Die dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegende Struktur baut sich "von unten nach oben" auf. Demnach geht es also um eine Parteinahme für unten, da die Basis aller gesellschaftlichen Entscheidungen letztendlich die einzelne Person ist und auch sein muss. Aber erst wenn die untere Ebene sich nicht mehr selbst helfen kann, tritt die nächsthöhere Einheit auf den Plan und bietet ihren subsidiären Beistand an. (4) Nach erfolgter "Hilfe zur Selbsthilfe" und der Wiederherstellung eigener Kräfte ist die größere Sozialeinheit gemäß dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet, sich wieder zurückzuziehen. Auch wenn dieser Gedanke zwar nicht expressis verbis in Quadragesimo anno genannt wird, ist er die logische Konsequenz aus erfolgreich verwirklichter Hilfe. Fremdhilfe ist dann überflüssig, wenn die "Hilfe zur Selbsthilfe" wirksam war und die Kompetenz zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung wieder in vollem Umfang hergestellt wurde. Leistungen dürfen nur solange von größeren Einheiten übernommen werden, bis die kleineren Gemeinschaften wieder voll funktionstüchtig sind, ansonsten handelt die größere Einheit gegen den Sinn der Subsidiarität - quasi anti-subsidiär und entmündigt andere bzw. verhindert partikulare Initiativen. Subsidiäres Handeln will also keine Gängelung betreiben, sondern Eigenständigkeit, Eigeninitiative und Entfaltungsfreiheit ermöglichen. Das Subsidiaritätsprinzip darf nicht - wenn man seinen Grundgedanken ernst nimmt - einseitig interpretiert werden, indem es entweder nur im Sinne der Selbstverantwortung, eigenen Leistungsfähigkeit bzw. eigenen Kompetenz (also ausschließlich als Kompetenzprinzip), oder nur im Sinne des hilfreichen Beistands (also ausschließlich als Subventionsgebot) gedeutet wird. Beide Ausprägungen oder Prioritätsregeln gehören untrennbar zusammen und müssen gebührend berücksichtigt werden. 365 Das Zentrum des Subsidiaritätsprinzip ist aber der Einzel-

363

Vgl. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 93. QA, Art. 79.

364

Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 213.

362

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

107

mensch, der Mensch als Person, denn sowohl das "Kompetenzanmaßungsverbot" als auch das "Hilfestellungsgebot" richten sich an den einzelnen Menschen, damit er in seiner Würde und Freiheit respektiert wird. In diesem Sinne ist das Subsidiaritätsprinzips im Personprinzip verankert. 366 Man kann das Prinzip der Subsidiarität von zwei Seiten aus betrachten: Bezogen auf die untergeordnete Einheit artikuliert das Subsidiaritätsprinzip das Recht auf Eigeninitiative und folglich das Recht auf Nichteinmischung in eigene Angelegenheiten. Bezogen auf das größere Sozialgebilde wird mit dem Subsidiaritätsgedanken die Pflicht ausgedrückt, sich einerseits in untergeordneten Angelegenheiten zurückzuhalten und andererseits Hilfestellung dann zu leisten, wenn die kleinere Gemeinschaft diese verlangt oder benötigt. Demnach handelt es sich beim Subsidiaritätsprinzip nicht nur um ein sozialethisches Prinzip, sondern auch um ein Rechtsprinzip, denn es gilt das Recht der kleineren Lebenskreise sowie das Recht auf den hilfreichen Bestand?67 Weiterhin ist bedeutsam, dass das Subsidiaritätsprinzip eher ein formales Prinzip ist. Als Strukturprinzip regelt Subsidiarität Zuständigkeiten. Hingegen ist das Solidaritätsprinzip ein inhaltliches Prinzip, in dem beispielsweise die Frage nach der Reichweite solidarischer Hilfe beantwortet wird (Universalität, Option für die Armen). Beide Prinzipien sind aber ganz dem Personprinzip zugeordnet und erfüllen eine Dienstfunktion im Hinblick auf das Humanum. Bezogen auf den Subsidiaritätsgedanken bedeutet das, dass sich jede gesellschaftliche Ordnung stets an der Personalität messen lassen muss; der Mensch als ein personales Bedürfniswesen ist und bleibt der Maßstab aller Gesellschaftstätigkeit. Das Subsidiaritätsprinzip kommt in unterschiedlichen politischen Strukturen und Gesellschaftsbereichen zur Anwendung und erweist sich hiermit als ein Sozial- und Rechtsprinzip. So hat es beispielsweise als strukturierender Grundsatz staatlichen Handeins im Rahmen der europäischen Einigung einen zentralen Platz gefunden und wird sowohl in den Maastrichter Verträgen der Europäischen Union von 1992 als auch im neu eingeführten Europa-Artikel des deutschen Grundgesetzes explizit genannt. 368 Weiterhin erscheint der Subsidiaritätsgedanke etwa im föderalistischen Aufbau eines Staates, in der Selbstverwaltung der Kultursachbereiche oder auch in der Familie. Mit der Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in die europäische Politik hat es dieser Grundsatz geschafft, dass ein primär innerkirchlicher Begriff auch gesellschaftspolitische Relevanz gewinnen konnte. In diesem Sinne kann der SubsidiaVgl. Hö!fe, Otfried, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, 54. Vgl. Baumgartner, Alois, Subsidiarität, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 1076. 365

366

Vgl. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 116. ,,zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet." Art. 23 GG. 367

368

108

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

ritätsgedanke nun nicht mehr als ein rein sozialphilosophischer bzw. sozialethischer Terminus interpretiert werden, sondern ebenso als ein zentraler Begriff für die transnationale politische Praxis. 369 3. Ökonomische Freiheit als Leitidee des Marktes Ethische Qualität von Marktwirtschaft und Wettbewerb

Der Freiheitsgedanke gründet in der Personalität des Menschen. Freiheit bedeutet im Hinblick auf die gesellschaftliche Existenz des Menschen, dass der Mensch kraft seiner Konstitution als autonomes Subjekt befähigt ist, in die Welt einzugreifen und Gesellschaft zu gestalten. Menschliche Freiheit realisiert sich dabei in vielen sozialen Zusammenhängen, beispielsweise in den vielfaltigen alltäglichen Wahlmöglichkeiten des modemen Lebens, aber auch in der Entscheidungsfreiheit der einzelnen gesellschaftlichen Akteure aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Kirche. Der Freiheitsgedanke hat zu Beginn des wirtschaftlichen Liberalismus eine entscheidende Rolle gespielt und dazu beigetragen, dass sich allmählich eine Wirtschaftsform entwickeln konnte, die ganz auf die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Wirtschaftssubjekte setzte und weniger auf staatliche Steuerungen fixiert war. Ökonomische Freiheit ist die zentrale Idee des Marktes und zielt auf die Selbstverantwortung und Entscheidungsautonomie von Anbietern und Nachfragern. Das heißt: "Die Unternehmen müssen darüber bestimmen, was sie in welcher Menge wie herstellen wollen. Die Haushalte müssen darüber bestimmen, wie sie das ihnen zur Verfügung stehende Einkommen für welche Güter wann und wo ausgeben wollen. ,,370 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass ökonomische Entscheidungen einerseits auf Freiheitsentscheidungen gründen und andererseits durchaus eine ethische Qualität für sich beanspruchen dürfen. Wirtschafts systeme, in denen der Gedanke der ökonomischen Freiheit in unterschiedlicher Weise implementiert ist, können anband bestimmter Kriterien voneinander unterschieden werden: 371 (1) Eigentums- und Verfügungskriterien ma369 Vgl. Marx, Reinhard 1 Wulsdoif, Helge, Subsidiarität - Gestaltungsprinzip einer sich wandelnden Welt, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Subsidiarität - Strukturprinzip in Staat und Gesellschaft, Köln 2000, 37/38. Dass der Subsidiaritätsbegriff den kirchlichen Raum verlassen hat und längst zum anerkannten politischen Begriff geworden ist, beweist nicht nur die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in verschiedene Parteiprogramme, sondern vor allem auch das gesteigerte Interesse der Wissenschaft an dieser Idee. In der 1990er-Jahren sind von daher eine Reihe von Sammelbänden erschienen, die Subsidiarität aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, vor allem Philosophie und Politikwissenschaft, betrachten. Vgl. z. B. Mückl, Wolfgang J. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999; Nörr; Knut W.I Oppermann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997; Riklin, Aloisl Batliner; Gerard (Hrsg.), Subsidiarität: Ein interdisziplinäres Symposium, Baden-Baden 1994. 370 Meckenstock, Günter, Wirtschaftsethik, Berlin 1 New York 1997, 171.

H. Nonnative Orlentierungen in der Sozialethik

109

chen deutlich, wer Anteil hat an den wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen über die Güterproduktion, die Güterverteilung und den Güterkonsum. (2) Informationsund Koordinationskriterien geben an, wie wirtschaftliche Entscheidungen koordiniert werden. (3) Motivationskriterien verdeutlichen die Ziele der Entscheidungsträger hinsichtlich wirtschaftlicher Aktionen. Diese Kriterien bedeuten für den Markt Folgendes: In der Marktwirtschaft, dem Wirtschaftssystem, das in modemen Gesellschaften die zentrale Rolle spielt, dominieren das Privateigentum und die eigenverantwortlichen unternehmerischen Initiativen der Produzenten; sie sind es, die prinzipiell darüber entscheiden, was produziert wird. Wirtschaftliche Prozesse werden dabei über Marktmechanismen (z. B. Wettbewerb, Werbung) koordiniert; über den Markt erhalten die Wirtschaftssubjekte alle nötigen Informationen, die für Produktion und Konsum entscheidend sind. Schließlich - um das dritte Kriterium für Wirtschaftssysteme zu benennen - werden in Marktwirtschaften primär individualistische Ziele verfolgt; die Motivation für unternehmerisches Handeln beruht also nicht auf dem Altruismus, sondern in erster Linie auf Eigennutz. Der Markt, also jenes dezentrale Informations- oder Koordinationskriterium, das den unternehmerischen Initiativen einen Rahmen gibt, bezeichnet einen fiktiven oder realen Ort, an dem sich Anbieter und Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen treffen, um hier einen Tauschprozess zu vollziehen. Als Steuerungs- und Koordinationsmittel für Quantität und Qualität, von Angebot und Nachfrage dient der variable Preis. 372 In der marktwirtschaftlichen Ordnung dominiert der Wettbewerb als leitendes Prinzip, bei dem sich die verschiedenen Wettbewerber in ihren Leistungen untereinander messen und dabei versuchen, die anderen Mitbewerber mit besseren Leistungsangeboten zu überbieten. 373 "Der Wettbewerb reizt an, ja er zwingt zur Leistungssteigerung; das ist seine vorzüglichste Wirkung ...374 Die umworbenen Verbraucher und Konsumenten sind in diesem Prozess die Adressaten und zugleich auch die Entscheidungsträger, die mit ihrem Kauf und Konsum darüber urteilen, welcher Wettbewerber die besseren Leistungen im Hinblick auf Produkterneuerung, Preis oder Qualität zu bieten hat. In der volkswirtschaftlichen Theorie erfüllt der Wettbewerb unterschiedliche Aufgaben: Er lenkt die knappen Produktionsfaktoren in den Unternehmen und trägt zu ihrer sparsamen Verwendung bei; er initiiert neue Produkte sowie technische Verfahren und erweist sich dadurch als Strukturfaktor des ökonomischen Wandels; er gewährt jenen Unterneh371 Vgl. Kromphardt, Jürgen, Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsordnungen, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/Basel/Wien 1993, 1320-1327. 372 Vgl. Baßeier; Ulrich/ Heinrich, Jürr,en/ Koch, Walter, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft. Studienausgabe, Köln 41995, 125; Weede, Erlch, Markt, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg / Basel/Wien 1993, 643/644. 373 Vgl. Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, 2. Bd., Gütersloh 1990, 183. 374 Nell-Breuning, Oswald von/ Sacher; Hennann, Wettbewerb, in: Wörterbuch der Politik, 4. Heft, Freiburg 1949,70.

HO

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

mern eine Belohnung, die sich nachfragegerecht und kostenbewusst verhalten. Schließlich hat funktionierender Wettbewerb eine Entmachtungsfunktion und erschwert MonopolsteIlungen auf dem herkömmlichen Konsumgütermarkt. 375 Damit Wettbewerb überhaupt stattfinden kann, müssen vier idealtypisch angenommene Voraussetzungen vorhanden sein, die für einen funktionierenden leistungsorientierten Ablauf sorgen: An erster Stelle steht die Wettbewerbsfreiheit, die im Kontext der individuellen Freiheitsrechte zu verorten ist. Die Freiheit, sich wirtschaftlich zu betätigen sowie Güter und Dienstleistungen anzubieten, setzt im Wesentlichen das Recht auf Privateigentum376, das Recht auf freie Berufswahl und Berufsausübung377 , das Recht auf Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit378 voraus. In diesem Sinne kann man vom Freiheitsrecht der Unternehmertätigkeit bzw. - wie es das Wettbewerbsrecht ausdrückt - von der allgemeinen Marktfreiheit der Wirtschaftenden sprechen. 379 Die Freiheit zu produzieren und Güter über den Markt zu verteilen, korreliert zugleich mit der Freiheit zu konsumieren. Produktionsfreiheit und Konsumfreiheit sind die ersten konstitutiven Elemente des Leistungswettbewerbs. Mit diesen Freiheiten ist zugleich die zweite Wettbewerbs voraussetzung angesprochen, nämlich der freie Marktzugang sowohl für Anbieter als auch für Nachfrager. Dahinter steht eine dezentrale Organisationsstruktur ohne ein weitreichendes staatliches Eingreifen in den Wirtschaftsprozess. Wettbewerb setzt drittens die Pluralität der Marktteilnehmer, also der Anbieter und Nachfrager, voraus. Nur wenn genügend Konkurrenten auf dem Markt vorhanden sind, die sich - wie im Falle der Produzenten - mit ihren Leistungen bei den Konsumenten oder - wie im Falle der Verbraucher - beim Anbieter bewerben, kann von einer wettbewerblichen Konkurrenzsituation gesprochen werden. In der Marktwirtschaft gibt es nämlich nicht nur eine Anbieterkonkurrenz (der normale Konsumgütermarkt), sondern ebenso eine Nachfragerkonkurrenz (z. B. der Aktienmarkt oder der Wohnungsmarkt). Schließlich zeichnet sich viertens der idealtypische Wettbewerb dadurch aus, dass Markttransparenz herrscht, dass also alle Nachfrager den gleichen Zugang zu Marktinformationen haben und somit Produktvergleiche anstellen können. Hier spielt beispielsweise die Werbung - Symbol einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung - eine zentrale Rolle, da sie es ist, die mit ihrer Informationsfunktion die nötige Transparenz auf den wichtigsten und nachfragestärksten Güter- und Dienstleistungsmärkten vermittelt. Will man aus der Perspektive der Sozialethik die ethische Qualität des Wettbewerbs aufzeigen - damit also die Frage nach der ethischen Legitimität von Wett375 Vgl. Baßeler! Heinrich! Koch, Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, 222!223. 376 Vgl. Art. 14 GG. 377 Vgl. Art. 12 Abs. 1 GG. 378 Vgl. Art. 9 Abs. 1 GG. 379 Vgl. Baumbach, Adolf/ Hefermehl, Wolfgang, Wettbewerbsrecht. Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Zugabeverordnung, Rabattgesetz und Nebengesetze, München 18 1995,57.

11. Normative Orientierungen in der Sozialethik

111

bewerb und Marktwirtschaft stellen -, so gilt zunächst, dass der Wettbewerb die prinzipielle Freiheit der Wirtschaftssubjekte betont und entsprechend dem Grundrecht auf individuelle Entwicklung der menschlichen Person für die humane Selbstentfaltung und Autonomie von Produzenten und Konsumenten gleichermaßen eintritt. Maßnahmen des Wettbewerbs führen dazu, dass der Mensch in der modernen Wirtschaft seine Bedürfnisse optimal befriedigen kann, da er erstens aus der Pluralität der Güter und Dienstleistungen jene Angebote auswählen kann, die seinen Konsumbedürfnissen am besten entsprechen. Diesen modernen Wirtschaftstypus kann man mit dem Terminus Innovativwirtschaft38o bezeichnen. Eine Innovativwirtschaft zeichnet sich durch "Neuentwicklung von Produktionsmitteln", "Neuerschließung von Produktionszielen" und damit durch "Produktivitätssteigerung,,381 aus. Ein solches auf ständige Innovationen abzielendes Wirtschaftssystem vermag "neue, bisher unbekannte Güter zu entwickeln und bereitzustellen, mit denen [es] zwar an gegebene Bedürfnisse anknüpft, diese aber auch ständig fortentwickelt. ,,382 Zweitens wird eine optimale Bedürfnisbefriedigung dadurch erreicht, dass Wettbewerb und gegenseitige Konkurrenz die Anbieter dazu zwingen, bessere, innovative und kostengünstigere Güter zu produzieren. Es profitieren nicht nur die einzelnen Unternehmer, die gewinnmaximierende Individualinteressen verfolgen, vom Wettbewerb, sondern alle, die dem Gemeinwesen angehören. Die allen zugute kommende Leistungsfähigkeit der modernen Wirtschaft hängt dann letztlich nicht nur von den altruistischen Motiven ihrer Akteure ab. Das heißt also, dass in der Marktwirtschaft zwar individualistische Motive verfolgt werden, aber gleichzeitig auch diese unternehmerische Initiative zum Gemeinwohl, zur Leistungssteigerung einer Volkswirtschaft bzw. ganzen Gesellschaft beiträgt. Die Marktwirtschaft besitzt also - so kann resümiert werden - eine moralische Qualität. 383 Und der Wettbewerb als Leistungswettbewerb, und nicht als Behinderungswettbewerb, ist nach den Worten Nell-Breunings ethisch gerechtfertigt und positiv zu bewerten. 384 Die Kirchen und die Marktwirtschaft

In der Vergangenheit stand die katholische Soziallehre dem Wettbewerb und der freien - rein wirtschaftsliberalistischen - Entfaltung der Unternehmer oft eher Vgl. Korff, Wilhelm, Die Energiefrage auf dem Prüfstand, 12. Korff, Wilhe1m, Wirtschaft vor der Herausforderung der Umweltkrise, in: Münchener Theologische Zeitschrift 41 (1990) 176. 382 Korff, Wilhelm, Wirtschaft und Ethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 20. 07. 1990, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 32. 383 Vgl. Homann, Karll Blome-Drees, Franz, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992,47 -52. 384 Vgl. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, 129/130; auch Nell-Breuning, Oswald von, Wirtschaftsethik, in: Lenk, Hans 1Maring, Matthias (Hrsg.), Wirtschaft und Ethik, Stuttgart 1992, 42. 380 381

112

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

skeptisch gegenüber und hat die Vorrangstellung des Stärkeren und den zügellosen Wettbewerb kritisiert?85 Das erste Dokument, das eine andere Sprache spricht und sich deutlich zum Wettbewerbsprinzip und zur Marktwirtschaft bekennt, ist die Sozialenzyklika Centesimus annus von 1991. Die Enzyklika von Papst Johannes Paul 11. erkennt im freien Markt "das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse,,386. Diese Position wird dann auch in den vom Päpstlichen Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel herausgegebenen Dokumenten Ethik in der Werbung 387 (1997) und Ethik in der sozialen Kommunikation 388 (2000) wiederholt. Ausführlicher als Centesimus annus beschreibt die Denkschrift der Evangelischen Kirche Gemeinwohl und Eigennutz (1991) die gesellschaftliche Relevanz des Marktes und betont hier den Wettbewerb als hilfreiches Instrumentarium einer Volkswirtschaft: "In der Marktwirtschaft dient der Wettbewerb als wirksames Entmachtungsinstrument. Er entmachtet, weil er Alternativen für die Käufer schafft und dadurch bewirkt, daß Chancen zur Benachteiligung anderer erst gar nicht entstehen oder jedenfalls verringert werden. Wo Konsumenten zwischen zahlreichen Anbietern auswählen können, sind die Anbieter zu normgerechtem Verhalten in der Regel wirksam angehalten. Wettbewerb ist somit ein zentrales Moment jeder Wirtschaft, und dies auch unter ethischen Gesichtspunkten. Wo er nicht funktioniert, können sich Machtstellungen entwickeln, die immer die Gefahr des Mißbrauchs in sich schließen. ,,389 Im Gemeinsamen Wort der Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit wird ebenfalls die ethische Qualität von Marktwirtschaft und Wettbewerb hervorgehoben. Zunächst betont das Kirchenpapier die unverzichtbare Rolle marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien, die als Elemente bürgerlicher Freiheit und als Bedingung innovativen unternehmerischen Handeins zu deuten sind?90 Funktionierender Wettbewerb - so das Kirchendokument weiter - ist wie kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip in der Lage, besser den ökonomischen Ressourceneinsatz zu gewähren und somit den individuellen Bedürfnissen der Konsumenten gerecht zu werden. 391 Aufgrund der großen Bedeutung des Wettbewerbs für eine humane und fortschrittliche Gesellschaft werden dann auch die Unternehmer, die sich mit ihrem Kapital und ihrem Einsatz auf dem Markt bewähren, gelobt: Sie "verdienen auch unter ethischen Gesichtspunkten hohe Anerkennung. ,,392 So sehr marktwirtschaftliche Mechanismen notwendig sind, so sehr 385 386

Vgl. dazu z. B. QA, Art. 109. CA, Art. 34.

387 V gl. Ethik in der Werbung, Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997, Art. 11. 5. 388 Vgl. Ethik in der sozialen Kommunikation, Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000, Art. Ir. 7. 389 Gemeinwohl und Eigennutz, Art. 40. Hervorhebung im Original. 390 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 142. 391 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 142. 392 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 142.

II. Nonnative Orientierungen in der Sozialethik

113

muss dieses Wirtschaftssystem aber eingebunden sein in eine bestimmte staatliche Ordnung, die zum einen den grundsätzlichen Rahmen setzt für die konkreten Wettbewerbsbedingungen und zum anderen auch diejenigen unterstützt, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht im Wirtschaftsleben eingebunden und auf einen sozialen Ausgleich angewiesen sind. Deshalb soll eine humane, allen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen, besonders aber den Schwachen und Benachteiligten, gerecht werdende Wirtschaftsordnung in Form der sozialen Marktwirtschaft ausgebildet werden. Hierunter versteht das Gemeinsame Wort eine staatlich gewährte wirtschaftliche Ordnung, die "auf den Prinzipien eines in seinem Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), eines funktionierenden Wettbewerbs und der sozialstaatlichen Absicherung der Einkommen der Nicht-Erwerbstätigen beruht.,,393 Die soziale Marktwirtschaft ist also ein Kompromiss zwischen der wirtschaftlichen Freiheit auf der einen Seite und dem sozialen Ausgleich auf der anderen Seite. "Als ,sozial' gilt sie, weil sie auf Dauer einen sozial gerechten Ausgleich und die Beteiligung und Teilhabe eines jeden Menschen - auch des Nicht-Erwerbstätigen - nach seinem Vermögen an dem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben zum Ziel hat. ,,394 Im Gemeinsamen Wort ist aber nicht allein die Rede von der sozialen Marktwirtschaft, sondern von der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft395. Mit dieser Terminologie wird nun auch der Umweltgedanke in Form des nachhaltigen Wirtschaftens in das Ordnungskonzept der Wirtschaft integriert?96 Die hinter dem Nachhaltigkeitsleitbild stehende Zukunftsdimension, die in den letzten Jahren auch in der christlichen Sozialethik und kirchlichen Sozialverkündigung immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, muss auch innerhalb wirtschaftlicher Prozesse gebührend berücksichtigt werden, hängt doch das Leben der zukünftigen Generationen in entschiedener Weise von den gegenwärtigen Bedingungen des Wirtschaftens ab: "Ging es in der ,sozialen Frage' letztlich um ein Verteilungsproblem, so weist die ,ökologische Frage' auf den Gesamtrahmen des zu Verteilenden hin. Die bisherigen Ziele der Marktwirtschaft müssen sich in Zukunft vor allem daran messen, ob sie auch den nächsten Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. ,,397 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 143. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 143. 395 Im Kirchenpapier wird mit dem Ausdruck ökologisch-soziale Marktwirtschaft ein zentrales Modell einer zukunftsfähigen Gesellschaft benannt. Der gesamte Themenkomplex, der den Wirtschaftsprozess zu beschreiben versucht, trägt diese Überschrift. 396 Während in der Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess über ein gemeinsames Wort der Kirchen der ökologische Gedanke keine zentrale Stellung hatte, wird hingegen im Schlusspapier die Ökologie angemessen berücksichtigt. Vgl. Heimbach-Steins, Marianne, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, in: Stimmen der Zeit 215 (1997) 305/306; Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess über ein gemeinsames Wort der Kirchen, hrsg. vorn Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vorn Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover/Bonn O.J. 397 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Art. 148. 393

394

8 Bohrmann

114

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Trotz der ethischen Bedeutsamkeit von Marktwirtschaft und Wettbewerb dürfen nicht die Probleme von Marktfreiheit und unternehmerischer Initiative übersehen werden, die auch in den genannten Dokumenten der Kirchen zur Sprache kommen?98 Immer wieder werden Akteure in der Marktwirtschaft versuchen, sich nicht an die Rahmenordnung zu halten. Damit verstoßen sie aber gegen den Gedanken des Leistungswettbewerbs. Hier ist dann beispielsweise von einem unlauteren Wettbewerb die Rede. Wenn Wettbewerber versuchen, mit unlauteren Mitteln Vorteile auf Kosten der Mitbewerber zu erkämpfen, muss sich der Gesetzgeber vor die redlichen Wettbewerber stellen, die sich normkonform verhalten. Das Wettbewerbsrecht schützt zum einen den Mitbewerber, aber damit zugleich auch den Verbraucher, auf den letztlich alle Wirtschaftsaktivitäten im Wettbewerbsgeschehen zielen. 4. Zusammenfassung: Ethische Leitlinien für die Ausgestaltung sozialer Strukturen Damit die Sozialethik ihre Aufgabe - die Reflexion über die Gestaltung sozialer Strukturen - erfüllen kann, braucht sie normative Grundsätze und Leitlinien, an denen sie sich bei ihrer Bewertung orientiert. Die für die vorliegende Arbeit zentralen Orientierungen sind das Gerechtigkeitskriterium, die Sozialprinzipien sowie die Idee der ökonomischen Freiheit. Die hier genannten Orientierungsmaßstäbe gründen letztlich im Personprinzip, ist doch der Mensch, wie es bereits Gaudium et spes formuliert hat, Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Gebilde?99 Soziale Strukturen haben keinen Selbstzweck, sie erfüllen lediglich eine Dienstfunktion. In der Pastoralkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils wird diese normative Aussage mit folgenden Worten ausgedrückt: "Die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung müssen sich dauernd am Wohl der Person orientieren; denn die Ordnung der Dinge muß der Ordnung der Personen dienstbar werden und nicht umgekehrt ...400 Die den Menschen umgebenden gesellschaftlichen Strukturen sind also nur dann zu rechtfertigen und ethisch zu legitimieren, wenn sie einen humanen Zweck erfüllen und auf die Förderung und Mehrung des menschlichen Personseins ausgerichtet sind. In diesem Sinne sind die entfalteten normativen Maßstäbe zu verstehen, wollen sie doch diese Dienstfunktion unterstützen und demzufolge richtungweisend sein für die strukturelle Ausgestaltung des Sozialen. Der Mensch als Person bildet den Ausgangspunkt der Sozialethik. Die Grundidee jeder Gesellschaftsordnung, die den Menschen in seinem Status als Person ernst nimmt, heißt größtmögliche Freiheitsentfaltung und Autonomie, ohne dass aber die Freiheiten der anderen Gesellschaftsteilnehmer behindert oder gar zerstört 398 Vgl. CA, Art. 34-37; Ethik in der Werbung, Art. III. 10; Ethik in der sozialen Kommunikation, Art. III. 14; Gemeinwohl und Eigennutz, Art. 40. 399 Vgl. GS, Art. 25. 400 GS, Art. 26.

Ir. Normative Orientierungen in der Sozialethik

115

werden. Das Moment der Freiheit kann sich in vielfältigen Erscheinungsformen des menschlichen Handelns realisieren. Für den homo oeconomicus ist vor allem die wirtschaftliche Freiheitsentfaltung von zentraler Bedeutung, die sowohl für die Produzenten als auch die Konsumenten gilt. Eine so verstandene Freiheit entspricht einem Menschenbild, das die Selbstentfaltung und Selbstverantwortung des Einzelnen fördert. In der Marktwirtschaft wird eine spezielle Ausprägung der Gerechtigkeitsidee hochgehalten, nämlich die Leistungsgerechtigkeit. Bei ihr geht es primär nicht um Gleichheit, sondern um Verschiedenheit, um den anderen zu "besiegen" - ja, die Leistungsgerechtigkeit setzt zutiefst auf das Konkurrenzprinzip und den individuellen Erfolg. Während aber die Leistungsgerechtigkeit als Option für die Starken zu verstehen ist, folgt die soziale Gerechtigkeit in besonderer Weise der Option für die Schwachen. 401 Soziale Gerechtigkeit gilt als zentrale Leitidee sozialer Strukturen, sie ist eine Zielvorgabe für die Entwicklung moderner, wandelbarer Gesellschaften. 402 Die Frage nach der gerechten Gesellschaftsordnung ist dabei auf das Engste verknüpft mit der Frage nach der gerechten Verteilung der in einer Gesellschaft vorhandenen - zumeist knappen - Ressourcen. Die von der Gesellschaft bzw. den gesellschaftlichen Akteuren zur Verfügung gestellten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Güter müssen nach bestimmten Kriterien ausgeteilt werden. Verteilungsprobleme gehören zu den zentralen zu lösenden sozialen Konfliktfeldern des menschlichen Zusammenlebens. Hierbei leistet die Idee der sozialen Gerechtigkeit einen wichtigen Beitrag, da sie den Inbegriff der Regeln und Verfahren darstellt, um die Güterverteilung für alle in humaner Weise zu regulieren. 403 Für die Konkretisierung der sozialen Gerechtigkeit sind die Bedürfnisgerechtigkeit sowie die Chancengerechtigkeit von zentraler Bedeutung. Zum einen sorgt die soziale Gerechtigkeit - was die Chancengerechtigkeit betrifft - für eine allen zukommende Grundversorgung der existenznotwendigen Güter (z. B. im Hinblick auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit), zum anderen zielt der Maßstab der Gerechtigkeitsforderung - was die Bedürfnisgerechtigkeit betrifft - auf den bedürftigen Menschen, der in einer konkret zu definierenden Situation auf Unterstützung und Beistand vonseiten der Gesellschaft angewiesen ist. Eine weitere Form der sozialen Gerechtigkeit, die erst in jüngster Zeit in die christliche Sozialethik Einlass gefunden hat, ist die Beteiligungsgerechtigkeit. Sie bezieht sich auf demokratische Mitwirkungsrechte und findet ihre systematische Entfaltung dort, wo Menschen die Möglichkeit erhalten, sich aktiv und in kreativer Weise am Gesellschaftsleben zu beteiligen. In diesem 401 Vgl. Vogt, Markus, Soziale Interaktion und Gerechtigkeit, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999, 296. 402 Vgl. Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Katholische Soziallehre, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart/Berlin/Köln 2001,822. 403 Vgl. Schneider, Martin, Soziale Gerechtigkeit, in: Baumgartner, Alois/Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001, 71.

8*

116

A. Gesundheitswissenschaftliche und ethische Grundlegung

Sinn haben die Akteure der unterschiedlichen sozialen Strukturen bzw. gesellschaftlichen Teilsysteme die Pflicht, solche Partizipationschancen den Bürgern und Bürgerinnen zu eröffnen. Für den Begriff der Solidarität, um eine weitere normative Orientierung in den Blick zu nehmen, ist zentral, dass er nicht nur einfach ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit zwischen Individuen oder Gruppen ausdrückt, sondern dieses solidarische Bewusstsein im Prinzip universell versteht und dabei den besonderen Akzent auf die Option für die Armen legt. Erst die Hinordnung auf den Menschen als Person - und das heißt auf alle Menschen - macht den Solidaritätsbegriff zu einer sozialethischen Terminologie. Das Prinzip der Solidarität drückt eine Beistandsverpflichtung aus, die sich entweder con-solidarisch Solidaritätsakteure und Solidaritätsrezipienten befinden sich in der gleichen Notlage - oder pro-solidarisch - Solidaritätsakteure und Solidaritätsrezipienten befinden sich in unterschiedlichen Situationen - äußert. Das Bewusstsein der inneren Verbundenheit der Menschen im Sinne des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins nährt die Bereitschaft, sich gegenseitig zur Seite zu stehen und sich zu unterstützen. Die wechselseitige Solidarität der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen im Sinne der Con-Solidarität ist vor allem innerhalb der Rechts- und Sozialordnung wirksam. Hier haben die Gesellschaftsmitglieder die gleichen Interessen und nehmen sich gegenseitig in die Pflicht, da sie beispielsweise gleiche Risikolagen gemeinschaftlich zu tragen bereit sind. Konkret wird diese Verpflichtung in der solidarischen Umverteilung finanzieller Ressourcen; die Leistungsstarken tragen in diesem Sinne die Last der Leistungsschwachen mit. Der Umverteilungsgedanke ist im Rahmen sozialstaatlicher Strukturen konstitutiv. Das Prinzip der Subsidiarität regelt die Kompetenzen innerhalb der gesellschaftlichen Gebilde und tritt zunächst für eine Parteinahme von unten ein, die die Autonomie der Person wahrt. Allerdings plädiert die Subsidiarität für den hilfreichen Beistand, wenn untergeordnete Strukturen bzw. die eigenen Kompetenzen bestimmte Aufgaben nicht lösen können. Man darf das Subsidiaritätsprinzip daher nie nur einseitig interpretieren, also entweder im Sinne eines Zuständigkeitsprinzips oder eines Hilfsprinzips. Beide Ausprägungen gehören untrennbar zur Subsidiarität und bilden die zwei Seiten der einen Medaille. Das Subsidiaritätsprinzip ist weiterhin eher ein formales Prinzip. Als Strukturprinzip regelt es Kompetenzen. Hingegen ist das Solidaritätsprinzip ein inhaltliches Prinzip, indem es beispielsweise die Frage nach dem Grund und der Reichweite solidarischer Hilfe beantwortet. Sowohl die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität als auch die normative Idee der sozialen Gerechtigkeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen fußen auf dem Personprinzip, das als normative Grundorientierung der Sozialethik zu gelten hat. Im Prinzip der Personalität kommt zum Ausdruck, dass jeder Mensch Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben hat und ihm gleiche Rechte zukommen. In diesem Sinne gelten die Menschenrechte als Garanten der Personalität. Sie treten für die freie Entfaltung der Individuen ein, postulieren die Gleichbehandlung und die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben.

11. Normative Orientierungen in der Sozialethik

117

Die in diesem Kapitel entfalteten nonnativen Orientierungen der christlichen Sozialethik sind allesamt als Leitideen der Gesellschaftsgestaltung zu verstehen. Sie lenken den Blick auf die Art und Ausgestaltung sozialer Gebilde und orientieren sich dabei an den Bedürfnissen des Menschen als Person. In den folgenden Kapiteln wird das Gesundheitswesen im Hinblick auf seine Funktionslogik beschrieben, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit seiner Weiterentwicklung thematisiert. Dabei müssen sich diese Überlegungen freilich an den vorgestellten nonnativen Orientierungen messen lassen.

B. Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens im Kontext des Sozialstaates Viele Einrichtungen der sozialen Sicherung reichen in vormoderne Epochen zurück und sind keine reinen Erfindungen industrialisierter Gesellschaften. Ansätze von solchen Sicherungssystemen können bereits im Gesundheitswesen der Antike, in Griechenland und im Römischen Reich, festgestellt werden. In der griechischen Antike übernahmen beispielsweise Ärzte, die von den Städten bezahlt wurden, Gesundheitsdienste an den ärmeren Bevölkerungsgruppen. 1 Auch im Römischen Reich sorgten sich solche "Armenärzte" um die Gesundheitsversorgung der Bedürftigen. 2 Weiterhin sind in der Antike bereits mehr oder weniger institutionalisierte Selbsthilfeeinrichtungen bekannt, wie die griechischen Eranosgesellschaften, die man im Sinne von privat organisierten "Krankenhilfsvereinen" interpretieren kann. 3 Die von der Gruppe gesammelten Einnahmen kamen in Notnmen einzelnen Mitgliedern zugute. Vergleichbare Vereinigungen gab es auch im Römischen Reich, etwa bei den Begräbnisvereinen (collegia funeratica oder collegia tenuiorum), die die Kosten für Begräbnisse, aber auch für Unfalle und Krankheiten übernahmen. 4 Bei den hier skizzierten Vereinigungen ist bereits im Kern der versicherungstechnische Gedanke der Reziprozität vorhanden, da alle Mitglieder einen bestimmten Betrag in eine gemeinsame Kasse zu entrichten hatten. 5 Im christlichen Kulturraum wurde die Unterstützung für Kranke durch unterschiedliche karitative Hilfeleistungen wahrgenommen. Hier sind vor allem die zahlreichen, auf christlicher Nächstenliebe basierenden Hilfeleistungen in der Urkirche, aber auch die vielen Aktivitäten der verschiedenen Ordensgemeinschaften im Laufe der Christentumsgeschichte, beispielsweise die Krankenversorgung der Klöster in der Feudalgesellschaft, zu erwähnen. 6 I Vgl. Herder-Domeich. Philipp, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Problemgeschichte, Problembereiche, Theoretische Grundlagen, Baden-Baden 1994,33-36. 2 Vgl. Herder-Domeich. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 37/38; Pfeffer, Marina E., Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike unter besonderer Berücksichtigung der Sicherung bei Krankheit, Berlin 1969, 85 - 88. 3 Vgl. Herder-Domeich. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 36. 4 Vgl. Herder-Domeich. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 38/39; Schirbel. Eugen, Geschichte der sozialen Krankenversorgung vom Altertum bis zur Gegenwart, Berlin 1929,30-32. 5 Vgl. Herder-Domeich. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 40. 6 Vgl. dazu genauer Hermann. Robert, Die Kirche und ihre Liebestätigkeit vom Anbeginn bis zur Gegenwart, Freiburg 1963; Schirbel. Geschichte der sozialen Krankenversorgung vom Altertum bis zur Gegenwart, 34-72.

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

119

Im vorindustriellen Wirtschafts- und Sozialsystem, das man zwischen dem Beginn des 12. und der Mitte des 18. Jahrhunderts einordnen kann/ sind kollektive Selbsthilfeorganisationen vor allem in der Bergarbeiterschaft (Knappschaftswesen), bei den Zünften und den Gesellenverbänden zu finden. 8 Die Mitglieder der Knappschaften sicherten sich gegenseitige Unterstützung bei Unglücks-, Erkrankungs- und Todesfallen zu. Der Betrag, der in eigens dafür aufgestellten Büchsen gesammelt wurde, wurde zunächst freiwillig entrichtet, dann aber vorgeschrieben. Die mehr oder weniger stark ausgeprägte Funktionskraft der Knappschaftskassen als Versicherungsinstitutionen auf genossenschaftlicher Basis gründete in der Tatsache, dass die Zwangsbeiträge von allen Knappen bezahlt werden mussten und dass auch die Arbeitgeber einen Beitrag entrichteten. 9 Bei den Zünften und den Gesellenverbänden gab es darüber hinaus auch eine gegenseitige Unterstützung, die besonders in größeren Städten in Form eines gut organisierten Fürsorgeund Vorsorgesystems in Erscheinung trat. In NotfaIlen erhielten die Meister z. B. aus der Zunftkasse eine modeme Art des Krankengeldes, um somit den Erwerbsausfall zu kompensieren. Im Alter bekamen die Zunftmeister eine Unterstützung, meist in Form von Naturalien; im Todesfall wurden die Kosten für das Begräbnis übernommen, teilweise erhielten auch die Familienangehörigen eine Unterstützung. lO Ähnliche Sicherungsformen bei Arbeitslosigkeit, bei Unfall und Krankheit sowie im Todesfall sind auch für die Gesellen, die fest in der Meisterfamilie integriert waren, bezeugt. 11 Im gesellschaftlichen Gefüge des vorindustriellen Wirtschafts- und Sozialsystems waren somit unterschiedliche Berufsvereinigungen entscheidende Träger der 7 Das vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialsystem war u. a. durch folgende Strukturelemente gekennzeichnet: (I) weitgehende Bestimmung der sozialen Stellung des Menschen durch Geburt (Abstammungsgesellschaft); (2) Familienform der Großfamilie; (3) weitgehende Einheit von Produktionsstätte und Beziehungswelt (Familie); (4) kleinräumige, leicht zu überschauende Bereiche des sozialen Lebens; (5) ca. 90% der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft; (6) geringe Mobilität der Bevölkerung, zu der eine Anzahl von Bräuchen und Rechtsnormen beitrug (etwa Starrheit der Standesgrenzen, Schollenzwang für abhängige Bauern); (7) Herrschaftsbeziehungen waren durch die persönlichen Bindungen zwischen "Herren" und "Beherrschten" gekennzeichnet (z. B. die Treuebindung in Grundherrschaft und Lehenswesen, patriarchalische Familie); (8) politisch-rechtliche Gliederung der führenden Schichten der Gesellschaft in Stände (Adel, Geistlichkeit und städtisches Bürgertum); (9) soziale Sicherungssysteme im RaiImen von Familien, Nachbarschaftshilfe und Genossenschaften; (10) hohe Geburtenzahlen und hohe Sterberaten trafen zusammen (sparsame Bevölkerungsweise), Begrenzung der Heiratshäufigkeit. Vgl. Bolte, Der achte Sinn, 77 -79. 8 Vgl. Schirbel, Geschichte der sozialen Krankenversorgung vom Altertum bis zur Gegenwart, 78-109. 9 Vgl. Kleeis, Friedrich, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Nachdruck der 1928 erschienenen Ausgabe, hrsg. von Dowe, Dieter, mit einer Einleitung von Tennstedt, Florian, Berlin / Bonn 1981, 24 - 26. 10 Vgl. Fröhlich, Sigrid, Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976, 38-114; Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 30-34; Peters, Horst, Die Geschichte der sozialen Versicherung, Sankt Augustin 31978,23-25. 11 Vgl. Fröhlich, Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, 115-172.

120

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

Gesundheitssicherung. Auch die Familien, die Nachbarschaft und kirchliche Initiativen übernahmen wichtige Funktionen innerhalb der vormodernen Gesundheitsversorgung. Die Hervorhebung der verschiedenen genossenschaftlichen Systeme soll deutlich machen, dass es bereits vor der Industrialisierung solidarische Formen der gegenseitigen Unterstützung in bestimmten Notlagen gab, die - trotz der Unterschiede - als Vorläufer der organisierten und sozial staatlich geregelten Hilfe betrachtet werden müssen. 12 Im Folgenden sollen neben den historischen Entwicklungslinien der sozialstaatlichen Versorgung auch die ethosspezifischen Grundlagen des Systems der sozialen Sicherung dargestellt werden. I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates 13

Verschiedene Perioden der sozialen Gesundheitssicherung stehen im Zentrum der folgenden Erörterung. Ausgangspunkt der historischen Darstellung bildet dabei die unter Bismarck eingeführte Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich. 1883 gilt als das Geburtsjahr der solidarisch strukturierten, verstaatlichten und zwanghaften 12 Am Ende der sozialpolitischen Studie über soziale Sicherungssysteme bei Zünften und Gesellenverbänden kommt Sigrid Fröhlich zu folgendem Ergebnis: "Der nahezu nahtlose Übergang von der zünftigen sozialen Sicherung zur allgemeinen Sozialversicherung zeigt, daß nicht etwas völlig Neues geschaffen wurde, sondern daß sich lediglich eine Entwicklung fortsetzte. Die lange bewährte Tradition der sozialen Sicherung der Mitglieder von Zünften und Gesellenverbänden hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß in Deutschland relativ früh eine allgemeine Versicherungspflicht der Arbeiter in einem funktionsfahigen System der Sozialversicherung eingeführt wurde." Fröhlich, Die Soziale Sicherung bei Zünften und GeseIlenverbänden, 268/269. 13 Die Begriffe Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat sind Synonyme. Sozialstaat - eine Tenninologie, die sich auf die Sozialstaatsklauseln des Grundgesetzes bezieht (Art. 20 GG, Art. 28 GG) - wird eher in der deutschen sozialpolitischen (politischen) Debatte verwendet, während Wohlfahrtsstaat (welfare state) - die angelsächsische Übersetzung von Sozialstaat - ab etwa 1980 in der deutschen sozialwissenschaftlichen (soziologischen) Debatte zu finden ist. "Sozialstaatlichkeit" ist - nach Franz-Xaver Kaufmann - folglich die "deutsche Variante wohlfahrtsstaatlicher Programmatik". Kaufmann, Franz-Xaver, Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: ders., Religion und Modernität, Tübingen 1989, 93. Einen anderen Weg der Begriffsbedeutung schlägt allerdings der Historiker Gerhard A. Ritter ein, der beide Bezeichnungen differenziert. Für Ritter ist die Bezeichnung Sozialstaat präziser. Sozialstaat "venneidet sowohl die Anklänge an die bürgerliche Freiheiten beschränkende paternalistische Wohlfahrt absolutistischer Staaten wie auch die Missverständnisse, die sich aus der in den Vereinigten Staaten inzwischen üblichen Unterscheidung zwischen ,Welfare', der oft als unerwünschte Notwendigkeit verstandenen Sozialhilfe für Bedürftige, und der meist positiv beurteilten ,Social Security' (soziale Sicherheit), der auch auf eigenen Beitragsleistungen beruhenden Sozialversicherung, ergeben." Ritter; Gerhard, A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, 13. In dieser Arbeit wird der Begriff Sozialstaat zugrunde gelegt, da er im öffentlichen Diskurs weiter verbreitet ist und auf eine längere historische Tradition zurückblicken kann als Wohlfahrtsstaat. V gl. Ritter; Der Sozialstaat, 10/11. In einschlägigen sozialethischen Lexika (z. B. Lexikon der Wirtschaftsethik von 1993, Lexikon der Bioethik von 1998, Evangelisches Soziallexikon von 2(01) wird zumeist das Stichwort Sozialstaat angeführt.

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

121

Fonn der Gesundheitssicherung, wenngleich - wie oben skizzenhaft gezeigt werden konnte - die Wurzeln der sozialen Sicherung in die vorindustrielle Gesellschaft zurückreichen. Folgende Darstellung kann - aufgrund der Fülle des vorhandenen Materials - nur einige herausragende Entwicklungslinien nachzeichnen, die für das Verständnis der Funktion des gegenwärtigen deutschen Gesundheitswesens von Bedeutung sind. Somit bietet diese Erörterung keine umfassende Analyse über die Geschichte der sozialen Sicherung respektive Krankenversicherung von den Anfangen im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, sondern lediglich einen Überblick über herausragende historische Momente.

1. Gesundheitssicherung als Teil der Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert beginnt für die europäische Gesellschaft ein fundamentaler Wandel. Das vonnoderne, vorindustrielle Wirtschaftsund Sozialsystem ändert sich derart, dass sich die Menschen "schlagartig" in neuen sozialen Strukturen wiederfinden, die vor allem durch gewandelte Produktionsverhältnisse und veränderte farniliale Lebensfonnen gekennzeichnet sind. Innerhalb der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte werden für die Entstehung der Industrialisierung eine Reihe von Gründen genannt. 14 An erster Stelle standen die zahlreichen technischen Erfindungen, die die Voraussetzungen dafür schufen, dass man von einer überwiegend agrarischen Lebensweise zu einer industriellen (maschinenbezogenen) Produktionsweise überging. Dieser Wandel wurde wesentlich begünstigt durch die Liberalisierung beispielsweise im wirtschaftlichen oder landwirtschaftlichen Bereich (Gewerbefreiheit, Bauernbefreiung). Weiterhin war die Industrialisierung von einem ausgeprägten Bevölkerungswachstum begleitet, ausgelöst vor allem durch einen Rückgang der Sterbehäufigkeit aufgrund des medizinischen Fortschritts und der verbesserten hygienischen Verhältnisse. 15 Mit der Industrialisierung, die neue Produktionsstätten (Fabriken) entstehen ließ, wanderten immer mehr Menschen in die Städte ab (Urbanisierung) und suchten hier nach Arbeit. Man kann die Industrielle Revolution als eine Revolution der Arbeitsverhältnisse bezeichnen, die einen neuen Stand hervorbrachte, nämlich den besitzlosen Arbeiter bzw. das Proletariat. Das Proletariat ist jene Bevölkerungsschicht, "die im Zeitalter der weitgehenden Trennung von Produktionsmitteln und Arbeitskraft auf Grund ihrer Vennögenslosigkeit dauernd gezwungen ist, ihre Arbeitskraft wie eine Ware 14 Vgl. Alber; Jens, Vorn Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a.M. 1982,29-38; Ritter, Gerhard A., Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983,9-11; Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981,25-77. 15 Vgl. Bolte, Karl M. / Kappe, Dieter / Schmid, Josef, Bevölkerung. Statistik, Theorie, Geschichte und Politik des Bevölkerungsprozesses, Opladen 41980, 46-48.

122

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

zum wechselnden Marktpreis anzubieten und daher in erblich gewordener Existenzunsicherheit lebt. ,,16 Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen in den modernen maschinellen Produktionsstätten (z. B. niedriger Stundenlohn, hohe Arbeitszeit, Frauen- und Kinderarbeit, miserable Arbeitsbedingungen, keine Schutzvorrichtungen gegen Arbeitsunfälle, keine Kündigungsfristen, schlechte Wohnverhältnisse in den wachsenden Städten) sowie des grundsätzlichen Konfliktes zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen wird die soziale Frage im Laufe der Zeit immer lauter. 17 Die hier kurz beschriebenen sozioökonomischen Umwälzungen und Problemstellungen der sozialen Fragen bilden den Hintergrund für die Sozialreform und die Einführung der sozialen Sicherungssysteme, die unter Otto von Bismarck im Deutschen Reich etabliert worden sind. Trotz der historischen Bedeutung der Industrialisierung für den Aufbau staatlicher Sozialpolitik war der gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozess nicht der ausschlaggebende Grund für Bismarcks Reform, wie Vertreter der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte immer wieder betont haben: "So notwendig aber diese wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse als Voraussetzung für die Einführung der Sozialversicherung waren, so reichen sie doch nicht aus, deren Entstehung zu erklären. Offensichtlich ist staatliche Sozialversicherung nicht einfach die Antwort auf einen bestimmten Grad der Industrialisierung und Urbanisierung und der dadurch ausgelösten sozialen Probleme. Sonst hätten nicht Deutschland, sondern die in der industriellen Entwicklung zunächst führenden Nationen - Großbritannien, Belgien, die Schweiz, Frankreich und die Niederlande - in Europa die ersten Sozialversicherungen schaffen müssen."IS Die Entstehung des deutschen Sozialstaates muss im Wesentlichen als politische Antwort auf die Arbeiterfrage und die sich organisierende Arbeiterbewegung gedeutet werden. Bismarck wollte den Staat vor revolutionären Bestrebungen der Arbeiterbewegung schützen und gleichzeitig die Arbeiterschaft durch soziale Reformen an den Staat binden. 19 Seine Sozialpolitik galt als ,,konservative Vorwärtsverteidi16 Monzel, Nikolaus, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Herweg, Trude/Grenner, Karl Heinz, München/Wien 1980, 232. Nach Nikolaus Monzel wird der Proletarier dementsprechend durch folgende Merkmale charakterisiert: Vermögenslosigkeit, Zwang zur dauernden Lohnarbeit, Warencharakter seiner Arbeit, wirtschaftliche Existenzunsicherheit, Erblichkeit des beschriebenen Zustandes, geringes soziales Ansehen, proletarisches Bewusstsein. Vgl. Monzel, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte, 233/234. 17 In Rerum novarum wird die Situation der Arbeiter wie folgt analysiert: ,,[Djie Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt". RN, Art. 1. 18 Ritter, Der Sozialstaat, 64. 19 Vgl. Zöllner; Detlev, Landesbericht Deutschland, in: Köhler, Peter A./Zacher, Hans F. (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981,68-70.

1. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

123

gung", um so die "revolutionäre Sozialdemokratie,,2o zu bekämpfen. Man kann deshalb schlussfolgern, dass die "Sozialpolitik [ ... ] in der Tat nicht aus Liebe, sondern aus Furcht geboren [ist],,21. Den Gedanken, die Arbeiterschaft enger an den Staat zu binden, hat Bismarck - so darf vermutet werden - bei seinen Besuchen in Frankreich kennengelernt, wo unter Napoleon III. der Staat u. a. Staatsrenten an die Arbeiterschaft und Landbevölkerung vergab. 22 Über die Vergabe einer vom Staat entrichteten Rente urteilte Bismarck wie folgt: "Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln als wer darauf keine Aussicht hat.'.2) Das sozialpolitische Engagement des Deutschen Reiches wurde mit der Kaiserlichen Botschaft vom 17. 11. 1881 eingeläutet und mündete schließlich in die erste Sozialgesetzgebung, die drei spezielle Formen der Sozialversicherung ausbildete: Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Invaliden- und Altersversicherung (1889).24 Warum gerade Krankheit, Unfall und Invalidität! Alter abgesichert werden sollten, lag in der industriellen Arbeitsweise und der sozialhistorischen Ausgangslage. Die sozialpolitischen Bemühungen waren Schutzmaßnahmen gegen die Standardrisiken der Industriearbeiter, sie boten primär Schutz gegen das Risiko des Einkornmensausfalls. 25 Die Bismarcksche Sozialreform konnte bereits auf eine vorgesetzliche Krankenversicherungstradition zurückgreifen, wie sie 20 Hockerts, Hans Günter, Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modemen Sozialstaats in Europa, in: ders. u. a., Sozialstaat - Idee und Entwicklung, Reformzwänge und Reformziele, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, 35. Bd., Köln 1996,31. 21 Hentschel, Volker, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik (1815-1945), Düsseldorf 1980,47. 22 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 70; Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England, 28. 23 Bismarck, Otto von, zitiert nach: Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England,28. 24 Vgl. Müller, Joachimt Nick, Franz R.t Ehreiser, Hans-Jörg, Sozialstaat und soziale Sicherung, Regensburg 1979,7. Die Kaiserliche Botschaft wird als die Geburtsstunde des deutschen Sozialstaates bezeichnet. In dieser Erklärung kommt die Sorge um die Arbeiterschaft mit den folgenden Worten zur Sprache: "Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstag diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen und würden Wir mit umso größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen." Botschaft Kaiser Wilhelm 1. an den Reichstag von 1881, zitiert nach: Beywl, Wolfgang, Soziale Sicherung, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1994,26. 25 Vgl. Schmidt, Manfred G., Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998, 24.

124

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

sich ca. ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herausbildete. Zahlreiche Hilfs-, Betriebs-, Fabrik- und Innungskrankenkassen, die entweder die Arbeiterschaft im Wege der Selbsthilfe - nach dem Vorbild der Zunft- oder Gesellenvereinigungen - oder die Unternehmer - im Sinne einer betrieblichen Sozialpolitik eingerichtet hatten, sorgten für die Belange der kranken Arbeiter und Arbeiterinnen. Die Mitgliedschaft in diesen Kassen war entweder freiwillig oder beruhte, was vor allem für die Betriebskrankenkassen zutraf, auf Zwang?6 Allerdings und das ist der gravierende Unterschied zu dem Krankenversicherungssystem ab 1883 - erstreckten sich die vorhandenen verschiedenen Krankenkassen nur auf bestimmte Regionen, Betriebe oder Berufe, während aber die Sozialversicherung seit Bismarck überregional ansetzte und vor allem auf einem staatlichen Versicherungszwang - dem wesentlichen Strukturprinzip - gründete. 27 Mit der neuen gesetzlichen Regelung konnten nun auch Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz wechselten und in ein anderes Gebiet zogen, ihr bisheriges Versicherungsverhältnis beibehalten. Auch die Unfallversicherung knüpfte an eine frühere Tradition an, nämlich der persönlichen Haftung des Unternehmers nach dem Haftpflichtgesetz. 28 Lediglich die Invaliden- und Altersversicherung konnte noch auf keine Form der institutionalisierten Hilfe zurückgreifen, sie musste neu geschaffen werden?9 Mit der Sozialversicherung ist das Deutsche Reich unter der Kanzlerschaft Bismarcks zum "Pionierland,,3o staatlicher Sozialversicherungen geworden. 31 Andere europäische Länder folgten bald darauf dem Deutschen Reich, so dass die meisten westeuropäischen Staaten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sozial staatliche Absicherung einführten. 32 Zwar gab es schon vor der Einführung der Sozialversicherung eine staatliche Fürsorge für die Armen im Sinne einer kommunalen Armenpflege, doch auf diese Hilfe gab es erstens keinen Rechtsanspruch, und zweitens verlor der Empfänger von Armenhilfe seine Bürgerrechte, insbesondere in Form des aktiven und passiven Wahlrechts. 33 Nach dem Urteil von Hans Günter Hockerts war Armenhilfe "als Gegensatz zur Staatsbürgerschaft konzipiert,,34, das 26 V gl. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 64 - 70; Schulz, Günther, Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 137 - 176. 27 Vgl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 84. 28 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 52. 29 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 52. 30 So das Urteil von Ritter, Der deutsche Sozialstaat, 13. 31 Vgl. Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfalutsstaat, 19. 32 Vgl. die Tabellen bei Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, 28; Ritter, Der Sozialstaat, 87. 33 Vgl. Hockerts, Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modemen Sozialstaats in Europa, 29. 34 Hockerts, Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modemen Sozialstaats in Europa, 29.

1. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

125

heißt, Annenhilfe war kein integrierter Bestandteil staatlicher Versorgung, sondern lediglich eine Alternative zu dieser. Aus diesem Grund kann sie auch nicht als "Wurzel des modemen Sozialstaates,,35 betrachtet werden. Das charakteristische Merkmal der deutschen Sozialversicherung bestand aber gerade darin, dass es ab den 1880er-Jahren einen Rechtsanspruch auf Hilfeleistung in bestimmten Notlagen gab. Im Vordergrund der Sozialgesetzgebung stand zweifellos die "zentrale Führungsgestalt Bismarcks,,36, doch darf nicht vergessen werden, dass auch verschiedene geistige Traditionen - etwa der deutsche Sozialkatholizismus - mit sozialreformerischen Ambitionen am groß angelegten Reformwerk beteiligt waren. 37 So ist beispielsweise zu betonen, dass das Krankenversicherungsgesetz von 1883 nur mit den Stimmen der Konservativen und der Zentrumspartei verabschiedet werden konnte, während sich die Sozialdemokraten und die Liberalen dagegen stellten. 38 Bevor speziell auf die Krankenversicherung von 1883 eingegangen werden soll, sind die Grundgedanken und Funktionsstrukturen der sozialen Sicherung im deutschen Kaiserreich darzustellen. In einer der ersten ausführlichen Monographien zur Geschichte der deutschen Sozialversicherung beschreibt Friedrich Kleeis das Strukturprinzip der solidarischen Versicherung wie folgt: Der Versicherungsgedanke bringt zunächst "eine gemeinsame Deckung eines möglichen Bedarfs durch eine organisierte Vielheit,,39 zum Ausdruck. Bei einer Versicherungsorganisation handelt es sich um einen organisatorischen Zusammenschluss, bei der Gefahren 35 Hockerts, Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modernen Sozialstaats in Europa, 30. 36 Hockerts, Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modernen Sozialstaats in Europa, 31. 37 Der Historiker Ritter hebt z. B. den Beitrag des deutschen Sozialkatholizismus - vertreten durch Persönlichkeiten wie Franz Xaver von Bader, Joseph Ritter von Buß, Adolf Kolping, Bischof Freiherr von Kette1er - an der Ausgestaltung des Sozialstaates deutlich hervor. Vgl. Ritter, Gerhard, A., Der deutsche Sozialstaat. Anfänge, historische Weichenstellungen und Entwicklungstendenzen, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998, 13/14. Vgl. hierzu auch Becker, Winfried, Sozialpolitische Vorstellungen der Kirchen und ihre Realisierung im 19. Jahrhundert (bis Rerum novarum), in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschafts. geschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 177 -193; Sellier, Ulrich, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert. Das Ringen zwischen christlichsozialer Ursprungsidee, politischen Widerständen und kaiserlicher Gesetzgebung, Paderborn u. a. 1998,30-116. In der ersten Sozialenzyklika, die nur wenige Jahre nach der Einführung der Sozialversicherungsgesetzgebung im Deutschen Reich veröffentlicht wurde, stellt Papst Leo XIII. u. a. die besondere Verantwortung des Staates für seine Bürger, die sich in bestimmten Notlagen befinden, heraus. Vgl. hierzu z. B. Monzel, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte, 240 - 243. 38 Vgl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 80; Sellier, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert, 111/112. 39 Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 14.

126

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

bzw. Schäden des Einzelnen kollektiv durch die aufgebrachten Mittel überwunden werden sollen. 4o "Ein wesentliches Merkmal der Versicherung ist daher die Gegenseitigkeit. Durch sie kommt zum Ausdruck, daß die Vielheit der Versicherten verpflichtet ist, den Einzelnen zu helfen. Es ist der Gedanke des Eintretens aller für einen und eines für alle, der im Versicherungswesen im beschränkten Rahmen zum Ausdruck kommt. ,,41 Der Kern der Versicherung besteht also in einem reziproken Verhältnis, dem eine solidarische Verpflichtung, für die anderen einzutreten, zugrunde liegt. Konkret heißt das, "daß die Versicherung [ ... ] auf Einsätzen der Versicherten (Beiträgen, Prämien) und Leistungen (Hilfe und Entschädigungen) der Versicherungsträger [beruht] ,,42. Das System der sozialen Sicherung im Deutschen Reich beruhte auf verschiedenen Strukturprinzipien: 43 Bei der eingeführten Sozialreform kam (1) das Versicherungsprinzip, nach dem Beiträge von Arbeitnehmern eingefordert und Anspruchsrechte auf bestimmte Leistungen gewährt wurden, zum Tragen. Konstitutiv ist zudem die Beteiligung (2) der Arbeitgeber, indem sie Zuschüsse für ihre Beschäftigten an die Versicherungsgesellschaft abzugeben hatten (Arbeitnehmerversicherung mit Arbeitgeberanteil). Es herrschte (3) ein staatlich ausgesprochener Versicherungszwang. Die Rolle des Staates im Hinblick auf die Sozialgesetzgebung erstreckte sich auch auf die Überwachung der Versicherungsträger sowie grundsätzlich auf die Rechtssprechung, die bei Streitfallen wirksam wurde. Die Organisation des Versicherungswesens war schließlich (4) dezentral, plural und unterlag der Selbstverwaltung (Dezentralität, Pluralität und Selbstverwaltung der Sozialversicherung). Das im Zuge der Bismarckschen Sozialreform geschaffene Gesetz zur Krankenversicherung hieß zunächst "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter" und wurde am 31. 05. 1883 im Reichstag angenommen, am 15. 06. 1883 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht und am 01. 12. 1884 in Kraft gesetzt. 44 Das Gesetz wurde in den folgenden Jahren bis 1903 insgesamt sechsmal verändert. Die Gesetzesveränderungen betrafen hauptsächlich Ausdehnungen im Hinblick auf die zu versichernden Personen und Leistungen im Krankheitsfall. 45 Ursprünglich war das Krankenversicherungsgesetz nur für die abhängigen Industriearbeiter gedacht, also für jene, die in besonderer Weise von Armut bedroht und zudem dem Einfluss der Vgl. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 14. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 14. Eine ähnliche Fonnulierung ist - wie bereits unter A.II.2.b angeführt - bei Pesch zu finden, wenn er den Solidaritätsgedanken mit der Fonnel "Einer für alle und alle für einen" umschreibt. 42 Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 14. 43 Vgl. Hentschel, Volker, Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt a.M. 1983, 12/13; Hentschel, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik (1815-1945), 47; Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 18. 44 Vgl. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, 106/107. 45 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 55156. 40

41

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

127

Sozialisten ausgesetzt waren. Die meisten Angestellten blieben von einem Versicherungsschutz ausgeschlossen. 46 Weiterhin war die Krankenversicherung zunächst eine sozialpolitische Leistung, die lediglich auf ein Individuum bezogen war. Die Familie wurde noch nicht in weitreichender Form in dieses System einbezogen (Familienmitversicherung).47 Nach dem Krankenversicherungsgesetz von 1883 erhielten die erkrankten Personen ein Krankengeld ab dem dritten Tag der Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50% des Lohns (bis zu 13 Wochen). Die Krankenversicherung gewährte freie ärztliche Behandlung, freie Arznei- und Heilmittel. Außerdem gab es ein Sterbegeld und eine Wöchnerinnenunterstützung.48 Die Beiträge zur Krankenversicherung waren zu zwei Drittel vom Versicherten und zu einem Drittel vom Arbeitgeber zu tragen.49 Nach dem Krankenversicherungsgesetz gab es keine Einheitskasse, sondern ein reichhaltiges Angebot verschiedener Kassenarten.50 Mit der Einführung der dreiteiligen Sozialversicherung ab dem Jahre 1883 wurde unzweifelhaft ein großer sozialer Fortschritt erzielt, wenn man die Unsicherheiten der früheren Zeiten bedenkt. Dennoch muss das sozialpolitische Ergebnis auch nüchtern betrachtet werden: "Mißt man das Erreichte dagegen aus heutiger Sicht am Leitbild einer ausreichenden Sicherung für alle Staatsbürger, so entsteht ein bescheidenes Bild voller Lücken und Mängel. Wichtige Tatbestände waren nicht abgesichert, wie insbesondere der Schutz bei Arbeitslosigkeit, der Krankheitsschutz für die Angehörigen der Versicherten und der Schutz bei Ausfall des Ernährers durch den Tod [ ... ]. Die Anzahl der Versicherten (1885 4,3 Mill. in der KV) entsprach ca. 40% aller Arbeitnehmer und knapp 10% der Bevölkerung."sl Weiterhin waren die geschaffenen Krankenkassen zum Teil zu klein, so dass sie nicht in ausreichender Weise auch große Risiken in den Versicherungsschutz einbeziehen konnten. Aufgrund dieser Tatsachen musste sich in den folgenden Jahren das System der sozialen Sicherung weiterentwickeln. Die Versicherungspflicht wurde auf weitere Personenkreise ausgedehnt. So verdoppelte sich die Zahl der Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen 1885 und 1900 von 4,3 Mill. auf 9,5 Mill. versicherte Mitglieder. 52

46 Vgl. Alber, Jens, Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983, Frankfurt a.M. 1989,46. 47 Vgl. Hentschel, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik, 47. 48 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 58; Zöllner, Landesbericht Deutschland, 92 - 94. 49 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 94. 50 Folgende Kassenarten waren vorgesehen: Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Knappschaftskassen, Baukrankenkassen, Gerneinde-Krankenversicherung, freie Hilfskrankenkassen (Ersatzkassen). Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 95. 51 Zöllner, Landesbericht Deutschland, 97. KV steht hier für Krankenversicherung. 52 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 98.

128

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

Am 30. 05. 1911 wurde vom Reichstag die Reichsversicherungsordnung (RVO) beschlossen, die die bisherigen einzelnen Sozialversicherungen in einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammenfasste und speziell für die Krankenversicherung einige gravierende Veränderungen enthielt. 53 Die RVO wurde in sechs Büchern eingeteilt: Gemeinsame Vorschriften für alle Zweige der Reichsversicherung (1. Buch), Krankenversicherung (2. Buch), Unfallversicherung (3. Buch), Invalidenund Hinterbliebenenversicherung (4. Buch), Rechtliche Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichteten (5. Buch), Verfahren (6. Buch).54 Ab den 1970er-Jahren wurde die RVO schrittweise überarbeitet und in ein neues Gesetzgebungswerk, das nun alle Bereiche des Sozialrechts enthalten sollte, integriert. Das erste Buch - der so genannte "Allgemeine Teil" - des neu entstandenen Sozialgesetzbuches konnte 1976 in Kraft treten, das V. Buch des SGB mit dem Krankenversicherungsrecht im Jahre 1989.55 Mit der RVO von 1911 wurden für die Krankenversicherung wesentliche Neuerungen kodifiziert: Zum einen regelte das neue Gesetzeswerk die Mindestgröße von Krankenkassen, so dass die Zahl der Kassen reduziert werden konnte. Mit der Einführung von Mindestkassengrößen wurde endlich die Möglichkeit geschaffen, auch größere Gesundheitsrisiken versicherungstechnisch abzudecken und ebenso Familienangehörige in die Solidargemeinschaft zu holen. Zum anderen wurde mit der RVO die Krankenversicherungspflicht ausgedehnt auf land- und forstwirtschaftliche Arbeiter, Hausangestellte, Arbeiter des Wandergewerbes. 56 2. Gesundheitssicherung in der Weimarer Republik

In der Zeit der Weimarer Republik entwickelte sich die Sozialversicherung trotz der wirtschaftlichen Probleme weiter. Neben der Erweiterung der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung auf zusätzliche Personenkreise (z. B. Seeleute, Angestellte aus Erziehung, Fürsorge und Krankenpflege) sind vor allem die Veränderungen im Knappschaftswesen und im Kassenarztrecht zu erwähnen. 57 Ab 1924 wurden die einzelnen Knappschaftsvereine, die für die knappschaftliche Krankenversicherung zuständig waren, zu einem einzigen Knappschaftsverein zusammengefasst. Der so genannte Reichsknappschaftsverein (ab 1926 Reichsknappschaft) organisierte die Krankenversicherung für alle Beschäftigten - Arbeiter und Angestellte - in Betrieben des Bergbaus. 58 Mit dem Reichsknappschaftsgesetz wollte der Gesetzgeber die Versicherung auf eine breitere BaV gl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 85/86. Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 78. 55 Vgl. Beske, Fritzl Hallauer, Johannes F., Das Gesundheitswesen in Deutschland. Struktur - Leistung - Weiterentwicklung, Köln 31999, 60. 56 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 79/80. 57 Vgl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 98. 58 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 120. 53

54

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

129

sis stellen und somit das Versicherungsrisiko im Bergbau möglichst auf alle Beschäftigten verteilen. 59 Die vermutlich gewichtigste Veränderung innerhalb der sozialstaatlichen Weiterentwicklung der Krankenversicherung betraf aber das Kassenarztrecht, da die hier eingeführten Normen wichtige Strukturelemente der kassenärztlichen Versorgung in Deutschland darstellten, die bis heute von Bedeutung sind. Im Krankenversicherungsgesetz aus dem Jahre 1883 wurden noch keine Normen angeführt, wie im Einzelnen die kassenärztliche Versorgung zu organisieren sei. Zunächst lag es in der Verantwortung der Krankenkassen, Verträge mit einzelnen Ärzten abzuschließen, die dann die Gesundheitsversorgung der Versicherten übernahmen. Weiterhin oblag es den Kassen, die Honorierung der ärztlichen Leistungen zu regeln. Zur Stärkung ihrer Position schlossen sich die Ärzte um die Jahrhundertwende zum "Hartmannbund" bzw. "Leipziger Verband" zusammen und forderten eine stärkere Mitbeteiligung an der Ausgestaltung der kassenärztlichen Versorgung. Mit dem "Berliner Abkommen" von 1913 kam es zur ersten kollektivrechtlichen Regelung zwischen den Interessen der gesamtverbandlieh organisierten Krankenkassen und denen der Ärzteschaft. Das Abkommen stellte primär Normen auf hinsichtlich der vertraglichen Bindung zwischen Kassen und Ärzten sowie der kassenärztlichen Zulassung. 6o Nach Ablauf des Abkommens Ende 1923 wurden in den folgenden Jahren verschiedene Verordnungen zum Kassenarztrecht erlassen. 61 Schließlich trat mit der gesetzlichen Bestimmung vom 14. 01. 1932 eine weitere Verordnung in Kraft, in der die Selbstverwaltung von Kassen und Ärzten ausgebaut und ein grundlegendes, für die Zukunft tragfähiges System zur Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen aufgebaut wurde. 62 Ab 1932 waren vor allem folgende Elemente für das neu geschaffene Kassenarztrecht konstitutiv: 63 Die Kassenärzte eines Bezirks wurden zur Kassenärztlichen Vereinigung mit dem Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zusammengefasst; die Kassenärztliche Vereinigung war für die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zuständig und vergab die Zulassung zur kassenärztlichen Ausübung. Mit dieser Institution stand ein Monopol der Ärzte einem Monopol der Kassen gleichberechtigt gegenüber. Die Krankenkassen schlossen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Versorgungsverträge ab. Die einzelnen Krankenkassen zahlten an die Kassenärztliche Vereinigung ein Honorar im Sinne einer Gesamtver59 V gl. Syrup, Friedrich, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik, hrsg. von Scheuble, Julius, bearb. von Neuloh, Dtto, Stuttgart 1957, 372. 60 Vgl. Bogs, Walter, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, München, 1981,60-62; Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 85 - 87. 61 Vgl. Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 62-64. 62 Vgl. Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 64; Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 102/103; Zöllner; Landesbericht Deutschland, 121. 63 Vgl. Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 64/65; Zöllner; Landesbericht Deutschland, 121.

9 Bohnnann

130

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

gütung für jedes Kassenmitglied (Kopfpauschale). Weiterhin war die Kassenärztliche Vereinigung für den Honorarverteilungsmaßstab verantwortlich. Blickt man auf das hier nur angedeutete Regelungssystem der kassenärztlichen Gesundheitsversorgung und vergleicht es mit heute, so kann mit Recht gesagt werden, dass die Grundprinzipien dieses Systems gegenwärtig nach wie vor bestehen, nämlich "Selbstverwaltung, Gesamtvergütung, Sicherstellung der ärztlichen Versorgung und Kontrolle der kassenärztlichen Tätigkeit durch die kassenärztliche Vereinigung,,64. Die Etablierung eines geregelten Kassenrechts, das u. a. eine verbandliche Selbstverwaltung vorsah, erscheint, wie der Historiker Walter Bogs feststellt, "wie ein letztes Aufbäumen demokratischen Gestaltungswillens vor dem Einbruch des nationalsozialistischen Führerprinzips. ,,65 3. Gesundheitssicherung in der Zeit des Nationalsozialismus

Im Nationalsozialismus waren Gesundheitspolitik und Bevölkerungspolitik66 eng miteinander verbunden. Nicht das Wohl des einzelnen Kranken, seine individuelle Bedürftigkeit, stand im Zentrum gesundheitspolitischer Handlungen, sondern alle gesundheitspolitischen Programme orientierten sich an übergeordneten ideologischen Zielen. 67 Die Ideologie der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik kam im folgenden Zitat von Leonardo Conti, dem so genannten "Reichsgesundheitsführer", zum Ausdruck. Für Conti bedeutete die Gesundheit des Volkes "mehr als nur das Freisein des einzelnen Volksgenossen von Krankheiten. Gesundheit des Volkes bedeutet Leistungskraft und Wiedererneuerungsfähigkeit zu höherem Wert in jeder kommenden Generation.,,68 Die nationalsozialistische Gesundheitspolitik war demzufolge primär qualitativ orientiert. Sie folgte nicht dem Gedanken der Barmherzigkeit, sondern konzentrierte sich auf machtpolitische und ideologische Interessen. 69 Allein der Gesundheitszustand der eng definierten "VolksgemeinZöllner, Landesbericht Deutschland, 122. Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 66. 66 Unter Bevölkerungspolitik versteht man - ganz allgemein - alle politischen Aktionen, die die Größe (quantitative Bevölkerungspolitik) oder Zusammensetzung einer Bevölkerung (qualitative Bevölkerungspolitik) zu beeinflussen versuchen. Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 94. 67 Vgl. Süß, Winfried, Gesundheitspolitik, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998,57. 68 Conti, Leonardo, zitiert nach: Süß, Gesundheitspolitik, 57. 64 65

69 Dies kommt plakativ in einem Ausspruch von Joseph Goebbels zum Ausdruck: "Wir gehen nicht von dem einzelnen Menschen aus, wir vertreten nicht die Anschauung, man muß die Hungernden speisen, die Durstigen tränken und die Nackten bekleiden - das sind für uns keine Motive. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können." Goebbels, Joseph, zitiert nach: Scheur, Wolfgang, Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 1967, 191.

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

131

schaft,,7o zählte, nicht aber die Gesundheit der deutschen Bevölkerung. Die Sorge um den Einzelnen trat zurück, das Kollektiv und seine rassisch-biologische Zukunft wurden überhöht und als Maßstab bevölkerungs- und gesundheitspolitischer Maßnahmen betrachtet. 7l Gesundheitsversorgung und Medizin standen also ganz im Dienste politischer Zwecke und richteten sich nach den bevölkerungspolitischen bzw. rassenpolitischen Vorgaben der Machthaber. Bevölkerungspolitik im Nationalsozialismus, die im Wesentlichen Rassenpolitik war, zielte auf drei Maßnahmen: (1) Bereitstellung finanzieller Mittel, um Eheschließungen und Geburtenzahlen zu erhöhen, (2) Förderung der "arischen" Rasse mit gleichzeitiger Vernichtung "lebensunwerter" Menschen (z. B. Euthanasie), (3) Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. 72 Was hier für den Bereich der Gesundheitspolitik galt, versuchten die nationalsozialistischen Machthaber letztlich für die gesamte Sozialpolitik durchzusetzen. Die relativ umfassenden Sicherungsmechanismen bei den Standardlebensrisiken, wie sie sich im Zuge der staatlichen Systeme ab den l880er-Jahren in Deutschland immer weiter etablieren konnten, wurden reduziert, so dass nur noch die "gesunden", "nützlichen", "wehrkräftigen" und "leistungsfahigen" Deutschen davon profitieren konnten. 73 Die hier angesprochene, menschenverachtende Ideologie nationalsozialistischer Gesundheitspolitik fand dann auch ihre konkrete institutionelle Umsetzung im System der sozialen Sicherung. Zwar blieb, wie Sozialhistoriker immer wieder herausstellen, die grundlegende Funktionsstruktur der Gesundheitssicherung erhalten die gesetzliche Gesundheitsversorgung im Sinne der sozialen Sicherung, wie sie vor der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland existierte, wurde also prinzipiell nicht angetastet -, doch Sozialpolitik wurde nun mit antidemokratischen und rassistischen Inhalten gefüllt. 74 Das System der gesetzlichen Krankenversicherung vor der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 war geprägt durch Pluralität, Selbstverwaltung und Personalhoheit. Diese Strukturmerkmale wurden schrittweise verändert, so dass ein vereinheitlichtes, zentralistisches 70 So heißt es bei Theodor Bühler in dem Buch "Deutsche Sozialwirtschaft" (1943): "Wen die Volksgemeinschaft nicht umschließt, dem können auch keine sozialpolitischen Hilfen angeboten werden." Zitiert nach: Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, 71. Im Partei programm der NSDAP wird diese Ideologie bereits im Februar 1920 verbreitet: "Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." Zitiert nach: Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, 72. 71 Vgl. Recker, Marie-Luise, Sozialpolitik im Dritten Reich, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 262. 72 Vgl. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1984,76. 73 Vgl. Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980), 139. 74 Vgl. Ritter, Der Sozialstaat, 132; Zöllner, Landesbericht Deutschland, 127.

9*

132

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

System entstand, das ganz vom "Führerprinzip" durchdrungen war. 75 Das heißt, in den Versicherungsinstitutionen wurde ein Leiter von der Staatsführung eingesetzt, der von nun an die Entscheidungsgewalt inne hatte. Das Ziel der Nationalsozialisten bestand darin, das Krankenversicherungswesen nach ideologischen Vorstellungen zu verändern. Mit dem Gesetz zur "Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns" (Mai 1933) wurde beispielsweise die Rechtsgrundlage für die Entlassung von zahlreichen Krankenkassenangestellten geschaffen. Von diesen Entlassungen waren Kommunisten, Sozialdemokraten, "NichtArier" und all jene betroffen, die - nach dem Urteil der Nationalsozialisten - keine "nationale" Gesinnung hatten.76 Ebenso wurden zahlreiche Personen von ihren Ehrenämtern enthoben, wenn sie nicht mehr das Vertrauen der nationalsozialistischen Machthaber besaßen. Die freigewordenen Positionen - hauptsächlich in den Ortsund Betriebskrankenkassen - wurden dann mit Nationalsozialisten besetzt. 77 Weitere Maßnahmen, mit denen das Krankenversicherungssystem immer mehr der staatlichen Aufsicht unterstellt wurde, war die Einsetzung staatlicher Leiter bzw. Kommissare über einzelne Kassen sowie die Beseitigung der Selbstverwaltungsorgane.78 Zentralisiert wurden ebenfalls die Kassenärztlichen Vereinigungen. 79 Außerdem wurden "nicht-arische" bzw. kommunistische Ärzte von der kassenärztlichen Tatigkeit ausgeschlossen, was den Verlust der beruflichen Existenz zur Folge hatte. 8o Innerhalb kurzer Zeit hat sich - so kann zusammenfassend gesagt werden - das plurale, dezentrale System der Krankenversicherung in eine zentrale, gleichgeschaltete, dem Führerprinzip der Nationalsozialisten untergeordnete Struktur verwandelt, in der sich das Gesundheitsziel allein auf die Erhaltung der "Volksgesundheit" bezog. Die für die Gesundheitsversorgung wichtigen Funktionsbereiche der Krankenkassen, etwa das solidarische System der Versicherung und der Versicherungszwang, wurden zwar beibehalten, aber die "nicht-arischen" Bevölkerungskreise gehörten nicht mehr zur Solidargemeinschaft. So wurden aus einstigen Mitmenschen "Nichtmenschen".81 75 Vgl. Herder-Dorneich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 103/104; Teppe, Karl, Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977) 221 - 223. 76 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 128. 77 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 129. 78 V gl. Herder-Dorneich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 104 /l 05; Zöllner, Landesbericht Deutschland, 129. 79 Vgl. Herder-Dorneich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 106. 80 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 129. 81 Vgl. Tennstedt, F1orian, Der Ausbau der Sozialversicherung in Deutschland 1890 bis 1945, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heide1berg, Stuttgart 1991, 238.

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

133

4. Sozialstaatliche Ausgestaltung des Gesundheitswesens nach dem Grundgesetz

Nach Kriegsende befand sich die Sozialversicherung in Deutschland in einer desolaten Situation. Vor allem zwei Probleme standen im Mittelpunkt der sozialpolitischen Bemühungen: Wiederaufbau einer handlungsfahigen Struktur der Sozialversicherung und der damit verbundene finanzielle Neuanfang der sozialen Daseinsvorsorge. 82 Nach 1945 konnte das System der sozialen Sicherung aufgrund des Zusammenbruchs der dafür zuständigen Institutionen zunächst seine spezifischen Aufgaben nicht ausüben. 83 Darüber hinaus hatte die deutsche Sozialversicherung einen Großteil ihrer finanziellen Reserven verloren, da das Vermögen teilweise in Grundstücken und Grundstücksrechten angelegt war. Man kann den Vermögensverlust, der hier zu verbuchen war, auf etwa 50% bewerten; der Gesamtverlust der Sozialversicherung betrug ca. 16,5 Milliarden Reichsmark. 84 Dass die Sozialversicherung in Deutschland in den folgenden Jahren aber eine stabile, leistungsfähige Struktur ausbilden konnte, wurzelte im Wesentlichen in den veränderten Wirtschaftsverhältnissen ab Juni 1948 (z. B. Währungsreform) und dem Entstehen der sozialen Marktwirtschaft. 85 Für die Entwicklung der Krankenversicherung direkt nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren in besonderer Weise zwei Gesetze von großer Bedeutung, die an die Tradition der Weimarer Republik anknüpften und damit die Grundlage für ein funktionsfähiges Krankenversicherungswesen schaffen sollten: das "Gesetz über die Selbstverwaltung und Änderungen auf dem Gebiete der Sozialversicherung" vom 22. 02. 1951 und das "Gesetz über Kassenarztrecht" vom 17. 08. 1955. 86 Das Selbstverwaltungsrecht von 1951 war eines der ersten vom 82 In der Nachkriegszeit haben die Alliierten zunächst den Plan verfolgt, eine insgesamt neue Struktur der Sozialversicherung für Deutschland zu schaffen. Dieser Vorschlag sah eine "Einheitsversicherung" nur im Sinne einer regional gegliederten Einheitsorganisation sowie einer "Volksversicherung" für möglichst alle Bürger und Bürgerinnen vor. Der alliierte Reformentwurf stieß aber auf heftige Widerstände vor allem bei Arbeitgebern, Angestellten, Ärzten, Privatversicherungen und konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Vgl. dazu genauer Hockerts, Hans Günter, Deutsche Nachkriegssozialpolitik vor dem Hintergrund des Beveridge-Plans. Einige Beobachtungen zur Vorbereitung einer vergleichenden Analyse, in: Mommsen, Wolfgang I.I Mock, Wolfgang (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 - 1950, Stuttgart 1982, 325 - 333; Hockerts, Hans Günter, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945-1957, Stuttgart 1980,21-84. 83 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 125. 84 Vgl. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 126. 85 Vgl. Lampert, Heinz, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin/Heidelberg/New York 51998, 86-88. Vgl. zur genauen Entwicklung der Sozialversicherung in den einzelnen Zonen Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 128-142. 86 Vgl. Holler, Albert, Die Entwicklung der sozialen Krankenversicherung in den Iahren 1945 bis 1975, in: Bartholomäi, Reinhart (Hrsg.), Sozialpolitik nach 1945. Geschichte und Analysen, Bonn/Bad Godesberg 1977,306.

134

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetze zur Sozialpolitik. Mit diesem Gesetz wurde zum einen der ursprüngliche Rechtszustand - im Hinblick auf die interne Organisation der Versicherungsträger - für die Krankenkassen wie vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wieder hergestellt. 87 Zum anderen leitete das Gesetz aber als wichtige Neuerung den Übergang zu einer verbandlichen Selbstverwaltung ein: "Leitprinzip war nicht mehr wie ursprünglich das genossenschaftliche Prinzip der Vertretung einzelner Mitglieder in den Organen, sondern das Prinzip der Vertretung der Versicherten und der Arbeitgeber durch deren jeweilige Verbände.,,88 Auch im Kassenarztrecht aus dem Jahre 1955 wurden zentrale Vorschriften, wie sie am Ende der Weimarer Republik entwickelt worden waren und das Verhältnis von Ärzten und Krankenkassen geregelt hatten, wieder berücksichtigt. So bildeten sich nach 1955 Kassenärztliche Vereinigungen und eine Kassenärztliche Bundesvereinigung als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sorgen noch heute für die vertraglichen Regelungen mit den Kassen (Versorgungsverträge) und die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung. 89 Diese und folgende gesetzlichen Bestimmungen in der Zeit nach 1945 haben zur Festigung einer leistungsfahigen Gesundheitsversorgung im Rahmen der sozialen Sicherung beigetragen und somit die soziale Verantwortung des Staates für alle seine Bürger und Bürgerinnen akzentuiert. 9o Im Folgenden soll das im Bonner Grundgesetz enthaltene Sozialstaatsprinzip, aus dem heraus die sozialstaatliche Verantwortung für die Gesundheitsversorgung abgeleitet werden kann, erläutert werden. In der Weimarer Reichsverfassung wurde expressis verbis die staatliche Verpflichtung zum Aufbau eines Systems der sozialen Sicherung zur Sprache gebracht: ,,zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfahigkeit, zum Schutze der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.,,91 Eine solche Passage, die in direkter Form die staatliche Verantwortung hinsichtlich der Daseinsvorsorge in bestimmten kritischen Lebenssituationen betont und eine programmatische Absichtserklärung des Staates darstellt, ist im Bonner Grundgesetz so nicht zu finden, dafür aber beispielsweise in internationalen Menschenrechtsdeklarationen. 92 Ebenso wenig nennt das Grundgesetz einen detaillierten sozialen 87 Vgl. Holler, Die Entwicklung der sozialen Krankenversicherung in den Jahren 1945 bis 1975,306; Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 150/151. 88 Zöllner, Landesbericht Deutschland, 139. 89 Vgl. Zöllner, Landesbericht Deutschland, 139. 90 Zur weiteren Entwicklung der Krankenversicherung im Nachkriegsdeutschland vgl. Holler, Die Entwicklung der sozialen Krankenversicherung in den Jahren 1945 bis 1975, 308-314; Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 110-139. 91 Art. 161 WRV. 92 So z. B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Normen im Hinblick auf die soziale Sicherheit und die Gesundheitsversorgung kommen wie folgt zur Sprache: ,,Jeder

I. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

135

Grundrechtekatalog. Allenfalls werden einige wenige Sozialrechte genannt. Für Lothar F. Neumann und Klaus Schaper gehören die Koalitionsfreiheit93 , die freie Berufswahl und die freie Wahl des Arbeitsplatzes94, das Privateigentum95 zu den im Grundgesetz genannten Sozialrechten. 96 Bemd Schulte bezeichnet den Mutterschutz97 , die Gleichstellung unehelicher Kinder98 und die Beamtenfürsorge99 als "soziale Grundrechte im engen Sinne nach Maßgabe des Grundgesetzes"IOO. Grundsätzlich darf nicht übersehen werden, dass die im Grundgesetz aufgeführten Grundrechte sehr wohl eine soziale Dimension haben. Dies kommt grundlegend im Schutz der Menschenwürde lOl zum Ausdruck, denn die staatlichen Verantwortungsträger sollen dafür Sorge tragen, dass alle Bürger und Bürgerinnen in realiter ein menschenwürdiges Leben führen können. Auch das in der Verfassung verankerte Recht auf körperliche Unversehrtheit lO2 impliziert eine solche soziale Dimension, die den Staat in die Pflicht nimmt, Leben und Gesundheit mit sozialstaatlichen Aktionen zu schützen. 103 Mit Maßnahmen der sozialen Sicherheit bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Alter, Mutterschaft kann dieses Ziel erreicht werden. 104

Die Verfassung der Bundesrepublik enthält zwei normative Vorgaben, in denen die soziale Verantwortung im Sinne der Sozialstaatlichkeit in allgemeiner, aber gleichwohl umfassender Weise zum Ausdruck gebracht wird: "Die Bundesrepublik Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen." Art. 22 AEM. ,,Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet, er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verluste seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände." Art. 25 AEM. 93 Vgl. Art. 9 Abs. 3 GG. 94 Vgl. Art. 12 Abs. 1 GG. 95 Vgl. Art. 14 GG. % Vgl. Neumann, Lothar F. / Schaper, Klaus, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. / New York 41998, 49. 97 Vgl. Art. 6 Abs. 4 GG. 98 Vgl. Art. 6 Abs. 5 GG. 99 Vgl. Art. 33 Abs. 5 GG. 100 Schulte, Bernd, Das deutsche System der sozialen Sicherheit, in: Allmendinger, Jutta / Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hrsg.), Soziologie des Sozialstaats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim / München 2000, 19. 101 Vgl. Art. 1 Abs. 1 GG. 102 Vgl. Art. 2 Abs. 2 GG. 103 Vgl. Seewald, Otfried, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, Köln u. a. 1981,47/48. 104 Vgl. Schulte, Das deutsche System der sozialen Sicherheit, 19.

136

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat."105 und "Die verfassungsgemäße Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates [ ... ] entsprechen.'"o6. Demnach wird der Sozialstaat als "sozialer Bundesstaat" und "sozialer Rechtsstaat" verstanden. Mit diesen Formulierungen werden die allgemeine Staats ziel bestimmungen benannt. 107 Der Sozialstaat bemüht sich, allen Bürgern und Bürgerinnen ein menschenwürdiges Dasein - auch bei Krankheit, Alter, Invalidität, Unfall, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit - zu gewährleisten, den schwächeren Personen Entfaltungschancen zu ermöglichen und ihnen die Teilhabe auch am wirtschaftlichen Wohlstand einzuräumen. Mit dem im Grundgesetz enthaltenen Sozialstaatsprinzip (Sozialstaatsklausel) kommt folglich ein Schutzprinzip für die wirtschaftlich Schwachen zum Ausdruck. 108 Aber nicht der Staat allein hat Verantwortung für die Bedürftigen. Zwar richtet sich die Sozialstaatsklausel primär an den Gesetzgeber, "der im einzelnen zu bestimmen hat, was sozialstaatlich geboten ist"I09, doch sind im Sozialstaat an der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips darüber hinaus unterschiedliche gesellschaftliche Akteure beteiligt. Der Staat schafft den Rechtsrahmen, der einerseits die sozialen Rechte garantiert und der andererseits die verschiedenen Akteure befähigt, an der Ausgestaltung sozialstaatlicher Ziele mitzuwirken. In Deutschland wird beispielsweise das System der sozialen Sicherheit von Beitragsleistungen der Versichertengemeinschaft, etwa der Kranken-, der Unfall- und der Pflegeversicherung, getragen und nicht von einem steuerfinanzierten staatlichen Versorgungsmechanismus. 110 Folglich hat der Sozialstaat kein Monopol auf das Soziale; er gewährt einen Raum, in dem sich die entsprechenden Institutionen frei bewegen und in relativer Autonomie ihre Aufgaben bewältigen können. Die Sozialstaatlichkeit im Bonner Grundgesetz zählt zu den unveränderlichen Verfassungsprinzipien (gemäß Art. 79 Abs. 3 GG 1ll ) und bildet zusammen mit den "organisatorischen Grundaussagen der Verfassung" (Bundesstaat, Republik, Demokratie, Rechtsstaat) die "Staatsfundamentalnormen".112 Der modeme Staat ist in besonderer Weise Rechtsstaat, demokratischer Staat und Sozialstaat. Hinter die105 Art. 20 Abs. I GG. Eigene Hervorhebung. 106 Art. 28 Abs. I GG. Eigene Hervorhebung. 107 Als weiteres Staatsziel muss an dieser Stelle auch der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in dem inzwischen eingefügten Art. 20a GG erwähnt werden. 108 Vgl. Seifert, Karl Heinz/ Hömig, Dieter, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar, Baden-Baden 51995, 218. 109 Seifert/ Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 219. 110 Vgl. Spieker, Manfred, Sozialstaat, in: Staatslexikon, 5. Bd., Freiburg/Basel/Wien 71989,72. 111 "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln I und 20 niedergelegten Grundsätzen berührt werden, ist unzulässig." Art. 79 Abs. 3 GG. IIZ Vgl. Zacher, Hans F., Das soziale Staatsziel, in: Isensee, losef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., Heidelberg 21995, 1092/1093.

1. Historische Entwicklungslinien des Sozialstaates

137

sen drei klassischen Formen moderner Staatlichkeit stehen drei Bewegungen, wie sie sich allmählich ab etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet haben: 113 Die bürgerliche Freiheitsbewegung mündet in den Rechtsstaat. Der Staat achtet und garantiert die bürgerlichen Freiheitsrechte, die Gesellschaft wird als staatsfreier Raum gedeutet und die sich herausbildende Menschenrechtsform schützt den Einzelnen vor den Zugriffen des Staates. Aus der demokratischen Bewegung entwächst der demokratische Staat. Die Aufgabe des Staates besteht darin, die politischen Mitwirkungsrechte zu gewährleisten; die Gesellschaft erscheint als Raum der politischen Willensbildung. Schließlich begünstigt die soziale Bewegung, die sich mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert formiert, den Sozialstaat. Von nun an, mit der Bismarckschen Sozialreform im Deutschen Reich, gewährt der Staat soziale Anspruchsrechte - zunächst zwar nur für die Arbeiterschaft, dann aber für immer weitere Bevölkerungskreise. Die Gesellschaft wird zum Raum staatlicher Vorsorge und Fürsorge. Hinter diesen drei genannten Formen moderner Staatlichkeit stehen drei klassische Arten der Menschenrechte: individuelle oder bürgerliche Freiheitsrechte (Rechtsstaat), gesellschaftliche, politische oder demokratische Mitwirkungsrechte (demokratischer Staat) und soziale Anspruchsrechte (Sozialstaat). 114 Die oben genannten "verfassungsrechtlich unabänderlichen Staatsfundamentalnormen,,115 sind rahmen setzende Bestimmungen für die deutsche Sozialordnung, die sich in den einzelnen Sozialrechten konkretisieren lässt. Im SGB, das die Sozialrechte zusammenfasst, kommt der Sozialstaatsgrundsatz zum TragenY6 Leitende Idee des sozialen Rechtsstaates ist - so die Norm im SGB - soziale Sicherheit. Soziale Sicherheit bedeutet, dass es sich der Staat zur Aufgabe gemacht hat, seine Bürger und Bürgerinnen nicht nur einfach vor den allgemeinen Lebensrisiken (Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Alter, Unfall, Armut), den so genannten Wechselfällen des Lebens, zu schützen, sondern darüber hinaus für ein menschenwürdiges Leben zu sorgen und die freie Entfaltung der Person zu unterstützen. 1I7 Das SGB verfolgt - so kann geschlussfolgert werden - das Ziel, 113 Vgl. Baumganner, Alois, Politische Ethik, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. ah999, 389-391; MarshalI, Thomas H., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M. / New York 1992, 40. 114 Vgl. zur Systematik und Begrifflichkeit der drei klassischen Menschenrechte Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 190/191; Hilpen, Menschenrechte: 1. Philosophisch, 674; Korff, Sozialethik, 384. 115 Schulte, Das deutsche System der sozialen Sicherheit, 16. 116 Vgl. Schulte, Das deutsche System der sozialen Sicherheit, 21. 117 "Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen." § I Abs. I SGB I.

138

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

die "sozialverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes" 11 8 umzusetzen. Deshalb nennt das erste Buch des Sozialgesetzbuches, der "Allgemeine Teil", eine Reihe von sozialen Rechten, so dass mit dieser Aufzählung die fehlenden Sozialrechte im Grundgesetz kompensiert werden. Die genannten Sozialrechte beziehen sich auch auf das System der sozialen Sicherheit und versuchen, die sozialstaatliche Sicherung im Krisenfall in systematischer Weise darzustellen: Bildungs- und Arbeitsförderung l19 , Sozialversicherung 120, soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden l21 , Minderung des Familienaufwands 122 , Zuschuss für eine angemessene Wohnung 123, Kinder- und Jugendhilfe l24 , Sozialhilfe 125, Eingliederung Behinderter l26 • Im Einzelnen werden folgende Sozialleistungen im SGB behandelt: 127 Allgemeiner Teil (SGB I, 1976), Ausbildungsförderung (SGB 11, geplant), Arbeitsförderung (SGB III, 1998), Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV, 1977), Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V, 1989), Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI, 1992), Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII, 1996), Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII, 1991), Sozialhilfe (SGB IX, geplant), Verwaltungsvorschriften, Datenschutz, Zusammenarbeit der Träger (SGB X, 1982/1983), Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI, 1995/1996). Das SGB löst zum einen - wie bereits gesagt - die RVO ab, ist zum anderen aber auch die Zusammenfassung einzelner Sozialrechte, die vor der Vereinheitlichung ab den 1970er-Jahren an unterschiedlichen Stellen zu finden waren.

n. Systematisch-ethischer Zugang Nachdem in einer historischen Erörterung die wesentlichen Entwicklungslinien und Grundlagen des Sozialstaates skizziert worden sind, soll im Folgenden - im Rahmen einer systematischen Analyse - das Krankenversicherungssystem als Teil der sozialen Sicherung analysiert werden. Herzstück der Sozialstaatlichkeit ist das Schulte. Das deutsche System der sozialen Sicherheit, 22. Vgl. § 3 SGB I. 120 ,Jeder hat im Rahmen dieses Gesetzbuchs ein Recht auf Zugang zur Sozialversicherung. Wer in der Sozialversicherung versichert ist, hat im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, PfIege-, Unfall- und Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte ein Recht auf I. die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit und 2. wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Minderung der Erwerbsfähigkeit und Alter. Ein Recht auf wirtschaftliche Sicherung haben auch die Hinterbliebenen eines Versicherten." § 4 SGB I. 121 Vgl. § 5 SGB I. 122 Vgl. § 6 SGB I. 123 Vgl. § 7 SGB I. 124 Vgl. § 8 SGB I. 125 Vgl. § 9 SGB I. 126 Vgl. § 10 SGB I. 127 V gl. Neumann / Schaper; Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 50. 118

119

H. Systematisch-ethischer Zugang

139

System der sozialen Sicherung mit seinen fünf Teilbereichen. Ferner wird dann das spezifische solidarische Ethos, das hinter der Sozialversicherung steht, herausgestellt. So kann gezeigt werden, dass die Institutionalisierung von Solidarität letztlich der Förderung personalen Menschseins dient.

1. Die Krankenversicherung im System der sozialen Sicherung Das System der sozialen Sicherung, wie es sich seit der Bismarckschen Sozialreform bis zur heutigen Sozialpolitik in Deutschland entwickelt hat, hat die Aufgabe, vor den "Standardrisiken des Erwerbslebens von abhängig Beschäftigten und nicht durch große Vermögen abgesicherte Selbständige,,128 zu schützen. Soziale Sicherungsformen basieren auf dem Gedanken, dass der Einzelne gegen bestimmte Lebensrisiken nicht selbst in ausreichender Weise Vorsorge tragen kann und deshalb auf institutionelle Hilfe existentiell angewiesen ist. Im Vordergrund der sozialen Sicherung steht folglich die Tatsache, dass bestimmte "Schicksalsschläge" des Lebens, wie etwa Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, sowie der natürliche Alterungsprozess die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens gefährden können. Dies erfolgt, wenn die Einkommensquelle versiegt (bei Alter oder Arbeitslosigkeit) oder der Mensch nicht mehr fähig ist, aus eigener Kraft für seinen Lebensunterhalt zu sorgen (bei Krankheit, Unfall, Invalidität).129 Diese sozialen Risiken werden in Deutschland durch fünf Sicherungssysteme aufgefangen: Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1886), Rentenversicherung (1889), Arbeitslosenversicherung (1927) und Pflegeversicherung (1994). Im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme kann man von der Vergesellschaftung sozialer Risiken sprechen. 130 Ein wesentliches Charakteristikum der Sozialversicherung besteht in der Tatsache, dass ein vom Staat gewährter Rechtsanspruch auf soziale Gleichbehandlung im Konfliktfall besteht. Die soziale Gleichheit - normativer Grundsatz sozialpolitischer Entscheidungen - strebt danach, gesellschaftliche Ungleichheiten möglichst auszugleichen, so dass alle - auch bei ernsten Lebensrisiken - an einem menschenwürdigen Leben partizipieren können. Die unterschiedlichen Lebensrisiken, denen der Mensch ausgesetzt ist, können entweder freiwillig-individuell oder kollektiv im Sinne der gesetzlich verfügten staatlichen Vorsorge angegangen werden. Das Besondere der kollektiven Vorsorge ist, dass die Unterstützung auf einer gesetzlichen Grundlage steht. Die Betroffenen sind nicht auf die Gnade und das Wohlwollen von anderen angewiesen, sondern in der modemen Industriegesellschaft gibt es einen Rechtsanspruch auf Hilfe und Beistand in typischen Notlagen. l3l Während sich die freiwillige Daseinsvorsorge 128 Kleinhenz, Gerhard D., Sozialversicherung, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,415. 129 Vgl. Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 224. 130 V gl. Thielmann, Lars, Krankheit, Heilung und Gesundheit: ökonomische, rechtliche und soziale Dimensionen, in: Concilium 34 (1998) 496.

140

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

(Eigenvorsorge) nach dem Individualprinzip (etwa in der Form des individuellen Sparens und der freiwilligen Versicherung) aufbaut, orientiert sich die kollektive Vorsorge an dem Sozialprinzip. 132 Das Sozialprinzip bildet - folgt man der sozialpolitischen Literatur - drei verschiedenartige Gestaltungsgrundsätze oder -prinzipien zur gesellschaftlichen Risikovorsorge aus: (Sozial-) Versicherungsprinzip, Versorgungsprinzip und Fürsorgeprinzip.133 Das Versicherungsprinzip ist jenes Kernprinzip im Rahmen der sozialen Sicherung in Deutschland, das eine besondere Gestaltungskraft ausübt. Die Sozialversicherung wird am ehesten mit dem Sozialstaatsgedanken und der Idee des sozialen Ausgleichs in Verbindung gebracht. 134 Auf der einen Seite folgen die verschiedenen Versicherungsformen, wie sie das System der sozialen Sicherheit ausgebildet hat, dem Grundprinzip einer Versicherung, nämlich (1) gegenseitige Risikodeckung innerhalb einer bestimmten Gefahrengemeinschaft, (2) Beitragsfinanzierung im Sinne von individuellen Vorleistungen und (3) Risikoabschätzung im Hinblick auf die bestehende Gefahrengemeinschaft. J35 Eine Versicherung ist also mit den Worten von Wilfried Schmähl- "gekennzeichnet durch ein Entsprechungsverhältnis von Leistung und Gegenleistung bei Wirksamwerden eines Risikoausgleichs zwischen den Mitgliedern der Versicherung.,,136 Auf der anderen Seite weisen die Sozialversicherungen jedoch strukturelle Besonderheiten auf, die den "sozialen" Aspekt in den Vordergrund stellen. Aus diesem Grund ist es angemessener, vom "Sozialversicherungsprinzip" im Rahmen der sozialen Sicherung zu sprechen. 13 ? Wie gezeigt werden konnte, gab es bereits vor der Bismarckschen Sozialreform Formen der gegenseitigen Unterstützung in Krisensituationen. Solche Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit hatten aber strukturelle Schwächen, die ihre Leistungskraft schmälerten. Bei einem niedrigen Lohn konnte das einzelne Mitglied 131 Vgl. Braun, Hans, Soziologische Untersuchung, in: Zacher, Hans F. (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung. Colloquium der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 1980, 351. 132 V gl. Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 225/226. 133 V gl. Achinger, Hans, Soziale Sicherheit. Eine historisch-soziologische Untersuchung neuer Hilfsmethoden, Stuttgart 1953, 35 -42; Altendorf, Rainer, Der soziale Ausgleich im System der Sozialversicherung, Köln 1971, 26-30; Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 225; Neumann 1Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 142; Frerich, Johannes, Sozialpolitik. Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Darstellung, Probleme und Perspektiven der Sozialen Sicherung, München 1Wien 31996, 34. Vgl. dazu auch kritisch die Position von Gerhard W. BfÜck, der das Versorgungsprinzip, das Fürsorgeprinzip und das Versicherungsprinzip als idealtypische Maxime versteht. V gl. Brück, Gerhard w., Allgemeine Sozialpolitik. Grundlagen - Zusammenhänge - Leistungen, Köln 21976,53. 134 Vgl. Braun, Hans, Soziale Sicherung. System und Funktion, Stuttgart u. a. 1972, 40. 135 Vgl. Neumannl Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 142. 136 Schmähl, Winfried, Versicherungsgedanke und Sozialversicherung - Konzept und politische Bedeutung, in: ders. (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985,2. 137 So etwa Neumann 1Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 142.

11. Systematisch-ethischer Zugang

141

auch nur einen niedrigen Beitrag entrichten, so dass aufs Ganze betrachtet das Leistungsniveau beispielsweise bei Krankheit dementsprechend gering war. Zudem bestand die Gefahr, dass eine freiwillige Versicherung eher die "schlechten Risiken" anzog in dem Sinne, dass Arbeiter, die einen gesundheitsgefahrdenden Beruf ausübten oder einen schlechten Gesundheitszustand hatten, in diesem Versicherungsverein Mitglieder wurden. 138 Damit war ein grundsätzliches, strukturinternes Problem in der freiwilligen Versicherung anzutreffen, nämlich "ein Ungleichgewicht zwischen Leistungsanforderung und Beitragsaufkommen,,139. Wenn eine Versicherung aber als Zwangsgemeinschaft institutionalisiert wird, in der sowohl "gute" als auch "schlechte Risiken" sowie unterschiedliche Lohnniveaus der BeitragszahIer gleichermaßen zusammengefasst werden, erfolgt - bei einer genügend großen Versicherungsmitgliedszahl- ein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Versicherten. Ein solches Organisationsprinzip ist in der Sozialversicherung grundgelegt. Im Einzelnen beruht die Sozialversicherung auf folgenden Kriterien: 140 Grundsätzlich gilt die gesetzliche Verpflichtung zur Sozialversicherung (Zwangs- oder Pflichtversicherung) für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Man kann sagen, dass die Sozialversicherung demnach "eine gesetzlich erzwungene Selbsthilfe,,141 ist, um bestimmte Risiken abzudecken. Ferner orientiert sich die zu entrichtende Beitragshöhe am individuellen Einkommen und nicht am eingebrachten Risiko. Es findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt, das heißt, dass sonstige Einkommen oder Vermögen nicht angerechnet werden. Belastungen werden nach dem individuellen Zustand, nach der konkreten Bedürftigkeit umverteilt mit dem Effekt, dass die Ärmeren oder Schwächeren von der Versichertengemeinschaft getragen werden. Im Gegensatz dazu entsprechen sich beim Äquivalenzprinzip, das in der Privatversicherung anzutreffen ist, die "risikogerechte Beitragserhebung und die beitragsgerechte Leistungsgewährung,,142. Bei der Sozialversicherung sind die in Anspruch genommenen Leistungen in den meisten Fällen zudem gesetzlich festgeschrieben. Des Weiteren erfolgt die Finanzierung dieses Systems - mehr oder weniger - auch mit Hilfe staatlicher Zuschüsse. Beim Versorgungsprinzip erhalten die Bedürftigen finanzielle Zuwendungen durch den Staat (durch das Steueraufkommen), wenn bestimmte gesetzlich fixierte Merkmale vorliegen. Wahrend bei den Sozialversicherungszweigen die Empfänger von Sozialleistungen im Vorfeld bereits Beiträge entrichtet haben und sich so das Recht erwerben, im Notfall Leistungen in Anspruch zu nehmen, werden beim Versorgungsprinzip Leistungen ohne direkte finanzielle Vorleistungen gewährt. 143 Es Vgl. Braun, Soziale Sicherung, 41. Braun, Soziale Sicherung, 41. 140 Vgl. Brück, Allgemeine Sozialpolitik, 54; Neumann/ Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 142/143. 141 Achinger, Soziale Sicherheit, 39. 142 Brück, Allgemeine Sozialpolitik, 54. 143 Vgl. Lampen, Lehrbuch der Sozialpolitik, 227. 138

139

142

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

gibt zwei traditionelle Versorgungsarten: die Beamtenversorgung und die Kriegsopferversorgung. Für die Beamten hat der Staat eine besondere Fürsorgepflicht, da die beim Staat Beschäftigten eine professionelle Leistung für den Staat erbringen. Für Kriegsopfer bzw. Vertreibungs- oder Internierungsgeschädigte übernimmt der Staat ebenso eine Fürsorgeverpflichtung, da sich diese Bevölkerungsgruppen aufgrund vorausgegangener Notlagen einen Anspruch auf finanzielle Entschädigung erworben haben. l44 In anderen Ländern haben versorgungsstaatliche Regelungen eine weitaus stärkere Bedeutung als im System der sozialen Sicherung in Deutschland. So entspricht beispielsweise die Gesundheitsversorgung in Großbritannien dem Versorgungsprinzip. Der National Health Service (NHS) ist ein zum großen Teil steuerfinanziertes und staatlich verwaltetes Gesundheitssystem, das der Wohnbevölkerung Großbritanniens Versicherungsschutz im Krankheitsfall (staatlich garantierte Grundversorgung) gewährt. 145 Beim Fürsorgeprinzip werden Sozialleistungen, die eine besondere persönliche Notlage auffangen wollen, ohne vorherige Beitragszahlungen gewährt; die empfangenen Zuwendungen müssen nicht zurückgezahlt werden. Allerdings wird eine konkrete Leistung nur nach einer Bedürftigkeitsprüfung ausgeteilt. Das heißt, eigenes Einkommen und Vermögen bzw. das der engsten Familienmitglieder werden zur Berechnung der Unterstützung herangezogen. Zwar gibt es in Deutschland einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Unterstützung, die in Form vor allem der Sozialhilfe in Erscheinung tritt, doch es besteht kein Anspruch auf eine bestimmte Art der Zuwendung. l46 Die aus Steuern finanzierte Hilfe erfolgt nach Art und Höhe der Besonderheit der vorliegenden Situation (Individualhilfe) und wird von dafür zuständigen Behörden ausgesprochen. Die drei hier herausgestellten Gestaltungsprinzipien im System der sozialen Sicherung kommen allesamt innerhalb der Gesundheitssicherung in Deutschland zur Anwendung. 88,5% der Bevölkerung sind im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) pflichtversichert. 147 Bei der Krankenversicherung handelt es sich um eine Sozialversicherung gegen zwei Risiken (Versicherungsprinzip). Zum einen werden damit die Kosten ausgeglichen, die für in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen aufgebracht werden; zum anderen kompensiert die Krankenversicherung die Einkommenseinbußen bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit. 148 Die Beiträge der Versicherten orientieren sich beispielsweise am Einkommen und nicht an der individuellen Bedürftigkeit. Demnach erfolgt ein verVgl. Brück, Allgemeine Sozialpolitik, 55. Vgl. Baur, Rita/Heimer, Andreas/Wieseler, Silvia, Gesundheitssysteme und Reformansätze im internationalen Vergleich, in: Böcken, Jan/Butzlaff, Martin/Esche, Andreas (Hrsg.), Reformen im Gesundheitswesen. Ergebnisse der internationalen Recherche, earl Bertelsmann-Preis 2000, Gütersloh 32001, 60-63. 146 Vgl. Brück, Allgemeine Sozialpolitik, 57. 147 Vgl. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit, Bonn 2000, 10.2. 148 Vgl. Braun, Soziale Sicherung, 43. 144 145

II. Systematisch-ethischer Zugang

143

sicherungstechnischer Ausgleich unterschiedlicher Einkommensniveaus. Hinter diesem Organisationsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung steht der Grundgedanke des solidarischen Ausgleichs. In diesem Sinne tragen die Starken, das heißt die finanziell Leistungsstärkeren, die Last bzw. Krankheit der Anderen, der Schwachen, mit. Das Versorgungsprinzip innerhalb des deutschen Gesundheitswesens wird vor allem in der Beamtenversorgung realisiert, indem der Staat für seine Beamten durch die Beihilfe einen Teil der Gesundheitskosten übernimmt. Den anderen Teil des Versicherungs schutzes deckt eine Individualversicherung (private Krankenversicherung) ab. Schließlich erfolgt über das Fürsorgeprinzip die Finanzierung der Gesundheitssicherung der besonders Bedürftigen. Die Empfänger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfeempfänger) sind kraft Gesetz versicherungspflichtig; sie erhalten nach dem Bundessozialhilfegesetz Krankenhilfe. Im Rahmen der Sozialhilfe entspricht die Krankenhilfe einer Hilfe in besonderen Lebenslagen und ist eine so genannte "Muss-Leistung", die gesetzlich geregelt ist. Die gewährten Leistungen der Krankenhilfe für Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen erstrecken sich beispielsweise auf die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, auf die Versorgung mit Arzneimitteln, auf Krankenhausbehandlung und folgen dem allgemeinen Leistungsumfang, wie er in den allgemeinen Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung grundgelegt ist. 149

2. Das Ethos der Sozialversicherung

Die Erörterung im vorausgegangenen Kapitel hat gezeigt, dass die Daseinsversorgung nach dem Sozialprinzip auf drei Gestaltungsgrundsätzen beruht. Mit dem (Sozial-)Versicherungs-, dem Versorgungs- und dem Fürsorgeprinzip werden die Kernelemente sozialstaatlichen Handeins benannt, die sowohl verteilungspolitische als auch versicherungstechnische Merkmale enthalten. 150 Während aber beim Versorgungs- und beim Fürsorgeprinzip nur verteilungspolitische Maßnahmen zugrunde liegen, enthält die Sozialversicherung beide Elemente. Sie verteilt erstens die vorhandenen finanziellen Ressourcen, die zweitens aus zuvor angesammelten Versicherungsbeiträgen stammen, an die bedürftigen Leistungsempfänger. Die Sozialversicherung als Teil des Systems der sozialen Sicherung ist integrierter Bestandteil des Sozialstaates und unterliegt der sozialpolitischen Gestaltungsverantwortung. Welche moralische Konzeption steht aber hinter der Struktur der Sozialversicherung? Welchem Ethos I 5 I folgt die Funktionslogik der Sozialversicherung? 149 Vgl. Schulte, Bemd, Sozialhilfe, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,392. 150 Vgl. Sesselmeier, Wemer, Sozialversicherung, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgartl Berlin I Köln 2001,1491. 151 Unter einern Ethos versteht man nach Wolfgang Kluxen den "Inbegriff der Normen und normativen Gehalte, die in einer gegebenen Gruppe oder menschlichen Existenzweise als maßgeblich flir das Verhalten und Handeln angesehen werden". Kluxen, Wolfgang, Ethik und Ethos, in: Hertz, Anselm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Christlichen Ethik, 2. Bd., Frei-

144

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

Das System der Sozialversicherung ist dem (sozialpolitischen) Ziel der sozialen Sicherheit und dem Ziel des sozialen Ausgleichs verpflichtet. Sicherungseinrichtungen gewähren ein menschenwürdiges Dasein bei Lebensrisiken, denen der Mensch in der modernen Industriegesellschaft ausgesetzt ist. Somit schaffen sie Lebensmöglichkeiten und mildern die sozialen Risiken der Versicherten. 152 Gleichzeitig werden innerhalb der Sozialversicherung die individuellen Unterschiede sowie Belastungen zwischen Bevölkerungsgruppen, zwischen Starken und Schwachen, zwischen Bessergestellten und Ärmeren, über den verteilungspolitischen Mechanismus ausgeglichen. Beide Ziele, soziale Sicherheit und sozialer Ausgleich, werden also über institutionelle Gebilde organisiert - man kann von einer organisierten Sicherheit sprechen l53 - und basieren auf der Solidaritätsidee. Die in der Versicherten gemeinschaft Zusammengeschlossenen verfolgen allesamt gleiche Interessen und suchen im individuell eintretenden Schadensfall eine Kompensation ihrer Risiken. Hinter dem Organisationsmodell der Sozialversicherung steht das Ethos der Solidarität. Bei dieser Form der Solidarität handelt es sich um eine so genannte ConSolidarität, die - wie bereits gesagt - von einer gleichen Betroffenheit sowohl der Solidaritätsakteure als auch der Solidaritätsrezipienten ausgeht. Die Con-Solidarität stellt eine spezifische Art der Solidarisierung dar, die auf gleichen Interessen beruht und die darauf abzielt, sich gegenseitig Hilfe - innerhalb einer Gefahrengemeinschaft - zu leisten. Weiterhin entspricht das im Sozialstaat eingebundene System der Sozialversicherung einem speziellen Verteilungsmechanismus, der durch eine "verstaatlichte Solidarität" bzw. eine "zwangsorganisierte Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit,,154 charakterisiert werden kann. Das heißt, dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen im Rahmen des Sozialstaates der Versicherungszwang (die Versicherungspflicht) konstitutiv ist und der Rechtsstaat soziale Sicherheit im Krisenfall garantiert. Entscheidend ist dabei, dass sich die Versicherten den Rechtsanspruch auf con-solidarische Unterstützung dadurch erworben haben, dass sie vorher Beiträge an die jeweiligen Sozialversicherungsinstitutionen entrichtet haben. Institutionalisierte Hilfe im Krisenfall beruht also nicht auf Mildtätigkeit des Staates, sondern auf Eigenleistung der Versicherten. Darüber hinaus hat der Sozialversicherungsbeitrag nicht nur eine rechtliche Funktion, sondern auch eine psychologische Bedeutung. Die Beitragszahler wissen, dass sie selbst es sind, die für ihre Sicherheit vorsorgen, die in diesem Sinne Vorsorge für ihre individuelle Zukunft betreiben und sich aktiv an ihrer Existenzsicherung beteiligen. 155 Ein Verburg/Basel/Wien 1978,519. Mit dem Begriff Ethos wird aber nicht nur die sittliche Grundhaltung eines Menschen bzw. einer Gruppe, etwa eines Berufsstandes, bezeichnet, sondern im Rahmen einer Strukturanalyse - wie in vorliegender Arbeit - bezieht sich Ethos auch auf die inhärenten Normen und moralischen Ansprüche, die strukturelle Gebilde prägen. 152 Vgl. Braun, Soziale Sicherung, 38. 153 Vgl. Braun, Soziale Sicherung, 38. 154 Kersting, Sozialstaat und Gerechtigkeit, 243. 155 Vgl. Braun, Soziologische Untersuchung, 353.

11. Systematisch-ethischer Zugang

145

sicherungsbeitrag, der sichtbar erbracht wird, wird bei den Versicherungsnehmern "subjektiv sicherer empfunden, als wenn die im Umfang gleiche Vorsorge über das allgemeine Steueraufkommen finanziert wird.,,156 Diese Zweckgebundenheit der geleisteten Beiträge und das Bewusstsein der eigenen Vorsoge unterstreichen die individuelle Verantwortung der Versicherungsnehmer, die allerdings kollektiv organisiert ist und dem sozialpolitischen Zwang unterliegt. Franz-Xaver Kaufmann hat in seiner Studie über das Sicherheitsproblem in der Gesellschaft ausgeführt, dass Menschen Leistungen dann als sicher empfinden, wenn folgende vier Bedingungen vorliegen: (1) Die Leistungen müssen vor Gefahren schützen; (2) die Leistungen müssen vor den definierten Gefahren zuverlässig schützen; (3) die Begünstigten müssen sich dieses Schutzes gewiss sein; (4) die Begünstigten müssen aufgrund dieser Gewissheit beruhigt sein. 157 Diese Bedingungen sind im Rahmen der Sozialversicherung erfüllt. Das System der Sozialversicherung bietet nicht nur einfach Schutz vor den Standardrisiken des Lebens, sondern dieser Schutz ist gesetzlich geregelt, so dass sich die Individuen auf die Absicherung verlassen können. Die Gewissheit über die im konkreten Risikofall gewährte Hilfe beruht zudem darauf, dass sich die Menschen aufgrund ihrer eingezahlten Beiträge diesen Rechtsanspruch auf Unterstützung erworben haben. Ein soziales Sicherungssystem, das auf Dauer angelegt ist,158 entlastet folglich von den Alltagssorgen. 159 Die Sozialversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen ist nötig, damit die soziale Stellung von abhängig Beschäftigten durch Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitsunfalle und Arbeitslosigkeit nicht merklich verschlechtert wird und die Betroffenen nicht in die Armut abrutschen. Im Mittelpunkt der Sozialversicherung sowie des gesamten Systems der sozialen Sicherung steht der Mensch als Person, der in bestimmten Krisensituationen auf solidarische Hilfe existentiell angewiesen ist. 16o Solidarität spielt auch in einer Gesellschaft, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktioniert und ganz auf individuelle Leistungsfähigkeit setzt, eine herausragende Rolle. Ein dem Solidaritätsprinzip folgendes sozialstaatliches Verteilungssystem begrenzt das Leistungsdenken, "weil es auch den Nichtleistungsfähigen in seiner Würde achtet und mit dem Lebensnotwendigen versorgt."161 Gleichzeitig ist das System der sozialen Sicherung auf ausreichende Leistungserbringer Braun, Soziologische Untersuchung, 353. Vgl. Kaufmnnn, Franz-Xaver, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973, 263. 158 Vgl. Kaufmnnn, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 80. 159 Vgl. Kaufmnnn, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 263. 160 Im Gemeinsamen Wort der Kirchen wird die Aufgabe der sozialen Sicherungs systeme mit folgenden Worten umschrieben: "Ihre Aufgabe ist es, jeder Person Entfaltungschancen zu eröffnen, sie gegenüber den elementaren Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität, Alter) abzusichern und ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren". Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Ziffer 177. 161 Roos, Lothar, Sozialstaat in der Schieflage? Zwischen Eigenverantwortung und sozialer Sicherung, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998,49. 156

157

10 Bohnnann

146

B. Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens

angewiesen, die nämlich Leistungen - in Form von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern - für das Solidarsystem erbringen. 162 Nach dem Grundsatz der christlichen Sozialethik müssen alle Institutionalisierungsformen dem Menschen als Person gerecht werden und menschliches Personsein sichern sowie fördern, da soziale Gebilde um der Menschen willen da sind und nicht umgekehrt. 163 Soziale Strukturen haben sich am Wohl des einzelnen Menschen zu orientieren l64 und sollen folglich seiner Entfaltung dienen. Das gesamte System der sozialen Sicherung erhält dadurch seine ethische Dignität, dass es menschenwürdige Lebensverhältnisse auch in Krisensituationen, z. B. Krankheit, Unfall, Pflege, schafft und allen Bedürftigen eine Existenzsicherung ermöglicht. Folglich ist der bedürftige Mensch der Ausgangspunkt der Sozialpolitik.

VgJ. Roos, Sozialstaat in der Schieflage?, 49. VgJ. GS, Art. 25. Vgl. auch Anzenbacher, Arno, Rechtlich-ethische Voraussetzungen des modemen Sozialstaates, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998,24. 164 VgJ. GS, Art. 26. 162 163

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur des deutschen Gesundheitswesens

Das Gesundheitswesen in Deutschland besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Institutionen, die das Ziel haben, die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. Im Folgenden wird die Funktionslogik des Gesundheitssystems dargestellt. Im Zentrum stehen dabei nicht nur einfach die einzelnen Funktionsbereiche, sondern besonders auch die verschiedenartigen konkurrierenden Interessen der Akteure sowie die hinter dem Gesundheitswesen stehenden Ethosformen. Eine sozialethische Reflexion des Gesundheitswesens bezieht sich - wie bereits skizziert wurde - auf unterschiedliche strukturelle Steuerungskomponenten, nämlich auf die Funktionsbereiche der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen, der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern und der Gesundheitspolitik. Diese Bereiche sind eng miteinander verbunden und können in ihrer systemischen Verknüpfung als ein Kreislaufmodell begriffen werden.

r

I Teilbereich I: Gesundheitssicherung

• GKV • PKV

Gesundheitssystem

r

Teilbereich 11: Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

Teilbereich III: Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern

• ambulant • stationär

• Apotheken • Pharmaindustrie

1 Teilbereich IV: Gesundheitspolitik

• • • •

Bund Länder Kommunen Internationale Ebene

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 1: Funktionsbereiche des Gesundheitswesens

Abb. I zeigt in einfacher Form den Aufbau des deutschen Gesundheitswesens anband der genannten Funktionsbereiche und verdeutlicht zugleich auch die Gliederung der folgenden Ausführungen. Neben diesen vier primären Teilbereichen sind zudem die freien Verbände der Wohlfahrtspflege und die Selbsthilfegruppen als weitere Akteure zu nennen. Beide Bereiche können aber auch der Gesundheits\0*

148

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

versorgung mit speziellen Gesundheitsleistungen zugeordnet werden. Institutionen der freien Wohlfahrtspflege sind auch Träger von Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens. Bei den Selbsthilfegruppen handelt es sich um Interessenverbände, deren Mitglieder unterschiedliche Formen der Hilfestellung (z. B. psychosoziale Beratung und Betreuung) anbieten. In diesem Sinne erbringen die Selbsthilfegruppen auch spezielle Gesundheitsleistungen. I. Akteure der Gesundheitssicherung

In der öffentlichen Diskussion wird das Gesundheitswesen zumeist mit dem Krankenversicherungssystem, das heißt mit der finanziellen Absicherung im konkreten Krankheitsfall, identifiziert. Die Hauptaufgabe der Gesundheitssicherung besteht darin, alle Güter und Leistungen zu finanzieren, die für den Gesundheitszustand der Bevölkerung notwendig sind.' In Deutschland existieren zwei unterschiedliche Systeme der Gesundheitssicherung. Neben einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der kraft Gesetz bestimmte Personenkreise als Versicherungspflichtige angehören, gibt es die private Krankenversicherung (PKV). 88,5 % der Bevölkerung (das entspricht für das Jahr 199972,5 Millionen) sind in der gesetzlichen Krankenversicherung und 8,9% (das entspricht für das Jahr 1999 7,2 Millionen) in der privaten Krankenversicherung versichert? Sowohl GKVals auch PKV orientieren sich am Versicherungsprinzip. 3 "Eine Versicherung stellt einen Zusammenschluß von Wirtschaftssubjekten dar, die von einer gleichgearteten Gefahr bedroht werden. Der Versicherungsgedanke beruht auf der Überlegung, daß ein Schadensfall, der für den einzelnen zufällig und unberechenbar eintritt, im Rahmen einer Gemeinschaft, in der jedes Mitglied von dem gleichen Risiko betroffen ist, eine bestimmte und kalkulierbare Eintrittswahrscheinlichkeit enthält [ ... ]. Die Leistung der Versicherten-Gemeinschaft besteht in der Übernahme des Risikos und der Entlastung des einzelnen von den wirtschaftlichen Folgen eines Schadens ...4 Nach diesem allgemeinen Versicherungsverständnis sind drei Elemente für eine Versicherung konstitutiv: Solidar- bzw. Gefahrengemeinschaft, Ungewissheit über das zeitliche Eintreten des Schadenfalls und Risikoausgleich. 5 Diese Merkmale treffen - wie im Folgenden gezeigt werden soll - auch auf die GKV und diePKV zu.

Vgl. Brennecke, Steuerungsprinzipien im Gesundheitssystem, 82. Vgl. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, 10.2. 3 Vgl. Schirmer; Helmut, Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung, in: Schulin, Bertram (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 1. Bd., Krankenversicherungsrecht, München 1994,457. 4 Smigielski, Edwin, Die Bedeutung des Versicherungsgedankens für die gesetzliche Krankenversicherung, in: Schmähl, Winfried (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985,77/78. 1

2

I. Gesundheitssicherung

149

Im Rahmen der deutschen Gesundheitssicherung werden zwei Versicherungsmodelle mit jeweils verschiedenen Systemmerkmalen unterschieden. Die erste Unterscheidung betrifft die Art des Risikoausgleichs, die zweite Unterscheidung betrifft die Art der Leistungserbringung. Der Risikoausgleich erfolgt entweder über das Solidarprinzip oder über das Äquivalenzprinzip. Das Äquivalenzprinzip betont die Entsprechung von Leistung und Gegenleistung. Das bedeutet im Hinblick auf ein Versicherungsmodell, dass zwischen Versicherungsinstitution und Versicherungsmitglied ein individueller Vertrag abgeschlossen wird, bei dem die Höhe der Versicherungsprämie von der Schadenswahrscheinlichkeit abhängt. 6 Die Versicherungsprämie orientiert sich an bestimmten Versicherungsgruppen, die sich hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und der individuellen Vorerkrankung unterscheiden. 7 Das zu erwartende Risiko wird vom privaten Versicherungsunternehmen folglich vor Vertragsabschluss kalkuliert. Peter Oberender und Ansgar Hebborn haben das organisatorische Motto des Äquivalenzprinzips mit folgenden Worten umschrieben: "Jeder gibt nach seiner wahrscheinlichen Bedürftigkeit und empfängt nach seiner tatsächlichen. ,,8 Beim Solidarprinzip werden die Versicherten hingegen weder in Risikogruppen eingeteilt, noch wird die Beitragshöhe nach der individuellen Schadenswahrscheinlichkeit berechnet, sondern die Höhe des zu entrichtenden Versicherungsbeitrags hängt allein von der persönlichen Zahlungsbzw. Leistungsfähigkeit ab. 9 Innerhalb eines solidarischen Krankenversicherungsmodells erfolgt der Risikoausgleich kollektiv durch alle Versicherungsmitglieder. Nach Oberender und Hebborn heißt die Programmatik des Solidarprinzips wie folgt: "Jeder gibt nach seiner LeistungskraJt und empfängt nach seiner Bedürftigkeit. ,,10 Die zweite Differenzierung, nach der man Krankenversicherungssysteme zu unterscheiden pflegt, betrifft die Art der Leistungserbringung im konkreten Krankheitsfall. Einerseits werden die Gesundheitsleistungen nach dem Kostenerstattungsprinzip abgerechnet. Darunter versteht man, dass das einzelne Versicherungsmitglied zunächst die Kosten der Leistungserbringer selbst aufbringt, diese aber später nach Einreichung der Rechnungen - je nach abgeschlossenem Versicherungsvertrag - von der Versicherung ganz oder teilweise zurückbekommt. ll Andererseits können die Gesundheitsleistungen nach dem Sachleistungsprinzip abgerechnet werden. Innerhalb eines solchen Modells ist der Versicherte lediglich 5 Vgl. Smigielski, Die Bedeutung des Versicherungsgedankens für die gesetzliche Krankenversicherung, 78. 6 Vgl. Kulbe, Arthur, Die gesetzliche und private Krankenversicherung, Freiburg 1993, 26. 7 Vgl. Oberender, Peterl Hebborn, Ansgar, Wachstumsmarkt Gesundheit. Therapie des Kosteninfarkts, Bayreuth 1998, 39 I 40. 8 Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 39. Hervorhebungen im Original. 9 V gl. Zerche, Jürgen, Krankenversicherung, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,473. 10 Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 41. Hervorhebungen im Original. 11 Vgl. Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 43.

150

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Konsument bzw. Nachfrager, aber nicht Zahler von Gesundheitsleistungen. Demzufolge begleicht der Versicherte nach diesem Modell auch keine Rechnungen, angefallene Kosten werden den Ärzten! Ärztinnen direkt von den Versicherungen erstattet. 12 Wahrend hinter der PKV in Deutschland das Äquivalenzprinzip und Kostenerstattungsprinzip stehen, folgt die GKV dem Solidarprinzip und dem Sachleistungsprinzip (vgl. Abb. 2). Im Folgenden sollen die Systeme von GKV und PKV im Detail erläutert werden, wobei neben der Funktionslogik vor allem auch die Verortung von Solidarität und Wettbewerb zur Sprache kommen soll.

Versicherungsmodell (Risikoausgleich) Leistungserbringermodell

Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

Private Krankenversicherung (PKV)

Solidarprinzip

Äquivalenzprinzip

Sachleistungsprinzip

Kostenerstattungsprinzip

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 2: Das System der Gesundheitssicherung

1. Gesetzliche Krankenversicherung

Den Kern der Gesundheitssicherung bildet die GKV, die im Wesentlichen seit 1883 in Deutschland existiert und zum System der sozialen Sicherung gehört. Die gesetzlichen Krankenkassen als rechtsfahige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung verdanken ihre Existenz - wie bereits dargestellt den historischen Bedingungen am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Als eigenständige Kassenarten werden heute (1) Allgemeine Ortskrankenkassen, (2) Betriebskrankenkassen, (3) Ersatzkassen, (4) Innungskrankenkassen, (5) See-Krankenkassen, (6) Bundesknappschaft als Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung und (7) Landwirtschaftliche Krankenkassen unterschieden. 13 Bei der GKV handelt es sich um eine Pflichtversicherung, das heißt, es besteht Mitgliedschaft kraft Gesetz und nicht aufgrund eines freiwilligen, individuellen Vertragsschlusses. 14 Diese Versicherungspflicht erstreckt sich auf bestimmte Personenkreise. 15 Die Finanzierung der GKVerfolgt - wie bereits im 19. Jahrhundert - einer12

13 14

458.

V gl. Oberender / Hebbom, Wachstumsmarkt Gesundheit, 42/43. Vgl. § 4 Abs. 2 SGB V. Vgl. Schirmer, Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung,

15 Versicherungspflichtig sind nach § 5 SGB V im Wesentlichen: Arbeiter, Angestellte und zum Zwecke ihrer Berufsbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind; Arbeitslose; land- und forstwirtschaftliche Unternehmer und ihre mitarbeitenden Familienangehörigen; Künstler und Publizisten; Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden sollen; Teilnehmer an berufsfördernden Maßnahmen zur

I. Gesundheitssicherung

151

seits über Beiträge der Versicherungsnehmer und andererseits über Arbeitgeberbeiträge (paritätische Finanzierung).16 Zwei Grundausrichtungen prägen - wie angedeutet - das soziale Krankenversicherungssystem: das Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit, das sich an der Einkommenshöhe aus unselbständiger Arbeit misst, und das Prinzip der individuellen Bedürftigkeit, das sich an der konkreten gesundheitlichen Notlage orientiert. Gleiche Bedürftigkeit führt auch zur Egalität bzw. medizinischen Gleichbehandlung, unabhängig von der Leistungsfähigkeit. Somit ist das Moment der Gleichheit als konstitutives normatives Prinzip im System der GKV implementiert. Obwohl also unterschiedliche Beiträge erhoben werden - bei der Beitragserhebung also Ungleichheit herrscht -, findet Gleichheit aufgrund gleicher Bedürftigkeit - in der Leistungsgewährung statt. Im Folgenden ist zu klären, inwieweit die Rede von der solidarischen Krankenversicherung bzw. der solidarischen Finanzierung der GKV gerechtfertigt ist. (1) Universalität, (2) Vorrangigkeit des Schwächeren, (3) Verrechtlichung und (4) wechselseitige Verpflichtung sind - wie unter A.II.2.b expliziert wurde - die prägenden Elemente des Solidaritätsprinzips. Die universelle Ausdeutung des Solidaritätsprinzips im Gesundheitswesen drückt sich in erster Linie dort aus, wo alle prinzipiell das Recht auf die gleiche Gesundheitsversorgung haben. 17 Im Rahmen der deutschen Sozialversicherung ist dieser universalistische Anspruch kodifiziert. 18 Der solidarische, vom Leitgedanken der Universalität getragene Charakter des Gesundheitswesens im Rahmen des sozialen Sicherungssystems wird ferner auch dort sichtbar, wo der Vertragsarzt aufgrund seiner Berufsrolle ohne Ansehen der Person, also unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nationalität etc., eine Heilbehandlung innerhalb des Systems der GKV vornimmt. 19 Ein Arzt, der ausschließlich Privatpatienten behandelt und nicht als Vertragsarzt praktiziert, handelt aber noch nicht unsolidarisch, wenn er in seiner Praxis keine GKV-Versicherten mit Gesundheitsleistungen versorgt. Der Arzt ist in der Art seiner Berufsausübung frei und kann deshalb die Behandlung von bestimmten Patienten auch ablehnen. Ein unsolidarisches (und unmoralisches) Handeln ist aber dann festzustellen, wenn dieser Arzt spontane Hilfe in einem Notfall, beispielsweise auf der Straße, aufgrund der Kassenzugehörigkeit verweigert. Letztlich macht sich der betreffende Arzt in jedem Unglücksfall - wie im Übrigen jeder andere Beteiligte auch - aufgrund von Rehabilitation; Behinderte, die in Werkstätten, Heimen oder gleichartigen Institutionen tätig sind; Studenten an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen; Praktikanten und Auszubildende des zweiten Bildungsweges; Rentner, die mindestens 9/ 10 der zweiten Hälfte ihrer Erwerbstätigkeit pflichtversichert waren. 16 Dazu heißt es im SoziaIgesetzbuch: "Die Leistungen und sonstigen Ausgaben der Krankenkassen werden durch Beiträge finanziert. Dazu entrichten die Mitglieder und die Arbeitgeber Beiträge, die sich in der Regel nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder richten." § 3 SGB V. Eigene Hervorhebungen. 17 Vgl. Baumgartner, Solidarität und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, 154/155. 18 Vgl. § 4 Abs. 1 SGB I. 19 Vgl. Heim, Arzt und Patient, 100.

152

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

§ 323c StGB bei unterlassener Hilfeleistung strafbar. Die Vorrangigkeit des Schwächeren tritt bei der Behandlung von so genannten Härtefällen im Rahmen des Zuzahlungs systems in Erscheinung. 2o Da für den Großteil der Bevölkerung die GKV eine gesetzliche Pflichtversicherung darstellt, regelt die staatliche Sozialordnung die strukturelle Ausgestaltung des Versicherungsschutzes. Demnach entspricht dieses System einer verrechtlichten und verstaatlichten Form. Aufgrund der gegenseitigen Haftung und der Beitragszahlungen aller findet sich in der GKV auch das Prinzip der wechselseitigen Verpflichtung und das interdependente Abhängigsein vom jeweils anderen. Kemelement der gesetzlichen Gesundheitssicherung ist und bleibt aber die solidarische Umverteilung.

Als Sozialversicherung strebt die GKVeinen sozialen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs- und Risikogruppen an. Der soziale Ausgleich ist das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen der GKV und der PKV und kann ganz allgemein - "als Einkommensumverteilung zugunsten sozial Schwacher durch die Sozialversicherung,,21 interpretiert werden. Erst dieser soziale Aspekt macht die GKV zu einer sozialen Krankenversicherung. 22 Eine rein private Versicherung im Sinne der Individualversicherung schafft nur einen Risikoausgleich, aber keinen grundlegenden sozialen Ausgleich. Demzufolge liegt der GKVein bestimmtes Organisationsprinzip zugrunde, das man am Besten als Umlageverfahren bezeichnen kann?3 Hinter diesem Organisationsprinzip steht das Ethos der Solidarität, das sich durch den sozialen Ausgleich im Schadensfall charakterisieren lässt. Neben der grundsätzlichen Solidarität mit Bedürftigen und der Solidarität zwischen Gesunden und Kranken - die GKV kennt ja keine Risikozuschläge für Persqnen mit einem hohen Krankheitsrisiko - lassen sich in der GKV folgende typische solidarische Umverteilungs- bzw. Ausgleichsprozesse feststellen: 24 • Generationenausgleich (zwischen Berufstätigen und nicht mehr Berufstätigen bzw. noch nicht Berufstätigen), 20 Von Zuzahlungen sind bestimmte Personengruppen mit niedrigem Einkommen ganz oder teilweise befreit. Eine vollständige Befreiung betrifft z. B. Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, Alleinstehende mit einern monatlichen Bruttolohn nicht höher als 884€. 21 Altendorf, Der soziale Ausgleich im System der Sozialversicherung, 46. 22 Vgl. Düttmann, Renate, Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Kritische Analyse und Verbesserungsvorschläge, Baden-Baden 1978,35. 23 Vgl. Sesselmeier; Sozialversicherung, 1503; Düttmann, Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, 41. 24 Vgl. Beske 1Hallauer, Das Gesundheitswesen in Deutschland, 85 - 87; Henke, KlausDirk, Zur Rolle des Versicherungsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Schmähl, Winfried (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985, 60/61; Oberender; Peter 1Fibelkorn-Bechert, Andrea, Krankenversicherung, in: Knappe, Eckhard 1Berthold, Norbert (Hrsg.), Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Heidelberg 1998, 96/97; Schulenburg, Matthias Graf von der, Die ethischen Grundlagen des Gesundheitssystems in der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer Positionsbestimmung, in: Sachße, Christoph 1Engelhardt, H. Tristram (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M. 1990, 317/318.

1. Gesundheitssicherung

153

• Einkommensumverteilung (zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen), • Geschlechterumverteilung (zwischen Männern und Frauen) und • Familienlastenausgleich (zwischen Ledigen und Kinderlosen und Verheirateten und Kinderreichen). Eine Reihe von Personenkreisen sind von der Mitgliedschaft in der GKV befreit. Demzufolge gehören nicht alle Bürger und Bürgerinnen dieser Solidargemeinschaft an. Nach § 6 SGB V sind im Einzelnen folgende Personenkreise nicht versicherungspflichtig: Beamte, Richter, Soldaten, Geistliche, Lehrer an privaten Ersatzschulen und Personen in beamtenähnlichen Positionen sowie Pensionäre, wenn sie Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben, Mitglieder geistlicher Gemeinschaften, Selbständige mit Ausnahme von Landwirten und Künstlern. Darüber hinaus sind diejenigen, die ein Einkommen beziehen, das oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, ebenfalls nicht pflichtversichert?5 Der Umverteilungsmechanismus betrifft folglich nicht alle, sondern in den meisten Fällen nur die Bevölkerungsgruppen mit unteren und mittleren Einkommen. Alle, die mit ihrem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen, können sich allerdings freiwillig einer gesetzlichen Krankenversicherungsgesellschaft anschließen. 26 Für viele ist eine freiwillige Versicherung kostengünstiger. Zu diesen Personenkreisen gehören besonders die Besserverdienenden mit mehreren Kindern und nicht erwerbstätigen Ehepartnern, da die GKVeinen Familienlastenausgleich bietet. 27 Seit 1997 besteht zwischen den verschiedenen Kassen der GKV durch das Gesundheitsstrukturgesetz eine weitgehende Wettbewerbssituation. Die einzelnen Versicherungsgesellschaften befinden sich im Wettbewerb, die Versicherten können ihren Versicherungsschutz demzufolge frei wählen. Mit dem Kassenwahlrecht hat das erste wesentliche Wettbewerbselement im System der GKV Einlass gefunden. 28 Wettbewerbsparameter sind in erster Linie Beitragssätze und bestimmte Serviceleistungen. Allerdings ist die Wettbewerbs situation stark eingeschränkt, da der Gesetzgeber bislang den Wettbewerb im Hinblick auf eine eigenständige Produktpolitik der einzelnen GKV-Kassen nicht gestattet. Primär konkurrieren die gesetzlichen Krankenkassen um möglichst "gute" Risiken, das heißt, die Unternehmen möchten zuerst Personen mit einem guten Gesundheitszustand und einem hohen Einkommen als Versicherungsnehmer gewinnen. Dementsprechend sind junge potenzielle Versicherungsnehmer die Hauptzielgruppe innerhalb des Marketing. Eine günstige Risikoverteilung hat Anteil an der Leistungsfähigkeit der Kasse und an der Höhe der Beitragssätze. 29 Obwohl die Krankenkassen am liebsten "nur" die 25 Die Beitragsbemessungsgrenze im Jahre 2002 liegt bei 3375 € pro Monat (für alte und neue Bundesländer). 26 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 63. 27 V gl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 63/64. 28 V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 28/29. 29 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 138.

154

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

genannten Personengruppen versichern möchten, müssen sie grundsätzlich alle gesetzlich aufgeführten Bevölkerungskreise aufnehmen. Jede gesetzliche Krankenkasse steht generell allen Pflichtversicherten offen. Aus diesem Grund ist es den GKV-Krankenkassen untersagt, eine bewusste Risikoselektion zu betreiben. In diesem Zusammenhang ist die Rede vom Kontrahierungszwang. Das bedeutet, dass Krankenkassen allen beitragswilligen Personen eine Mitgliedschaft gewähren müssen. Versicherte mit erheblichen Vorerkranken dürfen nicht abgewiesen werden. Darüber hinaus - als zweite normative Vorgabe - ist es den gesetzlichen Krankenkassen verboten, unterschiedliche Beitragssätze mit Risikozuschlägen für ihre Versicherten zu erheben, wie das bei der PKV üblich ist. Nach dem Diskriminierungsverbot werden alle Personen, die der gesetzlichen Versicherung beitreten wollen, gleich behandelt. Nicht der persönliche Gesundheitszustand, sondern allein die Höhe des Einkommens entscheidet über den Versicherungsbeitrag. 3o Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot belegen, dass hinter der Systemlogik der GKV der normative Grundsatz der Gleichheit steht. Kranke und Gesunde werden völlig gleich behandelt und unter den selben Umständen als Mitglieder in die GKV aufgenommen. Um das solidarische Versicherungssystem nicht zu geflihrden, wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz ein bundesweiter Risikostrukturausgleich (ab 1994) zwischen allen Kassen der GKVeingeführt. 31 Darunter ist eine flankierende Maßnahme zum Krankenkassenwahlrecht zu verstehen. Diejenigen Krankenkassen erhalten einen Ausgleich, die eine ungünstige Risikostruktur im Hinblick auf ihre Versicherten aufweisen; auszugleichende Risikofaktoren sind hierbei Alter, Geschlecht, Familienlast und Einkommen. Beim Risikostrukturausgleich sollen lediglich strukturelle Benachteiligungen ausgeglichen werden, ohne dass aber eine unwirtschaftlich arbeitende Krankenkasse "belohnt" wird. 32 Der Risikostrukturausgleich ist innerhalb der Diskussion um die Weiterentwicklung der GKV höchst umstritten, da er für viele eine Art "Fremdkörper" bedeutet, womit eine Wettbewerbsverzerrung im System der GKV zum Ausdruck gebracht wird. 33 Neben dem Versicherungsprinzip und dem solidarisch ausgerichteten Umlageverfahren lässt sich auch das Selbstverwaltungsprinzip als weiteres Gestaltungselement im Rahmen der sozialen Sicherung feststellen. Bereits zu Beginn der gesetzlich fixierten Sozialversicherung im 19. Jahrhundert waren die Sozialversicherungen relativ unabhängig und ordneten ihre Angelegenheiten eigenständig. Selbstverwaltung ist heute nach wie vor ein konstitutives Merkmal der GKY. Darunter versteht man, dass die einzelnen Krankenkassen "eine staatsummittelbare Autonomie" besitzen, "bei der der Gesetzgeber den Handlungsrahmen und die Aufgaben festlegt, die die Organe der Selbstverwaltung eigenverantwortlich zu erfüllen haben. ,,34 Selbstverwaltungsorgane der GKV sind zum einen der Verwaltungs30 31 32

33

34

Vgl. Oberenderl Hebbom, Wachstumsmarkt Gesundheit, 87. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 28/29. Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 65. Vgl. Oberenderl Fibelkom-Bechert, Krankenversicherung, 114. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 53.

I. Gesundheitssicherung

155

rat - ein paritätisch besetztes Gremium aus Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten - und zum anderen der hauptamtliche Vorstand. Der Entscheidungsspielraum der Kassen ist aber gering, da der Gesetzgeber den Leistungsumfang vorgibt und auch in die Finanzierung eingreift. Freie Entscheidungskompetenzen bestehen etwa hinsichtlich der Festlegung der Beitragssätze, der Mitgliederinformationen, der Serviceleistungen, des Abschlusses von Verträgen mit der Ärzteschaft bzw. den Krankenhäusern. 35 Das Prinzip der Selbstverwaltung steht in enger Beziehung zur Parafiskalität. 36 Damit ist die Unabhängigkeit der Sozialversicherung vom staatlichen Haushalt gemeint, denn Sozialversicherungsbeiträge werden nicht über das Steueraufkommen abgedeckt, sondern über Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber. Die Akteure der Gesundheitssicherung innerhalb des Systems der sozialen Sicherung, also die einzelnen gesetzlichen Krankenkassen, sind zunächst die Anwälte der Beitragszahler, das heißt der Versicherten und der Unternehmen, die über den Arbeitgeberbeitrag zu Versicherungszahlern werden. Zwar sind die Kassen für die Leistungsempjänger, also die Patienten, die Kranken und die Bedürftigen, auch verantwortlich, doch schaut man auf das Bemühen, die Versicherungsbeiträge stabil zu halten, diese gegebenenfalls sogar zu senken und auf die immer wieder postulierte und verfolgte Politik der Kostendämpfung, so wird deutlich, dass die Krankenkassen in erster Linie die Interessen ihrer BeitragszahIer vertreten. Das Ziel der Beitragssatzstabilität kommt indirekt auch im SGB zum Ausdruck: "Die Krankenkassen haben bei der Durchführung ihrer Aufgaben und in ihren Verwaltungsangelegenheiten sparsam und wirtschaftlich zu verfahren und dabei ihre Ausgaben so auszurichten, dass Beitragssatzerhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzerhöhung nicht zu gewährleisten.,,37 Freilich ist die Trennung zwischen Leistungsempfängern und Beitragszahlern nicht ganz sauber zu bestimmen, da die BeitragszahIer - im Sinne der Versicherten und nicht der Unternehmen - immer auch potenzielle Empfänger von Gesundheitsleistungen - also Patienten - sind. 2. Private Krankenversicherung 38

Die Grundprinzipien der PKV differieren erheblich von denen der GKY. Die Systemmerkmale der GKV heißen Solidarprinzip und Sachleistungsprinzip. HinVgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 53/54. Vgl. NeuTlUJnn/ Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 143. 37 § 4 Abs. 4 SGB V. Eigene Hervorhebungen. 38 Ende des 19. Jahrhunderts wurde erstmals den nicht in einer gesetzlichen Krankenkasse versicherten Personen die Möglichkeit eröffnet, sich im Rahmen privater Verträge gegen das Krankheitsrisiko abzusichern. 1901 wurden die privaten Krankenversicherungsunternehmen der Aufsicht des neu errichteten Kaiserlichen Aufsichtsamtes unterstellt. Dieses Amt verwen35

36

156

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

gegen funktioniert die PKV - wie bereits kurz angedeutet - nach dem Äquivalenzprinzip und dem Kostenerstattungsprinzip. Ein privates Versicherungsunternehmen berechnet die Prämien nach dem Grad der bestehenden oder wahrscheinlichen Risiken. Das bedeutet, dass die zu erwartenden Risiken der privaten Versicherungsnehmer mit in die Prämienkalkulation einfließen. Die Leistung des Unternehmens wird in Beziehung gesetzt zu den Gegenleistungen (Prämien), so dass ein Ausgleich zwischen bei den Größen stattfindet. 39 Die Art der Leistungserbringung erfolgt über das Kostenerstattungsprinzip. Die angefallenen Kosten für in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen werden im Vorfeld von den Versicherungsnehmern selbst übernommen und dann - nach Einreichen der Rechnungen - von der Versicherung - je nach abgeschlossenem Vertrag - zurückbezahlt. 40 Die privaten Versicherungsgesellschaften haben mit den Leistungserbringern nach diesem Modell keine vertraglichen Beziehungen und kommen mit ihnen in der Regel auch nicht in Kontakt. Einen sozialen Ausgleich, wie ihn die GKV kennt, hat die PKV nicht. Ein versicherungstypischer Risikoausgleich, wie er bei der GKV vorkommt, "besteht lediglich in einer Zeitpunktbetrachtung, indem aus den Beiträgen aller Versicherten die Krankheitskosten der Behandlungsbedürftigen finanziert werden sowie in einem Risikoausgleich im Zeitablauf eines Versichertenlebens.,,41 Aus diesem Grund ist es nicht ganz richtig, wenn es heißt, dass die PKV keine solidarische Gesundheitssicherung ist. Auch das System der PKV kennt solidarische Ausgleichsstrukturen. Allerdings handelt es sich hierbei nur um grundlegende solidarische Ausgleichsprozesse, wie sie bei allen Versicherungstypen aus einer rein versicherungstechnischen Perspektive zu finden sind. Ein sozialer Ausgleich wie in der GKV, der als sozialpolitische Zielsetzung implementiert ist, bestimmt allerdings nicht die Funktionslogik der PKY. Die oben genannten typischen solidarischen Umverteilungs- bzw. Ausgleichsprozesse prägen nur in sehr begrenzter und rudimentärer Fonn das System der PKY. Eine Geschlechterumverteilung gibt es in der PKV überhaupt nicht, da Männer und Frauen aufgrund ihrer unterschiedlichen Krankheitsrisiken verschiedene Prämien zu entrichten haben. Frauen müssen wegen des so genannten "Geburtskostenrisikos" ("Gebärrisiko,,42) - besonders in jüngeren Jahren - sogar einen höheren Beitragssatz zahlen. Die Erhebung der Prämien richtet sich ausschließlich nach individuellen Kriterien und Risiken, wie (1) Eintritts alter, (2) Geschlecht, (3) Gesundheitszustand zu Beginn der Versicherung sodete im Jahre 1903 zum ersten Mal die Bezeichnung Private Krankenversicherung, um damit die private von der gesetzlichen Krankenversicherungsfonn zu unterscheiden. 1924 schlossen sich die privaten Versicherungsunternehmen zum "Verband der Versicherungsanstalten für selbständige Handwerker und Gewerbetreibende Deutschlands e.Y." zusammen, zwei Jahre später schlossen sich dann die berufsständisch ungebundenen Vereine und Aktiengesellschaften zum "Verband privater Krankenversicherungsunternehmen Deutschlands, Sitz Leipzig" zusammen. Vgl. Beske / Hallauer, Das Gesundheitswesen in Deutschland, 111. 39 Vgl. Kulbe, Die gesetzliche und private Krankenversicherung, 26. 40 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 68. 41 Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 66/67. 42 Schinner, Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung, 459.

I. Gesundheitssicherung

157

wie (4) Art des Versicherungsschutzes. 43 Nur der gesundheitliche Zustand zu Beginn eines Versicherungsverhältnisses ist für die Prämienhöhe von Bedeutung. Erkrankungen oder risikorelevante Tatbestände, die zu einem späteren Zeitpunkt auftreten, haben keinerlei Auswirkungen auf die Prämienstruktur. Höhere Beiträge sind nur mit den allgemeinen Versicherungsstrukturen eines Unternehmens zu begründen, und Risikozuschläge können immer nur im Vorfeld eines Versicherungsvertrages ausgemacht werden, nicht aber nach Vertragsabschluss. 44 Während sich bei der GKV die Beiträge nach der Zahlungsfähigkeit richten, spielt das individuelle Einkommen bei der Prämienermittlung im Rahmen der PKV keine Rolle. Folgende Personengruppen können sich bei der PKV versichern: Beschäftigte, deren Einkommen die Beitragsbemessungsgrenze übersteigt, Beamte, Selbständige und Freiberufler. Die Beamten unterliegen nicht der Pflichtversicherung durch die GKY. Durch die Beihilfe - bereits als Fürsorgeprinzip identifiziert - deckt der Staat einen Teil ihrer Krankheitskosten ab. Für den nicht abgedeckten Teil der anfallenden Kosten können sich die Beamten bei einer privaten Versicherungsgesellschaft versichern. 45 Die PKV ist aufgrund geringer Mitgliedsbeiträge vor allem für die so genannten "guten" Risiken attraktiv, das heißt für gutverdienende Jüngere ohne Familie. Gesunde, alleinstehende Beschäftigte, die ein dementsprechendes hohes Einkommen haben, scheiden somit aus der solidarischen Umverteilung aus. 46 Der zu zahlende Beitrag der Versicherungsnehmer im weiteren Sinne setzt sich zusammen aus dem Risikobeitrag (also der für die Abdeckung der Krankheitsrisiken erforderliche Betrag), der Alterungsrückstellung (also die im Voraus berücksichtigten Kostenerhöhung während des Alters und der damit verbundenen Altersmorbidität47 ), dem Sicherheitszuschlag sowie den Verwaltungskosten. 48 Die Vorsorge für das Alter wird in der PKV nach dem Verfahren der Alterungsrückstellung also individuell geleistet, während bei der GKVein solidarisches Umlageverfahren im Hintergrund steht. Die meisten der privaten Krankenversicherungsgesellschaften gewähren eine so genannte Beitragsrückerstattung, wenn beispielsweise während eines Versicherungsjahres keine Gesundheitsleistungen in Anspruch genom43 Vgl. Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (Hrsg.), Wie werden die Beiträge in der PKV kalkuliert?, PKV-Info, Köln 2000. Die Broschüre kann geladen werden unter: http://www.pkv.de/brosch/brosch_frame.htm (Stand: 06. 04. 2(01). 44 Vgl. Verband der Privaten Krankenversicherung e.v. (Hrsg.), Wie werden die Beiträge in der PKV kalkuliert?, 3/4. 45 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 68; Beske 1Hallauer, Gesundheitswesen, 112/113. 46 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 69. 47 Während in jungen Jahren der zu entrichtende Beitrag oberhalb der tatsächlich in Anspruch genommenen Leistungen liegt, befindet er sich im Alter darunter. Aus der Differenz wird die Altersrückstellung gebildet, die Differenz wird dann verzinslicht angelegt. In der Altersrückstellung wird bereits in jungen Jahren finanzielle Vorsorge für das zukünftige Alter geleistet. Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (Hrsg.), Wie werden die Beiträge in der PKV kalkuliert?, 6/7. 48 Vgl. Beske 1Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 114.

158

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

men worden sind. Resümierend kann festgehalten werden, dass die Versicherungsart der PKV in einem sehr hohem Maß individualisiert ist: Solidarität bleibt auf ein versicherungstechnisches Minimum reduziert. Folgende Tabelle (Abb. 3) fasst die herausragenden Unterschiede zwischen GKV und PKV zusammen: Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

Private Krankenversicherung (PKV)

Träger

- Körperschaften und Anstalten - Wirtschaftsunternehmen: Akdes öffentlichen Rechts mit tiengesellschaften, VersicheSelbstverwaltung (Kassenarten: rungsvereine auf GegenseitigAllgemeine Ortskrankenkaskeit, Körperschaften und Ansen, Betriebskrankenkassen, stalten des öffentlichen Rechts Ersatzkassen, Innungskrankennach Genehmigung durch das kassen, See-Krankenkassen, Bundesaufsichtsamt für das Bundesknappschaft, LandwirtVersicherungswesen (BAV) schaftliehe Krankenkassen)

Versicherungsnehmer

- Gesetzlich festgesetzter Personenkreis: Arbeiter, Angestellte bis zur Beitragsbemessungsgrenze, freiwillige Mitglieder, Auszubildende, Schüler, Studenten, Arbeitslose, Rentner

- Personen, die in der GKV nicht versichert sind (das heißt vor allem Selbständige, frei beruflieh Tätige, Beamte, Angestellte mit Gehältern oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze), GKV-Versicherte mit einer privaten Zusatzversicherung

Zustandekommen der Mitgliedschaft

- Versicherungspflicht kraft Gesetz (Ausnahme: freiwillige Mitglieder) - Kontrahierungszwang für Pflichtversicherte

- Privatrechtlicher Vertrag zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer - Versicherer kann den Vertrag ablehnen (bei bestimmten Krankheiten, kein Kontrahierungszwang)

Beiträge

- Solidarprinzip - Einkommensabhängig - Beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern - Beitragsbemessung ist die Leistungsfähigkeit des Versicherten - in der Regel keine Beitragsrückerstattung

- Äquivalenzprinzip - Einkommensunabhängig - Individuelle Beitragszahlung pro Familienmitglied - Beitragsbemessung nach Risikofaktoren (Alter, Geschlecht, Vorerkrankung) und Versicherungsleistung - Beitragsrückerstattung möglich

Leistungen

- einheitlich - Sachleistungsprinzip - Behandlung durch zugelassene Leistungserbringer (z. B. Vertragsärzte )

- nach Tarif - Kostenerstattungsprinzip - bestimmte Leistungen müssen speziell vereinbart werden

Quelle: Eigene Darstellung.49

Abbildung 3: Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung

I. Gesundheitssicherung

159

Sowohl die einzelnen Unternehmen der GKVals auch die Unternehmen der PKV stehen untereinander im Wettbewerb. Hinzukommt weiterhin ein Wettbewerb um die Versicherten, die aufgrund ihres Einkommens in die PKV wechseln könnten, bislang aber noch dem solidarischen System der GKV freiwillig angehören. Während ein Krankenkassenwechsel innerhalb der GKV zumeist unproblematisch ist und sich ein solcher Wechsel - je nach neuer Versicherung - finanziell auszahlen kann, lohnt sich ein Wechsel innerhalb der PKV von einem Unternehmen zum anderen in vielen Fällen eher nicht. Der Grund hierfür liegt in der Vorsorge für das Alter. Bei der GKV wird die Altersversorgung solidarisch getragen und entspricht in diesem Sinne einem Umlageverfahren innerhalb der Generationen. Hingegen werden im Rahmen der PKV die Leistungen für das Alter individuell verrechnet. Mit Hilfe persönlicher Altersrückstellungen wird das Krankheitsrisiko im Alter abgedeckt. Beim Versicherungswechsel können die individuell angesammelten AItersrückstellungen aber nicht mitgenommen werden. Sie gehen verloren und fließen in den Gewinn des PKV-Unternehmens. Die Beitragskalkulation für eine neue PKV wird demzufolge höher ausfallen; es muss binnen kurzer Zeit eine neue Rückstellung für das Alter gebildet werden. Zudem können auch risikoerhebliche Vorerkrankungen zum Beitrittszeitpunkt zu einer höheren Versicherungsprämie im Vergleich zur alten PKV-Versicherung - beitragen. Ein Versicherungswechsel lohnt sich deshalb nicht für ältere Versicherte, da sie ihre Altersrückstellungen rasch wieder aufbauen müssten und meistens über individuelle Vorerkrankungen verfügen. Der Wettbewerb innerhalb der PKV wird sich aus diesen Gründen primär an jüngere, das heißt zumeist gesunde, Versicherte richten. Deshalb ist der Wettbewerb im System der PKV - im Vergleich zu der GKV - nur in eingeschränkter Form möglich. 50 Das Verhältnis zwischen PKVund GKV ist nicht nur durch einefreilich begrenzte - Marktbeziehung gekennzeichnet, sondern auch durch eine bestimmte Art der Abhängigkeit im Hinblick auf die Mitgliederstruktur. Die Versichertengemeinschaft der PKV ist nämlich abhängig von der gesundheitspolitischen Ausgestaltung der GKV. Wird die Beitragsbemessungsgrenze erhöht bzw. die Versicherungspflicht erweitert, hat das direkte Folgen für die PKY. Darüber hinaus kann sich jeder GKV-Versicherte, der bestimmte Leistungen in Anspruch nehmen möchte, die nicht im gesetzlichen Leistungskatalog enthalten sind, freiwillig bei einem Unternehmen der PKV versichern. 51 Während die Krankenkassen der GKV die Interessen der Beitragszahier (Versicherte und Arbeitgeber) vertreten, sind die Unternehmen der PKV neben den 49 Vgl. die hierfür verwendete Literatur: Beske I Hallauer, Gesundheitswesen, 115; Zdrowomyslawl Dürig, Gesundheitsökonomie, 75; SGB V. 50 Vgl. zum Problem des Wechsels innerhalb der PKV Verband der Privaten Krankenversicherung e.v. (Hrsg.), Lohnt der Wechsel innerhalb der PKV?, PKV-Info, Köln 2000. Die Broschüre kann geladen werden unter: http://www.pkv.de/brosch/broschjrame.htm (Stand: 06.04.2001); Gesundheitsbericht für Deutschland, 365. 51 Vgl. Henke, Zur Rolle des Versicherungsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, 62.

160

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Versicherten als Beitragszahier beispielsweise auch den Aktionären verpflichtet, sofern es sich um eine Aktiengesellschaft handelt. Auch bei der Rechtsform des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit (VVaG) - eine privatrechtlich organisierte Unternehmensform, die aus einer Mischung aus Elementen des Vereins- und Genossenschaftsrechts und dem Recht der Kapitalgesellschaften besteht52 - werden die gewinnorientierten Interessen der Aktionäre innerhalb der gesundheitspolitischen Unternehmensentscheidungen berücksichtigt. 3. Krankenkassenverbände

Die einzelnen Krankenkassen der GKV haben Verbände ausgebildet, die als Interessenvertretungen ihre Mitgliedskassen unterstützen und die jeweiligen Behörden in Fragen der sozial- und gesundheitspolitischen Gesetzgebung beraten. Bei den Krankenkassenverbänden handelt es sich um selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigenen Satzungen und Organen. 53 Die Allgemeinen Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen und Innungskrankenkassen haben Landesverbände und je einen Bundesverband ausgebildet. Die Ersatzkrankenkassen haben sich zum Verband der Angestellten-Krankenkassen (VDAK) und zum Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) zusammengeschlossen. 54 VDAK und AEV umschreiben ihre Verbandsziele wie folgt: "Verhandlungen und Abschlüsse von Verträgen mit den Leistungserbringern, Vertretung der gemeinsamen Interessen im politischen Raum, Beratung und Betreuung der Mitgliedskassen bei der Durchführung ihrer Aufgaben, Vertretung der Verbandsziele in der Öffentlichkeit. ,,55 Der Verband der privaten Krankenversicherung bündelt ebenso die Interessen und Aufgaben seiner Mitgliedskassen. Dabei sind die Funktionen in etwa vergleichbar mit denen der Verbände der gesetzlichen Krankenkassen, ausgenommen der Verhandlungen und Abschlüsse von Verträgen mit den Leistungserbringern. 56 11. Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

Unter Gesundheitsleistungen sind alle Maßnahmen im Sinne von Dienstleistungen zu verstehen, die für den Schutz, den Erhalt, die Wiederherstellung oder die Besserung der Gesundheit von Bedeutung sind. 57 Die Versorgung mit speziellen Vgl. Bäcker. Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 66. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 361. 54 Vgl. http://www.dialog-gesund.de/weg/surf/ges.htm(Stand: 09. 09. 2001). S5 http://www.vdak.de/aufgaben.htm (Stand: 03. 07. 2001). S6 Vgl. zu den Aufgaben und Funktionen des PKV-Verbandes http://www.pkv.de/ verband/verb.htm (Stand: 05. 09. 2001). S7 V gl. Brennecke, Steuerungsprinzipien im Gesundheitswesen, 82. 52 S3

11. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

161

Gesundheitsleistungen wird vorrangig von ambulanten und stationären Versorgungseinrichtungen durchgeführt. Während bei der ambulanten (ärztlichen und zahnärztlichen) Versorgung die betroffenen Patienten für Diagnose und Therapie ihren Alltag und ihr Wohnmilieu nicht verlassen müssen, erfolgt bei der stationären Versorgung die Behandlung, Pflege, Unterkunft und Verpflegung in eigens dafür errichteten Institutionen (Krankenhäusern / Kliniken). Herausragende Charakteristika für die ambulante Versorgung sind, dass diese in erster Linie durch niedergelassene, frei praktizierende Kassenärzte / Kassenärztinnen sowie deren Assistenzpersonal erfolgt und dass das Versorgungsangebot durch die Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen sichergestellt wird. 58 Hingegen sind im stationären Sektor die Ärzte/ Ärztinnen angestellt, wenn sie nicht eine Privatklinik betreiben und in diesem Sinne selbst als "Gesundheitsunternehmer" tätig sind. 1. Der ambulante Gesundheitsdienst

Arzt und Ärztin nehmen in der medizinischen Gesundheitsversorgung eine Schlüsselposition ein, da sie es sind, zu denen zunächst die Patienten und Versicherten kommen. Die vertrags ärztliche Versorgung - also die Gesundheitsversorgung im System der GKV - umfasst folgende Behandlungsbereiche: Ärztliche Behandlung, zahnärztliche Behandlung einschließlich Zahnersatz und Kieferorthopädie, Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, ärztliche Versorgung bei Schwangerschaft und Mutterschaft, ärztliche Maßnahmen zur Empfängnisverhütung und zur Abtreibung, Rehabilitation, Verordnung von häuslicher Krankenpflege, Verordnung von Arzneimitteln und anderen Heilmitteln, Verordnung von Krankentransport und Krankenhausaufenthalt. 59 Der Ablauf der ambulanten Versorgung entspricht einem Kreislauf, in den Kassenärzte / Kassenärztinnen bzw. Kassenzahnärzte / Kassenzahnärztinnen 60, Versicherte, Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung bzw. Kassenzahnärztliche Vereinigung einbezogen sind. Die in der GKV Versicherten erhalten von ihrer Krankenkasse einen Versicherungsnachweis (Krankenversichertenkarte), mit dem die Versicherten bei Bedarf eine ambulante Versorgungsstätte aufsuchen. Die Ärzte / Ärztinnen führen die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen (Sachleistungen) durch, erhalten vom Kranken aber kein direktes Entgelt, sondern sie reichen die Versicherungsdaten mit den Daten der erbrachten medizinischen Leistungen am Ende eines Quartals an die zuständige Kassenärztliche Vereinigung weiter. Von dort erhalten die Ärzte / Ärztinnen ihr Honorar (Vergütung nach Einzelleistungen). Die Kassenärztliche Vgl. Buchholz, Unser Gesundheitswesen im Überblick, 17. Vgl. Ryll, Andreas, Versorgung mit ambulanten medizinischen Einrichtungen, in: Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheiml München 1998, 544 I 545. 60 Wenn im Folgenden von Ärzten I Ärztinnen gesprochen wird, dann sind in der Regel auch die Berufsgruppe der Zahnärzte I Zahnärztinnen mitangesprochen. 58 59

11 Bohrmann

162

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Vereinigung leitet die Leistungsdaten nach Arztgruppen geordnet an die Kassen weiter, die dann eine Gesamtvergütung an die Kassenärztliche Vereinigung überweisen. 61 Die Ärzte I Ärztinnen und die Krankenkassen haben also nach diesem Modell keine Einzelverträge, sondern Kollektivverträge miteinander abgeschlossen; als Zwischeninstanzen gelten die Kassenärztlichen Vereinigungen, in denen alle Kassenärzte/Kassenärztinnen Pflichtmitglieder sein müssen. 62 Auf die Entwicklung des Kassenarztrechts im Laufe der Entwicklung der sozialstaatlichen Ausgestaltung der GKV wurde bereits im historischen Teil vorliegender Arbeit hingewiesen (B.I). Bei den Kassenärztlichen Vereinigungen handelt es sich um Körperschaften öffentlichen Rechts, die vorrangig folgende Aufgabenfelder haben: 63 • Sicherstellungsauftrag: Im Gebiet einer Kassenärztlichen bzw. Kassenzahnärztlichen Vereinigung - für jedes Bundesland gibt es eine - muss eine ausreichende Anzahl von niedergelassenen Vertragsärzten I Vertragsärztinnen vorhanden und möglichst gleichmäßig verteilt sein. Der Sicherstellungsauftrag verlangt also, dass eine vertragsärztliche Versorgung "rund um die Uhr" garantiert sein muss. • Gewährleistungsauftrag: Die Kassenärztlichen bzw. Kassenzahnärztlichen Vereinigungen haben dafür Sorge zu tragen, dass eine ordnungsgemäße, wirtschaftliche und medizinisch notwendige Leistungserbringung und -abrechnung gewährleistet wird. Weiterhin überwachen sie das ärztliche Verhalten ihrer Vertragsärzte/Vertragsärztinnen und können bei Missständen Verwarnungen, Verweise oder Geldbußen aussprechen. • Interessenvertretung: Als Organisation der Interessenvertretung verhandeln die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Krankenkassen und den anderen Kostenträgern über die Leistungen und Honorare der Vertragsärzte. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung - der Zusammenschluss aller Kassenärztlichen Vereinigungen - schließt mit den Bundesverbänden der Krankenkassen so genannte Bundesmantelverträge ab. Diese regeln auf Bundesebene den Inhalt der Gesamtverträge und bestimmen weiterhin den Umfang der vertragsärztlichen Versorgung mit Leistungsangeboten. 64

Ambulante und stationäre Gesundheitsdienste sind im Wesentlichen abhängig von den andern Akteuren des Gesundheitswesens. Gesundheitspolitische Reformen von seiten des Parlaments bestimmen die gesundheitliche Versorgung mit Gesund61 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 74175; Beske 1Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 117/118; Buchholz, Unser Gesundheitswesen, 18/19. 62 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 75. 63 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 75; Beskel Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 122 - 125; Zdrowomyslaw 1Dürig, Gesundheitsökonomie,

175/176. 64 Vgl. Schell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 44, 81. Vgl. bes. auch §§ 82-86 SGB V.

II. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

163

heitsleistungen. In den letzten zwei Jahren hat der Kampf der Ärzteschaft im Kontext der Diskussion um die Gesundheitsreform 2000 exemplarisch gezeigt, wie hier unterschiedliche Interessen mit zum Teil unversöhnlichen Positionen aufeinandertreffen. So ist die Frage nach der Stellung des Hausarztes beispielsweise nach wie vor ein kritischer Punkt innerhalb der gesundheitspolitischen Diskussion der verschiedenen Akteure. In der Gesundheitsreform 2000 wurde für ein ,,Lotsenmodell" (Stärkung der hausärztlichen Versorgung) geworben, nach dem der Hausarzt den Patienten durch den "Dschungel" des Gesundheitswesens manövriert und ihn im Rahmen seiner "Patientenkarriere" begleitet. Nach diesem Modell erhält der Hausarzt auch eine dokumentarische Funktion. 65 Unklar ist aber, wie weitreichend dieses Modell ist und inwieweit es einen Zwangscharakter einnimmt. 66 Die Kassenärztliche Bundesvereinigung lehnt aber ein "Primärarztsystem im Sinne einer verpflichtenden Inanspruchnahme eines Hausarztes mit einer grundsätzlichen Beschränkung des unmittelbaren Zugangs zur fachärztlichen Versorgung,,67 ab. Ärztliche Tatigkeiten, die im Rahmen der Versorgung mit Gesundheitsleistungen erbracht werden, sind nur in begrenzter Form unter marktwirtschaftlichen Bedingungen interpretationsfahig. Wahrend beim einfachen Marktmodell Angebot und Nachfrage direkt aufeinander bezogen sind und in der Regel nur Anbieter und Nachfrager von Gütern das Marktgeschehen konstituieren (Zwei-AggregateModell), ist die Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt weitaus schwieriger und komplexer. Philipp Herder-Dorneich geht in seiner gesundheitsökonomischen Analyse von einer Funktionstrennung aus. 68 Nach der 65 ,,zur Vermeidung von DoppeJuntersuchungen und überflüssigen Behandlungen soll der Hausarzt die gesamte Behandlung dokumentieren, nicht nur die Schritte, die er selbst leistet. Dazu muss die Kommunikation zwischen ihm und den an der Behandlung beteiligten Fachärzten, Krankenhäusem und weiteren Einrichtungen der medizinischen Versorgung verbessert werden, z. B. durch zeitnahe Übermittlung von Befunden und Berichten. Für den Facharzt ist es wichtig, dass er von den sonstigen Erkrankungen des Patienten erfahrt und diese berücksichtigen kann." Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheitsreform 2000. Informationen zum Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreform 2000), Januar 2000, 7. Vgl. auch SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.), Gesundheit. Unser wertvollstes Gut - und bezahlbar, Gesundheitsstrukturreform 2000, Berlin 1999, 8/9. 66 Der neue Passus mit der Überschrift "Versichertenbonus in der hausärztlichen Versorgung" innerhalb des Sozialgesetzbuches lautet wie folgt: "Die Krankenkasse kann in ihrer Satzung bestimmen, unter welchen Voraussetzungen ein Versicherter, der sich verpflichtet, vertragsärztliche Leistungen außerhaJb der hausärztlichen Versorgung nur auf Überweisung des von ihm gewählten Hausarztes in Anspruch zu nehmen, Anspruch auf einen Bonus hat. In der Satzung kann bestimmt werden, welche Facharztgruppen ohne Überweisung in Anspruch genommen werden können. Die Höhe des Bonus richtet sich nach den erzielten Einsparungen." § 65a SGB V. 67 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg.), Eckpunkte für eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik Deutschland aus kassenärztlicher Sicht. Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Köln 1998,20. 68 Vgl. Herder-Domeich, Gesundheitsökonomik, 153. Vgl. dazu auch Zdrowomyslaw/ Dürig, Gesundheitsökonomie, 55/56.

11*

164

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Nicht-Markt-Struktur (vgl. Abb. 4) stehen sich zwar Anbieter und Nachfrager auch gegenüber, doch erfolgt die Nachfrage nach dem Gut Gesundheit nur in einem eingeschränkten Sinne durch die Patienten. Auch wenn die Patienten formal die Nachfrager sind, bleiben sie nach einem materialen Verständnis auf die Definitionsmacht der Anbieter verwiesen. Gleichwohl sind die Patienten dort Nachfrager, wo sie sich für einen Arztbesuch entscheiden. Auch sind die Konsumenten nicht die Zahler, das sind die Krankenkassen. 69 Und schließlich reguliert nicht der Preis das Angebot und die Nachfrage. Zusammenfassend kann man sagen, dass die drei Nachfragefunktionen "Nachfrage" (N), "Konsum" (K) und "Zahlung" (Z) demnach auf unterschiedliche Gruppen verteilt sind; das "Angebot" (A) hängt von unterschiedlichen Nachfragern ab.

Quelle: Nach Herder·Domeich. Gesundheitsökonomik, 153.

Abbildung 4: Funktionstrennung auf dem Gesundheitsmarkt

Anhand der dargestellten Funktionstrennung, die für die Versorgung mit Gesundheitsleistungen im Kontext der GKV charakteristisch ist, wurde bereits deutlich, dass Angebot und Nachfrage bzw. Produktion und Konsum von Gesundheitsleistungen mit den Regeln der Marktwirtschaft nur schwer kompatibel sind. 69 Andererseits können die Konsumenten von Gesundheitsleistungen in gewisser Weise sehr wohl als Zahler identifiziert werden, da sie Versicherungsbeiträge entsprechend ihrer Einkommenshöhe an die Krankenkassen zahlen. Die Besonderheit dieser Zahlungsweise liegt aber im solidarisch finanzierten Versicherungswesen begründet. Hier herrscht das Sachleistungsprinzip und nicht das Äquivalenzprinzip. An dieser Stelle darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass direkte Zahlungen auf dem Gesundheitsmarkt im Sinne von bestimmten Zuzahlungen vonseiten der Versicherten stattfinden (z. B. Arzneimittel, Zahnersatz, Krankenhausgeld).

11. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

165

Vor diesem Hintergrund ist im Weiteren zu klären, inwieweit die bereits herausgestellten Voraussetzungen für den idealtypischen Wettbewerb, nämlich (1) Produktionsfreiheit und Konsumfreiheit, (2) freier Marktzugang, (3) Pluralität der Marktteilnehmer und (4) Markttransparenz, auch auf dem besonderen Markt bzw. Teilmarkt des Gesundheitswesens zutreffen. Wie schon dargelegt, ist die Konsumfreiheit der Patienten eingeschränkt. Dieser Umstand liegt in der Besonderheit des Gutes Gesundheit, da die Patienten - sofern sie noch kein medizinisches Beratungsgespräch geführt und noch keine eigenen Infonnationen eingeholt haben - in den meisten Fällen nur in eingeschränkter Fonn zu rationalen Entscheidungsprozessen fähig sind. Auf dem Gesundheitsmarkt scheint die Rede vom "souveränen Konsumenten", der autonom seine Konsumwahl treffen kann, unangebracht zu sein, wie viele Gesundheitsökonomen betonen. 7o Im Zustand der Krankheit ist der Mensch zum einen gar nicht fähig, souveräne Entscheidungen zu treffen. Zum anderen - und dieses Argument dürfte wohl noch gewichtiger sein - ist die Konsumentensouveränität auch deshalb eingeschränkt, da der Patient in der Regel seine Krankheit weder selbst diagnostizieren noch therapieren kann; es fehlt ihm meist das nötige Fachwissen. Deshalb ist er auf professionelle Hilfe angewiesen. Man kann hier von einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Arzt I Ärztin und Patienten sprechen. Besonders die medizinische Soziologie hat in diesem Zusammenhang auf die Besonderheiten der Arzt- und Krankenrolle hingewiesen. 71 Fehlende Konsumentensouveränität und Asymmetrie der Infonnationen tragen dazu bei, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen vom Angebot bestimmt wird; die Anbieter können folglich die nachgefragte Menge über das medizinisch notwendige Maß steigern. 72 Doch nicht nur die Nachfrage- bzw. Konsumfreiheit aufseiten der Patienten ist eingeschränkt, sondern ebenso auch die Produktionsfreiheit. Ärzte I Ärztinnen (in besonderer Weise die Kassenärzte I Kassenärztinnen) sind z. B. an bestimmte Behandlungsmethoden gebunden, die in den Leistungskatalogen der Krankenkassen enthalten sind. In diesem Sinne ist die Therapiefreiheit bzw. die Freiheit der Angebotsstruktur eingeschränkt. Zudem kommen unterschiedliche Fonnen der Kostenüberwachung hinzu (z. B. Budgetierung), die ebenfalls die Therapiefreiheit eingrenzen. Die ambulante Gesundheitsversorgung ist in 70 Vgl. Breyer; Friedrichi Zweifel, Peter, Gesundheitsökonomie, Berlin u. a. 2 1997, 156/157; Schulenburg, Matthias Graf von der/Greiner; Wolfgang, Gesundheitsökonomie, Tübingen 2000, 64/65. Allerdings sollte auch nicht übersehen werden, dass sich die Rolle des Patienten in den letzten Jahren bereits zum Teil gewandelt hat. Inzwischen rückt der kritische bzw. mündige Patient als Verbraucher immer mehr ins Blickfeld der gesundheitswissenschaftlichen Forschung. Vgl. Reibnitz, Christine von 1Schnabel, Peter-Ernstl Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim 1München 2001. 71 Vgl. Heim, Arzt und Patient, 99-103; besonders auch Parsons, Talcott, Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a.M. 1968, 411 - 414. Vgl. insgesamt auch die soziologischen Aussagen unter A.1.4. 72 Vgl. Oberenderl Hebbom, Wachstumsmarkt Gesundheit, 57; Schmidt, Peter, Mehr Markt und Wettbewerb. Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung muss aber bewahrt werden, in: Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 7 12001, 6.

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

166

diesem Sinne hochgradig detenniniert von der gesundheitspolitischen Gesetzgebung. Freier Marktzugang, der für die Marktwirtschaft kennzeichnend ist, wird im Gesundheitswesen erschwert. Zum einen wird der Zugang zum Medizinstudium mittels des Numerus clausus geregelt und zum anderen bedarf es einer Zulassung von der Kassenärztlichen Vereinigung, um als Kassenarzt / Kassenärztin in einer bestimmten Region tätig werden zu können. Da die Zulassung zum Vertragsarzt / zur Vertragsärztin von Verhältniszahlen abhängig ist, kann es in überversorgten Gebieten zu Zulassungsbeschränkungen kommen. 73 Aufgrund dieser Regelungen wird die freie Berufsausübung der Ärzte / Ärztinnen stark begrenzt. Von einer Pluralität der Marktteilnehmer im Sinne von Gesundheitsproduzenten und Gesundheitskonsumenten ist im Gesundheitswesen auszugehen. Auf dem Markt der ambulanten Versorgung gibt es eine Vielzahl von Ärzten / Ärztinnen als Anbieter sowie eine Vielzahl von Patienten/Versicherten als Nachfrager im herkömmlichen Sinne. 74 Markttransparenz, als weitere wichtige idealtypische Voraussetzung für Wettbewerb und Marktwirtschaft, kann auf dem Gesundheitsmarkt nur in sehr begrenzter Weise festgestellt werden. Ähnlich wie bei der eingeschränkten Konsumsouveränität schon dargelegt, ist der Markt für den Laien kaum zu durchschauen. 75 Diese Intransparenz liegt aber nicht nur an der Laienrolle, sondern vor allem auch daran, dass Patienten nicht die Möglichkeit haben, Qualitätsurteile bzw. Infonnationen über alternative ärztliche Behandlungsweisen direkt einzuholen. Die Beurteilung einer Behandlungsmethode und die fachliche Kompetenz des Arztes lassen sich in vielen Fällen erst nach der Inanspruchnahme der ärztlichen Leistung abgeben. Als weiteres Problem für die mangelnde Transparenz ist die eingeschränkte Werbung zu nennen, die Leistungs- und Produktvergleiche zum großen Teil erschwert. 76 2. Der stationäre Gesundheitsdienst

Neben der ambulanten Versorgung mit Gesundheitsleistungen bildet die stationäre Gesundheitsversorgung das zweite wichtige Fundament der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. Bei der stationären Versorgung ist zwischen einer vollstationären, teilstationären, vor- und nachstationären Behandlung zu unterscheiden. 77 In besonderen Fällen, etwa Notfällen oder Versorgungen am Wochenende bzw. an Feiertagen, ist auch eine ambulante Gesundheitsversorgung in stationären Gesundheitsversorgungsinstitutionen möglich. Stationäre Einrichtungen der Gesundheitsversorgung sind entweder Krankenhäuser oder Vorsorge- oder Rehabilita73 74 75 76 77

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Beskel Hallauer. Gesundheitswesen in Deutschland, 124-128. Herder-Domeich. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 252. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 253. zum Thema "Werbung im Gesundheitswesen" den Exkurs in EJII. Bäcker. Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 86.

II. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

167

tionseinrichtungen. Krankenhäuser sind soziale Institutionen des Gesundheitswesens, in denen die Vertreter der verschiedenen Gesundheitsdienstberufe (vgl. C.II.3) Patienten mit Hilfe moderner medizinisch-technischer Geräte zu behandeln und zu heilen versuchen. Herausragende Kriterien für eine Behandlung im Krankenhaus sind, dass die Patienten unter ständiger Beobachtung der medizinischen Gesundheitsdienstberufe stehen, die Krankheitsbehandlung mit der jeweils modernsten Technik betrieben wird und die medizinische Hilfe rund um die Uhr zur Verfügung steht. In § 107 Abs. I SGB V wird die Institution des Krankenhauses wie folgt beschrieben: "Krankenhäuser im Sinne dieses Gesetzbuchs sind Einrichtungen, die 1. der Krankenhausbehandlung oder Geburtshilfe dienen, 2. fachlichmedizinisch unter ständiger ärztlicher Leitung stehen, über ausreichende, ihrem Versorgungsauftrag entsprechende diagnostische und therapeutische Möglichkeiten verfügen und nach wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten, 3. mit Hilfe von jederzeit verfügbarem ärztlichem, Pflege-, Funktions- und medizinisch-technischem Personal darauf eingerichtet sind, vorwiegend durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten der Patienten zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten, Krankheitsbeschwerden zu lindern oder Geburtshilfe zu leisten, und in denen 4. die Patienten untergebracht und verpflegt werden können.,,78 Weiterhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass Krankenhäuser nicht nur Institutionen der stationären Gesundheitsversorgung sind, sondern zum großen Teil auch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung des medizinischen Personals sorgen. Hinzukommt ferner, dass Krankenhäuser zugleich auch Einrichtungen der medizinischen Forschung sind. 79 Im Unterschied zu Krankenhäusern versteht der Gesetzgeber unter Vorsorgeoder Rehabilitationseinrichtungen Institutionen, die ,,1. der stationären Behandlung der Patienten dienen, um a) eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen oder einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken (Vorsorge) oder b) eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern oder im Anschluß an Krankenhausbehandlung den dabei erzielten Behandlungserfolg zu sichern oder zu festigen, auch mit dem Ziel, einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie nach Eintritt zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten (Rehabilitation), wobei Leistungen der aktivierenden Pflege nicht von den Krankenkassen übernommen werden dürfen, 2. fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal darauf eingerichtet sind, den Gesundheitszustand der Patienten nach einem ärztlichen Behandlungsplan vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeits- und Beschäftigungstherapie, ferner durch andere geeignete Hilfen, auch durch geistige 78 79

§ 107 Abs. 1 SGB V. V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 373 - 377, 352 - 358.

168

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

und seelische Einwirkungen, zu verbessern und den Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen, und in denen 3. die Patienten untergebracht und verpflegt werden können. ,,80 Die Institution Krankenhaus ist ein zentraler Bestandteil des Gesundheitswesens und demzufolge Teil einer Versorgungskette, deren oberstes Ziel es ist, auf die Gesundheit der Bevölkerung positiv einzuwirken. Am Beginn einer Behandlung steht in der Regel die ambulante Versorgung, wenn nicht ein akuter Krankheitsfall eine sofortige Einweisung in ein Krankenhaus nötig macht. Demzufolge ist der stationäre Versorgungsbereich zunächst von der konkreten Einweisungspraxis der Ärzteschaft abhängig. Wie bereits unter C.ll.l gezeigt werden konnte, sind die Ärzte / Ärztinnen die eigentlichen Nachfrager nach Gesundheitsleistungen, da ihre Definitionsmacht entscheidet, welche Heilbehandlung von den Patienten "konsumiert" wird. Diese Nachfragefunktion aufseiten der Ärzteschaft hat besonderes Gewicht in der Krankenhausbehandlung. Nach der ambulanten Versorgung folgt die stationäre Versorgung, an die sich wiederum die Rehabilitation und die pflege anschließt. 81 Die mangelnde Verzahnung zwischen den einzelnen Bereichen der Krankenversorgung ist ein besonderes Problem im Gesundheitswesen. Der ambulante und der stationäre Bereich sind in Deutschland bislang noch strikt voneinander getrennt - Ausnahme bildet die Notfallversorgung. So kommt es beispielsweise zu kostenintensiven und gesundheitlich nicht unproblematischen Mehrfachuntersuchungen. 82 Krankenhäuser werden nach unterschiedlichen Kriterien im Hinblick auf Trägerschaft und Spezialisierung der Krankheitsbehandlung eingeteilt. 83 Drei Krankenhausträger, also jene Personen, Körperschaften und Institutionen, die Krankenhäuser besitzen oder betreiben, lassen sich unterscheiden: Öffentliche, Jreigemeinnützige und private Krankenhäuser. Öffentliche Krankenhäuser werden von Gebietskörperschaften (Bund, Ländern, Kreise, Gemeinden) bzw. von Zweckverbänden betrieben. Die Träger freigemeinnütziger Krankenhäuser sind Kirchen, freie Wohlfahrtsverbände oder auch Stiftungen und Vereine; private Krankenhäuser haben einen privaten Träger, beispielsweise einen Arzt mit einer bestimmten Fachrichtung oder auch eine Kapitalgesellschaft. 84 Neben dieser Differenzierung werden in Deutschland ferner allgemeine und sonstige Krankenhäuser unterschieden. Während allgemeine Krankenhäuser die stationäre Versorgung für Akutkranke oder Patienten mit speziellen Krankheitszuständen verrichten, sind sonstige Krankenhäuser Institutionen des Gesundheitswesen, die auf die Behandlung von z. B. psychiatrisch oder neurologisch Erkrankten ausgerichtet sind. 85 § 107 Abs. 2 SGB V. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 327. 82 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 9l. 83 V gl. Beske 1Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 134. 84 Vgl. BeskelHaliauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 134; ZdrowomyslawlDürig, Gesundheitsökonomie, 163/164. 85 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 327. 80 81

11. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

169

1998 gab es in Deutschland 2.263 Krankenhäuser mit insgesamt 571.625 Betten, davon 1.960 Krankenhäuser (mit insgesamt 476.344 Betten) im früheren Bundesgebiet und 303 Krankenhäuser (mit insgesamt 95.281 Betten) in den neuen Bundesländern. 86 Die Finanzierung der Krankenhäuser, im Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 niedergeschrieben, geschieht mittels eines dualen Systems, bei dem sich die Krankenkassen und die Länder die Kosten teilen. Einerseits werden die Benutzungskosten (Betriebs- und Behandlungskosten) über spezielle Pflegesätze mit den Krankenkassen abgerechnet - die Finanzierung erfolgt durch die Krankenkassenbeiträge -, und andererseits werden die Bereitstellungskosten (Investitionskosten) durch die Länder mittels öffentlicher Förderung getragen - die Finanzierung erfolgt also durch Steuereinnahmen. 87 3. Berujsgruppen

Häufig werden die Erwerbstätigen im Gesundheitswesen, wie es auch im Gesundheitsbericht für Deutschland zur Sprache kommt, in zwei Gruppen eingeteilt: 88 Zum einen gibt es die Erwerbstätigen im Gesundheitswesen im engeren Sinne. Darunter sind jene Personen zu verstehen, die in einem Bereich der ambulanten und stationären Versorgung, beim Rettungsdienst, beim Gesundheitsschutz und in der Verwaltung des Gesundheitswesens beschäftigt sind. Und zum anderen gehören zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen im weiteren Sinne jene Berufsgruppen, die in der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie arbeiten. Dieser letzte Bereich nimmt aber im Gesundheitswesen eine Sonderstellung ein, da er ausschließlich Vorleistungen für die Gesundheitsvorsorgung produziert. Im Jahre 1995 arbeiteten in Deutschland (alte und neue Bundesländer) 4,0 Millionen Erwerbstätige im Gesundheitswesen (entspricht 11,2% aller Beschäftigten). Davon waren knapp 3,8 Millionen im ambulanten und stationären Sektor und 258.000 in der Gesundheitsindustrie beschäftigt. 89 Vor allem den im ambulanten und stationären Bereich Tätigen kommt eine herausragende Rolle im Gesundheitswesen und auch im öffentlichen Bewusstsein zu, da sie es sind, die in der unmittelbaren Pa86 Vgl. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, 6.2. Im Jahre 1995 waren es insgesamt noch 2.325 (mit insgesamt 609.123 Betten) Krankenhäuser, davon 1.990 Krankenhäuser (mit insgesamt 500.206 Betten) in den alten und 335 Krankenhäuser (mit insgesamt 108.917 Betten) in den neuen Bundesländern. Vgl. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000,6.2. 87 Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 88; Blum, Karll Fack-Amuth, Werner G., Versorgung mit stationären und medizinischen Einrichtungen, in: Hurre1mann, Klaus / Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim / München 1998, 566/567. 88 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 367. 89 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 368. Die Zahlen für das Jahr 1995 sind die aktuellsten Daten und beruhen auf Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes, des Mikrozensus und auf Berechnungen, die von den Mitarbeitern des Gesundheitsberichts für Deutschland durchgeführt worden sind ..

170

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

tientenversorgung beschäftigt sind. Die unterschiedlichen Berufsgruppen, die auf diesen beiden Gebieten der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen arbeiten, werden unter dem Begriff Gesundheitsdienstberufe zusarnmengefasst. 90 Der Gesundheitsbericht für Deutschland unterscheidet folgende sechs Gesundheitsdienstberufe, wobei unterschiedliche Berufe nach Art der Ausbildung und nach inhaltlichen Schwerpunktfeldern gebündelt werden: 91 • Akademische Gesundheitsberufe wie Ärzte / Ärztinnen, Zahnärzte / Zahnärztinnen, Tierärzte / Tierärztinnen sowie Apotheker / Apothekerinnen, • Pflegeberufe mit Krankenschwestern und Krankenpflegern, Hebammen / Geburtshelfern, Helfern / Helferinnen in der Krankenpflege, Altenpfleger / Altenpflegerinnen, Heilerziehungspfleger / Heilerziehungspflegerinnen, • nichtärztliche medizinische Berufe mit Heilpraktikern / Heilpraktikerinnen, Physiotherapeuten / Physiotherapeutinnen, Heilpädagogen / Heilpädagoginnen, Ernährungsberatern / Ernährungsberaterinnen, • Assistentinnen / Assistenten mit medizinisch-technischen und pharmazeutischtechnischen Berufen sowie verwandten Berufen, • unterstützende Berufe mit Sprechstundenhelferinnen / Sprechstundenhelfern und Arztsekretärinnen / Arztsekretären, • gesundheitssichernde Berufe, zu denen Gesundheitsingenieure sowie -techniker oder ähnliche Berufe gehören. Betrachtet man die Aufteilung der Erwerbstätigen in den Gesundheitsdienstberufen, dann rallt auf, dass die Pflegeberufe mit rund 1, I Millionen Beschäftigten (entspricht 47,8% aller Gesundheitsdienstberufe) den ersten Rang einnehmen. An zweiter Stelle folgen die unterstützenden Berufe mit 503.000 Erwerbstätigen (22,0%) und an dritter Stelle die akademischen Berufe mit 375.000 Beschäftigten (16,4%). Die Frauenquote beträgt für die gesamten Gesundheitsdienstberufe 73,5% (Im Vergleich dazu liegt die Frauenquote für den Bereich der gesamten Wirtschaft bei 41,9%.). Bei den akademischen Gesundheitsdienstberufen beträgt der Frauenanteil nur 35,6%, während er bei den unterstützenden Berufen 97% und bei den Assistentinnen und Assistenten mit medizinisch-technischen und pharmazeutisch-technischen Berufen bei 90% liegt.

4. Institutionen der Leistungserbringer Im Gesundheitswesen gibt es auf der Seite der Leistungsbringer eine Reihe von Institutionen, die für die Durchsetzung unterschiedlicher Aufträge und Interessen zuständig sind. Diese institutionellen Gebilde, die man als Organe der Selbstver90

91

V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 367. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 369.

11. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen

171

waltung auf einer mittleren Steuerungsebene zwischen Staat, Ärzteschaft und Patienten / Versicherten bezeichnen kann, setzen die rechtlichen Bestimmungen zur Gesundheitsversorgung um. 92 Zum einen handelt es sich dabei um die Kassenärztlichen bzw. Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, die - wie unter C.II.l bereits ausgeführt - verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben (Sicherstellungsauftrag, Gewährleistungsauftrag und Interessenvertretung). Ihre Arbeit berührt lediglich die Gesundheitsversorgung durch die Vertragsärzte / Vertragsärztinnen und Vertragszahnärzte / Vertragszahnärztinnen. Weitere Interessenvertretungen sind die Landes- und Bundesärztekammern. Alle approbierten Ärzte / Ärztinnen und Zahnärzte / Zahnärztinnen müssen kraft Gesetz Pflichtmitglied der Ärztekammer in dem entsprechenden Bundesland werden. Die Kammern haben gemäß Staatsauftrag folgende Aufgaben zu erfüllen: Regelung der Berufspflichten im Rahmen einer Berufsordnung, Regelung der Weiterbildung, Überwachung der Berufspflichten, Vertretung der Berufsinteressen ihrer Mitglieder, Mitwirkung an einer wissenschaftlich hochstehenden Ärzteschaft. 93 Die Bundesärztekammer ist im Gegensatz zu den Landesärztekammern keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. In den Verantwortungsbereich der Bundesärztekammer fallen beispielsweise folgende Aufgaben: Förderung des Erfahrungsaustauschs unter den Landesärztekammern, Schaffung einer möglichst homogenen Regelung der ärztlichen Berufspflichten, Förderung der ärztlichen Fortbildung, Wahrung der beruflichen Belange, die über den Kompetenzbereich eines Bundeslandes hinausgehen. 94 Oberstes Beschlussorgan der Bundesärztekammer ist der Deutsche Ärztetag. Neben den Institutionen, bei denen die Ärzte/ Ärztinnen einer Pflichtmitgliedschaft unterliegen, gibt es ferner weitere ärztliche Interessenverbände bzw. disziplinär ausgerichtete Berufsverbände mit berufspolitischen Zielen, deren Mitgliedschaft allerdings freiwillig ist. 95 Solche Organisationen sind z. B. der Hartmannbund (eine Interessenvertretung aller Ärzte/ Ärztinnen), der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (eine Interessenvertretung der freiberuflich tätigen Ärzte/ Ärztinnen), der Marburger Bund (eine Gewerkschaft, die die Interessen der angestellten und verbeamteten Ärzte / Ärztinnen vertritt), der Verband der leitenden Krankenhausärzte Deutschlands. 96 Ähnliche Verbände und Interessenvertretungen oder auch Arbeitsgemeinschaften gibt es auch für die anderen Gesundheitsdienstberufe, so z. B. für die Pflegeberufe (Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände, Deutscher Berufsverband für Pflege, Arbeitsgemeinschaft V gl. Ryll, Versorgung mit ambulanten medizinischen Einrichtungen, 540. V gl. Beske / Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 220 - 222; Gesundheitsbericht für Deutschland, 15. 94 V gl. Besk 1Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 222. 95 Vgl. Alber, Jens, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Struktur und Funktionsweise, Frankfurt a.M.1 New York 1992, 73/74. 96 V gl. Beske 1 Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 223. 92

93

172

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Leitender Krankenpflegepersonen).97 Diese - doch sehr unterschiedlichen - Verbände der Leistungsanbieter bilden nicht nur einfach eine Interessenvertretung mit internen Regelungs- und Kontrollfunktionen, sondern sie sind auch pressure groups mit konkreten wirtschaftlichen Zielen. Das Berufsethos vor allem der Ärzte I Ärztinnen verlangt, dass der Patient im Mittelpunkt der Heilbehandlung steht und das Ziel jeder Behandlung darauf ausgerichtet sein soll, den Gesundheitszustand wiederherzustellen oder das Leben der Patienten, die eine bestimmte Krankheit haben, erträglicher zu machen. Bei der Diskussion um die ärztliche Honorierung wird aber auch deutlich, dass wirtschaftliche Interessen der Ärzte und Ärztinnen nicht unberücksichtigt bleiben. Aufgrund des in Deutschland vorherrschenden unterschiedlichen Honorierungssystems für die Ärzteschaft stoßen hier verschiedene Interessen aufeinander. Zum einen gibt es einen Konflikt zwischen den Krankenkassen und den Ärzteverbänden um Höhe und Anstieg der Ärzteeinkommen. "Wahrend die Kassen i.d.R. eine Anbindung der Ärzteeinkommen an die Einkommen der Versicherten - und damit an ihre Beitragseinnahmen - anstreben, um einen überproportionalen Kostenanstieg zu verhindern, möchten die Ärzteverbände ihre relativ hohen Einkommen erhalten und diese für eine steigende Zahl von Ärzten sichern.,,98 Ein anderes Konfliktfeld tut sich innerhalb der Ärzte und Ärztinnen auf. Da die verschiedenen Ärztegruppen unterschiedlich honoriert werden - Allgemeinmediziner I Allgemeinmedizinerinnen und Kinderärzte I Kinderärztinnen stehen auf der unteren Einkommensskala, während beispielsweise Radiologen I Radiologinnen auf der obersten Stufe stehen -, kommt es auch hier zu verteilungspolitischen Auseinandersetzungen im Hinblick auf das zur Verfügung stehende Gesamthonorar. 99 Konflikte gibt es auch zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen lehnen einerseits eine institutionelle Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Gesundheitsleistungen ab, andererseits befürworten sie aber, dass sie in den Krankenhäusern in verstärkter Form Gesundheitsdienste anbieten dürfen. 100 IH. Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern

Neben den Institutionen der ambulanten und stationären Versorgung wird die Gesundheitsversorgung auch durch die Produzenten (vor allem Arzneimittelhersteller) und die Distributeure (besonders Apotheken) garantiert. Pharmazeutische Industrie und Apotheken sind dabei für die Gesundheitsversorgung mit unterVgl. Beske I Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 234 - 237. Bäcker; Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 79. 99 Vgl. Bäcker; Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 79. 100 Vgl. Bandelow. Nils c., Gesundheitspolitik. Der Staat in der Hand einzelner Interessengruppen? Probleme, Erklärungen, Refonnen, Opladen 1998,78. 97

98

III. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern

173

schiedlichen Gesundheitsgütern verantwortlich. Der Arzneimittelmarkt ist ein Teilmarkt des Gesundheitsmarktes, bei dem eine Reihe von Besonderheiten für Arzneimitte1klassifikation und Distributionswege anzutreffen sind. Charakteristisch für diesen Markt ist, dass die Nachfrage von pharmazeutischen Gütern einerseits von rechtlichen Rahmenbedingungen abhängig ist lOl und andererseits von der Verschreibungspraxis der Ärzte / Ärztinnen, die - wie oben skizziert wurde - als die eigentlichen Nachfrager nach Gesundheitsleistungen identifiziert werden müssen. 102 Für die ordnungsgemäße Distribution der Arzneimittel an die Verbraucher und Verbraucherinnen sorgen die Apotheken. Es können vier Arten der humanpharmazeutischen 103 Mittel unterschieden werden: 104 • rezeptpflichtige (verschreibungspflichtige) Mittel, • apothekenpflichtige Mittel, • freiverkäufliche Mittel und • Betäubungsmittel. Freiverkäufliche und freiverkäufliche, aber apothekengebundene Arzneimittel gehören zu den so genannten OTC-Präparaten (over the counter) und fallen somit in den Bereich der Selbstmedikation. 105 1997 wurden mit OTC-Produkten 16,1 Milliarden Mark umgesetzt. 106 Die aufgezählte Differenzierung des Arzneimittelmarktes macht deutlich, dass es keinen einheitlichen Pharmamarkt gibt, sondern dass dieser Markt aus verschiedenen Submärkten besteht. Produktdistribution (Ort des Verkaufs), Kostenträger (Krankenkassen und/ oder Patient)107 und Abgabemodus (entweder mit oder ohne Rezept) sind hierfür die entscheidenden Klassifizierungsmerkmale. 108 Ein Teilmarkt bildet der Generika-Markt, der für die Struktur 101 Arzneimittel unterliegen einem speziellen Zulassungsverfahren, über das das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Berlin) und das für Sera und Impfstoffe zuständige Paul-Ehrlich-Institut (Langen) wachen. Beide Institute sind dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordnete Bundesbehörden. Vgl. Beske / Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 158. 102 V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 347/348. 103 Veterinännedizinische Präparate werden hier nicht näher berücksichtigt, da vorliegende Arbeit sich ausschließlich mit dem Gesundheitswesen im Hinblick auf den Menschen beschäftigt. Gleichwohl gibt es zahlreiche veterinännedizinische Präparate, die den Menschen betreffen können (Nahrungskette). 104 Vgl. Beske / Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 160; Zdrowomyslaw / Dürig, Gesundheitsökonomie, 196/197. 105 Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Pharma Daten '98, Frankfurt a. M. 1998, 10. 106 Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 10. 107 Es werden nicht alle Kosten für die vom Arzt verordneten Arzneimittel von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. In einer so genannten Negativliste sind jene Produkte aufgeführt (z. B. Mittel gegen Erkältungskrankheiten, Abführmittel, Mund- und Rachentherapeutika), die von der Leistungspflicht der Kassen nicht berücksichtigt werden. Vgl. Bäcker; Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 80. 108 Vgl. Zdrowomyslaw / Dürig, Gesundheitsökonomie, 196.

174

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

der Pharmaindustrie eine zentrale Rolle einnimmt. Generika sind Nachahmerpräparate, die die gleichen Wirkstoffe enthalten wie die Originalprodukte. Wesentlicher Unterschied ist aber, dass solche Nachahmerprodukte preiswerter sind und somit einen gewissen Konkurrenzdruck auf die ursprünglichen Anbieter ausüben. Generika können allerdings erst nach 20 Jahren in den pharmazeutischen Handel kommen, da nach dieser Zeitspanne der Patentschutz abgelaufen ist. 109 Dabei kann sich dieser Patentschutz auf einen neuen Inhaltsstoff, auf einen bekannten, aber erstmalig als Arzneimittel verwendeten Stoff, und auf das Produktionsverfahren erstrecken. Auch wenn davon die Rede ist, dass der Patentschutz 20 Jahre beträgt, so dauert die tatsächliche Nutzungszeit für ein neues Arzneimittel lediglich durchschnittlich acht Jahre. Der im Vergleich zum gesamten Patentschutz relativ kurze Zeitrahmen der Nutzung durch den Verkauf ergibt sich daher, weil ein Patent bereits zu Beginn der Forschung angemeldet wird. Während also ein Pharmaunternehmer bereits über das Patentrecht verfügt, müssen aufwendige Studien für die Zulassung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte betrieben werden. 110 Der Markt für Arzneiprodukte ist jener Teil des Gesundheitswesens, bei dem trotz starker Reglementierungen und Wettbewerbssteuerungen marktwirtschaftliche Strukturen vorhanden sind. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie urteilt über die marktwirtschaftlichen Elemente wie folgt: "Auf dem Arzneimittelmarkt findet, bedingt durch die große Zahl der Anbieter, ein intensiver Wettbewerb statt. Die Arzneimittelhersteller konkurrieren dabei im wesentlichen über den Preis miteinander. Elemente des Wettbewerbs sind aber auch die Qualität der Produkte, Neuentwicklungen und Verbesserungen bekannter Arzneimittel, die Information und Fortbildung des Arztes, das Serviceangebot der verschiedenen Unternehmen und die Werbung."l1l Ein "stürmischer Verdrängungswettbewerb,,112 findet vor allem auf dem Markt für Generika statt. Der Marktanteil der Generikaprodukte auf dem Arzneimittelmarkt der GKV stieg (bezogen auf die Anzahl der verordneten Packungen) in den alten Bundesländern im Jahre 1988 mit 34,6% auf 53,9% im Jahre 1997 an. 1I3 Kennzeichnend für die marktwirtschaftliche Ordnung ist die Markttransparenz, die durch geeignete Informationen hergestellt werden kann. Hier setzt die Kommunikationspolitik von Pharmaunternehmen ein. Bei Werbemaßnahmen für Arzneimittel werden unterschiedliche Adressaten angesprochen: 114 So ist die Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel nur für jene Personenkreise aus dem Gesundheitswesen erlaubt, die befugt sind, auch solche Mittel zu verordnen oder mit ihnen Handel zu treiben (Ärzte / Ärztinnen, Apothe109

llO III ll2

113 114

Vgl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 83. Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 62. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 10. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 12. Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 12. Vgl. hierzu den werbeethischen Exkurs in E.III.

III. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern

175

kerschaft, pharmazeutischer Großhandel). Für den Endverbraucher ist es nur schwer möglich, Informationen über diese Produktgattungen (besonders hinsichtlich neuer Arzneimittel) zu erhalten. Publikumswerbung ist allerdings für rezeptfreie und freiverkäufliche Arzneimittel erlaubt. 115 Nicht zu unterschätzen ist die individuelle Werbung für pharmazeutische Produkte von professionellen PharmaberaternY6 Die Markttransparenz ist also im Wesentlichen abhängig von der rahmengebenden Werbepolitik. Die Versorgung mit Gesundheitsgütern erfolgt aber nicht nur mittels humanpharmazeutischer Produkte (durch die pharmazeutische Industrie), sondern auch durch die Hersteller von Heil- und Hilfsmitteln sowie durch die medizintechnische Industrie. 117 Unter Heilmitteln versteht man Sach- und Dienstleistungen, die zur "Behandlung, Besserung, Linderung oder Verhütung einer Krankheit eingesetzt und im Vergleich zu Arzneimitteln überwiegend äußerlich angewendet werden, z. B. Maßnahmen der physikalischen Therapie und der Sprach- und Sprechtherapie.,,118 Wenn im Gesundheitswesen von Hilfsmitteln die Rede ist, dann meint man damit "Sachleistungen wie Körperersatzstücke oder orthopädische und andere Hilfsmittel, die einer drohenden Behinderung vorbeugen, den Erfolg der Heilbehandlung sichern oder eine Behinderung ausgleichen [ ... ]. Ferner zählen zu den Hilfsmitteln Brillen, andere Sehhilfen und Krankenfahrstühle."u9 Häufig sind mit den Hilfsmittelproduzenten auch die Einrichtungen des Gesundheitshandwerks gemeint. l2O Im Jahre 1996 (1995) wurden für 18,4 (16,8) Millionen Mark Heil- und Hilfsmittel zu Lasten der GKV verordnet. 121 Einen weiteren Industriezweig innerhalb des Gesundheitswesens bildet die Medizintechnik. Darunter versteht man die "Anwendung der Technik als Hilfsmittel ärztlicher Kunst. Sie konkretisiert sich in der Gesamtheit der Gegenstände, die von der Technik (Herstellern) geschaffen werden und die der technisch angewandten Medizin dienen.,,122 Medizintechnische Produkte sind beispielsweise medizinische Untersuchungsgeräte, ärztliche und zahnärztliche Instrumente und elektromedizinische Röntgeneinrichtungen. 123 Wettbewerb auf dem Markt mit Gesundheitsgütern wird vor allem dadurch erschwert, dass - neben der grundsätzlichen Problematik der Intransparenz auf dem Arzneimittelmarkt - die staatliche Gesundheitspolitik diesen ökonomischen Teilmarkt im Hinblick auf Arzneimittelpreise, verordnete Mengen und Art der zuge lasVgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 13. V gl. Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 84. 117 In der Literatur wird häufig nicht immer eine scharfe Trennung zwischen dem Bereich der Heil- und Hilfsmittel und dem der medizintechnischen Produkte gezogen. 118 Beske I Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 173. 119 Beske I Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 173. 120 V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 323 - 326. 121 Vgl. Beske I Hallauer, Gesundheitswesen in Deutschland, 174. 122 Zdrowomyslaw I Dürig, Gesundheitsökonomie, 201. 123 Vgl. Zdrowomyslawl Dürig, Gesundheitsökonomie, 203. 115

116

176

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

senen Präparate stark reglementiert. 124 Aufgrund der Festlegung apothekenpflichtiger Arzneimittel ist beispielsweise ein Preiswettbewerb der Apotheken untereinander für diese Produkte nicht möglich. Weiterhin gilt das freie Unternehmertum nicht für Apotheker / Apothekerinnen. Ihnen ist es verboten, mehrere Apotheken zu betreiben (Mehrbesitzverbot). Effizient arbeitenden Apotheken wird es somit verwehrt, Filialen zu eröffnen und in verstärkter Form unternehmerisch tätig zu sein. Ähnlich wie die Akteure der Leistungserbringer sind auch die Produzenten und Distributeure von Gesundheitsgütern in verschiedenen Verbänden zusammengeschlossen. So gehören beispielsweise alle Apotheker / Apothekerinnen einer Landesapothekerkammer an. Auch hier herrscht - wie bei den Landesärztekammern - Zwangsmitgliedschaft. Im Hinblick auf administrative Belange besitzen die Landesapothekerkammern Weisungsrecht und Berufsgerichtbarkeit gegenüber den Mitgliedern; sie achten auf die Einhaltung der Berufsordnung und der StandesregeIn. Weiter sind die Landesapothekerkammern als Berater für Behörden in Fragen des Apotheken- und Arzneimittelwesens tätig und haben somit wie alle Verbände und Standesvertretungen in mehr oder weniger starker Ausprägung Anteil am ordnungspolitischen Prozess. Die Landesapothekerkammern haben sich in einer Bundesapothekerkammer zusammengefunden, in der die unterschiedlichen Erfahrungen und Arbeiten der einzelnen Landesapothekerkammern gebündelt werden. Zudem werden hier die bundeslandübergreifenden Angelegenheiten verhandelt. 125 Die Interessenvertretung der Pharmazeutischen Industrie ist der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, der die rund 300 in ihm zusammengeschlossenen Mitgliedsfirmen nach außen (vor allem auf Bundes- und EuropaEbene) vertritt. 126 Pharmazeutische Unternehmen bzw. Unternehmen, die medizintechnische Geräte und medizinische Hilfsmittel herstellen, sind Wirtschaftsunternehmen, die Güter produzieren, um Gewinne zu erzielen. Einerseits wollen diese Unternehmen Bedürfnisse befriedigen, die an einen bestimmten gesundheitlichen Mangelzustand anknüpfen. Die Sorge um den Verbraucher (Patienten) ist demnach ein wichtiger Antrieb für die Unternehmensaktivitäten. Andererseits bewegen sich die Akteure der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie innerhalb marktwirtschaftlicher Strukturen, für die das Gewinnprinzip konstitutiv ist. Wettbewerb und Gewinnmaximierung sind die zentralen Ideen einer leistungsfähigen Wirtschaft, die sich als Innovativwirtschaft versteht. Das Ziel jedes Wirtschaftsunternehmens besteht darin, sich am Markt gegen die zahlreichen Mitbewerber zu behaupten und bessere, preisgünstigere und innovative Produkte zu etablieren. Der Wettbewerb schafft Ansporn und die Motivation, den Verbraucher zu umwerben. Der ethische Sinn des Marktes darf aber nicht in Frage gestellt werden, wie bereits an anderer 124 125 126

Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 313 / 314. Vgl. Beske / Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 228/229. Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, 91-94.

111. Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern

177

Stelle dieser Arbeit dargelegt wurde. Die marktwirtschaftliche Ordnung ermöglicht die Selbstentfaltung der Wirtschaftssubjekte und strebt nach optimaler Bedürfnisbefriedigung. Gewinnmaximierung als leitende Idee des Marktes prägt also auch die pharmazeutische und medizintechnische Industrie. Die Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern produzieren Güter, die die Leistungserbringer bzw. die Verbraucher (Patienten / Versicherte) "nachfragen" sollen. Politische Bemühungen, die die Wettbewerbs struktur einzuschränken versuchen, führen daher immer zu kritischen Stimmen. Gesundheitspolitische Entscheidungen, die die Angebotsstruktur der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrieunternehmen betreffen und eine Nachfragereduktion der Produkte zur Folge haben können, fordern deshalb den Protest der Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern heraus. Die Diskussion um die Positivliste zeigt dies exemplarisch: Während die Positivliste - eine Zusammenstellung von verordnungsfähigen und wirksamen Arzneimitteln innerhalb der vertragsärztlichen Gesundheitsversorgung l27 - im Rahmen der vorgestellten Gesundheitsreform 2000 von der früheren Bundesgesundheitsministerin Fischer befürwortet wurde 128 , lehnten der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. v. 129 sowie Teile der Opposition 130 diesen Vorschlag ab. l3l Für die Patienten bedeutet die Positivliste eine Form der Rationierung, da ihnen bestimmte Arzneimittel vorenthalten werden. Und für die Ärzte / Ärztinnen wird durch die Listenmedizin ihre Therapiefreiheit eingeschränkt. Bei der Diskussion um die Positivliste darf nicht unerwähnt bleiben, dass Arzneimittel bereits von einer Bundesbehörde zugelassen worden sind. Bei dem Zulassungsverfahren wird die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der jeweiligen Mittel geprüft. Aus diesem Grund muss man davon ausgehen, dass der Wirksamkeitsnachweis bereits bei der Zulassung erbracht wurde und nur wirksame Arzneimittel, d. h. therapeutisch sinnvolle, auf den Gesundheitsmarkt gelangen. Eine Positiv liste würde sich somit erübrigen. Andernfalls müsste man das Zulassungsverfahren modifizieren.

127 "Durch die ,Positivliste' soll sichergestellt werden, dass den sozialversicherten Patienten zu Lasten ihrer Kassen nur zugelassene Arzneimittel verschrieben werden, für die ,ein mehr als geringfügiger therapeutischer Nutzen' nachgewiesen worden ist." http: //www.bpi.de/internet/vielfalt/03.htm (Stand: 03. 07. 2001). 128 Vgl. Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit, Gesundheitsreform 2000,12/13. 129 Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V., bpi-Jahresbericht 1998/99, Frankfurt a.M. o.J., 73. 130 Vgl. CSU-Kommission "Für eine sozial gerechte Gesundheitsreform", Diskussionspapier, München 29.11. 1999,2. 131 Anders dagegen der Sozialethiker Schramm, der die Positivliste als sinnvolle Maßnahme versteht, Kosten für den Arzneimittelkonsum einzusparen. Vgl. Schramm, Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, 241.

12 Bohrrnann

178

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

IV. Akteure der freien Wohlfahrtspflege

Unter den Akteuren der freien Wohlfahrtspflege versteht man jene Leistungserbringer, die im Sozial- und Gesundheitswesen auf freigemeinnütziger Basis und in institutionalisierter Form gesundheitserhaltende und gesundheitsfördernde Dienste anbieten. 132 Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sind Träger von Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens und können allesamt als Weltanschauungsverbände bezeichnet werden, die die angestrebten Aufgaben auf der Grundlage einer bestimmten weltanschaulichen Perspektive ausüben. I33 Die Organisationen der freien Wohlfahrtspflege haben sich in sechs Spitzenverbänden zusammengeschlossen: • Arbeiterwohlfahrt (AWO), gegründet 1919; • Deutscher Caritasverband (DCV), gegründet 1897; • Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Der PARITÄTISCHE), gegründet 1924; • Deutsches Rotes Kreuz (DRK), gegründet 1869; • Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (DW), gegründet 1849; • Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), gegründet 1917. 134 Die einzelnen Organisationen sind wiederum in der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege" vertreten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft als ein zentraler Interessenverband vertritt die Gesamtinteressen gegenüber dem Staat und der Öffentlichkeit und wirkt zudem beratend an der Gestaltung der Gesundheitsund Sozialpolitik mit. 135 Die Finanzierung der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege erfolgt durch Leistungsentgelte, öffentliche Zuwendungen und Eigenleistungen (z. B. Mitgliedsbeiträge, Spenden). 136 Zum einen sind die Wohlfahrtsverbände Mitgliedsverbände, zum anderen Interessenverbände, die sich besonders der in der Gesellschaft Benachteiligten annehmen und sich für die Teilhabe aller am sozialen Leben einsetzen. Darüber hinaus sind sie (gemeinnützige) Dienstleistungsunternehmen mit eigenen Unternehmensstrategien, wenngleich sie sich aber nicht ausschließlich an der reinen Logik des Marktes orientieren, sondern zum großen Teil ihrer weltanschaulichen Überzeu132 Vgl. die Internetpräsenz der freien Wohlfahrtsverbände in: http://www.freiewohlfahrts pflege.del gerrnanl (Stand: 05. 09. 2(02). 133 Vgl. Bock, Teresa, Wohlfahrtsverbände, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,781. 134 Vgl. Schmid, Josef, Wohlfahrtsverbände in modemen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in historisch-vergleichender Perspektive, Opladen 1996, 18 - 21. 135 Vgl. Beske I Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 246/247. 136 Vgl. http://wwwJreiewohlfahrtspflege.de/gerrnan/ (Stand: 05. 09. 2(02).

V. Laien- und Selbsthilfeorganisationen

179

gung fOlgen. 137 Folgende Dienste bilden die Schwerpunktfelder der Organisationen: Behindertenpflege; Altenpflege und -hilfe; Familienhilfe und -pflege; Pflege von Kranken im Rahmen der stationären Versorgung; Betreuung von ambulanten Pflege- und Sozialstationen; Beratung von Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten; Bereitstellung von Rettungsdiensten; Führung von Aus-, Fortund Weiterbildungsstätten für soziale und pflegerische Berufe; weltweite Not-, Katastrophen- und Aufbauhilfe. 138 Die Aufzählung der spezifischen Aufgabenfelder macht deutlich, dass die Institutionen der Wohlfahrt sowohl ambulante als auch stationäre Gesundheitsdienste ausüben und in diesem Sinne in direkter Weise als Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen in Erscheinung treten. Trotz ihrer Charakterisierung als Dienstleistungsunternehmen kommt ihnen im Gefüge des Gesundheitswesens eine Sonderstellung zu. Zum einen orientieren sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an den professionellen Standards, Verfahren und Normen der im Gesundheitswesen agierenden Berufsgruppen und üben somit selbst spezielle Gesundheitsdienstberufe aus. Zum anderen orientieren sie sich aber ebenso an den Standards und Leitideen ihrer typischen Weltanschauung. So folgen beispielsweise die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Deutschen Caritasverbandes und des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland dem christlichen Maßstab der Nächstenliebe, wenngleich das spezifische Hilfeverständnis - also das Ethos der Unterstützung - mitunter durch die reine Sachlogik des Gesundheitswesens (etwa Rationalität, Effizienz) zugedeckt werden kann. In den Wohlfahrtsverbänden arbeiten neben den hauptberuflichen Helfern auch zahlreiche Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und ganz bewusst die Interessen der Verbände außerhalb ihrer Berufstätigkeit unterstützen wollen. Die freiwillige Übernahme von Diensten sowie der Verzicht auf das Entgelt sind die typischen Kennzeichen von Ehrenamtlichkeit und verweisen auf die zugrunde liegende solidarische Gesinnung der ehrenamtlichen Helfer. 139 Aufgrund dieser beiden Ausrichtungen bewegen sich die Akteure der freien Wohlfahrtspflege zwischen Professionalität und Ehrenamtlichkeit, zwischen einer professionellen Dienstleistung und einem freiwilligen solidarischen Engagement.

V. Laien- und Selbsthilfeorganisationen Laien- und Selbsthilfegruppen entstehen durch direkte oder indirekte Betroffenheit, also aufgrund eigener oder fremder Erkrankungen bzw. Behinderungen. Betroffene oder deren Angehörige schließen sich zusammen, um gemeinsame Probleme besser lösen bzw. um Erfahrungen an andere Betroffene weitergeben zu können. Als Ausdruck der Autonomie und Kompetenz gewinnen Institutionen der LaiVgl. Bock, Wohlfahrtsverbände, 781. Vgl. den Überblick unter: http://wwwJreiewohlfahrtspflege.de/gerrnan I (Stand: 05. 09. 2002). 139 Vgl. Baumgartner, Solidarität und Ehrenamtlichkeit, Subsidiarität und Selbsthilfe, 32. 137 138

12*

180

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

en- und Selbsthilfe immer mehr an Bedeutung und stellen für viele Betroffene eine direkte und personennahe psychosoziale Unterstützung dar. Die von den Laienund Selbsthilfeorganisationen erbrachten Hilfestellungen sind sehr unterschiedlich und reichen von kleineren Hilfen (z. B. Begleitung bei Arztbesuchen) und Beratungsgesprächen bis zu weitreichenden Therapien der Krankheiten. 14o Vielfach wird die Laien- und Selbsthilfe vor allem durch die Bundesländer und die gesetzlichen Krankenversicherungen finanziell unterstützt. 141 Verschiedene Einrichtungen sind aber auch einem Verband der freien Wohlfahrtspflege angeschlossen. 142 Als Ansprechpartner für Selbsthilfegruppen in Deutschland ist - neben den bundesweit tätigen Kontakt- und Informationsstellen - die "Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen" (NAKOS) tätig, die die Arbeit der verschiedenen Kontakt- und Informationsstellen zusammenführt. 143 Die NAKOS entwickelt und verteilt allgemeines Aufklärungsmaterial über Struktur und Arbeitsweisen von Selbsthilfegruppen. Weiterhin vermittelt sie Kontakte zu Einrichtungen der Selbsthilfeunterstützung auf Bundesebene, auf regionaler sowie auf internationaler Ebene. Hierzu führt die NAKOS Adressen-Listen, die von jedermann eingesehen werden können. l44 Vergleicht man die Stellung der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen, so rallt auf, dass der PatientlVersicherte 145 - also der eigentliche Adressat aller gesundheitspolitischen, gesundheitsvorsorgenden und gesundheitsversorgenden Maßnahmen - eine eher untergeordnete Position einnimmt. Über den Patienten wird entschieden, er wird im politischen Entscheidungsprozess nur in seltenen Fällen gefragt. Zwar sollen die Interessen der Akteure der Gesundheitspolitik, der Gesundheitssicherung und der Gesundheitsversorgung letztlich immer den Patienten im Blick haben, doch nur allzu oft wird deutlich, dass vielfach andere Interessen im Vordergrund stehen, z. B. parteipolitische Interessen, Besitzstände der Ärzteschaft, ökonomische Interessen der Pharmaunternehmen. Eine Ethik des Gesundheitswesens muss an oberster Stelle für die Autonomie des Patienten, das heißt für die Stärkung seiner RoHe im komplexen System der Gesundheitsversorgung, eintreten. Stärkung der Patientenautonomie kommt in folgenden Punkten zum Aus140 Vgl. Beske / Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 248; Gesundheitsbericht für Deutschland, 301 /302. 141 Vgl. NAKOS Info Nr. 66, März 2001, 7, in: http://www.zdf.de/ratgeber/praxis/nakos/ 3441O/index.html (Stand: 06. 04. 2(01). Nach § 20 Abs. 4 SGB V sind die Krankenkassen aufgerufen, Selbsthilfegruppen, -organisationen, und -kontaktsteIlen zu fördern, die sich der Prävention oder der Rehabilitation von Versicherten bei bestimmten Krankheiten annehmen. Diese rechtliche Bestimmung gilt erst seit der GKV-Gesundheitsreform 2000 und dem Rechtsangleichungsgesetz (01. 01. 2000). 142 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 302/303. 143 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 303. 144 Vgl. zum Angebot der NAKOS http://www.nakos.de(Stand: 05. 09. 2(02). 145 In dieser Arbeit werden die Begriffe Patient und Versicherte meistens immer zusammen genannt, da der Patient immer auch ein Versicherungsnehmer und der Versicherte immer auch potenzieller Patient ist.

VI. Gesundheitspolitik

181

druck: "Im Gesundheitswesen realisiert sich die verstärkte Autonomie des Patienten in einem verbesserten rechtlichen Schutz, einer verbesserten Informationslage, einer Erhöhung von Transparenz des Leistungsgeschehens und der darauf beruhenden Wahlentscheidungen, einer verstärkten Artikulation eigener Sichtweisen und Bedürfnisse sowie einer weiter reichenden Mitwirkung an Entscheidungsprozessen.,,146 Keiner der Akteure des Gesundheitswesens würde dieser Aussage widersprechen, im Gegenteil, Patientenautonomie und Stärkung der Patientenverantwortung werden immer wieder gefordert, so beispielsweise von den politischen Parteien in ihren gesundheitspolitischen Programmen. Die sich im Laufe der medizinischen Entwicklung ausdifferenzierenden gesetzlichen Bestimmungen im Hinblick auf das Arzt-Patienten-Verhältnis (z. B. Recht auf freie Arztwahl, Recht auf Vertraulichkeit, Recht auf Einsicht in die Krankenunterlagen, Recht auf Aufklärung)147 haben trotz der Stärkung der rechtlichen Position des Patienten teilweise aber auch zu einer Belastung dieses Verhältnisses geführt (Verrechtlichtung des Arzt -Patienten-Verhältnisses). VI. Akteure der Gesundheitspolitik

Nachdem die Akteure der Gesundheitssicherung, die Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen, die Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern sowie die Wohlfahrtsverbände und die Laien- und Selbsthilfeinstitutionen vorgestellt worden sind, sind schließlich die Akteure der rahmengebenden Gesundheitspolitik zu behandeln. Die Aufgabe der Gesundheitspolitik besteht darin, die Gesundheitssicherung und die Gesundheitsversorgung ordnungspolitisch so zu gestalten, dass die Gesundheit der Bevölkerung in möglichst optimaler Weise geschützt, hergestellt und verbessert wird. Die Interventionsform der Gesundheitspolitik erstreckt sich vor allem auf den Bereich der gesetzlichen Regulierung des Gesundheitswesens, das heißt Schaffung einer funktionierenden Rahmenordnung. Eine weitere wichtige gesundheitspolitische Funktion ist die Information und Aufklärung der Bürger und Bürgerinnen über gesundheitsschädigende Verhaltens- und Lebensweisen im Rahmen von Präventionsmaßnahmen. 148 Solche Maßnahmen, die das Entstehen von Krankheiten zu verhindern suchen und haupt146 Siegrist, Johannes, Patient/Patientenrecht: I. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 837. Wie die Position des Patienten/Versicherten innerhalb des Gesundheitswesens gestärkt werden kann, wird im Schlusskapite1 dieser Arbeit demonstriert. 147 Vgl. Schreiber, Hans-Ludwig/lungeblodt, Stefan, Patient/Patientenrecht: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 838 - 840. 148 Vgl. lungbauer-Gans, Monika/ Schneider, Wemer, Gesundheit, in: Allmendinger, Jutta/Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hrsg.), Soziologie des Sozialstaats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim / München 2000, 211.

182

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

sächlich auf die Beseitigung von Risikofaktoren zielen (z. B. Tabak- und Alkoholkonsum, Ernährung, Bewegungsmangel), werden als primäre Prävention bezeichnet. 149 Im Kontext der gesetzlichen Krankenversicherung hat der Gesetzgeber gemäß dem SGB V die Krankenkassen zu umfassenden präventivmedizinischen Maßnahmen verpflichtet. 150 Zu den im SGB genannten Leistungen zur Verhütung von Krankheiten zählen beispielsweise folgende Bereiche: Verhütung von Zahnerkrankungen (Gruppenprophylaxe), 151 Verhütung von Zahnerkrankungen (Individualprophylaxe), 152 medizinische Vorsorgeleistungen, 153 medizinische Vorsorge für Mütter l54 • Verschiedene gesundheitspolitische Akteure prägen das Gesundheitswesen, nämlich die Akteure auf der Bundesebene - hier ist primär das Dreieck aus Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zu erwähnen -, die Akteure auf der Landes- und Gemeindeebene sowie die internationalen Institutionen. Im Folgenden sollen die verschiedenen Einrichtungen vorgestellt und die dabei existierenden Querverbindungen bzw. Interpenetrationen der einzelnen Ebenen zur Sprache gebracht werden. 1. Institutionen des Bundes

Auf der Bundesebene sind neben den Ministerien, die sich mit dem Gesundheitswesen befassen, auch unterschiedliche Institutionen und Organisationen zu finden, die die Gesundheitspolitik unterstützen bzw. diese maßgeblich mitbestimmen und tragen. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ist die zentrale politische Institution, die für alle bundespolitischen Fragen des Gesundheitswesens zuständig ist. Gesundheit muss aber als ein Querschnittthema der Politik verstanden werden, so dass eine enge Zusammenarbeit bzw. eine Kompetenzübertragung an andere Bundesministerien nötig erscheint. In diesem Sinne werden Gesundheitsprobleme auch vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (das heißt Beschäftigung z. B. mit der gesetzlichen Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Pflegeversicherung), vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (das heißt Beschäftigung z. B. mit Problemen des Gesundheitsschutzes, die im Zusammenhang mit der Belastung der Umwelt stehen) sowie vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (das heißt Beschäftigung z. B. mit Förderung der Gesundheitsforschung, aber auch die Auseinandersetzung mit neuen Biotechnologien, die den Menschen in direkter Weise betreffen) behandelt. 155 Zu 149 Vgl. Seewald, Otfried, Präventivmedizin: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,61. 150 Vgl. § 20 Abs. 1 SGB V. 151 Vgl. § 21 SGB V. 152 V gl. § 22 SGB V. 153 Vgl. § 23 SGB V. 154 Vgl. § 24 SGB V.

VI. Gesundheitspolitik

183

den Arbeitsgebieten des BMG gehören Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, Krankheitsvorsorge, Krankheitsbekämpfung, Verbraucherschutz und Veterinärmedizin. 156 Diese Aufgaben werden im Einzelnen von fünf Abteilungen übernommen: Die Abteilung Z ist für die zentrale Verwaltung und für internationale Beziehungen zuständig; die Abteilung 1 für Arzneimittel und Pflegesicherung; die Abteilung 2 für Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung; die Abteilung 3 für Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung; die Abteilung 4 für Verbraucherschutz und Veterinärmedizin. 157 Die Frage nach der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bildet den Schwerpunkt der Aufgabe der Abteilung 2 "Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung". Hier werden z. B. Reformvorschläge zur Gesundheitssicherung in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Beratern und parteipolitischen Experten erarbeitet und der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt. Bei der Beschäftigung mit der Umsetzung der gesetzlichen Krankenversicherung steht vor allem die Finanzierungsfrage im Mittelpunkt, die zu den Kernthemen gesundheitspolitischer Überlegungen aller Bundesregierungen gehört. Die Bemühungen aller Bundesminister und Bundesministerinnen für Gesundheit erstrecken sich demzufolge auch darauf, die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung durch Innovation und Umgestaltung für die Zukunft zu erhalten, zu sichern und fortzuentwickeln. 158 Das BMG wird von sechs nachgeordneten Bundesbehörden unterstützt, die selbständig arbeiten und sich verschiedenen Spezialaufgaben der öffentlichen Gesundheit widmen: • Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Berlin (BfArM), • Robert Koch-Institut in Berlin (RKI), • Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin in Berlin (BgVV), • Paul-Ehrlich-Institut als Bundesamt für Sera und Impfstoffe in Langen (PEI), • Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information in Köln (DIMDI) und • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln (BZgA).159 155 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Gesundheit in Deutschland. Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik, Bonn 1997, 15/16. 156 Vgl. Model, Otto 1 ereifelds, earl 1Lichtenberger, Gustav, Staatsbürgertaschenbuch. Alles Wissenswerte über Staat, Verwaltung, Recht und Wirtschaft mit zahlreichen Schaubildern, München 26 1992, 105/106. 157 Vgl. Leonhart Taschen-Jahrbuch, Gesundheitswesen 1999/2000. Institutionen, Verbände, Ansprechpartner, Deutschland - Bund und Länder, München 1999, Klappentext. 158 Vgl. http://www.bmgesundheit.de/ministlauf.htm(Stand: 06. 04. 2001). 159 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 13; Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Aufgaben und Ziele, Informationsblatt, Bonn 1998. Vgl. auch die Aufzählung auf der Internetseite des BMG http://www.bmgesundheit.de/ministlinst.htm (Stand: 22. 08. 2(00).

184

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Das BfArM wurde mit dem Gesetz zur Neuordnung zentraler Einrichtungen des Gesundheitswesens am 01. 07. 1994 errichtet. Zu seinen Hauptaufgaben 160 gehört neben der Beratung der Bundesregierung in allen Fragen der Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten, des Betäubungsmittel- und Grundstoffverkehrs auch die Zulassung von Fertigarzneimitteln. Damit ein Arzneimittel zugelassen werden und auf den Markt kommen kann, muss demzufolge der Nachweis der Wirksamkeit, der Unbedenklichkeit und der pharmazeutischen Qualität geprüft werden. Nach Erteilung der beantragten Zulassung erhält das Unternehmen die Erlaubnis, das Produkt fünf Jahre zu vertreiben; danach wird eine Verlängerung auf Antrag und nach nochmaliger Prüfung erteilt. Weiterhin werden homöopathische Arzneimittel registriert, die Risikobewertung von Arzneimitteln (Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen) und Medizinprodukten (z. B. Herzschrittmacher, Computertomographie, Implantate) durchgeführt sowie der legale Verkehr mit Betäubungsmitteln und Grundstoffen überwacht. Das RKI gilt als die zentrale Institution des Bundes, die auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten und relevanten Gesundheitsgefahren beiträgt. 161 Das Institut ist in der wissenschaftlichen Erforschung und Bewertung von Krankheiten tätig, die ein großes Gefährdungspotential für die Bevölkerung aufweisen und somit von größter gesundheitspolitischer Bedeutung sind. Solche Krankheiten sind zum Beispiel HIV / Aids, Krebs, Allergien und unterschiedliche Infektionskrankheiten. Zu den weiteren Aufgaben gehört die Gesundheitsberichterstattung des Bundes sowie die Erarbeitung von Richtlinien, Empfehlungen, Gutachten für die Bundesregierung, für die Parlamente, die Fachöffentlichkeit sowie andere gesundheitspolitische Institutionen. Hauptarbeitsgebiet des BgVV ist die Unterstützung von Bund und Ländern sowie internationalen Organisationen (etwa Europäische Union und World Health Organization) auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes. 162 Dazu gehört die Sicherung des Gesundheitsschutzes für Lebensmittel bzw. gentechnisch veränderte Lebensmittel, Tabakerzeugnisse, kosmetische Artikel, Bedarfsgegenstände, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel sowie Chemikalien. Weiterhin erteilt das Institut die Zulassung von Arzneimitteln für Tiere nach den arzneimittelrechtlichen Verordnungen und widmet sich zudem allgemeinen Fragen des Tierschutzes einschließlich Tierversuchen.

160 Vgl. zu den nachfolgend dargestellten Aufgaben http://www.bfarrn.de/de_ver/ aufgaben/ (Stand: 05. 09. 2002). 161 Vgl. zu den Aufgaben des RKI allgemein http://www.bmgesundheit.de/ministl inst.htm (Stand: 22. 08. 2000); http://www.rki.de/GBE/GBE_HOME.htm (Stand: 05. 09. 2002). 162 Vgl. zu den Arbeitsschwerpunkten des BgVV http://www.bmgesundheit.de/minist/ inst.htm (Stand: 22. 08. 2000); http://www.bgvv.de (Stand: 05. 09. 2002).

VI. Gesundheitspolitik

185

Der Verantwortungsbereich des PEI erstreckt sich auf Fragen der Arzneimittelsicherheit (immun)biologischer Präparate im Human- und Veterinärbereich. 163 Demnach hat das Institut insbesondere die Aufgabe, Sera und Impfstoffe regelmäßig zu prüfen und zuzulassen, den Verkehr mit Sera und Impfstoffen, Blut- und Blutprodukten zu überwachen sowie die damit verbundene Forschung zu betreiben. Weiterhin beschäftigt sich das PEI mit der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung. Hier müssen vor allem die AIDS-Forschung und die Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen genannt werden. Das DIMDI hat die Aufgabe, der fachlich interessierten Öffentlichkeit aktuelle Informationen aus dem gesamten Gebiet der Biowissenschaften zugänglich zu machen. Für diesen Zweck werden spezielle Datenbanken betrieben, in denen schwerpunktmäßig die Themen Gesundheitswesen und Medizin sowie damit verbundene Randgebiete erfasst sind. 164 Die Arbeitsaufgabe der BZgA besteht darin, die Gesundheit der Bevölkerung durch praktische Gesundheitserziehung und Gesundheitsaufklärung zu erhalten und zu fördern. 165 Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Entwicklung und Umsetzung von (Werbe-)Kampagnen und Projekten. Das BZgA versucht, Krankheiten und gesundheitsschädigende Verhaltensweisen (z. B. Rauchen, Alkoholkonsum, Überund Fehlernährung, Ansteckung mit Infektionskrankheiten) mit Hilfe von Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen einzudämmen, da häufig viele Verbraucher nicht über ein dementsprechendes gesundheitsförderndes Wissen verfügen. Schwerpunkte der Bundeszentrale liegen zum Beispiel auf den Gebieten der Suchtvorbeugung bei Kindern und Jugendlichen, der Organ- und Blutspende, der Raucheraufklärung, der AIDS-Aufklärung. Damit Maßnahmen und Kampagnen zur Gesundheitserziehung und Gesundheitsaufklärung durchgeführt werden können, ist die Bundeszentrale auf eine wissenschaftliche Grundlagenforschung angewiesen, die die BZgA selbst in Auftrag gibt. 166 Neben den dargestellten nachgeordneten Instituten des BMG sind weiterhin verschiedene Beiräte bzw. Kommissionen zu nennen, deren Mitglieder das Ministerium in Fragen der Gesundheitspolitik beraten. Gegenwärtig lassen sich hier der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, die Drogen- und Suchtkommission, der Nationale AIDS-Beirat, der Ethik-Beirat sowie die Risikokommission nennen, die alle dem BMG zugeordnet sind. 167 Der Sachver163 Vgl. zu den Amtsaufgaben des PEI http://www.bmgesundheit.de/ministlinst.htm (Stand: 22. 08. 2000); http://www.pei.de/infos/vorstell.htm (Stand: 05. 09. 2002). 164 Vgl. dazu http://www.bmgesundheit.de/minist/inst.htm (Stand: 22. 08. 2000); http://www.dimdi.de/(Stand: 05. 09. 2002). 165 Vgl. zu den Aufgabenfeldern der Bundeszentrale http://www.bmgesundheit.de/ minist/inst.htm (Stand: 22.08. 2000); http://www.bzga.de (Stand: 05. 09. 2002). 166 Vgl. Z. B. die in Auftrag gegebenen Studien zu den Themen Drogen, Rauschmittel und Alkohol http://www.bzga.de/studien/stud06.htm (Stand: 22. 08. 2001). 167 Vgl. http://www.bmgesund.de/minist/sach.htm(Stand: 22. 08. 2000).

186

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

ständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen - ein Beratungsund Steuerungsorgan - wurde im Dezember 1985 erstmals durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berufen, dessen Ressort damals auch gesundheitspolitische Fragen umfasste. 168 Der interdisziplinäre Rat wird seit 1991 vom Bundesminister für Gesundheit benannt l69 und hat zur Unterstützung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen die Aufgabe, "die Entwicklung in der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu analysieren, unter Berücksichtigung der finanziellen Rahmenbedingungen und vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven Prioritäten für den Abbau von Versorgungsdefiziten und bestehenden Überversorgungen zu entwickeln, Vorschläge für medizinische und ökonomische Orientierungsdaten vorzulegen, sowie Möglichkeiten der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufzuzeigen.,,17o Um diese Aufgaben zu erfüllen, werden in regelmäßigen Abständen Gutachten bzw. Sondergutachten erstellt und auf den Sitzungen der Konzertierten Aktion zur Diskussion gestellt. Das letzte Gutachten des Sachverständigenrates erschien im August 2001 unter dem Titel "Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit" (3. Band) und beschäftigte sich mit der bedarfsgerechten Versorgung, der Über-, Unter- und Fehlversorgung in den einzelnen Bereichen des Gesundheitswesens. 171 Bei der Drogen- und Suchtkommission handelt es sich um ein Expertengremium, das die Bundesregierung bzw. das BMG in allen Fragen der Drogen- und Suchtproblematik berät. Zu den Schwerpunkten der Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung gehören mithin die Aufklärung und die Prävention. ln Der nächste zu nennende Beirat ist der Nationale AIDS-Beirat, der das oberste Beratungsgremium des BMG in Fragen der Bekämpfung der Immunschwächekrankheit AIDS ist. 173 Die Risikokommission, die gemeinsam vom Bundesministerium für Gesundheit und vom Bundesumweltministerium eingerichtet wurde, beschäftigt sich mit den umweltbedingten Gesundheitsrisiken. 174 Schließlich ist auch noch der Ethik-Beirat des BMG zu erwähnen, der im November 1999 seine Arbeit aufgenommen hat. 175 Dieses interdisziplinär angelegte Gremium, dem Vertreter aus den Bereichen Medizin, Rechtswissenschaften, Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie angehören, hat schwerpunktmäßig die Aufgabe, das 168 Vgl. Alber; Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, 83 - 85. Vgl. dazu auch die Internetpräsenz des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen http://www.svr-gesundheit.de/aufgaben/aufg.htm (Stand: 05.09. 2002). 169 Vgl. http://www.svr-gesundheit.de/mitgllraetelraete.htm (Stand: 05. 09. 2002). 170 http://www.svr-gesundheit.de/aufgaben/aufg.htm (Stand: 05. 09. 2002). 171 Vgl. http://www.svr-gesundheit.de.htm (Stand: 09. 09. 2001); http://www.svrgesundheit.de/Bedarf.htm (Stand: 22. 08. 2001). 172 Vgl. http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/drogen/auf.htm (Stand: 22. 08. 2000). 173 V gl. http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/aids/aids.htm (Stand: 22. 08. 2000). 174 Vgl. http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/risiko/auf.htm (Stand: 09. 09. 200 1). 175 Vgl. http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/ethik/auf.htm (Stand: 09. 09. 200 1).

VI. Gesundheitspolitik

187

Ministerium in ethischen Fragen zu unterstützen, die sich besonders aufgrund der Fortschritte in der Medizin ergeben. Hier stechen vor allem - laut der Rede der früheren Bundesgesundheitsministerin Fischer aus Anlass der konstituierenden Sitzung des Ethik-Beirats - zwei Problembereiche heraus, die in der Zukunft unsere Gesellschaft verändern werden und die ethisch aufgearbeitet werden müssen: die Gendiagnostik und die modeme Reproduktionsmedizin. 176 Aufgrund der Gründung des Nationalen Ethikrates beim Bundeskanzleramt, der sich auch mit bioethischen Fragen beschäftigen wird, werden sich die Aufgaben des Ethik-Beirates des BMG wandeln. Neue thematische Schwerpunkt werden z. B. in der Kranken- und Pflegeversicherung, der Entwicklung und Anwendung neuer Diagnostiken, Therapien und Arzneimittel liegen. 177 Auch wenn das Bundesgesundheitsministerium und die nachgeordneten Organisationen zentrale gesundheitspolitische Aufgaben auf der Bundesebene übernehmen, müssen ihre Tätigkeiten im Kontext des gesamten bundespolitischen Prozesses verortet werden. Die Bundesgesundheitsministerin (bzw. der Bundesgesundheitsminister) ist Teil der Bundesregierung - dem zentralen Exekutiv- und Koordinierungsorgan des Bundes - und demzufolge abhängig von der gesamten Regierungspolitik. Die Arbeit der Bundesregierung wird durch drei Grundsätze gekennzeichnet: Kanzlerprinzip, Ressortprinzip, Kollegialprinzip.178 Gemäß Art. 65 Satz 1 GG bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik - also auch die der Gesundheitspolitik - und trägt dafür die Verantwortung gegenüber dem Parlament (Kanzlerprinzip). Die vom Bundeskanzler festgelegten Richtlinien der Politik sind für alle Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung auszuüben (Ressortprinzip).179 Die einzelnen Minister legen der gesamten Bundesregierung Problemfälle von allgemeiner Bedeutung zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung vor, beispielsweise Gesetzesvorlagen. Weiterhin berät und beschließt die Bundesregierung auch bei Streitigkeiten zwischen den einzelnen Ministern (Kollegialprinzip).180 Auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik kann es unter Umständen insbesondere zu Problemen kommen, die die Kompetenzbereiche anderer Ministerien berühren (z. B. Ordnung der Sozialversicherung, Fragen der Biotechnologien und des Gesundheitsschutzes). Betrachtet man den Gang der Gesetzgebung, so wird deutlich, dass Gesundheitspolitik - wie Politik allgemein - ein Feld von unterschiedlichen politischen Interessen ist. In vereinfachter Weise heißt das Folgendes: Die Bundesregierung erstellt Gesetzesvorlagen, der Bundestag, der sich aus verschiedenen po176 Vgl. Fischer, Andrea, Rede der Bundesgesundheitsrninisterin aus Anlass der konstituierenden Sitzung des Ethik-Beirats beim Bundesgesundheitsministerium am 15. 11. 1999, in: http://www.bmgesundheit.de/presse/reden/ethik.htm (Stand: 22. 08. 2000). 177 V gl. http://www.bmgesundheit.de/rninist/beirat/ethik/auf.htm (09. 09. 2001). 178 Vgl. Hübner, Ernil, Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1995, 162/163. 179 Vgl. Art. 65 Satz 2 GG. 180 Vgl. Art. 65 Satz 3 GG.

188

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

litischen Parteien zusammensetzt, berät über Gesetzesvorlagen und stimmt über diese ab. 181 "Ohne seine [des Bundestages, T.B.] Beschlussfassung kommt kein Gesetz zustande. Er hat neben der Bundesregierung und dem Bundesrat das Recht der Gesetzesinitiative, er legt in seinen Beratungen den Gesetzestext fest und erteilt ihm in der Schlußabstimmung den Gesetzesbefehl.,,182 Durch den Bundesrat wirken die Länder - nach dem Grundgesetz _183 schließlich im Hinblick auf die so genannten Zustimmungsgesetze an der Gesetzgebung des Bundes mit. 184 Auf der Bundesebene wird die Gesundheitspolitik von den genannten Akteuren und Institutionen geprägt. Zum einen stehen hinter gesundheitspolitischen Entscheidungen konkrete parteipolitische Interessen und Programme, die über das Gesetzgebungsverfahren durchgesetzt werden wollen. Letztlich zielen Parteien darauf, politische Ämter zu besetzen. Politische Parteien spielen im politischen Prozess eine zentrale Rolle, da sie der Regierungsbildung dienen, Interessen verbalisieren und eine "intermediäre" Stellung zwischen Staat und Gesellschaft einnehmen. 185 Zum anderen wird Gesundheitspolitik aber nicht allein von Parteien und Institutionen der Gesetzgebung bestimmt, sondern auch von den Leistungsanbietern und Leistungsnachfragern, die in unterschiedlichen Verbänden organisiert sind und in besonderer Weise ihre je eigenen Interessen kundtun. Vertreter politischer Parteien, Mitglieder der Parlamente und der Regierung stehen folglich im Austausch mit den unterschiedlichen Akteuren der Gesundheitssicherung und der Gesundheitsversorgung. Die Gesundheitspolitik der politischen Parteien darf nicht unterschätzt werden, ist sie doch integrierter Bestandteil vieler Partei programme und kann über Aufstieg oder Untergang einer Partei entscheiden bzw. zu ihrer Profilierung beitragen. Besonders in einer Zeit, in der das Gesundheitswesen vor großen Problemen steht, versuchen sich die politischen Parteien, mit gesundheitspolitischen Reformvorschlägen ins Gespräch zu bringen. Parteien streben nach politischer Macht (Regierungsbildung) und wollen letztlich gewählt oder wiedergewählt werden. Hinter gesundheitspolitischen Entscheidungen der Regierungs- oder Oppositionsparteien auf der Bundesebene stehen in vielen Fällen auch parteipolitische Kämpfe um die Gunst der Wähler und Wählerinnen. Hier wird deutlich, dass das Gesundheitswesen ein "Kampfplatz" unterschiedlicher politischer Interessen iSt. 186 Vgl. Art. 77 Abs. I GG. Oberreuter; Heinrich, Bundestag, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997,89. 183 Vgl. Art. 50 GG. 184 Vgl. Laufer; Heinzl Münch, Ursula, Bundesrat, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997,55 -75. 185 Vgl. Schmid, Josef, Parteien, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997, 415. 186 Trotz der parteipolitischen Unterschiede gibt es freilich auch parteienübergreifende gesundheitspolitische Grundsätze. So ist beispielsweise das Postulat der freien Arztwahl ein 181

182

VI. Gesundheitspolitik

189

2. Institutionen der Länder Auf der Ebene der Bundesländer fallen gesundheitspolitische Probleme in die Ressorts jener Minister und Ministerinnen bzw. Senatoren und Senatorinnen, die sich mit Sozialpolitik befassen. 187 Die Aufgaben der für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerien erstrecken sich auf die Krankenhausplanung, die vorbereitende Organisation des öffentlichen Gesundheitsdienstes und des Rettungswesens sowie auf die Ausführung des Arzneimittel- und Medizinprodukterechts. Ferner haben die Bundesländer die Rechtsaufsicht einerseits über die Vergütungsvereinbarungen zwischen den unterschiedlichen Leistungserbringern und den Krankenkassen auf der Landesebene und andererseits über die regional begrenzten Krankenkassen im Hinblick auf ihre Geschäftsführung. 188 Die Bundesländer haben nach Art. 83 GG die Bundesgesetze auszuführen. Was für das Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene gesagt wurde, gilt auch hier in analoger Weise. Neben den jeweiligen Landesregierungen haben auch die Parlamente eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Legislative. Die wichtigste Aufgabe der Länderparlamente besteht in der Gesetzgebung, die sich auf alle länderspezifischen Belange bezieht. Die einzelnen Aufgaben der Länder im Gesundheitswesen werden in einer gemeinsamen Versammlung, in der so genannten Gesundheitsministerkonferenz, koordiniert. In dieser Konferenz kommen alle gesundheitspolitischen Fragen, die Bund und Länder betreffen, zur Sprache. 189 In der Gesundheitsministerkonferenz Grundsatz, der in den meisten Parteiprogrammen enthalten ist. Vgl. CDU, Freiheit in Verantwortung. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, beschlossen vom 5. Parteitag Hamburg, 20.-23. Februar 1994,70 (Art. 101); CSU, Gesundheitspolitisches Programm, verabschiedet vom Parteiausschuß Ansbach, 13. Juli 1991,4; CDU/CSU, Leistung und Sicherheit. Regierungsprogramm 2002 - 2006,35; FDP, Bürgerprogramm 2002. Programm der FDP zur Bundestagswahl 2002, beschlossen auf dem 53. Ord. Bundesparteitag vom 10.-12.05.2002 in Mannheim, 11-13; SPD, Grundsatzprograrnm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin, geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17. 04. 1998, 36; SPD, Erneuerung und Zusammenhalt. Regierungsprogramm 2002 - 2006, 56. IS7 Hier sind folgende Institutionen zu nennen: das Sozialministerium Baden-Württemberg; das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit; die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales in Berlin; das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg; der Senator für Frauen, Gesundheit, Jugend, Soziales und Umweltschutz der Freien Hansestadt Bremen; die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Freien Hansestadt Hamburg; das Hessische Sozialministerium; das Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern; das Niedersächsische Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales; das Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit in Nordrhein-Westfalen; das Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit in RheinlandPfalz; das Ministerium für Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales im Saarland; das Sächsische Staatsministerium für Soziales, Gesundheit und Familie; das Ministerium für Arbeit, Frauen, Gesundheit und Soziales in Sachsen-Anhalt; das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Schleswig-Holstein; das Ministerium für Soziales und Gesundheit in Thüringen. Vgl. Leonhart Taschen-Jahrbuch, Gesundheitswesen 1999/2000, 20 - 46. ISS Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 13 /14.

190

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

wird versucht, die unterschiedlichen parteipolitischen Interessen bzw. die verschiedenen Länderinteressen zum Ausgleich zu bringen. Parteipolitische Interessen spielen somit einerseits im Hinblick auf die parlamentarische Arbeit eine Rolle und andererseits hinsichtlich der gemeinsamen Gesundheitsministerkonferenz. 3. Kommunale Institutionen

Die Gesundheitsämter sind für die Gesundheit in den Landkreisen und den kreisfreien Städten zuständig. 19o Folgende Aufgaben gehören in den Verantwortungsbereich der Gesundheitsämter: Aufsicht und Überwachung der im Gesundheitswesen tätigen Personengruppen sowie der Einrichtungen des Gesundheitswesens (z. B. Arzt-, Zahnarzt- und Heilpraktikerpraxen, Krankenhäuser, Apotheken, Kureinrichtungen, Blutspendeeinrichtungen, Rettungs- und Krankentransporteinrichtungen), Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten, Überwachung des Verkehrs mit Lebensmitteln, Arzneimitteln und Giften, Gesundheitshilfe (z. B. Mutter- und Kindberatung, Schulgesundheitspflege), Gesundheitserziehung, Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsförderung, Jugendgesundheitspflege und Gesundheitsberatung, Gutachtertätigkeit in amtsärztlichen, gerichts- und vertrauensärztlichen Fragen. 191 4. Internationale Institutionen

Auf internationaler Ebene arbeitet die Bundesrepublik Deutschland mit anderen Ländern und internationalen Organisationen in Gesundheitsfragen eng zusammen. Seit den Verträgen von Maastricht (1992) und dem Amsterdamer Vertrag (1999) besteht innerhalb der Europäischen Union eine Gemeinschaftskompetenz für Gesundheit. Nach dem Vertrag von Amsterdam muss bei der Durchführung von Gemeinschaftspolitik für alle Mitgliedsländer ein hohes Gesundheitsschutzniveau gewährleistet sein. Beispielsweise kooperiert das BfArM mit analogen europäischen Zulassungsbehörden für Arzneimittel. Zeitraubende und kostenintensive Mehrfachzulassungen in den einzelnen Mitgliedsländern sind aus diesem Grund nicht mehr erforderlich, da ein zentralisiertes Verfahren die Marktöffnung für die gesamte EU ermöglicht. 192 Auch wenn seit dem Einigungsprozess in Europa die Gesundheitspolitik in vielen Fragen aufeinander abgestimmt wird, heißt das nicht, dass die einzelnen Nationalstaaten in Fragen gesundheitspolitischer Bemühungen aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheit in Deutschland, 19. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 13. 191 Vgl. Beske/Hallauer, Das Gesundheitswesen in Deutschland, 56-58; Gesundheitsbericht für Deutschland, 13. 192 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 347. 189

190

VII. Zusammenfassung

191

sind primär Ergänzungen zur rationalen Gesundheitspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten. 193 Neben der gesundheitspolitischen Kooperation auf europäischer Ebene gibt es weiterhin auch verschiedene Kooperationsprojekte in Form bilateraler Zusammenarbeit sowie multilateraler Projekte auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Die wichtigsten multilateralen Organisationen im Hinblick auf ein gesundheitspolitisches Engagement sind die World Health Organization (WHO), die Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), das Internationale Krebsforschungszentrum (IARC) und der Europarat. 194 Zweifellos treffen auch bei gesundheitspolitischen Programmen der Europäischen Union und der WHO bzw. UNO unterschiedliche Interessen (etwa von Regierungen und Parteien) aufeinander, die im Wesentlichen auf dem Wege der Mehrheitsentscheidungen oder durch Kompromisse zum Ausgleich gebracht werden. VII. Zusammenfassung: Das Gesundheitswesen "Kampfplatz" organisierter Interessen und Ort implementierter Ethik

Das Gesundheitswesen ist ein komplexes Gebilde, das für die Gesundheitsversorgung der Gesellschaft zuständig ist. Als primäre Ziele dieses Systems gelten die Behandlung von Krankheiten und die Erhaltung der Gesundheit. Damit die Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen versorgt werden kann, sind verschiedene Institutionen notwendig, die die Leistungen organisieren, steuern und finanzieren. Die strukturellen Merkmale des Gesundheitswesens können anhand von vier grundsätzlichen Leitfragen verdeutlicht werden. 195 Diese Fragen sind: 1. Wer erbringt die Gesundheitsleistungen / Gesundheitsgüter? 2. Wer finanziert die Gesundheitsleistungen / Gesundheitsgüter? 3. Wer besitzt die Einrichtungen zur Gesundheitsversorgung? 4. Wer entscheidet über die Gestaltung des Gesundheitswesens? 193 Folgende Gesundheitsprogramme der Europäischen Union werden verfolgt: Aktionsplan zur Krebsbekämpfung, Aktionsprogramm zur Gesundheitsförderung, Gesundheitsaufklärung, Gesundheitserziehung und Gesundheitsausbildung, Aktionsprogramm zur Prävention von AIDS und anderen übertragbaren Krankheiten, Aktionsprogramm zur Suchtprävention, Aktionsprogramm betreffend seltener Krankheiten, Aktionsprogramm betreffend durch Umweltverschmutzung bedingte Krankheiten, Aktionsprogramm zur Verhütung von Verletzungen. Vgl. http://www.bmgesundheit.de/ministlgesund/inter2.htm (Stand: 22. 08. 2000). 194 Vgl. zum internationalen Gesundheitswesen bzw. zu internationalen Gesundheitsorganisationen hup://www.bmgesundheit.de/rninistl gesund I inter2.htrn (Stand: 22. 08. 2000); Labisch, Alfonsl Paul, Norbert, Gesundheitsorganisationen, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 120-122. 195 Vgl. Deppe, Hans-Ulrich, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem. Zur Einführung für Mediziner, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M., Zentrum der Psychosozialen Grundlagen der Medizin, Abteilung Medizinische Soziologie, ArbeitspapierNr. 8/1991, 29.

192

c. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

Diese Leitfragen verdeutlichen, wer die Akteure im Gesundheitswesen sind. Die medizinische Versorgungs struktur, in deren Rahmen die Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter erbracht werden, unterscheidet sich nach institutionellen und funktionalen Merkmalen. Für die ambulante Versorgung sind die niedergelassenen Ärzte / Ärztinnen und die anderen Gesundheitsdienstberufe zuständig; die stationäre Versorgung wird von Krankenhäusern und die Arznei- und Hilfsmittelversorgung von der pharmazeutischen Industrie sowie den Apotheken durchgeführt. Weiterhin sind auch noch die Gesundheitsämter zu nennen, die für die kommunale medizinische Versorgung zuständig sind. Mit den Wohlfahrtsverbänden agieren im Gesundheitswesen weitere Institutionen, die ebenfalls ambulante und stationäre Gesundheitsleistungen anbieten, freilich auf der Grundlage einer bestimmten Weltanschauung und mit der Unterstützung von zahlreichen freiwilligen Helfern und Helferinnen, die sich ehrenamtlich engagieren. Die genannten institutionellen Gebilde verfolgen - je nach Einrichtung - präventive, kurative und rehabilitative medizinische Funktionen. 196 In dieser Arbeit werden die Erbringer von Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgütern insgesamt als Akteure der Gesundheitsversorgung bezeichnet. Für die Finanzierung der im Gesundheitswesen anfallenden Kosten sind im Wesentlichen die Krankenkassen - GKV und PKV - zuständig, die als Akteure der Gesundheitssicherung beschrieben werden können. Da die Versicherten aber Beiträge bzw. Prämien an ihre jeweiligen Krankenversicherungen entrichten, finanzieren die Versicherungsnehmer ihre Behandlungskosten und Arzneimittel zum großen Teil selbst. Aber auch die zusätzlichen Kosten (Selbstkosten) bei bestimmten Heilbehandlungen oder Medikamenten identifizieren die Versicherten als Zahler ihrer in Anspruch genommenen Leistungen und Güter. Innerhalb der GKV müssen allerdings die Arbeitgeber einen Pflichtanteil für die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten aufbringen. Den Arbeitgeberanteil kann man durchaus im Sinne eines eingezogenen Lohns interpretieren, so dass die Kosten insgesamt von den Versicherungsnehmern getragen werden. Die Aufgabe der Akteure der Gesundheitssicherung besteht dann darin, die Finanzierung - im Rahmen eines solidarischen Umlageverfahrens - zu organisieren. Weiterer Kostenträger ist auch der Staat, der die Bereitstellungskosten (Investitionskosten) etwa für Krankenhäuser aufbringt. Im Hinblick auf die dritte Frage - die Eigentumsfrage - sind verschiedene Eigentumsformen zu unterscheiden. Innerhalb der stationären Versorgung gehören die meisten Einrichtungen zum öffentlichen Eigentum. Daneben sind noch die gemeinnützigen Verbände zu erwähnen, die sich teils privat und teils öffentlich finanzieren. 197 Nur ein geringer Teil der Krankenhäuser / Kliniken wird ausschließlich privat betrieben. Die Eigentumsform in der ambulanten Versorgung wird als "berufsständisch-privates Eigentum,,198 bezeichnet. Zum einen investieren die selb196 197 198

Vgl. Deppe, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem, 33. Vgl. Deppe, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem, 37. Deppe, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem, 37.

VII. Zusammenfassung

193

ständig arbeitenden Ärzte und Ärztinnen privates Kapital, um eine Praxis aufzubauen; zum anderen unterliegt dieser Kapitaleinsatz berufsständischen und staatlichen Kontrollmechanismen. 199 So heißt es in der ,,(Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte" (MBO): "Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe. Er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.,,2oo Für die Produktion von Arzneimitteln und medizintechnischen Geräten sind Unternehmer in privatwirtschaftlicher Verantwortung zuständig. Sie produzieren die Gesundheitsgüter, während die Apotheken - ebenfalls privatwirtschaftlich organisiert - die im Gesundheitswesen erforderlichen Güter distribuieren. Schließlich, um die vierte eingangs gestellte Frage zu beantworten, sind innerhalb des deutschen Gesundheitswesens unterschiedliche Entscheidungsträger festzumachen: der Staat als Akteur der Gesundheitspolitik, der den Rahmen für die gesamte Gesundheitsversorgung setzt, dann die Organe der Selbstverwaltung, die - was die Ärzteschaft und die anderen Heilberufe betrifft - berufsständische Interessen vertreten oder - was die Krankenkassen betrifft - ihre administrativen Aufgaben selbst wahrnehmen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden zudem in die Entscheidungsgremien der gesetzlichen Krankenkassen gewählt (Sozialwahlen) und üben hier eine ehrenamtliche Tätigkeit aus. Aufgrund der dargestellten Strukturanalyse wurde deutlich, dass die jeweiligen Akteure nicht isoliert voneinander ihre Funktionen ausüben, sondern dass sie in vielfältiger Weise miteinander verbunden sind und ihre spezifischen Teilaufgaben nur kooperativ lösen können. Die Gesundheitsversorgung entspricht einem Kreislaufmodell, bei dem die Akteure der Gesundheitssicherung, die Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen, die Akteure der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern und die Akteure der Gesundheitspolitik gleichsam eingebunden sind: Bürger und Bürgerinnen zahlen an das System der Gesundheitssicherung Beiträge, das System der Gesundheitssicherung finanziert daraus die Kosten für die Gesundheitsversorgung, die Akteure der Gesundheitsversorgung erbringen die Dienstleistungen und liefern die Gesundheitsgüter. Die unterschiedlichen Akteure der Gesundheitspolitik schaffen die Voraussetzungen für eine funktionierende Versorgung und setzen den ordnungsstabilisierenden Rahmen für das gesamte Gesundheitswesen. Aus der Analyse der Struktur des Gesundheitswesens, in der unterschiedliche Akteure miteinander kooperieren, sich aber auch in bestimmten gesundheitspolitischen Fragen widersprechen und hemmen, kann zweierlei geschlussfolgert werden: Zum einen gibt es im Gesundheitswesen verschiedene Verantwortungsträger, die für die gesundheitsbezogenen Belange der Bevölkerung Sorge tragen und bemüht sind, eine möglichst optimale Gesundheitsversorgung zu gewähren. Zum anderen ist das Gesundheitswesen, weil es ein System der "komplexen Vielfachsteuerung,,201 darstellt, ein "Kampfplatz" organisierter Interessen, 199

200 201

Vgl. Deppe, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem, 37. § 1 MBO. Alber, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, 157.

13 Bohnnann

194

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

da die Akteure zum großen Teil ihre eigenen Positionen und wirtschaftlichen Interessen zu vertreten suchen. Das heißt, das Gesundheitswesen ist jener Ort, an dem ein ausgeprägter Wettbewerb um eigene Interessen stattfindet. Die offen ausgetragenen Konflikte sind dabei innerhalb der Dreiecksbeziehung Staat, Leistungsanbieter und Kassen, also Gesundheitsregulierer, Gesundheitsproduzenten und Gesundheitsfinanzierer, zu verorten?02 Im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stehen zweifellos die Ärzte/ Ärztinnen, sie haben tagtäglich mit den Patienten zu tun und können aufgrund ihrer gut ausgebauten Verbandsstrukturen ihre Interessen in besonderer Weise artikulieren und sich vor allem gegen gesundheitspolitische Programme der Regierung oder des Parlaments - notfalls auch mit Mitteln des Streiks - öffentlich zur Wehr setzen. Das heißt letztendlich, dass gesundheitspolitische Reformen nur mit der Ärzteschaft, aber nicht gegen sie durchzusetzen sind. Gleichwohl gibt es auch unter der Ärzteschaft aufgrund der Pluralität der ärztlichen Organisationen eine Meinungsvielfalt. Neben den Ärzten/ Ärztinnen gehören auch die Produzenten der Gesundheitsgüter zu den Leistungsanbietern. Hier treten die pharmazeutischen Industrieunternehmen etwa für einen Ausbau marktwirtschaftlicher Strukturen ein. Als Wirtschaftsunternehmen sind sie daran interessiert, gute Absatzchancen für ihre Produkte zu haben und möglichst wenig wirtschaftspolitischen Restriktionen (z. B. Wettbewerbsbeschränkungen) ausgesetzt zu sein. Die Krankenkassen verfolgen Strukturreformen im Gesundheitswesen, die die finanziellen Belastungen der Kassen dämpfen sollen: Eine Kostendämpfungspolitik wird aber Einsparungen für die ambulanten, stationären und industriellen Leistungsanbieter zur Folge haben. GKV und PKV streben gleichermaßen nach mehr Versicherungsnehmern; demnach will die PKVeine Reduzierung der Versicherungspflicht - beispielsweise durch eine möglichst niedrige Beitragsbemessungsgrenze der GKV -, während die GKV für eine Ausdehnung der Solidargemeinschaft eintritt. Die politischen Parteien, die innerhalb demokratischer Strukturen an der Willensbildung und der Entscheidungsfindung maßgeblich beteiligt sind, verfolgen unterschiedliche gesundheitspolitische Ziele und propagieren diese in öffentlichen Debatten. Im Mittelpunkt der parteipolitischen Auseinandersetzungen steht in jüngster Zeit besonders die Frage nach der Rolle des einzelnen Versicherten, das heißt, die Frage nach seiner Eigenverantwortung.203 Die politischen Überzeugungen schlagen sich dann vor allem innerhalb der parlamentarischen Diskussion nieder und bestimmen die gesetzliche Situation. Vgl. Alber; Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, 164. Diese Position vertritt insbesondere die FDP. Vgl. FDP, Bürgerprogramm 2002, 11-13. Selbstverantwortung wird aber auch stärker von der CDU gefordert. Vgl. CDU, Freiheit in Verantwortung, 71; CDU, Der faire Sozialstaat - Eine neue Politik für eine neue Zeit. Diskussionspapier der "Kommission Sozialstaat 21 - Arbeit für alle", o.J., 39; CDU ICSU, Leistung und Sicherheit, 35/36. Vgl. die Übersicht der parteipolitischen Positionen zur Gesundheitspolitik bei Bandelow, Gesundheitspolitik, 108/109; Beske, Fritz, Reformen im Gesundheitswesen. Aktuelle Vorschläge aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft - Kieler Synopse, Köln 2002, 25 - 73. 202

203

VII. Zusammenfassung

195

Im Rahmen der beschriebenen Schlüsselakteure innerhalb des Gesundheitswesens (Gesundheitsproduzenten - Gesundheitsfinanzierer - Gesundheitsregulierer) nehmen die Verbraucher (im Sinne der Versicherungsnehmer und Patienten) eine untergeordnete Rolle ein. Zwar stehen sie im Zentrum der gesamten gesundheitspolitischen Diskussion, doch ihr Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung des Gesundheitssystems ist gering. Über die Selbstverwaltungsgremien der jeweiligen gesetzlichen Krankenkassen sind die Versicherten formell vertreten, die verschiedenen Tarifparteien vertreten aber in den meisten Fällen eher ihre eigenen Interessen. 204 In organisierter Form treten die Patienten in den Laien- und Selbsthilfeverbänden in Erscheinung. Der politische Einfluss dieser Organisationen ist aber keineswegs vergleichbar mit dem der anderen Akteure des Gesundheitswesens, da die Laien- und Selbsthilfeverbände sich zunächst um Betroffene kümmern und die Mitglieder selbst zum großen Teil aus Betroffenen und deren Angehörigen bestehen?05 Claus Offe hat darauf hingewiesen, dass sich primäre Lebensbedürfnisse am ehesten organisieren lassen. Solange man aber nicht selbst betroffen ist, wird man sich nur schwerlich einer bestimmten Interessenvertretung anschließen. 206 Darüber hinaus besitzen diese Verbände nicht die finanziellen und organisatorischen Ressourcen, um gesundheitspolitische bzw. patientenzentrierte Programme zu realisieren. Hinzu kommt, dass selbst die einzelnen Interessengruppen, die sich um Betroffene kümmern, unterschiedliche gesundheitspolitische Ziele verfolgen. Ein wichtiger Punkt innerhalb der gesamten Diskussion um Gesundheitsreformen muss - so darf geschlussfolgert werden - die Stärkung der Position des Patienten, des Versicherten sein. Das deutsche Gesundheitswesen kann also als "Kampfplatz" unterschiedlicher Akteure, die in vielen Fällen ökonomische Interessen verfolgen, beschrieben werden. Neben einer starken Ökonomisierung ist eine ebenso gewichtige VerreehtZiehung innerhalb des Gesundheitswesens festzustellen. Rechtliche Bestimmungen betreffen nicht nur die Position des Arztes und der Ärztin, sondern berühren auch die anderen Leistungserbringer (z. B. Apotheken, Pharmaindustrie) sowie die Akteure der Gesundheitssicherung beispielsweise im Hinblick auf die Normen des Sozialgesetzbuches. Die vorhandenen Rechtsstrukturen dienen als Zwangsmittel, um das Handeln der Akteure normativ zu begrenzen und damit gleichzeitig die Position des Patienten, des Verbrauchers, des Versicherten zu schützen. Wesentliche Normen hinsichtlich der Aufnahmepflicht der GKV-Kassen sind beispielsweise der Kontrahierungszwang und das Diskriminierungsverbot. Auch der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung ist gesetzlich vorgeschrieben. Die pharmazeutische Industrie muss sich strengen Arzneimittelkontrollen beugen. Überdies wacht ein detailliertes Werbegesetz über die Distribution und Vermarktung pharVgl. Bandelow. Gesundheitspolitik, 100. Vgl. Bandelow. Gesundheitspolitik, 100. 206 Vgl. Offe, Claus, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hrsg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a.M. 1969, 168. 204 205

13'

196

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

mazeutischer Produkte. Rechtsbestimmungen, die zur Rahmenordnung des Gesundheitswesens gehören, bändigen folglich Interessen und nehmen den eigentlichen Zielpunkt aller gesundheitsversorgenden Handlungen in den Blick, nämlich den Patienten. Man kann das Gesundheitswesen aber nicht nur als "Kampfplatz" organisierter Interessen der hier vertretenen Schlüsselakteure bezeichnen, sondern auch als ein System, das einem bestimmten Ethos folgt. Dieses Ethos, das im Kernbereich des deutschen Gesundheitswesens verortet werden kann, nämlich im System der GKV, teilt sich auf in ein Ethos der Solidarität und ein Ethos der Subsidiarität. Das Ethos der Solidarität kann identifiziert werden, wenn das Organisationsprinzip der GKV näher betrachtet wird: Dieses Organisationsprinzip entspricht dem Umlageverfahren, das heißt, die benötigten finanziellen Ressourcen zur Deckung von Gesundheitskosten werden kollektiv von den Sozialversicherungsmitgliedern - und deren Arbeitgebern - aufgebracht, die con-solidarisch miteinander verbunden sind, und nach einem bestimmten Verteilungskriterium umgelegt. Als grundlegendes verteilungspolitisches Kriterium dient die individuelle Bedürftigkeit, nicht der individuelle Status, gemessen beispielsweise an eingezahlten Versicherungsbeiträgen. Gleiche Bedürftigkeit im Rahmen dieses Systems heißt immer auch gleiche medizinische Leistungsgewährung, unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge. Der normative Grundsatz der Gleichheit, der jedem GKV-Versicherten qua Recht zugesprochen wird, ist demnach konstitutiv für die Systemlogik der gesetzlichen Krankenversicherung. Darüber hinaus ist ein weiteres Hauptmerkmal der gesetzlichen Versicherung die soziale Umverteilung, um die benötigten Leistungen zu finanzieren. Das heißt, in der GKV ist nicht nur einfach eine Einkommensumverteilung festzustellen (zwischen Finanzstarken und Finanzschwachen), sondern eine Umverteilung, die beispielsweise chronisch Kranke, Alte, kinderreiche Versicherungsnehmer und Familien, Frauen erreicht. Umverteilung heißt in diesem Sinne, dass "bestimmte Individuen bzw. Gruppen relativ mehr an Leistungen aus der GKVerwarten können als sie Beiträge entrichten.,,207 Hingegen erhebt die PKV als private Versicherungsform risikoäquivalente Prämien und gewährt ausschließlich einen individuumsbezogenen Risikoausgleich. Man kann bei der PKV deshalb auch nur in eingeschränkter Weise von einer Solidargemeinschaft reden, dies höchstens im versicherungstechnischen Sinne. Im Rahmen der PKV gibt es auch keine gleiche Leistungserbringung bzw. Gleichbehandlung. Die medizinische Versorgung richtet sich nach dem abgeschlossenen Versicherungsvertrag sowie nach persönlichen Kriterien (Gesundheitszustand, Alter, Geschlecht). Die Leitidee, die hinter dem System der GKV steht, lautet: Solidarität. Alle Mitglieder dieser ganz spezifischen Gefahrengemeinschaft, die einem potenziellen Risiko - nämlich Krankheit - ausgesetzt sind, nehmen sich gegenseitig in die Pflicht 207 Andersen, Hansfried H., Themenschwerpunkte und Forschungsfelder der Gesundheitsökonomie. Einführung und Überblick, in: ders. / Henke, Klaus-Dirk/ Schulenburg, Matthias Graf von der (Hrsg.), Basiswissen Gesundheitsökonomie, l. Bd., Berlin 1992,29.

VII. Zusammenfassung

197

gemäß der klassischen Formulierung "Einer für alle und alle für einen" und sichern sich - wenngleich erzwungen - gegenseitig formale Hilfe zu. Bei dieser Unterstützung handelt es sich "um eine Form der Hilfe der sozial stärkeren Mitglieder einer Gruppe für die sozial schwächeren. ,,208 Die con-solidarisch organisierte Krankenversicherung stellt an ihre Mitglieder gleichwohl höhere moralische Anforderungen als eine private Krankenversicherung im Sinne der Individualversicherung: "Von dem einzelnen wird nicht nur verlangt, daß er für sich selbst sorgt und damit zugleich zum Nutzen aller beiträgt, sondern es wird auch von ihm verlangt, daß er bei höherem Einkommen auf einen Teil seiner Einkünfte zugunsten anderer verzichtet. ,,209 Hinter der Struktur der sozialen Krankenversicherung steht - neben dem Ethos der Solidarität - des Weiteren das Ethos der Subsidiarität. Am deutlichsten wird im Gesundheitswesen die im Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck kommende negative Forderung, im Sinne der Kompetenzanmaßung, in den unterschiedlichen Ausgestaltungen der Selbstverwaltung erkennbar. Auch wenn der Staat dem Gesundheitswesen eine Rahmenordnung gibt und somit in direkter Weise Anteil an der Ausgestaltung der Gesundheitssicherung und der Gesundheitsversorgung hat, so fallen den Krankenkassen, den Kassenärztlichen Vereinigungen, der Ärzteschaft und den anderen Organen, die eine verbandliche Selbstverwaltung ausgebildet haben, wichtige Aufgaben und Kompetenzen zu. Die Krankenkassen legen ihre Versicherungsbeiträge in eigener Verantwortung fest; weiterhin obliegt es ihnen, wie der Servicebereich strukturiert ist. Die Kassen, auch wenn sie dem System eines gesetzlichen Versicherungswesens angehören, sind also nicht unmittelbar in die staatliche Verwaltung eingegliedert, sie organisieren sich folglich selbst. 210 Ein weiterer Aspekt der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wird im gesamten Verbandswesen bzw. in den einzelnen Interessengruppen der Gesundheitsdienstberufe ausgedrückt. Auch die anderen Leistungsanbieter sind für ihre Angelegenheiten selbst zuständig. Hier sind vor allem die ärztlichen Körperschaften und andere Berufsvertretungen, die die Pluralität intermediärer Träger ausdrücken, zu nennen (die Bundesärztekammer und die jeweiligen Landesärztekammern, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die jeweiligen Kassenärztlichen Landesvereinigungen, die Verbände der verschiedenen Arztgruppen, die Verbände der Apotheker, der Arzneimittelhersteller etc.). Die Ärztekammern nehmen vor allem berufs- und standespolitische Aufgaben wahr, die kassenärztlichen Vereinigungen vertreten u. a. ökonomische Interessen der Ärzte. Das Kompetenzanmaßungsverbot betrifft aber nicht nur die Akteure der verschiedenen Institutionen des Gesundheitswesens, sondern auch die Kranken/Patienten selbst. Soweit eine ambulante Krankenversorgung möglich ist, darf keine (staatliche) Institution die Betroffenen in stationäre Einrichtungen verlegen. Als Maßstab gilt auch hier das Recht auf Ei208 Bogs, Walter, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Refonn, Berlin 1955, 31. 209 Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Refonn, 31. 210 V gl. Beske / Hallauer; Gesundheitswesen in Deutschland, 83.

198

C. Akteure, Funktionslogik und ethische Struktur

genverantwortung (Eigenversorgung), das innerhalb der sozialethischen Theorie als subsidiäre Kompetenz211 bezeichnet wird. In diesem Sinne hat Selbsthilfe den Vorrang vor Fremdhilfe. Das Subsidiaritätsprinzip in seiner positiven Formulierung heißt Hilfestellungsgebot. Wenn eine kleinere und untergeordnete Einheit sich aus eigenen Kräften nicht mehr selbst helfen kann, ist die größere und übergeordnete Einheit aufgerufen, einzugreifen; sie leistet den hilfreichen Beistand. Die so genannte subsidiäre Assistenz212 kommt im Gesundheitswesen etwa in Form des differenzierten Zuzahlungssystems bei Härtefällen zum Tragen. Finanziell schlechter gestellte Menschen - im gesundheitspolitischen Fachjargon sind das die so genannten "Härtefälle" - sind von Zuzahlungen (z. B. bei Arzneimitteln) vollständig oder teilweise befreit. Sind die Bedürftigen in der Lage, für sich selbst zu sorgen beispielsweise aufgrund einer veränderten finanziellen Situation -, tritt die solidarische Hilfe wieder zurück. Hier spricht man dann von der subsidiären Reduktion213 • Das Subsidiaritätsprinzip regelt demnach Zuständigkeiten und fragt nach der Realisierung von Lebensmöglichkeiten. Die hier beschriebene Grundstruktur der GKV, die sich in Form der Sozialversicherung und der Selbstverwaltung entfaltet und hinter der - wie gezeigt werden konnte - bestimmte Ethosformen stehen, ist im Wesentlichen identisch mit der Organisationsform der sozialen Krankenversicherung, wie sie ab 1883 und in den folgenden Jahren im Deutschen Reich eingeführt wurde. Diese Kontinuität beweist, wie sehr die Grundstruktur und die dahinter stehenden Prinzipien der Finanzierung und Steuerung der sozialen Krankenversicherung nach wie vor von großer dauerhafter Funktionskraft sind. In den letzten Jahren mehren sich aber die Stimmen, das bislang solidarische Krankenversicherungssystem innerhalb der sozialen Sicherung zu modifizieren sowie Solidaritätsmomente abzubauen und Sicherungsformen, die verstärkt auf dem Individualprinzip beruhen, als ergänzende Versorgungsstrukturen innerhalb des Gesundheitswesens zu implementieren. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zum einen zu klären sein, welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse für die Diskussion um strukturverändemde Maßnahmen der Gesundheitssicherung verantwortlich gemacht werden können. Zum anderen wird zu diskutieren sein, welche Orientierungspunkte für die strukturelle Weiterentwicklung des Gesundheitswesens zu bedenken sind.

211 Vgl. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, 18-37; Raas, Lothar, Subsidiarität, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/BasellWien 1993, 1046. 212 Vgl. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, 18-37; Raas, Subsidiarität, 1046. 213 Vgl. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, 18-37; Raas, Subsidiarität, 1046.

D. Probleme im Gesundheitswesen als Folge fortschreitender Modernisierung Die schon seit vielen Jahren vorzufindende kritische Entwicklung des Gesundheitswesens, die sich insbesondere in steigenden Ausgaben für Gesundheitskosten und Gesundheitsgüter sowie Rationierungsmechanismen widerspiegelt, ist - so die hier zu erörternde These - die Folge der fortschreitenden Modernisierung, die alle Lebensformen und sozialen Institutionen erfasst hat. Mit Hilfe des soziologischen Modernisierungskonzepts können grundlegende gesellschaftliche Veränderungen festgemacht werden, die ebenso das Gesundheitswesen betreffen. In einem ersten Schritt werden zunächst die soziologischen Grundlagen des Modernisierungsprozesses anband der in der Soziologie diskutierten Begriffe Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung dargestellt. Dann - in einem zweiten Schritt - werden diese Prozesse im Hinblick auf das Gesundheitswesen thematisiert und herausragende Probleme des Gesundheitssystems, die durch die ständig fortschreitende Modernisierung ausgelöst worden sind, zur Sprache gebracht.

I. Soziologische Grundlagen des Modernisierungsprozesses Soziologen und Soziologinnen beschäftigen sich nicht nur einfach mit der Gesellschaft, mit den dort ablaufenden sozialen Beziehungen und Interaktionsformen, seien diese auf der mikrosoziologischen l oder der makrosoziologischen 2 Ebene zu verorten, sondern eine wesentliche Frage soziologischen Denkens ist der soziale Wandel gesellschaftlicher Gebilde. Ja, der soziale Wandel "ist das zentrale Thema der sich schrittweise ausdifferenzierenden Soziologie,,3. Unter der Bezeichnung 1 Mikrosoziologie ist die Bezeichnung für einen Teilbereich der Soziologie, der die kleinsten sozialen Einheiten zum Untersuchungsgegenstand hat. Die Mikrosoziologie interessiert sich für die Wechselbeziehungen zwischen einigen wenigen in direkter Interaktion zueinander stehenden Individuen. Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 553. 2 Makrosoziologie ist die Bezeichnung für einen Teilbereich der Soziologie, der sich mit den Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus, der Entwicklung, der Veränderung und der gegenseitigen Einflussnahme von größeren sozialen Gebilden, gesellschaftlichen Zusammenhängen und kollektiven Prozessen befasst. Vgl. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie,

507/508.

3 Lepsius, Rainer M., Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der "Moderne" und die "Modernisierung", in: Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, 10.

200

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

"sozialer Wandel", die auf William F. Ogburn4 zurückgeht, versteht man "die prozessualen Veränderungen der Sozialstruktur einer Gesellschaft in ihren grundlegenden Institutionen, Kulturmustern, zugehörigen sozialen Handlungen und Bewußtseinsinhalten. ,,5 Sozialer Wandel meint also keine Veränderung innerhalb eines Gesellschaftssystems - das würde durch den Terminus "soziale Dynamik" ausgedrückt werden -, sondern die Veränderung betrifft das gesamte Gesellschaftssystem selbst. 6 Warum sich Gesellschaften ändern und welche Auswirkungen solche Prozesse auf die Individuen und die Sozialstruktur einer Gesellschaft haben, sind unzweifelhaft die Kernprobleme der empirisch geleiteten Soziologie. 7 Der soziologische Terminus sozialer Wandel steht in enger Beziehung zur Modemisierung. Modernisierung ist ein bestimmter Typ des sozialen Wandels, der nach Reinhard Bendix - seinen Ursprung in der Industrialisierung und der Französischen Revolution hat. 8 Der Terminus Modernisierung versucht, die zahlreichen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in ihrer Komplexität und Ganzheit in den Blick zu nehmen und sie theoretisch zusammenzufassen. Oder, anders ausgedrückt: "Modernisierung verweist auf einen Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen, der sich in den vergangenen Jahrhunderten herauskristallisiert und damit die Welt, in der wir augenblicklich leben, geformt hat und noch immer in eine bestimmte Richtung lenkt. ,,9 Welche Veränderungsprozesse durch die Modernisierung erfasst werden, kann nicht ohne weiteres expliziert werden, da es sich um eine Vielzahl sozialer Wandlungsprozesse mit weitreichenden kollektiven sowie individuellen Folgen handelt. Die Idee der Modernisierung muss einerseits als ein spezifischer 4 Vgl. Ogbum, William F., Social Change, New York 1922. 5 Zapf, Wolfgang, Wandel, sozialer, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 51998, 427. 6 Vgl. König, Rene, Sozialer Wandel, in: ders. (Hrsg.), Soziologie. Fischer Lexikon, Frankfurt a.M. 1967,291. 7 Bereits die Klassiker der Soziologie haben den Gesellschaftswandel, den Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft, begrifflich zu umschreiben versucht, indem dieser Wandel mit Hilfe verschiedener Begriffspaare ausgedrückt wurde: Der Übergang von der vormodernen Gesellschaft zur modernen Industriegesellschaft kann nach Comte mittels dreier Stadien (dem so genannten Dreistadiengesetz) ausgedrückt werden - vom theologisch-fiktiven Zeitalter über das metaphysisch-abstrakte Zeitalter zum wissenschaftlich-positiven Zeitalter. Vgl. Comte, Auguste, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. von Blaschke, Friedrich, Leipzig 1933, bes. 167 -384. Tönnies beschreibt diesen Transformationsprozess anhand der Terminologie von der "Gemeinschaft" zur "Gesellschaft". Vgl. 1Onnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 215. Durkheim charakterisiert ihn als den Wechsel von der "mechanischen Solidarität" zur "organischen Solidarität". Vgl. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 286. Vgl. zum Projekt der Moderne bei den soziologischen Klassikern Nassehi, Armin, Moderne Gesellschaft, in: Kneer, Georg / ders. / Schroer, Markus (Hrsg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001, 218 - 227. 8 Vgl. Bendix, Reinhard, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln / Berlin 41979, 505 - 512. 9 Loo / Reijen, Modernisierung, 11.

I. Soziologische Grundlagen

201

gesellschaftlicher Evolutionsprozess verstanden werden, der linear weiterläuft und letztendlich offen ist. Andererseits kann Modernisierung aber ebenso umschlagen und rückläufig werden, so dass eine Gegen-Modernisierung denkbar ist. In diesem Sinne bedeutet Modernisierung immer auch ein ambivalentes Gesellschaftsprojekt. Die Modeme trägt - wie im Folgenden gezeigt werden soll - ein Doppelgesicht. 10 Im Folgenden soll der Modernisierungsprozess - in Anlehnung an die Überlegungen von Hans van der Loo und Willem van Reijen - mit Hilfe von vier zentralen Veränderungsprozessen beschrieben werden, die teilweise auf die bereits genannten und für die Sozialethik konstitutiv gewordenen Strukturmomente der Modeme (vgl. A.1.5.a) zurückgreifen, diese aber nochmals in systematischer Hinsicht überschreiten. Um eine Theorie der Modernisierung zu entwerfen, wird zunächst in einem ersten Schritt auf ein allgemeines Handlungsschema zurückgegriffen, das die Gesellschaft und menschliches Handeln unter vier Perspektiven betrachtet: Unter struktureller und kultureller Perspektive, unter der Perspektive der Person bzw. des Individuums und unter der Perspektive der Natur (Abb. 5). Betrachtet man die Gesellschaft unter der Perspektive der Struktur; dann kann man feststellen, dass in ihr verschiedene soziale Rollen existieren und die Menschen als Träger von Rollen in unterschiedlichen Interaktionen stehen. Gesellschaft wird durch ein kulturelles Sinnsystem vermittelt. Aus der Perspektive der Kultur ist das gesellschaftliche Leben nur insofern möglich, weil Menschen sich an übergreifenden Symbol- und Bedeutungssystemen orientieren, die letztendlich Stabilität für das soziale Handeln

Struktur

Kultur Handlungsfeld

Person

Natur

Quelle: Loo / Reijen. Modernisierung. 29.

Abbildung 5: Allgemeines Handlungsschema

bedeuten. Auch wenn Menschen von gesellschaftlichen Strukturen umgeben sind und der Mensch in diesem Sinne ein Gefangener der Gesellschaft ist, so bleiben ihm dennoch genügend Fluchtwege. II Der Mensch als ein autonomes Subjekt - als Person - vermag, gesellschaftliche Ketten zu sprengen und aufgrund seiner indiviVgl. Nassehi, Moderne Gesellschaft, 211. Peter L. Berger gebraucht die Metapher von der Gesellschaft als Gefängnis und versteht darunter eine bestimmte soziologische Perspektive, die er "Mensch in der Gesellschaft" nennt. Vgl. Berger, Peter L., Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 41984, 77 -104. 10 11

202

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

duellen Persönlichkeits struktur Gesellschaft zu modifizieren und zu verändern. Somit ist die Person ein weiterer Weg, um die Gesellschaft zu erfassen. Schließlich um die vierte Perspektive zu nennen - drängt die Natur immer auch in die Gesellschaft hinein. Der Mensch begreift sich selbst als ein Naturwesen, das von der Natur abhängt und von ihr unter Umständen auch bedroht werden kann. Gesellschaft und menschliches Handeln bleiben damit immer an die Natur rückgebunden. 12 Anhand dieser vier herausgestellten Perspektiven oder Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und des menschlichen HandeIns können in einem zweiten Schritt die zentralen Modernisierungsprozesse deutlich gemacht werden. Aus der strukturellen Perspektive gesehen bedeutet Modemisierung ein Prozess der Differenzierung, aus der kulturellen Perspektive heißt Modemisierung Rationalisierung. Im Hinblick auf die Person kann die Modernisierung als Individualisierung verstanden werden. Da der Mensch seine eigenen Kräfte und die ihn umgebenden Naturkräfte beherrschen muss - so er überleben will -, ist Modernisierung schließlich immer auch ein Prozess der Domestizierung (Abb. 6).13

Differenzierung

Rationalisierung Handlungsfeld

Individualisierung

Domestizierung

Quelle: 1.00/ Reijen. Modemisierung, 29.

Abbildung 6: Handlungsschema der Modemisierung

Modernisierung bedeutet also eine Verflechtung aus Prozessen der Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung. 14 Dabei steht kein Vgl. Lool Reijen, Modemisierung, 29. V gl. Loo I Reijen, Modemisierung, 30. 14 Die von van der Loo und van Reijen herausgearbeiteten Modemisierungsdimensionen werden von anderen Sozialwissenschaftlern auch als die zentralen Kennzeichen des Modemisierungsprozesses genannt. Für Stefan Hradil etwa lässt sich Modernisierung an folgenden Vorgängen festmachen: Fortschrittsdenken, individuelle Freiheit, Verweltlichung und Rationalität. Vgl. Hradil, Stefan, Die "objektive" und die "subjektive" Modemisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 10.07. 1992, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 3-5. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Thomas Gensicke, der sich in seiner Darstellung des Modemisierungsprozesses auf Hradil bezieht: "Das Ziel des Modernisierungsprogramrnes ist letztendlich das gute Leben für die größtmögliche Zahl, das Mittel ist permanenter innovatorischer Fortschritt durch Rationalisierung und Akti12

13

11. Funktionale Differenzierung

203

Prozess für sich allein, sondern in komplexen Beziehungen zu den jeweils anderen Modernisierungskennzeichen. Die folgenden Kapitel erläutern in Grundzügen die verschiedenen Dimensionen der Modernisierung, wobei auch die einschlägigen Modernisierungstheorien und -theoretiker vorgestellt werden. Erst nach dieser Erörterung kann deutlich werden, welche weitreichenden Auswirkungen diese soziologischen Prozesse auf die institutionelle Gestaltung des Gesundheitswesens haben. Dahinter steht die Überzeugung, dass Modernisierung ein so dominanter Prozess ist, der alle sozialen Erscheinungsformen - also auch das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und die damit verbundene institutionelle Reglementierung und Ausgestaltung - erfasst. 11. Funktionale Differenzierung

1. Die Ausdifferenzierung von Kultursachbereichen

Der Begriff der funktionalen Differenzierung - oder gesellschaftlichen Differenzierung - gehört zu den Schlüsselkategorien soziologischer bzw. sozialwissenschaftlicher Reflexionen, um eine Theorie moderner Gesellschaften zu formulieren. 15 Der Grad der gesellschaftlichen Differenzierung entscheidet über den soziokulturellen Entwicklungsstand einer Gesellschaft und vermag höher entwickelte (ausdifferenzierte) Gesellschaftsgebilde von weniger entwickelten (ausdifferenzierten) zu unterscheiden. 16 Unter dem soziologischen Terminus gesellschaftliche Differenzierung versteht man allgemein den Prozess der Trennung und der funktionalen Spezifizierung. Van der Loo und van Reijen definieren diesen Prozess mit folgenden Worten: "Differenzierung bezieht sich auf die Spaltung eines ursprünglich homogenen Ganzen in Teile mit eigenem Charakter und eigener Zusammensetzung. Als Folge von Differenzierung verse1bständigen sich allerlei Aktivitäten und Funktionen und bilden auf sie hin orientierte Institutionen und Organisationen. Die neuen differenzierten Einheiten spezialisieren sich immer wieder in der Erfüllung bestimmter Funktionen.,,17 Charakteristikum differenzierter Gesellschaften ist ihr hoher Grad an Arbeitsteilung und die damit einhergehende Funktionszuteilung. Der Mensch in der modernen Gesellschaft findet seinen Platz nicht mehr über Abstammungsbeziehungen, sondern primär über seine Berufsgruppe und somit über vierung der mehr oder weniger weit gestreuten individuellen Fähigkeiten und Motivationen." Gensicke, Thomas, Sozialer Wandel durch Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 11. 10. 1996, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 3. 15 V gl. hierzu die Übersicht über die verschiedenen soziologischen Differenzierungstheorien Schimank, Uwe, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 16 Vgl. Kneer; Georgl Nollmann, Gerd, Funktional differenzierte Gesellschaft, in: Kneer, Georg I N assehi, Arrnin I Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997,77. 17 Loo I Reijen, Modernisierung, 31. Hervorhebung im Original.

204

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

seine Funktion, die er innerhalb des Gesellschaftsgebildes ausübt. Diesen Transformationsprozess hat Durkheim in seiner Studie über die soziale Arbeitsteilung in besonderer Weise herausgestellt, um die Gesellschaft, in der die organische Solidarität herrscht, zu beschreiben. 18 Die hier angesprochene funktionale Differenzierung kann auch - nach KarlOtto Hondrich - mit "Leistungsdifferenzierung,"9 bezeichnet werden. Leistungen sind in einem Gesellschaftsgebilde von zentraler Bedeutung, um spezifische humane Bedürfnisse befriedigen zu können. 2o Die Differenzierungsform der modemen Gesellschaft findet im Wesentlichen auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt: auf einer mikrosoziologischen und einer makrosoziologischen Ebene. 21 Die Makroebene der gesellschaftlichen Differenzierung bezieht sich auf die unterschiedlichen Teilsysteme der modemen Gesellschaft, die sich im Laufe der Modernisierung im Sinne autonomer Kultursachbereiche herauskristallisiert haben. Modeme Gesellschaften bestehen demnach aus einem Nebeneinander funktional spezialisierter Subsysteme. 22 Spricht man von sozialer Differenzierung auf der Mikroebene, dann meint man damit - ganz im Sinne von Durkheim -, dass aufgrund der zunehmenden Arbeitsteilung eine berufliche Rollendifferenzierung entsteht. Doch nicht nur funktionale Berufsrollen, sondern ebenso die zahlreichen anderen Rollen innerhalb der Familie, der Nachbarschaft und der Freizeit prägen individuelle Verhaltensweisen und tragen zu komplexen aufeinander bezogenen Gruppenstrukturen bei. Auch wenn die mikrosoziologische und die makrosoziologische Ebene der gesellschaftlichen Differenzierung aufeinander angewiesen sind und gesellschaftliche Prozesse gleichsam prägen, muss die Ausdifferenzierung von (relativ) selbständigen gesellschaftlichen Teilsystemen auf der Makroebene als Voraussetzung für die rollenförmige Ausdifferenzierung auf der Mikroebene gedeutet werden. Der Modernisierungsprozess stellt sich als ein Ausdifferenzierungsprozess dar, bei dem sich Institutionen und Organisationen entfalten und diversifizieren. Auf der sozialstrukturellen Ebene entwickeln sich somit eigenständige gesellschaftliche Subsysteme bzw. Kultursachbereiche mit jeweils eigenen Funktionen, Funktionären und funktionalen Rollen. 23 Vgl. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 237/238. Hondrich, Karl Ono, Sozialer Wandel als Differenzierung, in: ders. (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Langzeitanalysen zum Wandel von Politik, Arbeit und Familie, Frankfurt a.M. 1 New York 1982,25. 20 V gl. Hondrich, Sozialer Wandel als Differenzierung, 25/26. 21 Vgl. Schimank, Uwel Volkmann, Ute, Gesellschaftliche Differenzierung, Bielefeld 1999, 7/8. Neben der mikrosoziologischen und der makrosoziologischen Differenzierung sprechen Uwe Schimank und Ute Volkmann auch von der Differenzierung auf der Mesoebene, worunter sie die funktionale Differenzierung im Hinblick auf formale Organisationen verstehen. Organisationen sind einerseits Träger rollenspezifischer Arbeitsteilung und andererseits Träger der teilsysternischen Ausdifferenzierung. Vgl. Schimank 1 Volkmann, Gesellschaftliche Differenzierung, 8. 22 V gl. Schimank 1 Volkmann, Gesellschaftliche Differenzierung, 6. 23 Vgl. Loo 1Reijen, Modernisierung, 81 182. 18

19

H. Funktionale Differenzierung

205

Die Geschichte der neuzeitlichen Kultur hängt mit dem hier genannten makro soziologischen Prozess der Differenzierung von funktionellen Teilsystemen eng zusammen. Korff bezeichnet diesen Prozess, der unser modernes Kultursystem bedingt hat, als "Diversifizierung der menschlichen Handlungssphäre,,24. Die Geschichte des neuzeitlichen Fortschritts kann somit erst verstanden werden, "wenn sie zugleich als Geschichte des Auseinandertretens und der Verselbständigung von Kultursachbereichen begriffen wird. ,,25 In diesem Zusammenhang unterscheidet Korff sieben autonome Kultursachbereiche im Sinne von gesellschaftlichen Subsystemen, nämlich Religion / Kirche, Politik / Staat, Wissenschaft, Kunst, Technik, Ökonomie und Medien, die sich seit dem 11. Jahrhundert herausgebildet haben und den Fortschritt der Menschheit sowohl handlungs- als auch erkenntnismäßig in weitreichender Form begünstigt haben. 26 Dieser Differenzierungsverlauf muss als Prozess gedeutet werden, der historisch mit bestimmten Entwicklungen aufs Tiefste verbunden ist. Zuerst wird im 11. Jahrhundert, im so genannten Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser, die religiös-politische Verflechtung aufgelöst. Die Kirche wehrt sich gegen den Herrschaftsanspruch des Reiches, entlässt den Kaiser, der vorher ein sakrales Kaisertum verkörperte, als laikaie Macht und bildet einen eigenständigen Kompetenzbereich aus. Somit grenzt sich die religiöse Sphäre von der staatlichpolitischen ab. Auch wenn in den nachfolgenden Jahrhunderten (bis heute) Staat und Kirche miteinander um gesellschaftliche Kompetenz ringen, beide Kultursachbereiche immer wieder versuchen, aufeinander Einfluss zu nehmen und der Ausdifferenzierungsprozess dieser beiden Systeme in diesem Sinne keineswegs vollständig abgeschlossen ist, setzt aber mit dem Investiturstreit ein erster großer "Abnabelungsprozess" ein. Nach dieser Trennung von Staat und Kirche entsteht im 12. Jahrhundert die Wissenschaft, die an der Universität ihren spezifischen Ort findet. Hier etabliert sich ein eigenständiger, vor weltlichen und geistlichen Bevormundungen geschützter Raum, der ausschließlich der Lehre und Forschung verpflichtet ist. In der Spätrenaissance trennen sich ferner Kunst und Technik, die im Mittelalter eine Einheit bilden. Die Zusammenarbeit von Technik und Wissenschaft eröffnet schließlich den Raum für neue Entwicklungen und Produkte, die den Menschen dienlich sind. Wissenschaft, Technik und Technikentwicklung sind - nach dem Urteil von Korff - das unverzichtbare Fundament der modernen Welt. "Diese neue Zuordnung von Wissenschaft und Technik schafft die Basis für eine Entwicklung, wie sie dann für den weiteren Gang der Geschichte der Neuzeit bestimmend wurde und schließlich zu den gewaltigsten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte geführt hat: Mit ihr gewinnt die Idee fortschreitender Sicherung und Entfaltung der menschlichen Lebenswelt Realität.'.27 Doch erst durch die Wirtschaft als weiteren, Korff, Wirtschaft und Ethik, 33. Korff, Wirtschaft und Ethik, 33. 26 Vgl. Korff, Wilhelm, Die Welt der Medien als autonomer Kultursachbereich, in: Wolbert, Wemer (Hrsg.), Moral in einer Kultur der Massenmedien, Wien I Fribourg 1994, 19-22. 27 Korff, Welt der Medien, 20. 24 25

206

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

neu hinzukommenden Kultursachbereich werden Wissenschaft und Technik produktiv. Erst mit Hilfe wirtschaftlicher Prozesse kann die wissenschaftlich-technische Rationalität expandieren. Denn die Ökonomie ist es, die - auf der Grundlage von Wissenschaft und Technik - Konsumprodukte herstellt und verbreitet. Und nur eine Wirtschaft, die dynamisch und innovativ operiert, die sich also ohne totalitäre Aufsicht vonseiten des Staates entwickelt, ist in der Lage, sich als ein modernes Teilsystem der Gesellschaft mit neuen Produktionsmitteln, Produktionszielen und einer allgemeinen Produktivitätssteigerung zu entfalten. Als jüngster Kultursachbereich, den Korff nennt, gilt die durch die Kommunikationstechnik entstandene Welt der Medien, die ab dem 19. Jahrhundert das Bild der Welt entscheidend mitprägt. Ohne den Prozess der Differenzierung und der damit einhergehenden Entstehung von unterschiedlichen Handlungsfeldern ist die Genese der modernen Welt nicht zu verstehen. Denn nur mit Hilfe der hier beschriebenen Ausdifferenzierung von Kultursachbereichen, die sich voneinander abgrenzen, die jedoch auch aufeinander bezogen bleiben und aufeinander Einfluss ausüben, ist humaner Fortschritt möglich?8 Ob die gegenwärtige modern-ausdifferenzierte Gesellschaft anhand der von Korff genannten sieben Kultursachbereiche umfassend charakterisiert werden kann, ist diskussionswürdig. Weitere Teilsysteme können aufgezählt werden, die ebenso kultursachbereichsspezifische Rollen- und Handlungsmuster sowie spezifische Institutionen mit arteigenen Reflexionstypen ausgebildet haben. Zu denken ist etwa an das Gesundheitswesen, das ab Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer modernen gesellschaftlichen Pflege- und Fürsorgeeinrichtung geworden ist. Moderne Fürsorge kranker Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht mehr auf freiwilliger Basis erfolgt, sondern von professionellen Dienstleistern innerhalb institutioneller Gebilde ausgeübt wird. Auch dem Bildungswesen, das freilich in enger Beziehung zur Wissenschaft steht, müsste man den Status eines autonomen Kultursachbereichs zubilligen. Die von Korff in seiner Differenzierungstheorie herausgearbeiteten sieben Kultursachbereiche stellen spezifische Funktionsbereiche dar, in denen die in einer Gesellschaft zu lösenden Aufgaben verwirklicht werden. Demnach gehören Religion / Kirche und Kunst dem kulturell-künstlerischen Bereich, Politik / Staat dem politisch-rechtlichen Bereich, Wissenschaft und Technik dem Bereich des Wissens und Könnens, Wirtschaft dem ökonomischen Bereich und Medien dem kommunikativen Bereich an. 29 Letztlich muss eine Gesellschaft, unabhängig davon, ob es sich um eine weniger ausdifferenzierte und entwickelte oder eine hochkomplexe Fonn handelt, diese Funktionen und Leistungen umsetzen. Auch in vonnodernen Vgl. Korff, Welt der Medien, 19. Anzenbacher zählt fünf wichtige Teilbereiche auf, die in allen Epochen und Hemisphären anzutreffen sind, den familialen Bereich, den Bereich des Wissens und Könnens, den ökonomischen Bereich, den politisch-rechtlichen Bereich sowie den kulturell-religiösen Bereich. Einen kommunikativen Bereich nennt Anzenbacher allerdings nicht. Vgl. Anzenbacher, Christliche Sozialethik, 12. 28 29

11. Funktionale Differenzierung

207

Gesellschaftsgebilden wurde politische Herrschaft ausgeübt und Wirtschaft betrieben. Der entscheidende Punkt ist aber, dass sich im Laufe der Modernisierung diese Bereiche zu hochgradig komplexen, autonomen, mit Rationalisierungspotenzen ausgestatteten Kultursachbereichen entwickelt haben. Zudem sind die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme selbst wiederum strukturell differenziert, so dass beispielsweise das Wirtschaftssystem zahlreiche (ausdifferenzierte) Institutionen und Organisationen bereitstellt, die für die Erfüllung ihrer funktional-sachspezifischen Leistungsaufgaben unverzichtbar sind. Strukturelle Differenzierung setzt sich demzufolge auch innerhalb der jeweiligen Teilsysteme durch. Bei der Ausbildung von Kultursachbereichen ist zu bedenken, dass es sich hierbei zumeist um relativ autonome Strukturen handelt, dass also die verschiedenen Kultursachbereiche nie ganz ohne die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche auskommen. So ist beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung nur mit Hilfe von wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften denkbar. Weiterhin bedeutet Diversifizierung immer auch "Gewaltenteilung", regionalisierte Verantwortung und die Entfaltung eigener Strukturgesetze, nach denen die Kultursachbereiche intern arbeiten. Eine solche interne Strukturlogik produziert spezifische Reflexionstypen, Institutionen sowie ganz eigene Rollenmuster, die auf das jeweilige Handlungsfeld adäquat zugeschnitten sind. 3o Hausmanninger weist unter Zuhilfenahme des Interpenetrations-Begriffs, den die Soziologen Niklas Luhmann 31 und Richard Münch32 in die soziologische Theorie eingeführt haben, darauf hin, dass sich in der Moderne die unterschiedlichen Kultursachbereiche gegenseitig durchdringen und beeinflussen?3 In diesem Sinne kann man nur von einer relativen Autonomie reden. Auf der einen Seite kann diese Entwicklung als Motor des Fortschritts gedeutet werden, denn durch Allianzen verschiedener Kultursachbereiche entstehen innovative Handlungsmöglichkeiten und kreative Prozesse. 34 Doch auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass ein Kultursachbereich einen anderen überherrscht und jenen somit in seiner Autonomie bzw. seiner eigenen Strukturlogik beschneidet. Eine solche Dominanz wird beispielsweise bei der Verbindung von Ökonomie - in Form der Planwirtschaft - und Politik deutlich. Bei der Planwirtschaft ist die hier angesprochene Verquickung von staatlicher und wirtschaftlicher Handlungsebene immer total. Die Gesamtwirtschaft wird von einer zentralen Planungsinstanz und einem bestimmten Plan gelenkt. Aber auch die Medienpolitik in Vgl. Hausmanninger; Christliche Sozialethik in der späten Moderne, 57. Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 2 1988, z. B. 289-292. 32 Vgl. Münch, Richard, Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, bes. 11-27. 33 Vgl. Hausmanninger; Christliche Sozialethik, 57. 34 So führt schon Korff in seinen kulturtheoretischen Ausführungen an, dass die technischwissenschaftlichen Erkenntnisse erst durch den ökonomischen Einsatz zum produktiven Faktor werden. Nur durch solche Verbindungen ist die Kultur der Moderne entstanden. Vgl. Korff, Welt der Medien, 20/21; vgl. auch Hausmanninger; Christliche Sozialethik, 58. 30 31

208

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

totalitären Systemen zielt auf die Einheit von Staat und Medien, denn die Kommunikationstechnik kann - wie z. B. im Nationalsozialismus - als Manipulationsund Propagandainstrument des Staates missbraucht werden. Autonomie der Kultursachbereiche ist unter totalitären Bedingungen daher nicht mehr möglich. 35 Korff tritt deshalb für die grundsätzliche Autonomie der Kultursachbereiche ein, da unter solchen Voraussetzungen nicht nur der Fortschritt der Menschheit ermöglicht wird, sondern auch die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums innerhalb der Gesellschaft. 36 2. Gesellschaftliche Differenzierung und Stratifikation in der Arbeitsgesellschaft

Das Konzept von der gesellschaftlichen Differenzierung auf der mikrosoziologischen Ebene besagt, dass innerhalb einer Gesellschaft verschiedenartige soziale Positionen und Funktionen anzutreffen sind. Einzelne Individuen oder Gruppen nehmen demzufolge unterschiedliche soziale Ränge in der Hierarchie einer Gesellschaft ein. Arbeitsteilung und funktionale Rollendifferenzierung führen in diesem Sinne zu einer ungleichmäßigen Verteilung von gesellschaftlichen Positionen und Ressourcen. 37 Während in traditionellen Gesellschaften die Mitglieder keine oder nur wenig soziale Aufstiegsmöglichkeiten hatten - man war zumeist gefangen in einem starren und geschlossenen Standes- oder Klassensystem -, wird es in der modernen Gesellschaft prinzipiell allen Gesellschaftsmitgliedern ermöglicht, sozial aufzusteigen und einen höheren Rang in der Gesellschaftshierarchie einzunehmen. 38 Trotz der sozialen Mobilität wird die moderne Gesellschaft durch eine soziale Schichtung charakterisiert, nach der die Chancen der Gesellschaftsmitglieder, ihre individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, ungleich verteilt sind. 39 Soziale Ungieichheit40 bedeutet also, dass Menschen bestimmten vorteilhaften oder auch nachteiligen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, die ihnen aufgrund ihrer sozialen Position im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge zukommen. 41 Diese ungleich verteilten Lebensbedingungen bzw. -chancen von Menschen hängen (1) von der Vgl. Korff, Welt der Medien, 21/22. Vgl. Korff, Welt der Medien, 22. 37 Vgl. Loo / Reijen, Modernisierung, 96. 38 Der Status wird also nicht mehr, wie Ralph Linton betont, aufgrund der biologischen Herkunft zugeschrieben (ascribed status), sondern individuell erworben (achieved status) und verdankt sich damit der persönlichen Anstrengung im Kontext einer Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft. Vgl. Linton, The Study ofMan, 115. 39 V gl. Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie, 132. 40 Innerhalb der Soziologie wird soziale Ungleichheit auch mit dem Terminus Stratifikation ausgedrückt. 41 Vgl. Hradil, Stefan, Schicht, Schichtung und Mobilität, in: Korte, Hermann / Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, 147; Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 82001, 27 - 30. 35

36

1I. Funktionale Differenzierung

209

Güterversorgung, (2) vom Zugang zu wichtigen Informationen und (3) von der Macht, die der Einzelne ausüben kann, ab. 42 Wirtschaftliche Chancen, Informations- und Machtchancen können aber nicht voneinander losgelöst betrachtet werden, sondern sind in der "geschichteten Gesellschaft,,43 auf vielfältige Weise miteinander verbunden. 44 Die gesellschaftliche Schichtung beruht primär auf wirtschaftlichen Kriterien, das heißt, sie ist abhängig vom Erwerb von Gütern und Dienstleistungen. Um ökonomische Güter erzielen zu können, ist der Mensch nach wie vor auf seine Arbeitskraft und seinen Beruf angewiesen. 45 Die Zentralität von Arbeit haben die soziologischen Klassiker, wie Karl Marx und Max Weber, immer wieder betont und beschreiben dabei die Lage der arbeitenden Menschen in einer Wirtschaftsgesellschaft mit dem Terminus Klasse. 46 M. Weber sieht in der Klassenlage die vornehme Chance, nicht nur an der Güterversorgung, sondern auch am gesamten gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können: ",Klassenlage ' soll die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals heißen, welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt.,,47 Die Klassenlage übt demzufolge eine totale Kontrolle über die Gesellschaftsglieder aus, da davon sämtliche Existenzoptionen abhängen. Auch wenn der Begriff der Klasse - ebenso wie der Begriff des Standes48 heute nicht mehr die Gültigkeit hat, wie das noch im 19. Jahrhundert oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war, spielt die wirtschaftliche Situation für gelingendes Leben unzweifelhaft eine zentrale Rolle. Nach der Individualisierungsthese von Ulrich Beck (vgl. D.lY.l) kann die modeme Gesellschaft nicht mehr durch die Klassen- und Standeslagen gekennzeichnet werden. Besonders der so genannte "Fahrstuhl-Effekt" hat der Bevölkerung ab den 1960er-Jahren ein kollektives "Mehr" an Einkommens-, Bildungs- und Mobilitätschancen eröffnet. 49 Dabei Vgl. Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie, 132/ 133. So eine Kapitelüberschrift in dem soziologischen Einführungswerk von Peter L. Berger und Brigitte Berger. V gl. Berger I Berger, Wir und die Gesellschaft, 111. 44 Vgl. Bahrdt, SchlüsseJbegriffe der Soziologie, 133. 45 Dies trifft auch auf den Sozialstaat zu, der nur insofern leistungsfähig sein kann, wie die darin arbeitenden Menschen aufgrund ihrer Arbeitskraft zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stärke beitragen. 46 Vgl. Lool Reijen, Modernisierung, 99. 47 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 177. 48 Für M. Weber ist die ständische Lage abhängig von der sozialen PriviIegierung, die sich z. B. in der Lebensführungsart, der formalen Erziehungsweise, im Abstammungs- oder Berufsprestige äußert. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 179. 49 V gl. Beck, UJrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, 122. 42

43

14 Bohnnann

210

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

spielen drei veränderte sozialstrukturelle Entwicklungen in der Lebens- und Arbeitswelt eine große Rolle, die den "Fahrstuhl-Effekt" innerhalb der Biographie verursacht haben: Lebenszeit, Arbeitszeit und Arbeitseinkommen. Der größte Teil einer Bevölkerung profitiert von diesen Entwicklungen. Gestiegene (durchschnittliche) Lebenserwartung, eine stark verkürzte Arbeitszeit (etwa um ein Viertel) und höhere Löhne rufen die Menschen aus alten Zwängen heraus, schenken ihnen ein "Mehr" an Leben und setzen sie frei für ein Dasein auch außerhalb konventioneller Erwerbsarbeit. 5o Kollektive Freizeit- und Konsummöglichkeiten locken nicht nur, sondern können auch realisiert werden und lassen somit "die Konturen traditioneller Lebensformen und Sozialmilieus verschwinden,,51. Damit werden aber in der modemen Gesellschaft gerade solche Konsum-, Lebens- und Erlebnisstile zu den neuen Formen der Unterscheidung, also der sozialen Differenzierung auf der mikrosoziologischen Ebene. 52 Trotz des "Fahrstuhl-Effekts" gibt es in der Gesellschaft - das sieht Beck sehr wohl - nach wie vor Formen der sozialen Ungleichheit. Er sieht also nicht nur die positive Seite der Entwicklung, den materiellen Wohlstand für prinzipiell alle, sondern er thematisiert zugleich auch die neue soziale Frage der Gegenwart: Massenarbeitslosigkeit und neue Armut. 53 Dabei erklärt der soziale Wandel und die Situation der modemen Industriegesellschaft geradezu die neue Armut, da das Armutsschicksal nicht mehr wie früher kollektiv greift, sondern persönlich und lebensspezifisch wird. "Die Betroffenen müssen mit sich selbst austragen, wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusarnmenhänge entlastende Grunddeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten [ ... ]. Die Bezugseinheit, in die der Blitz (der Arbeitslosigkeit und Armut) einschlägt, ist nicht mehr die Gruppe, die Klasse, die Schicht, sondern das Markt-Individuum in seinen besonderen Umständen. ,,54 Auch wenn eine wachsende Spaltung unserer Gesellschaft in eine abnehmende Mehrheit von Arbeitsplatzbesitzern und eine wachsende Minderheit von Arbeitslosen beobachtet werden kann, stellt dieser Befund die Zentralität von Arbeit, im Vgl. Beek, Risikogesellschaft, 124. Beek, Risikogesellschaft, 124. 52 V gl. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M.lNew York 2 1992. Das Gesellschaftsspiel von Imitation und Distinktion ist aber keineswegs eine Erfindung der Erlebnisgesellschaft - im Sinne von Gerhard Schulze -, sondern ein grundsätzliches soziales Phänomen, das bereits auch schon bei den soziologischen Klassikern zur Sprache kommt. Vgl. Simmel, Georg, Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie, in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt a.M. 31989, 131-139. Vgl. auch Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987. 53 V gl. Beek, Risikogesellschaft, 143 - 151. 54 Beek, Risikogesellschaft, 144. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch Hradil, Stefan, Die "neuen" sozialen Ungleichheiten. Was man von der Industriegesellschaft erwartete und was sie gebracht hat, in: ders. (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch, Opladen 1985, 51-66. 50

51

m. Rationalisierung

211

Sinne von Erwerbsarbeit, nicht in Frage. Arbeit ist für das Individuum und die Gesellschaft nach wie vor eine zentrale Lebenskategorie, mit der Lebenserfahrungen und kulturelle Chancen - aber eben auch soziale Stratifikation - verbunden sind. Die deutsche Gesellschaft kann - trotz aller Gegenstimmen - als ArbeitsgeseIlschaft (Erwerbsarbeitsgesellschaft) charakterisiert werden, weil die Kategorie Arbeit Individuum und Gesellschaft miteinander verbindet. 55

m. Rationalisierung 1. Rationalisierung und die Entzauberung der Welt

Unter Rationalisierung versteht man ganz allgemein einen kulturellen Prozess, bei dem der Mensch die ihn umgebende soziale Wirklichkeit ordnet und systematisiert, um sie so vorhersehbar und beherrschbar zu machen. 56 Damit sich der Mensch aber rationai verhält, er die Natur berechnen und begründen, kulturelle Entwicklungen beherrschen kann, muss er die ganze Welt als seinen "Arbeitsplatz" betrachten. Der Mensch wurde erst dann fähig, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Natur auf seine eigenen Bedürfnisse hin umzubauen, als er sich im Laufe seiner kulturellen Entwicklung von der Vorstellung befreien konnte, dass die Natur von numinosen Kräften durchsetzt und von geheimnisvollen Geistern bewohnt ist. Rationalisierung ist also einerseits im Sinne der Entmythologisierung der Natur und andererseits im Sinne einer grundsätzlichen Herrschaft der Vernunft zu interpretieren. Entmythologisierung der Natur wird von M. Weber mit dem klassischen Topos "Entzauberung der Welt,,57 umschrieben. Die Welt wird von den in ihr herrschen55 Vgl. Jäger; Wieland, Arbeits- und Berufssoziologie, in: Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Praxisfelder der Soziologie, Opladen 21997, 113. Arbeit vermittelt ein bestimmtes Zeiterlebnis (die Arbeit teilt das ganze Leben in regelmäßige Perioden von Nicht-Arbeit, Arbeit und Freizeit ein); sie bereichert das subjektive Wissen um die Welt über den engen Kreis von Familie, Nachbarn, Freunde hinaus; sie definiert den sozialen Status jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds und hat somit direkt Einfluss auf Prestige, Identität, soziale Chancen und Ungleichheiten. Die Stellung des Menschen in der Arbeitswelt bestimmt seinen gesellschaftlichen Gesamtstatus und damit auch die Einflussmöglichkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse. Mit Ulrich Beck, Michael Brater und Hansjürgen Daheim kann die Zentralität von Arbeit für eine Gesellschaft wie folgt zusammengefasst werden: Es ist stets zu beachten, "daß ,Arbeit' nicht nur die materielle Herstellung von Gütern urnfaßt, sondern auch die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen und Dienstleistungen und auf die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnungen bzw. die Bewältigung gesellschaftlicher Prozesse ganz allgemein zielt." Beck, Ulrichl Brater; Michaeli Daheim, Hansjürgen, Soziologie der Arbeit und der Berufe. Grundlagen Problemfelder, Forschungsergebnisse, Reinbek bei Hamburg 1980,23. 56 Vgl. Loo I Reijen, Modernisierung, 31. 57 Weber; Max, Gesammelte Aufsätze zu Religionssoziologie I, Tübingen 91988, 94. Die Rede von der "Entzauberung der Welt" durchzieht das gesamte religionssoziologische Werk

14*

212

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

den Göttern entleert, und religiöse Sinndeutungen im Sinne einer beseelten Natur treten immer mehr zurück. Gemäß einer solchen Weltinterpretation muss nun der Mensch selbst ordnend eingreifen und die Welt als seine Schöpfung betrachten. Der religions geschichtliche Prozess der "Entzauberung der Welt" kann grundsätzlich auch mit dem Ausdruck Säkularisierung bezeichnet werden, den M. Weber ebenfalls in seiner Soziologie integriert hat. Der Sache nach beschreiben beide Begriffe einen identischen soziokulturellen Prozess, bei dem sich eine religiöse Sinnordnung allmählich auflöst und durch eine neue Weltinterpretation ersetzt wird. Der Religionssoziologe Peter L. Berger definiert Säkularisierung als "einen Prozeß, durch den Teile der Gesellschaft und Ausschnitte der Kultur aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen werden. ,,58 Es geht hierbei also um eine Veränderung der Rolle vor allem des christlichen Glaubens im Kontext der Modernisierung. 59 Für Berger gibt es zum einen eine Säkularisierung von Gesellschaft und Institutionen, worunter er den Rückzug der christlichen Kirchen aus Bereichen versteht, die vorher unter kirchlicher Obhut und Aufsicht gestanden haben. 60 Zum anderen spricht er von einer Säkularisierung von Kultur und kulturellen Symbolen. Säkularisierung hat demnach nicht nur spezielle soziokulturelle Folgen, etwa in Form der Trennung von Staat und Kirche, sondern der dahinter stehende Vorgang umfasst die gesamte Gesellschaftsstruktur und bezieht sich auf die Totalität des kulturellen Lebens. Das heißt, die zentrale Säkularisierungsfolge ist das Verschwinden religiöser Inhalte aus weiten Teilen der Kultur. 61 Dies macht Berger an der religiösen Reduktion in den Künsten, der Philosophie und der Literatur mit der gleichzeitigen Ausbreitung der Naturwissenschaften fest, die von einer säkularen WeItsicht getragen werden. 62 Berger geht in seiner Deutung noch einen Schritt weiter und versteht den Säkularisierungsprozess als ein Geschehen, das das Individuum zutiefst in seiner subjektiven Weltanschauung betrifft. "Wie eine Säkularisierung der Kultur und Gesellschaft, so gibt es auch eine Säkularisierung des Bewußtseins. Das heißt also, daß mindestens in Europa und den Vereinigten Staaten heutzutage eine ständig wachsende Zahl von Menschen lebt, die sich die Welt und ihr eigenes Dasein auch ohne religiösen Segen erklären können. ,,63 Religion ist demzufolge also nicht mehr für die eigene Lebensgestaltung und das Glücken des (ewigen) Lebens notwendig. In einer säkularisierten Gesellschaft wird Religion zur subjektiven Entscheidung, M. Webers. Vgl. Weiß. Johannes, Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, 139/140. 58 Berger, Peter L., Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1988, 103. 59 V gl. Ruh. Ulrich, Säkularisierung, Säkularisation, Säkularismus: I. Terminologie, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 3 1999, 1467. 60 Vgl. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 103. 61 Vgl. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 103. 62 Vgl. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 103. 63 Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 103/104.

III. Rationalisierung

213

zur Privatangelegenheit und individuellen Wahl, zumal das Angebot auf dem "Religionsmarkt" plural ist und keiner mehr zu einer bestimmten Religionszugehörigkeit gezwungen wird. 64 Säkularisierung besagt folglich auch eine Umorientierung, weg von einer religiösen Deutung hin zu anderen Sinndeutungssystemen. 65 Auch wenn innerhalb der religionssoziologischen Forschung Einigkeit darüber besteht, dass die modeme Welt ganz im Sinne von M. Weber entzaubert und vom Geist der Säkularisierung durchsetzt ist, so ist diese Aussage nicht gleichzusetzen mit einem grundsätzlichen Religionsverlust innerhalb der (westlichen) Gesellschaft. Im Laufe der Modernisierung hat sich zwar eine religionskritische und individualistische Rationalisierung der Weltdeutung immer mehr etablieren können, doch damit ist ein religiöses Sinnsystem längst nicht verschwunden. In der Religionssoziologie spricht man von einem Rückgang institutionalisierter Religion, von Entkirchlichung oder Deinstitutionalisierung: Religiös-kirchliche Symbole verlieren ihre Plausibilität für eine (wachsende) Vielzahl von Menschen. Die modeme Religionssoziologie nimmt von daher neue Sozialformen der Religion in den Blick. Besonders Thomas Luckmann ist es mit der Rede von der "unsichtbaren Religion" gelungen, solchen neuen Formen des Religiösen in der modemen Gesellschaft eine theoretisch-religionssoziologische Fundierung zu geben. 66 Religion ist für ihn in der modemen Gesellschaft nicht verschwunden, sondern hat sich transformiert in privatisierte Religionsgebilde, die nicht mehr ohne weiteres den etablierten institutionalisierten Religionsformen, also Kirchlichkeit, zugeordnet werden können. Zentrales Kennzeichen der neuen Sozialformen des Religiösen ist ihr subjektorientierter Gebrauch, ganz im Sinne einer individuellen Konsumorientierung, die lediglich auf die aktuellen "religiösen" Bedürfnisse der Sinnsuchenden reagiert. Religion wird demnach gebraucht, wenn sie "den Anforderungen der individuellen Forderungen nachkommt.,,67 Am Ende seines Buches benennt Luckmann verschiedene Themenfelder moderner Religiosität, bei denen die Privatsphäre als soziale Basis für einen neuen "heiligen Kosmos" säkularisierter Art in besonderer Weise zum Tragen kommt. 68 Solche innerlichen, sich im Privatbereich Vgl. Berger; Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 132. Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, 21. 66 Luclcmann hat erstmals 1963 das Verhältnis von Religion und moderner Gesellschaft theoretisch zu erfassen gesucht. Vgl. Luckmann, Thomas, Zum Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg 1963. Diese Studie erschien dann in erweiterter Form in englischer Sprache, wobei die neuen Religionsformen bereits im Titel anklingen. Vgl. Luckmann, Thomas, The Invisible Religion, New York 1967. Schließlich erscheint 1991 die englische Fassung in einer deutschen Übersetzung und gehört jetzt schon zu den Klassikern der modernen Religionssoziologie. Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991. 67 Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckrnanns Unsichtbare Religion, in: Luckrnann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991,21. 68 Für Luckrnann geht die Privatisierung der Religion mit der Privatisierung der modernen Gesellschaft Hand in Hand. 64 65

214

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

artikulierenden Themen sind Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung des Einzelnen, Mobilitätsethos, Sexualität, Familialismus. 69 Mit diesen Themen wird eine privatisierte Ideologie, eine individuelle Autonomie, ein sakraler Status des Einzelnen betont. In diesem neuen Sinnkosmos der modemen Gesellschaft wird allerdings ein Thema nicht berücksichtigt, das bei traditionellen oder institutionalisierten Religionsformen immer schon einen zentralen Platz eingenommen hat: die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers, das Altem und Sterben des Menschen: "Auffällig ist, daß der Tod nicht einmal als untergeordnetes Thema im Heiligen Kosmos moderner Industriegesellschaften auftaucht. Auch Altwerden und hohes Alter werden nicht mit ,heiliger' Bedeutung versehen. Der ,autonome' einzelne ist jung, und er stirbt nie.,,7o Obwohl die Modeme auf der einen Seite entzaubert ist, lassen sich Verzauberungsprozesse und scheinbare Desäkularisierungstendenzen im Sinne von neuen, andersgearteten Religiositätserscheinungen erkennen. 71 Postmoderne Religionsformen, die das Heilige bereits im Diesseits suchen und widerspiegeln, Ersatzreligionen, religiöse Äquivalente etc. sind Begriffe, die das Religiöse trotz aller Säkularisierung einzufangen versuchen. Diese sozialen Erscheinungen sind aber keineswegs ein Widerspruch zur Theorie der Modemisierung. 72 Modemisierung schließt immer auch Widersprüche mit ein. Dieses scheinbare Paradox besteht aber nicht, wenn die widersprüchlichen Erscheinungen zwei Seiten der einen Medaille darstellen. "Entzauberung der Welt" als kulturelles Phänomen der Rationalisierung provoziert immer auch Prozesse der Wiederverzauberung, handelt es sich doch - so die hier vorgestellte religionssoziologische These - bei der Religion in all ihren mehr oder weniger institutionalisierten Ausprägungen um eine menschliche Grundinstitution, die soziologisch gesprochen einen funktionalen Charakter hat und für die Integration einer Gesellschaft unverziehtbar ist. 73 Für Durkheim ist Religion im Wesentlichen eine kollektive Angelegenheit; Riten haben für ihn die Funktion, dass sich die Gruppe periodisch emeuert.74 Erst in der Gemeinschaft mit den Glaubensgenossen erwacht das kollektive Erlebnis, das die einzelnen Individuen miteinander verbindet und sie in die Gesellschaftsstruktur integriert. Vor dem Vgl. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 153 -157. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 158. 71 Religionssoziologische Phänomene der Wiederverzauberung können vor allem in der New Age-Bewegung festgestellt werden, wie verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre immer wieder belegt haben. Vgl. z. B. Knoblauch, Hubert, Die WeIt der Wünschelrutengänger und Pendler. Erkundungen einer verborgenen Wirklichkeit, Frankfurt a.M./New York 1991; Stenger; Horst, Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des New Age, Opladen 1993. 72 V gl. Loo 1Reijen, Modernisierung, 34 - 40. 73 Innerhalb der religionssoziologischen Forschung wird diese theoretische Richtung mit dem Terminus Integrationsthese bezeichnet, die vor allem in Durkheim und Luckrnann ihre wichtigsten Vertreter hat. Vgl. Fürstenberg, Friedrich, Problemgeschichtliche Einführung, in: ders. (Hrsg.), Religionssoziologie, Neuwied/Berlin 2 1970,13/14. 74 V gl. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 520. 69

70

III. Rationalisierung

215

Hintergrund einer funktionalistischen Religionstheorie können die zahlreichen Wiederverzauberungsprozesse auf dem modernen "Religionsmarkt", gleich ob es sich z. B. um Formen des New Age, Starkult und Heldenverehrung, Körperkult etc. handelt, soziologisch erklärt werden. Der moderne Mensch fühlt sich in der scheinbar restlos entzauberten Welt alleine gelassen und sucht fortwährend nach Sinnangeboten, die seiner Existenz Sicherheit und Geborgenheit verleihen, die ihm den Himmel auf die Erde holen sollen. 2. Rationalisierung und die Herrschaft der Vernunft

Die Rationalisierung des Weltbildes, die auch in dem programmatischen Topos von der "Entzauberung der Welt" zum Ausdruck gebracht wird, ist die fundamentale Voraussetzung der neuzeitlichen Entwicklung und der damit einhergehenden technisch-wissenschaftlichen Kultur. Erst wenn der Mensch sich legitimiert sieht, in der Welt tätig zu werden und eine Kultur zu schaffen, kann er seine instrumentelle Vernunft ganz entfalten und einsetzen. Der Prozess der Rationalisierung verwandelt eine (traditionelle) Gesellschaft allmählich in eine Erkenntnis-Gesellschaft, die in allen Lebensbereichen primär auf wissenschaftliche Erkenntnisse setzt, um kulturelle Entwicklungen durch und durch planbar und kontrollierbar zu machen. 75 Es wird in einer solchen Gesellschaft versucht, so gut es geht, alle zufälligen, planlosen, traditions- und brauchtumsgebundenen Handlungsformen zu reduzieren und stattdessen überlegte und systematisch geplante Aktionsstrukturen zu realisieren. Rationalisierung wird somit zum alles beherrschenden Impuls individueller sowie kollektiver Handlungsziele und nach der universalhistorisch konzipierten Soziologie M. Webers zur treibenden Kraft der okzidentalen Kulturentwicklung. Will man das gesamte soziologische Gebäude, das er im Laufe seiner wissenschaftlichen Reflexionen errichtet hat, in einem einzigen Terminus zusammenfassen, so muss unweigerlich die Rationalisierung76 genannt werden. 77 Rationalisierung bedeutet Weltbeherrschung und ist für M. Weber die spezifische Errungenschaft des Okzidents, denn nur hier gibt es bestimmte rationale Verfahren und Vgl. Lao! Reijen, Modemisierung, 121. Rationalisierung ist für Dirk Käsler ein Ausdruck, mit dem M. Weber unterschiedliche Prozesse anspricht. Käsler zählt folgende Begriffe auf: "Bürokratisierung", "Industrialisierung", "Intellektualisierung", "Entwicklung des rationalen Betriebskapitalismus", "Spezialisierung", "Versachlichung", "Methodisierung", "Disziplinierung", ,,Entzauberung", "Säkularisierung", "Entrnenschlichung". Kurz: Rationalisierung bedeutet das Schicksal unserer Tage. Vgl. KäsleT, Dirk, Max Weber, in: ders. (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, 1. Bd., Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München 1999, 198. 77 Die Zentralität der Rationalisierungsthese als soziologisches Programm wird in allen Weberinterpretationen betont. Vgl. exemplarisch KäsleT, Dirk, Einführung in das Studium Max Webers, München 1979; Küenzlen, Gottfried, Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980; SchluchteT, Wolfgang, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. 75

76

216

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

Erfindungen auf dem Gebiet der Wissenschaften, etwa rationale Beweise, Experimente und Begriffe.78 M. Weber unterscheidet bei der Erörterung seiner soziologischen Grundbegriffe zwei Rationalitätstypen, nämlich Zweckrationalität und Wertrationalität.79 In der Modeme spielt besonders das zweckrationale Handeln eine entscheidende Rolle für die kollektive und die individuelle Welt- und Lebensgestaltung. M. Weber definiert zweckrationales Handeln wie folgt: "Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt"so. Die gesamte wissenschaftlich-technische Zivilisation baut sich nach diesem Prinzip der Zweckrationalität auf. Modemisierung heißt, die experimentelle und methodische Erforschung der Welt ist mit einer - wie Hausmanninger formuliert hat - "Weltbewältigungskompetenz"sl verbunden. Auf der individuellen Ebene behandelt M. Weber den Prozess der Rationalisierung unter anderem in seiner berühmten Studie "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus".82 M. Webers wissenschaftstheoretischer Verdienst besteht darin, dass er anhand eines historischen Beispiels, nämlich des Kapitalismus, gezeigt hat, wie religiöses Handeln, also etwas "Irrationales", die Voraussetzung war für ein neues soziokulturelles Stadium der Menschheitsgeschichte. Der Kapitalismus, eine Sonderform ökonomischen Handeins innerhalb des Okzidents, ist nach dem Urteil M. Webers aus dem Geist des Protestantismus entstanden, und zwar in Form der puritanischen Sekten. Aufgrund der im Calvinismus herrschenden Prädestinationslehre, nach der ein unerforschlicher Ratschluss Gottes einen Teil der Menschheit zum Heil, einen anderen zur ewigen Verdammnis bestimmt hat, sieht 78 In seiner Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie I formuliert M. Weber seine grundlegende Forschungsfrage, nämlich die Frage nach der Besonderheit der okzidentalen Entwicklung, die er schließlich in der besonderen Form der okzidentalen Rationalität erkennt. Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 1-16. 79 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 12. 80 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 13. Hervorhebung im Original. 81 Hausmanninger, Christliche Sozialethik in der späten Moderne, 54. 82 Wenn hier die Protestantismusstudie herausgehoben wird, bedeutet das lediglich, dass ihre Stellung in der Weberexegese einen besonderen Rang einnimmt und wohl - so die Meinung des profundesten deutschen Weberexegeten Käsler - als die populärste Arbeit zu gelten habe. Vgl. Käsler, Dirk, Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, in: ders./ Vogt, Ludgera (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart 2000, 451. Aus diesem Grund soll die Protestantismusstudie hier skizziert werden. Hinweise auf Rationalisierungsprozesse im Bereich des individuellen Handeins durchziehen freilich das gesamte Werk M. Webers. Vgl. z. B. die Rationalisierungsproblematik innerhalb seiner Religionssoziologie (Rationalisierung asketischer Techniken bzw. mystischer Kontemplation, Theodizeeproblematik unterschiedlicher Religionen, Rationalisierung der charismatischen Herrschaft im Sinne der Veralltäglichung).

III. Rationalisierung

217

sich das Individuum vor die existentielle Frage gestellt, zu welchem Teil es gehört. 83 In der restlos entzauberten Welt sind für die seelsorgliche Praxis nur zwei Strategien denkbar, nach denen individuelle Heilsgewissheit erlangt werden kann. Zum einen wird es zur Pflicht gemacht, sich für erwählt zu halten. Zum anderen wird, um Selbstgewissheit zu erhalten, die rastlose Berufsarbeit von den protestantischen Führern eingeschärft. 84 Nur die rastlose Berufsarbeit - so M. Weber - verscheucht den religiösen Zweifel und verleiht die Sicherheit des Gnadenstandes. 85 Der rational arbeitende Berufsmensch, der sich seiner individuellen Erwählung sicher werden will, muss folglich asketisch und methodisch - also rational - leben, um sich im Alltag und in der Gesellschaft zu bewähren. Berufsarbeit heißt also rational durchorganisierte Arbeit und zwar als das religiös Geforderte. Sie ist allerdings auf das Engste verbunden mit der Verpflichtung zur Sparsamkeit. Der erfolgreiche Industrielle hat also nicht das Recht, den erwirtschafteten Gewinn zu konsumieren und ein luxuriöses Leben zu führen, sondern die calvinistisch-protestantische Ethik verpflichtet zur asketischen Sparsamkeit, zur Re-Investition des erwirtschafteten Gewinns. 86 Erst mit einer so verstandenen Grundhaltung kann sich eine kapitalistische Wirtschaft etablieren. Somit kommt M. Weber zu dem Ergebnis, dass die puritanische Lebensauffassung mit der damit verbundenen bürgerlichen, ökonomisch-rationalen Lebensführung die Quelle des modemen Wirtschaftsmenschen darstellt. Auf der kollektiven Ebene erscheint das Prinzip der Rationalisierung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnungssysteme, so wie sie sich funktional ausdifferenziert haben. Beispielhaft soll hier lediglich aus M. Webers Herrschaftssoziologie die rationale Herrschaft und die in ihr anzutreffende Bürokratie mit dem dazugehörigen Verwaltungsstab herausgegriffen werden. In seiner Herrschaftssoziologie, die auch als Teil seiner politischen Soziologie gedeutet werden muss, unterscheidet er drei idealtypische Formen der Herrschaft: charismatische, traditionale und rationale oder legale Herrschaft. 87 Bei der charismatischen Herrschaft steht die außeralItägliche Qualität88 des Herrschers im Vordergrund, bei der traditionalen Herrschaft der althergebrachte Glaube, der auf von jeher geltender Tradition89 basiert. Die rationale oder legale Herrschaft, die für M. Weber das herausragende Kennzeichen politischer Herrschaft der Modeme ist, beruht "auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnung und des Anweisungsrechts der durch die zur Ausübung der Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 93/94. Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, lOS. 85 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 106. 86 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1,190-193. 87 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 267/268; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124; Weber, Max, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Winckelmann, Johannes, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952, 106-120. 88 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 268/269. 89 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124. 83

84

218

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

Herrschaft Berufenen.,,90 Entscheidend für diesen Typus ist die legal-sachliche Orientierung, nach der die Herrschaft kraft Gesetz ausgeführt wird. Die Beherrschten gehorchen primär keiner Person, sondern einer unpersönlichen Ordnung, die über dem gesamten Gemeinwesen steht und unter dem sich alle, auch der Verwaltungsstab bzw. der legale Herrscher selbst, unterzuordnen haben. Die nach diesem Postulat ablaufende Herrschaft ist in reinster Form in der Herrschaft mit einem bürokratischen (beamteten) Verwaltungsstab verwirklicht. Und so ist die Bürokratie herausragendes Charakteristikum rationaler Herrschaft und der Prozess der Bürokratisierung einer Gesellschaft das Resultat der Rationalisierung. M. Weber bewertet den Rationalisierungsprozess mit all den damit verbundenen Folgen aber nicht allein als eine positive Entwicklung der Moderne. Für ihn ist der gesamte Vorgang der Rationalisierung - wenngleich unverzichtbar und gleichsam unaufhaltsam für die Entwicklung des Okzidents - zutiefst ambivalent. Rationalisierung bedeutet immer auch eine Form der "Entmenschlichung", "Versachlichung", "Verunpersönlichung" und ,,Entseelung,,.91 IV. Individualisierung

1. Individualisierung als Freisetzungsprozess

Während Differenzierung ein sozialstruktureller Prozess auf der makrosoziologischen Ebene ist, hat Individualisierung einen sozialpsychologischen Charakter und somit einen direkten Einfluss auf das zumeist rationale Handeln der Individuen. Nach einer ersten Definition spricht man innerhalb der Soziologie dann von Individualisierung, wenn "Menschen sich in sozialer Hinsicht von traditionellen und gesellschaftlichen Bindungen und Versorgungsarrangements befreien und sich auf kognitiver Ebene traditionellen Glaubensauffassungen und Sicherheiten immer weiter entziehen. Traditionelle Werte, Normen und Bedeutungen werden zunehmend relativiert. Die Welt wird immer mehr als ein Füllhorn voller unbegrenzter Möglichkeiten gesehen, aus denen die Menschen im Prinzip selbst auswählen können. ,,92 Herausragende Kennzeichen von Individualisierung sind also Formen der Enttraditionalisierung und Ausbildung pluraler Lebensstrukturen. Wenngleich die Rede von der Individualisierung bzw. der individualisierten Gesellschaft keine soziologische Erfindung der letzten Jahrzehnte ist - Prozesse der Individualisierung beschreiben bereits Durkheim, Weber und Simmel93 -, so hat doch der Soziologe Beck zu Beginn der 1980er-Jahre den Begriff in neuer Form in die Fachdiskussion gebracht. 94 90

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124.

91 Vgl. Käsler, Max Weber, 201.

Lool Reijen, Modernisierung, 162. Vgl. Schroer, Markus, Individualisierte Gesellschaft, in: Kneer, Georg/Nassehi, Armin / ders. (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, 159-162. 92

93

IV. Individualisierung

219

In den Arbeiten von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim nimmt die Individualisierungsthese einen zentralen Platz ein, um die gegenwärtige, moderne Industriegesellschaft - unter Zuhilfenahme der soziologischen Kategorie sozialer Wandel- zu charakterisieren.95 Durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse innerhalb der Moderne, die nach dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Sozialstruktur der westlichen Industrieländer verändert haben, werden die Menschen aus ihren traditionellen Rollen und Sozialfonnen (Klasse, Schicht, Familie, Religion, Geschlechtslagen von Männern und Frauen) herausgeholt und freigesetzt. 96 Nicht mehr vorgegebene Rollenmuster und traditionelle Bindungen prägen das eigene Leben, sondern selbstgewählte Lebensfonnen und innere Autonomiebestrebungen. Die sozialen Imperative im Prozess der Individualisierung lauten daher: Entscheide Dich! und Wähle Dein Leben! Pluralisierung der Lebensstile und der Lebensorientierungen sind somit Konsequenzen aus diesen Forderungen. 97 Der Prozess der Individualisierung hat drei Dimensionen: (1) Befreiung aus traditionellen Rollen, (2) Verlust traditioneller Sicherheiten und (3) Entstehen neuer Bindungen, Kontrollen und Risiken. 98 Bereits diese Dimensionen verweisen da94 Der erste Beitrag zur Individualisierungstheorie von Beck erschien 1983 unter dem provokanten Titel ,,Jenseits von Stand und Klasse?" in einem Sonderband der Zeitschrift "Soziale Welt". Seine Reflexionen sind das Resultat mehrjähriger Forschungen auf dem Feld der Arbeits- und Berufssoziologie. Vgl. Beck, Ulrich, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, 35 -74. Dass der Beginn der zeitgenössischen Individualisierungsdebatte in Deutschland untrennbar mit dem Namen "Ulrich Beck" verbunden ist, wird heute in der Soziologie nicht bestritten. Vgl. z. B. Neckel, Sighard, Die Macht der Unterscheidung. Beutezüge durch den modemen Alltag, Frankfurt a.M. 1993, 69170; Schroer, Individualisierte Gesellschaft, 157. 95 An dieser Stelle soll der Blick auf die Individualisierungstheorie von Beck und BeckGernsheim gelegt werden. Der Zusammenhang von Individualisierung und Risiko (bzw. Risikogesellschaft) soll dann ausführlicher unter D.VI.4 behandelt werden. 96 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, 115/116; Beck, Ulrich/ Beck-Gemsheim, Elisabeth, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990,66-68; Beck, Ulrich/ Beck-Gemsheim, Elisabeth, Individualisierung in modemen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modemen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, 11 / 12. 97 Die von Beck und Beck-Gernsheim vorgetragene Individualisierungsthese darf aber keineswegs als eine Neuauflage der klassischen Individualisierungsvorstellung verstanden werden, ist doch der Zeitkontext der 1980er- und 1990er-Jahre ein vollkommen anderer als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die soziologischen Klassiker ihre Überlegungen vorgestellt haben. Vgl. Schroer, Individualisierte Gesellschaft, 168. Letztlich hat sich das Gesellschaftsmodell in der Gegenwart verändert. Die Menschen werden nicht einfach - wie noch bei den Klassikern - in eine Industriegesellschaft entlassen, sondern sie finden sich in den Turbulenzen der Risikogesellschaft bzw. der Weltrisikogesellschaft wieder. Vgl. Schroer, Individualisierte Gesellschaft, 168 / 169. 98 Vgl. Beck-Gemsheim, Elisabeth, Individualisierungstheorie: Veränderung des Lebenslaufs in der Modeme, in: Keupp, Heiner (Hrsg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie, Frankfurt a.M. 1993,127.

220

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

rauf, dass es sich bei dem Individualisierungsvorgang nicht um einen einseitigen Prozess handelt - also nicht nur Freisetzung bedeutet -, sondern ein ambivalenter Vorgang ist, der dem Einzelnen freilich viel abverlangt. Die Menschen der vorindustriellen Gesellschaft bzw. der beginnenden Industriegesellschaft leben meist in vorgefertigten Biographien, in herkömmlichen und vererbten Lebensvorgaben und Lebensstilen, aus denen nur schwer ein persönliches und sanktionsfreies Entrinnen möglich ist. Ein entscheidungsoffenes Leben ist so gut wie nicht geplant. Man lebt in sozialen Klassenbindungen, innerhalb einer bestimmten religiösen Weltanschauung, in geschlechtsspezifischen Rollenmustern etc. Die Freisetzung aus solchen traditionellen Bindungen bedeutet eine Erweiterung der Lebensmöglichkeiten und gewährt dem Individuum einen Zuwachs innerer Autonomie. 99 Freigesetzte Individuen werden aber - um die zweite Dimension von Individualisierung zu nennen - aus traditionellen Rollen, Sicherheiten und Stabilitäten entlassen. Ein solcher Verlust spiegelt sich in der Auflösung traditioneller Familienstrukturen (Großfamilie) oder anderer sozialer, biographieumspannender Ordnungssysteme wie Klassen und Stände wider. Der Einzelne wird auf sein individuelles Schicksal zurückgeworfen und muss sein Leben, sein Schicksal, somit selbst in die Hand nehmen. 100 Die dritte Bedeutungsdimension betont, dass Individualisierung aufs Engste verknüpft ist mit neuartigen Bindungen, Zwängen, Kontrollen und Risiken. Trotz der Befreiung des Individuums aus überkommenen Strukturen und Gewohnheiten geht das modeme Subjekt neue Beziehungen ein, die größtenteils selbst gewählt werden können, ja müssen. Für Beck hat Individualisierung vor allem einen imperativischen Charakter: Individualisierung ist ein Zwang zur Freiheit. 101 Charakteristikum der individualisierten Lebensweise ist nicht die Anarchie, sondern die Transfonnation der "Nonnalbiographie" in eine "Wahlbiographie".102 Individuelle Wahlmöglichkeiten und Autonomiebestrebungen sind somit konstitutiv für das Subjekt der Modeme. Die Individuen werden freigesetzt, um sich neuen Sozialgebilden anzuschließen. Das kann einerseits sicherlich Vorteile haben, handelt es sich in vielen Fällen doch um selbstgewählte Sozialfonnen, doch andererseits führen die neuen Freiheiten in andere Abhängigkeiten, die man nicht frei wählen kann, die dem Menschen erneut als ein quasi unentrinnbares "Schicksal" gegenübertreten; solche Abhängigkeiten kann er dann nicht individuell beeinflussen. 103 Das ist das doppelte Gesicht der Individualisierung: persönliVgl. Beck-Gemsheim, Individualisierungstheorie, 127/128. Vgl. Beck-Gemsheim, Individualisierungstheorie, 130-133. 101 Programmatisch fasst Beck diesen Aspekt der Individualisierung mit dem Satz "Die Menschen sind - um es mit Sartre zu sagen - zur Individualisierung verdammt." zusammen. Beck, Ulrich, Vorn Verschwinden der Solidarität, in: ders., Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1995, 33. 102 Die in der Modemisierungsdiskussion häufig gebrauchten Begriffe ,,Normalbiographie" und "Wahlbiographie" stammen von Ley, Katharina, Von der Normal- zur Wahlbiographie? Interpretation erzählter Lebensgeschichte von Frauen, in: Kohli, Martin/Robert, Günther (Hrsg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984,239-260. 99

100

IV. Individualisierung

221

che Freiheit und Entscheidung auf der einen, neue gesellschaftliche Zwänge und Grenzen auf der anderen Seite. Damit eröffnet der Prozess der Individualisierung "riskante Freiheiten"I04. Dieser Modernisierungsvorgang darf also keineswegs wie Beck und Beck-Gernsheim immer wieder akzentuieren - einseitig interpretiert werden, so wie man es gerade haben Will. 105 Die Individualisierung hat ein Doppelgesicht und demzufolge sowohl "Sonnen- als auch Schattenseiten"I06. Beck und Beck-Gernsheim betonen, dass es zwar Individualisierungstendenzen immer schon gab,107 doch das Neue am gesellschaftlichen Individualisierungsschub der Gegenwart liegt im "Massencharakter" und in der "Systematik". 108 Individualisierungsprozesse sind heute demokratisiert und werden allgemein praktiziert. Hier sind zum Beispiel der gesellschaftliche Wohlstand für (fast) alle, der viele neue Konsumziele eröffnet, sowie die Bildungsexpansion für alle Bevölkerungsgruppen (besonders für Frauen) anzuführen. Diese Entwicklungen sind in ihren strukturellen Auswirkungen vergleichslos in der bisherigen Sozialgeschichte. Die These der Individualisierung und Enttraditionalisierung will aber keine allgemeingültige Charakterisierung aller geographischen und sozialen Räume einer modernen Industriegesellschaft leisten, sondern macht auf Entwicklungsmerkmale aufmerksam, die in den urbanen Großräumen sehr ausgeprägt und in den ländlichen Gebieten eher marginal sind. 109 Es gibt immer Orte und Lebensformen, die traditionsgebunden und weniger individualisiert sind - vermutlich wird es solche "sozialen Nischen" immer auch geben. Hier ist die Rede von Trends, von "Konturen einer individualisierten Gesellschaft"no, die aber wohlgemerkt immer größere Kreise ziehen.

103 Vgl. Beck-Gernsheim, Individualisierungstheorie, 133. "Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und daher bildungsabhängig, abhängig von Verkehrsplanungen, Kindergartenplätzen und -zeiten, von BAFöG-Zahlungen und Rentenmodellen." Beck! Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 15. Hervorhebung im Original. 104 Mit dem Begriff "Riskante Freiheiten" haben Beck und Beck-Gernsheim ihr gemeinsam herausgegebenes Buch zur Individualisierungsdebatte betitelt. Vgl. Beck, Ulrich! BeckGernsheim, Elisabeth (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp hat die Ambivalenz innerhalb der individualisierten Gesellschaft bereits einige Jahre vorher als ,,riskante Chancen" bezeichnet. Vgl. Keupp, Heiner, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, Heidelberg 1988. 105 Vgl. Beck! Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften, 19; BeckGernsheim, Individualisierungstheorie, 136. 106 Schroer, Individualisierte Gesellschaft, 168. 107 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, 206; Beck! Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 16. 108 Vgl. Beck! Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 16. 109 Vgl. Beck! Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 17!18. HO Beck! Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 18.

222

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

2. Individualisierung von Ehe und Familie

Die Veränderungen innerhalb der Institution der Familie sind für Beck und Beck-Gernsheim herausragende Charakteristika des Individualisierungsprozesses. Dabei betrifft der soziale Wandel die Sozialform der Familie in weitreichender Form; es verändert sich nicht nur das Bild von der Farnilie bzw. der familialen Lebensform, sondern damit verbunden die Stellung der Geschlechter, der Kinder und der Generationen. Aus der Perspektive der Individualisierung geht es in der Familiensoziologie darum, "was passiert, wenn die festen Vorgaben von einst verankert in Religion, Tradition, Biologie usw. - zwar nicht gänzlich verschwinden, aber doch viel von ihrer einstigen Stärke einbüßen; wenn in der Folge neue Wahlmöglichkeiten, Optionen, Entscheidungsspielräume entstehen; wenn diese allerdings nicht im freien, im gesellschaftsfreien Raum existieren, sondern auf ihrer Kehrseite neue soziale Regelungen, Zwänge, Kontrollen enthalten. Es geht darum, wie - soziologisch formuliert - der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte und Jahre immer stärker in den Bereich von Familie, Ehe, Elternschaft eingreift, dabei die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie zwischen den Generationen nachhaltig verändert."lll Auch wenn sich also die Familie verändert hat, so bedeutet das noch nicht ihren Untergang oder das unaufhaltsame Heraufkommen einer egoistischen Single-Gesellschaft. Es geht in der individualisierten Gesellschaft um zwei Trends oder Sehnsüchte, die sich nicht widersprechen - auch wenn man das auf den ersten Blick glauben mag -, sondern ganz in den Ambivalenzen moderner Lebensformen eingebunden sind und sich gegenseitig bedingen: Auf der einen Seite steht der Anspruch auf ein Stück eigenes Leben und auf der anderen Seite die nach wie vor vorhandene unstillbare Sehnsucht nach Gemeinschaft, Bindung und Partnerschaft. 112 Gerade dieses Doppelgesicht ist - wie bereits mehrfach betont - ein klassisches Merkmal der Individualisierung. Die Geschichte der modemen Industriegesellschaft mit den vielfaltigen Veränderungen innerhalb der Sozialstruktur ist besonders auch die Geschichte der "modemen Frau". Die weibliche Biographie hat sich besonders seit der Nachkriegsepoche auf allen Ebenen revolutionär gewandelt und sich immer mehr aus traditionalen Rollen und Lebenszuschnitten befreit. 113 Weibliche und männliche Lebensläufe sind sich somit ein Stück näher gekommen, wenngleich geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen bieibenY4 Mädchen und Frauen haben auf vielen gesell111 Beck-Gemsheim, Elisabeth, Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensfonnen, München 1998, 17 /18. 112 Vgl. Beck-Gemsheim, Was kommt nach der Familie?, 18. 113 Vgl. Stich, Jutta, Herd, Acker, Fabrik - Wie sich die Erwerbsstruktur von Frauen und die Lebensfonnen gewandelt haben, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht's der Familie?, München 1988,35 -46. 114 Vgl. Sorensen, Annemette, Unterschiede im Lebenslauf von Frauen und Männem, in: Mayer, Karl U. (Hrsg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 31/1990, Opladen 1990, 304-321.

IV. Individualisierung

223

schaftlichen Gebieten weitaus mehr Chancen und Möglichkeiten, die sie vorher, in einer traditionsgebunden Kultur, nicht hatten. Den veränderten Lebenskontext der Frauen charakterisiert Beck-Gernsheim mit dem ausdrucks starken Motto "Vom ,Dasein für andere' zur kleinen oder großen Hoffnung auf ein Stück ,eigenes Leben ,,,115. Faktoren, die diesen weiblichen Lebenszusarnmenhang neu definiert haben, sind vor allem Bildung, Beruf und Partner- bzw. Mutterschaft. Der Anspruch auf ein Stück eigenes Leben darf zweifellos als weiteres zentrales Motto der Individualisierung gelten. Dieser Wunsch betrifft zunächst einmal die Frauen, da von ihnen erwartet wird, dass sie ganz für andere da sein sollen. Die hohen Scheidungsziffern in der gegenwärtigen Gesellschaft sind - aus Sicht der Soziologie - ein Indiz für ein selbstbestimmtes Leben. Im Ganzen gesehen haben sich Ehe und Partnerschaft gewandelt, so dass dieser Veränderungsprozess mit dem Stichwort "von der Arbeits- zur Gefühlsgemeinschaft" - das heißt: vom Familienverband zur Zweierbeziehung - zusammengefasst werden kann. 116 Finanziell voneinander unabhängige Männer und Frauen suchen in Ehe oder Partnerschaft persönliche Erfüllung, aber wenn diese dort nicht - oder (scheinbar) nicht mehr - zu finden ist, wird ein weiteres Zusammenleben erschwert. Scheidung, der Entschluss alleine zu leben oder die Suche nach einer neuen Partnerschaft sind die Konsequenzen. 117 Gerade diese idealisierte Vorstellung von der Ehe als Gefühlsgemeinschaft, in der scheinbar die Probleme des Alltags keinen Zugang haben dürfen, ist es, die das Zusammenleben zweier Menschen erschwert. Auch wenn Ehe und Familie in der gegenwärtigen individualisierten Gesellschaft krisenanfällig und instabil sind, bedeutet eine solche Entwicklung aus soziologischer Sicht nicht das Ende dieser Traditionsinstitutionen. Paare lassen sich zwar mit steigender Tendenz scheiden, doch sie gehen häufig erneut eine Ehe ein. 118 Der Entschluss sich zu trennen, ist kein grundsätzliches Urteil gegen eine 115 Beck-Gernsheim, Elisabeth, Vom "Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück "eigenes Leben", in: Soziale Welt 34 (1983) 310. 116 Vgl. Beck-Gernsheim, Vom "Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück "eigenes Leben", 330; Beckl Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 69. Sozialgeschichtlich lassen sich drei unterschiedliche Abschnitte der Ehe- und Familienbeziehung unterscheiden: (I) Die vorindustrielle Ehe hatte primär materielle (Handwerker, Bauern) oder statusabhängige (Adel) Aufgaben, (2) die bürgerliche Ehe während der Industrialisierung ist arbeitsgeteilt; der Mann ist zuständig für die finanzielle Existenzsicherung und die Frau für die emotionale "Nestwärme", also für die Beziehungsarbeit, (3) die Ehe in der modemen Industriegesellschaft ist meistens nicht mehr angewiesen auf die reine Arbeitskraft des Mannes - die Frau ist in vielen Fällen ebenfalls berufstätig -, sondern hier wird Ehe zur "emotionsgeladenen Partnerschaft"; es geht um innere Werte und Bedürfnisse, um das persönliche Glück. Vgl. Beck-Gernsheim, Vom "Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück "eigenes Leben", 330/331. 117 Vgl. Beck-Gernsheim, Vom "Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück "eigenes Leben", 331/332. 118 Vgl. Beck 1Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 225/226; BeckGernsheim, Was kommt nach der Familie?, 35 -47; Beck-Gernsheim, Elisabeth, Stabilität der Familie oder Stabilität des Wandels? Zur Dynamik der Familienentwicklung, in: Beck,

224

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

institutionelle Partnerschaft, sondern impliziert eine Wahl "für eine andere, bessere, schönere Herzensbindung, die einlöst, was die verworfene nicht gehalten hat." 11 9 Scheidung und Familienidealisierung gehören - so die These von Beck und Beck-Gernsheim - zur Struktur der modemen Gesellschaft, es sind zwei Gesichter des einen Liebesglaubens. Die Paradoxie heißt: "Zerfall und Vergötzung von Familie und Ehe fallen zusammen.,,120 Was kommt also nach der Familie?121 Die These von Beck und Beck-Gernsheim ist nicht die Renaissance der Kernfamilie, auch nicht die Umwandlung der Familie hin zu einem anders gearteten neuen Typus von (Klein)-Familie, sondern das Vorhandensein eines breiten und bunten Spektrums partnerschaftlichen und familialen Zusammenlebens. Es kommt zu Fortsetzungsehen und zu Wahlverwandtschaften. 122 Da die Lebensläufe der Menschen heute nicht mehr statisch im Sinne einer Normalbiographie sind - sie sind wandelbar und zielbewusst, - sind auch Partnerschaft, Ehe und Familie zwangsläufig offen und müssen von den betreffenden Individuen stets neu entworfen und gestaltet werden. 123

v. Domestizierung 1. Die Beherrschung der Natur

Nachdem die gesellschaftliche Wirklichkeit und das menschliche Handeln unter den Dimensionen von Struktur (Differenzierung), Kultur (Rationalität) und Person (Individualisierung) dargestellt wurden, folgt schließlich der vierte Gesellschaftszugang, den man aus der Perspektive der Natur mit dem Begriff Domestizierung bezeichnen kann. Domestizierung bedeutet, dass sich Individuen ihren biologischen und natürlichen Begrenzungen entziehen und sie mit Hilfe rationaler Methoden eine Kultur, die der Natur trotzt, errichten können. Menschliche Kulturgeschichte ist das Spiegelbild eines großen Domestizierungsprozesses, bei dem es vor allem um die Zähmung des Feuers, die Einführung des Ackerbaus, die Nutzung von Tieren, die Beherrschung von Energiequellen, die Entdeckung von Naturgesetzen und ihre Indienstnahme und schließlich um die Disziplinierung des "Tieres" im Menschen geht. 124

Ulrichl Sopp, Peter (Hrsg.), Individualisierung und Integration. Neue Konfliktlinien und neuerIntegrationsmodus?, Opladen 1997,65-80. 119 Beckl Beck-Gemsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 226. 120 Beckl Beck-Gemsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 227. Im Original kursiv. 121 So der Buchtitel der familiensoziologischen Studie von Beck-Gernsheim aus dem Jahre 1998. 122 Vgl. Beck-Gemsheim, Was kommt nach der Familie?, 48-54. 123 Vgl. Beckl Beck-Gemsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 186. 124 Vgl. Lool Reijen, Modernisierung, 33.

V. Domestizierung

225

In der vonnodernen Gesellschaft ist der Mensch in großem Maße abhängig von der ihn umgebenden Natur, von den Naturkräften, vom Wetter; er versteht sich in einer "verzauberten" Welt als ein kleiner Teil der Natur, dem Schicksal letztlich ausgeliefert. Indem sich der Mensch legitimiert fühlt, in die Naturprozesse ordnend einzugreifen und instrumentelle Vernunft zur Umgestaltung der Natur zu gebrauchen, befreit er sich auch von den Naturzwängen und wird befähigt, die Natur als Gegenstand seiner Reflexionsprozesse zu betrachten. Die Zähmung der Naturkräfte, zu der der Mensch nicht nur einfach befähigt, sondern geradezu gezwungen ist,125 äußert sich vor allem in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Ab der Renaissance beginnt der Mensch immer mehr, seine Ratio als Vennehrung methodischen Wissens und zur experimentellen Erkenntnisgewinnung zu gebrauchen. 126 Technik dient dem Menschen als Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung l27 ; sie befähigt ihn, seine Organinsuffizienz auszugleichen. In einem grundlegenden Verständnis möchte Technik menschliches Leben und Überleben sichern und erleichtern. Das heißt, technische Verfahren sowie die dazu gehörigen Artefakte beinhalten ein Programm der Daseinsgestaltung und Existenzvorsorge. 128 Offenkundig verdeutlichen diese Technikpostulate die positive Seite von Technik und Technikentwicklung. Domestizierung der Naturkräfte mit Hilfe von Technik bedeutet aber nicht nur Befreiung von äußeren Zwängen, sondern ebenso das Entstehen von technischen Abhängigkeiten. Schließlich ist die ökologische Krise, die erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, eine direkte Folge der technisch-wissenschaftlichen Kultur. Negative Technikfolgen schaffen neue Ausgangsbedingungen, um den Fortschritt im Hinblick auf die Domestizierung der Naturkräfte zu bewerten. Nur so ist es zu erklären, dass im Laufe einer expandierenden Technikentwicklung immer wieder ein neues Verhältnis zur Natur gefordert wurde. 129 Die Beherrschung der Natur durch Rationalität korrespondiert in der fortgeschrittenen Modeme, in der die ökologischen Nebenfolgen (Externalitäten) sichtbar werden, mit einem neuen Naturverständnis. 130 125 Hier ist an die Anthropologie von Arnold Gehlen zu denken, der betont, dass das Mängelwesen Mensch seine angeborene Insuffizienz durch Arbeitsfahigkeit und Handlungsmacht kompensiert und somit zur Kulturgestaltung konstitutiv veranlagt ist. Der Mensch ist - so fasst es Gehlen zusammen - von "Natur ein Kulturwesen". Gehlen, Der Mensch, 80. 126 Vgl. Krohn, Wolfgang, Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Techniksoziologie, in: Weingart, Peter (Hrsg.), Technik als sozialer Prozeß, Frankfurt a.M. 1989, 24-31. 127 Vgl. Gehlen, Anthropologische Forschung, 94. 128 Vgl. Ropohl, Günter, Zur Technisierung der Gesellschaft, in: Bungard, Walter/Lenk, Hans (Hrsg.), Technikbewertung. Philosophische und psychologische Perspektiven, Frankfurt a.M. 1988,82/83; Schmitz, Philipp, Ethik der neuen Techniken, in: Moraltheologisches Jahrbuch 1 (1989) 229. 129 Eine solche Gegenbewegung war u. a. die Romantik, die in Literatur und Malerei einen neuen Blick auf die Natur lenkte und sie als eigene, bewundernswerte "Schönheit" präsentierte. Der schlesische Dichter Joseph von Eichendorff (1788 -1857) ist z. B. mit seiner Naturlyrik der Hauptvertreter der deutschen Romantik.

15

Bohrmann

226

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

2. Die Beherrschung der menschlichen Affekte

Domestizierung als Kulturleistung bezieht sich nicht nur auf die außermenschliche Natur, sondern muss auch in Richtung der Beherrschung menschlicher Triebe sowie des menschlichen Körpers allgemein verstanden werden. Es ist vor allem Norbert Elias 131 zu verdanken, der in seiner groß angelegten sozialhistorischen Studie "Über den Prozeß der Zivilisation,,132 den Domestizierungsprozess menschlicher Triebe und Empfindungen anschaulich erklärt und in eine instruktive Modernisierungstheorie integriert hat. Zivilisation bedeutet für Elias, dass der Mensch im Laufe der europäischen Geschichte gelernt hat, seine inneren Regungen, Strebungen, Triebe und Emotionen zu unterdrücken bzw. zu beherrschen. Das menschliche Trieb- und Affektleben wird somit "hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt.,,133 Elias belegt den sozialen Wandel im Umgang mit dem eigenen Körper und den Trieben anhand zahlreicher schriftlicher Zeugnisse in Form von Anstands- und Etikettevorschriften. Indem er die feudale mit der bürgerlichen Gesellschaft vergleicht, entfaltet Elias seine Theorie und zeigt auf, wie sich die körperbezogenen Verhaltensweisen allmählich ändern. Die Scham- und Peinlichkeitsgrenze schreitet voran und der Körper bzw. körperliche Verrichtungen werden immer mehr tabuisiert und schließlich von gesellschaftlichen Normen kontrolliert. 134 Elias beschreibt ferner innerhalb seiner Zivilisationstheorie, wie der menschliche Körper und spontane - quasi natürliche - Regungen immer mehr aus der Öffentlichkeit verbannt und von außen, d. h. von äußeren Kontrollinstitutionen, geformt bzw. genormt werden. Individuelle Verhaltensänderungen werden also zu130 Innerhalb der umweltethischen Debatte wird mit unterschiedlichen Begründungsmodellen versucht, für ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur einzutreten. Vier Modelle werden unterschieden: Der anthropozentrische Ansatz stellt den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt ökologischer Forderungen, der pathozentrische Ansatz erhebt die Leidens- und Empfmdungsfähigkeit aller Lebewesen zur ethischen Leitidee. Beim biozentrischen Ansatz wird die Gleichwertigkeit aller Lebensformen betont, so dass es keinen grundsätzlichen Vorrang der menschlichen Interessen geben kann. Schließlich versteht der physiozentrische Ansatz die gesamte Natur analog zu einer Rechtsgemeinschaft. Die Natur, alle Lebewesen, die Flüsse, das Meer, die Berge etc., erhalten somit einen Status im Sinne von Rechtssubjekten. Vgl. Irrgang, Christliche Umweltethik, 50-119. 131 Vgl. zum Werk von Elias die Arbeiten von Hermann Korte, z. B. Korte, Hermann, Norbert Elias, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, 1. Bd., Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München 2000, 315 - 333. 132 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Buches Korte, Hermann, Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers, Frankfurt a.M. 1988, 13 - 26. 133 Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Zweiter Band, Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 16 1991,303. 134 Vgl. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Erster Band, Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 16 1991 , 142/143.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modernisierungsprozess

227

nächst durch einen Unterdrückungsprozess, durch einen Druck von außen, erreicht. 135 Eine anhaltende soziale Kontrolle, die Zwangscharakter annimmt, führt dann - so Elias - zur Internalisierung der herrschenden Normen: Selbstzwang ist die Folge. 136 Der Wandel im Verhalten provoziert eine Veränderung der Affektund Triebstruktur: "Wenn der beschriebene Verinnerlichungsprozeß, also die Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge, abgeschlossen ist, dann rufen unfeine Tischsitten bestimmte Emotionen hervor, die mit dem Gefühl der Angst verwandt sind, nämlich Scham und Peinlichkeit - Scham bei dem, der gegen die Regeln verstoßen hat, und Peinlichkeit bei denen, die Zeugen dieses faux pas geworden sind.,,137 Der Selbstzwang wirkt in besonders anschaulicher Weise beim Kind, da es im Laufe seiner Sozialisation noch lernen muss, wie man sich innerhalb der Gesellschaft zu verhalten hat. Das Kind lernt, seine Triebe zu kontrollieren und die ihm von der Gesellschaft dargebotenen sozialen Normen zu verinnerlichen. Aus dem Fremdzwang folgt also der Selbstzwang. Die Kontrollinstanz der einzelnen Individuen ist die Gesellschaft selbst, die Elias mit den Begriffen "Abdruck der Gesellschaft im Inneren,,138, "Selbst-Kontrollapparatur,,139 oder "Über-Ich"l40 bezeichnet. 141

VI. Gesundheit und Krankheit im Kontext des Modernisierungsprozesses Nach der ausführlichen Erörterung des Modernisierungsprozesses, wie er in der Soziologie systematisch dargestellt wird, können die Folgen von Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung für die Sozialgestalt des Gesundheitswesens beschrieben werden. Das Gesundheitswesen ist dabei - wie zu zeigen sein wird - ein besonders herausragendes Beispiel für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Modernisierungs- und Zivilisationsfolgen. Die nach135 Vgl. Holl, Joachim, Die zivilisatorische Zähmung des Subjekts. Der Beitrag von Norbert Elias zu einer historischen Sozialpsychologie, in: Keupp, Heiner (Hrsg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie, Frankfurt a.M. 1993, 24. 136 Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Erster Band, 172 - 174. 137 Holl, Die zivilisatorische Zähmung des Subjekts, 24. Hervorhebung im Original. 138 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Erster Band, 173. 139 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Zweiter Band, 320. 140 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Erster Band, 173. 141 Hinter diesen Überlegungen steht zweifellos die psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud, der neben "Es", "Ich" auch vom "Über-Ich" spricht und mit dieser letzten seiner drei psychischen Instanzen das Gewissen bzw. die internalisierten Gesellschaftsnormen versteht. Elias erwähnt in seiner Abhandlung, wie sehr seine Überlegungen auch auf den Gedanken von Freud aufbauen, ohne aber eine explizite "Freudexegese" zu betreiben bzw. eine ausführliche Diskussion mit seinem Ansatz einzugehen. Vgl. zwei herausragende FundsteIlen, bei denen Elias auf die psychoanalytische Theorie von Freud verweist: Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Erster Band, 262, 324. 15*

228

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

folgend aufgeführten Probleme des Gesundheitswesens machen nicht allein auf die Folgen der Modernisierung aufmerksam, sondern insbesondere auf die Folgen der reflexiven bzw. radikalisierten Modernisierung oder der Zweiten Modeme. 142 Das heißt, dass sich die sozialen Strukturen und Lebensformen, die im Kontext der "einfachen" Modernisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden sind, weiter wandeln und neue soziale Gebilde und eben auch neue gesellschaftliche Problemlagen hervorbringen. Die Probleme im Gesundheitswesen können gerade als diese Folgen der fortschreitenden Modernisierung gedeutet werden. Da die Modeme ein ambivalentes Projekt ist, berühren die durch Modernisierungsschübe ausgelösten Entwicklungen immer auch eine positive und negative Seite, das heißt - im Jargon der öffentlichen Diskussion -, dass die Modernisierung sowohl Chancen als auch Risiken für den Menschen beinhaltet. Aus diesem Grund gehen die Probleme des Gesundheitswesens mit den Chancen moderner Gesundheitsversorgung Hand in Hand. 1. Strukturelle Ausdifferenzierung und Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen treten unterschiedliche Akteure auf, deren primäre Funktion zusammenfassend darin besteht, Krankheiten zu behandeln. Diese Funktion wird von einer Vielzahl unterschiedlicher Spezialisten ausgeübt, die sich im Laufe der medizinischen Entwicklung in den letzten Jahrhunderten gebildet und die mit je eigenen Wissens- und Zuständigkeitsbereichen dem Gesundheitswesen eine strukturelle Eigenart gegeben haben. Das modeme Gesundheitssystem kann dabei als eigenes, relativ autonomes gesellschaftliches Teilsystem verstanden werden, das der Codierung krankt gesund bzw. lebensförderlich/lebenshinderlich folgt. 143 Dieses Teilsystem hat zwar eine eigene Funktionslogik, ist aber doch von anderen Kultursachbereichen abhängig, wie vor allem von der rahmengebenden Politik und der auf Produktion und Distribution zielenden Ökonomie. Während in der vormodernen Gesellschaft das Gesundheits- bzw. Fürsorgewesen noch wenig stark ausdifferenziert war, ist das modeme Gesundheitswesen durch eine strukturelle Differenzierung gekennzeichnet. Dies soll am Beispiel des städtischen Spitals verdeutlicht werden. Das städtische Spital im Spätmittelalter so van der Loo und van Reijen - war "ein völlig undifferenziertes Auffangzentrum für diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft befanden. So bot das Spital sowohl körperlich wie geistig Behinderten und auch unterstützungsbedürftigen 142 VgJ. zur Begrifflichkeit Beck. Ulrich/ Bonß. Wolfgang/ Lau. Christoph, Theorie reflexiver Modemisierung - Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprograrnrne, in: Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hrsg.), Die Modemisierung der Modeme, Frankfurt a.M. 2001, 11-59. 143 VgJ. den systemtheoretischen Zugang zum Gesundheitswesen von Bauch. Jost, Gesundheit als sozialer Code. Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim / München 1996.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

229

Witwen, Waisen und allerlei fahrendem Volk Unterschlupf. Die Versorgung erfolgte durch Ordensleute oder religiös motivierte Laien. Die traditionelle Fürsorge war durch persönliche Abhängigkeit charakterisiert."I44 Ab dem 18. Jahrhundert verändert sich das Fürsorgewesen. Das städtische Spital wird vom Prozess der Differenzierung erfasst, so dass allmählich Krankenanstalten, Einrichtungen für Geisteskranke, Waisenhäuser, Annenhäuser und Gefängnisse entstehen, also eigenständige strukturelle Gebilde. Besonderes Merkmal innerhalb dieses Ausdifferenzierungsprozesses ist, dass die Hilfeleistungen vor allem von professionellen Helfern geleistet wurden, die ihre Arbeit jetzt nicht mehr freiwillig ausübten, sondern im Sinne einer zu entlohnenden Leistung. 145 Im Kontext der Gesundheitsversorgung heißt also strukturelle Differenzierung, dass sich wenig spezialisierte Gebilde mit wenigen Experten sukzessive in hochkomplexe mit unterschiedlichen Funktionsbereichen ausgestattete Organisationsformen verwandelt haben. Blickt man auf das gegenwärtige Gesundheitssystem, wie es insbesondere im dritten Teil vorliegender Arbeit analysiert wurde, so können die verschiedenen Funktionsbereiche aufgezählt werden, nämlich die Akteure der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen, der Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsgütern und der Gesundheitspolitik. Diese Einheiten, die das Gesundheitswesen steuern, interagieren miteinander und bilden spezifische Kooperationen, haben aber auch - wie gezeigt wurde - gegenteilige Interessen, woraus wiederum Konflikte entstehen. Aber nicht nur das Gesundheitswesen in seiner Gesamtheit stellt ein ausdifferenziertes Gebilde dar, sondern Funktionsdifferenzierung ist auch innerhalb einzelner Teilbereiche der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung und der Gesundheitspolitik festzustellen. Als Beispiel soll nochmals die stationäre Gesundheitsversorgung angeführt werden: Das modeme Krankenhaus, das sich je nach Trägerschaft und Spezialisierung der Krankheitsbehandlung von anderen stationären Einrichtungen unterscheidet, gliedert sich in eine komplexe Krankenhausstruktur. So gibt es in einem Krankenhaus beispielsweise ein administrativ ausgerichtetes Krankenhausdirektorium, den Verwaltungsdienst, verschiedene medizinische Fachabteilungen mit dem ärztlichen Dienst und dem Pflegedienst, Einrichtungen der Diagnose, der Therapie und der Distribution von Arzneimitteln, Institutionen der Patientenverwaltung und der Betriebsverwaltung. Die im Krankenhaus arbeitenden Spezialisten üben verschiedene Berufe aus, für die man sich - je nach Funktionsbereich - unterschiedliche Wissensformen aneignen muss. 146 Spätestens hier kann festgestellt werden, dass im Gesundheitswesen auch eine stratifikatorische Differenzierung im Hinblick auf die Berufsstruktur anzutreffen ist. Doch Stratifikation als Signum arbeitsteiliger Gesellschaften formt darüber hinaus die Erwerbsgesellschaft in genereller und weitreichender Hinsicht: Der Beruf 144

145 146

Loo I Reijen, Modemisierung, 31. Vgl. Lool Reijen, Modemisierung, 31. VgJ. Schell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 146.

230

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

bestimmt die Lage in der Gesellschaftshierarchie und prägt dadurch auch die wirtschaftliche Chance, Güter unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen nachzufragen bzw. zu erwerben und bestimmte Bedürfnisse - also auch Gesundheitsbedürfnisse - zu befriedigen. Nur mit Hilfe geeigneter finanzieller Ressourcen kann der Einzelne auch in einer geschichteten Gesellschaft nach Belieben beispielsweise Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter nachfragen, die dann über das hinausgehen, was im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung möglich ist. Die individuelle Finanzkraft entscheidet somit über den Zugang zu bestimmten medizinischen Leistungen oder Produkten. Für die Leistungsfähigkeit und Funktionskraft im Gesundheitswesen ist einerseits strukturelle Differenzierung unverzichtbar. Andererseits trägt strukturelle Differenzierung in Form der beruflichen Spezialisierung, des ausgeprägten Expertenwissens, der gegliederten Zuständigkeitsbereiche und der verschiedenen Kompetenzabgrenzungsformen dazu bei, dass der einzelne Mensch selbst parzelliert wird, so dass nur noch einzelne Krankheitssymptome behandelt werden, ohne ihn dabei aber in seiner psychisch-physischen Ganzheit zu sehen: ,,Je (natur-)wissenschaftlicher die Medizin denkt, je technischer demzufolge ihre Instrumente in Diagnose und Therapie, je administrativ-organisatorischer demzufolge die Begleitumstände medizinischer Intervention schließlich werden, umso mehr werden die Patienten, die sich immer als ,ganze' Menschen präsentieren, nur in jeweils zutreffenden Ausschnitten medizinischen Denkens und HandeIns wahrgenommen und behandelt. ,,147 Zudem kann mangelhafte Verzahnung der unterschiedlichen Funktionsbereiche der Gesundheitsversorgung die Kommunikation der einzelnen Teilsysteme untereinander blockieren, wie das besonders bei der ambulanten und der stationären Versorgung der Fall ist. Insgesamt kann die strukturelle Differenzierung - so Jens Alber - zur Behinderung der Steuerungsformen und Steuerungsakteure führen. 148 Dies wird ausdrücklich auch innerhalb der dargelegten Konfliktstrukturen des Gesundheitssystems, das bereits als "Kampflatz" organisierter Interessen interpretiert wurde, deutlich.

2. Rationalisierung und Gesundheitsversorgung Das Handeln des Menschen in der technisch-wissenschaftlichen Kultur wird im Wesentlichen durch seine instrumentelle Vernunft geprägt. Rationalisierung ist eine zentrale Methode im Umgang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie mit der den Menschen umgebenden Natur. Im Gesundheitswesen können Prozesse der Rationalisierung auf vielfältige Weise festgestellt werden. Wenn, wie M. Weber herausgearbeitet hat, Bürokratisierung eine bestimmte Form der Rationalisierung 147 Labisch, Alfons/ Paul, Norbert, Medizin: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,637. 148 V gl. Alber, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, 173.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

231

darstellt, unterliegen alle administrativen Einrichtungen des Gesundheitswesens mit bürokratischen Strukturen zweckrationalen Handlungsabläufen. Modeme Politik sowie modeme Unternehmensführung sind in diesem Sinne bürokratische Organisationsformen, die sich innerhalb des Gesundheitswesens bei allen Institutionen der Gesundheitspolitik, der Gesundheitssicherung, aber auch der Gesundheitsversorgung finden lassen. Die hinter einer (gesetzlichen und privaten) Krankenversicherung ablaufenden Funktionen sind zum Beispiel hochgradig zweckrational ausgerichtet und gründen auf einer methodischen Planung der Versicherer im Hinblick auf die zu erhebenden Versicherungsprämien unter Berücksichtigung der zu versichernden Risiken. Versicherungstheorien geben den jeweiligen Versicherern die methodischen Mittel an die Hand, um die erforderlichen Beiträge unter rationalen Gesichtspunkten zu ermitteln. 149 Die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit von Gesellschaft und Natur kommt in weitaus grundlegenderer Weise in der steten Verwissenschaftlichung zum Ausdruck. Rationalisierung des Weltbildes bedeutet, dass der Mensch aus der Gesellschaft eine "Erkenntnis-Gesellschaft" macht und er seine wissenschaftliche Erkenntnis in allen Lebensbereichen zur Anwendung bringt. 150 Wissenschaft arbeitet - wie M. Weber betont hat - mit der mathematischen Fundamentierung, mit dem rationalen Beweis und dem rationalen Experiment. 151 Diese methodischen Erkenntnisquellen sind für die Naturwissenschaften und die medizinische Wissenschaft unverzichtbar. Auch wenn in der Medizin das ärztliche Handeln im Zentrum steht und der Patient den Arzt hinsichtlich einer konkreten Therapie aufsucht, ist jeder Arzt und jede Ärztin auf Erkenntnisse angewiesen, die aus Grundlagenwissenschaften stammen. 152 Ärztliches Handeln muss sich demzufolge an wissenschaftlichen Ergebnissen und Kriterien orientieren, um eine Diagnose stellen und geeignete Therapieformen einsetzen zu können. Die ärztliche Versorgung ist dabei auf medizinisch-technische Instrumente angewiesen, denn nur diese können in der technisch-wissenschaftlich geprägten Kultur adäquate Diagnose- und Therapieverfahren zur Verfügung stellen. Durch den medizinisch-technischen Fortschritt hat sich die Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren im großen Umfang verändert. Fortschritt, worunter man das ständige Anwachsen theoretischen Wissens und seiner technischen Nutzung versteht, gilt als Leitidee einer nach rationalen Kriterien ausgerichteten Gesellschaft. 153 Technische Innovationen, die direkte kostenwirksame Einflussgrößen 149 Vgl. Schulenburg, Matthias Graf von der, Versicherungen, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999,633-637. 150 Vgl. Loo I Reijen, Modemisierung, 121. 151 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zu Religionssoziologie I, 1. 152 Vgl. Rager, Günter, Medizin: 2. Wissenschaftstheoretisch, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,642. 153 Vgl. Gründel, Johannes, Fortschritt in Medizin, Ethik und Volkswirtschaft. Theologisch-ethische Assoziationen, Festvortrag 34. Bayerischer Zahnärztetag 1993, Sonderdruck, 22.

232

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

auf das Gesundheitswesen darstellen, betreffen medizinische Heilverfahren, technische Großgeräte, aber auch die durch technische Methoden hergestellten neuartigen Arzneimittelprodukte der pharmazeutischen Industrie. 154 Der durch Technik initiierte medizinische Fortschritt hat einerseits die Lebensqualität Kranker verbessert und dazu beigetragen, dass menschliches Leben beispielsweise mit Hilfe von Transplantationen, künstlichen Organen und Implantaten gerettet bzw. erleichtert werden kann. 155 Auch modernste Diagnoseverfahren, wie etwa Computertomographie oder Kernspintomographie, sind mittlerweile unverzichtbare technische Hilfsmittel im Gesundheitswesen. 156 Andererseits sind diese Methoden, Verfahren und Instrumente nur unter Inkaufnahme innewohnender Risiken und Nebenwirkungen und vor allem hoher finanzieller Kosten zu haben. Die Zunahme der Medizintechnik und der damit verbundenen Kosten kann beispielsweise an der Computer- und der Kernspintomographie verdeutlicht werden. 1996 gab es in Westdeutschland 1139 Computertomographen und insgesamt 414 Kernspintomographen; 1979 waren es 160 Computertomographen, im Jahre 1984 gab es nur 18 Kernspintomographen. 15? Ohne die Rolle der Technik innerhalb der Entwicklung des medizinisch-technischen Fortschritts wäre demzufolge die modeme Medizin mit ihren innovativen Behandlungsmethoden nicht denkbar. Technik als instrumentelles Verfahren greift immer ein in die Lebenswelt der Menschen und ist darauf ausgerichtet, diese zu verändern. Aufgrund ihrer "lebensbedeutsamen Bedingungen, Zwecksetzungen und Folgen sind technische Entscheidungen zugleich moralische Entscheidungen. ,,158 Inzwischen rückt daher zugleich die Kehrseite des technischen Fortschritts immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. 159 Mittlerweile gibt es unzählige durch Technik initiierte Innovationen, die die Substanz und das Leben des Menschen selbst in existentieller Weise betreffen. Die modemen Biotechnologien, ein Oberbegriff für Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, machen auf verschiedene Problembereiche aufmerksam,160 die vor allem seit 2001 wieder verstärkt ausgelöst durch die weitgehende Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die politische Debatte im Kontext der Errichtung des Nationalen Ethikrates beim Bundeskanzleramt - in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Neben den Vgl. Klas, Gestaltungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen, 52-55. Vgl. Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 128-131. 156 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 423. 157 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 424. 158 Korff, Wilhelm, Die Rolle der Technik, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,99. 159 Vgl. dazu beispielsweise Schimank, Uwe, Dynamiken wissenschaftlich-technischer Innovationen und Risikoproduktion, in: Halfmann, Jost! Japp, Klaus P. (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990, 61 - 88. 160 Vgl. Hastedt, Heiner, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt a.M. 1991, 83 - \04. 154 155

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

233

grundsätzlichen ethischen Problemen, die modeme medizinisch-technische Verfahren und Geräte mit sich bringen, ist besonders hervorzuheben, dass jede Innovation - so positiv sie auch auf den physisch-psychischen Zustand von Individuen einwirken mag - neue Bedürfnisse schafft und unter Umständen auch eine Anspruchshaltung fördert, an diesem Fortschritt ganz persönlich zu partizipieren. "In einer wissenschaftlich-technischen Gesellschaft wird die Erwartungshaltung der Menschen gegenüber den Möglichkeiten einer wissenschaftlich-technischen Medizin weiter steigen. An dieser Stelle werden nicht nur traditionelle ethische Grenzen, sondern auch die ethischen Grenzen, die dem medizinischen Fortschritt in bewusster öffentlicher Entscheidung gesetzt werden, immer wieder herausgefordert und mit großer Wahrscheinlichkeit durchbrochen werden.,,161 Das heißt, dass der Rationalisierungsprozess trotz der unzweifelhaften positiven Errungenschaften auf dem Feld technischer bzw. medizinisch-technischer Innovationen durchaus ambivalent ist. Medizinisch-technische Verfahren und Gerätschaften fordern zum einen - wie Korff hervorhebt - Überzeugungskonflikte zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren heraus. 162 Zum anderen stehen hinter neuen medizinischen Techniken auch bestimmte wirtschaftliche Interessen besonders vonseiten der Gesundheitsproduzenten, die solche Instrumente herstellen und sodann in möglichst breiter Form auf dem Gesundheitsmarkt anbieten und verkaufen wollen. Interessenskonflikte entstehen in diesem Fall zwischen den Akteuren der Gesundheitsversorgung und den Akteuren der Gesundheitspolitik bzw. den Akteuren der Gesundheitsversorgung und den Akteuren der Gesundheitssicherung, wenn die Nachfrage nach medizinisch-technischen Apparaten insbesondere von rechtlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens beeinflusst wird. Der technisch-medizinische Fortschritt, um ein wichtiges Element der modemen Lebenswelt herauszugreifen, ist - nach den Worten von Alfons Labisch - ein "Musterbeispiel für die Paradoxie der Modeme,,163. Auf der einen Seite wurde der Mensch aufgrund des medizinischen Fortschritts vorn Sinnzwang seiner körperlichen Existenz befreit. Körperliches Leiden konnte rational, also wissenschaftlich, erklärt und brauchte nicht mehr religiös interpretiert zu werden. Auf der anderen Seite vermag aber auch die modeme Medizin die grundlegenden existentiellen Menschheitsfragen, die sich jedes Individuum notwendigerweise stellt, nicht zu lösen. l64 Die Frage nach dem Sinn des Leidens, nach der Endlichkeit des Lebens, nach dem Tod - all dies kann auch die modeme Medizin mit ihren hochtechnischen Verfahren letztlich nicht beantworten.

161

162 163

164

Labisch/ Paul, Medizin: l. Zum Problemstand, 638. Vgl. Korff, Die Rolle der Technik, 110-118. Labisch, Homo Hygienicus, 304. Vgl. Labisch, Homo Hygienicus, 304/305.

234

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

3. Gesundheit als säkulare Heilserwartung

Auch in der säkularen, durch und durch rationalisierten Gesellschaft ist der Mensch auf der Suche nach religiösen Erlebnissen, nach Momenten der Wiederverzauberung, nach Sinnangeboten, die ihm in der scheinbar restlos entzauberten Welt neue Orientierungsmuster bieten. Religiöse Äquivalente, wie sie Lucl{mann theoretisch zu fundieren gesucht hat - also Formen der "unsichtbaren Religion" -, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine privatisierte Ideologie widerspiegeln, nach der das einzelne Individuum u. a. für sein Heil selbst verantwortlich ist. Der menschliche Körper spielt im Rahmen der "unsichtbaren Religion" eine große Rolle, verweist doch der kraftvolle, jugendliche, fitte und schöne Körper auf die Stärke des autonomen Subjekts, des privatisierten Einzelnen. Je mehr innerhalb gesellschaftlicher Strukturen der Glaube an das Jenseits verschwindet - so die religionssoziologisehe These - und sich die Menschen eine Existenz ohne ,,religiösen Segen" erklären können,165 desto größer wird die Sehnsucht nach diesseitigen Sinnhorizonten: Die Vorstellung, ohne Jenseitsglauben zu leben und dabei ohne weiteres auch glücklich zu werden, schafft den Rahmen für einen ausgeprägten Diesseitsglauben, der sich oft auf den Körper und seinen Zustand konzentriert. 166 Körperideale, Körperinszenierungstechniken und Körpererfahrungen machen darauf aufmerksam, wie sehr der gesunde, kraftvolle und sportliche Körper in der modemen Zivilisation im Vordergrund steht. Modernität ist im Wesentlichen durch Urbanität geprägt. Vor allem die Stadt, in der eine "Steigerung des Nervenlebens,,167 diagnostiziert werden kann, ist ein intensiver Ort der modemen Körperlichkeit, ja letztlich von Körperkult und Körperfetischismus. Der urban geprägte Mensch findet in der Großstadt jenes Publikum, vor dem er auf öffentlichen Plätzen sein Körperbild inszenieren kann. Die körperbetonte, teilweise auch erotisch aufgeladene Technobewegung 168 der letzten Jahre, aber auch die verschiedenen sportlichen Aktivitäten, die "öffentlich" betrieben werden (z. B. Joggen, Marathon, Breakdancing, Skate- und Kickboardfahren, Inlineskating), sind herausragende 165 Vgl. Berger; Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 103/104.

Vgl. dazu auch Beck-Gemsheim, Elisabeth, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck, Ulrichl dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994,319. 167 Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Brücke und Tor, hrsg. und eingeleit. von Susmann, Margarethe 1Landmann, Michael, Stuttgart 1957,227. 168 Vgl. zum Körperbild in der Technoszene die soziologischen Analysen von Hitzler; Ronaldl Pfadenhauer; Michaela, "Let your body take control!" Zur ethnographischen Kulturanalyse der Techno-Szene, in: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hrsg.), Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung, Opladen 1998, 75 - 92; Hitzler; Ronald 1Pfadenhauer; Michaela, Jugendkultur und 1oder Drogenkultur? Soziologisch-ethnographische Eindrücke aus der Techno-Szene, in: Neumeyer, Jürgenl Schmidt-Semisch, Henning (Hrsg.), Ecstasy - Design fUr die Seele?, Freiburg 1997,47 -62; Hitzler, Ronaldl Pfadenhauer; Michaela, Raver Sex. Körper und Erotik in der Techno-Szene, in: du (Die Zeitschrift der Kultur) 4/1998, 66-68; Lau, Thomas, Raving Society. Anmerkungen zur Technoszene, in: Forschungsjournal 8 (1995) 67 - 75. 166

VI. Gesundheit und Krankheit im Modernisierungsprozess

235

Beispiele für diese Art der Selbstinszenierung, mit der der Einzelne mitunter kommunikative Inhalte, wie etwa Jugendlichkeit, Geschicklichkeit, Attraktivität, Ausdauer, Beweglichkeit, Erotik, aussenden möchte. 169 "In einer Gesellschaft, die besonders das Visuelle kultiviert hat, kann eine subtile Kommunikation dadurch erfolgen, daß die Körperhüllen als Trägersystem für Zeichen, Signale und Handlungen unterschiedlicher Provenienz genutzt werden. Am Körper kann der Einzelne sich darstellen und sozial sichtbar machen - ohne ein einziges Wort zu verlieren.,,170 Besonders der persönliche Gesundheitszustand kann am Körperbild abgelesen werden und dient somit - vor allem in der Erwerbsgesellschaft - als sozialer Indikator einer leistungsorientierten Lebensführung. Den schwachen, gebrechlichen, kranken und vor allem alten Körper umweht ein Makel, der scheinbar nicht in das Bild der Leistungsgesellschaft passt. Der Tod selbst wird zum großen Tabuthema der Moderne. 171 Der Wunsch möglichst grenzenlos gesund zu sein, wird zum angestrebten Ideal. Die säkulare Diesseitsreligion erwartet das Heil nicht mehr im Jenseits, sondern hier, jetzt und am besten sofort. Dabei spielt die Medizin, von der erwartet wird, dass sie besonders im Rahmen des medizinisch-technischen Fortschritts grenzenlose Heilung ermöglicht, in der säkularisierten Modeme eine tragende Rolle. Von der Medizin wird erhofft, dass sie den kranken Körper in einen gesunden verwandelt. Eberhard Schockenhoff urteilt über den Zusammenhang von Gesundheit und irdischer Heilshoffnung in folgender Weise: "Als in der Neuzeit das Heil immer weniger als transzendente Wirklichkeit verstanden und in der Folge auch nicht mehr als unmittelbare Handlungsmotivation erfahren wurde, richtete sich die Säkularisierung der Heilsverheißung oder des Hoffnungsinhaltes auf eine umfassende Humanisierung der menschlichen Lebensverhältnisse, was vor allem die Verlängerung der individuellen Lebenserwartung durch die Erfolge der modemen Medizin und den Kampf gegen unheilbare Krankheiten und vorzeitige Todesursachen einschloss. Im Lebensgefühl nicht weniger Menschen nehmen körperliches Wohlbefinden und seelische Gesundheit seitdem den höchsten, ehemals religiös besetzten Rang der Wertskala ein. Gesundheit droht so zum obersten Gut des irdischen Menschen zu werden, das die Orientierung an einem transzendenten Lebensziel 169 Vgl. insgesamt zur Inszenierung des Körpers in der Stadt Bette, Karl-Heinrich, Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin/New York 1989, 63 -160; Hubbauer, Carolin, Körperkultur - Die soziale Inszenierung des Körpers in der modemen Gesellschaft, unveröffentlichte Diplomarbeit am Institut für Soziologie, Universität München, München 1994, 59 - 64. Gleichzeitig gibt es aber auch die Flucht aus der Stadt, die Karl-Heinrich Bette als die Paradoxie und Ambivalenz moderner Urbanität und Körperlichkeit bezeichnet. Stadtflucht heißt, dass der Mensch seinen gewohnten alltäglichen Arbeitsund Wohnplatz verlässt, um in der Natur seine Erholungserwartungen, Abenteuermythen und Anti-Zivilisationsvorstellungen zu erfüllen. 170 Bette, Karl-Heinrich, Wo ist der Körper?, in: Baecker, Dirk u. a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987,613. 171 Vgl. zur Verdrängung des Todes Nassehi, Arminl Weber, Georg, Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989.

236

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

verdrängt."I72 An die Stelle der Religion rückt folglich immer mehr die heilbringende Medizin, die Ärzte - lange schon als "Halbgötter in Weiß" oder "Herren über Leben und Tod" bezeichnet - avancieren in den Augen vieler Patienten zu den modemen Heilsbringern und Erlösern. Heil und Heilung - zwar nicht radikal zu trennen, doch auf alle Fälle zu unterscheiden 173 - verbinden sich immer mehr miteinander und prägen die sehr hochgesteckte individuelle Erwartungshaltung der Kranken und Leidenden. Allerdings sind diese "Vollkommenheitsutopien,,174 medizinischer Versorgung im Gesundheitswesen mit den dort vorhandenen Ressourcen einerseits und der grundsätzlichen biologischen Unvollkommenheit und Beschränkung des Körpers andererseits nur in den wenigsten Fällen zu vereinbaren. Ein ganzheitlich orientierter Gesundheitsbegriff, wie er in der bekannten und bereits zitierten Definition der WHO zum Ausdruck kommt, enthält - trotz seiner positiven Akzentuierung im Sinne der Betonung des sozialen Aspekts - auch einen utopischen Charakter. Dieses Gesundheitsverständnis weckt letztendlich bei den Betroffenen nicht zu realisierende Hoffnungsinhalte und bewertet Krankheit als "sinnwidrige Lebenseinbuße"l75. Mit dem einseitigen Blick auf ein utopisches Heilsverständnis schwindet die Fähigkeit, mit Krankheiten leben zu lernen, die Schattenseiten des Lebens, wie Schmerz, Leid, Behinderung und Tod, in biographische Vollzüge zu integrieren. 176 Menschliches Leben sowie die medizinische Heilkunst insgesamt bleiben trotz der stetig anwachsenden Möglichkeiten der medizinisch-technologischen Optimierungsmöglichkeiten fragmentarisch. 177 4. Individualisierung und demographische Entwicklung

Seit dem Erscheinen der "Risikogesellschaft" von Beck im Jahre 1986 wird innerhalb der Sozialwissenschaften ein intensiver Risikodiskurs geführt. 178 Mit dem 172 Schockenhoff, Eberhard, Heil, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 210. 173 Vgl. Körtner, Ulrich H. J., Medizin, Medizinische Ethik, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgartl Berlin 1Köln 2001, 1043. 174 Könner, Ulrich H. J., Wie lange noch, wie lange? Über das Böse, Leid und Tod, Neukirchen-Vluyn 1998,72. Vgl. auch Könner, Medizin, Medizinische Ethik, 1043. 175 Schockenhoff, Heil, 211. 176 Vgl. Schockenhoff, Heil, 211. 177 Vgl. Körtner, Medizin, Medizinische Ethik, 1043/1044. 178 Vgl. Z. B. aus der Fülle der Publikationen Bonß, Wolfgang, Unsicherheit und Gesellschaft - Argumente für eine soziologische Risikoforschung, in: Soziale Welt 42 (1991) 258-277; Halfmann, JostlJapp, Klaus P. (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990; Krohn, Wolfgang 1 Krücken, Georg (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt a.M. 1992; LuhTTUlnn, Niklas, Soziologie des Risikos, Berlin/New York 1991; Lau, Christoph, Risikodiskurse. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Definition von Risiken, in: Soziale Welt 40 (1989) 418-436.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modernisierungsprozess

237

Terminus "Risikogesellschaft" wird eine Gesellschaftsform im Kontext der modernen Industriegesellschaft beschrieben, in der verschiedenartige makro- und mikrosoziologische Risiken und Unsicherheiten kollektives wie individuelles Leben sowohl im Fembereich (globale Regionen) als auch im Nahbereich (z. B. Familie, Partnerschaft) weitreichend beeinflussen. Die Risikogesellschaft ist mit der Individualisierung auf das Engste verbunden. Es wurde bereits angeführt, dass man nach Beck und Beck-Gemsheim unter Individualisierung einen folgenschweren Freisetzungsprozess bzw. Enttraditionalisierungsprozess infolge abnehmender Bindungen, Traditionen, Kontrollen und Sicherheiten versteht. Der einzelne Mensch muss sein Leben in Eigenverantwortung führen und gestalten; er ist folglich den durch den sozialen Wandel entstandenen Risiken ausgesetzt: "Mit der Enttraditionalisierung der Lebensformen werden Menschen mehr und mehr aus alten Versorgungsund Sicherungsbezügen entlassen und finden sich auf einem (Arbeits-)Markt der Möglichkeiten vor, der aus Angehörigen fester, auf Mutualität, Versorgung und Solidarität basierender Gruppen Individuen macht, die zugleich radikal auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich in den Zwängen eines abstrakten, universalistischen und voll durchrationalisierten Arbeitsmarktes vorfinden. Erwartbare und nicht erwartbare Schäden - Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Invalidität etc. tauchen nun im Horizont des Verhaltens von Individuen auf. Biographische Verläufe, verstanden als eine Kette von Entscheidungen, werden per se zu einer selbsttragenden, riskanten Struktur, deren kognitiver Horizont sich vor allem durch eines auszeichnet: eine unbekannt bleibende, zwischen Gelingen und Scheitern oszillierende Zukunft. ,,179 Dieses von Arrnin Nassehi beschriebene gesellschaftliche Phänomen der Freisetzung führt zur existentiellen Frage nach der Daseinsversorgung der individualisierten Individuen. Die Zähmung der durch die Industrialisierung hervorgebrachten Risiken und Lebensunsicherheiten des Arbeitslebens wurde wie bereits im zweiten Kapitel vorliegender Studie dargelegt - im Wesentlichen durch die Einführung der sozialen Versicherungsformen am Ende des 19. Jahrhunderts bewerkstelligt. 180 Der Sozialstaat ist die Folge der Modemisierung. 181 In diesem Sinne hängen der Risikobegriff und der Prozess der Individualisierung - damit ist ja der Auflösungsprozess vorindustrialisierter Lebensformen gemeint - eng zusammen; das heißt letztlich: Die Kategorie der Individualisierung gilt als Schlüsselbegrif.{zum Verständnis des neuzeitlichen Risikobegriffs. 182

179 Nassehi, Armin, Risikogesellschaft, in: Kneer, Georg/ders.lSchroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997,260. Hervorhebungen im Original. 180 Vgl. Ewald, Fran~ois, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993, bes. 443 -448. 181 Vgl. Gabriel, Karl, Krise der Solidarität. Der Konflikt um den Sozialstaat und die christliche Gesellschaftsethik, in: Stimmen der Zeit 214 (1996) 397/398. 182 Vgl. Krohn, Wolfgang/ Krücken, Georg, Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, in: dies. (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozial wissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt a.M. 1992, 14.

238

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

Die sich im Zuge der Industrialisierung herausbildenden Risiken werden mit Hilfe von Versicherungssystemen abgesichert, zunächst in Form der vielen mehr oder weniger freiwillig ausgerichteten Einrichtungen, dann schließlich in Form der staatlich verordneten Zwangsversicherung. Von nun an sind individuelle Risiken nicht mehr so lebensbedrohlich wie in Zeiten der Frühphase der industriellen Revolution, sondern die Gefahrengemeinschaften auf Gegenseitigkeit schaffen eine Situation, in der die Unsicherheiten des Lebens beherrscht werden können. Dieser sozialstaatlich organisierte Versicherungsschutz gründet - wie angedeutet - auf rationale Kalkulation, das heißt: Die Beherrschung individueller Risiken erfolgt durch Berechnung, also Rationalität. Schaut man auf die Bismarcksche Sozialreform, dann lässt sich sagen, dass damit nicht nur einfach die Wende zum modernen Sozialstaat geschaffen wird, sondern dass das Individuum als Träger von individuellen Risiken verstanden wird und es für seine Risikolagen, wie etwa Krankheit und Alter, innerhalb einer Solidargemeinschaft selbst Verantwortung zu tragen hat. 183 Die Sozialversicherung ist bekanntlich keine Staatsfürsorge, sondern eine Versicherung durch eigene Beiträge. Mit der staatlichen Verpflichtung, Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten, kann eine große Gefahrengemeinschaft erst gebildet werden, die dann - im konkreten Schadensfall- kollektive Hilfe leistet. Der Freisetzungsprozess, der mit Hilfe der Individualisierungstheorie beschrieben wird, führt somit dazu, dass Menschen ihre eigenen Biographien eigenverantwortlich gestalten und sich zumeist gegen traditionelle Rollenbilder, gesellschaftliche Konventionen stellen. Mit Blick auf den durch die Individualisierung ausgelösten Wandel der Familienstruktur bzw. - allgemein gesprochen - der Lebensform können weitreichende gesellschaftliche Änderungsprozesse hinsichtlich individueller Lebensentwürfe diagnostiziert werden. Der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte hat bereits die Beziehung zwischen den Geschlechtern und den Generationen verändert. Individualisierte Menschen leben in "postfamilialen" Beziehungsformen l84 mit mannigfachen Wahlmöglichkeiten, Optionen und Entscheidungen. Die damit ausgelösten strukturellen Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die Gestalt des Gesundheitswesens bzw. - im grundsätzlichen Verständnis - auf gesellschaftliche Prozesse. Es ist zu beobachten, dass moderne, individualisierte Gesellschaften eine andere Bevölkerungsentwicklung aufweisen als traditionelle Sozialgebilde. Dies wird in erster Linie im Hinblick auf das generative Verhalten deutlich. Innerhalb des Modernisierungsprozesses ist eine ganz bestimmte Bevölkerungsweise festzustellen, die man mit "sinkender Fruchtbarkeit" bezeichnen kann. 185 Die bevölkerungssoziologische Forschung führt hierfür eine Reihe von Bestimmungsgründen an: 186 Vgl. Krohnl Krücken, Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit, 18/19. Vgl. Beck-Gemsheim, Was kommt nach der Familie?, 17/18. 185 Innerhalb der Bevölkerungssoziologie unterscheidet man drei Einflussgrößen auf die Bevölkerungsstruktur: Geburten-. Sterbe- und Migrationsvorgänge (Aus- und Einwanderungen). Vgl. Bolte 1Kappe 1Schmid, Bevölkerung, 13. 183

184

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

239

Im Übergang von der vorindustriellen Abstammungsgesellschaft zur industriellen Leistungsgesellschaft wird die Ausbildung der Kinder immer bedeutender, aber auch kostspieliger, so dass man sich entschließt - zunächst bei der Gruppe der Angestellten und Beamten -, weniger Kinder in die Welt zu setzen. Weiterhin werden Kinder - vor allem auch in der Arbeiterschaft - als so genannte "Kostene1emente" bzw. "Kostenverursacher" begriffen. Steigender Lebensstandard und Konsumstreben sind mit einer reichen Kinderzahl nicht möglich. Die Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik lösen die frühere Daseinsversorgung durch möglichst viele eigene Kinder ab. 187 Eine große Bedeutung für den Geburtenrückgang spielt auch die Emanzipation der Frau, das heißt der Wandel des traditionellen weiblichen Rollenverständnisses; die Kinderphase wird auf wenige Jahre beschränkt, um dann für andere Aufgaben, etwa Karrierewünsche, "frei" zu sein. Innerhalb des Modernisierungsprozesses verwirklicht sich also immer deutlicher der Anspruch auf ein eigenes "Stück Leben". Die durch die Industrialisierung ausgelösten Mobilitätsvorgänge tragen ebenfalls zur Senkung der Geburten bei. Schließlich bestimmen auch Säkularisierungstendenzen, also Formen der Entkirchlichung, sowie moderne (technische) Methoden der Familienplanung das generative Verhalten von Individuen. "Faßt man das zu den Bestimmungsfaktoren der sinkenden Geborenenziffer Gesagte zusammen, so wird deutlich, daß hinter diesem Abfall zunächst einmal eine zunehmende Rationalisierung des Fortpjlanzungsverhaltens steht. Immer stärker setzte sich das ,Prinzip der bewußten Elternschaft' durch: Vor der Entscheidung für ein Kind werden die daraus folgenden Konsequenzen bedacht. ,,188 Seit Mitte der 1970er-Jahre ist in Deutschland - sowie in den meisten der europäisch geprägten Länder - ein erneuter Geburtenrückgang zu verzeichnen. Die Gründe für den "zweiten Geburtenrückgang" sind mit den bereits genannten Bestimmungsfaktoren des "ersten Geburtenrückgangs" zu Beginn der Industrialisierung identisch. Der Individualisierungstrend verstärkt sich aber noch, was vor allem in der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen zum Ausdruck kommt. Mit dieser Berufstätigkeit ist aber die grundsätzliche Problematik der Vereinbarkeit von Berufsrolle und Mutterrolle angesprochen. Hinzu kommen das Streben nach 186 V gl. Bolte / Kappe / Schmid, Bevölkerung, 50 - 56; Bolte, Karl M., Bestimmungsgründe der Geburtenentwicklung und Überlegungen zu einer möglichen Beeinflußbarkeit, in: Bevölkerungsentwicklung und nachwachsende Generation. Bericht eines Arbeitskreises der Gesellschaft für sozialen Fortschritt, hrsg. vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, 93. Bd., Stuttgart u. a. 1980,65-79. 187 Der Zusammenhang von Sozialstaatsentwicklung und demographischem Wandel - hier ausgedrückt durch Reduzierung des Kinderwunsches - wird expressis verbis innerhalb der Sozialwissenschaften betont. Vgl. Leisering, Lutz, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung, Frankfurt a.M./New York 1992, 35. So auch die These von Kaufmann, der davon ausgeht, dass "die absehbare demographische Entwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit durch sozialstaatliche Maßnalimen mit ausgelöst worden ist." Kaufmann, Franz-Xaver, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a.M. 1997, 77. 188 Bolte / Kappe / Schmid, Bevölkerung, 56. Eigene Hervorhebungen.

240

D. Gesundheitswesen und Modernisierung

Unabhängigkeit, nach Konsum, nach einem bestimmten Lebensstandard etc. Dies alles begünstigt eine kleinere Kinderzahl bzw. die Kinderlosigkeit. 189 Die Veränderungen der demographischen Entwicklung haben weitreichende Folgen für die Funktionskraft der Kranken- und Gesundheitsversorgung im Gesundheitswesen (bzw. insgesamt für den Sozialstaat). Im Mittelpunkt stehen hier zum einen die so genannte "Überalterung der Gesellschaft" und zum anderen der strukturelle Wandel der Farnilienstruktur und der Frauenrolle. Die Struktur der deutschen Gesellschaft, die sich vom 19. Jahrhundert bis heute bereits grundlegend verändert hat, wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterhin in radika1er Weise wandeln, wie statistische Daten und verschiedene demographische Modellrechnungen schon seit langem betonen. Zwar ist die Bevölkerung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten merklich angewachsen, doch werden für die nächsten Jahrzehnte zum einen eine Bevölkerungsschrumpfung - ausgelöst durch die sinkende Geburtenrate - und zum anderen eine deutliche Verschiebung der Bevölkerungsstruktur festzustellen sein. Zwischen 1950 und 1999 stieg die Einwohnerzahl in Deutschland (Ost und West) von 69,35 Mio. auf 82,14 Mio. 190 Prognosen zufolge wird im Jahre 2040 die Einwohnerzahl nur noch 72,42 Mio. betragen. 191 Gleichzeitig hat sich die Altersstruktur gewandelt, diese Entwicklung wird sich in Zukunft verschärfen: Im Jahre 1950 waren noch 14,60% (10,12 Mio.) der Bevölkerung 60 Jahre und älter, 1995 lag diese Zahl bei 21,10% (17,21 Mio.). Nach Modellrechnungen werden im Jahre 2010 24,09% (20,80 Mio.) der Einwohner älter als 60 Jahre sein, im Jahre 2040 werden es dann 33,90% (24,55 Mio.) sein. 192 Mit dieser Zunahme älterer Menschen ist eine Verringerung der jüngeren Bevölkerungskreise, das heißt der Anteil der unter 20jährigen, verbunden: 1950 waren es insgesamt 30,50% (21,08 Mio.), im Jahre 1995 21,50% (17,63 Mio.); 2010 werden es 18,50% (15,50 Mio.), im Jahre 2040 schließlich nur noch 16,00% (11,65 Mio.) sein. 193 Hinter diesem Zahlenmaterial steht eine große demographische Herausforderung, die aber nicht nur Deutschland zu bewältigen hat, sondern die meisten der Industriestaaten. 194 Gleichwohl wird die Erdbevölkerung weiter wachsen, primär in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Diese Entwicklung gründet in der Tatsache, dass bereits die Mütter kommender Generationen aufgrund des jungen Alterssockels in den Schwellen- und Entwicklungsländern heute schon geboren Vgl. Bolte / Kappe / Schmid, Bevölkerung, 57 - 76. Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 18; Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, 2.1. 191 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 18. 192 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 18. 193 Vgl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 18. 194 Vgl. Wirtschaftsbericht 2001, hrsg. vorn Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin 2001, 26/27. Der Wirtschaftsbericht enthält einen ausführlichen Teil zum demographischen Wandel. 189

190

VI. Gesundheit und Krankheit im Modernisierungsprozess

241

sind; man spricht hier von der so genannten Eigendynamik der Bevölkerung. 195 Als weiteres Kennzeichen für die Verschiebung der Altersstruktur in Deutschland gilt - neben der geringen Zahl der Neugeborenen - die höhere Lebenserwartung, die vor allem auf den medizinisch-technischen Fortschritt zurückzuführen ist. Während die durchschnittliche Lebenserwartung in der Weimarer Republik (in den Jahren 1924/1926) bei 55,97 Jahren (Männer) bzw. 58,82 Jahren (Frauen) lag l96 , betrug die Lebenserwartung für 1997/1999 (bezogen auf das gesamte Bundesgebiet) bei Männern 74,44 Jahre und bei Frauen 80,57 Jahre 197 . Blickt man auf die durchschnittliche Lebenserwartung ausgewählter Industrieländer, so ist bemerkenswert, dass Deutschland hier keine Spitzenposition einnimmt. 198 Was kann aus der dargestellten Bevölkerungsentwicklung bzw. den individualisierten Lebensentwürfen im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung geschlussfolgert werden? Man kann die demographische Entwicklung in Deutschland im Sinne eines dreifachen Altems der Bevölkerung auffassen: ,,1. Die absolute Zahl der älteren Menschen wird weiter zunehmen. 2. Ihr relativer Anteil an der Gesamtbevölkerung wird weiter steigen. 3. Die Zahl der über 80jährigen wird nach einer kurzen demographischen Verschnaufpause ab 2000 wieder ansteigen." 199 Diese Trends gelten heute in der bevölkerungssoziologischen Diskussion als "grundsätzlich unumkehrbar,,200, können mit Einwanderungsbewegungen zwar "geringfügig abgefedert,,201 werden, ein drastischer Geburtenanstieg in Deutschland ist aber eher utopisch. Aufgrund des Alterns der Bevölkerung wird es zu weitreichenden Veränderungen im Gesundheitswesen kommen?02 195 So bereits Hauser, Jürg A., Bevölkerungswachstum in Industrie- und Entwicklungsländern - heute, in: Ehlers, Eckart (Hrsg.), Ernährung und Gesellschaft, Bevölkerungswachstum - agrare Tragfähigkeit der Erde, Stuttgart I Frankfurt a.M. 1983, 81 - 83. Vgl. auch Hauser, Jürg A., Bevölkerungsentwicklung I Bevölkerungspolitik: 1. Zum Problemstand, in: Korff, WilheJml Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 351. 196 Vgl. Daten des Gesundheitswesens. Ausgabe 2001, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, 137. Bd., Baden-Baden 2001,30. 197 Vgl. Daten des Gesundheitswesens. Ausgabe 2001, 30. 198 Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt beispielsweise in Norwegen (1997) 75,50 Jahre (Männer) und 81,00 Jahre (Frauen); in Schweden (1997) 76,70 Jahre (Männer) und 81,80 Jahre (Frauen); in der Schweiz (1997) 76,3 Jahre (Männer) und 82,10 Jahre (Frauen); in Japan (1997) 77,20 Jahre (Männer) und 83,80 Jahre (Frauen). Vgl. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, 2.4. 199 Naegele, Gerhardl Kauss, Thomas, Demographie und SoziaJepidernioJogie - Zur These vom demographisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben, in: IgJ, Gerhard I NaegeJe, Gerhard (Hrsg.), Perspektiven einer sozial staatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, München 1999,65. 200 Naegele I Kauss, Demographie und Sozialepidemiologie, 65. 201 Mayer, Tilman, Die demographische Krise. Eine integrative Theorie der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt a.M. 1999, 362. Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Positionen von Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, 73-77.

16 Bohrmann

242

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

• In einer alternden Bevölkerung wird die Morbidität grundsätzlich ansteigen, so dass ambulante und stationäre Gesundheitsdienste bzw. intensive medizinische Betreuungsformen verstärkt zur Anwendung kommen werden. Besonders häufig wird im Alter eine Multimorbiditär 03 bei den Betroffenen festzustellen sein, das heißt, dass gleichzeitig voneinander unabhängige Krankheiten auftreten. • Mit dem steigenden Alter wird auch die Zunahme der Pflegebedürftigkeit wachsen, die sich aufgrund der hohen Lebenserwartung zeitlich ausdehnen wird. Hier fällt nicht nur der Kostenfaktor ins Gewicht, der aber durch die Einführung der Pflegeversicherung etwas abgemildert werden kann, sondern mehr noch der psychosoziale Zustand der Betroffenen in den dementsprechenden Pflegeinstitutionen. Besonders die Gefahr der Vereinsamung im Alter ist hier zu nennen. Nach dem Fünften Familienbericht des Bundesministeriums für Familie und Senioren wird sich die Zahl der Familienangehörigen, die sich um die Pflege der Alten kümmern können - gleich ob ambulant oder stationär -, in Zukunft weiter reduzieren. 204 • Verstärkte Morbidität bzw. Mutimorbidität im Alter sowie zahlreiche Pflegefälle werden letztendlich zu steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen führen. 205 • Der demographische Wandel bedingt auch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn die Erwerbsbevölkerung zahlenmäßig zurückgeht, werden sich auch die Pflegeberufe verringern. Die Verschiebung im Altersaufbau einer Gesellschaft hat in besonderer Weise Folgen für das System der sozialen Sicherung, das von seiner Funktionslogik her auf dem Generationenvertrag aufgebaut ist. Ein geringer werdender Anteil Jüngerer muss für einen immer größer werdenden Anteil Älterer finanziell aufkommen. Die Folge ist das Brüchigwerden des Generationenvertrags, wie er auch für die gesetzliche Krankenversicherung konstitutiv ist. Die hier beschriebenen Entwicklungstendenzen, die als Folgen der Individualisierung (Modernisierung) identifiziert worden sind, sind prinzipiell nicht mehr aufzuhalten. Der demographische Wandel - wenngleich von vielen sozialen Bestimmungsfaktoren abhängig206 kann auch von der Politik nur in begrenzter Weise beeinflusst werden. Zum einen sind - wie bereits erwähnt - verstärkte Einwanderungen denkbar, zum anderen intensive familienpolitische Maßnahmen, die Eltern bei ihrer Entscheidung für ein Kind unterstützen. Familienpolitik im Sinne einer direkten Bevölkerungspolitik würde aber die Autonomie der Familie verletzen und ist von daher abzulehnen. 202 V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 21 /22; Zdrowomyslaw / Dürig, Gesundheitsökononrie,269/270. 203 Vgl. Naegele / Kauss, Demographie und Sozialepidenriologie, 69. 204 V gl. Fünfter Fanrilienbericht. Fanrilien und Fanrilienpolitik im geeinten Deutschland, hrsg. vom Bundesnrinisterium für Fanrilie und Senioren, Berlin 1994, 193. 205 V gl. Naegele / Kauss, Demographie und Sozialepidemiologie, 73. 206 Vgl. Schmid, Josef, Einführung in die Bevölkerungssoziologie, Reinbek bei Hamburg 1976,74.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

243

"Die Familie sähe sich in die Rolle einer gesellschaftlichen Agentur gedrängt und nicht in ihrer Eigenwertigkeit, Eigengesetzlichkeit und Eigenverantwortung respektiert.,,207 Familienpolitik darf immer nur subsidiär sein und nicht in die Freiheitsrechte der Betroffenen eingreifen. Sie kann nur dort ansetzen, wo die Eltern sich in Freiheit für neues Leben entscheiden. Das bedeutet: "Der moralische Wille zum Kind selbst ist undelegierbar. ,,208 Ein weiteres Problemfeld in der zukünftigen Krankenversorgung tut sich auf, wenn man bedenkt, dass sich die weibliche Normalbiographie - wie Beck-Gernsheim betont - verändert hat und sich weiterhin verändern wird. Wahrend bislang verstärkt Frauen in den Pflegeberufen tätig sind, wird - so darf vermutet werden ihre persönliche Versorgungsbereitschaft in Zukunft abnehmen. Auch in der weiblichen Berufsbiographie wird der "Anspruch auf das eigene Leben" sichtbar: "Die Frauen, die in den Pflegeberufen arbeiten (und es handelt sich vor allem um Frauen), haben ihrerseits schon den Wandel der weiblichen Normalbiographie erfahren. Sie wollen [ ... ] statt des alten Ideals der aufopfernden Selbstlosigkeit zunehmend Privatleben, Freizeit, eigene Familie, deshalb einen Beruf wie andere auch, mit festen Dienstzeiten, Feierabend und Urlaub. Ihr Selbstverständnis ist nicht mehr das des geduldigen Dienens, vielmehr erwarten sie von der Berufsarbeit einen eigenständigen und qualifizierten Wirkungsbereich, verknüpft mit Weiterbildungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen und angemessenem Einkommen. ,,209 Daher - so folgert Beck-Gernsheim - setzt mit dem Wandel der weiblichen Normalbiographie auch ein Strukturwandel im Hinblick auf die Zukunft der Pflegeberufe ein.210 Die Ambivalenz der Modeme, die sich innerhalb des Gesundheitswesens strukturell niederschlägt, wurde bis jetzt anhand der dargestellten Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesse beschrieben. Auch die Individualisierung unterliegt dieser Ambivalenz. Auf der einen Seite begünstigt erst der durch die industriellen Veränderungen auftretende Individualisierungstrend die Etablierung von staatlich gesteuerten sozialen Versicherungssystemen; auf der anderen Seite machen aber erst die Wandlungen der Bevölkerungsstruktur und der Lebensformen auf grundlegende Probleme der Gesundheitsversorgung aufmerksam.

207 Baumgartner; Alois, Familie: 4. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,733. 208 Korjf, Wilhelm, Ehe und Familie in der modernen Industriegesellschaft. Ethisch-politische Irnplikationen, in: Familien verändern sich. Anfragen an Ethik und Politik, Symposium am 29. September 1986, hrsg. vom Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Stuttgart / Berlin / Köln 1986, 19. 209 Beck-Gemsheim, Was kommt nach der Familie?, 103. 210 Beck-Gernsheim bezieht sich auf empirische Daten von Dunkel, Wolfgang, Altenpflege - und der Rest des Lebens. Bericht über eine empirische Untersuchung von Altenpflegekräften, Manuskript, Sonderforschungsbereich 333 der Universität München, München 1993.

16*

244

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

5. Domestizierung und Machbarkeitsmentalität

Mit Domestizierung wird jener Prozess verstanden, bei dem der Mensch seine biologischen Beschränkungen zu überwinden sucht und sich mit Hilfe seiner instrumentellen Vernunft kulturell einrichtet. Dabei beziehen sich - wie gesagt - domestizierende Leistungen auf die Natur, die den Menschen umgibt, und auf die physische Gestalt des Menschen. Alle technischen Errungenschaften, die dem Menschen - im Sinne von Gehlen - als Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung dienen, stellen daher bestimmte Domestizierungsformen der Naturkräfte dar. Der Mensch zähmt anhand medizinischer Verfahren und medizinisch-technischer Geräte die ihn befallenden Krankheiten. Mit Domestizierung kann weiterhin die Beherrschung körperlicher Kräfte bzw. - in einem noch viel grundlegenderen Sinne - die Bezähmung des menschlichen Körpers, das heißt die Suspension der körperlichen Insuffizienzen, verstanden werden. Gerade in der individualisierten Gesellschaft nimmt das Interesse am Körper des Menschen immer mehr zu. Scheinbar wird er zum Differenzierungsmerkmal, zum Kennzeichen von Individualität und Persönlichkeit in einer zunehmend gleichartigen Kultur. Der Körper wird - wie bereits unter D.VI.3 gesagt - zum formbaren Material und zum Anzeichen für Fitness, Leistungsfähigkeit und Gesundheit. In modernen Industriegesellschaften ist scheinbar nur der erfolgreich, der in der Konkurrenz besteht, der belastbar und vital ist. Gesundheit und Fitness werden folglich zu zentralen Gestaltungsaufgaben leistungsorientierter Gesellschaften.211 Die Domestizierung des Körpers soll im Folgenden exemplarisch anband von speziellen Körpertechniken, nämlich Bodybuilding und Fitness, skizziert werden. Hierbei handelt es sich um spezielle Techniken, mit denen eine gute körperliche Verfassung sowie ein gutes kraftvolles Körperbild erzielt werden sollen. Bodybuilding als eine spezielle Form von Arbeit ist "eine vorentworfene Veränderung des naturgegebenen und sozial deformierten Körpers mit dem expliziten Ziel, aus schwachem, weichem, trägem, fettem Fleisch, kräftiges, hartes, aktives und muskulöses zu machen, die Konturen des Körpers harmonisch auszudehnen.,,212 Dieses Ziel kann einerseits nur dann erreicht werden, wenn ganz bestimmte Bewegungstechniken zur Anwendung kommen (etwa Stoßen, Heben, Ziehen, Drücken), die anband verschiedener Geräte ausgeübt werden, und der Bodybuilder in regelmäßigen Abständen Trainingseinheiten - entweder zu Hause oder in gesonderten Fitnessstudios - absolviert. Solche Körpertechniken streben danach, den Körper zu beherrschen - also zu domestizieren -, sich dabei einer bestimmten selbst auferlegten Disziplin oder Askese zu unterwerfen, um schließlich den Körper allmählich umzubauen. 213 In ihrer empirischen Beobachtung zum Phänomen des Body211 Vgl. Beck-Gemsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, 317/318. 212 HoneT; Anne, Bodybuilding als Sinnsystem. Elemente, Aspekte und Strukturen, in: Sportwissenschaft 15 (1985) 156.

VI. Gesundheit und Krankheit im Modemisierungsprozess

245

building unterscheidet Anne Honer zwei Typen voneinander. Den "unechten" und den "echten" Bodybuilder. Während der "unechte" Bodybuilder nur aus gesundheitlichen oder figürlichen Gründen ins Sportstudio geht - Fitness ist sein einziges Credo -, ist Bodybuilding für den "echten" Bodybuilder mehr als nur eine sportliche Freizeitbeschäftigung, sondern harte Arbeit an einem idealen Körperbild. Für ihn ist das oberste Ziel ein permanenter Muskelaufbau und eine stetige Leistungssteigerung. Dieses Ziel versucht er mit einem Bodybuilding-Sonderwissen - auf der Basis rationaler Methoden -, das heißt mit speziellen Trainingsmethoden und Ernährungsweisen sowie Expertenwissen aus Fachpublikationen, zu erreichen. 214 Wie jeder Sportler muss der Bodybuilder - gleich ob "unechter" oder "echter" Typus - Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung an den Tag legen. Nur mit einer ausreichenden asketischen Disziplin können die gewünschten Leistungen erreicht werden. 215 Die negativen Seiten des Bodybuilding - quasi die Ambivalenzen von Domestizierungstechniken - werden vor allem durch einen freizügigen Medikamentenmissbrauch im Sinne von gesundheitlich beeinträchtigenden Dopingpraktiken sichtbar. 216 Was hier für den gesonderten Bereich des Bodybuilding ausgeführt wird, gilt prinzipiell für die meisten Sportarten. Diejenigen, die Leistungs- und Hochleistungssport, Wettkampfsport, Breiten-, Freizeit- oder Gesundheitssport betreiben, müssen trotz der zugrunde liegenden unterschiedlichen Ziele, Ideologien, Sinnmuster und Motivationen ihren Körper "bearbeiten" und ihn zu "überwinden" bzw. zu "beherrschen" suchen. Während im "echten" Bodybuilding, im Hochleistungssport, aber auch bei den unterschiedlichen Risikosportarten dem Körper extreme Leistungen abverlangt werden und der Körper selbst an die Grenzen seiner Gesundheit stößt, stehen im Fitness- und Gesundheitssport auch Ziele (z. B. Förderung der physischen Leistungsfähigkeit, Steigerung der Lebensqualität, Spaß, Kommunikation mit anderen Sporttreibenden) im Vordergrund, an denen sich die Sporttreibenden orientieren und die in den meisten Fällen eher keine gesundheitsschädigenden Auswirkungen haben. Aber letztlich sind Gefahren für den Körper auch auf diesem sportlichen Feld nicht gänzlich ausgeschlossen. Hier ist zu erwähnen, dass Fitness-Training, Jogging, Mountainbiking auch suchtartig betrieben werden und auch "leichtere" Sportarten durch unsachgemäße Ausführungen Gesundheitsschäden anrichten können. Bereits im Rahmen des Rationalisierungsprozesses wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die modernen Biotechnologien nicht nur einfach Produkte der tech213 Vgl. Hubbauer, Körperkultur - Die soziale Inszenierung des Körpers in der modemen Gesellschaft, 84/85. 214 Vgl. Honer, Anne, Beschreibung einer Lebens-Welt. Zur Empirie des Bodybuilding, in: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985) 133 /134. 215 Vgl. Hubbauer, Körperkultur, 87. 216 Vgl. Kindermann, Wilfried, Bodybuilding, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,417.

246

D. Gesundheitswesen und Modemisierung

nisch-wissenschaftlichen Kultur sind, sondern auch mit Gefahren und ethischen Problemen verbunden sind. Bei der Reproduktionsmedizin handelt es sich um eine technisch assistierte Fortpflanzung, die Unfruchtbarkeit mit Hilfe eines technischen Verfahrens zu überwinden sucht. Diese Technik, die den Zeugungsvorgang künstlich beeinflusst, kann ebenfalls als spezielle Domestizierungsleistung verstanden werden, da mit Hilfe technischer Verfahren Störungen der Fortpflanzung behoben werden sollen. Damit sind aber eine Vielzahl ethischer Probleme verbunden (z. B. Embryonenforschung, Leihmutterschaft, pränatale Diagnostik), die die öffentliche Diskussion nach wie vor herausfordern. 217 Mit der Fortpflanzungsmedizin, die endlich zum ersehnten Kind verhilft, kann etwa bei den Eltern eine fordernde Anspruchshaltung geweckt werden, nicht nur einfach ein Kind zu haben, sondern ein ganz bestimmtes Kind mit ausgesuchten Fähigkeiten und Merkmalen. Vor allem aus den USA, wo eine liberalere juristische Haltung im Hinblick auf Leihmutterschaft und heterologe Insemination anzutreffen ist, weiß man um den "Trend zur Optimierung" der "Wunschkinder".218

vn. Zusammenfassung: Konsequenzen der Modernisierung für die Gesundheitsversorgung

Die vorausgegangenen Ausführungen haben mit Hilfe einer soziologischen Analyse herausragende gesellschaftliche Problembereiche beschrieben, die die Systemlogik und Funktionskraft des Gesundheitswesens gefährden. Die Modernisierungsprozesse haben die Gesundheitsversorgung zwar in entscheidender Weise begünstigt. Der große Fortschritt auf dem Gebiet der Medizin gründet vor allem in den verschiedenen rationalen Verfahren und Methoden sowie in der Interpenetration von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft. Doch mit der Steigerung der medizinisch-technischen Möglichkeiten sind Kosten verbunden, die vor allem im Rahmen eines sozialen Krankenversicherungssystems die Solidargemeinschaft zu tragen hat. Gleichzeitig sind mit der Steigerung der Versorgungsmöglichkeiten und Behandlungsaussichten auch die Ansprüche und "Begehrlichkeiten" gewachsen. Vor allem in der säkularen Gesellschaft hat der möglichst optimale Gesundheitszustand des einzelnen Individuums einen pseudo-religiösen Wert erhalten, der aufgrund der fortschreitenden Säkularisierung - so die These - in Zukunft an Bedeutung eher zu- als abnehmen wird. Der medizinisch-technische Fortschritt hat zudem die Lebenserwartung der Bevölkerung deutlich verändert. Hinzu kommt der Geburtenrückgang, der nur der Logik individualisierter Lebensentwürfe entspricht. 217 VgJ. Hunold, Gerfried W./ Laubach, Thomas, Fortpflanzung/Fortpflanzungsmedizin: 3. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 780-782; Hilpert, Konrad, In-vitro-Fertilisation (IVF): 3. Ethisch, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 295-297. 218 VgJ. Beck-Gemsheim, Was kommt nach der Familie?, 124-126.

VII. Zusammenfassung

247

Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Sinne eines Ungleichgewichts zwischen Jungen und Alten führt notwendigerweise zu erheblichen Finanzierungsproblemen innerhalb der solidarischen Gesundheitssicherung. Eine geringer werdende Anzahl jüngerer Beitragszahier wird in Zukunft die Risiken einer stetig anwachsenden älteren Bevölkerung mitzutragen haben. Beitragserhöhungen, die diese Einnahmedefizite zu kompensieren suchen, sind aber nicht grenzenlos als Lösungsstrategien durchsetzbar, zumal damit die von den Arbeitgebern zu tragenden Lohnnebenkosten sowie die Lohneinkommen der Arbeitnehmer in direkter Weise betroffen sind. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklung, die die prekäre Situation des deutschen Gesundheitswesens verdeutlicht, stellt sich die Frage, wie eine zukünftige Gesundheitsversorgung zu gestalten ist. Reformen, die hier ansetzen, müssen erkennen, dass hinter der gegenwärtigen Krise des Gesundheitssystems langfristige Tendenzen stehen, denen man nicht einfach mit Aktionismus begegnen kann. Im Wesentlichen geht es in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion um die Frage, ob die beschriebenen Probleme durch das bisherige System der solidarischen Gesundheitsversorgung in ausreichender Weise angegangen werden können oder ob sich die Struktur des deutschen Gesundheitswesens ändern muss. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird besonders heftig diskutiert, wie eine stärkere Eigenverantwortung - im Sinne einer Ergänzung zum bestehenden Versicherungssystem - in die Versorgungsstruktur des Gesundheitswesens implementiert werden kann. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird daher das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität im Kontext des kollektiven Gesundheitssicherungssystems in den Blick genommen und Grenzen und Möglichkeit einer privaten Zusatzversicherung diskutiert.

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte für die Gestaltung des Gesundheitswesens In dieser Arbeit wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass im Vergleich zu den anderen Akteuren im Gesundheitswesen die Position des Patienten geschwächt ist. Das ist damit zu erklären, dass seine Interessen bislang nur wenig institutionalisiert sind. Trotzdem steht im Zentrum jedes Gesundheitswesens der Patient / Versicherte, derjenige, der Gesundheitsgüter und Gesundheitsleistungen nachfragt und konsumiert. Trotz der (relativ) schwachen Position des Patienten im Gefüge der organisierten Interessen der unterschiedlichen Gesundheitsakteure entwickelt der Patient allmählich ein neues Selbstbewusstsein und wird sich seiner neuen Rolle im Sinne eines autonomen Verbrauchers zunehmend bewusst. Dieses neue Verständnis des Patienten muss sich als Leitidee im Gesundheitswesen vor allem institutionell niederschlagen, indem die verschiedenen Akteure des Gesundheitswesens die Position des Patienten/Versicherten stärken und ihm die reale Partizipation an Entscheidungsprozessen ennöglichen. Im Zentrum des sozialethisehen Schlusskapitels steht die Frage, wie ein menschengerechtes Gesundheitswesen, das den bedürftigen Menschen als Person in den Mittelpunkt rückt, organisiert werden kann. Anhand einiger zentraler Problemstellungen, die auch den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs über die Gesundheitsversorgung prägen, kommen ethische Leitlinien und Orientierungspunkte für die Gestaltung des Gesundheitswesens zur Sprache. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das Arzt-Patienten-Verhältnis, das die Basis für eine gelingende Gesundheitsversorgung darstellt. Es schließen sich nonnative Erörterungen über die Struktur der Gesundheitssicherung an. Im Kern geht es dabei um folgende zwei Fragen: Welche Gesundheitsleistungen kann die Solidargemeinschaft der Versicherten tragen und was soll durch Selbstbeteiligung und Eigenverantwortung abgedeckt werden? Wie viel Wettbewerb braucht und wie viel Wettbewerb verträgt ein Gesundheitssystem, ohne dass dabei das Personprinzip und das Solidaritätsprinzip verletzt werden? Besonders diese angeschnittenen Punkte erregen die öffentliche Diskussion, so dass die Frage nach der solidarischen Gesundheitsversorgung im Kontext einer Wettbewerbsordnung im Folgenden einen breiten Raum einnehmen wird. In einem Exkurs am Ende des Kapitels werden schließlich inhaltsethische Kriterien für die Gestaltung von Werbernaßnahmen im Gesundheitswesen entfaltet. Werbung - ein relevanter Teil der marktwirtschaftlichen Ordnung - macht nämlich darauf aufmerksam, dass Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter knappe Ressourcen sind, die marktwirtschaftlichen, aber auch ordnungspolitischen bzw. ordnungsethischen Maßstäben zu unterwerfen sind.

I. Arzt-Patienten-Verhältnis

249

I. Das Arzt-Patienten-Verhältnis: Ausgangspunkt einer Ethik des Gesundheitswesens

Eine herausragende Stellung im Gesundheitswesen nimmt zweifellos die ArztPatienten-Beziehung ein. Sie ist eines der klassischen Themen der medizinischen Ethik und hat großen Einfluss auf die verschiedenen Handlungsfelder des Gesundheitswesens. 1 Aufgrund der engen Verzahnung des intimen Arzt-Patienten-Verhältnisses mit der Struktur des Gesundheitssystems bildet diese Beziehung die Basis einer Ethik des Gesundheitswesens. Eine gestörte Beziehung zwischen Arzt und Patient kann beispielsweise dazu beitragen, dass Patienten häufig den Arzt! die Ärztin wechseln, wodurch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gesteigert wird. Wenn der Patient seinem Arzt oder seiner Ärztin nicht (mehr) vertraut und er den ärztlichen Therapieanweisungen nicht Folge leistet, kann dies unter Umständen ernste Auswirkungen auf seinen Gesundheitszustand haben, was wiederum zusätzliche Gesundheitskosten nach sich zieht. Von der Art der Ausgestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung - ob hier Vertrauen dominiert oder eher Misstrauen - hängt demnach das Selbstbewusstsein der Patienten und im Wesentlichen auch deren Gesundheitseinstellung sowie vor allem deren Genesung ab. Im Folgenden soll das Arzt-Patienten-Verhältnis ethisch untersucht werden, wobei vor allem sowohl die Besonderheit der Arztrolle als auch die der Patientenrolle im Zentrum der Erörterung stehen. 1. Vertrauen und Misstrauen im Kontext der Verrechtlichung des ärztlichen Handeins

Die institutionalisierte Beziehung zwischen den Kranken (Patienten) und den Helfern (Ärzten / Ärztinnen) hat sich im Laufe der medizinischen Entwicklung immer mehr verändert. Der Strukturwandel der Medizin, den man u. a. mit den Begriffen Technisierung, Spezialisierung, Anonymisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung näher umschreiben kann und der im Kontext des soziologischen Modernisierungsprozesses einzuordnen ist, hat das Arzt-Patienten-Verhältnis radikal verändert? Aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts lastet auf dem Arzt / der Ärztin beispielsweise eine große, stets zunehmende Erwartungshaltung vonseiten der Patienten, individuelles Leiden sofort und dauerhaft zu lindern. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung führt zu einer ärztlichen Spezialisierung, so dass der modeme Arzt! die modeme Ärztin sich primär über sein I ihr Fachgebiet I Vgl. Schöne-Seifert, Bettina, Medizinethik, in: Nida-RümeJin, Julian (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Ein Handbuch, Stuttgart 1996,594. 2 Vgl. Wolf!, Hanns P., Arzt und Patient, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 184-188; Holzem, Christoph, Patientenautonomie. Bioethische Erkundungen über einen funktionalen Begriff der Autonomie im medizinischen Kontext, Münster 1999, 265/266, 268 - 273.

250

E. Ethische Leitlinien und Orientierungs punkte

definiert; die medizinischen Generalisten, die den ganzen Menschen im Blick haben und nicht nur einzelne Symptome oder Körperteile sehen, nehmen in der fortschreitenden Parzellierung der medizinischen Versorgung scheinbar keine zentralen Positionen mehr ein? In einer wettbewerbs- und konsumorientierten Marktgesellschaft, in der der funktionale Tausch von Leistung und Gegenleistung mit Hilfe von Geld erfolgt,4 haben wirtschaftliche Kriterien zunehmend Einlass gefunden in den medizinischen Bereich. Ökonomische Überlegungen werden innerhalb des ärztlichen Alltags immer wichtiger, steht doch der einzelne Arzt I die einzelne Ärztin - damit sind in erster Linie die Vertragsärzte I Vertragsärztinnen gemeint vor der schwierigen Aufgabe, die knappen Finanzmittel einer hochmodernen und kostspieligen Medizin maßvoll zu nutzen und diese Mittel auf den vielfältigen Bedarf für die Gesundheitsleistungen zu verteilen. In diesem Sinne werden ärztliche Entscheidungen, die immer auf das Arzt-Patienten-Verhältnis zielen, durch betriebs wirtschaftliche Kriterien beeinflusst. Die Ökonomisierung der Medizin und die damit angesprochene Leistungsbegrenzung kommt programmatisch im Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozial gesetzbuches zum Ausdruck: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. ,,5 Vor dem Hintergrund des sozialrechtlich fixierten Wirtschaftlichkeitsgebots muss sich der Arzt I die Ärztin folglich mit der nicht einfach zu lösenden Frage "der Vertretbarkeit des Aufwandes im Einzelfall und der präzisen Indikation für eine erfolgversprechende Therapie,,6 auseinander setzen. Ein weiterer Aspekt, der den ökonomischen Gedanken innerhalb der medizinischen Versorgung hervorhebt, ist die Tatsache, dass die einzelnen Ärzte und Ärztinnen in der Marktgesellschaft einer großen Anzahl weiterer ärztlicher Leistungsanbieter gegenüber stehen, die kaum zu unterscheidende medizinische Dienstleistungen anbieten. In diesem Sinne befinden sich alle Ärzte I Ärztinnen in einer Konkurrenz- bzw. Wettbewerbssituation. Allerdings wird - wie bereits mehrfach betont - die Transparenz auf dem "Gesundheitsmarkt" durch die Besonderheit der angebotenen Dienstleistungen erschwert. Neben den beschriebenen gesellschaftlichen Einflussgrößen auf die Arztrolle und das Arzt-Patienten-Verhältnis soll ein Prozess besonders hervorgehoben werden, der dieses Verhältnis im Hinblick auf das Merkmal Vertrauen weitreichend verändert hat: Mit dem Prozess der Verrechtlichung des ärztlichen Handeins gelangt eine neue Di3 Vgl. Eig/er, Jochen, Medizintechnischer Fortschritt und ärztliches Ethos, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2 (1997) 163/164. 4 Vgl. Kraemer, Klaus, Marktgesellschaft, in: Kneer, Georg 1Nassehi, Armin 1Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, 280 - 292. 5 § 12 Abs. 1 SGB V. Vgl. auch § 70 Abs. 1 SGB V. 6 Laufs. Ado1f, Arztrecht, in: Korff, Wi1helm/Beck, Lutwin 1Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, l. Bd., Gütersloh 1998,265.

1. Arzt-Patienten-Verhältnis

251

mension in die Arzt-Patienten-Beziehung, nämlich die Herrschaft von Rechtsnormen. 7 "Der ärztliche Dienst erscheint juristisch durchnorrniert, reguliert und bemessen durch eine kaum mehr übersehbare Vielzahl von sich oft ändernden Regeln"g. Verrechtlichung führt zu einem grundlegenden Wandel innerhalb der Struktur einer sozialen Beziehung und meint - nach einem allgemeinen Verständnis -, dass "bestehende soziale Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt des Rechts betrachtet und verhandelt werden.,,9 Der Prozess der Verrechtlichung im Kontext der modernen Medizin beginnt mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1883. 10 Mit der Krankenversicherungsgesetzgebung wird z. B. die Möglichkeit geschaffen, dass den kranken Arbeitnehmern durch ein ärztliches Attest ihre Krankheit und somit ihre Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird. Der Arzt ist hierbei der ausführende Akteur, der vor dem Arbeitgeber den Krankheitszustand medizinisch bezeugt. Eine weitere gesetzliche Bestimmung ist für den Verrechtlichungsprozess von ebenso großer Bedeutung. Als nämlich am 31. Mai 1894 das Urteil gefallt wurde, "wonach jeder ärztliche Heileingriff, sei es eine Operation, eine Arzneimittelgabe oder eine diagnostische Untersuchung, den Tatbestand einer Körperverletzung (§ 223 StGB) erfüllt"ll, hat die Arztrolle sich erneut schlagartig verändert. Von nun an unterlag jedes ärztliche Handeln den normativen Kategorien der Rechtsstaatlichkeit. Straffreiheit wird nur durch die Einwilligung des Patienten bzw. durch einen begründeten Notfall gegeben. Blickt man vor allem auf die letztgenannte Entwicklung, so wird verständlich, dass Kaufmann im Hinblick auf das Arzt-Patienten-Verhältnis die rhetorische Frage stellt, ob diese Beziehung nicht 7 Für den Einzug des Rechts in die Medizin wird in der Literatur in den meisten Fällen der deutsche Terminus Verrechtlichung gebraucht. Vgl. hierzu den Sammelband in der Schriftenreihe der Katholischen Akademie in Bayern, in dem verschiedene Vorträge zusammengefasst worden sind, die auf der Tagung "Arzt und Patient - Paragraphen statt Vertrauen? Zur Verrechtlichung der Medizin" im April 1983 in Nümberg gehalten wurden. Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984; Rager; Günter, Medizin als Wissenschaft und ärztliches Handeln, in: Honnefelder, Ludger/Rager, Günter (Hrsg.), Ärztliches Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a.M. 1994,48. Der Prozess der Verrechtlichung ist übrigens keine Besonderheit des medizinischen Bereichs. Die Anwendung rechtlicher Kategorien kann in vielen Kultursachbereichen bzw. gesellschaftlichen Interaktionsforrnen beobachtet werden. Zu denken ist beispielsweise an den Verrechtlichungsprozess in der Familie. Vgl. hierzu Schwab, Dieter, Konkurs der Familie? Familienrecht im Umbruch, München 1994. 8 Laufs, Adolf, Arztrecht (1998), 264. 9 Kaufmann, Franz-Xaver, Was heißt Verrechtlichung und wo wird sie zum Problem?, in: ders. (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 9. Im Original kursiv. 10 Vgl. Schipperges, Heinrich, Die Technik der Medizin und die Ethik des Arztes. Es geht um den Patienten, Frankfurt a.M. 1988, 103. 11 Buchbom, Eberhard, Vertrauen und Mißtrauen im Spiegel des ärztlichen Heilauftrages und des rechtlichen Behandlungsvertrages, in: Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 152. Hervorhebung im Original.

252

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

zwangsläufig durch das Recht destruiert und denaturiert werde. 12 Ein intaktes Arzt-Patienten-Verhältnis soll auf Vertrauen aufbauen, ja, Vertrauen ist die Basis dieser Beziehung, doch mit der Etablierung des Rechts besteht die Gefahr, dass statt Vertrauen eher das "kalkulierte Mißtrauen"13 die Dyade Arzt-Patient strukturiert. Der Prozess der Verrechtlichung erstreckt sich aber nicht allein auf die juristische Kodifizierung im Rahmen des Rechtsstaates. Im weiteren Sinne gehören dazu auch die berufsethischen Normen und Verpflichtungen des Ärztestandes. Allerdings decken sich die Regeln zur Berufsausübung der (deutschen) Ärzte, wie sie in der MBO und daran anschließend in den Berufsordnungen der einzelnen Landesärztekammern zum Ausdruck kommen, im Großen und Ganzen mit den herrschenden Gesetzesnormen, die in unterschiedlichen normativen Texten zu finden sind. Somit gilt, dass das Recht das übernimmt und als juristische Pflicht für den Ärztestand einfordert, was bereits das Standesrecht verlangt. In diesem Sinne fallt das ethisch Geforderte mit dem rechtlich Geforderten zusammen. 14 Bevor die Frage zu klären ist, was es unter ethischen Gesichtspunkten bedeutet, dass juristische oder berufsethische Normen innerhalb der medizinischen Versorgung immer mehr an Bedeutung gewinnen, sollen die zentralen Bereiche des Verrechtlichungsprozesses genannt werden: Ärztliche Hilfspflicht, Aufklärungspflicht, Schweigepflicht und Dokumentationspflicht. 15 Trotz der freien Berufsausübung des Arztes / der Ärztin und der grundsätzlichen Möglichkeit, auch eine Heilbehandlung an bestimmten Patienten abzulehnen,16 berücksichtigt das ärztliche Standesrecht im Prinzip die allgemeine Verpflichtung zur Hilfeleistung, die nur in begründeten Fällen ausgesetzt werden darf (z. B. mangelndes Vertrauen zwischen Arzt und Patient). In Notfallen ist darüber hinaus - wie bereits gesagt - jeder Arzt/jede Ärztin zur medizinischen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB verpflichtet. Weiterhin ist der niedergelassene Arzt! die niedergelassene Ärztin verpflichtet, am Notfalldienst teilzunehmen; 17 hiervon kann er / sie nur in schwerwiegenden Gründen befreit werden. 18 Die ärztliche Hilfspflicht sowie die weiteren ärztlichen Verpflichtungen unterliegen berufs-, straf- und zivilrechtlichen Regeln. 12 Vgl. Kau.firwnn, Was heißt Verrechtlichung und wo wird sie zum Problem?, 9.

Kau.firwnn, Was heißt Verrechtlichung und wo wird sie zum Problem?, 9. Vgl. Laufs, Arztrecht (1998), 262/263. 15 Vgl. hierzu allgemein Ulsenheimer; Klaus, Ärztliches Standesrecht, in: Korff, Wilhelml Beck, Lutwin 1Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 257 - 260. 16 "Der Arzt achtet das Recht seiner Patienten, den Arzt frei zu wählen oder zu wechseln. Andererseits ist - von Notfällen oder besonderen rechtlichen Verpflichtungen abgesehen auch der Arzt frei, eine Behandlung abzulehnen." § 7 Abs. 2 MBO. 17 Vgl. § 26 Abs. 1 MBO. 18 Eine Befreiung vom Notfalldienst kann dann erteilt werden, wenn eine körperliche Behinderung des Arztes 1der Ärztin vorliegt, wenn besondere familiäre Pflichten die Teilnahme nicht zulassen, wenn der betreffende Arzt 1die betreffende Ärztin an einem klinischen Bereitschaftsdienst mit Notfallversorgung teilnimmt. Außerdem sind Schwangere und Mütter bis 13

14

I. Arzt-Patienten-Verhältnis

253

Zu jeder Krankenbehandlung gehört die Aufklärung durch den Arzt! die Ärztin, die "Infonnationen über die Modalitäten und Risiken einer geplanten Behandlung, ihren zu erwartenden Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen, aber auch den Folgen ihres Unterbleibens,,19 beinhaltet. Die Aufklärungspflicht erstreckt sich dabei auf die Diagnose sowie auf alle Fonnen der therapeutischen Behandlung, das heißt auf operative Eingriffe, diagnostische Methoden und Wirkungen von Arzneimitteln. Einerseits ist die Aufklärung für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten notwendig, andererseits darf der Arzt/ die Ärztin ohne Aufklärung keine Behandlung vornehmen. Dazu heißt es in der MBO: "Zur Behandlung bedarf der Arzt der Einwilligung des Patienten. Der Einwilligung hat grundsätzlich die erforderliche Aufklärung im persönlichen Gespräch vorauszugehen.'.20 Mit der Aufklärungsverpflichtung kommt zum Ausdruck, dass der Patient nicht nur einfach Objekt der medizinischen Behandlung ist, sondern gleichzeitig Partner im Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung?1 Auch die Schweigepflicht stellt eine ärztliche Verpflichtung dar,22 die vom Arzt nur zum Schutz eines höherrangigen Rechtsgutes gebrochen werden darf (z. B. Gefahr vor einer Seuche).23 Eine Verletzung der Schweigepflicht entspricht der Verletzung von Privatgeheimnissen und ist gemäß § 203 StGB strafbar. Eine weitere ärztliche Verpflichtung betrifft die Dokumentationspflicht: "Der Arzt hat über die in Ausübung seines Berufes gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen. Diese sind nicht nur Gedächtnisstütze für den Arzt, sie dienen auch dem Interesse des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumentation. ,,24 Indem der Arzt / die Ärztin die Untersuchungen, Diagnosen und Therapien dokumentiert, sichert er / sie sich vor möglichen juristischen Problemen ab, erleichtert damit die Kommunikation etwa zwischen Ärzten und Pflegepersonal und macht darüber hinaus auch den Behandlungsprozess für den Patienten selbst transparent. Jeder Patient hat nämlich das Recht, Einsicht in seine Krankenunterlagen zu bekommen. 25 Dokumentationszu 12 Monaten nach der Entbindung sowie Ärzte/ Ärztinnen über 65 vom NotfaIldienst befreit. Vgl. § 26 Abs. I MBO. 19 Lutterotti, Markus von, Aufklärung/ Aufklärungspflicht: 1. Medizin, in: Eser, Albin/ Lutterotti, Markus von / Sporken, Paul (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg / Basel/Wien 1989, 132. 20 § 8 MBO. 21 Vgl. Lutterotti, Aufklärung/ Aufklärungspflicht: 1. Medizin, 132. 22 "Der Arzt hat über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist - auch über den Tod des Patienten hinaus - zu schweigen. Dazu gehören auch schriftliche Mitteilungen des Patienten, Aufzeichnungen über Patienten, Röntgenaufnahmen und sonstige Untersuchungsbefunde." § 9 Abs. I MBO. 23 Vgl. § 9 Abs. 2 MBO. 24 § 10 Abs. I MBO. 25 "Der Arzt hat dem Patienten auf dessen Verlangen grundsätzlich in die ihn betreffenden Krankenunterlagen Einsicht zu gewähren, ausgenommen sind diejenigen Teile, welche subjektive Eindrücke oder Wahrnehmungen des Arztes enthalten. Auf Verlangen sind dem

254

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

pflicht des Arztes / der Ärztin und Einsichtsrecht der Patienten gelten - so betont es auch die Charta der Gesundheitsministerkonferenz - als weitreichende Patientenrechte im Rahmen der medizinischen Behandlung. 26 Gemäß § 295 SGB V dient die Dokumentation ferner auch der Leistungserfassung und dem Leistungsnachweis gegenüber den Kostenträgern. Der Verrechtlichungsprozess hat zur Folge, dass ärztliches Handeln zum großen Teil staatlichen Normen folgt und nicht einfach eine Gewissensentscheidung ist. Mit Hilfe der Juridisierung der Arzt-Patienten-Beziehung wird ein Schutzsystem für den Patienten geschaffen. Dadurch kann Vertrauen im Hinblick auf das ärztliche Handeln aufgebaut werden. Es lassen sich vier grundlegende Funktionen des Rechts anführen, die für die Arzt-Patienten-Beziehung wichtig sind und in denen die ethische Legitimität der Verrechtlichung zum Ausdruck kommt: 27 (1) Jede medizinische Heilbehandlung ist auch ein Eingriff, der in weitreichender Form den Personstatus des Menschen berührt. Ärztliches Handeln greift in Leib und Leben ein und kann unter Umständen auch die menschliche Autonomie missachten. Die medizinische Versorgung wird durch staatliche Rechtssetzung nicht der Beliebigkeit bzw. der Freiheit der individuellen Entscheidung überlassen. Rechtliche Normierungen gewähren in diesem Sinne den Schutz der Patienten, da der Arzt! die Ärztin verpflichtet ist, bestimmte Standards und Grundsätze des medizinischen Handeins zu beachten. (2) Hinter dem angesprochenen Schutzgedanken steht aber die Tatsache, dass das Recht mit der Fähigkeit ausgestattet ist zu zwingen und dass bei Missachtung staatliche oder standesethische Sanktionen folgen. Aus diesem Grund übernimmt das Recht eine prophylaktische Funktion, da es den Ärzten/ Ärztinnen vor Augen führt, welches Handeln negativ sanktioniert ist. In dieser Zwangsordnung - auch als misstrauische Rechtsordnung zu bezeichnen - steht der Patient als die zu schützende Person im Mittelpunkt. Patienten Kopien der Unterlagen gegen Erstattung der Kosten herauszugeben." § 10 Abs. 2 MBO. 26 "Jede Behandlung muß, soweit medizinisch erforderlich, dokumentiert werden, um Ärzten und Patienten die Informationen über die Behandlung zu ermöglichen. Zu dokumentieren sind die wichtigsten präventiven, diagnostischen, therapeutischen und nachsorgenden Maßnahmen und Verlaufsdaten [ ... ]. Jeder Patient hat ein Recht auf Einsicht in diese Dokumentation, ohne daß er ein besonderes Interesse erklären muß [ ... ]. Um sein Einsichtsrecht wahrzunehmen, kann der Patient einen Arzt oder eine sonstige Person seines Vertrauens mit der Einsicht beauftragen. Patienten können Kopien der Dokumentation von dem behandelnden Arzt oder Krankenhaus anfordern, die in angemessener Zeit erstellt werden müssen." Rechte für Patientinnen und Patienten, Charta der Gesundheitsministerkonferenz vom 9./10. Juni 1999, hrsg. vom Gesundheitsladen München e.V./Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt. Im Internet veröffentlicht unter: http://www.gesundheitsladenmuenchen.de (Stand: 05. 09. 2002). 27 Vgl. Eser; Albin, Die Rolle des Rechts im Verhältnis von Arzt und Patient, in: Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 125 - 128.

I. Arzt-Patienten-Verhältnis

255

(3) Das Recht fonnuliert aber nicht nur Verbotsnonnen, sondern zeigt auch im positiven Sinne auf, nach welchen Leitlinien sich Ärzte und Ärztinnen im medizinischen Alltag orientieren sollen. Neben der prophylaktischen Funktion steht die Leit- oder Richtlinienfunktion. Solche bereits im Vorfeld festgelegten Handlungsanweisungen schaffen, wie das für alle institutionellen Gebilde der Fall ist, Entlastung, so dass die Akteure in einer konkreten Situation nicht völlig neu über Handlungsmuster nachzudenken brauchen, sondern auf bewährte Nonnen zuriickgreifen können. (4) Da das Recht im Kontext des medizinischen Handeins für alle Akteure in gleicher Weise verbindlich ist, kann der Patient darauf vertrauen, dass er auch von allen Akteuren mit den gleichen medizinischen Standards behandelt wird. Dieses Wissen schafft Grundvertrauen in einer von Asymmetrien gekennzeichneten Arzt-Patienten-Beziehung. Auf der Seite der Patienten hat der Prozess der Verrechtlichung dazu geführt, dass sie nicht mehr das Gefühl zu haben brauchen, einem "allmächtigen" Arzt ausgeliefert zu sein. Juridisierung vermittelt Patientenschutz und in diesem Sinne folglich auch Vertrauen. Bei ärztlichen Behandlungsfehlern muss der Arzt beispielsweise Verantwortung übernehmen,zs Allerdings - so darf vennutet werden - fühlt sich der Arzt gerade wegen der weitreichenden Verrechtlichung einem großen Misstrauen ausgesetzt, da er darum weiß, dass die Patienten ihn - berechtigt oder unberechtigt - nach missglückten Heilbehandlungen zur Rechenschaft ziehen können. Freilich stehen auch dem Arzt! der Ärztin alle rechtlichen Mittel offen, sich etwa gegen unberechtigte Klagen zur Wehr zu setzen oder noch ausstehende Honorarforderungen bei Privatpatienten einzuklagen. Durch die Eindringung des Rechts in die Medizin wurde - abgesehen von der Richtlinienfunktionen - eher die Position des Patienten gestärkt als die des Arztes.

2. Interaktionsmuster in der Arzt-Patienten-Beziehung

Im Mittelpunkt des ärztlichen Ethos steht die Fürsorge für den Patienten, die zwei Aspekte umfasst. Zum einen zielt ärztliches Handeln auf Hilfeleistung und zum anderen auf Schadensverhütung,z9 Der Heilauftrag (Salus aegroti suprema lex) bestimmt den Arztberuf. 3o Das Ethos des Arztes orientiert sich demnach ganz 28 Unter einem ärztlichen Behandlungsfehler versteht man "das nach dem Stande der Medizin unsachgemäße und schädigende Verhalten des Arztes. Ein Behandlungsfehler kann danach sowohl in einem Tun wie in einem Unterlassen, in der Vornahme eines nicht indizierten wie in der Nichtvornahme eines gebotenen Eingriffs, in Fehlmaßnahmen und unrichtigen Dispositionen des Arztes vor, bei und nach der Operation und der Medikation liegen." Laufs, Arztrecht (1993), 268. 29 V gl. Wolff, Arzt und Patient, 197/198. 30 Vgl. Deutsch, Erwin, Arztrecht und Arzneimittelrecht. Eine zusammenfassende Darstellung mit Fallbeispielen und Texten, Berlin u. a. 21991, 7.

256

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

am Wohl des Patienten in seiner besonderen Situation, die durch eine bestimmte physische oder psychische Notlage gekennzeichnet ist. In diesem Sinne heißt es in der Musterberufsordnung der Ärzte an erster Stelle, dass es Aufgabe des Arztes ist, "das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten,,?l Indem das Hilfsprinzip und das Patientenwohl ganz im Zentrum der medizinischen Versorgung stehen, bildet die hippokratische Tradition nach wie vor ein wichtiges inhaltliches Element des ärztlichen Ethos. Nach der hippokratischen Tradition sind folgende Leitkriterien hinsichtlich des HandeIns des Arztes konstitutiv: Erhaltung des Lebens, Wohl des Patienten, aber auch Schweigepflicht, Kollegialität und Dankbarkeit gegenüber den Lehrern. 32 Das ärztliche Gelöbnis, das der Musterberufsordnung vorangestellt ist, greift in Grundzügen auf die hippokratische Tradition zurück: "Für jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis: ,Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines HandeIns sein [ . . . ]',,33 . Die ärztliche Hilfsverpflichtung dient als Basis der Arzt-Patienten-Beziehung und ist in unterschiedlicher Ausprägung in diesem Verhältnis fest verankert. In der Diskussion um das Arzt-Patienten-Verhältnis unterscheidet Hans P. Wolff drei Modelle, die - auf dem Boden des ärztlichen Hilfsprinzips - jeweils einen anderen Akzent dieser Beziehung betonen: das hippokratische Modell, das Vertragsmodell und das Partnerschaftsmodel1. 34 Wolff geht zunächst von der Tatsache aus, dass lange Zeit in der Medizin das Verhältnis zwischen Arzt und Patient paternalistisch geprägt war. 35 In einer solchen Beziehung hatte der Arzt eine hohe Auto§ 1 Abs. 1 MBO. Vgl. Labisch, Alfonsl Paul, Norbert, Ärztliche Gelöbnisse, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 250 [hier auch der genaue Wortlaut des hippokratischen Eids]. 33 Gelöbnis der MBO. Das Gelöbnis lautet weiter wie folgt: ,,[ ... ] Ich werde rrtir anvertraute Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich auf meine Ehre." Dieser für alle Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland abzulegende Approbationseid greift auf das Gen/er Ärztegelöbnis von 1948 zurück [vgl. Das Genfer Ärztegelöbnis, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 355.], das zeitlich nach der nationalsozialistischen Diktatur formuliert wurde. Vgl. Labischl Paul, Ärztliche Gelöbnisse, 253/254. 34 Vgl. Wolff, Arzt und Patient, 205 - 209. Diese Modelle werden in der medizinischen Ethik an verschiedenen Stellen rezipiert. Vgl. z. B. Holzern, Patientenautonomie, 283-286; Schöne-Seifert, Medizinethik, 595. 3l

32

I. Arzt-Patienten-Verhältnis

257

rität und besaß aufgrund seiner Profession in der Bevölkerung ein dementsprechendes Prestige. Der Arzt definierte die Krankheit und gab dem Patienten Anweisungen zur Therapie, die dieser in den meisten Fällen ohne zu hinterfragen auch annahm und befolgte. Der Patient ordnete sich demnach dem Herrschaftsverhältnis Arzt-Patient unter und verließ sich darauf, dass Diagnose und Therapie reflektiert und vor allem richtig waren. Im Laufe des Modernisierungsprozesses wandelte sich allmählich das Arzt-Patienten-Verhältnis. Hier sind vor allem das neue Selbstverständnis des Patienten und seine zunehmende Selbstverantwortung im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand und das ärztliche Verhalten zu erwähnen. 36 Vor diesem Hintergrund - so Wolff - werden jetzt drei Modelle des Arzt-Patienten-Verhältnisses wirksam. Nach dem hippokratischen Modell ist der Patient in einer bestimmten Notlage auf die medizinische Hilfe des Arztes existentiell angewiesen. Die medizinische Versorgung orientiert sich an der Erhaltung des Lebens sowie an der besonderen (Not-)Situation der Hilfesuchenden und steht somit ganz in der hippokratischen Tradition. Aufgrund seiner physischen oder psychischen Verfassung ist der Patient zumeist nicht in der Lage, aktive Entscheidungen im Hinblick auf Heilbehandlungen zu fällen; der Arzt muss ihm solche Entscheidungen abnehmen und - je nach Fall - dann auch schon einmal paternalistisch handeln, so beispielsweise bei der Unfallversorgung, auf der Intensivstation, bei lebensnotwendigen Operationen. 37 Diesem Modell liegt eine Verantwortungsethik zugrunde, das heißt, dass der Arzt Verantwortung für seinen Patienten übernimmt und somit gegebenenfalls auch bereit ist, "das Wohl des Patienten über die eigenen Interessen zu stellen.,,38 Das Vertragsmodell ist überall dort zu finden, wo eine Beziehung zwischen dem Arzt - als Anbieter von Gesundheitsleistungen - und dem Patienten - als Verbraucher medizinischer Leistungen - besteht. Wolff führt an, dass dieses Interaktionsmodell besonders innerhalb medizinischer Institutionen mit besonderen diagnostischen oder therapeutischen Dienstleistungen, etwa Labormedizin, Strahlentherapie, Teilgebiete der Chirurgie, vorherrscht. Darüber hinaus kann dieses Modell auch in der weniger lebensbedrohlichen Alltagspraxis der Medizin mit einfachen "Reparaturleistungen" beobachtet werden?9 Man kann das Vertragsmodell mit der Beziehung zwischen Anwalt und Mandant vergleichen, da beide Modelle auf den gleichen Grundsätzen fußen, nämlich Autonomie des Mandanten / Klienten, Wahrhaftigkeit und Vertraulichkeit. Dieses Modell folgt der Vertragsethik, nach der der Arzt "lediglich eine sachliche Verantwortung,,40 - also im Sinne der sachlichen Kompetenz Vgl. Wolff, Arzt und Patient, 206. Auch wenn sich im Kontext der Modeme die Position von Arzt / Ärztin und Patient verändert hat, heißt das nicht, dass nicht auch noch heute paternalistische Züge in der ArztPatienten-Beziehung anzutreffen sind. 37 Vgl. Wolff, Arzt und Patient, 206. 38 Wolff, Arzt und Patient, 207. 39 Vgl. Wolff, Arzt und Patient, 207. 40 Wolff, Arzt und Patient, 208. 35

36

17 Bohnnann

258

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

- auszuüben hat. Das letzte von Wolff angeführte Modell ist das Partnerschaftsmodell. Hiernach müssen Arzt und Patient zusammenarbeiten und in gleicher Weise bestimmte Leistungen für den Heilungsprozess erbringen. Der Arzt übernimmt die Rolle des beratenden Experten, der Patient die des aktiv-eigenverantwortlichen Mitarbeiters für seine Gesundheit. Für dieses Kooperationsmodell ist entscheidend, dass der Patient seinen Körper etwa im Hinblick auf Gewicht, Puls bzw. den allgemeinen Gesundheitszustand selbst beobachtet und kontrolliert. Hauptanliegen des Arztes ist es, den Patienten dazu anzuleiten, dass er sich selbst zu helfen weiß. Allerdings ist der Erfolg der Therapie abhängig von persönlichen Charaktermerkmalen der beiden Partner. Das Partnerschaftsmodell kommt dort nicht zur Geltung, wo der Patient unfähig ist, Selbstverantwortung auszuüben und wo der Arzt an dem Gesundheitszustand seines Patienten eher uninteressiert ist. "Das Partnerschaftsmodell ist um so geeigneter und erfolgversprechender, je mehr sich Arzt und Patient an Intelligenz, Bildung und Lebenserfahrung ähneln.,,41 Das Vertragsmodell folgt der ethischen Logik der Patientenselbstbestimmung und Patientenselbstverantwortung. Des Weiteren muss der Arzt eine Verantwortung an den Tag legen, die über eine rein sachliche Kompetenz hinausreicht. Innerhalb des Partnerschaftsmodells wird am ehesten die Compliance (Therapietreue) zu verorten sein. Darunter versteht man ein therapeutisches Bündnis, nach dem der Patient die durch den Arzt erfolgten therapeutischen Maßnahmen befolgt und somit aktiv bei der Therapie mitwirkt. Compliance kann sich beispielsweise auf die Einhaltung der ärztlichen Therapieempfehlungen, auf bestimmte Verhaltensvorschriften, auf Medikationsregeln, aber auch auf das Befolgen von Sprechstundenterminen beziehen. 42 Von entscheidender Bedeutung für den therapeutischen Erfolg ist das Zusammenwirken von Arzt und Patient. Jedem kommt eine eigene Aufgabe zu: Der Arzt muss seinen Patienten informieren, aufklären und vor allem motivieren; der Patient muss den Anweisungen Folge leisten, wenn er gesund werden möchte. Die vorgestellten Modelle gelten für jeweils einen bestimmten Zeitpunkt und entziehen sich somit einer konkreten ethischen Wertung bzw. einer grundsätzlichen Option für ein Modell, "dennjedes dieser Modelle kann zu einem bestimmten Zeitpunkt angemessen und zu einem anderen Zeitpunkt unangemessen sein,,43. Das heißt, dass diese Beziehungsmuster situationsspezifisch zur Anwendung kommen und nur so ihre ethische Legitimität erhalten. Für Wolff ist entscheidend, dass die einzelnen Modelle Koalitionen eingehen bzw. dass ein Modell in ein anderes übergeht. "Ein Hochdruckkranker mit frischem Herzinfarkt wird sich während der klinischen Behandlungsphase in der Arzt-Patienten-Beziehung des hippokratischen Modells geborgen fühlen. Im Zuge der anschließenden Langzeitbehandlung mit Selbstkontrolle verschiedener medizinischer Parameter wird sein Gesundheitsinteresse in einem partnerschaftlichen Verhältnis zweckmäßiger vertreten sein. ,,44 wolff, Arzt und Patient, 208. Vgl. Siegrist, Johannes, Compliance, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,450. 43 Holzern, Patientenautonomie, 283. 41

42

I. Arzt-Patienten-Verhältnis

259

Auch wenn das hippokratische Modell in bestimmten Situationen - zum Wohl des Kranken - nach wie vor unverzichtbar ist, werden Kooperationsformen in der medizinischen Versorgung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Aufgrund des strukturellen Wandels in der Medizin und der damit angesprochenen Verrechtlichung, Ökonomisierung und Pluralisierung der Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter wird der einzelne Patient mehr denn je herausgefordert. Selbstbestimmungsmomente sowie bestimmte Formen der Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen nehmen zu und beeinflussen das Arzt-Patienten-Verhältnis. 3. Ethische Folgerung: Vertrauen stärken

Vor dem Hintergrund des erörterten Arzt-Patienten-Verhältnisses, das die Basis der Gesundheitsversorgung bildet, lassen sich verschiedene ethische Folgerungen bzw. Forderungen präzisieren. Ärztliches Handeln setzt das Vertrauen des Patienten zum Arzt I zur Ärztin voraus. Dieses Vertrauen kann aber nur dann geschaffen werden, wenn der Arzt! die Ärztin sich in seinem !ihrem Handeln von einem bestimmten Ethos leiten lässt. In diesem Sinne sind folgende Kriterien für eine gelingende, auf Vertrauen fußende Arzt-Patienten-Beziehung fundamental: Der Arzt! die Ärztin muss Empathie zeigen können, gleichzeitig aber auch eine für seinen I ihren Beruf notwendige sachliche Distanz an den Tag legen. Der Arzt I die Ärztin darf nur solche Eingriffe vornehmen, die der Patient selbst wünscht bzw. zu denen er seine Einwilligung erteilt hat (in der Notfallmedizin können diese Forderungen indessen nicht eingelöst werden). Allerdings ist zu so einer Entscheidung nur der aufgeklärte und autonome Patient in der Lage. Hinsichtlich der Patientenautonomie meint der Autonomiebegriff primär das Recht auf Selbstbestimmung in allen medizinischen Handlungsvollzügen. 45 Allein vor dem Hintergrund einer ausreichenden Aufklärung im Kontext kurativer bzw. präventiver Behandlungsmethoden kann der Patient auch seine so genannte informierte Zustimmung (informed consent) erteilen. Informierte Zustimmung bedeutet, dass der Arzt die Verantwortung für seinen Eingriff bzw. seine Behandlung nicht allein trifft. Da der Patient der Hauptbetroffene in diesem Prozess ist, ist seine Entscheidung unverzichtbar; er selbst wird als Entscheidungsbevollmächtigter in den Behandlungsprozess miteinbezogen. 46 "Nur wenn seine durch hinreichende Aufklärung valide Zustimmung vorliegt oder im Ausnahmefall vorausgesetzt werden darf, kann die medizinische Maßnahme als ethisch zulässig betrachtet werden ...47 Wolff, Arzt und Patient, 209. Vgl. Pieper; Annemarie, Autonomie, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, I. Bd., Gütersloh 1998,291/292. 46 Vgl. Illhardt, Franz J., Selbstbestimmung des Patienten. Ein Grundthema der medizinischen Ethik, in: Hilpert, Konrad (Hrsg.), Selbstverwirklichung. Chancen - Grenzen - Wege, Mainz 1987, 148. 47 Illhardt, Selbstbestimmung des Patienten, 148. Auch wenn prinzipiell davon ausgegangen werden kann, dass Kranke nach einer adäquaten Aufklärung ihre Zustimmung zur Thera44 45

17*

260

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Um Patientenentscheidungen zu begleiten, muss das Gespräch in der ärztlichen Kommunikation einen zentralen Platz einnehmen. Im Gespräch wird das Informationsbedürfnis des Patienten gestillt, es können die erforderlichen Therapiernaßnahmen erläutert werden, hier wird zudem der Patient motiviert, seine Gesundheit auch vorausschauend zu pflegen, sich auf einen eventuell längeren Therapieprozess einzulassen oder auch mit seiner Krankheit leben zu lernen. Sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung unterstützt das ärztliche Gespräch den partnerschaftlichen Umgang zwischen Arzt und Patient. Nach dem Partnerschaftsmodell haben beide eine je eigenständige Rolle innerhalb des Behandlungs- bzw. Heilungsprozesses. Der Patient wirkt aktiv beim Wiedergewinn seiner Gesundheit mit, der Arzt unterstützt den Patienten bei diesem Prozess. Freilich sind - je nach Situation - neben dem Partnerschaftsmodell auch das hippokratische Modell sowie das Vertragsmodell ethisch legitime Kommunikationsformen. In allen Modellen der Arzt-Patienten-Beziehung wird vom Arzt gefordert, dass er an den staatlichen bzw. berufsethischen Normen (z. B. Hilfspflicht, Schweigepflicht, Aufklärungspflicht, Dokumentationspflicht) festhält, darüber hinaus aber nicht nur eine reine Gesetzesmoral vertritt, sondern auch seinem Gewissen verantwortlich bleibt und in bestimmten medizinischen Grenzsituationen verantwortungsethisch handelt. Weiterhin darf kein Arzt das ihm entgegengebrachte Vertrauen ausnutzen oder missbrauchen und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten missachten. Im Gegenteil, der Arzt sollte Machtpositionen abbauen sowie die Selbstverantwortung der Patienten stärken. Für das individuelle Vertrauensverhältnis in der medizinischen Kommunikation ist - neben den behandelten ärztlichen Pflichten - vor allem die freie Arztwahl von großer Bedeutung. Nur diejenigen können Vertrauen zu ihrem Arztlihrer Ärztin aufbauen, die ihn / sie auch autonom wählen dürfen. Das bedeutet, dass nicht nur die Akteure der Gesundheitssicherung bzw. Gesundheitspolitik die freie Arztwahl garantieren sollen, sondern auch die Akteure der medizinischen Versorgung selbst. pie geben können, ist im Interesse des Patientenwohls zu überlegen, ob die dem informed consent zugrunde liegende Interaktionsform (Arzt-Patient) ausreicht oder erweitert werden soll. So ist es denkbar, die Gesprächssituation in zweifacher Hinsicht zu erweitern, indem zum einen die Angehörigen der Betroffenen und zum anderen zusätzliche professionelle Mitarbeiter im Behandlungsteam stärker in das Konzept des informed consent integriert werden. Durch die Einbeziehung der Angehörigen werden Heilungsprozess sowie Krankheitsbewältigung bei den jeweiligen Patienten unterstützt. Neben der Einbindung der Angehörigen in den Entscheidungsprozess sollten auch die Pflegekräfte intensiver eingebunden werden, da sie es sind, zu denen die Patienten ein besonderes Vertrauensverhältnis vor allem innerhalb der stationären Gesundheitsversorgung aufgebaut haben. Wenn von den Angehörigen der Kranken keine Unterstützung zu erwarten ist, wächst die Rolle der Pflegenden im Rahmen des informed consent um so mehr. Für die Kommunikation der Gesundheitsexperten mit den Betroffenen ist entscheidend, dass sie beispielsweise eine unverständliche Fachsprache vermeiden, sich zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichten, auf eine manipulative Gesprächsführung verzichten. Vgl. Giese, Constanze, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit: Das Modell des ,1nformed Consent' in der Diskussion, Inaugural-Dissertation, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität München 2000.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

261

In diesem Sinne schließt die freie Arztwahl den Arztwechsel mit ein. Zwar verursacht ein solcher Wechsel weitere Gesundheitskosten, doch möchte ein Patient bei einem vorliegenden Misstrauensverhältnis - einen weiteren Arzt zu Rate ziehen, so darf ihm das nicht verwehrt werden. Bislang wird die freie Arztwahl im System der GKV garantiert. 48 Auch die Musterberufsordnung der Ärzteschaft, das gesundheitspolitische Programm der deutschen Ärzteschaft sowie die gesundheitspolitischen Inhalte der im Bundestag vertretenen Parteien betonen das Recht auf freie Arztwahl der Patienten. 49 Die freie Arztwahl sollte im Hinblick auf die individuelle, auf gegenseitigem Vertrauen basierende Arzt-Patienten-Beziehung als konstitutive Größe im Gesundheitswesen erhalten bleiben. 11. Die Gesundheitssicherung als Kernbereich des Gesundheitswesens: Zwischen solidarischer Gesundheitsversorgung und Selbstverantwortung Das Kemproblem der Gesundheitsversorgung ist die Verteilungsfrage der Ressourcen: Wie sollen die Ressourcen, die der Gesundheit dienen, unter den Bürgern und Bürgerinnen einer Gesellschaft verteilt werden? Welche Allokationskriterien sind gerecht? Ist ein Gesundheitswesen gerecht, das sich mehr an der Leistungsgerechtigkeit oder eher an der Bedürfnisgerechtigkeit orientiert?5o Bei der Leistungsgerechtigkeit steht die finanzielle Leistungsfähigkeit des Einzelnen im Vordergrund, die darüber entscheidet, welche Gesundheitsleistungen bzw. -güter auf dem Markt getauscht werden. Hingegen spielt die individuelle Leistungsfähigkeit innerhalb der Bedürfnisgerechtigkeit keine maßgebliche Rolle, da nicht die ökonomische Stärke über die Inanspruchnahme medizinischer Dienste entscheidet, sondern der individuelle Bedarf. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, mit Hilfe einer philosophischen Argumentation, die sich im Wesentlichen auf die Aussagen von Kersting stützt, ein solidarisches System der Gesundheitsversorgung zu begründen. Weiterhin soll das bestehende solidarische System der GKV im Hinblick auf existierende oder denkbare Entsolidarisierungstendenzen untersucht werden. Schließlich wird ein Reformmodell der Gesundheitssicherung vorgestellt und diskutiert, das sowohl solidarisch-marktunabhängige Momente als auch marktwirtschaftliche Prinzipien enthält. Die zentrale Frage, die sich innerhalb eines vielzitierten Mischmodells auftut, lautet: Wie viel Markt ist möglich, ohne dass dabei das für ein kollektiv organisiertes Gesundheitswesen konstitutive Solidarprinzip ausgehöhlt wird? Wenn im Folgenden die Gesundheitssicherung als Kernbereich des Gesundheitswesens beschrieben wird, so bedeutet das keineswegs, dass die Teilbereiche der Vgl. § 76 SGB V. Vgl. § 7 Abs. 2 MBO; Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft, in: hup:/Iwww.bundesaerztekammer.de (Stand: 17. 07.2001). 50 Vgl. Henke / Hesse, Gesundheitswesen, 270/271. 48

49

262

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Gesundheitspolitik oder Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen und -gütern eine untergeordnete Bedeutung im Gesamtgefüge des Gesundheitssystems einnehmen. Bereits mehrfach wurde in vorliegender Arbeit darauf hingewiesen, dass alle Teilbereiche mit ihren unterschiedlichen Akteuren aufeinander angewiesen sind und miteinander kooperieren. Allerdings nimmt die Gesundheitssicherung hier einen zentralen Platz ein, weil sie die Sicherung im Krankheitsfall und die Finanzierung der medizinischen Versorgung übernimmt. Nur aufgrund der großen Bedeutung, die sie im Kontext des Gesundheitssystems hat, ist zu erklären, weshalb sie immer wieder im Zentrum der öffentlichen Diskussion steht. Das System der Gesundheitssicherung ist von den Entscheidungen der Akteure der Gesundheitspolitik in weitreichender Form abhängig. Seit dem Bestehen der kollektiv organisierten Gesundheitssicherung hat die Politik dieses System mittels zahlreicher Strukturreformen verändert; diese Veränderungen haben immer auch in direkter Weise auf die Akteure der Gesundheitsversorgung eingewirkt. Die Kernfragen, die sich jedes Gesundheitswesen stellen muss, treten letztendlich im System der Gesundheitssicherung am deutlichsten zu Tage. Aus diesem Grund konzentriert sich das Interesse der folgenden Gedankengänge auf eine Ethik der Gesundheitssicherung, die freilich ohne eine implizite ethische Reflexion der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsversorgung (mit Leistungen und Gütern) unvollständig bleibt. 1. Begründungsstrukturen einer solidarischen Gesundheitsversorgung

Es lassen sich eine Reihe von Gründen anführen, die gegen eine reine Marktallokation von Gesundheitsleistungen und -gütern sprechen: Es wird in einer Gesellschaft immer Personengruppen geben, die aufgrund ihrer persönlichen Situation (z. B. Kaufkraft, Arbeitslosigkeit, Gesundheitszustand, Alter) zu den finanziell Schwächeren gehören und sich somit entweder keine oder nur eine geringe Gesundheitsversorgung leisten können. Deshalb sind staatliche Interventionen geboten, um Lebensrisiken gesellschaftlich aufzufangen und allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Weiterhin können die Gesundheitsanbieter, in diesem Falle die Ärzte / Ärztinnen, bei einem falsch verstandenen Ethos des Helfens, die individuelle Notlage von Patienten zu ihren Gunsten finanziell ausnutzen; wegen des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Arzt / Ärztin und Patienten sowie der Intransparenz des Gesundheitswesens kann diese Situation noch verschärft werden. Darüber hinaus kann eine bestimmte Krankheit (z. B. chronische Erkrankung) so hohe Kosten verursachen, dass selbst ein leistungsstarker Gesundheitskonsument an seine finanziellen Grenzen geführt wird. Auch ist es schwierig, die so genannte Volksgesundheit allein über den Markt zu organisieren. Die Bekämpfung von Epidemien, Gewährung von Schutzimpfungen und weiteren Präventionsmaßnahmen verdeutlichen exemplarisch, dass Marktmechanismen im Gesundheitswesen nicht greifen. 51 Schließlich ist Gesundheit ein Zukunftsgut. 52 Nach der Theorie der Min51

Vgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 151.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

263

derschätzung zukünftiger Güter53 ist es für die Versicherten ex ante rational, keine hohen Anteile ihres Einkommens für die zukünftige Sicherung zurückzulegen, wie ihnen das ex post nötig erscheint. 54 Das bedeutet, dass die Betroffenen zukünftige Gesundheitsbedürfnisse eher gering achten werden. Auch wenn an das Leitbild vom mündigen Bürger appelliert wird, bleibt zu fragen, ob wirklich alle für ihre Gesundheit Eigenvorsorge leisten werden. Blickt man auf die Probleme, die eine reine Marktallokation von Gesundheitsleistungen und -gütern verursachen, so wird deutlich, dass der Markt im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung versagt. 55 Es wurde in dieser Arbeit bereits darauf verwiesen, dass marktwirtschaftliche Prinzipien auf dem Gesundheitsmarkt nur in eingeschränkter Weise anwendbar sind. Ein Gesundheitsmodell, das eine reine Marktallokation befürwortet, favorisiert die Leistungsgerechtigkeit oder Tauschgerechtigkeit, da Ressourcen der Gesundheitserhaltung gegen Geld getauscht werden. Aber auch bei einer Gesundheitsversorgung, die auf einem rein staatlich organisierten Gesundheitswesen aufbaut, sind Strukturprobleme vorprogrammiert. Wird ein Gesundheitssystem ausschließlich über Steuern finanziert, so ist - nach Kersting - in einem solchen Single-Payer-System Staatsversagen anzutreffen. "Denn ein ausschließlich über Steuern finanziertes Gesundheitssystem produziert komplementäres Staatsversagen, das sich sowohl in ökonomischen als auch moralischen Kosten niederschlägt. Zum einen werden aufgrund der bekannten Unehrlichkeits-, Fahrlässigkeits-, Verschwendungs- und Überkonsumtionseffekte die Kosten ganz schnell die Grenze der Finanzierbarkeit überschreiten, was zu Budgetierung, Festlegung von Honorarobergrenzen und Leistungsrationierung führt. Aufgrund der diesem System infolge aller Abwesenheit marktfönniger Elemente inhärenten ökonomischen Irrationalität ist es auch zugleich das rationierungsfreundlichste ...56 Ein reines Staatsmodell der Gesundheitsversorgung fördert zudem nicht die Eigenverantwortung und motiviert Bürger/Bürgerinnen nicht dazu, eine private Gesundheitsverantwortung zu entwickeln. Sowohl ein reines Marktmodell als auch ein reines Staatsmodell machen einerseits auf Strukturprobleme aufmerksam, die diesen Systemen der Gesundheitsversorgung zugrunde liegen. Andererseits enthalten beide Modelle positive Elemente. Ein marktwirtschaftliches Gesundheitsmodell betont die Freiheit und individuelle Verantwortung des Individuums; ein staatliches bzw. kollektives oder soziales Gesundheitssystem garantiert allen Bürgern eine Ge52 Vgl. Binder, Stephan, Effizienz durch Wettbewerb im Gesundheitswesen. Gesundheitssystemsteuerung durch wettbewerbsorientierte Anreize im Bereich der Leistungserbringung, Bayreuth 1999, 33/34. 53 Vgl. Böhm-Bawerk, Eugen von, Kapital und Kapitalzins, 2. Bd., Stuttgart 41961, 226. 54 Vgl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 238. 55 Vgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 151/152; Kersting, Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. 144. Vgl. zum Begriff Marktversagen: Breyerl Zweifel. Gesundheitsökonomie. 155 -163; Schulenburg 1Greiner, Gesundheitsökonomie. 63-67. 56 Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. 151/152.

264

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

sundheitsversorgung, schafft demnach Gleichheit und schließt auch die Leistungsschwachen mit ein. Die entscheidende Frage, die sich im Hinblick auf die Struktur des Gesundheitswesens stellt, lautet: Wie kann eine Gesundheitsversorgung organisiert werden, die neben einer sozialen Gesundheitssicherung auch marktwirtschaftliche Merkmale aufweist und dabei die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen als Person achtet? Kersting versucht in seinen gerechtigkeitstheoretischen Ausführungen zu belegen, dass sich mit dem Gedankenexperiment des Gesellschaftsvertrags eine Argumentationsstruktur entwickeln lässt, nach der ein solidargemeinschaftlich finanziertes Gesundheitswesen die Bedürfnisse der Menschen am ehesten befriedigt. Unter Zuhilfenahme der Gerechtigkeitstheorie von lohn Rawls 57 legt Kersting das Gedankenexperiment vom Gesellschaftsvertrag zugrunde. Kersting interpretiert Rawls in dem Sinne, dass eine Güterverteilung dann gerecht ist, "wenn sie nach Standards erfolgt, die für alle Beteiligten von einem unparteilichen Standpunkt aus annehmbar sind. Nur aus einer unparteilichen Perspektive können Regeln ermittelt werden, die gleichermaßen benachteiligungs- und bevorzugungsunempfindlich sind und einem jedem einen fairen Anteil an dem zu verteilenden knappen Gut garantieren. ,,58 Diese unparteiliche Perspektive ist für die Betroffenen dann gegeben, wenn sie weder wissen, welchen sozialen Status sie in der Gesellschaftshierarchie einnehmen, noch Kenntnis darüber haben, welchen Gesundheitszustand sie haben. Dieser Schleier des Nichtwissens 59 dient als Unparteilichkeitsinstrument und verrät den Individuen keine persönlichen Informationen über sich selbst. Die Betroffenen haben indessen nur allgemeine Informationen über Gesundheit und Krankheit. Sie wissen, dass "Menschen mit Krankheit und Unfall zu rechnen haben, daß Krankheit und Unfall beträchtlich unerwünscht sind, da sie die Leistungsfahigkeit und das körperliche und geistige Befinden beträchtlich beeinträchtigen und einen ganzen Reigen negativer Folgen hervorrufen können, vom Schmerz über die temporäre oder bleibende körperliche Funktionsschädigung bis zur Ausgrenzung aus der gesellschaftlichen Alltäglichkeit und dem Tod. Weiterhin kennen sie den transzendental-konditionalen Charakter des Gutes der Gesundheit und seinen objektiven Ort in der menschlichen Präferenzordnung; sie wissen, daß der Besitz des Gutes der Gesundheit Voraussetzung des Erwerbs aller anderen Güter ist,,60. Aufgrund des Wissens und des Nichtwissens über ihre persönliche Konstitution und den sozialen Status werden die Gesellschaftsmitglieder zu der Schlussfolge57 Vgl. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 71993. 58 Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 156/157. Mit dieser Aussage stellt Kersting den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz von Rawls dar und interpretiert ihn. Dieser lautet wie folgt: "Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen." Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 81. 59 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 36. 60 Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 157.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

265

rung gelangen, dass die Höhe der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel nicht ausschlaggebend sein darf, die Gesundheitsbedürfnisse zu befriedigen. Somit scheidet nach dieser vertragstheoretischen Konzeption die Marktallokation als Entscheidungskriterium der Gesundheitsversorgung aus. Nicht die finanziellen Mittel dürfen darüber entscheiden, welche Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen werden können, sondern - wie Kersting anführt - allein die Bedürftigkeit. 61 Nur ein solidargemeinschaftlich finanziertes Gesundheitswesen, das von der grundsätzlichen Egalität aller ausgeht, wird die Leistungen bzw. Güter einkommensunabhängig verteilen und diese denjenigen zur Verfügung stellen, die diese auch benötigen. Diese Argumentationsstruktur von Kersting kann mit Nutzen für die Option eines kollektiv organisierten Gesundheitswesens herangezogen werden. Allerdings bleiben in dieser Erörterung auch Fragen offen. Diese Konzeption sagt noch nichts darüber aus, welche Leistungen in welchem Umfang gewährt werden. Weiterhin ist zu fragen, ob Kerstings Begründung eine Begrenzung von Gesundheitsleistungen im Hinblick auf das Lebensalter zulässt. 62 Seine Rationierungsstrategie hinsichtlich des Alters ist ein Widerspruch zu dem von ihm selbst postulierten Prinzip der Bedürftigkeit,63 das scheinbar aber die oberste Prioritätsregel darstellt. Im Verlauf vorliegender Studie wurde immer wieder deutlich gemacht, dass der Vorteil eines solidarischen Systems darin besteht, dass alle Personen den prinzipiell gleichen Zugang zu den erforderlichen Gesundheitsressourcen erhalten sollen. Das heißt, aus dem Gedanken der Personalität kann geschlussfolgert werden, dass allen Menschen das Basisgut Gesundheit gewährt werden muss. Der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit gebietet eine ausreichende Versorgung mit Gesundheitsleistungen und -gütern. In diesem Sinne ist auch die Rede von einem allgemeinen Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung anzuführen, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt. 64 Was allerdings unter einer ausreichenden Gesundheitsversorgung zu verstehen ist, wird kontrovers diskutiert. Das gleiche Recht aller Bedürftigen an der Nutzung von Ressourcen, die der Gesundheit dienen, bedeutet keinen Versorgungsmaximalismus, 65 wie Kersting beVgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 158. "Weiterhin werden wir vor dem Hintergrund unserer Voraussetzung, daß die Krankheit eine Beeinträchtigung unserer Lebensführungskompetenz darstellt, auch bei der Entscheidung für Rationierungsstrategien auf die gesamte Lebensspanne blicken und die unterschiedlichen Bereiche innerhalb eines durchschnittlich langen Lebens entsprechend gewichten, und das wird zu einer Entscheidung führen, die eine altersgruppenrelative Ungleichheit der finanziellen Belastung in Kauf nimmt und die Jugend und die Lebensmitte gegenüber einer weitaus kostenträchtigeren medizinischen Verwaltung des Alters im allgemeinen und altersbedingter Spezialkrankheiten im besonderen bevorzugt." Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 158. 63 Hier stellt sich die Frage, ob der kranke Alte nicht auch zur Gruppe der Bedürftigen gehört. 64 Vgl. Art. 25 Abs. 1 AEM. 65 Ein Versorgungsmaximalismus bedeutet zum einen die maximale Absicherung jedes nur denkbaren Risikos und zum anderen die höchste Versorgungsstufe im Hinblick auf den Ein6\

62

266

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

tont. 66 Auch ein solidarisches Gesundheitssystem verfügt nicht über unendliche Ressourcen. Es muss bestimmte Verteilungs- bzw. Priorisierungskriterien entwickeln, damit die Leistungen und Güter gerecht verteilt werden. Als grundlegendes Allokationskriterium wurde bereits das Bedürftigkeitsprinzip ausgemacht. 2. Elemente der Entsolidarisierung im bestehenden Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung

Bevor ein Reformmodell der Gesundheitssicherung vorgestellt werden soll, sind mögliche Entsolidarisierungsformen im existierenden Solidarsystem der GKV zu diskutieren. Eine wichtige Errungenschaft im Kontext der Entwicklung des Sozialstaates ist die Vergesellschaftung von Krankheit. 67 Krankheitsrisiken, die jeden treffen können, werden demzufolge nicht mehr alleine oder von kleinen Gruppen (z. B. Familie, Genossenschaften) getragen. Der Gedanke der gesetzlich verankerten Vergesellschaftung (also Solidarität) im Sinne eines Rechtsanspruchs auf Gesundheitssicherung wird mit der Sozialgesetzgebung eingelöst. Im Folgenden ist zu fragen, welche Entwicklungen im Rahmen der GKV dazu beitragen können, dass die historisch entstandene Vergesellschaftung von Krankheit aufgehoben wird und stattdessen schrittweise eine Privatisierung von Krankheit Einlass in dieses System findet. Auf den ersten Blick - so könnte man vermuten - schränkt das differenzierte Zuzahlungssystem innerhalb der GKV das Solidarprinzip ein. 68 Hans-Ulrich Deppe hat betont, dass der Ausdruck Selbstbeteiligunl9 den tatsächlichen Sachverhalt verschleiere. Da die Versicherten bereits selbst aufgrund ihrer monatlichen Kassensatz von kostenintensiven medizinisch-technischer Verfahren. Vgl. Fleischhauer; Kurt, AItersdiskriminierung bei der Allokation medizinischer Leistungen. Kritischer Bericht zu einer Diskussion, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 229. Letztlich entscheidet die gesellschaftliche Gesundheitsdefinition darüber, was wie medizinisch behandelt wird. 66 Vgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 161; Kersting, Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik, 151-154. 67 Vgl. Thielmann, Krankheit, Heilung und Gesundheit, 496. 68 Zuzahlungen beziehen sich auf folgende Krankenkassenleistungen: Arznei- und Verbandsmittel, Fahrtkosten, Heilmittel (z. B. Massagen), Krankenhausbehandlungen, Zahnersatz, kieferorthopädische Behandlungen. Vgl. dazu die Übersicht bei Bäcker, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. 2. Bd., 61. 69 Selbstbeteiligung ist die "unmittelbare Eigenbeteiligung der Versicherten an den Kosten der individuellen Inanspruchnahme von Gesundheitsgütern. Sie ist eine Eigenleistung, die der Versicherte über den von ihm geleisteten Monatsbeitrag hinaus erbringt, als die in Geld ausdrückbare Größe jedes einzelnen Schadenfalles, die nicht vollständig durch Versicherung gedeckt, sondern zu einem Teil vom Versicherten selbst getragen werden soll". Sozialenquete-Kommission (1967), zitiert nach: Klose, Joachim/Schellschmidt, Henner, Finanzierung und Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Einnahmen- und ausgabenbezogene Gestaltungsvorschläge im Überblick, Bonn 2001 [Wissenschaftliches Institut der AOK 45], 120.

H. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

267

beiträge für ihre Gesundheitssicherung aufzukommen haben, bedeutet finanzielle Eigenbeteiligung nichts anderes als eine zusätzliche und direkte Kostenbeteiligung der Versicherten. 7o Selbstbeteiligung heißt folglich eine individuelle Übernahme aktueller Krankheitsfolgen und eben nicht eine solidarische Umverteilung. Zwar bedeutet auf der einen Seite ein finanzieller Eigenanteil der Versicherten / Patienten im Rahmen einer solidarischen Gesundheitsversorgung eine ordnungspolitische Intervention in Richtung Privatisierung der Krankheitskosten, doch ist auf der anderen Seite gerade um der Solidargemeinschaft willen eine solche Eigenbeteiligung nicht ganz auszuschließen. Im Rahmen der individuellen Leistungsfähigkeit erscheint es sogar als eine moralische Verpflichtung der Versicherungsmitglieder, dass sie sich an den Kosten bestimmter Gesundheitsleistungen beteiligen. Mit einer solchen Kostenbeteiligung tragen sie zur Entlastung der Solidarkassen bei. Dort aber, wo der Einzelne aus eigener Kraft Eigenleistungen nicht erbringen kann, muss die Solidargemeinschaft eingreifen und den finanziellen Ausgleich schaffen. 71 Solidarität und Eigenverantwortung im Sinne der finanziellen Eigenbeteiligung dürfen in diesem Zusammenhang also nicht als unversöhnliche Gegensätze verstanden werden, da selbstverantwortliches Handeln immer die konkrete solidarische Gemeinschaft entlastet und damit ihre Funktionskraft stützt. 72 Das Zuzahlungssystem darf demnach keineswegs als Entsolidarisierungselement innerhalb der GKV gedeutet werden, trägt es doch im Wesentlichen zur Entlastung der Versicherung bei. Ein solidarisches System der Gesundheitsversorgung lebt davon, dass möglichst viele Beitragszahier Leistungen entrichten und eine größtmögliche finanzielle Basis schaffen. Das zweigliedrige System der Gesundheitssicherung in Deutschland eröffnet allerdings die Möglichkeit, dass sich 7,3 Millionen Versicherte - das entspricht 8,9% der Bevölkerung73 - nicht einer gesetzlichen Krankenversicherung anzuschließen brauchen und stattdessen Versicherungsschutz bei einer privaten Krankenversicherung nachfragen können. Dieser Bevölkerungsteil wird somit aus der Solidarpflicht entlassen. Auch wenn GKV und PKV historisch zu erklären sind, bleibt kritisch zu hinterfragen, warum gerade den "einkommensstarken Bevölkerungsschichten die Option eröffnet [wird], sich durch eine individuell vergleichsweise günstige Versicherung aus der solidarischen Absicherung von Gesundheitsrisiken zurückzuziehen.,,74 Erst die Gesetzgebung schafft mit dem SGB V die Vo70 Vgl. Deppe, Hans-Ulrich, Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesundheitspolitik, Frankfurt a.M. 1987, 102. 71 An diesem Punkt wird die im Solidaritätsprinzip angelegte Vorrangigkeit des Schwächeren erkennbar, die sich beispielsweise in der Behandlung von Härtefällen innerhalb des Zuzahlungssystems zeigt. 72 Vgl. Baumgartner, Solidarität und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, 150/151. 73 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2000), Kap. 10.1 / 10.2. 74 Barth, Hans/ BaUT; Rita, Vom Ausland lernen, in: Böcken, Jan/Butzlaff, Martin/Esche, Andreas (Hrsg.), Reformen im Gesundheitswesen. Ergebnisse der internationalen Recherche, earl Bertelsmann-Preis 2000, Gütersloh 32001, 152.

268

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

raussetzung, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen von der solidarischen Pflichtversicherung distanzieren können. 75 Gäbe es keine Unterschiede in Beitragsbemessung und Leistungsempfang, wäre ein solches zweigliedriges System unproblematisch. Doch PKV-Versicherte zahlen vor allem in jüngeren Jahren niedrigere Beiträge als GKV-Versicherte, da sich die Prämien nicht am Einkommen orientieren, sondern an individuellen Merkmalen. Hinzukommt, dass PKV-Versicherte häufig bessere Leistungen erhalten - und sei es "nur", dass sie bei Sprechstundenterminen bevorzugt behandelt werden. Egalität, wie sie für ein Gesundheitswesen konstitutiv sein sollte, wird nur innerhalb des jeweiligen Versicherungssystems gewährleistet, ansonsten herrscht zwischen den Mitgliedern der GKV und PKVeine strukturelle Ungleichbehandlung?6 Schon seit langem werden unterschiedliche Vorschläge diskutiert, wie man die finanzielle Basis der GKV stärken kann: (1) Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze könnte positive Finanzierungseffekte schaffen, die der GKV zugute kommen würden. (2) Eine Beitragsrückerstattung, wie sie bereits in der Systemlogik der PKV anzutreffen ist, könnte als Anreizsystem ein rationales Verhalten der Versicherten fördern. Jene Versicherten, die während eines Kalenderjahres keine Gesundheitsleistungen ihrer Kasse in Anspruch genommen haben, erhalten eine gewisse Summe ihres eingezahlten Betrags zurück; sie werden also für ihre Nichtinanspruchnahme "belohnt". Von einer solchen Regelung profitieren dann primär gesunde, jüngere und kinderlose Versicherte, während kranke, ältere, kinderreiche Kassenmitglieder für ihre Nachfrage "bestraft" werden. (3) Die Erhebung von risikoäquivalenten Prämien - ähnlich wie im System der PKV - könnte auch zu einer Entlastung der Ausgaben beitragen. Immer wieder wird in der öffentlichen Diskussion auf den Risikozuschlag für Versicherte mit einem gesundheitsschädlichen Verhalten (z. B. hoher Tabak- und Alkoholkonsum, Risikosport) verwiesen. (4) Zuletzt könnte auch eine Einschränkung bzw. Abschaffung der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen die finanzielle Grundlage der GKVerhöhen. Diese kurzen Hinweise verdeutlichen die dahinter stehende ethische Problematik. Im Hinblick auf die skizzierten Vorschläge ist zu reflektieren, ob diese nicht bereits Entsolidarisierungstendenzen begünstigen. Die Existenz der Beitragsbemessungsgrenze verweist auf das grundsätzliche Problem eines zweigliedrigen Gesundheitssicherungssystems. Weil die PKV vor allem im jungen Alter bessere und kostengünstigere Leistungen anbietet, werden Versicherte bestrebt sein, die finanzielle Hürde der Beitragsbemessungsgrenze zu überspringen, um so vom PKVSystem zu profitieren. Die privaten Krankenversicherungen begrüßen es, wenn sie möglichst viele junge und gesunde Mitglieder als Versicherte gewinnen, da damit Vgl. § 6 SGB V. Innerhalb der gesundheitspolitischen Diskussion um die Zukunft des Gesundheitswesens wird das zweigliedrige System aus GKV und PKV grundSätzlich nicht in Frage gestellt. Auch innerhalb der wissenschaftlichen Fachdiskussion wird dieses System nur in vereinzelten Fällen problematisiert. Vgl. z. B. Barthl BauT, Vorn Ausland lernen, 152. 75

76

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

269

auch wirtschaftliche Unternehmenserfolge erzielt werden können. Hier ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass private Krankenversicherungen primär Wirtschaftsunternehmen sind. Hingegen hat die GKV, die einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen hat, ein Interesse an einer möglichst hohen Beitragsbemessungsgrenze, so dass den gesetzlichen Krankenversicherungen vor allem die jungen, finanzstarken und gesunden Versicherten nicht verloren gehen. Hier prallen zwei gegensätzliche Interessen aufeinander, die in der bestehenden Form der Beitragsbemessungsgrenze zwischen den Interessen der GKV und der PKV nicht ausgeglichen werden können. Es zeigt sich wieder einmal, dass das Gesundheitswesen in all seinen Verästelungen ein "Kampfplatz" von Interessen ist. Durch die deutliche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze wird es den Beziehern höherer Einkommen erschwert, in die PKV abwandern. Somit könnte die Finanzierungsbasis der GKVausgeweitet werden. Mit einer solchen Lösung, die aber freilich große Widerstände bei den privaten Krankenversicherungsunternehmen hervorrufen würde, könnte man die Solidargemeinschaft ausbauen und Entsolidarisierungstendenzen entgegenwirken. Der Sinn der Beitragsrückerstattung - der nächste zu diskutierende Punkt - besteht darin, einerseits ein Gesundheitsbewusstsein im Sinne von Eigenverantwortung bei den Versicherten zu fördern und andererseits gegen das so genannte Moral-Hazard-Phänomen anzukämpfen. 77 Wenn empirisch gesichert ist, dass durch eine Beitragsrückerstattung die in Anspruch genommenen Kosten realiter gesenkt werden können und die Versicherten zu mehr Selbstverantwortung angeleitet werden würden, wird durch die Implementation dieses finanziellen Anreizsystems folglich ein Verhalten unterstützt, das sich positiv auf die Solidargemeinschaft auswirkt. 78 In diesem Sinn kann man daher nicht von einer grundsätzlichen Entsolidarisierung innerhalb des GKV-Systems sprechen. 77 Unter dem Moral-Hazard-Phänomen versteht man ein bestimmtes Verhalten des Versicherungsnehmers, das darauf zielt, Versicherungsleistungen über das notwendige Maß hinaus nachzufragen und somit die Solidargemeinschaft in unnötiger Weise zu strapazieren. Moral-Hazard- Verhalten ist aber keineswegs nur auf die Krankenversicherung begrenzt, sondern tritt bei allen kollektiven Versicherungsformen auf. Vgl. Oberenderl Hebbom, Wachstumsmarkt Gesundheit, 56/57; Ullrich, Carsten G., Moral Hazard und gesetzliche Krankenversicherung. Möglichkeiten zu Mehrentnahmen an Gesundheitsleistungen in der Wahrnehmung und Bewertung durch gesetzlich Versicherte, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47 (1995) 683. 78 In einern Modellprojekt, an dem sich fünf Betriebskrankenkassen beteiligt haben, wurde die Beitragsrückzahlung empirisch untersucht. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Beitragsrückzahlung für die GKV-Versicherten kein besonderes Anreizsystem darstellt, Gesundheitsleistungen sparsamer zu konsumieren. Vgl. Schmidt, Elke M.I Malin, Eva-Maria, Kostendämpfung oder Risikoselektion? Die Wirkung von Maßnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung am Beispiel der Beitragsrückzahlung, in: Düllings, Josef u. a., Von der Budgetierung zur Strukturreforrn im Gesundheitswesen. Beiträge der AG Gesundheitssystemforschung und Gesundheitsökonomie der DGSMP, Heidelberg 1996, 49-68. Zur besseren Überprüfung der Ausgangslage sollten allerdings weitere Modellvorhaben - vor allem auch bei unterschiedlichen GKV-Kassen - durchgeführt werden.

270

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Bei der Erhebung von risikoäquivalenten Prämien, wie sie im System der PKV versicherungstechnisch vorgesehen sind, kann die eigene Lebensführung stärker in den Blickpunkt rücken und auf ein bestimmtes Risikoverhalten aufmerksam gemacht werden. Um Risikoprämien ethisch zu bewerten, müssen zwei Argumentationsstrukturen unterschieden werden: Auf der einen Seite - nach einem individualethischen Verständnis - bedeutet ein gesundheitsschädliches Verhalten immer ein Schuldigwerden gegenüber der Gesellschaft und in diesem Sinne mangelnde Solidarität des Einzelnen im Hinblick auf mögliche Gesundheitskosten. Auf der anderen Seite - nach einem sozialethischen Verständnis muss solidarische Hilfe aber auch denjenigen mit einschließen, der "schuldig" geworden ist. Das entscheidende ethische Kriterium für die Zuwendung ist hierbei die individuelle Bedürftigkeit. Auf der Basis der allen Menschen innewohnenden personalen Würde gilt die solidarische Hilfe jedem, der sie benötigt. Bei der Erhebung risikoäquivalenter Prämien besteht die Gefahr, dass sich ein Versicherungssystem etabliert, das auf Äquivalenz anstatt auf Solidarität setzt; Krankheitsrisiken werden privatisiert und nicht mehr gemeinschaftlich umgelegt. Ein, wenn nicht sogar der wesentliche Gedanke des Solidaritätsprinzips besagt aber gerade, dass die Starken die Schwachen mittragen sollen. Dieser spezifische Solidarausgleich innerhalb der GKV gilt geradezu als der wichtigste Baustein, der eine sozial ausgerichtete Krankenversicherung von einer privaten Krankenversicherung unterscheidet. Solidarische Hilfe sollte daher allen zuteil werden, die ihrer benötigen, so auch beispielsweise demjenigen, der von einer selbstverursachten Erkrankung betroffen ist. 79 Neben dieser grundsätzlichen Problematik ist weiterhin zu erwähnen, dass keine Eindeutigkeit im Hinblick auf das Risikoverhalten besteht. Für welche Sportarten können Risikoprämien erhoben werden? Sind Rauchen und Trinken - ohne Zweifel gesundheitsschädigende Verhaltensweisen - nicht doch auch Krankheiten im Sinne von zu therapierenden Suchterkrankungen? Der letzte zu erörternde Punkt ist die Einschränkung bzw. Abschaffung der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen. Eine solche Regelung würde im Widerspruch stehen zum Umlageverfahren und dem dahinter stehenden Solidargedanken. Die beitragsfreie Mitversicherung der Familienangehörigen stellt nicht nur eine Maßnahme der Sozialversicherung dar, sondern ist darüber hinaus auch ein familienpolitisches Förderungsinstrument, indem Familien, die Leistungen für die Gesellschaft aufbringen, finanziell entlastet werden. Wollte man hier einschneidende Maßnahmen vornehmen, würde die Entsolidarisierung am deutlichsten zum Tragen kommen. In der gesamten Diskussion um eine solidarische Krankenversicherung darf nicht vergessen werden, dass die heutigen Jungen und Gesunden, die jetzt die Alten und Kranken unterstützen, selbst einmal durch Morbidität oder vorgerücktem Alter auf die Hilfe der Solidargemeinschaft angewiesen sein werden und dann auf deren Funktionskraft vertrauen dürfen. 8o Hier zeigt sich 79

Vgl. Mündigkeit und Solidarität, 60.

II. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

271

im Ablauf der Generationenfolge geradezu die wechselseitige Verpflichtung im Sinne des Solidaritätsprinzips. 3. Reformmodell: Duale Gesundheitssicherung

Schon seit längerer Zeit wird in der Gesundheitsökonomik über ein duales Versicherungssystem nachgedacht, das aus zwei Gesundheitssicherungselementen besteht, nämlich erstens einer Grundversorgung 81 für alle und zweitens einer privaten Zusatzversicherung. 82 Neuerdings kommen solche Überlegung auch verstärkt in philosophischen Entwürfen zur Sprache. 83 Die bereits im Einleitungskapitel erwähnte Kontroverse zwischen dem evangelischen Theologen Dabrock und dem Philosophen Höffe hat gezeigt, dass die Option für ein neues Gesundheitssicherungssystem mit kollektiven und privaten Elementen den wissenschaftlichen Diskurs nachhaltig beeinflusst. Auch innerhalb gesundheitspolitischer Reformüberlegungen wird das Modell einer dualen Gesundheitssicherung mit individuellen Wahlmöglichkeiten diskutiert. 84 Für die christliche Sozialethik besteht die Auf80 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Mehr Ergebnisorientierung, mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit, Baden-Baden 1995, 137. 81 Im angelsächsischen Raum wird die Grundversorgung bzw. notwendige Gesundheitsversorgung mit dem Ausdruck decent minimum bezeichnet. 82 Vgl. z. B. Oberender, Peter, Marktsteuerung der Gesundheitsnachfrage: Möglichkeiten und sozialpolitische Grenzen - Vorschläge und Neuorientierung im Gesundheitswesen, in: Geigant, Friedrich 1ders. (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen einer Marktsteuerung im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, Gerlingen 1985,30-32; Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 143 -148. Vgl. dazu auch die unterschiedlichen sozialund gesundheitspolitischen Argumente zum dualen Gesundheitssicherungsmodell, die diskutiert werden bei Klo.1-e 1Schellschmidt, Finanzierung und Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, 197 - 206. 83 Neben Höffe plädiert - wenngleich in einer gemäßigteren Form - auch Kersting für ein gestuftes Modell der Gesundheitssicherung. Vgl. Hö!fe, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 177 - 182; Hö!fe, Medizin in Zeiten knapper Ressourcen, 233 - 24. V gl. Kersting, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, 501-505; Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 206-212. 84 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, 136-142. Die CSU-Kommission ..Für eine sozial gerechte Gesundheitsreform" hat im November 1999 ein Diskussionspapier erarbeitet, in dem ein gestuftes Modell der Gesundheitssicherung vorgestellt wird. Vgl. CSU-Komrnission ..Für eine sozial gerechte Gesundheitsreform", Diskussionspapier, 4/5. Diese Überlegungen werden allerdings in dem Reformvorschlag vom August 2001 verworfen. Vgl. CSU, Gesundheitspolitik für das neue Jahrhundert. Mehr Gesundheit - mehr Qualität - mehr Verantwortung, München 2001, in: http://www.csu.de (Stand: 29. 08. 2001). CDU 1CSU sprechen sich in ihrem gemeinsamen Regierungsprogramm (2002-2006) für eine größere Flexibilität und Wahlfreiheit über den Umfang des Versicherungsschutzes aus. Die Versicherten ..sollen künftig selbst entscheiden können, ob sie den bisherigen Versorgungsumfang beibehalten, zusätzliche Leistungen erhalten oder bei gleichzeitiger Beitragsermäßigung Leistungen abwählen oder einen Selbstbehalt

272

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

gabe darin, diese Refonnüberlegungen unter Zuhilfenahme ethischer Kriterien zu reflektieren, auf Stärken und Schwächen der Konzeption aufmerksam zu machen und - falls ein solches duales System im Prinzip positiv zu bewerten ist - strukturethische Überlegungen zur Implementierung und Weiterentwicklung darzustellen. 85 Innerhalb der gesundheitsökonomischen bzw. gesundheitspolitischen Diskussion um die Verteilung knapper Gesundheitsressourcen plädiert Höfte für einen grundlegenden Paradigmenwechsel, den man in vereinfachter Weise mit der Fonnel "von der Verteilungsgerechtigkeit zur Tauschgerechtigkeit" bzw. "von der Verteilung zur Wechselseitigkeit,,86 zusammenfassen kann. Der Tausch ist für Höfte das adäquatere Instrument einer Gerechtigkeitsvorstellung, wie sie in demokratischen Gesellschaften gepflegt werden sollte: "Zugunsten des Paradigmenwechsels spricht schon der Umstand, daß eine Verteilung von oben her erfolgt, der Tausch dagegen wie überhaupt die Wechselseitigkeit unter Gleichberechtigten stattfindet. In der Verteilung tritt ein patemalistisches oder, genauer, ein matemalistisches Denken, eine Fürsorge-Mentalität zutage. Während jede Verteilung Hierarchien voraussetzt, ist die Wechselseitigkeit eine Beziehung unter Gleichen und schon deshalb das Grundmuster der Demokratie. ,,87 Für Höfte wird die Selbstverantwortung zum leitenden Prinzip in seinem neuartigen Krankenversicherungsmodell. Dementsprechend fordert er ein vierstufiges Gesundheitssicherungssystem, das die Eiübernehmen wollen. Nur wenn verschiedene Versorgungsangebote miteinander konkurrieren, haben die Patienten eine Auswahl und können sich für die aus ihrer Sicht beste Versorgungsform entscheiden." CDU /CSU, Leistung und Sicherheit, 35. Eine Aufteilung der Gesundheitsleistungen in Basisversorgung und Zusatzversorgung wird expressis verbis aber nicht genannt. Für den Ausbau der privaten Gesundheitsversorgung tritt auch der Wirtschaftsbericht 2001 ein. Vgl. Wirtschaftsbericht 2001, 38. Laut einem Strategiepapier des Bundeskanzleramtes, das der Süddeutschen Zeitung im Juni 2001 vorliegt, wird auch im Kanzleramt über ein duales Versicherungssystem nachgedacht. Vgl. Bürger sollen für ihre Gesundheit mehr zahlen, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 06. 2001, 1. Eine Aufteilung der Leistungen in Grund- und Wahlleistungen werden im Regierungsprogramm (2002 - 2006) der SPD abgelehnt. Vgl. SPD, Erneuerung und Zusammenhalt, 55. 85 Michael Schramm befürwortet als einer der ersten (katholischen) Sozialethiker eine Aufteilung in Regel- und Wahlleistungen. Vgl. Schramm, Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, 238/239. Auch Ursula Nothelle-Wildfeuer spricht sich positiv für ein gestuftes Modell der Gesundheitsversorgung aus. Vgl. Nothelle- Wildfeuer, Ursula, Verteilungsgerechtigkeit, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002) 200 /200 1. In dem von der evangelischen Kirche erarbeiteten Positionspapier zur Neugestaltung des Gesundheitswesens wird die Möglichkeit einer dualen Sicherung auch thematisiert. Vgl. Mündigkeit und Solidarität, 70. Der Gesundheitsökonom Klaus-Dirk Henke greift den Gedanken der dualen Versorgung ebenfalls auf und bezieht sich bei seinen kurzen Überlegungen explizit auf die gesundheitspolitische Schrift der evangelischen Kirche. Vgl. Henke, Klaus-Dirk, Bleibt unser Gesundheitswesen finanzierbar? Vortrag am 10. November 1994 im Niedersächsischen Landtag, hrsg. vom Präsident des Niedersächsischen Landtages, Heft 23, Hannover 1995, 40/41. 86 Höjfe, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 175. Im Folgenden soll der von Höffe im Jahre 1999 publizierte Beitrag herangezogen werden. Der vorher veröffentlichte Artikel im deutschen Ärzteblatt von 1998 stellt hingegen nur eine Skizze seiner Gedanken dar. 8? Höjfe, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 175.

II. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

273

genverantwortung des Individuums herausfordert. Dieses Modell soll dazu beitragen, dass die enormen Kosten im Gesundheitswesen - teilweise durch Überversorgung oder Pleonexie verursacht - reduziert werden. Seine vorgestellten Stufen entsprechen jeweils einem bestimmten Gesellschaftsverständnis, in dem nicht nur Einseitigkeiten, wie etwa Kooperation oder Solidarität, vorkommen, sondern auch plurale Ansprüche und Verhältnisse deutlich gemacht werden. 88 Folgende vier Stufen können nach Höffes Modell unterschieden werden: 89 Auf der ersten Stufe steht die öffentliche Gesundheit, zu der soziale Aufgaben wie beispielsweise die Seuchenprävention und Seuchenbekämpfung, Pflichtschutzimpfungen und Mütterberatungen gehören. Die zweite Stufe bezeichnet Höffe als Grundstufe. Diese umfasst die medizinische Grundversorgung im Rahmen einer gesetzlichen Krankenversicherung, die als Solidargemeinschaft zu verstehen ist. Die gewährten Leistungen entsprechen einem elementaren Minimum, sind also nicht versorgungsmaximalistisch zu verstehen. Bei der dritten Stufe handelt es sich um die Aufbaustufe einer individuellen Krankenversicherung. Diese steht "allen offen, nur basiert sie nicht mehr auf dem Fürsorgeprinzip der Pflichtversicherung, sondern auf dem Prinzip der Selbstverantwortung. ,,90 Die Versicherungsgesellschaften haben das Recht, Risikofaktoren, wie etwa Bewegungsmangel, Übergewicht, Tabak- und Alkoholkonsum, für die Beitragshöhe zu benennen und einzufordern. Schließlich schlägt Höffe eine vierte Abrundungsstufe vor, die besondere Zusatzleistungen finanziell abdeckt, so etwa Einbettzimmer, Zahnregulierungen oder Teile der nichtevidenzbasierten Medizin. Die schärfste Kritik an Höffes Ansatz hat Dabrock vorgetragen. Im Hinblick auf Höffes Stufenmodell lassen sich nach Dabrock folgende Anfragen stellen: 91 Zunächst verschweigt Höffe, ob sein Modell einkommensabhängig oder einkommensunabhängig zu gestalten ist. Die Klärung dieser Frage ist für die Beitragshöhe der einzelnen Versicherungsstufen sowie für die Implementation von Elementen der sozialen Gerechtigkeit entscheidend. Das größte Problem erkennt Dabrock aber in einer idealistischen Betrachtung des Versicherten, der Selbstverantwortung für seine Gesundheitsversorgung übernehmen soll. Höffes Konzeption wird von einer starken Marktorientierung getragen. Nur so ist es zu erklären, dass er die Tauschgerechtigkeit, die man in diesem Falle durchaus auch als Leistungsgerechtigkeit interpretieren kann, so sehr akzentuiert. Individuelle Leistungsfähigkeit und Gütertausch sind innerhalb von Marktbeziehungen zu verorten; der Gesundheitsmarkt ist jedoch kein transparentes Gebilde, sondern wird bekanntlich von zahlreichen Asymmetrien beherrscht. 92 Nur der aufgeklärte Verbraucher, der bereits über Vgl. Höf!e, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 179. Vgl. insgesamt zu den vier Stufen Höf!e, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 179-181; Höf!e, Medizin in Zeiten knapper Ressourcen, 232 - 241. 90 Höf!e, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 181. 91 Vgl. Dabrock, .. Medizin in Zeiten knapper Ressourcen", 15/16. 92 Vgl. dazu auch Stierle, Der Preis der Gesundheit, 31 . 88

89

18 Bohnnann

274

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

ausreichendes Verbraucherwissen verfügt und das Angebot zumindest in Grundzügen überblicken kann, wird zu einer souveränen Konsumhaltung fähig sein. Hier muss - so Dabrock - ernsthaft gefragt werden, ob die Verbraucher bereits genügend Kompetenzen besitzen, um sich in so einem komplexen Modell zurecht zu finden. Sicherlich will Dabrock nicht die prinzipielle Mündigkeit oder Konsumkompetenz der Verbraucher anzweifeln, doch ist für ihn konstitutiv, dass mündige Verbraucher auf eine institutionelle Hilfestellung angewiesen sind, um autonome Konsumentscheidungen über Wahltarife zu treffen. "Wer nur auf Tausch, Eigenverantwortung und Freiheit und dazu nicht alternativ, sondern originär komplementär auch auf Distribution, Teilhabe und Solidarität setzt, der unterschlägt, daß vielen die sachliche und monetäre Kompetenz fehlt, derart selbstverantwortlich entscheiden zu können, so daß der Staat um diese Bürgerinnen und Bürger und des sozialen Friedens willen helfend und fördernd einzugreifen hat. Eine Fülle sozialepidemologisch-empirischer Untersuchungen - auch im internationalen Vergleich - bestätigt, daß die Fähigkeit zur ,Eigenverantwortung' wesentlich von Bildung und Berufsstand der Versicherten abhängt"93. Aus diesem Grund müssen die zu schaffenden institutionellen Zugangschancen zur Eigenverantwortung in einem Versicherungssystem mit eigenverantwortlichen Optionen Erwähnung finden. Der Verweis auf die Autonomie der Verbraucher allein reicht nach Dabrock hierfür nicht aus. Neben diesen kritischen Punkten ist weiterhin zu fragen, wie Höffe seine einzelnen Stufen voneinander abgrenzen will. Vor allem seine Differenzierung in Aufbaustufe und Abrundungsstufe kann nicht überzeugen. 94 Das größte Problem bei einem dualen oder mehrstufigen Gesundheitssicherungsmodell besteht darin, Operationalisierungskriterien anzugeben, die sagen, was zur medizinischen Grundversorgung gehört. 95 Diese Problemstellung löst Höffe, indem er einen Vorschlag des US-Amerikaners Allen Buchanan aufgreift. 96 Nach Buchanan gehört zur Grundoder Minimalversorgung "die professionelle Geburtshilfe während der Entbindung, mindestens eine Untersuchung durch einen Arzt oder eine Hebamme während der Schwangerschaft, moderne und vertretbar schnelle Notarztversorgung für Unfallgeschädigte, routinemäßige Vorsorgeuntersuchungen und Arztbesuche mindestens alle 3 Jahre sowie relativ billige chirurgische Eingriffe mit geringem Risiko zur Behebung von Zuständen, die Körperfunktionen unmöglich machen oder ernsthaft behindern. Zumindest dort, wo diese Eingriffe eine hohe Wahrscheinlichkeit bieDabrock, "Medizin in Zeiten knapper Ressourcen", 15. Kersting legt in seinem Entwurf nur ein zweigliedriges Modell, bestehend aus Grundund Zusatzversorgung, vor. V gl. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 211 /212. Auch wenn er die Leistungen nicht klar definiert, kann ein duales System mehr überzeugen, da die Abgrenzungen eher zu bestimmen sind als bei einern Drei- oder Vierstufensystem. 95 Die Frage nach den Bestimmungskriterien für die Basisversorgung stellt sich auch Kersting. Vgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 162; Kersting, Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik, 155-157. 96 Vgl. Höf!e, Besonnenheit und Gerechtigkeit, 180. 93

94

II. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

275

ten, die Funktionsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen'.97. Zweifelhaft ist es allerdings, wenn solche Kriterien aus anderen kulturellen Kontexten als Maßstab für die eigene Grundversorgung hergenommen werden. Mit Kersting, der dieses Problem erkannt hat, kann geschlussfolgert werden, dass eine medizinische Basisversorgung sich nicht so einfach bestimmen lässt. Eine solche Kriteriologie ist abhängig vom kulturell codierten Anspruchsniveau der Bevölkerung, vom Entwicklungsstand des nationalen Medizinsystems und schlussendlich VOn der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. 98 4. Ethische Folgerung: Solidarität und Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen stärken

Trotz der bestehenden Einwände, die anband eines gestuften Gesundheitssicherungsmodells deutlich werden, sollte es nicht vorschnell abqualifiziert werden. Positiv ist hervorzuheben, dass dieses System eine solidarische Sicherung vorsieht es ist also kein rein liberalistisches Modell - und in diesem Sinne den Gedanken der Solidargemeinschaft sowie den individuellen Anspruch auf Gesundheitsversorgung betont. Darüber hinaus wird der Mensch als verantwortungsfähiges Individuum ernst genommen. Er selbst ist Koproduzent seiner Gesundheit und entscheidet darüber, welche konkreten Versicherungsmaßnahmen für ihn günstig sind. Mit einer zusätzlichen Stufe der Gesundheitssicherung können individuelle Bedürfnisse besser versichert werden; die Versicherten treten als echte Marktteilnehmer, neben den Leistungserbringern, den Akteuren der Gesundheitsversorgung, und den Krankenkassen, den Akteuren der Gesundheitssicherung, auf. Weiterhin fördern konkurrierende Anbieter das kompetitive Verhalten untereinander und können aufgrund der Wettbewerbsstruktur "Kundennähe" zeigen. Ferner trägt das Konzept zur Entlastung der GKV bei. Ein gestuftes Versicherungssystem begünstigt - so kann zusammengefasst werden - eine effizientere marktwirtschaftliche Steuerung und eine stärkere Eigenverantwortung, die im Sinne des Subsidiaritätsprinzips bezogen auf die Kompetenz des Einzelnen - zu verstehen ist. Im Folgenden soll - auf der Basis der erörterten Kritik - ein gestuftes Gesundheitssicherungsmodell in modifizierter Fassung skizziert werden, das aus zwei Stufen besteht: aus einer solidarisch finanzierten Basisversorgung und einer individuellen Zusatzversicherung. 99 Die Basisversorgung ist nach dem Vorbild der gesetzli97 Buchanan, Allen, Zur ethischen Bewertung des Gesundheitswesens in den USA, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Ethik und öffentliches Gesundheitswesen. Ordnungsethische und ordnungspolitische Einflußfaktoren im öffentlichen Gesundheitswesen, Berlin u. a. 1988, 194. 98 Vgl. Kersting, Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 163. 99 An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass es in Deutschland bereits ansatzweise ein solches Modell der Finanzierung von Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgütern gibt. Alle gesetzlich Versicherten haben die Möglichkeit, einen individuellen Versicherungsvertrag für medizinische Sonderleistungen bei einem privaten Versicherungsunternehmen abzuschließen. Darüber hinaus werden private Zuzahlungen im Rahmen zahnprothetischer IS*

276

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

chen Krankenversicherung zu organisieren. Aufgrund der Minderschätzung zukünftiger Güter ist es ethisch legitim, ein Zwangssystem aufzubauen, in dem alle Bürger und Bürgerinnen versichert sind. Grundsätzlich ist es denkbar, dass die Finanzmittel zur Deckung der Grundsicherung entweder durch das allgemeine Steueraufkommen oder durch Versicherungsbeiträge der Individuen aufgebracht werden. Ein Beitragsmodell hat den Vorteil, wie bereits kurz angedeutet, dass sich die Versicherten mit ihren eingezahlten Beiträgen einen Rechtsanspruch auf Gesundheitssicherung im Krankheitsfall erwerben. Dadurch wissen sie, was psychologisch nicht zu unterschätzen ist, dass sie selbst es sind, die für ihre Gesundheit Vorsorge tragen. Bei einem Steuersystem fehlt dieser subjektiv empfundene persönliche Beitrag, die Gesundheitsversorgung kann daher als reine Staatsversorgung oder auch als Versorgung, die "umsonst" zu haben ist, ausgelegt werden. 100 Weiterhin sollten die Versicherungsbeiträge einkommensabhängig erhoben werden, denn nur durch eine solche individuelle Gewichtung kommt der Solidarausgleich zur Anwendung: Die Leistungsstärkeren finanzieren die Gesundheitsversorgung der Leistungsschwächeren mit. Infolgedessen wird ein wesentliches Kriterium für den Solidargedanken eingelöst, nämlich die Option für die Annen. 101 Die zweite Stufe der Gesundheitsversorgung, die Zusatzversicherung, ist auf freiwilliger Basis zu organisieren. Je nachdem welche Leistungsbereiche nicht durch die Grundversicherung abgesichert sind, ist es ratsam, eine private Zusatzversicherung zu etablieren. 102 Private Zusatzversicherungen, die entweder von gesetzlichen oder von privaten Versicherungen angeboten werden, ergänzen die Grundversorgung mit speziellen Zusatz- bzw. Wahlleistungen. 103 Zwischen den einzelnen Akteuren der Gesundheitssicherung herrscht Wettbewerb. Als Wettbewerbsparameter dienen Differenzierungen nach Art, Umfang, Qualität und Preis der jeweiligen Leistungsangebote. I04 Mit alternativen, über den Markt angeboteLeistungen nach § 30 Abs. 3 SGB V jetzt schon verlangt. V gl. Schmidt, Mehr Markt und Wettbewerb, 10. 100 Die Versicherten sehen jeden Monat auf ihren Gehaltsabrechnungen, was sie selbst für ihre Gesundheit aufgebracht haben. 101 Denkbar ist auch ein gleicher Grundbetrag, den alle Versicherten für die Basisversorgung zu entrichten hätten. Allerdings würde eine solche Lösung nicht mehr dem Gedanken der solidarischen Umverteilung entsprechen. 102 Denkbar wäre zum Beispiel, die zahnärztliche Versorgung ganz oder ab einem bestimmten Alter (etwa ab 18 Jahren) aus der Grundversicherung auszuschließen und hierfür einen zusätzlichen Versicherungsvertrag einzugehen. 103 In erster Linie sind die privaten Versicherungen für die Zusatzversicherungen verantwortlich. Den gesetzlichen Krankenkassen müsste es jedoch erlaubt sein, im Namen ihrer Versicherten günstige private Versicherungen zu vermitteln. Somit wird es den Kassen ermöglicht, Rabatte für ihre Versicherten auszuhandeln. Vgl. Boethius, Jan, Private Zusatzvorsorge. Kein Betätigungsfeld für die gesetzliche Krankenversicherung, in: Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 10/2001,3-6. 104 Vgl. Cassel, Dieter, Ordnungspolitische Gestaltung des Gesundheitswesens in der Sozialen Marktwirtschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 45 (2000) 141.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

277

nen Leistungsangeboten wird es den Krankenversicherungsgesellschaften ennöglicht, stärker als vorher die persönlichen Präferenzen ihrer (potenziellen) Mitglieder zu berücksichtigen und eine dementsprechende Produktpolitik zu betreiben. 105 Dadurch kommt es nicht nur zu einer effizienteren marktwirtschaftlichen Steuerung, sondern auch zu einer stärkeren Eigenverantwortung. Peter Oberender und Ansgar Hebborn beschreiben die flexible Leistungsstruktur mit einem "Zwiebelmodell", bei dem die Basisversorgung durch das Solidarprinzip abgedeckt und die weitere Absicherung eigenverantwortlich zu organisieren ist. 106 Ob allerdings auch eine individuelle Leistungsabwahl, wie Oberender und Hebborn vorschlagen,107 in ein solches dual strukturiertes Krankenversicherungssystem integriert werden soll, ist kritisch zu prüfen. Durch Abwahloptionen kann nämlich gegebenenfalls eine Unterversicherung eintreten, so dass am Ende die Solidargemeinschaft über Sozialhilfeleistungen für Krankheitsfälle einzustehen hat. Damit dies nicht eintritt, darf die individuelle Leistungsabwahl nicht die medizinisch notwendige Grundversorgung betreffen. Und damit rückt wieder das zentrale Problem der Grundversorgung in den Blickpunkt: Welche Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter gehören zur Grundsicherung? Welche Leistungen und Güter sollen bei Priorisierungsentscheidungen im Sinne eines fest definierten Grundleistungskatalogs berücksichtigt werden? Das beschriebene Reformmodell macht - wie jede Strukturveränderung im Gesundheitswesen - darauf aufmerksam, dass die einzelnen Funktionsbereiche zusammenwirken und Refonnvorhaben die Handlungsweisen der Akteure der Gesundheitssicherung, der Gesundheitsversorgung sowie der Gesundheitspolitik gleichennaßen betreffen. Eine Gesundheitsrefonn wird erst durch die politischen Akteure wirksam. Gleichwohl kann Politik keine Refonn ohne die Zustimmung der Krankenkassen und Ärzte / Ärztinnen durchsetzen. In einem dualen Gesundheitssicherungssystem müssen sie mitwirken, sich auf die neue Situation einstellen, Versorgungsangebote überprüfen, modifizieren und neu gestalten. Die einzelnen Krankenkassen müssen eine unter Wettbewerbsbedingungen stehende Angebotsstruktur für die private Zusatzversicherung schaffen. Und die Ärzteschaft muss ihre Leistungen dann an den Leistungskriterien und getroffenen Wahlentscheidungen der Versicherten orientieren. Nachdem in Grundzügen das duale Gesundheitssicherungsmodell mit den darin enthaltenen Problemen beschrieben wurde, sollen zur Ergänzung unterschiedliche Vorschläge erarbeitet werden, die die angesprochenen kritischen Punkte zu beseitigen versuchen. Ein solches Gesundheitssicherungsmodell ist unter sozialethischen Aspekten nur dann legitim, wenn nachstehende Kriterien berücksichtigt werden: 105 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, 140/141. 106 Vgl. Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 145/146. 107 Vgl. Oberenderl Hebborn, Wachstumsmarkt Gesundheit, 145/146.

278

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

(1) Die Grundsicherung ist analog zur GKV zu strukturieren. Alle Personen sollen demzufolge prinzipiell den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Das schließt den Kontrahierungszwang, aber auch ein Diskriminierungsverbot ein. Maßstab für die Ermittlung der Beitragshöhe ist dabei das Einkommen 108 und nicht das zu versichernde Risiko. Folglich sind Risikozuschläge, die individuelle Merkmale wie Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen hervorheben, auszugrenzen. Das zentrale verteilungspolitische Instrumentarium von Gesundheitsleistungen ist die individuelle Bedüiftigkeit und nicht die individuelle Zahlungsfähigkeit. Gleiche Bedürftigkeit führt folglich immer auch zur Gewährung einer medizinischen Gleichbehandlung. Somit ist Egalität bzw. Chancengleichheit ein konstitutives Element für die Strukturlogik der Grundversicherung. Unabhängig von individuellen Merkmalen wird allen, die die Gesundheitsversorgung benötigen, eine solche auch gewährt. Ohne das Prinzip der Con-Solidarität ist diese Versichertengemeinschaft nicht funktionsfähig. Nur unter der Voraussetzung, dass die Versicherten con-solidarisch miteinander verbunden sind, kommt das Umlageverfahren zur Anwendung, so dass eine soziale Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und Alten, Ledigen und Verheirateten mit Kindern stattfindet. 109 Innerhalb der Grundversorgung wird man allerdings auf Zuzahlungen, also Selbstbeteiligung, für bestimmte Leistungen und Gesundheitsgüter (Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel) nicht ganz verzichten können. Auch im Rahmen des hier vorgestellten Modells spielt die Übernahme von Selbstverantwortung, die die Solidargemeinschaft entlastet, eine zentrale Rolle. Solidarität und Eigenverantwortung sind in diesem Sinne keine Gegenbegriffe. Gesundheitsbewusstsein und Sensibilität für die eigene Gesundheit können zudem erst dann bei den Patienten/Versicherten entstehen, wenn sie merken, dass Gesundheit nicht umsonst zu haben ist, sondern etwas kostet. In dem hier beschriebenen Modell wird deutlich, dass der Staat in den Gesundheitssektor im Sinne der gesetzlich garantierten Gesundheitssicherung eingreift. Aufgrund der in dieser Arbeit immer wieder genannten Probleme, die eine reine Marktsteuerung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgütern nicht sinnvoll erscheinen lässt, sind staatliche Eingriffe in die 108 Zu überlegen ist jedoch, ob nicht auch andere Finanzquellen (z. B. Mieteinkommen) als nur das Arbeitseinkommen Berücksichtigung finden sollten. 109 Zur solidarisch organisierten Grundversorgung nimmt das Positionspapier der evangelischen Kirche in folgender Leitlinie Stellung: "Die Gesundheitspolitik sichert eine Grundversorgung für alle im Rahmen eines obligatorischen solidarischen Versicherungssystems. Eine solche Solidargemeinschaft ist notwendig und ethisch begründet, weil die Lebensrisiken für den einzelnen nicht voraussehbar, unverschuldete Ungleichheiten zum Teil auszugleichen und Beeinträchtigungen der Gesundheit des einzelnen nie vollständig bestimmbar sind. Endlich basiert die Forderung nach Solidarität auf der einfachen Regel, daß in der Not Hilfe geboten ist. Die Solidarität betrifft verschiedene Ebenen und Bereiche: Solidarität zwischen Begüterten und weniger Begüterten, zwischen jung und alt, zwischen gesund und krank; endlich zielt sie auch auf interregionalen Ausgleich." Vgl. Mündigkeit und Solidarität, 61.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

279

Gestaltung des Gesundheitswesens bis zu einem gewissen Grad notwendig. Der solidarische Gedanke als Kernelement und als rahmengebende Ordnung eines Gesundheitswesens muss erhalten bleiben. Einerseits ist nämlich ein solidarisches Gesundheitssystem eine gesellschaftspolitische Investition in den sozialen Frieden, und andererseits ist es auch eine ökonomische Investition in die Funktions- und Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. l1o Prozesse der gesellschaftlichen Umverteilung im Sinne des Solidarprinzips schaffen einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Aber nur gesunde Menschen sind in einem Wirtschaftssystem auch leistungsfähig und können zum Wohlstand für alle beitragen.!!! (2) Bei diesem bis jetzt skizzierten gestuften System wird allerdings der Gedanke

der Solidarität ebenso wenig in seiner Totalität eingelöst wie innerhalb des bestehenden GKV-Sysems. Da bestimmte Bürger und Bürgerinnen - freilich auf einer gesetzlichen Basis - von der Möglichkeit Gebrauch machen können, einer privaten Krankenversicherungsgesellschaft beizutreten, entziehen sie sich der Solidargemeinschaft. Eine funktionsfähige Solidargemeinschaft im Rahmen eines nationalen Gesundheitssystems sollte aber möglichst groß seinY2 Das Problem der zwei unterschiedlichen Versicherungssysteme wird man nur schwerlich lösen können. Die historisch gewachsenen Strukturen der PKV, die einer auf Gewinn basierenden Unternehmensstrategie folgen, kann man politisch nicht ohne weiteres zerschlagen oder in eine andere Organisationsform überführen. Aus der Perspektive der im Personprinzip wurzelnden Egalität stellt die Differenzierung in GKV und PKV aber ein Gerechtigkeitsproblem dar. Zwar entspricht die PKV der Idee der Leistungs- und Tauschgerechtigkeit, doch wird damit ein System der ungleichen Verteilung von Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgütern fundamentiert. Wenn beispielsweise ein kollektives Versicherungssystem den Versicherten bestimmte lebensnotwendige Leistungen (z. B. kostenintensive Operationen bzw. Behandlungen) oder innovative, schmerzlindernde Arzneimittel vorenthält, da diese nicht im gesetzlichen Leistungskatalog enthalten sind, aber solche Leistungen und Güter den Mitgliedern einer privaten Versicherungsgesellschaft problemlos offen stehen, verstößt ein solches gegliedertes Gesundheitswesen gegen die Bedürfnisgerechtigkeit. Zwei Möglichkeiten sind zu skizzieren, wie Strukturveränderungen im Rahmen der PKV implementiert werden könnten: Zum einen würde - wie bereits ausgeführt - die deutliche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze verhindern, dass Bezieher höherer Einkommen in die PKV abwandern; mit dieser Regelung könnte die Finanzbasis der GKV bzw. - bezogen auf den hier zu diskutierenden Reformvorschlag - der Grundsicherung erhöht und zudem das

Vgl. Schramm, Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, 235. Vgl. Schramm, Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems, 235. 112 Vgl. Strohm, Theodor, Mittelverknappung im Gesundheitswesen. Leistungsträger und Beitragsstabilität auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 41 (1997) 191. HO

HI

280

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

solidarische Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen gefördert werden. Zum anderen könnte ein Solidaritätsbeitrag, der gesetzlich von den privaten Versicherungsgesellschaften eingefordert werden würde, die finanzielle Basis der gesetzlichen Versicherung aufstocken. Eine Solidarzahlung aller Privatversicherten kann als Risikoausgleich insbesondere für den höheren Anteil der kostenintensiven Alten interpretiert werden. Das niederländische Gesundheitssystem, das ebenfalls eine beitragsfinanzierte obligatorische Krankenversicherung sowie eine private Krankenversicherung kennt, hat bereits einen solchen Solidarbeitrag der Privatversicherten eingeführt. ll3 (3) Das bereits mehrfach verbalisierte Hauptproblern im Hinblick auf die Grundversorgung besteht in der Definition der in diesem Rahmen zu gewährenden Leistungen. Die Entscheidung, was zur Basisversorgung gehört und welche Risiken die Bürger und Bürgerinnen mit Hilfe von privaten Zusatzversicherungen absichern sollen, kann weder allein von den Akteuren der Gesundheitspolitik noch von den anderen professionellen Akteuren des Gesundheitswesens getroffen werden. Aufgrund des "transzendentalen Charakters" von Gesundheit sowie der Tatsache, dass alle Gesellschaftsmitglieder medizinische Ressourcen zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit benötigen, ist die Entscheidung über Operationalisierungskriterien nur gesamtgesellschaftlich zu treffen. In einem zu institutionalisierenden Diskursprozess, der diese Frage klärt, sind daher die Versicherten und Patienten - das heißt die Bürger und Bürgerinnen in gebührender Weise zu beteiligen. 114 Der für die Sozialethik in den letzten Jahren wichtig gewordene Gedanke der Beteiligungsgerechtigkeit mahnt gesellschaftliche Partizipation als Teil der sozialen Gerechtigkeit an. Für das Gesundheitswesen gilt daher, dass nicht nur die Gesundheitsexperten den Gesundheitsbereich strukturell gestalten sollen, sondern darüber hinaus den eigentlich Betroffenen ausreichende Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden müssen. Nur durch den Aufbau eines institutionellen Forums erhalten die im Gesundheitswesen oftmals Stimmlosen eine aktiv-partizipative Chance, ihre Interessen einzubringen. ,,Nur wenn die Menschen als Bürgerinnen und Bürger, als Patienten und Patientinnen und schließlich als Versicherte den Eindruck gewinnen, dass sie in die gravierende Folgen nach sich ziehenden Entscheidungsprozesse der Priorisierung eingebunden sind, werden sie sie mittragen und wird die Politik- und Staatsverdrossenheit nicht (noch mehr) steigen."1l5 Aus dem bisher Gesagten lässt sich ein Szenario aufzeigen, das den Diskurs über die Zukunft des Gesundheitswesens in den Mittelpunkt stellt. In Anlehnung an den Konsultationsprozess der Kirchen in Deutschland ist ein 1I3 Vgl. Baur / Heimer / Wieseier, Gesundheitssysteme und Reformansätze im internationalen Vergleich, 82. 114 V gl. Dabrock, Peter, Menschenbilder und Priorisierung, in: Vögele, Wolfgang / Dörries, Andrea (Hrsg.), Menschenbilder in Theologie und Medizin. Fachsymposium zum interdisziplinären Dialog, Rehburg-Loccum 22001, 195/196. 115 Dabrock, Menschenbilder und Priorisierung, 193.

H. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

281

analoger Diskussionsprozess auch für die Probleme der Gesundheitsversorgung denkbar. Der Konsultationsprozess richtete sich damals nicht nur an Experten aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Gewerkschaften, sondern insbesondere auch an alle Betroffenen, die mit den erörterten sozialen Problemen zu tun hatten. 116 Orientiert man sich am kirchlichen Konsultationsprozess, so könnten die einzelnen Prozessphasen im Hinblick auf den Diskurs über die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens wie folgt aussehen: 117 (I) Eine kleine Arbeitsgruppe aus Politikern / Politikerinnen, Vertretern / Vertreterinnen der Krankenkassen und Ärzteschaft sowie vor allem der Laien- und Selbsthilfeorganisationen erstellt ein erstes Thesenpapier, das mögliche Modelle der Gesundheitssicherung diskutiert und die Priorisierungsfrage stellt. Damit die Position der Patienten in gebührend starker Form vertreten wird, kann zusätzlich ein "Patientenanwalt" beispielsweise aus der Wissenschaft benannt werden. Da die Politik den Rahmen für das Gesundheitswesen setzt, ist dieser Diskussionsprozess beim Bundesgesundheitsministerium anzusiedeln. Das Ministerium soll die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen. (2) Das Thesenpapier wird im Rahmen einer größeren Tagung diskutiert. An dieser sollen möglichst alle Akteure und Interessengruppen, die von Veränderungen im Gesundheitswesen betroffen sind, teilnehmen. Hierzu sind Vertreter / Vertreterinnen aus folgenden Bereichen einzuladen: Gesundheitsdienstberufe, Krankenkassen, Gewerkschaften, Patientenvertretung, Kirchen, Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Gesundheitsökonomik, Sozialwissenschaften, Ethik. (3) Die wesentlichen Ergebnisse der auf diesem Treffen geführten Diskussion werden von einer Koordinierungsgruppe zusammengefasst, die auch die "Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess" erstellt. Mit dieser Diskussionsgrundlage ergeht an alle Akteure des Gesundheitswesens, an alle Bürger und Bürgerinnen die Aufforderung, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Das Diskussionspapier liegt dazu in allen Arztpraxen, Apotheken, Gesundheitsämtern, öffentlichen Einrichtungen (Bürgerläden) aus. Es enthält u. a. einen ausführlichen Fragebogen, der Aussagen über die zu diskutierende Prioritätensetzung erhebt. (4) Eingaben und Fragebögen werden bei einer Clearing-Stelle gesammelt und ausgewertet; eine solche ist beim Bundesgesundheitsministerium zu schaffen, wodurch die besondere gesundheitspolitische Verantwortung des Konsultationsprozesses deutlich wird. 116 Diese Überlegung verdanke ich Ulrike Kostka. Die Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess drückt die besondere Partizipation der Betroffenen mit folgenden Worten aus: "Ein besonderes Augenmerk muß den Menschen in unserem Lande gelten, die als Betroffene vor Schwierigkeiten stehen, die mit Belastungen leben müssen und besorgt über die Zukunft unseres Landes sind. Sie sollten sich so weit wie möglich aktiv an dem Gespräch beteiligen." Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 6. 117 Vgl. zu dem Ablauf des Konsultationsprozesses Sikora, Joachiml Jünemann, Elisabeth, Der Weg ist das Ziel. Planung und Verlauf des Konsultationsprozesses für ein sozialpolitisches Wort der Kirchen, in: Stimmen der Zeit 214 (1996) 777 -786.

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

282

Der Ertrag eines solchen breit angelegten Diskussionsprozesses, der die Probleme im Gesundheitswesen beschreibt, beurteilt und mit geeigneten Vorschlägen zu lösen sucht, liegt darin, dass ein Bild darüber gewonnen wird, welche Vorstellungen und Wünsche die Gesellschaftsrnitglieder hinsichtlich der Gesundheitsversorgung haben. Weiterhin kann ein gesellschaftlicher Diskurs dazu beitragen, dass das Gesundheitsthema in den Fokus der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung rückt und die Bürger und Bürgerinnen für Fragen der Gesundheitsversorgung in besonderer Weise sensibilisiert werden. (4) An dieser Stelle kann kein detaillierter Katalog über Leistungen der Grundversorgung vorgestellt werden. Diesen müssen die Beteiligten im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses erarbeiten. Die zentralen Fragen im Hinblick auf ein duales Gesundheitssicherungssystem lauten: Welche Leistungen müssen von der Solidargemeinschaft getragen werden? Was kann in den Bereich der Eigenverantwortung im Sinne einer Individualversicherung gelegt werden? Einige grundlegende Leitlinien sollen hier allerdings vorgestellt werden: Eine Grundversorgung muss Unfälle und medizinische Notfälle abdecken. Bei einer Priorisierungsentscheidung stehen also "akute lebensbedrohliche Störungen,,118 an oberster Stelle. Weiterhin müssten in die Basisversorgung der Versicherungsschutz für chronische Erkrankungen, pädiatrische und psychiatrische Erkrankungen 119 sowie Schwangerenversorgung und Geburtshilfe aufgenommen werden. 120 Dabrock gibt als ein eher formal gedachtes Operationalisierungskriterium für eine notwenige Versorgung an, dass "diejenigen Krankheiten und Gesundheitsstörungen vorrangig behandelt werden, die die Fähigkeit zu einer (möglichst langfristigen) eigenverantwortlich-integralen Lebensführung (zum Zweck der Teilnahmemöglichkeit an sozialer Kommunikation) am gravierendsten hindem.,,121 Für ihn steht daher der Gedanke der Befähigungsgerechtigkeit im Kontext von Priorisierungsentscheidungen an zentraler Stelle. Die medizinische Versorgung ist so zu gestalten, dass Menschen befahigt werden, am Leben eigenverantwortlich teilnehmen zu können. 122 Bei dem genannten Operationalisierungskriterium von Dabrock handelt es sich um eine positive Leistungsdefinition. Weiter können - um ein negatives Leistungskriterium anzuführen - versicherungsfremde Leistungen aus der Grundversorgung ausgegrenzt werden. Bereits der Sachverständigenrat für die Konzertierte 118 119

fallen.

Dabrock, Capability und Decent Minimum, 208. Eine tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie würde allerdings hierunter nicht

120 Vgl. Nederegger, Georg u. a., Zukunft des gesetzlichen Krankenwesens in Deutschland: von der Budgetierung zur wert- und leistungsorientierten Gesundheitsversorgung, in: Salfeld, Rainer/Wettke, Jürgen (Hrsg.), Die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens. Perspektiven und Konzepte, Berlin u. a. 2001, 88. 121 Dabrock, Capability und Decent Minimum, 208. 122 Vgl. Dabrock, Capability und Decent Minimum, 209; Dabrock, Menschenbilder und Priorisierung, 189 - 192.

H. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

283

Aktion im Gesundheitswesen hat sich in seinem Sondergutachten 1995 dafür ausgesprochen, dass solche Leistungen aus dem Katalog der GKVausgelagert und von anderen Trägem übernommen werden sollen. 123 Festzuhalten bleibt, dass bei einer Priorisierung von Gesundheitsleistungen keine existentielle Gesundheitsgefährdung der Bürger und Bürgerinnen eintreten darf. Wahrend in Deutschland bislang noch keine gesellschaftliche Diskussion über eine Prioritätensetzung im Rahmen der Gesundheitsversorgung geführt wurde und eine solche Politik und Gesellschaft herausfordernde Debatte absolutes Neuland bedeutet,124 haben andere Länder eine solche öffentliche Auseinandersetzung bereits hinter sich. Im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon wurde unter Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen Mitte der 1980er-Jahre darüber diskutiert, welche Leistungen im Versicherungssystem Medicaid 125 finanziert werden sollen. 126 Auch innerhalb der niederländischen Gesundheitssicherung - ein Krankenversicherungsmodell, das dem deutschen sehr ähnlich ist - hat ein solcher Diskussionsprozess in den 1990er-Jahren stattgefunden. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission "Choices in Health Care" sollte die Frage untersuchen, welche medizinischen Leistungen zur kollektiven Grundversorgung gehören und welche darüber hinaus in die Hand der Einzelnen gelegt werden können. Dabei betonte die Kommission, dass eine Entscheidung über die Grundversorgung eine öffentliche Diskussion erfordere und vom Parlament normiert werden müsse. 127 Das Basiskriterium der Grundversorgung heißt Necessary care und umfasst alle medizinischen Leistungen, die notwendig sind, damit Patienten ein normales gesellschaftlichen Leben führen können. 128 Dieses Kriterium umschreibt in etwa das von Dabrock formulierte formale Operationalisierungsmerkmal. (5) Damit sich Patienten/Versicherte im Kontext eines dualen Gesundheitssicherungswesens für verschiedene private Krankenversicherungen, individuell zu123 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995,60. 124 Vgl. Schmidt, Mehr Markt und Wettbewerb, 10/ 1l. 125 Medicaid ist ein soziales Krankenversicherungssystem, das die Gesundheitsversorgung allein der besonders Bedürftigen (Armen) absichert. Die US-amerikanischen Bundesstaaten müssen zwar Mindeststandards einhalten, sind aber bei der Leistungsgewährung bzw. bei der Festlegung der Einkommensobergrenze flexibel. Das System wird je zur Hälfte von den Bundesstaaten und dem Bund finanziert. (Medicare hingegen sorgt sich hauptsächlich um die Gesundheitsversorgung der über 65-Jährigen.) Vgl. Baur / Heimer / Wieseler, Gesundheitssysteme und Reformansätze im internationalen Vergleich, 110/ 111. 126 Vgl. Fleischhauer, Kurt, Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung - ein Blick über die Grenzen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2 (1997) 138-142. 127 Vgl. Fleischhauer, Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung, 143. 128 Vgl. Fleischhauer, Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung, 144.

284

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

sammenstellbare Versicherungsangebote, bestimmte Wahl tarife oder auch Behandlungsmethoden entscheiden können, sind sie auf ausreichende Informationen und Leistungsvergleiche angewiesen. Solange die Akteure - und damit sind wiederum alle Akteure gemeint - des Gesundheitswesens keine Struktur aufbauen, die den Bürgern und Bürgerinnen in einem institutionalisierten Organisationsrahmen die nötigen medizinischen Kompetenzen vermittelt, bleibt ein solches System ethisch defizitär. Aus diesem Grund gilt als vorrangige Aufgabe der Akteure des Gesundheitswesens die Kompetenzförderung innerhalb sozialer Gebilde. Die Forderung nach Stärkung der Eigenverantwortung kann in einem so komplexen System, wie es das gestufte Sicherungsmodell darstellt, nur institutionell eingelöst werden. Ein in der Rahmenordnung des Gesundheitswesens fest verankertes Beratungs- und Aufklärungssystem kann institutionell dazu beitragen, dass Eigenverantwortung übernommen wird. Die Anleitung zur Kompetenz und die Förderung der Entscheidungspartizipation können als sozialethische Postulate verstanden werden. Eigenverantwortung ist erst dann gerecht und ethisch zu begrüßen, wenn die Handlungssubjekte dazu auch institutionell befähigt sind. Ein zu forderndes Beratungs- und Aufklärungssystem sollte zunächst möglichst unabhängig sein. Denkbar ist die Etablierung solcher Organisationen bei den Gesundheitsämtern, da man somit auf eine bereits bestehende Infrastruktur zurückgreifen kann. Da der Erhalt der Gesundheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sollten alle Akteure des Gesundheitswesens, also der Staat, die gesetzlichen sowie privaten Versicherungen, die Vertreter der Ärzteschaft und der pharmazeutischen Industrie, ein solches System finanzieren. Die finanzielle Beteiligung aller Akteure ist ethisch aus dem Grund zu legitimieren, da die Akteure selbst ein Interesse daran haben, dass ihre Leistungen und Güter nachgefragt werden. Zudem steht im Mittelpunkt des Gesundheitswesens das Wohl des Patienten, dem sich alle Akteure schließlich verpflichtet fühlen müssen. (6) Der Gedanke der Subsidiarität darf in einem System der dualen Gesundheitssicherung nicht fehlen und sollte auch hier institutionalisiert werden. Im Mittelpunkt des Subsidiaritätsprinzips stehen das Kompetenzanmaßungsverbot und das Hilfestellungsgebot. Da die Grundversorgung im Rahmen des dualen Versicherungsmodells gemäß dem GKV-System zu organisieren ist, bleiben die dezentrale und die plurale Organisation des Versicherungswesens sowie die Selbstverwaltung der Versicherungsträger erhalten. Weiterhin betont das duale Krankenversicherungssystem die private Eigenversorgung, was die Kompetenz der Patienten / Versicherten ins Zentrum rückt. Allerdings benötigen Patienten / Versicherte unterschiedliche Formen der institutionellen Hilfestellungen - wie sie im vorliegenden Kapitel aufgezeigt worden sind -, so dass sie sich eigenverantwortlich im "Dschungel" der Marktangebote zurecht finden und Versicherungsleistungen wählen können. Das hier diskutierte Grund- und Wahlleistungsmodell der Krankenversicherung ist von seiner Struktur vergleichbar mit dem Reformmodell der Rentenversiche-

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

285

rung (so genannte Riester-Rente). Aufgrund der demographischen Veränderungen wird eine Modifikation des bisherigen Rentenversicherungssystems notwendig. Die Riester-Rente sieht vor, dass zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung, die nach wie vor auf dem Generationenvertrag aufbaut und in diesem Sinne eine intergenerationelle Umschichtung finanzieller Ressourcen bedeutet, ein System der privaten Altersvorsorge institutionalisiert wird, das künftig verstärkt steuerlich gefördert werden soll. 129 Im Rahmen der zusätzlichen Eigenversorgung werden alle Pflichtmitglieder und deren Ehepartner der gesetzlichen Rentenversicherung gefördert. 13o Eine freiwillige kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzt somit die gesetzliche Rente. Nach dem herkömmlichen Rentenmodell besteht die Alterssicherung auch aus einem privaten bzw. betrieblichen Zusatzsystem, ohne dass jedoch der Staat für diese Systeme (zweite und dritte Säule der Alterssicherung) eine staatliche Förderung vorsieht. Während die zugrunde liegende Struktur des dualen Rentenversicherungsmodells mit dem dualen System der Krankenversicherung vergleichbar ist (kollektives System plus privater Eigenvorsorge), sind die Grundprinzipien der beiden gesetzlichen Sozialversicherungsformen unterschiedlich. Hinter der gesetzlichen Rentenversicherung stehen sowohl das Solidaritäts- als auch das Äquivalenzprinzip. Die jeweils aktive Generation finanziert - vereinfacht ausgedrückt - mit ihren Beiträgen die Mittel der Renten der nicht mehr im Erwerbsleben Tätigen (intergenerationelle Solidarität). Die gewährte Rente ist aber nicht für alle identisch, sondern bemisst sich nach der Höhe der Beitragsleistungen sowie der Dauer der versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. 13l In diesem Sinne besteht eine Äquivalenzbeziehung zwischen Anzahl und Höhe der Beitragsleistungen auf der einen und der Höhe der jeweiligen Rentenzahlung auf der anderen Seite. Je höher also die zurückliegende Leistung, desto höher fällt auch die individuelle Rente aus. Der gesetzlichen Rentenversicherung liegt folglich die Leistungsgerechtigkeit zugrunde. Hingegen folgt die Leistungsgewährung im System der GKV der Bedürfnisgerechtigkeit, da nicht die Höhe der Beitragszahlungen über die Art der Gesundheitsversorgung entscheidet, sondern allein der persönliche Krankheitszustand. 132 5. Ethische Folgerung: Stärkung der Versichertenund Patientenposition

Die strukturelle Befähigung, sich in einem Versicherungssystem mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten zurecht zu finden, umfasst die grundsätzliche Fähigkeit, 129 Vgl. Der Überblick zur neuen Rente. Oder wissen Sie schon alles?, hrsg. vorn Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Berlin 200 I. 130 Die Riester-Rente fördert hingegen nicht die Beamten/Beamtinnen und alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit der Zusage für eine Gesamtversorgung. 131 Vgl. Bäcker; Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2. Bd., 266/267. 132 Leistungsgerechtigkeit im System der GKV ist nur im Hinblick auf das Krankengeld vorgesehen, da dieses von der Höhe des Bruttoarbeitseinkornrnens abhängt.

286

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

sich als mündiger Patient und Versicherter im Gesundheitswesen zu bewegen. Es geht aber nicht nur darum, Versicherungsoptionen selbstverantwortlich zu treffen, sondern ebenso seine Rechte als Patient zu kennen und über ein Mindestmaß an Gesundheitswissen zu verfügen, so dass die Individuen ihren Krankheits- bzw. Gesundungsprozess kritisch begleiten können. 133 Das bedeutet: Um als selbstverantwortlicher Patient und "souveräner,,134 Konsument auf dem Gesundheitsmarkt auftreten zu können, ist vielfältiges Wissen notwendig und bedarf es unterschiedlicher institutioneller Unterstützungssysteme. Ärztliche und medizinische Informationen sind - das haben die bisherigen Ausführungen immer wieder deutlich gemacht - für jeden Patienten unverzichtbar, um Eigenverantwortung für den Gesundheitszustand zu übernehmen. Dabei haben Informationen sowohl im präventiven als auch im kurativen oder rehabilitativen Bereich die Funktion, spezifisches Gesundheitswissen zu vermitteln, mit dem gezielt auf individuelle physisch-psychische Vorgänge eingewirkt werden kann. Zur Stärkung der Patientenautonomie zielen Informationsgehalte auf den Aufbau unterschiedlicher Wissensformen. Damit dieses Wissen weiterhin aufgebaut bzw. intensiviert werden kann, sind alle Akteure hierfür in die Pflicht zu nehmen. Die verschiedenen Akteure des Gesundheitswesens können dem Patienten erstens Orientierungswissen an die Hand geben, mit dem er dann verantwortlich Gesundheitsleistungen oder Gesundheitsgüter auswählt. Zweitens sind die Akteure daran beteiligt, instrumentelles Wissen über den Umgang mit therapeutischen Mitteln und gesundheitsfördernden Maßnahmen aufzubauen. Ärztliche Informationsgehalte klären drittens im Behandlungsprozess den Patienten über Diagnose und Eingriff auf und vermitteln somit Wissen im Hinblick auf mögliche Gefahren oder Nebenwirkungen; nur mit diesem Wissen ist er beflihigt, seine informierte Zustimmung ab133 Die gesetzlichen Regelungen, die einerseits Patientenrechte und andererseits Arztpflichten artikulieren, haben wesentlich zur Stärkung der Patientenposition beigetragen. Patientenrechte und Arztpflichten sind aufeinander bezogen und korrespondieren in diesem Sinne miteinander: Patienten haben das Recht auf ärztliche Behandlung, das Recht auf medizinische Informationen (Aufklärung) während der Behandlung, das Recht auf Einsichtnahme in die ärztliche Dokumentation, das Recht auf Vertraulichkeit. In der bereits genannten Charta der Gesundheitsministerkonferenz kommen die genannten Patientenrechte ausführlich zur Sprache. Das Recht auf Information wird beispielsweise wie folgt umschrieben: "Patienten haben ein Recht, in einem persönlichen Gespräch von ihrem Arzt vor der Behandlung verständlich, sachkundig und angemessen aufgeklärt und beraten zu werden. Dies umfasst je nach Erkrankung: die geeignete Vorbeugung, die Diagnose, Nutzen und Risiken diagnostischer Maßnahmen, Nutzen und Risiken der Behandlung sowie der zur Anwendung kommenden Arzneimittel und Medizinprodukte, Chancen der Behandlung im Vergleich zum Krankheitsverlauf ohne Behandlung, die Behandlung der Erkrankung und ihre Alternativen, soweit sie mit unterschiedlichen Risiken verbunden sind, Nutzen und Risiken der Behandlung sowie eine eventuell erforderliche Nachbehandlung." Rechte für Patientinnen und Patienten, 8. 134 Auch wenn hier davon ausgegangen wird, dass Patienten und Versicherte zumindest in Grundzügen über Konsumentensouveränität verfügen, darf man nicht vergessen, dass diese aufgrund der beschriebenen nicht reinen Markstruktur des Gesundheitswesens eingeschränkt ist.

ll. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

287

zugeben. Schließlich tragen viertens die verschiedenen Patientenrechte zur Patientenmündigkeit bei. Aufgabe der Akteure im Gesundheitssystem ist es, Patienten mit diesem juristischen Spezialwissen in Grundzügen vertraut zu machen. Denn nur wer seine Rechte kennt, wird auch in der Lage sein, diese gegenüber Ärzten I Ärztinnen und Krankenversicherungen selbstbewusst zu artikulieren. Mit der Aufzählung der verschiedenen Wissensformen, die innerhalb des Gesundheitswesens vermittelt werden sollen, wurde angedeutet, dass eine Reihe von Akteuren diese Aufgaben zu übernehmen haben. Im Folgenden sollen die zuständigen Verantwortungsträger zur Stärkung der Patientenposition genannt werden, die diese Aufgabe zum Teil jetzt schon erfüllen. Zunächst ist die Ärzteschaft gefragt, durch geeignete Informationen das gesundheitsbezogene Wissen ihrer Patienten zu verbessern. Möglich ist, dass die Standesvertretung Informationsbroschüren oder Patientenratgeber - hier können etwa die Patientenrechte erläutert werden - erarbeitet, die dann kostenfrei an die Patienten in den Arztpraxen abgegeben werden. Manche Krankenkassen bieten solche Ratgeber, die zentrale Elemente der medizinischen Versorgung thematisieren, schon seit einiger Zeit ihren Versicherten an. 135 Zur Stärkung des Individuums im Gesundheitswesen ist zu fordern, dass solche Publikationen von möglichst vielen Akteuren zur Verfügung gestellt und flächendeckend verteilt werden. Weiterhin sind die Verbraucherorganisationen zu nennen, die als unabhängige Beratungsinstanzen weitreichende Verbraucherinformationen u. a. auch zum Thema Gesundheit anbieten. 136 Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung trägt mit ihren zur Verfügung gestellten Informationen zur Sensibilisierung von gesundheitsrelevanten Themen bei. 137 Verantwortung im Hinblick auf die Stärkung der Verbraucherposition haben ferner die gewinnorientierten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie. Mit ihren Marketingstrategien erfüllen sie das Informationsbedürfnis der Konsumenten. Allerdings ist zu fordern, dass sich die Unternehmen an die wettbewerbliche Rahmenordnung halten und unlautere Wettbewerbshandlungen, die den Verbrauchern schaden, unterlassen. 13S Mit verbraucherfreundlichen Informationen, die Orientierungswissen auf \35 Die Techniker-Krankenkasse hat eine Broschüre mit dem Titel "Der informierte Patient. Der Weg zu einer erfolgreichen Behandlung" zusammengestellt. In dieser werden den Versicherten allgemeine Ratschläge zum Arztbesuch, Krankenhausaufenthalt, zur Medikation und Vorsorge vermittelt. Vgl. Techniker-Krankenkasse (Hrsg.), Der informierte Patient. Der Weg zu einer erfolgreichen Behandlung, Hamburg 1999. Diese Informationsschrift ist auch online verfügbar [http://www.tk-online.de (Stand: 05. 09. 2(02)]. 136 Auf der hompage der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (neuer Name: Verbraucherzentrale Bundesverband) finden sich zahlreiche Informationen zum Patientenschutz und zu Gesundheitsdienstleistungen. Vgl. http://www.agv.de/politik.htm (Stand: 18. 09. 2(01). Die Verbraucherzentrale Bundesverband, eine gemeinnützige und parteipolitisch neutrale Einrichtung, finanziert ihre Arbeit aus Mitteln des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie aus Einnahmen aus dem Verkauf von Publikationen und Projektmitteln. Indem die Verbraucherberatung vom Staat finanziell getragen wird, ergänzt Verbraucherpolitik die Rahmenordnung und trägt zur Verbesserung der Konsumentenrolle bei. 137 Vgl. http://www.bzga.de (Stand: 05. 09. 2(02).

288

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

dem unübersichtlichen Selbstmedikationsmarkt vermitteln, können die pharmazeutischen Unternehmen zudem Verantwortung übernehmen und zur Transparenz beitragen. 139 Sicherlich erfüllen auch die Apotheken und die dort ausliegenden Schriften wichtige Beratungs- und Informationsfunktionen. Allerdings ist der von Dieter Litz (Apotheker und Gesundheitswissenschaftler) eingebrachte Vorschlag, nach dem mit Hilfe einer elektronischen Erfassung der Arzneimittelprodukte eine bessere Betreuung erzielt werden soll, kritisch zu sehen. 140 Eine Medikationsdatei soll - nach Litz - Informationen über alle vom Verbraucher konsumierten Apothekenprodukte verschaffen, um Arzneimittelinteraktionen oder Medikamentenfehlgebrauch festzustellen. Hierfür ist allerdings eine lückenlose Datei erforderlich, die nur dann aufgestellt werden kann, wenn der Verbraucher immer die gleiche Apotheke aufsucht. 141 Mit diesem Vorschlag sind nicht nur Datenschutzprobleme, sondern auch Wettbewerbsprobleme verbunden. Eine Apotheke, die eine solche Kundenkartei monopolistisch verwaltet, würde eine marktwirtschaftliche Orientierung des Verbrauchers erschweren. Sowohl der Arzt- als auch der Apothekenwechsel sollten als Ausdruck freiheitlicher Optionen im Gesundheitswesen konstitutiv sein. In den letzten Jahren haben die Patienteninformationen auf dem Gesundheitsmarkt im großen Umfang zugenommen. Neben einem breit gefächerten Buch- und Zeitschriftenangebot 142 spielt vor allem auch das Internet mit seinen zahlreichen informativen Gehalten eine immer größere Rolle. 143 Für die Gesundheitskonsumenten stellt sich die Frage, wie man aus dem Überangebot qualitätsvolle und seriöse Informationen herausfiltern kann. Seit einigen Jahren haben unterschiedliche Informationsdienste Kriterien erarbeitet, die besonders dem Laien einen Leitfaden zur Beurteilung von medial verbreiteten Gesundheitsinformationen an die 138 Vgl. zu den werbeethischen Orientierungsmustern innerhalb des Gesundheitswesens Kap. E.III. 139 Das Unternehmen ratiopharm hat beispielsweise einen Führer über Heilpflanzen zusanunengestellt. Vgl. Ratiopharm, Naturtalente aus Ihrer Apotheke, Ulm 0.1. Freilich ist diese Broschüre auch eine Werbemaßnahme und zielt auf den Absatz der Unternehmensprodukte, doch vermitteln solche Schriften immer auch grundsätzliche Wissensinhalte, die letztlich dem Patienten zugute kommen. 140 Vgl. Litz, Dieter, Konsumentenstärkung im Gesundheitswesen. Welchen Beitrag können die Apotheken leisten?, in: Reibnitz, Christine von/Schnabel, Peter-ErnstlHurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim / München 200 1, 299 - 310. 141 Denkbar ist auch, dass die einzelnen Apotheken alle miteinander vernetzt sind und eine Medikationsdatei in diesem Sinne zentral verwaltet wird. Eine solche Möglichkeit zieht Litz aber nicht in Betracht. 142 Vgl. z. B. Zehenter, Christian, Patienten-Ratgeber. Rechte und Selbsthilfe bei Krankheiten, München 2000. 143 An dieser Stelle kann die Homepage des Patienten-Inforrnationsdienstes - einer Einrichtung der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung, der Bundesärztekanuner und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung - als übersichtliches und hilfreiches online-Angebot angeführt werden. Vgl. http://www.patienten-inforrnation.de (Stand: 05. 09. 2002).

II. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

289

Hand geben. l44 Folgende Leitfragen können helfen, die Qualität von Verbraucherbroschüren mit Gesundheitsinformationen zu ermitteln: "Sind die Ziele und Absichten der Publikation klar beschrieben?, Entspricht die Publikation den dargelegten Zielen und Absichten?, Sind die Informationen für den Nutzer wichtig?, Sind die Aussagen nachvollziehbar belegt?, Sind die Informationen aktuell?, Sind die Informationen ausgewogen und unbeeinflusst?, Existieren detaillierte Angaben über zusätzliche Informationsquellen?, Wird besprochen, dass es für bestimmte Fragestellungen keine sicheren Antworten gibt?, Werden die Wirkungsweisen der genannten Behandlungsverfahren beschrieben?, Wird der Nutzen für jede erwähnte Behandlungsoption beschrieben?, Werden die Risiken für jedes genannte Behandlungsverfahren beschrieben?, Werden die möglichen Folgen eines Verzichts auf eine Behandlung genannt?, Werden Auswirkungen von Behandlungsverfahren auf die Lebensqualität beschrieben?, Ist klar dargestellt, dass mehr als ein mögliches Behandlungsverfahren existieren könnte?, Unterstützt die Information eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung (shared decision-making)?,,145 Neben solchen Leitfragen gibt es mittlerweile auch Qualitätskriterien für Gesundheitsinformationen im Internet, wie etwa die HON(Health-on-the-Net)-Kriterien. 146 Damit Mündigkeit und Selbstverantwortung bei den Patienten gestärkt werden können, sind nicht nur institutionelle Unterstützungssysteme, wie sie in groben Umrissen beschrieben worden sind, nötig, sondern auch Maßnahmen, die die Transparenz des Gesundheitswesens ermöglichen. In seiner gegenwärtigen Ausprägung ist das Gesundheitswesen hinsichtlich der GKV nicht in der Lage, ein grundlegendes Kostenbewusstsein bei den Patienten und Versicherten zu fördern. Die Patienten, die einen Arzt! eine Ärztin aufsuchen, legen zunächst ihre Versichertenkarte vor. Dadurch sind sie berechtigt, medizinische Dienste in Anspruch zu nehmen. Da aber die entstandenen Kosten nicht direkt über die Konsumenten abgerechnet werden, sondern über die Kassenärztlichen Vereinigungen, erfahren die Patienten nichts über die individuellen Kosten ihrer Behandlungen. Folglich hat sich ein System etabliert, das den Eindruck vermittelt, dass die Leistungen quasi umsonst zu haben sind. Lediglich die vom Einkommen abgezogenen Versicherungsbeiträge bzw. die im geringen Umfang zu tragenden Selbstkosten bei Medikamenten, Heilmitteln oder bestimmten Sonderbehandlungen verweisen darauf, dass Gesundheit auch etwas kostet. 147 Die Umstellung vom Sachleistungsprinzip 144 Vgl. Dierks, Marie-Luise / Schwartz, Friedrich W. / WalteT; Ulla, Konsumenteninfonnation und Patientensouveränität, in: Reibnitz, Christine von/Schnabel, Peter-Emst/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim/München 2001, 78. 145 http://www.patienten-infonnation.de (Stand: 05. 09. 2002). Die Leitfragen bauen auf dem in Großbritannien entwickelten so genannten Discem-Instrument auf. Vgl. http://www. discem.de (Stand: 05. 09. 2(02); http://www.discem.org.uk/(Stand: 05. 09. 2002). 146 Vgl. http://www.hon.ch/HONcode/Gennan/(Stand:05.09.2002). 147 Andreas Hoffmann vergleicht das Abrechnungssystem im deutschen Gesundheitswesen mit einem Restaurantbesuch: "Stellen Sie sich vor, Sie kämen in ein Restaurant und der Oberkellner entscheidet, was Sie essen und wie oft Sie wiederkommen dürfen. Sie erhal-

19 Bohrmann

290

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

zum Kostenerstattungsprinzip könnte zu einem neuen Kostenbewusstsein und zu einem sensibleren Umgang mit Gesundheitsleistungen führen. 148 Bislang wird die Kostenerstattung nach dem Vorbild des Abrechnungssystems der PKV nur bei den freiwillig Versicherten sowie deren mitversicherten Familienangehörigen der GKV per Gesetz ermöglicht. 149 Ein neues Abrechnungsverfahren wird sicherlich bei den Versicherten und der Ärzteschaft einen größeren Aufwand mit sich bringen: Das Praxisteam muss ärztliche Rechnungen ausstellen und diese an die Patienten verschicken; die Patienten müssen in Vorzahlung treten und die Rechnungen dann an ihre Krankenkassen weiterleiten. 15o Doch kann sich dieser Mehraufwand auszahlen. Auf der Versichertenseite führt das Kostenerstattungsprinzip zu einem neuen Kostenbewusstsein, und auf der Anbieterseite kann mit diesem Verfahren dem immer wieder vorkommenden Kostenbetrug einzelner Ärzte und Ärztinnen begegnet werden. Indem nämlich die Patienten Rechnungen ihrer Ärzte und Ärztinnen erhalten, bekommen sie automatisch die Gelegenheit zur Kostenkontrolle. Das Kostenerstattungsprinzip ermöglicht darüber hinaus auch den Krankenkassen eine Überprüfung von extrem hohen oder unplausiblen Rechnungen. 151 Obwohl das Bundesgesundheitsministerium ein neues Datentransparenzgesetz zur besseren Überprüfung ärztlicher Dienstleistungen einführen möchte, wird in der geplanten Bestimmung der Gedanke der Kostenerstattung nicht erwähnt. 152 Der hier postulierte Wechsel vom Sachleistungsprinzip zum Kostenerstattungsprinzip sollte somit als konstitutives Abrechnungselement Eingang finden in ein duales Versicherungssystem (bestehend aus Grundversorgung und privater Zusatzversorgung), da eine Stärkung der Transparenz wesentlich zur Stärkung der Patientenposition beiträgt. Die erörterten ethischen Analysen und Vorschläge haben deutlich gemacht, dass die Stärkung der Versicherten- und Patientenposition eine Aufgabe ist, die von allen Akteuren des Gesundheitswesens erfüllt werden soll. In diesem Sinne erstreckt sich die Verantwortung nicht allein auf einen einzigen Funktionsbereich. Da der Patient! Versicherte im Mittelpunkt des Gesundheitssystems steht, sind alle Akteuten auch keine Rechnung, sondern die bekommt ihr Arbeitgeber. Der weiß aber nicht, was Sie speziell gegessen haben, und ob es überhaupt geschmeckt hat. Der Arbeitgeber erfährt nur, was alle seine Beschäftigten in dem Restaurant gegessen haben." Hoffmann, Andreas, Doktor im Zwielicht, in: Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 2001, 21. 148 Zu diesem Ergebnis kommt auch das gesundheitspolitische Papier der evangelischen Kirche. Vgl. Mündigkeit und Solidarität, 69. Auch der Wirtschafts- und Sozialstatistiker Walter Krämer favorisiert das Kostenerstattungsprinzip für die GKV. Vgl. Krämer, Walter, Die Krankheit des Gesundheitswesens. Die Fortschrittsfalle der modemen Medizin, Frankfurt a.M. 1989,240/241. 149 Vgl. § 13 Abs. 2 SGB V. 150 Gegebenenfalls können die Patienten bei einer ausreichend bemessenen gesetzlich vorgeschriebenen Zahlungsfrist die Rechnungen auch erst dann begleichen, wenn die Krankenkasse die Beträge überwiesen hat. 151 Vgl. Klas, Gestaltungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen, 225. 152 Vgl. Harte Zeiten für betrügerische Ärzte, in: Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 2001, 21.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

291

re mit ihren unterschiedlichen Handlungsfeldern gleichsam verpflichtet, institutionelle Unterstützung anzubieten, mit der eigenverantwortliche Optionen im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung bzw. -sicherung getroffen werden können. 6. Ethische Folgerung: Wettbewerbsstrukturen zulassen

Es wurde in dieser Studie bereits verdeutlicht, dass die Bedingungen für den idealtypischen Wettbewerb (Produktions- und Konsumfreiheit, freier Marktzugang, Pluralität der Marktteilnehmer, Markttransparenz) im Gesundheitswesen in nur sehr beschränkter Weise anzutreffen sind. Man könnte jetzt verlangen, dass die idealtypischen Vorraussetzungen für einen gelingenden Wettbewerb geschaffen werden müssten, damit die positiven Effekte, die der Markt mit sich bringt, erzielt werden. Eingeschränkte Konsumentensouveränität, Anbieterdominanz, nicht vorhandener Marktpreis im Hinblick auf Gesundheitsleistungen und -güter, asymmetrische Verhältnisse zwischen Produzenten und Konsumenten, intransparente Strukturen etc. machen es sowohl für Anbieter als auch Nachfrager jedoch schwer, als echte Marktteilnehmer aufzutreten und marktwirtschaftliche Tauschprozesse zu vollziehen. Der Gesundheitsmarkt versagt hier aufgrund seiner inhärenten Logik. Es ist aber gar nicht erstrebenswert, eine vollkommene Marktstruktur für das Gesundheitswesen zu schaffen, wie die oben entfaltete Argumentation von Kersting gezeigt hat. Allerdings ist zu fragen, an welchen Stellen des Gesundheitswesens man stärker Wettbewerbselemente implementieren soll, um positive Effekte erzielen zu können. Auf der Basis der entwickelten Aussagen über die ethische Qualität der Marktwirtschaft sind die durch den Wettbewerb geschaffenen Anreize zunächst zu begrüßen, allerdings sind sie im Hinblick auf den besonderen Markt der Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter nur in modifizierter Form zu realisieren. Die leitende Frage, die sich stellt, heißt: Wo können Marktstrukturen im Gesundheitswesen implementiert werden, ohne dass die dem solidarisch organisierten Gesundheitswesen zugrunde liegende Bedürfnisgerechtigkeit, die beim Menschen als Person ansetzt, unterdrückt wird? Nimmt man das bestehende GKV-System in den Blick, erkennt man, dass ein zentraler Wettbewerbsbaustein mit dem Gesundheitsstrukturgesetz bereits eingeführt wurde: die Kassenwahlfreiheit für nahezu alle GKV-Versicherten. 153 Diese gesetzliche Reformbestimmung mit dem kassenübergreifenden Risikostrukturaus153 Vgl. Schäffski, Oliver I Galas, Eckartl Schulenburg, Matthias Graf von der, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, in: Sozialer Fortschritt 45 (1996) 293 -298. Lediglich die Versicherten der Bundesknappschaft, der See-Krankenkasse und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse sind von der Kassenwahlfreiheit ausgenommen. Da diese Versichertengruppe jedoch nur eine Minderheit im System der GKVausmacht, hat diese Einschränkung für die Funktionskraft der sozialen Krankenversicherung kaum Bedeutung. Allenfalls wird die individuelle Wahlfreiheit der genannten Versichertenkreise eingeschränkt. Vgl. SchäffskilGalaslSchulenburg, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, 304.

19*

292

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

gleich kann als gewichtige Neuerung gelten, die die Basis für eine Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen gelegt hat. 154 In dieser Ordnung sollen die Interessen der Versicherten sowie die verbesserte Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung zentrale Positionen einnehmen. 155 Die Freiheit, ihre gesetzliche Krankenkasse wählen zu können, bedeutet für die Versicherten eine Stärkung ihrer Position auf dem GKV-Markt. "Im Unterschied zur alten Rechtslage kann der Versicherte heute eine vermeintlich schlechte Leistung seines Versicherers oder einen als zu hoch empfundenen Beitragssatz sanktionieren, indem er die Krankenkasse verläßt und einer konkurrierenden Kasse beitritt. Diese Fähigkeit zum Nachfragetransfer, die einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung systemimmanent ist, dem Teilsektor GKV jedoch bisher fremd war, zwingt die Krankenkassen zu einem grundlegenden Umdenkungsprozess."156 Aufgrund der neuen Strukturierung des Kassensystems avanciert der Versicherte zumindest in Grundzügen in die Position eines souveränen Verbrauchers, der auf dem Versicherungsmarkt seine Präferenzen zu befriedigen sucht. Für die gesetzlichen Krankenversicherungsgesellschaften bedeutet die neue Situation, dass sie in einen Wettbewerb eintreten, bei dem die entscheidenden Wettbewerbsparameter Beitragssatz, Leistungen und Service sind. 157 Obwohl mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eine neue Situation für Anbieter und Nachfrager entstanden ist, darf die Kassenwahlfreiheit auch nicht überbewertet werden. Da nämlich der Leistungskatalog der einzelnen Versicherungen vom Sozialgesetzbuch und nicht von einer ausdifferenzierten Produktpolitik der Kassen abhängt, handelt es sich nur um einen begrenzten Wettbewerb. 158 Im Leistungsbereich sind dann marktwirtschaftliche Angebote nur im Hinblick auf die Mehrleistungen (Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung), den Beitragssatz und den besonderen Kundendienst möglich. Primär entscheidet jedoch die Höhe des Beitragssatzes über den Kassenwechsel. 159 Damit die Krankenkassen ihre Angebote kommunizieren können, sind sie - wie alle anderen wettbewerbsorientierten Unternehmen auch - auf Marketingstrategien angewiesen. l60 154 VgJ. Cassel, Ordnungspolitische Gestaltung des Gesundheitswesens in der Sozialen Marktwirtschaft, 134; Cassel, Dieter, Organisationsrefonn der GKV. Anspruch und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft 1 (1993) 101-105. 155 V gJ. Gesundheitsbericht für Deutschland, 11. 156 Schöffskil Galas / Schulenburg, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, 297/298. 157 VgJ. Schöffski / Galas / Schulenburg, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, 298/299. 158 VgJ. Becker, Ulrich, Wettbewerb zwischen den öffentlichen Versicherungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: IgI, Gerhard (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung. Wissenschaftliche Tagung des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrecht-Universität Kiel und der AOK Schleswig-Holstein - Die Gesundheitskasse - 25./26. November 1999, Kiel, Wiesbaden 2000, 55/56. 159 VgJ. Becker, Wettbewerb zwischen den öffentlichen Versicherungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 59. 160 VgJ. Schöffski / Galas / Schulenburg, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, 299.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

293

Nach der Einführung einfacher Wettbewerbselemente innerhalb der GKV ist zu fragen, ob sich der Wettbewerb weiterentwickeln kann. Damit sich die Wettbewerbsparameter erweitern und die Versicherten auf ein flexibles Angebot zurückgreifen können, ist die bereits angesprochene Zweiteilung des Versicherungssystems in Grundleistungen und Zuatzleistungen zu empfehlen. Dabei müssen die explizierten Kriterien, die ein duales Gesundheitssicherungsmodell sozialethisch legitimieren, auch in einer Wettbewerbsordnung Berücksichtigung finden. Weil das solidarische Element im Hinblick auf ein kollektives Umlageverfahren und der solidarisch strukturierte bundesweite Risikoausgleich konstitutive Merkmale dieses Systems sind, ist das duale Gesundheitssicherungsmodell als solidarische Wettbewerbsordnung zu bezeichnen. Diese Ordnungsstruktur verbindet die Prinzipien der GKV, also eine kollektiväquivalente Pflichtversicherung, identische Grundversorgung im Krankheitsfall, Kontrahierungszwang, Nichtdiskriminierungsverbot sowie eine einkommensabhängige Beitragszahlung, mit marktwirtschaftlichen Steuerungsmomenten. 161 In einer solidarischen Wettbewerbsordnung spielt vor allem der Risikostrukturausgleich eine wichtige Rolle. Dieser nimmt vom Standpunkt der Sozialethik aus eine ausgleichende Funktion ein und mindert die Gefahr, dass die Kassen um gute Risiken werben, statt gute Leistungen als Wettbewerbsinstrumente einzusetzen. Der echte Risikostrukturausgleich vermeidet risikobedingte Unterschiede und Wettbewerbsverzerrungen der Kassen, ist aber keineswegs als Beitragsnivellierungsinstrument misszuverstehen, das alle Beitragssatzunterschiede ausgleicht. Die Kassen bleiben auch mit Risikoausgleich in der Verantwortung, effizient zu arbeiten und z. B. Verwaltungskosten einzusparen. 162 Neben den genannten Möglichkeiten, Wettbewerbselemente in das Gesundheitswesen einzubauen bzw. weiterzuentwickeln, sollen im Folgenden drei zentrale Vorschläge angeführt werden, die auch in der öffentlichen Diskussion um Strukturreformen einen breiten Raum einnehmen: Flexibilisierung des Vertragsrechts, erweiterte Marktchancen für OTC-Produkte, stärkere Transparenz auf der Seite der ärztlichen Versorgung. (1) Eine weitere Form der Deregulierung und der Implementation von Wettbe-

werbselementen im Gesundheitswesen kann durch eine Flexibilisierung bzw. Pluralisierung des Vertragsrechts erzielt werden. Zur Zeit werden die Verhand-

161 VgJ. Cassel, Ordnungspolitische Gestaltung des Gesundheitswesens in der Sozialen Marktwirtschaft, 140. 162 Die gesundheitspolitische Schrift der evangelischen Kirche nimmt zum Risikostrukturausgleich mit folgenden Worten Stellung: Der Risikostrukturausgleich "gleicht jene Unterschiede in den Beitragssätzen aus, die lediglich durch Unterschiede in der mitgliederbedingten Risikostruktur hervorgerufen werden. Die nach diesem Risikoausgleich verbleibenden Beitragssatzunterschiede dürfen keinesfalls ausgeglichen werden, weil sie den Erfolg der jeweiligen Kassen im Bemühen um ihr besonderes Angebotsprofil, eine effiziente Erbringung der Versicherungsleistung und wirtschaftliche Betriebsführung [ ... ] widerspiegeln. Ein Finanzausgleich, der alles einebnet, ist damit nicht gemeint. Es geht um einen echten Risikoausgleich, nicht um Geldtransfers. " Mündigkeit und Solidarität, 66.

294

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

lungen über Leistungen ausschließlich innerhalb eines körperschaftlich organisierten Modells geregelt, bei dem die Kassenärztlichen Vereinigungen eine zentrale Stellung einnehmen. Neue Verhandlungsstrukturen können geschaffen werden, wenn arztgruppenspezifische und kassenindividuelle Vertragsabschlüsse stärker zur Geltung kommen. Bei einer solchen Entmonopolisierung auf der Leistungsanbieterseite, die von Gesundheitsökonomen schon seit längerer Zeit immer wieder gefordert wird,163 sollen sich neuartige Versorgungsmodelle aber an freiheitlichen Prinzipien, wie freie Arzt- und Krankenhauswahl, Therapiefreiheit der Ärzte etc., orientieren. Beim Managed CareSystem der Vereinigten Staaten, das zunehmend auch im deutschsprachigen Raum diskutiert und als Alternativmodell erörtert wird, scheint aber eine uneingeschränkte freie Arzt- und Krankenhauswahl nicht mehr möglich zu sein. Zudem müssen sich die Ärzte häufig Leistungskontrollen unterziehen und werden ökonomisch stärker in dieses Gesundheitssicherungsmodell einbezogen. l64 Die freie Arztwahl muss aber als institutionelles Element des Gesundheitssystems im Sinne der Vertrauensbildung zwischen Arzt / Ärztin und Patient erhalten bleiben. (2) Der Markt für pharmazeutische Produkte ist bereits jener Sektor des Gesundheitswesens, in dem Wettbewerbsmomente als Steuerungselemente vorhanden sind. Trotzdem sind auch hier deutliche Wettbewerbsbeschränkungen zu finden, was an der Besonderheit dieser Güter liegt. Blickt man beispielsweise auf die Distribution von Arzneimitteln, so fällt zuerst die Preisbindung auf, die für bestimmte Produkte gilt. Da die Preise für apothekenpflichtige Arzneimittel festgelegt sind und sich ihr Verkaufspreis aufgrund der Arzneimittelpreisverordnung ergibt, findet kein Preiswettbewerb statt. Zwar ist es den Großhändlern erlaubt, den Apotheken Rabatte zu gewähren, doch gesetzlich ist es untersagt, dass diese sie an die Kunden bzw. Arzneimittelkonsumenten weitergeben. 165 Hinsichtlich einer marktwirtschaftlichen Steuerung auf dem Arzneimittelmarkt ist beispielsweise denkbar, dass die Preisbindung für alle OTC-Produkte fällt. 166 Verschreibungspflichtige und nicht frei verkäufliche Produkte sollten aber weiterhin dem Preiswettbewerb entzogen werden, da man kranken Menschen, die auf diese besonderen Arzneimittel angewiesen sind, keinen Preisvergleich zumuten sollte. Für den Selbstrnedikations-Markt 163 Vgl. etwa Cassel, Ordnungspolitische Gestaltung des Gesundheitswesens in der Sozialen Marktwirtschaft, 141; Henke, Klaus-Dirkl Rachold, Ursula, Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen, in: IgI, Gerhard/Naegele, Gerhard (Hrsg.), Perspektiven der sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, München 1999,21; Oberender, Peterl Fibelkom, Andrea, Ein zukunftsfähiges deutsches Gesundheitswesen. Ein Reformvorschlag unter besonderer Berücksichtigung der ambulanten Versorgung, Bayreuth 1997, 64/65. 164 V gl. Schulenburg 1 Greiner, Gesundheitsökonomie, 216 - 218. 165 V gl. Gesundheitsbericht für Deutschland, 313. 166 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, 130/131.

11. Gesundheitssicherung und Gesundheitswesen

295

ist ein Wettbewerbsausschluss nicht mehr verständlich, denn hier "entscheidet der Patient - wenn auch U.U. nach Beratung durch den Apotheker - ähnlich wie auf anderen Märkten als Konsument ziemlich autonom über seinen Arzneimittelverbrauch.,,167 Steigender Wettbewerb auf dem Arzneimittel-Markt, der auch durch neue Vertriebswege (z. B. Drogerien) für OTC-Produkte gekennzeichnet werden könnte, muss aber als unverzichtbare Voraussetzung eine kompetente Beratung durch geschultes Personal gewähren. Eine "Risikoberatung" fällt allerdings beim Internet-Versandhandel aus. Darüber hinaus schränkt auch das Verbot der freien Untemehmertätigkeit im Apothekenwesen (Mehr- und Fremdbesitzverbot) die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs ein. 168 Da der Apotheker nicht nur Angehöriger eines freien Berufes, sondern im Wesentlichen auch Kaufmann ist, erscheint ein solches Verbot unter marktwirtschaftlichen Prinzipien als problematisch. (3) Ein wesentliches wettbewerbliches Instrument, das der Transparenz im Gesundheitswesen dient, ist die Kommunikationsfreiheit in Gestalt der Werbung. Die mangelnde Transparenz, die Wettbewerb erschwert, gilt als nicht zu unterschätzendes Problem innerhalb der Gesundheitsversorgung. 169 Werbeverbote ärztlicher Leistungen sind nonniert durch die Berufsordnungen der Ärzte / Ärztinnen und schränken die Transparenz auf dem Markt für Gesundheitsleistungen ein. Da die von den Gesundheitsexperten angebotenen ärztlichen Dienstleistungen - wie bereits mehrfach betont wurde - nicht ohne weiteres mit anderen Dienstleistungen vergleichbar sind, können jedoch Werbemaßnahmen der Ärzteschaft nur begrenzt Einlass ins Gesundheitswesen finden. Das Hauptproblem besteht darin, dass Patienten bzw. Verbraucher die verbreiteten Werbeinformationen aufgrund des fehlenden Fachwissens nicht in ausreichender Form kontrollieren können. Einfache Werbemaßnahmen über medizinische Leistungen der Ärzte / Ärztinnen, die von den Rezipierenden überprüft werden können und reine Leistungsangebote sind, dürfen aber nicht von der Marktkommunikation ausgeschlossen werden. Grundsätzlich sind zwei Formen der Transparenz möglich. Zum einen können die Ärzte / Ärztinnen selbst für ihre Leistungen werben, z. B. im Internet, auf Praxisschildern, zum anderen mit Hilfe anderer Medien. Mittlerweile ist das strikte Werbeverbot mit dem Beschluss des Deutschen Ärztetages 1997 in Eisenach und den ergänzenden Bestimmungen zur ärztlichen Musterberufsordnung aus dem Jahre 2000 gelockert worden. 170 Nach diesen normativen Regeln ist es den Ärzten/ Ärztinnen erlaubt, sachliche Informationen über die Berufstätigkeit zu verbreiten. Patien167 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, 130. 168 Vgl. Oberender, Pete~ Mehr Wettbewerb auf dem Pharmamarkt, in: Simon, Hermarm / Hilleke-Daniel, Klaus/Kucher, Eckhard (Hrsg.), Wettbewerbs strategien im Pharmamarkt, Stuttgart 1989,72. 169 Vgl. Herder-Domeich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens, 359-368. 170 Vgl. Wolf!, Dietmar, Neue Freiräume für Werbung, Bonn 2000,33.

296

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

teninfonnationen in den Praxisräumen und öffentlich abrutbare Arztinfonnationen im Internet dürfen dabei nur dann vorgenommen werden, wenn "nicht mehr als drei Untersuchungs- oder Behandlungsmaßnahmen aufgeführt werden,,!7!. Mit dieser Bestimmung wird dem Infonnationsbedürfnis der Patienten über spezielle Behandlungsmethoden, die eine Praxis anzubieten hat, zumindest in Teilen Rechnung getragen. 1998 hat der Vorstand der Bundesärztekammer mit einem weiteren Regelwerk Orientierungshilfen für die Infonnationsverbreitung im Internet erarbeitet.!72 Demnach werden drei Infonnationenarten unterschieden: (1) Infonnationen gegenüber Dritten auf einer eigenen Homepage, (2) weitergehende Infonnationen, die nur über eine Schaltfläche auf der Homepage abgefragt werden können, (3) Infonnationen gegenüber anderen Ärzten in einem Intranet. Während die Infonnationen gegenüber Dritten auf einer eigenen Homepage nur allgemeine Angaben über den Arzt! die Ärztin und die Praxis enthalten, dürfen in den weitergehenden Infonnationen, die nur über eine Schaltfläche erreicht werden können, sachliche Infonnationen über medizinische Leistungen zur Sprache gebracht werden. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn sich die Ärzte / Ärztinnen anband weiterer Leistungsparameter darstellen könnten, so etwa durch Nennung von Referententätigkeit oder Publikationen. Die hier genannten Werbemöglichkeiten haben deutlich gemacht, dass die Ärzteschaft in den letzten Jahren zumindest in Ansätzen eine Öffnung zu mehr Werbemöglichkeiten und somit zu mehr Transparenz geschaffen hat. Damit haben auf einer einfachen Ebene Wettbewerbselemente in den Bereich der ärztlichen Leistungsanbieter Einlass gefunden. Neben den Infonnationen, die die Ärzte / Ärztinnen selbst anbieten, ist zudem auch denkbar, dass unabhängige Institutionen, etwa Verbraucherschutzinstitutionen und Medien unternehmen, ärztliche Leistungsangebote zusammenstellen, vergleichen und bewerten. 173 Dabei muss aber gewährleistet sein, dass diese infonnativen Gehalte möglichst breiten wirksam verteilt werden. Infonnationen in Gestalt von Werbung spielen auf dem Gesundheitsmarkt eine wichtige Rolle, um den Verbrauchern - den Patienten und Versicherten - Transparenz über das jeweilige Leistungsangebot zu ennöglichen. Solange die wettbewerblichen Instrumente von einer funktionskräftigen Rahmenordnung flankiert werden, an der sowohl Staat als auch Leistungsanbieter in kollektiver Selbstverantwortung gestaltend mitwirken, sind die Interessen des Verbrauchers gewahrt. Als 171 Art. I, Nr. 5, Abs. 2 Ergänzende Bestimmungen zu den einzelnen ärztlichen Berufspflichten, MBO. 172 Vgl. Darstellungsmöglichkeiten des Arztes im Internet, in: http://www.bundesaerzte kammer.de (Stand: 05. 09. 2002). I73 Innerhalb der Printmedien ist die bundesweite Ärzteliste des Magazins FOCUS zu erwähnen. In dieser Liste werden empfehlenswerte Spezialisten mit Bewertungen von Medizinern und Patienten aufgeführt. Vgl. z. B. FOCUS (Ärzteliste), Nr. 43, 23. 10. 2000, 198 -232. Solche Zusammenstellungen können die Suche nach einem Spezialisten durchaus unterstützen, gleichwohl beziehen sich die Auskünfte zumeist nur auf den stationären Bereich. Der ambulante Sektor ist aber für den Alltag der Patienten von ebenso großer Bedeutung.

Irr. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

297

"Subjekt und Ziel der Wirtschaft und wirtschaftlichen Tätigkeit"174 genießt der Verbraucher einen Schutzraum, der von den verschiedenen marktwirtschaftlichen Akteuren des Gesundheitswesens beachtet werden muss. Da der Bereich der Werbung aus der modemen Markt- und Informationsgesellschaft nicht mehr wegzudenken und für den Marktzugang aller Konsumgüter mittlerweile auch unverzichtbar ist, haben Werbernaßnahmen auf dem Gesundheitsmarkt eine herausragende Position. Dies liegt zum großen Teil daran, dass das Gesundheitswesen mit seinen unterschiedlichen Leistungen und Gütern unter Gesundheitsökonomen als Wachstumsbranche par excellence gilt. 175 Den Abschluss der in diesem Schlusskapite1 entfalteten ethischen Leitlinien und Orientierungspunkte soll daher ein werbeethischer Exkurs über die Angebote des Gesundheitssystems bilden. Wenn Wettbewerb ein integraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung ist, darf innerhalb einer zu skizzierenden Ethik des Gesundheitswesens die Verbindung von Werbung und Gesundheitswesen nicht fehlen, zumal damit ein wirtschaftsethisches Themengebiet angesprochen wird, das bislang von der christlichen Sozialethik noch nicht eigens problematisiert wurde. 111. Exkurs: Werbung als ökonomisches Anreizsystem im Gesundheitswesen

Güter, die - wie in einem Schlaraffenland - im Überfluss vorhanden sind, gehören nicht zum Gegenstandsbereich der Wirtschaft. Erst dort, wo Güter knapp oder knappheitsbedroht sind, entstehen wirtschaftliche Prozesse. Für die Wirtschaft spielt die Werbung, die über solche knappen bzw. knappheitsbedrohten Produkte informieren will, daher eine zentrale Rolle. Ziel der Werbung ist es, mit Hilfe von Massenmedien Produktinformationen zu verbreiten, um ökonomische Ziele zu erreichen. Werbung wird dabei sowohl auf dem alltäglichen Konsumgütermarkt als auch auf dem Gesundheitsmarkt als persuasive Kommunikationsstrategie eingesetzt. Obwohl Arzneimittel aufgrund ihrer spezifischen Wirkung besondere Güter sind, werden sie auch beworben und zielen auf den Kauf bzw. Konsum durch die Verbraucher. Im folgenden Exkurs, der an die Frage nach mehr Markt im Rahmen des Gesundheitswesens anknüpft und innerhalb der Diskussion um ökonomische Anreizstrukturen zu verorten ist, soll eine spezielle Ethik der Werbung für das Gesundheitswesen - primär im Hinblick auf Arzneimittel 176 - vorgestellt werden. So eine klassische Formulierung bei Peseh, Nationalökonomie (1914),17. Vgl. Oberender/ Hebbom, Wachstumsmarkt Gesundheit, 152. 176 In diesem Exkurs wird der Fokus auf die Werbung der pharmazeutischen Industrie gelegt, da dieser Bereich im Alltagsbewusstein der Verbraucher und Rezipierenden in besonderer Weise bewusst ist und auch in der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle einnimmt. Neben der Werbung für Arzneimittel sind freilich auch Werbemaßnahmen der Krankenkassen für ihre Leistungsangebote zu erwähnen. Im Hinblick auf diese Produktgruppe, nämlich Versicherungsleistungen, gelten grundsätzlich auch die allgemeinen werbeethischen Normen, wie sie für alle Dienstleistungen und Konsumgüter Gültigkeit ha174 175

298

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Werbeethische Regeln für das Gesundheitswesen beziehen sich aber nicht nur auf inhaltsethische Nonnen und strukturethische Aspekte (werbewirtschaftliche Ordnung), sondern auch auf grundsätzliche Fragen des Gesundheitsmarktes und der marktwirtschaftlichen Ordnung. Auch eine Werbeethik für das Gesundheitswesen macht deutlich, dass hier unterschiedliche Verantwortungsträger anzutreffen sind. Damit sind diejenigen gemeint, die (I) Werbemaßnahmen in Auftrag geben - also primär die Akteure der Gesundheitsversorgung, aber ebenso die Akteure der Gesundheitssicherung -, die (2) Werbemaßnahmen rezipieren - also die Patienten / Versicherten/Verbraucher - und die (3) schließlich den Rahmen für marktwirtschaftliehe Strukturen schaffen - das sind die Akteure der Politik. 1. Werbung als Teil der marktwirtschaftlichen Ordnung

Damit Unternehmen Märkte beeinflussen und den Absatz fördern können, sind sie auf grundlegende Marketinginstrumente angewiesen. l77 Vier absatzpolitische Instrumente werden innerhalb der Marketingtheorie unterschieden, die im so genannten Marketing-Mix zusammengefasst werden: Produktpolitik, Distributionspolitik, Kontrahierungspolitik und schließlich Kommunikationspolitik.178 Mit Hilfe der Kommunikationspolitik wird der Markt mit allen notwendigen Infonnationen über das Produkt beliefert, wobei sich die Kommunikationspolitik wiederum aufteilt in Werbung, persönlichen Verkauf, Verkaufsförderung und Public Relations. Diese Elemente bilden den Kommunikations-Mix eines Unternehmens. 179 Unter Werbung versteht man den geplanten Versuch, die Meinung und das Verhalten von Menschen durch spezielle Kommunikationsmedien öffentlich zu beeinflussen, um ökonomische Ziele zu erreichen. 18o "Für sich, für andere oder für eine Sache werben heißt im allgemeinsten Verständnis zu versuchen, Aufmerksamkeit zu wecken, eine positive werthafte Sicht zu vermitteln und Zustimmung oder irgendeine Art von Attraktion zu gewinnen, um Selektionen, Wahlen oder Entscheidungen zu bewirken. So verstanden, impliziert Werbung eine Fonn der strategischen Rationalität,,181. Beeinflussen, überreden, überzeugen, sich um jemanden beben. Solche grundlegenden Werbenormen kommen innerhalb des Exkurses zur Sprache. Darüber hinaus müssen aber speziell für die pharmazeutischen Güter nochmals eigene normative Bestimmungen entwickelt werden, da diese Produkte besondere Risiken beinhalten. 177 Vgl. Göbel, Elisabeth, Werbung, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999,648/449. 178 Vgl. Schweiger, GünterlSchrattenecker, Gertraud, Werbung. Eine Einführung, Stuttgart 1Jena 1992, 23/24. 179 Vgl. Müller-Hagedorn, Lothar, Einführung in das Marketing, Darmstadt 1990, 22. 180 Vgl. Bohrmann, Thomas, Ethik - Werbung - Mediengewalt. Werbung im Umfeld von Gewalt im Fernsehen, Eine sozialethische Programmatik, München 1997, 37. Innerhalb der Werbeforschung werden unterschiedliche Werbedefinitionen diskutiert. Vgl. dazu insgesamt Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 34 - 40, 57 - 59.

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

299

mühen - all das darf nicht von vornherein als schlecht oder ethisch illegitim gelten. Auch Erziehung, Predigt, politische Reden, alltägliche Diskussionen sind Formen der Kommunikation, die, wie Werbung, beeinflussen wollen. Beeinflussung ist eine gezielte Kommunikationsmethode, um menschliche Einstellungen oder Entscheidungen zu verändern. In der öffentlichen Diskussion wird Werbung häufig mit Manipulation gleichgesetzt. Damit aber Werbung mit Manipulation identisch sein kann, müssen konkrete Bedingungen vorliegen, die ein zwanghaftes Einwirken auf die Umworbenen ausüben, so dass diese sich nicht oder nur unzureichend dagegen wehren können. Manipulation bedeutet somit immer eine mittels bestimmter Werbetechniken initiierte Freiheitsbeschränkung der Konsumenten. 182 Drei Arten der manipulativen Werbung können unterschieden werden: die subliminale, die getarnte und die verfälschende Werbung. Die subliminale Werbung arbeitet mit Techniken, die unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsgrenze liegen; die getarnte Werbung kennzeichnet eine Werbemaßnahme nicht als solche und täuscht somit den Konsumenten; die veifälschende Werbung übermittelt schließlich selektive, falsche oder irreführende Produktinformationen. 183 Konstitutives Charakteristikum für diese drei Manipulationsformen ist das Verschleierungsprinzip, das heißt, es wird nicht offen kommuniziert, sondern verdeckt; der Umworbene ist sich nicht bewusst, dass er manipuliert wird, er glaubt, in Freiheit zu handeln und Kaufentscheidungen zu treffen. 184 Werbung erfüllt eine Reihe von Funktionen, von denen hier nur die wichtigsten zur Sprache gebracht werden sollen: 185 Zunächst einmal ist Werbung ein absatzpolitisches Instrument, um bestimmte Produkte oder Dienstleistungen mit Hilfe medialer Techniken bekannt zu machen und Verbraucher damit zum Kauf anzuregen. Weil Werbung beeinflussen will, kann sie auch als persuasive Kommunikation bezeichnet werden. Insbesondere bei innovativen Produkten oder Produktverbesserungen - seien sie auch noch so geringfügig - spielt die Bekanntheit des Werbeobjekts eine zentrale Rolle für das individuelle Kauf- und Konsumverhalten. Man kann hier von der Bekanntmachungsfunktion der Werbung sprechen. Produkte müssen immer wieder den Konsumenten - im wahrsten Sinne des Wortes - vor Augen geführt werden; nur durch eine ständige Präsentation bleiben Marken in Erinnerung. Das ist die so genannte Erinnerungsfunktion der Werbung. Werbung möchte bestimmte Informationen über Produkte verbreiten, die über den Nutzen oder die Leistung des betreffenden Produktes Auskunft geben wollen. Mit der In181 Willems, Herbert, Werbung als Medieninszenierung: Genrespezifische Kontextbedingungen und dramaturgische Strategien, in: Soziale Welt 50 (1999) 116. 182 Vgl. Ruf, Ambrosius, Werbung und Ethik, in: Die neue Ordnung 28 (1974) 138. 183 V gl. zum Manipulationsbegriff in der Werbung Bohmumn, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 50-57. 184 Vgl. Hausmanninger, Thomas, Kritik der medienethischen Vernunft. Die ethische Diskussion über den Film in Deutschland, München 1992, 231 /232. 185 Vgl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 38; Huth, Rupert/ Pflaum, Dieter, Einführung in die Werbelehre, Stuttgart/Berlin/Köln 51993, 92-94.

300

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

formationsfunktion der Werbung kann Produktwissen aufgebaut, erhalten oder auch ausgebaut werden. Weiterhin gilt, dass die zeitgenössische Werbung verstärkt auf emotionale Motive setzt, die den sachlichen Gehalt eher überdecken. Mit einer Gefühlswerbung sollen dann primär bestimmte emotionale Empfindungen der Konsumenten angesprochen werden, die den Konsumenten z. B. ein positives Lebensgefühl vermitteln wollen. Die Erlebnisfunktion der Werbung spielt im Kontext eines unübersichtlichen Konsummarktes eine immer größere Rolle. Vor allem auf gesättigten Märkten der Innovativwirtschaft, auf denen die Erlebnis-Produzenten relativ homogene Konsumartikel und Dienstleistungen anbieten, haben Produkte mit emotional besetzten Zusatzerlebnissen die Chance aufzufallen und vom Verbraucher erworben zu werden. 186

Werbung ist ein bestimmtes Informationsinstrument auf dem Markt, das in der marktwirtschaftlichen Ordnung einen zentralen Platz einnimmt. Wie unter A.II.3 bereits angedeutet wurde, meint Wettbewerb ein Verhalten, bei dem sich mehrere Akteure in ihren Leistungen messen und jeder danach strebt, die anderen Wettbewerbsteilnehmer zu überbieten. Ohne das kompetitive Element der Produzenten könnte die modeme Innovativwirtschaft, die durch ständige Produktinnovationen und Verfahrensinnovationen gekennzeichnet ist, nicht überleben. Die Grundidee der Marktkommunikation besteht in der Information über Produktpreise, Produktinnovationen und Produktqualität. Ohne Werbung hätten Produzenten und ihre Mitbewerber keine Motivation mehr, Güter zu optimieren. Produktinnovationen, die menschliches Leben erleichtern können, die umweltschonender oder kostengünstiger sind, würden kaum noch entstehen, da kein unternehmerischer Wettkampf mehr stattfande. Die deutsche Werbewirtschaft spielt für die Volkswirtschaft weiterhin eine bedeutende Rolle, wenn man bedenkt, dass neben den 363.000 Arbeitsplätzen im Kembereich der Werbung weitere 218.000 in den Medien (z. B. Journalisten, Fotografen, Kameraleute) von Werbernaßnahmen direkt abhängen. 187 Nicht nur die werbungtreibenden Unternehmen, also die Produzenten von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch die Werbeagenturen, die Marktforschungsinstitute, die Medien als Träger von Werbernaßnahmen und die Zulieferbetriebe für Werbemittel (z. B. Papierwirtschaft und Druckindustrie) sind auf Werbung angewiesen. Vor allem die Medien bilden einen wichtigen Arbeitsmarkt, da sich die privaten TV-Programme fast ausschließlich durch Werbeeinnahmen finanzieren und somit sowohl festangestellten als auch freien Mitarbeitern einen Arbeitsplatz sichern. Da die Medien (Printmedien und elektronische Medien) unverzichtbare Werbeträger für Güter und Dienstleistungen sind, gilt Werbung als wichtige Finanzierungsquelle für die gesamte Medienbranche. Nur mit Hilfe von Werbung können die unterschiedlichen Mediengattungen in ihren redaktionellen Teilen die Öffentlichkeit informieren und plurale Medieninhalte anbieten. Pluralität der Medien bedeutet immer auch Meinungsvielfalt, die für eine funktionierende Demokratie V gl. Weinberg, Peter, Erlebnismarketing, München 1992, 53 - 120. Vgl. Nickel, Volker, Mehrwert Werbung. Ökonomische und soziale Effekte von Marktkommunikation, Bonn 1999,49-55. 186 187

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

301

unverzichtbar ist. So kann nur eine plurale Medienlandschaft die in der Gesellschaft existierende Pluralität der Meinungen widerspiegeln. Es lassen sich somit drei Gruppen herauskristallisieren, die von medialer Werbung profitieren: Für die Medienbetreiber sind Werbeeinnahmen wichtige Quellen der Existenzgrundlage, für die werbungtreibende Wirtschaft sind die Medien unverzichtbare Träger ihrer Marktkommunikation, und den Mediennutzem (Hörern, Lesern, Zuschauern) sichert Werbung schließlich ein vielfältiges Medienangebot mit niedrigen Preisen. Durch die mediale Übennittlung schafft Werbung also nicht nur Arbeitsplätze, sondern sie gewährt auch ein öffentliches Forum für die Güter der Innovativwirtschaft; nur Werbung garantiert sowohl den Verbrauchern als auch den Anbietern Transparenz über die gesamte Produktpalette. Qualitätssteigerungen hinsichtlich der angebotenen Produkte unterstützen die Verbraucher in ihrer humanen Entfaltung und fordern damit gleichzeitig die Mitbewerber heraus, gleiches zu tun. Eine entfaltete Waren welt, die den Konsumbedürfnissen der Verbraucher gerecht wird, ist nur unter Wettbewerbsbedingungen möglich. ISS 2. Werbung auf dem Gesundheitsmarkt

Die Produkte und Dienstleistungen, die auf dem so genannten Gesundheitsmarkt angeboten und beworben werden - freilich in sehr unterschiedlicher Art -, bilden zwei Gruppen: Gesundheitsprodukte und Gesundheitsleistungen (entweder Leistungen der Heilberufe oder der Krankenversicherungen).IS9 Zu den Gesundheitsprodukten gehören alle Arzneimittel, die zu Therapiezwecken eingesetzt werden. An anderer Stelle dieser Arbeit wurde bereits dargelegt, dass sich solche pharmazeutischen Produkte in (1) rezeptpflichtige bzw. verschreibungspflichtige, (2) apothekenpflichtige und (3) freiverkäufliche Mittel einteilen lassen. Diese Produktdifferenzierung hat sogleich Konsequenzen für die Werbung. Während apothekenpflichtige und freiverkäufliche Mittel öffentlich beworben werden dürfen - man spricht hier auch von Publikums- oder Öjfentlichkeitswerbung -, unterliegen rezeptpflichtige bzw. verschreibungspflichtige Arzneimittel einer strengen Werbebeschränkung. Das heißt, dass nur Personen, die professionell im Gesundheitswesen arbeiten - also Ärzte / Ärztinnen, Apotheker / Apothekerinnen, Arzneimittelproduzenten und andere -distributeure - Adressaten von Werbemaßnahmen verschreibungspflichtiger Mittel sein dürfen. Der Grund für diese ausschließliche Fachwerbung liegt in der Eigenart therapeutischer Mittel. Grundsätzlich sind Arzneimittel Produkte besonderer Art, die nicht vergleichbar sind mit herkömmlichen Vgl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 82. Die Arzneimittelwerbung gehört, was den Bereich der Selbstmedikation anbelangt, schon seit längerer Zeit zu den besonders kritischen Punkten innerhalb einer Ethik der Werbung bzw. der öffentlichen Auseinandersetzung um Werbung. Vgl. z. B. die Informationen der Werbewirtschaft aus den 1980er-Jahren zu dieser Problematik Nickel, Volker, Gesundheit. Heilsame Fakten zur Publikumswerbung f1ir Arzneimittelwerbung, Bonn 1987. 188

189

302

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Konsumgütern, da sie bei falscher, unsachgemäßer Einnahme Gesundheitsschäden anrichten können. Humanphannazeutische Produkte dürfen nur an bestimmten Orten angeboten und verkauft werden (in erster Linie in Apotheken, aber auch in Drogerien und Reformhäusern); sie werden durch ein eigenes Werbegesetz normiert, nämlich durch das Heilmittelwerbegesetz (HWG)190; sie dürfen erst verbreitet werden nach behördlicher Zulassung (durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ) und richten sich - wie gesagt - im Hinblick auf Werbemaßnahmen an zwei unterschiedliche Personenkreise, zum einen an die medizinischen Laien und zum anderen an die medizinischen Fachkreise l91 . Hinter der Einteilung der Marktkommunikation in Publikumswerbung und Fachwerbung stehen zwei verschiedene Formen der Medikation: Die Publikumswerbung zielt auf Selbstmedikation, die Fachwerbung auf Fremdmedikation (bzw. ärztliche Medikation). Arzneimittel, die bestimmte phannakologische Stoffe enthalten und "ernste" Erkrankungen mit zum Teil weitreichenden Folgen zu therapieren beabsichtigen, eignen sich nicht für die Selbstmedikation und dürfen dementsprechend auch nicht öffentlich beworben werden. 192 Diese verschreibungsbzw. rezeptpflichtigen Arzneimittel - die Verschreibungspflicht regelt das Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (AMG)193 - setzen ein fundiertes medizinisches Fachwissen voraus, über das nur ein Arzt! eine Ärztin verfügt. Erst nach einer bestimmten Diagnose dürfen solche Mittel durch den Arzt! die Ärztin verschrieben werden. Gerade die ärztliche Diagnose und der Einsatz des richtigen Medikaments sind für den Heilungsprozess entscheidend. Darüber hinaus ist eine ärztliche Überwachung der Medikation erforderlich, da rezeptpflichtige Arzneimittel weitreichende Nebenwirkungen haben können. 194 190 Ein spezifisches Werbegesetz gibt es sonst für keine andere Produktgruppe. Selbst Tabakwaren, die der Gesundheit schaden, haben kein spezifisches Werbegesetz; normative Regeln für diese Produkte sind in unterschiedlichen Werbegesetzen integriert, so beispielsweise im Rundfunkstaatsvertrag oder im Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz. 191 Das Heilmittelwerbegesetz versteht unter Fachkreisen folgende Personen: ,,Fachkreise im Sinne dieses Gesetzes sind Angehörige der Heilberufe oder des Heilgewerbes, Einrichtungen, die der Gesundheit von Mensch oder Tier dienen, oder sonstige Personen, soweit sie mit Arzneimitteln, Verfahren, Behandlungen, Gegenständen oder anderen Mitteln erlaubterweise Handel betreiben oder sie in Ausübung ihres Berufes anwenden." HWG § 2. 192 Im Heilmittelwerbegesetz heißt es dazu: "Die Werbung für Arzneimittel außerhalb der Fachkreise darf sich nicht auf die Erkennung, Verhütung, Beseitigung oder Linderung der in der Anlage zu diesem Gesetz aufgeführten Krankheiten oder Leiden beim Menschen oder Tier beziehen." § 12 HWG. In der Anlage des HWG werden dann eine Reihe "ernster" Krankheiten aufgezählt: z. B. Infektionskrankheiten, Geschwulstkrankheiten, Krankheiten des Stoffwechsels, Blutkrankheiten, bestimmte organische Krankheiten (etwa des Nervensystems, der Augen und Ohren, des Herzens und der Gefäße), Magen- und Darmgeschwüre, Epilepsie, Geisteskrankheiten. 193 Vgl. §§ 48/49 AMG. 194 Vgl. Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller e.Y. (Hrsg.), Selbstmedikation 2000 - Standortbestimmung. Aktuelle Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen, Bonn 2000,7.

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

303

Nicht-rezeptpflichtige, aber apothekengebundene Mittel können entweder vom Arzt / von der Ärztin verordnet oder aber auch auf dem Weg der reinen Selbstmedikation erworben werden. Diese Mittel therapieren leichtere Beschwerden und Befindlichkeitsstörungen. 195 Bei diesen Arzneimitteln, die dem Selbstmedikationsmarkt zugeordnet sind, wird den erkrankten Personen nach erläuternden Informationen durch den Apotheker / die Apothekerin und dem Beipackzettel zugetraut, Beschwerden eigenverantwortlich zu diagnostizieren und über einen kürzeren Zeitabschnitt eine Heilbehandlung autonom durchzuführen.196 Die Risiken und Nebenwirkungen sind bei den nicht-rezeptpflichtigen Mitteln erheblich reduziert. Der Markt der Selbstmedikation (OTC-Markt) richtet sich nicht nur auf nicht-rezeptpflichtige, aber apothekenpflichtige Produkte, sondern auch auf freiverkäufliche Mittel. 197 Freiverkäufliche Arzneimittel dürfen auch außerhalb von Apotheken angeboten werden, in Drogerien, Drogeriemärkten und Reformhäusern. Es muss dabei gewährleistet sein, dass die Arzneimittel sachgerecht aufbewahrt werden und nur ein qualifiziertes Fachpersonal die Produkte vertreibt. Die pharmazeutische Industrie gehört zu den zehn werbestärksten Branchen in Deutschland. An der Spitze der Werbeinvestitionen stand im Jahre 2000 die Werbung für Massenmedien (1,7 Mrd. €; 1999: 1,4 Mrd. €), gefolgt von Werbung für den Auto-Markt (1,6 Mrd. €; 1999: 1,6 Mrd. €), Werbung für Telekommunikations-Netze (1,4 Mrd. €; 1999: 1,2 Mrd. €), Werbung für Handels-Organisationen (1,2 Mrd. €; 1999: 967,88 Mio. €), Werbung für Schokolade und Süßwaren (654,04 Mio. €; 1999: 627,36 Mio. €), Werbung für Banken und Sparkassen (572,25 Mio. €; 1999: 493,91 Mio. €). An siebter Stelle standen im Jahre 2000 dann schließlich die Werbeinvestitionen für pharmazeutische Produkte (Publikumswerbung) mit 557,05 Mio. € (1999: 526,61 Mio. €).198 Werbemaßnahrnen für pharmazeutische Produkte sind ebenso im komplexen Prozess der Marketing-Planung eingebunden wie herkömmliche Konsumgüter; auch für den Pharmamarkt müssen demnach die produktspezifischen Werbeprobleme im Hinblick auf Kreation und Mediaplanung gelöst werden. Wahrend sich die Kreation (Text und Grafik) auf die Gestaltung der Werbemittel 199 konzentriert, besteht die Aufgabe der Mediaplanung darin, geeignete Werbeträge~()() auszuwählen, die von der Zielgruppe auch beachtet werden. In diesem Sinne müssen die ,,richtigen" Werbeträger, der "richtige" Zeitpunkt, die "richtige" Anzahl der WerbeschalVgl. die Regelung der Apothekenpflicht in § 43 AMG. Vgl. Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (Hrsg.), Selbstmedikation 2000 - Standortbestimmung, 7/8. 197 Vgl. die Regelung der freiverkäuflichen Arzneimittel in § 44 AMG. 198 Vgl. Werbung in Deutschland 2001, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 2001, 12. 199 Werbemittel sind die eigentlichen Ausrucksformen der Werbung (z. B. Spot, Film, Plakat, Anzeige). 200 Werbeträger sind die Medien bzw. Instrumente der Informationsübermittlung (z. B. Kino, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Litfaßsäule). 195

1%

304

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

tungen bzw. Werbeplatzierungen sowie das "richtige" Werbeumfeld von den Mediaplanern gefunden werden. 201 Die Publikumswerbung für Arzneimittel zielt auf alle klassischen Werbemittel und Werbeträger. Hingegen ist die Fachwerbung begrenzt auf medizinische Fachzeitschriften und persönliche Werbung durch professionelle Pharmaberater, die zumeist Arzneimittelmuster (Ärztemuster) den Ärzten/ Ärztinnen zur Information übergeben. 202 Der umsatz stärkste Werbeträger für Publikumswerbung der Pharmaindustrie war im Jahre 2000 das Fernsehen (249 Mio. €), gefolgt von Publikumszeitschriften (164,12 Mio. €), von Tageszeitungen (24,03 Mio. €), vom Hörfunk (5,62 Mio. €) und vom Plakat (1,53 Mio. €).203 Im Vordergrund der Werbung für verschreibungspflichtige, apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel steht die Produktinformation, die Verbraucherim Hinblick auf die Publikumswerbung - oder Angehörige der Heilberufe - im Hinblick auf Fachwerbung - über den gesundheitlichen Nutzen eines bestimmten Präparats in Kenntnis setzt. Auf dem humanpharmazeutischen Markt dominieren daher die Bekanntmachungsfunktion, die Erinnerungsfunktion und die Informationsfunktion der Werbung und nicht so sehr die Erlebnisfunktion. Zwar kann ein pharmazeutisches Produkt mitunter auch ein spezifisches Erlebnisgefühl zu vermitteln suchen, wie z. B. Gesundheit oder Glück aufgrund einer erfolgreichen pharmakologischen Therapie, doch zielen Werbernaßnahmen des Pharmamarktes primär auf die Vermittlung von sachlichen, zumeist auch wissenschaftlichen Informationen über das betreffende Produkt. 204 3. Die Ordnung der Werbewirtschaft für Güter des Gesundheitswesens

Nachdem geklärt wurde, was unter Werbung innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung zu verstehen ist und welche Produktgruppen bzw. Werbeformen auf dem Gesundheitsmarkt zu finden sind, ist in einem nächsten Schritt zu fragen, wie die Ordnung der Werbung und der Werbewirtschaft in Deutschland speziell für Gesundheitsprodukte bzw. -leistungen aussieht. 201 Vgl. Grimm, Rolfl Waldeck, Rüdiger, Werbeträger, in: Lötters, Christine u. a., Werbung. Grundlagen, Planung, Umsetzung, Landsberg a.L. 51993, 147. 202 Für apothekenfreie (freiverkäufliche) Arzneimittel gibt es auch Muster, die so genannten Arzneimittelproben, die für die Erprobung durch die Konsumenten gedacht sind. Apothekenpflichtige Arzneimittel dürfen in Apotheken jedoch nicht als Proben weitergegeben werden. Vgl. Schell, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z, 17. 203 Vgl. Werbung in Deutschland 2001, 199. 204 Auf dem Gebiet des herkömmlichen Konsummarktes sind hingegen spezifische Erlebnisprofile, die durch eine Marke angesprochen werden sollen, von zentraler Bedeutung. Ganze Marken bzw. Werbekampagnen leben geradezu von unverwechselbaren Erlebnisqualitäten. Zu denken ist hier beispielsweise an die klassische Marlboro-Werbung, die für Freiheit, Abenteuer und Männlichkeit steht. Solche Erlebnis-Werte werden in der Arzneimittelwerbung aber eher keinen Platz finden.

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

305

Eine Ethik der Werbung stellt in einem ersten Schritt die Frage nach der werbewirtschaftlichen Rahmenordnung, die für alle Produkte und Dienstleistungen - einschließlich der Gesundheitsgüter - zu gelten hat. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung heißt der oberste medienethische Grundsatz, der ebenso für den Marktprozess gültig ist, Freiheit der Kommunikation. Kommunikationsfreiheit gliedert sich in Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit. 205

Nach dem Grundgesetz garantiert der Staat allen Bürgern und Bürgerinnen diese Freiheitsrechte?06 Die im Grundgesetz garantierte Kommunikationsfreiheit, die zu den individuellen Freiheitsrechten gehört, beschränkt sich aber nicht allein auf allgemeine Meinungsäußerungen politischer, religiöser, weltanschaulicher oder journalistischer Art, sondern bezieht sich ebenso auf ökonomische Prozesse, das heißt auf Marktkommunikation bzw. Wirtschaftswerbung?07 Markt- und Werbefreiheit sind jedoch keine absoluten und grenzenlosen Freiheitsrechte, sie müssen sich an den Freiheitsrechten der anderen Wirtschaftssubjekte messen. Grenzen der Werbung sind dort zu ziehen, wo Werbernaßnahmen den Personstatus und die ökonomische Freiheitsentfaltung - im Sinne der Produktion, Distribution und Konsumtion - entweder der Nachfrager oder der Mitbewerber beschneiden. Das Sozialprinzip der Personalität, wie es Gaudium et spes formuliert hat, enthält auch für den Werbe- und Wirtschaftsbereich eine grundlegende normative Orientierung, nach der gesellschaftliche Institutionen um der Menschen willen da sind und nicht umgekehrt?08 Im Rahmen medialer Werbung kann die Personalität des Menschen entweder durch die Sozialtechnik der Werbung oder durch die Gestaltung der Werbung verletzt werden. 209 Unter Sozialtechnik der Werbung versteht man den Transport der Werbebotschaft, das heißt, hier steht die Art der medialen Übermittlung im Vordergrund. Das werbeethische Problem liegt also auf der Ebene des Werbeträgers. Unter Gestaltung der Werbung versteht man die Darstellung der Werbebotschaft in Bild und / oder Text, das heißt, hier steht die Frage nach der kreativen Umsetzung der Werbenachricht im Mittelpunkt. Das werbeethische Problem liegt demzufolge auf der Ebene des Werbemittels. Vgl. Branahl, Udo, Medienrecht. Eine Einführung, Opladen 1992, 17. ,,Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet." Art. 5 Abs. 1 GG. 207 Vgl. Schmidt-Jortzig, Edzard, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: Isensee, Josefl Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Bd., Heidelberg 1989,645/646. 208 Vgl. GS, Art. 25. Dieser Grundsatz der christlichen Sozialethik wird dann auch im Wirtschaftskapitel der Pastoralkonstitution wiederholt und stellt den Menschen in den Mittelpunkt ökonomischer Prozesse. "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und das Ziel aller Wirtschaft." GS, Art. 63. 209 V gl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 73. 205

206

20

Bohrmann

306

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Wer ist aber in Deutschland für Werbung verantwortlich, und wie sieht das System der Werbekontrolle für "Gesundheitsprodukte" im Einzelnen aus? In der Bundesrepublik Deutschland ist Werbung einem umfassenden Kontrollsystem unterworfen, das hauptsächlich durch folgende Akteure repräsentiert wird: • Staat, • Werbewirtschaft (d. h. besonders Werbungtreibende, Werbeagenturen und Medien), • Landesmedienanstalten (zuständig für den privaten Rundfunk), • Verbände zur Förderung gewerblicher Interessen, • Verbraucherverbände und schließlich • Verbraucher. Die Akteure der Werbewirtschaft haben sich zum Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft ZAWe.V. mit der zentralen Kontrollinstitution, dem Deutschen Werberat, zusammengeschlossen. 2JO Speziell für den Bereich der Heilmittelwerbung hat die deutsche pharmazeutische Industrie eine werbekontrollierende Organisation mit dem Namen Integritas (Verein für lautere Heilmittelwerbung e.V.) gegründet, die Werbernaßnahmen nach dem Erscheinen selbstverantwortlich - also ohne Staatsintervention - kontrolliert und gegebenenfalls beanstandet. Die primäre Verpflichtung des Staates besteht darin, eine effiziente Wirtschaftsordnung zu gestalten und zu sichern, in der sowohl die Freiheitsrechte der einzelnen Wirtschaftssubjekte garantiert werden als auch die Handlungen der ökonomischen Akteure in ausreichender Weise normativ geregelt sind. Eine solche Wirtschaftsordnung benötigt zum einen ökonomische und mediale Freiheitsrechte und zum anderen rechtlich fixierte Grenzen und Kontrollinstitutionen, die diese Normen überwachen. Im Kontext der marktwirtschaftlichen Ordnung bildet das Wettbewerbsrecht ein adäquates System der Markt- und Werbekontrolle. Zwar gibt es in Deutschland kein zusammenfassendes Werberecht, doch gilt das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) als Mittelpunkt des Wettbewerbsrechts und als Grundgesetz des gesamten Wettbewerbs. 211 Zentrum des Gesetzes bildet die so ge210 Der Zentral verband der deutschen Werbewirtschaft ist eine Interessengemeinschaft aller Mitglieder der Werbebranche, die ein gemeinsames Ziel haben, nämlich Werbung zu betreiben, zu gestalten und zu transportieren. Dementsprechend kann der ZAWauch als Solidargemeinschaft verstanden werden. Diese Gruppensolidarität - obwohl sie eigene Interessen verfolgt - sprengt den engen Rahmen der eigenen Aufgaben, da sie immer auch den Blick auf eine sozialverträgliche Werbung hat. Die unterschiedlichen Aktivitäten, z. B. die Herausgabe, Verbreitung und Überwachung von Werberichtlinien, zielen letztlich auf den Schutz der Verbraucher. Vgl. Nickel, Volker, Aufgaben in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Werbung. Was die Solidargemeinschaft ZAW leistet, Vortrag, Regionales GWA-ChefTreffen, Bonn 1995. 211 Vgl. Nickel, Volker, Werbung in Grenzen. Report über Werbekontrolle in Deutschland, Bonn 111994, 19.

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

307

nannte (große) Generalklausei: "Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbes Handlungen vornimmt, die gegen die ,guten Sitten' verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden.,,212 Als "Kategorischer Imperativ" des Wettbewerbsrechts steht das UWG an herausgehobener Position vor allen anderen Normen und schreitet überall dort unterstützend und ergänzend ein, wo Einzelnormen nicht greifen oder befriedigen. Fast das gesamte Wettbewerbsrecht lässt sich somit unter dieser einen grundlegenden Klausel zusammenfassen?13 Die Kontrolle des privaten Rundfunks, der sich in erster Linie aus Werbeeinnahmen finanziert, wird in Deutschland von den Landesmedienanstalten wahrgenommen?14 Die zentrale Aufgabe der Landesmedienanstalten ist die Programmkontrolle, die speziell für den Programmteil Werbung durch eine gemeinsame Institution, der Gemeinsamen Stelle Werbung, ausgeübt wird. Die Gemeinsame Stelle Werbung sorgt für eine ländereinheitliche Verfahrensweise bei der Werbekontrolle. Als gesetzliche Grundlage dienen der Rundfunkstaatsvertrag und die Werberichtlinien der Landesmedienanstalten. Die Unternehmen, die Werbung in Auftrag geben, die Agenturen, die Werbung gestalten, und die Medien, die Werbung vermitteln, bilden die werbewirtschaftlichen Verantwortungsträger. Die oberste werbeethische Regel für diese Akteure ist die Beachtung der Rahmenordnung in Form der speziellen Werbegesetze, Werberichtlinien und Wettbewerbsregeln. Neben der Befolgung der staatlichen Gesetze und Verordnungen zur Werbung müssen sich alle Akteure vor allem auch an den vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft und vom Deutschen Werberat herausgegebenen Verhaltensregeln orientieren. Die Aufgabe des Werberats, der 1972 vom ZAW in Bonn gegründet wurde, besteht darin, "durch geeignete Maßnahmen die Werbung im Hinblick auf Inhalt, Aussage und Gestaltung weiterzuentwickeln, verantwortungsbewußtes Handeln zu fördern, Mißstände im Werbewesen festzustellen und zu beseitigen sowie als ständiges Anspracheorgan für verbraucherbezogene Werbeprobleme zur Verfügung zu stehen.'.215 Die vom Werberat ausgeübte Werbeselbstkontrolle ergänzt die staatliche Rahmenordnung und greift überall dort ein, wo gesetzliche Normen nicht mehr oder noch nicht greifen. Damit werden also kritische Werbernaßnahmen, die entweder von einzelnen Akteuren der 212 § 1 UWG. Die juristische Praxis spricht bei folgenden Tatbeständen von einem Verstoß gegen die "guten Sitten": Bei (1) unerlaubtem Kundenfang (z. B. durch Irreführung oder physischen oder psychischen Zwang), (2) Behinderung im Wettbewerb (z. B. durch unerlaubte Beeinträchtigung von Mitbewerbern), (3) Ausbeutung der Mitbewerber (z. B. durch Schmarotzen an fremden Leistungen oder Anlehnen an fremden Markenzeichen, Verrat von Industriegeheirnnissen), (4) Rechtsbruch (z. B. durch Verletzung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften), (5) Marktstörung (z. B. durch unerlaubte Marktverdrängung). Vgl. BaumbachI Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 396-776. 213 V gl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 85. 214 Vgl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 88/89. 215 Art. 1 der Arbeitsgrundsätze des Deutschen Werberats.

20·

308

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Werbewirtschaft oder von den umworbenen Verbrauchern als moralisch bedenklich definiert werden, bereits vor der Einleitung von juristischen Schritten unterbunden. 216 Neben dieser grundsätzlichen Funktion erfüllt der Werberat drei spezielle Aufgaben: (1) Begutachtung und Bewertung von konkreten Werbernaßnahmen, die Umworbene als anstößig empfunden und an den Rat geleitet haben;217 (2) Kommunikation über die Arbeit des Rates nach innen, also in die weiten Felder der Werbewirtschaft, und nach außen, also in die Öffentlichkeit; (3) Erarbeitung und Verteilung von speziellen Normen für die Werbung (Verhaltensregeln und Werberichtlinien).218 Besonders mit den zuletzt genannten Kommunikationsrnaßnahmen sollen Fehlentwicklungen bei der inhaltlichen Gestaltung von Werbernaßnahmen bereits bei der Werbeplanung verhindert werden. Solche Leitlinien des Deutschen Werberats sind beispielsweise: "Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen", "Verhaltensregeln des Deutschen Werberats über die Werbung für alkoholische Getränke", "Verlautbarung des Deutschen Werberats zum Thema Herabwürdigung und Diskriminierung von Personen".219 Während der Deutsche Werberat die Aufgabe der werbewirtschaftlichen Selbstkontrolle übernimmt, bilden nach § 13 Abs. 2 UWG die Mitbewerber am Markt, Verbände zur Förderung gewerblicher Interessen - hier ist an die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. zu denken -, bestimmte Verbraucherschutzorganisationen und die Industrie- und Handelskammern die Fremdkontrollorgane, die den Leistungswettbewerb von außen beobachten und gegebenenfalls als Kläger in Wettbewerbsstreitigkeiten auftreten?20 Innerhalb der Fremdkontrolle haben insbesondere die verschiedenen Institutionen des Verbraucherschutzes eine Vgl. Bohrmann. Ethik - Werbung - Mediengewalt, 9l. Nach eingegangenen Beschwerden kanalisiert die Geschäftsführung des Deutschen Werberats zunächst die Kritik. Bei einer problematischen Werbemaßnahme, die nicht gegen gesetzliche Bestimmungen verstößt - in solchen Fällen leitet der Werberat die Beschwerde an zuständige Stellen weiter (z. B. an die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs in Bad Homburg) - wird zunächst das Unternehmen um eine Stellungnahme gebeten. Das Unternehmen kann nun die Werbung zurückziehen, ändern oder aber auch erklären, dass es die Kommunikationsmaßnahme weiterhin verbreiten werde. In diesem Fall wird die Beschwerde allen Mitgliedern (zur Zeit sind es dreizehn) des Werberates zur Begutachtung vorgelegt. Das betreffende Unternehmen wird über die Abstimmung informiert. Kommt der Werberat zu dem Ergebnis, dass eine werbliche Darstellung zu ändern oder gänzlich zu unterlassen ist, dann folgen die meisten Produzenten auch dem Entscheid des Werberates. Falls aber das werbungtreibende Unternehmen nicht von der Werbemaßnahme abrücken und diese weiterhin verbreiten möchte, so spricht der Deutsche Werberat eine öffentliche Rüge aus, die in der gesamten Tagespresse und den Publikationen des ZAW veröffentlicht wird. Vgl. insgesamt zum Beschwerdeverfahren Verfahrensordnung des Deutschen Werberates. Fassung vom 24. 09. 1979, in: Nickel, Volker, Werbung in Grenzen, Bonn "1994, 125 -127; Jahrbuch Deutscher Werberat 2001, 26; Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 91/92. 218 Vgl. Nickel. Werbung in Grenzen, 52; Jahrbuch Deutscher Werberat 2001,20. 219 Vgl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 94/95. 220 Vgl. Bohrmann. Ethik - Werbung - Mediengewalt, 105. 216 217

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

309

herausgehobene Funktion. Zum einen gestalten sie das Anbieterverhalten, indem konkrete Beschwerdefälle verhandelt werden, und zum anderen prägen sie weiterhin das Verbraucherverhalten, da sie eine Verbrauchererziehung und Verbraucherberatung institutionalisiert haben. 221 Letzter Adressat der Werbung ist der Konsument selbst, der durch Kaufentscheid oder auch Kaufverzicht demonstriert, ob er mit den angebotenen Produkten und Dienstleistungen zufrieden oder unzufrieden ist. In der marktwirtschaftlichen Ordnung sind zwei Handlungsmöglichkeiten denkbar, die die Konsummündigkeit deutlich machen: Zum einen können sich Verbraucher über bestimmte Werbernaßnahmen, etwa beim Deutschen Werberat, bei einer Verbraucherschutzorganisation oder auch bei den betreffenden Unternehmen, beschweren; zum anderen können Verbraucher mit ihrem individuellen Kaufboykott ein bestimmtes Produkt, eine Werbemaßnahme oder auch die Unternehmenspolitik ablehnen. Widerspruchsrecht, Plebiszit durch aktive Teilhabe an marktrelevanten Prozessen und autonome Konsumentscheidungsmöglichkeiten, die in solchen Steuerungsmöglichkeiten zum Ausdruck kommen, gehören zu den ökonomischen Spielregeln in einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft. 222 Betrachtet man die hier skizzierte Ordnungsstruktur der Werbewirtschaft in Deutschland, wird deutlich, dass in dieser bereits verschiedene Ethosformen und eine bereichsspezifische Ethik enthalten sind. Diese den Strukturen und Institutionen inhärente Ethik wird von verschiedenen Interessengruppen getragen, die allesamt das Marktgeschehen auf unterschiedliche Weise gestalten und normieren. 223 Dazu gehören nicht nur die unterschiedlichen Produzenten, sondern auch die Konsumenten und alle Institutionen, die sich für die Belange dieser bei den Gruppen stark machen. Werbeethik bewegt sich zwischen Fremdkontrolle und Selbstkontrolle. Mit diesen beiden Kontrolleinrichtungen hat sich eine werbeethische Ordnungsstruktur entwickelt, die sich sowohl für die Belange der Verbraucher als auch für die der Anbieter einsetzt. Denn institutionalisierte Werbenormen bewahren und fördern nicht nur die Stellung der Konsumenten, sondern ebenso auch die Position der Produzenten. Unternehmungen können nämlich zum einen durch unlautere Wettbewerbsmethoden seitens der Konkurrenz an ihrer freien wirtschaftlichen Entfaltung gehindert werden und zum anderen durch die Verbraucher, wenn ungerechtfertigte Kritik an ihre Marketingentscheidungen herangetragen wird. Nimmt man weiterhin die Position der Verbraucher auf dem Markt in den Blick, so wird ersichtlich, dass diese nicht wehrlos und ohnmächtig einem übermächtigen ökonomischen System ausgeliefert sind, sondern durch staatliche Elemente der Wettbewerbsordnung geschützt werden. 224 Weitreichender Verbraucherschutz erfolgt zudem mittels der selbstdisziplinären Ordnung der Werbewirtschaft, die durch den 221 Vgl. Kuhlmann, Eberhard, Verbraucher, Verbraucherschutz, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.). Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg I Basel I Wien 1993, 1192 - 1201. 222 V gl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 108/109. 223 V gl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 110. 224 V gl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 110.

310

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Deutschen Werberat repräsentiert wird. Eine direkte Partizipationsmöglichkeit kommt den einzelnen Verbrauchern im Protest oder Boykott zu. Eine herausragende Position auf dem Gebiet der Heilmittelwerbung nimmt der Verein für lautere Heilmittelwerbung e.v. (Integritas) ein. Integritas ist ein Selbstkontrollorgan der phannazeutischen Industrie, der 1962 auf Initiative des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller e. V. (BAH) mit Sitz in Bonn gegründet wurde. 225 Neben dem BAH, dem Bundesverband der Phannazeutischen Industrie e. V. (BPI) und dem Verband der Reformwarenhersteller e. V. (VRH) sind weitere 74 Einzelfirmen Mitglieder des Vereins?26 Als Selbstkontrollorganisation der Arzneimittelindustrie hat sich Integritas verpflichtet, den lauteren Wettbewerb für Heilmittel und verwandte Produkte einzuhalten und unlautere Werbemaßnahmen zu bekämpfen. Der Vereinszweck wird in der Satzung im Einzelnen wie folgt umschrieben: "Der Verein hat die Aufgabe, den Wettbewerb für Heilmittel und verwandte Produkte zu schützen und zu stärken. Der Verein wird dazu beitragen, den lauteren Wettbewerb zu erhalten und unlauteren Wettbewerb gegebenenfalls im Zusammenwirken mit Behörden und Gerichten zu bekämpfen. Der Verein wird insbesondere die Werbung für Heilmittel und verwandte Gebiete auf ihre Lauterkeit und Vereinbarkeit mit den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen sowie den für sie ergangenen Wettbewerbsregeln überprüfen und gegen Verstöße vorgehen ...227 Hauptaufgabe des Vereins ist die Werbenachkontrolle. Integritas prüft konkrete Werbemaßnahmen nach ihrem medialen Erscheinen auf ihre Rechtmäßigkeit entsprechend den Normen, wie sie im HWG grundgelegt worden sind. Eine institutionalisierte Werbevorkontrolle findet deshalb nicht statt, wenngleich Firmen durchaus - auf freiwilliger Basis - den Verein als Beratungsinstanz aufsuchen und geplante Werbemaßnahmen vorab zur Überprüfung vorlegen können. 228 Beschwerden können Mitgliedsfirmen, interessierte Dritte oder auch die Geschäftsführung des Vereins zur Prüfung einreichen. 229 Bei Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen - das HWG und das UWG sind hierbei die primären Rechtsquellen - folgt eine Rüge der betreffenden Unternehmen. Wenn Streitigkeiten nicht gütlich beigelegt werden, leitet der Verein rechtliche Schritte ein, wie Abmahnungen, einstweilige Verfügungen oder Klagen. 23o Die Tätigkeit von Inte225 Der Griindungsname von Integritas ist "Verein zur Wahrung einer lauteren Werbung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens". 226 Vgl. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Faltblatt, Bonn 0.1., Werbung in Deutschland 2001, 201. 227 § 2 Abs. 1. Satzung vom 01. 12. 1999, Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Bonn. 228 V gl. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Geschäftsbericht 1999/2000, Bonn 2000,15. 229 Vgl. Gawrich, Simone 1 Paneina, Manfred 1Ziller, Ruth, Heilmittel und Werberecht. Erläuterungen zum Heilmittelwerbegesetz (HWG), hrsg. vom Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller (BAH) und Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW), Bonn 1999, 101. 230 V gl. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Faltblatt.

m. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

311

gritas bezieht sich hauptsächlich auf Publikumswerbung. Hinsichtlich der Fachwerbung greift Integritas nur dann ein, wenn grundsätzliche Rechtsprobleme verhandelt werden müssen, die auch Auswirkungen auf die Publikumswerbung haben?3! Im Jahre 2000 musste Integritas 40 Abmahnungen aussprechen. 15 Beanstandungen konnten einvernehmlich gelöst werden, in 7 Fällen wurden Gerichtsverfahren geführt. 232 Wie auch schon in den Jahren vorher ist ein besonderes Problernfeld die Abgrenzung zwischen Arzneimittelwerbung und Lebensmittelwerbung. 233 Rechtsprobleme in diesem Grenzbereich ergeben sich vor allem deshalb, weil die Produzenten einerseits den einfachen Marktzugang für Lebensmittel nutzen wollen, andererseits aber arzneimittelähnliche Indikationsangaben innerhalb ihrer Kommunikationsstrategien einsetzen. 234 Während der Verein für lautere Heilmittelwerbung ausschließlich Rechtsfragen zu lösen hat, also Probleme, die sich aufgrund der Verletzung des Heilmittelwerbegesetzes ergeben, beinhalten die Beschwerden vor dem Deutschen Werberat im Hinblick auf Arzneimittelwerbung - moralisch zweifelhafte Fälle?35 Das heißt, dass auf den ersten Blick zunächst einmal keine Rechtsverstöße vorliegen. Dennoch fühlen sich Verbraucher durch eine bestimmte Art der Werbedarstellung oder Werbeaussage in ihrem sittlichen Empfinden verletzt. In diesem Sinne sind Arzneimittel für den Deutschen Werberat mit anderen Produktgruppen vergleichbar. Eine beanstandete Arzneimittelwerbung, die nicht gegen rechtliche Bestimmungen verstößt, durchläuft das herkömmliche Beschwerdeverfahren, wie es der Deutsche Werberat auch für alle anderen Produkte vorsieht. Aus der Spruchpraxis des Deutschen Werberats sollen zur Verdeutlichung zwei Beispiele vorgestellt werden, die sich auf Werbemaßnahmen mit Arzneimitteln beziehen: (1) Mit dem Werbetext "Wer jetzt einschläft, wacht vielleicht nie wieder auf' bewarb ein Medikamentenhersteller Dragees zur Stärkung des Organismus. Vgl. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. v., Faltblatt. Vgl. Werbung in Deutschland 2001, 201/202; Werbung in Deutschland 2000, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 2000, 156. 233 Vgl. Werbung in Deutschland 2001, 202; Werbung in Deutschland 2000, 156/157; Werbung in Deutschland 1999, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 1999, 174; Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. v., Geschäftsbericht 1999/2000,18-20. 234 Die mangelnde Abgrenzung zwischen beiden Produktgruppen kann beispielsweise an Schlankheitsmitteln, wie Apfelessig, Spargel- oder Chitosanpräparate - so genannte Nahrungsergänzungsmittel - festgemacht werden, da hier eher mit arzneimittelähnlichen Aussagen geworben wird. Vgl. Werbung in Deutschland 1999, 174. Laut Geschäftsbericht von 1999/2000 wird zur Zeit eine rechtliche Auseinandersetzung über Distribution und Werbung eines Joghurts mit dem Zusatz Johanniskraut und Melisse geführt. Vgl. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Geschäftsbericht 1999/2000,18/19. 235 Wenn der Deutsche Werberat innerhalb einer Werbemaßnahme Normen des Heilmittelwerbegesetzes verletzt sieht, leitet er aber die Beschwerde an den zuständigen Verein für lautere Heilmittelwerbung weiter. Vgl. Verfahrensordnung des Deutschen Werberates, 125. 231

232

312

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

Unter dem Anzeigentext war ein Autofahrer abgebildet, der nachts auf einer Straße fährt. Die eingereichte Beschwerde an den Werberat erkannte in dieser Kommunikationsform eine unzulässige Werbung mit der Angst. 236 Auch der Werberat sah in dieser Werbemaßnahme eine unzulässige Werbung mit einem Angstmotiv und beanstandete die Anzeige. "Dem angesprochenen Verbraucher werde suggeriert, er benötige das beworbene Produkt, um sich vor dem Einschlafen am Lenkrad und damit vor einem möglichen Unfalltod zu bewahren.,,237 Nach Kontaktaufnahme und Kritik vonseiten des Werberats versicherte der Produkthersteller, die Werbeanzeige nicht mehr zu veröffentlichen. (2) Mit dem Werbespruch "Rheuma braucht etwas gegen freie Radikale ... " wurde ein Rheumamittel beworben. Auf der Anzeige war ein Punk mit Hahnenkammfrisur und einer nietenbesetzten Lederjacke zu sehen. In der Kritik, die an den Werberat gerichtet war, wurde die Werbung als gewaltverherrlichend deklariert?38 Der Deutsche Werberat sah hingegen keinerlei Anlass, gegen diese Werbeanzeige vorzugehen und beanstandete sie demzufolge auch nicht: "Allein die Abbildung eines sogenannten Punkers in dieser Werbung verherrliche nicht Gewalt gegen andere Personen.,,239

4. Inhaltsethische Kriterien für die Gestaltung von Werbemaßnahmen auf dem Gesundheitsmarkt Neben den grundsätzlichen Freiheitsrechten der Marktkommunikation müssen im Rahmen einer zu entwickelnden Werbeethik in besonderer Weise auch Verbote und Grenzen thematisiert werden, an denen sich die werbungtreibende Wirtschaft zu orientieren hat. Es wurde bereits erläutert, dass die Grenzen medialer Werbung dort zu ziehen sind, wo Werbernaßnahmen den Personstatus behindern und die ökonomische Freiheitsentfaltung im Hinblick auf Produktion, Distribution und Konsumtion beschnitten wird. Werbung als integraler Bestandteil der marktwirtschaftlichen Ordnung nimmt für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung eine Dienstfunktion ein und erfüllt neben den wettbewerblichen Zwecken durchaus auch eine humane Funktion: Der in der Werbung vorhandene Informationsgehalt ist die Basis für individuelle Konsumentscheidungen und somit ein zentraler Bestandteil für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Werbeethische Probleme können entweder - wie bereits skizziert - auf der Ebene des Werbeträgers (Sozialtechnik der Werbung) oder auf der Ebene des Werbemittels (Werbegestaltung) verortet werden. Eine ethisch bedenkliche Form im Hinblick auf eine bestimmte Sozialtechnik der Werbung wäre dann gegeben, wenn die menschliche Freiheit im Sinne der Konsumentensouveränität durch manipulative 236 Vgl. Spruchpraxis Deutscher Werberat, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 71997,64. 237 Spruchpraxis Deutscher Werberat, 64. 238 Vgl. Spruchpraxis Deutscher Werberat, 23. 239 Spruchpraxis Deutscher Werberat, 23.

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

313

Techniken, etwa durch subliminale oder getarnte Werbemittel, eingeschränkt werden würde. Wahrend aber problematische Sozialtechniken der Werbung im Kontext der werbeethischen Diskussion nur eine geringe Rolle spielen, werden hingegen werbeethische Probleme auf der Ebene der Werbegestaltung intensiv erörtert. Besonders die rege Diskussion der letzten Jahre um die so genannte Aufmerksamkeitsund Schockwerbung - zu denken ist hier beispielsweise an die Werbung von Benetton - hat gezeigt, dass die Öffentlichkeit eine problematische Werbegestaltung in Frage stellt und verstärkt ein Ethos der Werber einfordert. Provokationen in der Werbegestaltung sind aber nicht nur Erscheinungen der Erlebnisgesellschaft der 1990er-Jahre, denn es gab bereits in den 1960er-Jahren Aufsehen erregende Werbeauftritte unterschiedlichster Unternehmen. 24o Trotzdem gilt die Benettonwerbung bislang als Höhepunkt einer Werbung, die mit Hilfe von Werbebildern bewusst auf den Schock und den Tabubruch setzt. 241 Anstoß erregende und somit provozierende Werbekampagnen werden - so ist zu vermuten - auch in Zukunft auf den gesättigten Konsumgütermärkten der Innovativwirtschaft zu finden sein; sind es doch solche Werbeauftritte, von denen die werbungtreibende Wirtschaft glaubt, sie sichern den umworbenen Produkten die nötige Aufmerksamkeit. Will man brauchbare inhaltsethische Kriterien für die Werbegestaltung auf dem Gesundheitsmarkt aufstellen, so ist zunächst hervorzuheben, dass Werbernaßnahmen für pharmazeutische Produkte den grundlegenden werbeethischen Normen folgen müssen, wie sie auch für andere Produkte gelten. Im Folgenden werden einige Grundnormen einer Ethik der Werbung, die sich gegen eine Verletzung der Personalität stellen, aufgeführt: 242 Werbung auf der Ton-, Bild- und Textebene darf einzelne Menschen oder bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. Frauen, ethnische oder religiöse Minderheiten, Ausländer) nicht diskriminieren, die Würde der dargestellten Person(en) nicht herabsetzen und keine religiösen Gefühle, die zentrale Glaubensinhalte oder -symbole betreffen, verletzen. Weiterhin darf Werbung kein gewalttätiges Verhalten in der Form abbilden, dass Verbraucher dadurch beängstigt - im Sinne von Angst- oder Furcht-Appellen - oder in ihrem menschenrechtlichen Status (z. B. als Mitglieder einer diskriminierten gesellschaftlichen Subgruppe) verletzt werden. Inszenierte Gewalt für Werbezwecke darf zudem keine reale Gewalt in der Gesellschaft verharmlosen, indem z. B. ein gewalttätiges Verhalten heruntergespielt oder beschönigt wird. Grundsätzlich gilt auch für Werbung jene inhaltsethische Verbotsnorm der Medienethik, die allgemeine Grenzen für die mediale Gewaltpräsentation zieht. 243 Werbemotive dürfen darüber hinaus keine falschen 240 1968 sorgte beispielsweise ein Werbeplakat für Afri-Cola (von Charles Wilp) für großes öffentliches Aufsehen, auf dem drei Nonnen mit dem zweideutigen Spruch ,,1968 im Afri-Cola Rausch" warben. Vgl. Schulze, Angela, Werbung an der Grenze. Provokation in der Plakatwerbung der 50er bis 90er Jahre, Wiesbaden 1999,208. 241 Vgl. zur ethischen Problematik der Benettonwerbung Bohrmnnn, Ethik - Werbung Mediengewalt, 112 - 116; Könches, Barbara, Ethik und Ästhetik der Werbung. Phänomenologie eines Skandals, Frankfurt a.M. 2001,18-66; Schulze, Werbung an der Grenze, 238-253. 242 Vgl. Bohrmnnn, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 73 - 76.

314

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

oder irreführenden Produktinfonnationen verbreiten, um damit Konsumenten bewusst zu täuschen. Irreführende und unwahre Aussagen können sich z. B. auf die Produkteigenschaft, die Produktherkunft, die Produktzusammensetzung, die Produkterzeugung, den Produktvorrat, die Produktentsorgung oder auch den Produktpreis beziehen. Falsche Werbeaussagen schädigen den Verbraucher, da er sich an werblichen Äußerungen orientiert, die ihn zum Kauf bewegt haben. Außerdem müssen Werbernaßnahmen die Unerfahrenheit und die noch nicht ausreichend ausgebildete Kritikfähigkeit junger Zielgruppen (Kinder und Jugendliche) in besonderer Weise beachten. Nachdem in einem ersten Schritt allgemeine Nonnen für die Werbegestaltung skizziert worden sind, sollen im zweiten Schritt zentrale inhaltsethische Kriterien vorgestellt werden, die sich speziell auf Werbernaßnahmen für Phannaprodukte beziehen. Infonnationen, also (medizinisches) Wissen über Erkrankungen und deren Heilungsmöglichkeiten mit Hilfe bestimmter Wirkstoffe und Arzneimittel, sind dabei jene Gehalte, die für Werbernaßnahmen phannazeutischer Produkte von großer Bedeutung sind. Kommunikations-Strategien von Heilmitteln stellen den Nutzen der Produkte in den Vordergrund, so dass sowohl Konsumenten (Publikumswerbung) als auch medizinische Fachkreise (Fachwerbung) aufgrund der Werbernaßnahmen ein möglichst fundiertes Wissen über Entstehungsbedingungen der Erkrankungen, Anwendungsgebiete, Inhaltsstoffe bzw. besondere Wirkstoffe, Wirkungen, Herstellungsprozesse erhalten. Ethische Leitlinien für die Gestaltung der Publikumswerbung müssen sich zuvorderst auf Produktinfonnationen beziehen, da sich besonders hier ein breites Feld von Manipulationsmöglichkeiten auftut. Verfälschende Werbung - neben subliminaler und getarnter Werbung die dritte Fonn der Manipulation - kann dadurch charakterisiert werden, dass sie selektive, falsche oder irreführende Infonnationen verbreitet. 244 Die Autonomie des Verbrauchers, also die souveräne Konsumentscheidung, wird durch solche verfalschende Werbeauftritte eingeschränkt. Während die Angehörigen der ärztlichen Heilberufe aufgrund ihrer Ausbildung Produktinfonnationen überprüfen können, fehlt den medizinischen Laien dieses Spezial- und Beurteilungswissen. Aus diesem Grund ist es ethisch geboten, dass hier zum Schutze der Verbraucher - in besonderer Weise Grenzen der Marktkommunikation aufgebaut und manipulative Aussagen vermieden werden. Folgende wer243 Eine solche allgemeine inhaltsethische Verbotsnorm wurde an anderer Stelle für den Filmbereich erarbeitet. Diese Grundnorm gilt aber grundsätzlich auch für alle anderen Medienbereiche, somit also auch für die Werbung. Die inhaltsethische Grundnorm lautet wie folgt: "Ethisch illegitim sind gewalthaltige [Medien], die Personen und Gruppen verketzern, verfolgen oder diskriminieren, die Gewalt verherrlichen oder verharmlosen, Gewalt sadismus- oder masochismusaffirmativ präsentieren, Gewalt propagieren oder zur Gewaltausübung öffentlich aufrufen." Bohrmann, Thomas, Ethik der Produktion und des Inhalts, in: Hausmanninger, Thomas I ders. (Hrsg.), Mediale Gewalt - Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, München 2002, 327. 244 Vgl. Bohrmann, Ethik - Werbung - Mediengewalt, 57.

111. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

315

beethische Nonnen im Hinblick auf die Präsentation von Produktinfonnationen sind daher einzuhalten: (1) Grundsätzlich gilt, dass Werbung als solche kenntlich gemacht werden muss. Werbung, die von den Umworbenen aufgrund einer getarnten Werbebotschaft nicht erkannt wird, missachtet die Autonomie der Verbraucher. Getarnte Werbeaussagen sind manipulativ, da sie die Konsumenten über die Intention einer bestimmten medialen Kommunikation täuschen und somit die freie Willensentscheidung erschweren oder unmöglich machen. Im Hinblick auf die Publikumsarzneimittelwerbung muss diese werbeethische Nonn in besonderer Weise betont werden, da Werbung für pharmazeutische Produkte sehr häufig - im Printbereich - aus einem umfangreichen Infonnationsteil (Textteil) besteht. Heilmittelwerbung kann nämlich durch Anordnungen oder Fonnulierungen so gestaltet werden, dass sie wie ein unabhängiger Beitrag des redaktionellen Teils erscheint, während sie aber realiter gegen Entgelt abgedruckt wurde. Werbeaussagen müssen demnach vom redaktionellen Teil getrennt (Trennungspflicht) und als Werbefonn gekennzeichnet (Kennzeichnungspflicht) werden,z45 Eine Trennung zwischen einer entgeltlichen Werbeveröffentlichung und einem redaktionellen Beitrag kann entweder durch Gestaltung (z. B. Bild, Grafik, Schriftart, Layout) und Anordnung oder durch deutliche Kennzeichnung mit dem Ausdruck "Anzeige" erfolgen. 246 (2) Infonnationen über Arzneimittel, Verfahren, Wirkstoffe und therapeutische Wirkungen müssen wahr sein. Falsche Produktinfonnationen manipulieren bzw. täuschen die Verbraucher und führen sie - in der Sprache des Wettbewerbsrechts - in die Irre. Diese werbeethische Nonn gilt für die Publikumswerbung sowie für die Fachwerbung. Eine verfälschende Werbung liegt aber nicht nur dann vor, wenn unwahre Infonnationen medial verbreitet werden, sondern ebenso, wenn bestimmte Tatsachen nicht ausdrücklich gesagt werden. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber im Heilmittelwerbegesetz einen so genannten Pflichtangabenkatalog mit unverzichtbaren Infonnationen aufgestellt: Diese Pflichtangaben beziehen sich auf den Namen des pharmazeutischen Unternehmens, die Bezeichnung des Arzneimittels, die Zusammensetzung des Arzneimittels, die Anwendungsgebiete, die Gegenanzeigen, die Nebenwirkun245 In wettbewerbsrechtlicher Sicht ist eine getarnte Heilmittelwerbung eine spezielle Fonn der unlauteren Werbung gemäß § 1 UWG. Vgl. Bülow, Peterl Ring, Gerhard, Heilmittelwerbegesetz. Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens (HWG), Köln u. a. 1996, 381. Trennungsgrundsatz und Kennzeichnungsgrundsatz werden speziell im Heilmittelwerbegesetz verlangt. Vgl. § 11 Abs. 9 HWG. Im Rundfunkstaatsvertrag werden Trennungs- und Kennzeichnungspflicht für den audio-visuellen Medienbereich nonnativ eingefordert. Vgl. § 7 RfStV. Vgl. dazu auch die Richtlinien der Werbewirtschaft für die Werbegestaltung im Printbereich. Vgl. ZAW-Richtlinien für redaktionell gestaltete Anzeigen (1980), in: Nickel, Volker, Werbung in Grenzen, Bonn 111994, 134/135. Vgl. insgesamt zu dieser Problematik auch Baems, Barbara, Schleichwerbung lohnt sich nicht! Plädoyer für eine klare Trennung von Redaktion und Werbung in den Medien, Neuwied/Kriftel/Berlin 1996. 246 Vgl. Wolff, Dietmar, Schleichwerbung in Pressemedien, Bonn 1997, 11.

316

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

gen, Warnhinweise hinsichtlich der Behältnisse oder der äußeren Umhüllung. Weiterhin müssen Mittel, die nur aufgrund ärztlicher Verschreibung verordnet werden dürfen, mit dem Hinweis "Verschreibungspflichtig" versehen werden. Außerdem müssen Wartezeiten bei Arzneimitteln angegeben werden, die zur Anwendung bei Tieren vorgesehen sind, die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen?47 Je nach Adressat der Werbung sind die Pflichtangaben unterschiedlich. Für alle Adressaten müssen aber Angaben über den pharmazeutischen Unternehmer, die Bezeichnung des Arzneimittels und die Anwendungsgebiete gemacht werden. 248 Die Angaben, wie sie nach § 4 Abs. I HWG vorgeschrieben sind, müssen dann auch - gemäß § 4 Abs. 2 HWG - in den Informationen der Packungsbeilage enthalten sein. 249 Solche Gebrauchsinformationen, wie sie in der Packungsbeilage stehen, dienen der Aufklärung und Unterrichtung der Arzneimittelkonsumenten. 25o Sie richten sich nicht an die medizinischen Fachkreise, da die pharmazeutischen Unternehmer den Ärzten/ Ärztinnen und Vertretern anderer Berufe im Gesundheitswesen spezielle Fachinformationen zur Verfügung stellen müssen. 25t Die Pflichtangaben in der Heilmittelwerbung - so kann resümiert werden - greifen die zentralen Informationen aus der Packungsbeilage heraus und richten sich je nach Adressaten entweder an die Fachkreise oder die medizinischen Laien. 252 Ausdrücklich muss laut Heilmittelwerbegesetz in jeder Publikumswerbung Bezug genommen werden auf die Packungsbeilage: "Bei einer Werbung außerhalb der Fachkreise ist der Text ,Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker' gut lesbar und von den übrigen Werbeaussagen deutlich abgesetzt und abgegrenzt anzugeben.,,253 Mit diesem Hinweis wird die rationale und autonome Entscheidungsfähigkeit der Verbraucher angesprochen, die sich so zusätzlich zu den gemachten Werbeaussagen über das betreffende Arzneimittel informieVgl. § 4 Abs. 1 HWG. Vgl. Bü[ow! Ring, Heilmittelwerbegesetz, 165. Angaben über Gegenanzeigen, Nebenwirkungen, Wamhinweise und Wartezeiten bei Tieren können je nach Art des beworbenen Arzneimittels entfallen. Das Heilmittelwerbegesetz schreibt beispielsweise auch nicht vor, dass in audio-visuellen Medien diese Angaben zu veröffentlichen sind. Weiterhin sind nur innerhalb der Fachwerbung Angaben bezüglich der Zusammensetzung und der Verschreibungspflicht zu machen. Vgl. Bü[ow! Ring, Heilmittelwerbegesetz, 166. 249 Im AMG werden die notwendigen Gebrauchsinformationen, wie sie in der Packungsbeilage zu stehen haben, aufgeführt. Vgl. § 11 AMG. 250 Vgl. Bülow! Ring, Heilmittelwerbegesetz, 166. 251 Vgl. § lla AMG. 252 Vgl. Bü[ow! Ring, Heilmittelwerbegesetz, 166. 253 § 3 Abs. 3 HWG. Für die audio-visuelle Arzneimittelwerbung ist gesetzlich geboten, dass der vorgeschriebene Text vor neutralem Hintergrund einzublenden und gleichzeitig zu sprechen ist. Ein neutraler Hintergrund in der Werbung wird dann präsentiert, wenn keine ablenkenden Bildelemente, wie etwa Arzneimittelpackung oder die Arzneimittel selbst (z. B. Tabletten), zu erkennen sind. 247

248

III. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

317

ren können. Das bedeutet, dass also nicht nur das werbungtreibende Unternehmen über ein pharmazeutisches Produkt informiert, sondern weiterhin unabhängige "Dritte". Arzt! Ärztin und Apotheker! Apothekerin gelten somit als Arzneimittelspezialisten; der Verweis auf die Packungsbeilage betont notwendige, vom Gesetzgeber verlangte Pflichtangaben im Hinblick auf den Arzneimittelgebrauch. (3) Werbeaussagen, die den medizinischen Laien im Blick haben (Publikumswerbung), dürfen nur sachliche Produktinformationen verbreiten, ohne dass dabei suggestive Beeinflussungselemente präsentiert werden. Unter einer suggestiven Beeinflussung soll eine Kommunikationsform verstanden werden, bei der es dem Rezipienten erschwert wird, eine rationale Konsumentscheidung zu treffen. Bestimmte Zusatzinformationen über das Produkt innerhalb einer Werbemaßnahme kann der medizinische Laie nicht überprüfen, so dass eine unsachgemäße Beeinflussung vorliegt. Der medizinische Laie muss demnach durch bestimmte Arten und Formen der Werbung geschützt werden. Verschiedene suggestive, unsachgemäße Beeinflussungse1emente sind denkbar: (a) Eine Werbemaßnahme wirbt mit wissenschaftlichen Gutachten und medizinischen Fachpublikationen. Problematisch ist eine solche Darstellung, weil der medizinische Laie über kein dementsprechendes Wissen verfügt und sein nicht vorhandenes Beurteilungsvermögen hinsichtlich wissenschaftlich-medizinischer Sachverhalte ausgenutzt wird,z54 Verbraucher - auch mit einem durchschnittlichen Wissen - können den Wahrheitsgehalt und die fachbezogenen Aussagen eines Gutachtens nicht kontrollieren,z55 (b) Eine Werbemaßnahme wirbt mit Vertretern der medizinischen Heilberufe (Ärzte! Ärztinnen, Krankenschwestern! Krankenpfleger, Apotheker! Apothekerinnen), die aufgrund ihrer Berufskleidung auch zu erkennen sind. Entscheidend ist dabei, dass die genannten Personenkreise ein Heilmittel anpreisen oder bei einer berufsspezifischen Handlung zu sehen sind. Für eine Kaufentscheidung sollen allein sachliche Informationen ausschlaggebend sein und keine beeinflussenden Bildelernente, die die scheinbare Seriosität und das Vertrauen hinsichtlich dieser Berufe in den Vordergrund stellen. Solche Gestaltungselemente in der Werbung nutzen das in der Bevölkerung nach wie vor vorhandene Berufsprestige und die dahinter stehende besondere Autorität von Angehörigen der Heilberufe aus. 256 (c) Eine Werbemaßnahme wirbt mit Krankengeschichten - im Sinne einer Erfolgsstory - und mit dem Heilungsprozess, der durch die Medikation des umworbenen Produktes erzielt wurde. Krankengeschichten provozieren 254 255 256

Diese Nonn findet sich sinngemäß in § 11 Abs. 1 HWG. VgI. GaytTichl ParteinalZiller, Heilmittel und Werberecht, 70. Diese Nonn findet sich sinngemäß in § 11 Abs. 4 HWG.

318

E. Ethische Leitlinien und Orientierungspunkte

beim Rezipienten den Vergleich mit dem eigenen Leiden. Verbraucher werden damit unsachlich beeinflusst. Für diese Norm ist unerheblich, ob eine Werbung Betroffene (medizinische Laien) oder Ärzte / Ärztinnen präsentiert. 257 (4) Arzneimittelwerbung darf sich grundsätzlich nicht an Kinder richten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Werbernaßnahmen die noch nicht ausreichend ausgebildete Kritikfähigkeit von jüngeren Rezipienten berücksichtigen müssen. Kinder sind noch auf dem Weg zu ihrer vollen Autonomie und Kritikfähigkeit. Aus diesem Grund haben sie Anrecht auf einen bestimmten altersadäquaten Rezeptionsraum. In diesem sollen sie vor medialen Einflüssen geschützt werden, die sie - auf der Basis ihres Urteilsvermögens - (noch) nicht rationalisieren können. Werbeethische Normen im Hinblick auf Kinder können anhand von drei problematischen Produktgruppen expliziert werden: Alkoholwerbung, Tabakwerbung und Arzneimittelwerbung. Ausschlaggebend für einen besonderen Kinderschutz im Hinblick auf diese Produkte ist ihre Gesundheitsgefährdung. Speziell für Arzneimittel gilt, dass Kinder die nötigen Gebrauchsinformationen für den Heilmittelkonsum noch nicht in ausreichender Form verstehen können. Nicht sie selbst sollen zu Produkten der Selbstmedikation greifen, sondern die Erziehungsberechtigten sind für den Arzneimittelkonsum ihrer Kinder verantwortlich. Aus den hier aufgeführten Gründen darf sich Arzneimittelwerbung immer nur an Erwachsene - im Sinne der eigentlichen Werbeadressaten - richten. Freilich dürfen Arzneimittelprodukte, die kindliche Erkrankungen lindern oder heilen wollen, beworben werden sowie Kinder selbst als Akteure beispielsweise in einem Werbespot für Heilmittel auftreten. Die werbeethische Verbotsnorm zielt allein auf den Adressatenkreis und nicht auf das Produkt oder die darstellenden Werbefilmfiguren. Unter werbeethischen Gesichtspunkten ist es demnach illegitim, wenn beispielsweise Kinder selbst in einem Werbefilm oder Werbespot andere Kinder direkt auffordern, ein bestimmtes Arzneimittel zu kaufen und zu konsumieren. 258 Die Verbotsnorm richtet sich darüber hinaus auch auf die Platzierung im Umfeld von Programmteilen sowie auf die Art der Werbeträger. Demnach ist eine Arzneimittelwerbung, die in einem Medium erscheint, das sich überwiegend an Kinder richtet (z. B. eine Kinderzeitschrift), illegitim. Diese Norm gilt auch, wenn

Diese Nonn findet sich sinngemäß in § 11 Abs. 3 HWG. In den Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern sowie den dazugehörigen Kurzerläuterungen werden eine Reihe von solchen werbeethischen Regeln - bezogen auf alle Produktgruppen - vorgestellt, wie sie vor allem für den Werbefunk und das Werbefernsehen gelten. Vgl. Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen (1992), in: Nickel, Volker, Kinder, Kinder. Über das Unbehagen an der Werbung, Bonn 1994, 40/41; Kurzerläuterungen zu den Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen, in: Nickel, Volker, Kinder, Kinder. Über das Unbehagen an der Werbung, Bonn 1994, 42/43. 257

258

ill. Exkurs: Werbung und Gesundheitswesen

319

Werbemaßnahmen für Arzneimittel im Umfeld von Kindersendungen geschaltet werden. 259 Im Mittelpunkt der hier vorgestellten inhaltsethischen Gestaltungskriterien für Arzneimittelwerbung steht - so konnte gezeigt werden - der Mensch als Verbraucher, der aufgrund der Besonderheit von Heilmitteln vor manipulativen Kommunikationsformen geschützt werden muss. Trotz der grundsätzlichen Konsummündigkeit des Individuums in der Marktwirtschaft wird seine Position aber dort relativiert, wo Werbung zu täuschen versucht oder Verbraucher bewusst in die Irre geführt werden. Die dargestellten Verbotsnormen berühren nicht nur das Ethos der Werber bzw. der werbetreibenden Wirtschaft, sondern lassen sich auch in konkrete Rechtsnormen überführen, die mit Sanktionsgewalt ausgestattet sind. Die Eigenart des Rechts besteht ja gerade darin, dass bei Rechtsübertretungen Sanktionen ausgesprochen werden. Staatlich geregelte Rechtsstrukturen fördern deshalb den gerechten Wettbewerb und schützen in diesem Sinne Mitbewerber sowie Konsumenten.

259 Im Heilmittelwerbegesetz findet die hier entfaltete Norm dann ihre Entsprechung: Für Arzneimittel darf nicht geworben werden "mit Werbemaßnahmen, die sich ausschließlich oder überwiegend an Kinder unter 14 Jahren richten." § 11 Abs. 12 HWG.

Ergebnis Am Ende dieser Abhandlung soll das Ergebnis in Grundzügen zusammengefasst und noch einmal die Relevanz einer sozialethischen Reflexion über das Gesundheitswesen in den Mittelpunkt gerückt werden. Schaut man auf den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs, so rallt auf, dass in erster Linie gesundheitspolitische, gesundheitsökonomische, zunehmend aber auch philosophische Positionen die Debatte um die Struktur des Gesundheitswesens bestimmen. Sozialethische Stimmen kommen bislang nur am Rande vor. Vorliegende Arbeit hat sich das Ziel gesetzt, die Funktionslogik des Gesundheitswesens zu beschreiben, das in ihm vorhandene Ethos herauszuarbeiten und mit Hilfe eines Reformmodells strukturelle Überlegungen zur zukünftigen Gestaltung der Gesundheitsversorgung zu präsentieren. Wenn sich Sozialethiker und Sozialethikerinnen mit dem gesellschaftlichen Teilsystem der Gesundheitsversorgung beschäftigen, dann müssen sich die Reflexionen auf drei Bereiche beziehen, die in Grundzügen die Funktionsteile des Gesundheitswesens widerspiegeln: Gesundheitssicherung, Gesundheitsversorgung mit Gesundheitsleistungen bzw. Gesundheitsgütern, Gesundheitspolitik. Diese drei Teilbereiche bilden die Problemfelder aus, die unter ethischen Gesichtspunkten zu reflektieren sind. Die Ethik der Gesundheitssicherung reflektiert die Struktur des Krankenversicherungssystems und fragt, wie die Gesundheitsleistungen bzw. Gesundheitsgüter finanziert und verteilt werden sollen. Die Ethik der Gesundheitsversorgung prüft den Ablauf der Versorgung mit Gesundheitsleistungen bzw. Gesundheitsgütern und stellt die jeweilige Verantwortung der einzelnen Akteure der Gesundheitsproduktion und der Gesundheitsdistribution heraus. Die Ethik der Gesundheitspolitik untersucht schließlich die Rahmenordnung des Gesundheitswesens und übt somit direkten Einfluss auf die Gesundheitssicherung und die Gesundheitsversorgung aus. Die in der Arbeit beschriebenen Akteure können insgesamt als Verantwortungsträger identifiziert werden, die sich mit allen Aufgaben beschäftigen müssen, die innerhalb eines Gesundheitswesens zu lösen sind. In diesem Sinne geht es um die Fragen, wer die Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter finanziert, wer die Leistungen und Güter erbringt und wer über die Ordnung des Gesundheitswesens entscheidet. Eine zu entwerfende Ethik des Gesundheitswesens muss aus diesem Grund notwendigerweise die Gesundheitsfinanzierer, die Gesundheitsproduzenten sowie die Gesundheitsregulierer in den Blick nehmen. Diese Teilbereiche agieren freilich nicht losgelöst voneinander, sondern sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden, stimulieren sich gegenseitig, hemmen sich aber auch. In dieser Studie ist zum Ausdruck gebracht worden, dass der Teilbereich der Gesundheitssicherung

Ergebnis

321

für die sozialethische Reflexion eine besondere Bedeutung einnimmt, da sich hier die zum Teil konkurrierenden Interessen aller Akteure treffen. Auch wenn jede Person und jede Institution eine individuelle Aufgabe im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung zu erfüllen hat, müssen alle Akteure innerhalb des Systems zusammenspielen. Wie schwierig aber gerade dieses Zusammenspiel ist, hat die vorausgegangene Untersuchung gezeigt, da die einzelnen Akteure immer auch eigene Interessen im Blick haben. In diesem Sinne wurde das Gesundheitswesen als "Kampfplatz" organisierter Interessen beschrieben. Als normative Wissenschaft ist die Sozialethik auf Orientierungen und Prinzipien angewiesen, mit denen soziale Strukturen - hier das Gesundheitswesen - gestaltet werden können. Ausgangspunkt einer Ethik des Gesundheitswesens ist die Rede vom Menschen als Person. Mit dem Personbegriff erhält die Sozialethik ihr oberstes ethisches Prinzip. Nach dem Grundsatz der christlichen Sozialethik sind alle gesellschaftlichen Institutionen am Wohl der menschlichen Person auszurichten. Das heißt, dass soziale Strukturen so zu gestalten sind, dass sie die individuelle Freiheitsentfaltung der Menschen unterstützen. Die gesellschaftliche Ordnung wird dem Menschen folglich erst dann gerecht, wenn er von der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse nicht ausgeschlossen ist. In dieser Arbeit wurde das ökonomische Handeln als konkrete Form der Freiheitsentfaltung des Menschen herausgestellt. Die Ermöglichung, dass sich Anbieter und Nachfrager wirtschaftlich betätigen können, entspricht der Selbstverantwortung und Entscheidungsfreiheit des Menschen. Innerhalb marktwirtschaftlicher Prozesse haben nur diese beiden Personengruppen darüber zu bestimmen, was produziert und konsumiert wird. Allerdings gibt es auch Märkte - und der Markt, der der Gesundheitsversorgung dient, gehört dazu -, die strukturinterne Steuerungsdefizite aufweisen und in diesem Sinne nicht funktionieren. Der Markt versagt bei Gesundheitsleistungen und -gütern, weil er u. a. intransparent und das Arzt-Patienten-Verhältnis asymmetrisch ist. Hier ist es geboten, dass staatliche Akteure mit Hilfe einer Rahmenordnung die Position der Schwächeren stärken und spezielle Verteilungsregeln entwickeln, nach denen alle gesellschaftlichen Subjekte - also auch jene mit geringeren finanziellen Ressourcen - an den lebensnotwendigen Grundgütern partizipieren können. Obwohl in einer Marktgesellschaft die individuelle Leistungsfähigkeit über den Gütererwerb entscheidet - man kann hier von der Leistungsgerechtigkeit sprechen -, erhält die Bedürfnisgerechtigkeit - eine Ausprägung der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft im Sinne eines Korrektivs einen zentralen Platz. Die Leistungsgerechtigkeit tritt also für eine Option für die Starken ein, während die soziale Gerechtigkeit eine Option für die Schwachen zum Ausdruck bringt. Innerhalb der Diskussion, wie ein Gesundheitswesen zu ordnen ist, spielen vor allem beide Gerechtigkeitsbegriffe eine herausragende Rolle. Das gegenwärtige System der solidarischen Krankenversicherung, wie es sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich herausgebildet hat und bis heute den Sozialstaat prägt, orientiert sich nicht an der Leistungsgerechtigkeit, sondern primär an der Bedürfnisgerechtigkeit. Bei der Leistungsgerechtigkeit steht die Äquivalenz von 21 Bohnnann

322

Ergebnis

Beiträgen und Leistungen im Vordergrund, so wie das bei der PKV der Fall ist. Bei der Bedüifnisgerechtigkeit handelt es sich nicht um Äquivalenz, sondern um eine spezielle Form der Umverteilung, die dem Gedanken der Solidarität folgt. Als normative Orientierung wurde in vorliegender Untersuchung das Solidaritätsprinzip in besonderer Weise berücksichtigt, da zum einen das Ethos der Solidarität hinter dem Organisationsprinzip der GKV steht und zum anderen die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der solidarischen Gesundheitsversorgung gegenwärtig besonders intensiv diskutiert wird. Die Finanzierung der Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter erfolgt gemäß dem für die Sozialethik zentralen Prinzip der Solidarität. Hierbei handelt es sich um eine Con-Solidarität, da die Solidaritätsakteure, also diejenigen, die Solidarität spenden, (potenziell) von einer gleichen Notlage betroffen sind wie die Solidaritätsrezipienten, also diejenigen, die Solidarität empfangen. Individuen, die also con-solidarisch miteinander verbunden sind, tragen ein gemeinsames Schicksal. Für den Bereich der Gesundheitsversorgung heißt das, dass alle Versicherungsnehmer sich gegenseitig in die Pflicht nehmen, sich im Krankheitsfall finanziell zu unterstützen. Die dafür erforderlichen Finanzmittel werden innerhalb der GKV dabei zur Hälfte von den Versicherten und zur Hälfte von den Arbeitgebern aufgebracht. Das Hauptmerkmal der gesetzlichen Versicherung ist die soziale Umverteilung. Das heißt, in der GKV wird nicht nur einfach eine Einkommensumverteilung wirksam, also zwischen Finanzstarken und Finanzschwachen, sondern eine Umverteilung, die sich auf chronisch Kranke, Alte, kinderreiche Versicherungsnehmer und Familien sowie Frauen bezieht. Im Unterschied dazu findet in der PKV keine soziale Umverteilung statt, da es sich hierbei um eine Individualversicherung handelt, die Risikoprämien für ihre Mitglieder erhebt und der Risikoausgleich ausschließlich individuumsbezogen ist (von dem rein versicherungstechnischen Solidarausgleich abgesehen). Während bei der GKV Krankheit vergesellschaftet ist, da hier ein ganzes Kollektiv für die Krankheit der einzelnen Versicherungsnehmer aufkommt, ist innerhalb des Systems der PKV Krankheit zum großen Teil privatisiert. Im Mittelpunkt der aktuellen sozialpolitischen Diskussion steht die Frage nach der Zukunft der Gesundheitssicherung. Die Probleme, mit denen das Gesundheitswesen zu kämpfen hat, sind auf das Engste verknüpft mit den durch die Modernisierung ausgelösten gesellschaftlichen Prozessen, wenngleich aber auch gerade die Modernisierung für die Funktionsstärke des Gesundheitswesens konstitutiv geworden ist. Vier grundlegende soziologische Modernisierungsprozesse, nämlich soziale Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung, prägen das Bild der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Subsysteme. Diese Prozesse haben Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung: Der medizinisch-technische Fortschritt verursacht nicht nur einen enormen Kostenfaktor, er stellt unweigerlich auch die Frage nach der Rationierung von Gesundheitsleistungen, da die neu entwickelten Güter und innovativen Behandlungsmaßnahrnen aufgrund der hohen finanziellen Kosten nicht allen zur Verfügung stehen können.

Ergebnis

323

Die Möglichkeiten aufgrund des medizinischen Fortschritts haben dazu geführt, dass sich eine Anspruchsmentalität bei vielen Menschen gebildet hat, die mit den begrenzten Ressourcen des Gesundheitswesens allerdings nicht zu vereinbaren ist. Innerhalb der Diskussion um die Leistungsgewährung wird immer wieder darüber gestritten, welche Leistungen von der Solidargemeinschaft der Versicherten übernommen werden sollen: Der Streitpunkt bezieht sich auf bestimmte "Mode-Arzneimittel" wie etwa Viagra oder Propecia, aber auch auf hochtechnische medizinische Leistungen, bestimmte Operationen, psychoanalytische Behandlungen, Kuren und Hilfsmittel. Hier tut sich eine Diskrepanz auf, die jedoch nicht zu lösen ist - auf der einen Seite die individuellen, potenziell grenzenlosen Wünsche bzw. Ansprüche und auf der anderen Seite die engen strukturellen Möglichkeiten, diese Ansprüche im Rahmen des Gesundheitswesens zu erfüllen. Indem sich die Gesellschaft immer mehr säkularisiert, das kirchlich Religiöse folglich reduziert und der Glaube an eine jenseitige Dimension abnimmt, sucht der Mensch im Diesseits bereits nach einem Sinnkosmos, den er in vielfältiger Form auch zu finden glaubt. Neben den unterschiedlichen Formen der "unsichtbaren Religion" gewinnt besonders auch der kraftvolle und gesunde Körper an Bedeutung und erhält einen quasi religiösen Wert. Gesundheit wird zur säkularen Heilserwartung. Der alte, kranke und absterbende Körper wird in die gesellschaftliche Randzone gedrängt. Vor allem auch die Individualisierung, jener Prozess, der für die Modeme konstitutiv geworden ist, trägt dazu bei, dass die Probleme innerhalb des Gesundheitswesens deutlich zu Tage treten. Die Individualisierung war im 19. Jahrhundert u. a. der Auslöser für den Verlust traditioneller Bindungen und Sicherheiten. Mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde die individualisierte Arbeiterschaft in ein gesetzlich verankertes solidarisches Sicherungssystem integriert. Dies war die Geburtsstunde der Vergesellschaftung von Krankheit. Im Kontext der zweiten Modeme, der reflexiven Modernisierung, trägt die Individualisierung zur Veränderung im Aufbau der Bevölkerungsstruktur bei. Das größte Problem besteht darin, dass ein geringer werdender Anteil jüngerer Beitragszahier den sukzessive größer werdenden Anteil der Älteren im Rahmen der Gesundheitssicherung mitzutragen hat. Aufgrund der ungleichen Verteilung der Lebensalter wird der Generationenvertrag brüchig. Der gegenwärtige wissenschaftliche Diskurs, an dem verschiedene Disziplinen beteiligt sind, kann dadurch charakterisiert werden, dass die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Gesundheitssicherung im Mittelpunkt steht. Das bedeutet aber nicht, dass die ethische Reflexion über die Struktur des Gesundheitswesens ausschließlich im Sinne einer Ethik der Gesundheitssicherung zu führen ist. Ethische Fragen im Hinblick auf die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsversorgung müssen immer mit berücksichtigt werden, da die einzelnen Funktionsbereiche des Gesundheitswesens, wie diese Untersuchung immer wieder deutlich gemacht hat, auf das Engste miteinander verbunden sind. In vorliegender Arbeit wurde das Reformmodell einer dualen Gesundheitssicherung unter sozialethischen 21*

324

Ergebnis

Gesichtspunkten erörtert. Nach diesem Modell hat die Gesundheitssicherung ähnlich wie auch das neue Rentenmodell (Riester-Rente) - zwei Stufen, eine Basisversorgung, die nach dem Vorbild der GKVorganisiert ist, und eine Individualversicherung, die die Versicherten aus einem pluralen Angebot auswählen können. Das Hauptproblern, das innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um dieses Gesundheitssicherungssystem thematisiert wird, ist die Frage, was zum Kernbestand der solidarischen Sicherung gehört und was in den Bereich der Selbstverantwortung fällt. Diese Entscheidung kann aber weder allein von den Akteuren der Gesundheitspolitik und den Akteuren der Gesundheitssicherung, noch allein von den Akteuren der Gesundheitsversorgung getroffen werden. Da die Gesundheitsversorgung im Rahmen eines solidarischen Systems stattfindet und somit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, können nur alle Betroffenen des Gesundheitswesens hierüber entscheiden. In Anlehnung an den Konsultationsprozess der Kirchen wurde der Vorschlag angeführt, dass auch innerhalb der Strukturen des Gesundheitswesens ein breiter gesellschaftlicher Diskussionsprozess über die Zukunft der Gesundheitssicherung durchgeführt werden soll. Dabei ist zu berücksichtigen, dass vor allem auch die Patienten und Versicherten eine Stimme erhalten und sich in gebührender Form artikulieren können. Nur so ist gewährleistet, dass der Gedanke der Beteiligungsgerechtigkeit auch realisiert wird. Dieser Diskussionsprozess kann dazu beitragen, dass die Thematik der Gesundheitsversorgung ins Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung rückt und alle Bürger und Bürgerinnen angeregt werden, über ihr eigenes Gesundheitsverhalten sowie ihre eigenen Anspruchshaltungen nachzudenken. Freilich muss ein solches Gesundheitssicherungsmodell, wie es hier vorgeschlagen wird, zumindest Grundkriterien im Hinblick auf die im Rahmen der solidarischen Versorgung zu gewährende Grundsicherung anführen. Eine Basisversorgung muss Unfälle und medizinische Notfälle abdecken. Als Leitkriterium gilt, dass solche Krankheiten und Gesundheitsstörungen primär behandelt werden, "die die Fähigkeit zu einer (möglichst langfristigen) eigenverantwortlich-integralen Lebensführung (zum Zweck der Teilnahmemöglichkeit an sozialer Kommunikation) am gravierendsten hindern." (Dabrock). Ferner muss der Versicherungsschutz auch für chronische, pädiatrische und psychiatrische Erkrankungen sowie für die Schwangerenversorgung und die Geburtshilfe gewährleistet sein. Neben der gesamtgesellschaftlichen Entscheidung über die Reichweite der Grundversorgung ist weiterhin ein Beratungs- und Informationssystem, das von allen Akteuren des Gesundheitswesens finanziert wird, notwendig. Nur diejenigen können Selbstverantwortung realisieren, die hierfür auch institutionelle Hilfe erhalten. Die Stärkung der Patienten- und Versichertenposition muss deshalb eine zentrale Aufgabe aller Akteure des Gesundheitswesens darstellen. Während in anderen Ländern (z. B. den Niederlanden und im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon) bereits eine breite gesellschaftliche Diskussion über Priorisierungsentscheidungen geführt worden ist, scheuen sich die Akteure des deutschen Gesundheitswesens vor einer solchen Debatte.

Ergebnis

325

Das hier favorisierte Gesundheitssicherungsmodell hält an der Idee der Solidarität fest, entwickelt den seit dem Gesundheitsstrukturgesetz implementierten Wettbewerbsgedanken im Rahmen der Solidarstruktur aber weiter und ergänzt in diesem Sinne die Gesundheitssicherung mit einer privatwirtschaftlichen Gesundheitsversorgung. Eine grundsätzliche Privatisierung der Gesundheitsversorgung im Sinne eines liberalistischen Versicherungsmodells, in dem dann die Krankheitsrisiken eines großen Teils der Bevölkerung nicht mehr sozial ausgeglichen werden, würde die solidarische Gesundheitsversorgung, wie sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allmählich herausgebildet hat, im Kern zerstören. Die Errungenschaft des Sozialstaates liegt gerade in der Vergesellschaftung von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Unfall. Die private, auf Tauschgerechtigkeit setzende Krankenversicherung richtet hingegen den Blick primär auf den einzelnen Versicherungsnehmer, der einen konkreten Versicherungsschutz nachfragt. Individualversicherungen erheben von daher Risikoprämien und können - bei einem hohen Risiko - den Versicherungsschutz ablehnen. Kerne1emente der solidarischen Sicherung sind aber der Kontrahierungszwang und das Nicht-Diskriminierungsverbot, die für eine kollektive Gesundheitssicherung konstitutiv sind und es auch bleiben müssen. Ein rein liberalistisches Gesundheitswesen nach dem Vorbild der USA, das höchstens eine minimale Grundsicherung für besonders Bedürftige und ärmere Bevölkerungsteile kennt, würde einen radikalen Systemwechse1 der bislang solidarischen Gesundheitsversorgung bedeuten. Das hier diskutierte duale Gesundheitssicherungsmodell ist hingegen eine Modifikation des bestehenden Systems und trägt den Namen solidarische Wettbewerbsordnung. Mit der im Zentrum der Arbeit stehenden kollektiv organisierten Gesundheitsversorgung wird zum Ausdruck gebracht, dass das Kernelement einer solidarischen Gesellschaft die soziale Umverteilung ist. Der Ausgleich zwischen Leistungsstarken und Bedürftigen ist als Errungenschaft des Sozialstaates zu erhalten. Für die christliche Sozialethik spielt die Leitidee der Solidarität eine gewichtige Rolle. Eine solidarische Gesellschaft macht deutlich, dass Individuum und Gesellschaft aufeinander bezogen sind und sich ihre Entwicklungsmöglichkeiten nicht voneinander trennen lassen: Das einzelne Individuum ist auf die Gesellschaft existentiell angewiesen, da es gesellschaftliche Hilfe in Notsituationen erhält und es sich im Rahmen von Institutionen entfalten kann; ebenso ist eine Gesellschaft nur so stark und leistungsfähig wie ihre Mitglieder. Die Leistungsstarken tragen aber nicht nur einfach die Last und das Risiko der Schwachen und Bedürftigen, sondern sie verdanken ihre Stärke und Leistungskraft sowohl dem vorausgegangenen Handeln vieler Einzelner als auch der Funktionskraft gesellschaftlicher Institutionen. In der christlichen Sozialethik wird diese Doppelbezogenheit mit dem klassischen Ausspruch "Wir sitzen alle in einem Boot" (Nell-Breuning) ausgedrückt. Die Abhängigkeit vom jeweils anderen gilt als Kerncharakteristikum einer solidarischen Gesellschaft und bildet folglich auch die Grundlage des Sozialstaates mit seinen verschiedenen Systemen der sozialen Sicherung. Ein solidargemeinschaftlich funktionierendes Sicherungssys-

326

Ergebnis

tem, das einerseits Freiräume für die eigenverantwortliche Lebensführung schafft und andererseits grundlegende Unterstützungsformen im Risikofall gewährt, bleibt auch in Zukunft unverzichtbar, um die Zielvorstellung einer solidarischen Gesellschaft zu erfüllen.

Literaturverzeichnis I. Bücher, Artikel, Aufsätze Achinger, Hans, Soziale Sicherheit. Eine historisch-soziologische Untersuchung neuer Hilfsmethoden, Stuttgart 1953. Alber, Jens, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Struktur und Funktionsweise, Frankfurt a.M./New York 1992. - Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983, Frankfurt a.M. 1989. - Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a.M. 1982.

Altendorf, Rainer, Der soziale Ausgleich im System der Sozialversicherung, Köln 1971. Amery, Carl, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek bei Hamburg 1972. Andersen, Hansfried H., Themenschwerpunkte und Forschungsfelder der Gesundheitsökonomie. Einführung und Überblick, in: ders.1 Henke, Klaus-Dirk I Schulenburg, Matthias Graf von der (Hrsg.), Basiswissen Gesundheitsökonomie, 1. Bd., Berlin 1992, 13 - 36. Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderbom u. a. 1998. - Rechtlich-ethische Voraussetzungen des modemen Sozialstaates, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998, 13-35.

Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und eingeführt von Gigon, Olof, München 1991. Bäcker, Gerhard u. a., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. 2. Bd.: Gesundheit und Gesundheitssysteme, Familie, Alter, Soziale Dienste, Wiesbaden 32000. Backes, Ottol Stebner, Frank A., Gesundheitsrecht, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998,753-777. Baems, Barbara, Schleichwerbung lohnt sich nicht! Plädoyer für eine klare Trennung von Redaktion und Werbung in den Medien, Neuwied I Kriftell Berlin 1996. Bahrdt, Hans P., Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 3 1987. Bandelow, Nils C., Gesundheitspolitik. Der Staat in der Hand einzelner Interessengruppen? Probleme, Erklärungen, Reformen, Opladen 1998. Bandura, Bernhardl Strodtholz, Petra, Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998, 145-174.

328

Literaturverzeichnis

Barth, Hans/ Baur, Rita, Vom Ausland lernen, in: Böcken, Jan/Butzlaff, Martin/Esche, An-

dreas (Hrsg.), Reformen im Gesundheitswesen. Ergebnisse der internationalen Recherche, Carl Bertelsmann-Preis 2000, Gütersloh 32001, 152-159.

Baßeler, Ulrich/ Heinrich, Jürgen/ Koch, Walter, Grundlagen und Probleme der Volkswirt-

schaft. Studienausgabe, Köln

14 1995.

Bauch, Jost, Gesundheit als sozialer Code. Von der Vergesellschaftung des Gesundheits-

wesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim/München 1996.

Bauer, Eva, Zur Entstehung soziologischer Theorie: Anfange soziologischen Denkens, in:

Morel, Julius u. a., Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze und ihre Hauptvertreter, München/Wien 1989, 1-30.

Baumbach, Adolf / Hefennehl, Wolfgang, Wettbewerbsrecht. Gesetz gegen den unlauteren

Wettbewerb, Zugabeverordnung, Rabattgesetz und Nebengesetze, München

18 1995.

Baumgartner, Alois, "Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär". Zur an-

thropologischen und theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Nörr, Knut W. /Oppermann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, 13 - 22.

- Das Subjekt der Demokratie: Anmerkungen zum Problem politischer Verantwortung, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 36 (1995) 96-108. - Familie: 4. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 731 - 734. - Freiheit und Solidarität. Anmerkungen zur Zuordnungsproblematik sozialethischer Grundbegriffe, in: Gruber, Hans-Günter/Hintersberger, Benedikta (Hrsg.), Das Wagnis der Freiheit. Theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch, Würzburg 1999, 159-169. - Politische Ethik, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 389-391. - Solidarität und Ehrenamtlichkeit, Subsidiarität und Selbsthilfe. Veraltete Prinzipien der Sozialpolitik?, in: Textor, Martin R. (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Sozialpolitik, München 1996, 29 - 38. - Solidarität und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, in: Medicine Today and our Image of Man. 8th European Congress of FEAMC Prague, Czech Republic, June 5-9, 1996, Prague 1996, 149-156. - Solidarität: I. Begriffsgeschichtlich, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 706 - 708. - Solidarität: III. Theologisch-ethisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 7091710. - Subsidiarität, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 1076. - Zukunftsfähige Gesellschaft: Sozialethische Reflexionen zu einer langfristig orientierten Verantwortung, in: Impulse aus der Hauptabteilung Schule und Hochschule des Erzbistums Köln, Nr. 50, 2. Quartal 1999, 2-5 . Baumgartner, Alois/ Korff, Wilhelm, Das Prinzip Solidarität. Strukturgesetz einer verantwor-

teten Welt, in: Stimmen der Zeit 208 (1990) 237 - 250.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

329

- Sozialprinzipien, in: Korff, Wilhelm 1Beck, Lutwin 1Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,405-411. Baur; Rita 1Heimer, Andreas 1Wieseier, Silvia, Gesundheitssysteme und Reformansätze im in-

ternationalen Vergleich, in: Böcken, Jan/Butzlaff, MartinIEsche, Andreas (Hrsg.), Reformen im Gesundheitswesen. Ergebnisse der internationalen Recherche, Carl BertelsmannPreis 2000, Gütersloh 32001, 23-149.

Beck, Ulrich, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Indi-

vidualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, 35-74.

- Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt a.M. 1986. - Vom Verschwinden der Solidarität, in: ders., Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1995,31-41. Beck, Ulrichl Beck-Gemsheirn, Elisabeth, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M.

1990.

- Individualisierung in modemen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modemen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, 10- 39. - (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modemen Gesellschaften, Frankfurt a.M.1994. Beck, Ulrichl Bonß, Wolfgangl Lau, Christoph, Theorie reflexiver Modernisierung - Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Beck, Ulrich 1Bonß, Wolfgang

(Hrsg.), Die Modernisierung der Modeme, Frankfurt a.M. 200 1, 11 - 59.

Beck, Ulrichl Brater; Michaeli Daheim, Hansjürgen, Soziologie der Arbeit und der Berufe.

Grundlagen Problemfelder, Forschungsergebnisse, Reinbek bei Hamburg 1980.

Beck-Gemsheim, Elisabeth, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie,

in: Beck, Ulrichl dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modemen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994,316-335.

- Individualisierungstheorie: Veränderung des Lebenslaufs in der Modeme, in: Keupp, Heiner (Hrsg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie, Frankfurt a.M. 1993, 125 -146. - Stabilität der Familie oder Stabilität des Wandels? Zur Dynamik der Familienentwicklung, in: Beck, Ulrichl Sopp, Peter (Hrsg.), Individualisierung und Integration. Neue Konfliktlinien und neuer Integrationsmodus?, Opladen 1997, 65 - 80. - Vom "Dasein für andere" zum Anspruch auf ein Stück "eigenes Leben", in: Soziale Welt 34 (1983) 307-340. - Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998. Becker; Ulrich, Wettbewerb zwischen den öffentlichen Versicherungen in der gesetzlichen

Krankenversicherung, in: Igl, Gerhard (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung. Wissenschaftliche Tagung des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrecht-Universität Kiel und der AOK Schleswig-Holstein - Die Gesundheitskasse - 25./26. November 1999, Kiel, Wiesbaden 2000, 53 - 76.

330

Literaturverzeichnis

Becker, Winfried, Sozialpolitische Vorstellungen der Kirchen und ihre Realisierung im 19.

Jahrhundert (bis Rerum novarum), in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. AIbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 177 - 193.

Bellebaum, Alfred, Soziales Handeln und soziale Nonn, Paderborn 1983. Bendix, Reinhard, Modemisierung in internationaler Perspektive, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln I Berlin 41979,505-512. Berger, Peter L., Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 41984. - Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1988.

Berger, Peter L. I Berger, Brigitte, Wir und die Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie - entwickelt an der Alltagserfahrung, Reinbek bei Hamburg 1987.

Beske, Fritz, Refonnen im Gesundheitswesen. Aktuelle Vorschläge aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft - Kieler Synopse, Köln 2002.

Beske, Fritzl Hallauer, Johannes F., Das Gesundheitswesen in Deutschland. Struktur - Leistung - Weiterentwicklung, Köln 31999.

Bette, Karl-Heinrich, Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin/New York 1989.

- Wo ist der Körper?, in: Baecker, Dirk u. a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, 600 - 628.

Beywl, Wolfgang, Soziale Sicherung, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1994.

Bi/grien, Marie Vianney, Solidarity: A Principle, an Attitude, a Duty? Or the Virtue for an Interdependent World?, New York u. a. 1999.

Binder, Stephan, Effizienz durch Wettbewerb im Gesundheitswesen. Gesundheitssystem-

steuerung durch wettbewerbsorientierte Anreize im Bereich der Leistungserbringung, Bayreuth 1999.

Bittner, Rüdiger I Heller, Sonja, Ethik in den Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann,

Klaus/Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaft, Weinheim/München 1998,425 -440.

Blum, Karll Fack-Amuth, Werner G., Versorgung mit stationären und medizinischen Einrichtungen, in: Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998,559-579.

Bock, Michael, Auguste Comte, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 22000,39-57.

Bock, Teresa, Wohlfahrtsverbände, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,781-783.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

331

Böckle, Franz, Fundamentalmoral, München 41985. Boethius, Anicius M. S., Contra Eutychen et Nestorium, in: ders., Die theologischen Traktate. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Elsässer, Michael, Hamburg 1988,64-115. Boethius, Jan, Private Zusatzvorsorge. Kein Betätigungsfeld für die gesetzliche Krankenversicherung, in: Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 10/2001,3-6. Bogs, Walter, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, München, 1981.

- Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, Berlin 1955. Böhm-Bawerk, Eugen von, Kapital und Kapitalzins, 2. Bd., Stuttgart 41961. Bohnnann, Thomas, Ethik - Werbung - Mediengewalt. Werbung im Umfeld von Gewalt im Fernsehen, Eine sozialethische Programmatik, München 1997.

- Ethik der Produktion und des Inhalts, in: Hausmanninger, Thomas I ders. (Hrsg.), Mediale Gewalt - Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, München 2002, 315 - 334. Böing, Günther, Hitze, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 5. Bd., Freiburg 2196011986, 395. Bolte, Karl M., Bestimmungsgründe der Geburtenentwicklung und Überlegungen zu einer möglichen Beeinflußbarkeit, in: Bevölkerungsentwicklung und nachwachsende Generation. Bericht eines Arbeitskreises der Gesellschaft für sozialen Fortschritt, hrsg. vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, 93. Bd., Stuttgart u. a. 1980,64-91.

- Der achte Sinn. Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, Bad Harzburg 1971. Bolte, Karl M.I Kappe, Dieter I Schmid, Josef, Bevölkerung. Statistik, Theorie, Geschichte und Politik des Bevölkerungsprozesses, Opladen 41980. Bonß, Wolfgang, Unsicherheit und Gesellschaft - Argumente für eine soziologische Risikoforschung, in: Soziale Welt 42 (1991) 258-277. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987. Branahl, Udo, Medienrecht. Eine Einführung, Opladen 1992. Braun, Hans, Soziale Sicherung. System und Funktion, Stuttgart u. a. 1972.

- Soziologische Untersuchung, in: Zacher, Hans F. (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung. Colloquium der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 1980, 351 - 364. Brennecke, Ralph, Steuerungsprinzipien im Gesundheitswesen, in: Schuller, Alexander / Heim, Nikolaus/Halusa, Günter (Hrsg.), Medizinsoziologie. Ein Studienbuch, Stuttgart 1992,81-95. Breyer, FriedrichI Zweifel, Peter, Gesundheitsökonomie, Berlin u. a. 21997. Brück, Gerhard Köln 21976.

w., Allgemeine Sozialpolitik. Grundlagen -

Zusammenhänge - Leistungen,

Buchanan, Allen, Zur ethischen Bewertung des Gesundheitswesens in den USA, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Ethik und öffentliches Gesundheitswesen. Ordnungsethische und

332

Literaturverzeichnis

ordnungspolitische Einflußfaktoren im öffentlichen Gesundheitswesen, Berlin u. a. 1988, 191-206. Buchbom, Eberhard, Vertrauen und Mißtrauen im Spiegel des ärztlichen Heilauftrages und des rechtlichen Behandlungsvertrages, in: Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 152-163. Buchholz, Edwin H., Unser Gesundheitswesen im Überblick, in: ders. (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Vorgestellt von Repräsentanten seiner wichtigsten Einrichtungen, Berlin u. a. 1988, 7 - 71. Bühl, Walter, L., Gleichheit 11., in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg I Basel! Wien 71986, 1065-1068. Bülow, Peter I Ring, Gerhard, Heilmittelwerbegesetz. Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens (HWG), Köln u. a. 1996. Burkhardt, Bjöm, Verantwortung: 1. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,671-673. Cansier; Dieter, Allokation: 1. Ressourcenökonomisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwinl Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,113-116. Cassel, Dieter, Ordnungspolitische Gestaltung des Gesundheitswesens in der Sozialen Marktwirtschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 45 (2000) 123-143.

- Organisationsreform der GKV. Anspruch und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft 1 (1993) 101-105. Comte, Auguste, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. von Blaschke, Friedrich, Leipzig 1933. Dabrock, Peter, "Medizin in Zeiten knapper Ressourcen". Eine Auseinandersetzung mit Otfried Höffe, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 2 - 22.

- Capability und Decent Minimum. Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium möglicher Priorisierung im Gesundheitswesen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 45 (2001) 202 - 211. - Menschenbilder und Priorisierung, in: Vögele, Wolfgang/Dörries, Andrea (Hrsg.), Menschenbilder in Theologie und Medizin. Fachsymposium zum interdisziplinären Dialog, Rehburg-Loccum 22001,173-223. Dahrendorf, Ralf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen 15 1977. Deppe, Hans-Ulrich, Gesellschaftsstruktur und Gesundheitssystem. Zur Einführung für Mediziner, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M., Zentrum der Psychosozialen Grundlagen der Medizin, Abteilung Medizinische Soziologie, Arbeitspapier Nr. 8/1991.

- Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesundheitspolitik, Frankfurt a.M. 1987. Deutsch, Erwin, Arztrecht und Arzneimittelrecht. Eine zusammenfassende Darstellung mit Fallbeispielen und Texten, Berlin u. a. 21991.

1. Bücher, Artikel, Aufsätze

333

Dierks, Marie-Luise / Schwartz, Friedrich W./ Walter, Ulla, Konsumenteninformation und Pa-

tientensouveränität, in: Reibnitz, Christine von / Schnabel, Peter-Ernst / Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim/München 2001, 71-79.

Dunkel, Wolfgang, Altenpflege - und der Rest des Lebens. Bericht über eine empirische Un-

tersuchung von Altenpflegekräften, Manuskript, Sonderforschungsbereich 333 der Universität München, München 1993.

Dürig, Walter, Gleichheit I., in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg/Basel/Wien 71986,

1068-1073.

Durkheim, Emile, Der Selbstmord, Neuwied 1973.

- Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. - Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992. Düttmann, Renate, Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Kritische Ana-

lyse und Verbesserungsvorschläge, Baden-Baden 1978.

Eigler; Jochen, Medizintechnischer Fortschritt und ärztliches Ethos, in: Jahrbuch für Wissen-

schaft und Ethik 2 (1997) 157 -168.

Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Un-

tersuchungen, Zweiter Band, Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 16 1991.

- Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Erster Band, Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 16 1991. Engelhardt, Dietrich von, Gesundheit, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul

(Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,108-114.

Eser; Albin, Beobachtungen zum "Weg der Forschung" im Recht der Medizin. Eine Einlei-

tung, in: ders. (Hrsg.), Recht und Medizin, Darmstadt 1990, 1-42.

- Die Rolle des Rechts im Verhältnis von Arzt und Patient, in: Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 111-129. Ewald, Fran\iois, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993. FeIlermeier, Jakob, Abriß der Katholischen Soziallehre, Freiburg 1956. Fleischhauer, Kurt, Altersdiskriminierung bei der Allokation medizinischer Leistungen. Kri-

tischer Bericht zu einer Diskussion, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 195-252.

- Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung - ein Blick über die Grenzen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2 (1997) 137 -156. Forschner, Maximilian, Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie,

Darmstadt 1989.

Frerich, Johannes, Sozialpolitik. Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland,

Darstellung, Probleme und Perspektiven der Sozialen Sicherung, München/Wien 3 1996.

334

Literaturverzeichnis

Frey, Christofer, Zur Begründung und zum Verständnis der Gerechtigkeit. Thesen zu P. Dabrocks Kritik an O. Höffe, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 32-35. Fröhlich, Sigrid, Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976. Fuchs, Michael, Ethische Aspekte der Mittelknappheit im Gesundheitswesen: Die Bedeutung von Leitlinien, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 175 -186.

- Medizinische Ethik: 2. Systematisch (Ethik des Gesundheitssystems), in: Korff, Wilhelml Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 659-661. Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Familie und Senioren, Berlin 1994. Furger, Franz, Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung, Stuttgart I Berlin I Köln 1991.

- Sozialethik, in: Rotter, Hans/Virt, Günter (Hrsg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck/Wien 1990,695-702. Fürstenberg, Friedrich, Problemgeschichtliche Einführung, in: ders. (Hrsg.), Religionssoziologie, Neuwied I Berlin 2 1970,13-31. Gabriel, Karl, Krise der Solidarität. Der Konflikt um den Sozialstaat und die christliche GeseIlschaftsethik, in: Stimmen der Zeit 214 (1996) 393 - 402. Gawrich, Simone I Parteina, Manfred I Ziller, Ruth, Heilmittel und Werberecht. Erläuterungen zum Heilmittelwerbegesetz (HWG), hrsg. vom Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller (BAH) und Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW), Bonn 1999. Gehlen, Arnold, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1961.

- Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden

13 1986.

- Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden 51986. Gensicke, Thomas, Sozialer Wandel durch Modemisierung, Individualisierung und Wertewandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 11. 10. 1996, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 3-17. Gerhard, Uta, Gesundheit und Krankheit als soziales Problem, in: Albrecht, Günter I Groenemeyer, Axel/Stallberg, Friedrich W. (Hrsg.), Handbuch sozialer Probleme, Opladen 1999, 402-418.

Gesundheitsbericht für Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1998. Giers, Joachim, Die "Krise" der sozialen Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 17 (1976) 91-111.

- Die Sozialprinzipien als Problem der Christlichen Soziallehre, in: Münchener Theologische Zeitschrift 15 (1964) 278-294. - Zum Begriff der justitia socialis. Ergebnisse der theologischen Diskussion seit dem Erscheinen der Enzyklika "Quadragesimo anno" 1931, in: Münchener Theologische Zeitschrift 7 (1956) 61- 74.

1. Bücher, Artikel, Aufsätze

335

Giese, Constanze, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit: Das Modell des ,Informed Consent' in der Diskussion, Inaugural-Dissertation, KatholischTheologische Fakultät, Universität München 2000. Göbel, Elisabeth, Werbung, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999, 648-670. Gottstein, Adolf U.A. (Hrsg.), Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge. Grundlagen und Methoden, 1.-6. Bd., Berlin 1925-1927. Grimm, Rolf 1Waldeck, Rüdiger, Werbeträger, in: Lötters, Christine u. a., Werbung. Grundlagen, Planung, Umsetzung, Landsberg a.L. 51993, 147 -189. Gründel, Johannes, Fortschritt in Medizin, Ethik und Volkswirtschaft. Theologisch-ethische Assoziationen, Festvortrag 34. Bayerischer Zahnärztetag 1993, Sonderdruck, 21-30.

- Normen im Wandel. Eine Orientierungshilfe für christliches Leben heute, München 2 1984. - Schuld und Versöhnung, Mainz 1985. Gukenbiel, Hermann L., Institution und Organisation, in: Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, 95 - 110. Gundiaeh, Gustav, Der Ort des Gesundheitswesens in der katholischen Soziallehre, in: ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, 2. Bd., Köln 1964, 614-620. Hagen, Thomas, Krankheit - Weg in die Isolation oder Weg zur Identität. Theologisch-ethische Untersuchung über das Kranksein, Regensburg 1999. Halder, Alois, Person: I. Philosophisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg 21963/1986, 287 - 290. Halfmann, Jostl Japp, Klaus P. (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990. Häring, Bemhard, Frei in Christus. Moraltheologie für die Praxis des christlichen Lebens, 3. Bd., Freiburg 1Basel/Wien 1981/1989. Hastedt, Heiner, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt a.M.1991. Hättich, Manfred, Demokratie, in: Staatslexikon, 1. Bd., Freiburg 1Basel 1Wien 71985, 1182-1192. Hauck, Gerhard, Geschichte der soziologischen Theorie. Eine ideologiekritische Einführung, Reinbek bei Hamburg 1984. Hauser, Jürg A., Bevölkerungsentwicklung 1Bevölkerungspolitik: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 347 - 356.

- Bevölkerungswachstum in Industrie- und Entwicklungsländern - heute, in: Ehlers, Eckart (Hrsg.), Ernährung und Gesellschaft, Bevölkerungswachstum - agrare Tragfähigkeit der Erde, Stuttgart/Frankfurt a.M. 1983,73 - 89. Hausmanninger, Thomas, Christliche Sozialethik in der späten Modeme. Grundlinien einer modernitätsintegrativen und -korrektiven Strukturenethik, in: ders. (Hrsg.), Christliche Sozialethik zwischen Modeme und Postmoderne, Paderborn u. a. 1993, 45 - 90.

336

Literaturverzeichnis

- Die Krise der späten Moderne im Licht einer christlichen Sozialethik, in: Holderegger, Adrian (Hrsg.), Fundamente der theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze, Fribourg 1996,362-384. - Kritik der medienethischen Vernunft. Die ethische Diskussion über den Film in Deutschland, München 1992. Heim, Nikolaus, Arzt und Patient, in: Schuller, Alexander/ders./Halusa, Günter (Hrsg.), Medizinsoziologie. Ein Studienbuch, Stuttgart / Berlin / Köln 1992, 98 - 107. Heimbach-Steins, Marianne, Beteiligungsgerechtigkeit. Sozialethische Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion, in: Stimmen der Zeit 217 (1999) 147 -160.

- Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, in: Stimmen der Zeit 215 (1997) 299-310. - Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse - Konfliktfelder - Zukunftschancen, Mainz 2001. Helle, Horst J., Einführung in die Soziologie, München/Wien 2 1997.

- Religionssoziologie. Entwicklung der Vorstellung vom Heiligen, München / Wien 1997. Heller, Andreas, Kranke: 11. Praktisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 6. Bd., Freiburg u. a. 3 1997,411-413. Henke, Klaus-Dirk, Bleibt unser Gesundheitswesen finanzierbar? Vortrag am 10. November 1994 im Niedersächsischen Landtag, hrsg. vom Präsident des Niedersächsischen Landtages, Heft 23, Hannover 1995.

- Zur Rolle des Versicherungsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Schmähl, Winfried (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985, 55-75. Henke, Klaus-Dirk/ Göpffahl1, Dirk, Gesundheitswesen: 3. Gesundheitspolitisch/ gesundheitsökonomisch, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 141-145. Henke, Klaus-Dirk/ Hesse, Michael, Gesundheitswesen, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999,249 - 289. Henke, Klaus-Dirk/ Rachold, Ursula, Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen, in: Igl, Gerhard/Naegele, Gerhard (Hrsg.), Perspektiven der sozial staatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, München 1999, 11- 26. Hentschel, Volker, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik (1815-1945), Düsseldorf 1980.

- Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt a.M. 1983. Herder-Domeich, Philipp, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Problemgeschichte, Problembereiche, Theoretische Grundlagen, Baden-Baden 1994.

- Gesundheitsökonomik. Systemsteuerung und Ordnungspolitik im Gesundheitswesen, Stuttgart 1980. Hermann, Robert, Die Kirche und ihre Liebestätigkeit vom Anbeginn bis zur Gegenwart, Freiburg 1963.

1. Bücher, Artikel, Aufsätze

337

Hillmann, Karl-Heinz, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 41994. HUpert, Konrad, In-vitro-Fertilisation (IVF): 3. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwinl

Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 295 - 297.

- Menschenrechte: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm 1Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,670- 679. - Organisierte Barmherzigkeit. Motive und Gefahren des Helfens in modemen Gesellschaften, in: ders., Caritas und Sozialethik. Elemente einer theologischen Ethik des Helfens, Paderbom u. a. 1997, 165 - 181. - Person, Personalität: Theologisch-ethisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 50-52. - Sozialprinzipien, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 789/790. Hinske, Norbert, Aufklärung, in: Staatslexikon, 1. Bd., Freiburg 1Basel 1Wien 71985,

390-400.

Hitz/er, Ronaldl Pfadenhauer, Michaela, "Let your body take control!" Zur ethnographischen

Kulturanalyse der Techno-Szene, in: Bohnsack, RalflMarotzki, Winfried (Hrsg.), Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung, Opladen 1998,75 -92.

- Jugendkultur und 1oder Drogenkultur? Soziologisch-ethnographische Eindrücke aus der Techno-Szene, in: Neumeyer, Jürgenl Schmidt-Semisch, Henning (Hrsg.), Ecstasy Design für die Seele?, Freiburg 1997,47 -62. - Raver Sex. Körper und Erotik in der Techno-Szene, in: du (Die Zeitschrift der Kultur) 4/1998,66-68. Hackerts, Hans Günter, Deutsche Nachkriegssozialpolitik vor dem Hintergrund des Bever-

idge-Plans. Einige Beobachtungen zur Vorbereitung einer vergleichenden Analyse, in: Mommsen, Wolfgang J./Mock, Wolfgang (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 - 1950, Stuttgart 1982, 325 - 350.

- Die historische Perspektive - Entwicklung und Gestalt des modemen Sozialstaats in Europa, in: ders. u. a., Sozialstaat - Idee und Entwicklung, Reformzwänge und Reformziele, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, 35. Bd., Köln 1996,27 -48. - Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 - 1957, Stuttgart 1980. Höfte, Otfried, Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder:

Besonnenheit statt Pleonexie, in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 5 (30. 01. 1998) A-202-205.

- Besonnenheit und Gerechtigkeit: Zur Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen, in: Schlicht, Wolfgang 1Dickhut, Hans H. 1Badura, Bernhard (Hrsg.), Gesundheit für alle. Fiktion oder Realität?, Schattauer 1999, 155 -184. - Besonnenheit, Gerechtigkeit und Zivilcourage. Über Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen - eine Replik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 44 (2000) 89 - 102. 22 Bohrmann

338

Literaturverzeichnis

- Gerechtigkeit: I. Das Gerechtigkeitsprinzip, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg 1Basel! Wien 71986, 895 - 898. - Medizin in Zeiten knapper Ressourcen, in: ders., Medizin ohne Ethik?, Frankfurt a.M. 2002, 202 - 241. - Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Nörr, Knut W.IOpperrnann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, 49 - 67. Hö!fner, Joseph, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg. von Roos, Lothar, Kevelaer 1997. Höhn, Hans-Joachim, Personalitätsprinzip, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 61/62. Holl, Joachim, Die zivilisatorische Zähmung des Subjekts. Der Beitrag von Norbert Elias zu einer historischen Sozialpsychologie, in: Keupp, Heiner (Hrsg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie, Frankfurt a.M. 1993, 21 - 53. Holler, Albert, Die Entwicklung der sozialen Krankenversicherung in den Jahren 1945 bis 1975, in: Bartholomäi, Reinhart (Hrsg.), Sozialpolitik nach 1945. Geschichte und Analysen, Bonn/Bad Godesberg 1977,303-314. Holzem, Christoph, Patientenautonomie. Bioethische Erkundungen über einen funktionalen Begriff der Autonomie im medizinischen Kontext, Münster 1999. Homann, Karl! Blome-Drees, Franz, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992. Hondrich, KarlOtto, Sozialer Wandel als Differenzierung, in: ders. (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Langzeitanalysen zum Wandel von Politik, Arbeit und Familie, Frankfurt a.M.1 New York 1982, 11-71. Hondrich, Karl Ottol Koch-Arzberger, Claudia, Solidarität in der modemen Welt, Frankfurt a.M.1992. Honecker, Martin, Ethik, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1Basel! Wien 1993, 249 - 258. Honer, Anne, Beschreibung einer Lebens-Welt. Zur Empirie des Bodybuilding, in: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985) l31-l39.

- Bodybuilding als Sinnsystem. Elemente, Aspekte und Strukturen, in: Sportwissenschaft 15 (1985) 155-169. Honnefelder, Ludger, Ethik: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,654-662. Hradil, Stefan, Die "neuen" sozialen Ungleichheiten. Was man von der Industriegesellschaft erwartete und was sie gebracht hat, in: ders. (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch, Opladen 1985,51-66.

- Die "objektive" und die "subjektive" Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 10.07. 1992, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 3-14. - Schicht, Schichtung und Mobilität, in: Korte, Herrnann 1Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, 145-164.

1. Bücher, Artikel, Aufsätze

339

- Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 82001. Hubbauer, Carolin, Körperkultur - Die soziale Inszenierung des Körpers in der modernen Gesellschaft, unveröffentlichte Diplomarbeit am Institut für Soziologie, Universität München, München 1994. Hübner, Emil, Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1995. Hunold, Gerfried W.I Laubach, Thomas, Fortpflanzung I Fortpflanzungsmedizin: 3. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,780-782. Hunold, Gerfried W.I Laubach, Thomas I Greis, Andreas, Annäherungen. Zum Selbstverständnis Theologischer Ethik, in: dies. (Hrsg.), Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen/Base12000, 1-9. Hurrelmann, Klaus, Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitspräventionen und Gesundheitsförderung, Weinheim I München 2000. Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich, Gesundheitswissenschaften als interdisziplinäre Herausforderung, in: dies. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften. Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis, Weinheim I Basel 1993, 3 - 25.

- (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften. Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis, Weinheim/Base11993. . - (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim/München 1998. Huth, Rupertl Pflaum, Dieter, Einführung in die Werbelehre, Stuttgartl Berlin I Köln 51993. Huxley, Aldous, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Frankfurt a.M. 1991. Illhardt, Franz J., Selbstbestimmung des Patienten. Ein Grundthema der medizinischen Ethik, in: Hilpert, Konrad (Hrsg.), Selbstverwirklichung. Chancen - Grenzen - Wege, Mainz 1987,138-155. Irrgang, Bernhard, Christliche Umweltethik. Eine Einführung, München I Basel 1992. Jäger, Wieland, Arbeits- und Berufssoziologie, in: Korte, Hermannl Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Praxisfelder der Soziologie, Opladen 21997, 111-128. Jähnichen, Traugott, Die soziale Konstruktion von ..Knappheit". Über die Unausweichlichkeit von Verteilungskonflikten im Sozialsystem, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 22-25.

Jahrbuch Deutscher Werberat 2001, Bonn 2001. Jungbauer-Gans, Monikal Schneider; Wemer, Gesundheit, in: Allmendinger, Jutta/LudwigMayerhofer, Wolfgang (Hrsg.), Soziologie des Sozialstaats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim I München 2000, 201 - 236. Kant, Immanuei, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe 11. Bd., hrsg. von Weischedei, Wilhe1m, Frankfurt a.M. 91991, 53 -61. 22*

340

Literaturverzeichnis

- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant-Theorie-Werkausgabe 7. Bd., hrsg. von Weischede1, Wilhelm, Wiesbaden 1956, 7 - 102. Käsler, Dirk, Einführung in das Studium Max Webers, München 1979.

- Max Weber, in: ders. (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, 1. Bd., Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München 1999, 190-212. - Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, in: ders.lVogt, Ludgera (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart 2000, 450-456. - Wege in die soziologische Theorie, München 1974. Kaufmann, Franz-Xaver, Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: ders., Religion und Modernität, Tübingen 1989, 89-119.

- Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt, Freiburg 1992. - Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a.M. 1997. - Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973. - Über die soziale Funktion von Verantwortung und Verantwortlichkeit, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989) 204-224. - Was heißt Verrechtlichung und wo wird sie zum Problem?, in: ders. (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984, 9 - 22. - (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, Düsseldorf 1984. Kaupen-Haas, Heidrun, Medizinische Soziologie, in: Korte, Hermann 1Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Einführung in die Praxisfelder der Soziologie, Opladen 2 1997, 97 -110. Kerber, Walter, Gerechtigkeit: III. Gerechtigkeit in Theologie und christlicher Soziallehre, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg 1Basel 1Wien 71986, 903 - 906.

- Solidaritätsprinzip, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 9. Bd., Darmstadt 1996, 1015/1016. - Sozialethik, Stuttgart 1Berlin 1Köln 1998. Kerber, Walter 1Westennann, Klaus 1Spörlein, Bernhard, Gerechtigkeit, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 17. Teilbd., Freiburg/Basel/Wien 1981,5-75. Kern, Walter, Person: I. Philosophisch und theologisch, in: Staatslexikon, 4. Bd., Freiburg 1 Basel/Wien 71988,330-336. Kersting, Wolfgang, Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung, in: ders., Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist 2002, 143-189.

- Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, 467 - 507. - Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1997.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

341

- Sozialstaat und Gerechtigkeit, in: Hockerts, Hans Günter u. a., Sozialstaat - Idee und Entwicklung, Reformzwänge und Reformziele, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, 35. Bd., Köln 1996,243-265. - Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000. - Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999) 143-173. Ketteler, Wilhelm E., Die Katholiken und das neue Deutsche Reich, in: ders., Staatspolitische und vaterländische Schriften, 2. Bd., ausgew. und hrsg. von Mumbauer, Johannes, München 21924, 136-181.

- Offenes Schreiben Kettelers als Deputierten der deutschen Nationalversammlung an seine Walller, in: ders., Religiöse, kirchliche und kirchenpolitische Schriften, 1. Bd., ausgew. und hrsg. von Mumbauer, Johannes, München 21924,396-407. Keupp, Heiner, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, Heidelberg 1988. Kindermann, Wilfried, Bodybuilding, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 417. Klages, Helmut, Geschichte der Soziologie, München 1969. Klas, Christian, Gestaltungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen, Wiesbaden 2000. Kleeis, Friedrich, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Nachdruck der 1928 erschienenen Ausgabe, hrsg. von Dowe, Dieter, mit einer Einleitung von Tennstedt, Florian, Berlin/Bonn 1981. Kleinhenz, Gerhard D., Sozialversicherung, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,415 -417. Klose, Joachim/ Schellschmidt, Henner, Finanzierung und Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Einnahmen- und ausgabenbezogene Gestaltungsvorschläge im Überblick, Bonn 2001 [Wissenschaftliches Institut der AOK 45]. Klüber, Franz, Katholische Gesellschaftslehre, 1. Bd., Geschichte und System, Osnabrück

1986.

Kluxen, Wolfgang, Ethik und Ethos, in: Hertz, Anselm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Christlichen Ethik, 2. Bd., Freiburg/BasellWien 1978,518-532. Kneer, Georg / Nollmann, Gerd, Funktional differenzierte Gesellschaft, in: Kneer, Georg / Nassehi, Armin/ Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997,76-100. Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion, in: Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M.

1991,7-41.

- Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler. Erkundungen einer verborgenen Wirklichkeit, Frankfurt a.M./New York 1991. - Religionssoziologie, Berlin/New York 1999. Koch, Hans-Georg, Medizinrecht, in: Eser, Albin / Lutterotti, Markus von / Sporken, Paul (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg / Basel/ Wien 1989, 725 - 735.

342

Literaturverzeichnis

- Medizinrecht, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,663 -665. Koch, Traugott, Gleichheit: I. Theologisch, in: Evangelisches Staatslexikon, 1. Bd., Stuttgart

31987,1178-1182.

Könches, Barbara, Ethik und Ästhetik der Werbung. Phänomenologie eines Skandals, Frankfurt a.M. 2001.

Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro - Dokumentation - Agenda 21, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Berlin 21997. König, Rene, Emile Durkheim, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 1976,312-364.

- Sozialer Wandel, in: ders. (Hrsg.), Soziologie. Fischer Lexikon, Frankfurt a.M. 1967, 290-297. Korff, Wilhelm, Die Energiefrage auf dem Prüfstand, in: ders., Die Energiefrage. Entdeckung ihrer ethischen Dimension, Trier 1992, 9 - 21.

- Die Rolle der Technik, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, I . Bd., Gütersloh 1999,99-119. - Die Welt der Medien als autonomer Kultursachbereich, in: Wolbert, Werner (Hrsg.), Moral in einer Kultur der Massenmedien, Wien / Fribourg 1994, 17 - 30. - Ehe und Familie in der modemen Industriegesellschaft. Ethisch-politische Implikationen, in: Familien verändern sich. Anfragen an Ethik und Politik, Symposium am 29. September 1986, hrsg. vom Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Stuttgart/ Berlin / Köln 1986, 13 - 21. - Ethik und Empirie, in: ders., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München/Zürich 1985,48-78. - Ethik: 2. Theologisch, in: ders./ Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 662-674. - Grundfragen einer Ethik des Rechts, in: Faulhaber, Theo/Stillfried, Bernhard (Hrsg.), Auf den Spuren einer Ethik von morgen, Freiburg 2001, 27 -33. - Institutionentheorie: Die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensformen, in: Hertz, Anselm u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, 1. Bd., Freiburg/BasellWien 21979,168-176. - Kernenergie und Moraltheologie. Der Beitrag der theologischen Ethik zur Frage allgemeiner Kriterien ethischer Entscheidungsprozesse, Frankfurt a.M. 1979. - Konstitutive Bauelemente moderner Wirtschaftsethik. Neue Dimensionen der bedürfnisethischen Frage, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,30-50. - Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Freiburg/ München 21985. - Norm/Normen, in: ders./Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 770 - 777.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

343

- Normen als Gestaltungsträger menschlichen Daseins, in: Hertz, Anselm u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, 1. Bd., Freiburg/Basel/Wien 21979, 114-125. - Normen, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/ Basel/Wien 1993, 762/763. - Orientierungslinien einer Wirtschaftsethik, in: Hunold, Gerfried W.lders. (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, München 1986, 67-80. - Sozialethik als Strukturenethik. Individualethik, Sozialethik und Umweltethik in ihrer Differenz und Interdependenz: Geschichtliche und systematische Einordnung, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,207 -212. - Sozialethik, in: ders.lBeck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 377 - 388. - Thomas von Aquin und die Neuzeit, in: Beckmann, Jan P. (Hrsg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 387 - 408. - Wirtschaft und Ethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 20. 07.1990, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 32-38. - Wirtschaft vor der Herausforderung der Umweltkrise, in: Münchener Theologische Zeitschrift 41 (1990) 173-185. - Zur naturrechtlichen Grundlegung der katholischen Soziallehre, in: Baadte, Günter/Rauscher, Anton (Hrsg.), Christliche Gesellschaftslehre. Eine Ortsbestimmung, Graz/Wien/ Köln 1989,31-52.

Korff, Wilhelm / Baumgartner; Alois, Kommentar zur Enzyklika Sollicitudo rei socialis, in: Sollicitudo rei socialis (Papst Johannes Paul 11.), Freiburg/Basel/Wien 1988, 105-138. Korte, Hermann, Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opladen 21993. - Norbert Elias, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, 1. Bd., Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München 2000, 315 - 333. - Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers, Frankfurt a.M. 1988.

Körtner; Ulrich H. J., Medizin, Medizinische Ethik, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart/Berlin/Köln 2001,1038-1043. - Wie lange noch, wie lange? Über das Böse, Leid und Tod, Neukirchen-Vluyn 1998.

Kraemer; Klaus, Marktgesellschaft, in: Kneer, Georg / Nassehi, Armin / Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997,280-304. Kramer; Hans, Gesundheit und Krankheit, in: Gründel, Johannes (Hrsg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, 3. Bd., Düsseldorf 1992, 121-133. Krämer; Walter, Die Krankheit des Gesundheitswesens. Die Fortschrittsfalle der modernen Medizin, Frankfurt a.M. 1989. Krohn, Wolfgang, Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Techniksoziologie, in: Weingart, Peter (Hrsg.), Technik als sozialer Prozeß, Frankfurt a.M. 1989, 15 -43.

344

Literaturverzeichnis

Krohn, Wolfgang I Krücken, Georg, Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit. Eine Einfüh-

rung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, in: dies. (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozial wissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt a.M. 1992,9-44.

- (Hrsg.), Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt a.M. 1992. Kromphardt, Jürgen, Wirtschafts systeme, Wirtschaftsordnungen, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg I Basel I Wien 1993, 1319-1327. Küenzlen, Gottfried, Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwick-

lung, Berlin 1980.

Kuhlmann, Eberhard, Verbraucher, Verbraucherschutz, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg I Basell Wien 1993, 1192-1201. Kühn, Hagen, Gesundheit I Gesundheitssysteme, in: Schäfers, Bemhard I Zapf, Wolfgang

(Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, 263 - 275.

Kulbe, Arthur, Die gesetzliche und private Krankenversicherung, Freiburg 1993. Labisch, Alfons, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M.1

New York 1992.

Labisch, Alfonsl Paul, Norbert, Ärztliche Gelöbnisse, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwinl

Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,249-255.

- Gesundheitsorganisationen, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 117 -122. - Gesundheitswesen: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 122 -135. - Medizin: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 630-642. Labisch, Alfons I Woelk, Wolfgang, Geschichte der Gesundheitswissenschaften, in: Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I

München 1998,49-89.

Lampert, Heinz, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin I Heidelberg I New York 51998. Lanzerath, Dirk, Krankheit: 1. Medizinisch-anthropologisch, in: Lexikon für Theologie und

Kirche, 6. Bd. Freiburg u. a. 31997,426.

Lau, Christoph, Risikodiskurse. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Definition

von Risiken, in: Soziale Welt 40 (1989) 418-436.

Lau, Thomas, Raving Society. Anmerkungen zur Technoszene, in: Forschungsjoumal 8

(1995) 67 - 75.

Laufer; Heinzl Münch, Ursula, Bundesrat, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.),

Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997,54-58.

1. Bücher, Artikel, Aufsätze

345

Laufs, Adolf, Arzt und Recht im Wandel der Zeit, in: Eser, Albin (Hrsg.), Recht und Medizin, Darmstadt 1990, 387 -412.

- Arztrecht, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 261- 267. - Arztrecht, München 51993. Lautmann, Rüdiger, Wert und Norm, Köln/Opladen 1969. Leisering, Lutz, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung, Frankfurt a.M. / New York 1992.

Leonhart Taschen-Jahrbuch, Gesundheitswesen 1999/2000. Institutionen, Verbände, Ansprechpartner, Deutschland - Bund und Länder, München 1999. Lepsius, Rainer M., Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der "Modeme" und die "Modernisierung", in: Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Studien zum Beginn der modemen Welt, Stuttgart 1977,10-29. Lesch, Walter, Ethik und Moral/Gut und Böse/Richtig und Falsch, in: Wils, Jean-Pierre/ Mieth, Dietrnar (Hrsg.), Grundbegriffe der Ethik, Paderborn u. a. 1992,64- 83. Ley, Katharina, Von der Normal- zur Wahlbiographie? Interpretation erzählter Lebensgeschichte von Frauen, in: Kohli, Martin/Robert, Günther (Hrsg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984, 239 - 260. Lienkamp, Andreas, Steile Karriere. Das Nachhaltigkeits-Leitbild in der umweltpolitischen und -ethischen Debatte, in: Herder Korrespondenz 54 (2000) 464-469.

- Systematische Einführung in die christliche Sozialethik, in: Furger, Franz / ders. / Dahm, Karl-Wilhelm (Hrsg.), Einführung in die Sozialethik, Münster 1996, 29-88. Linton, Ralph, The Study of Man. An Introduction, New York/ London 1936. Lipp, Wolfgang, Institution: Sozialphilosophisch, in: Staatslexikon, 3. Bd., Freiburg / Basel / Wien 71987,99-102. Litz, Dieter, Konsumentenstärkung im Gesundheitswesen. Welchen Beitrag können die Apotheken leisten?, in: Reibnitz, Christine von/Schnabel, Peter-Ernst/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim/München 2001,299-310. Lochbühler, Wilfried/ Sellmann, Matthias, "Handeln für die Zukunft der Schöpfung". Nachhaltige Entwicklung als Herausforderung für die christliche Ethik und die Praxis der Kirchen, in: Stimmen der Zeit 218 (2000) 39-53. Logstrup, Knut E., Solidarität und Liebe, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 16. Teilbd., Freiburg/Basel/Wien 1982,99-128. Loo, Hans van der / Reijen, WiIIem van, Modernisierung. Projekt und Paradox, München

1992.

Losinger, Anton, Das Subsidiaritätsprinzip und sein Einfluß auf das Menschen- und Gesellschaftsbild der katholischen Soziallehre, in: Mückl, Wolfgang J. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999,35-47.

346

Literaturverzeichnis

Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991 .

- The Invisible Religion, New York 1967. - Zum Problem der Religion in der modemen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg 1963. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 21988.

- Soziologie des Risikos, Berlin/New York 1991. Lutterotti, Markus von, Aufklärung/ Aufklärungspflicht: 1. Medizin, in: Eser, Albin/Lutterotti, Markus von/Sporken, Paul (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg/Basel/ Wien 1989, 132-136.

Madc, Elke, Ethik des Gesundheitswesens, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 3 (1998) 173-189.

Marschalek, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1984. MarshalI, Gordon (Ed.), The Concise Oxford Dictionary of Sociology, Oxford/New York 1994. MarshalI, Thomas H., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M./New York 1992. Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Manifest der kommunistischen Partei, Berlin (Ost) 1983. Marx, Reinhard / Wulsdoif, Helge, Christliche Sozialethik. Konturen - Prinzipien - Handlungsfelder, Paderborn 2002.

- Subsidiarität - Gestaltungsprinzip einer sich wandelnden Welt, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Subsidiarität - Strukturprinzip in Staat und Gesellschaft, Köln 2000, 35 - 62. Massing, Ottwin, Auguste Comte, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 1976, 19-61.

Mayer, Tilman, Die demographische Krise. Eine integrative Theorie der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt a.M. 1999.

Mead, George H., Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M. 81991. Meckenstock, Günter, Wirtschaftsethik, Berlin/New York 1997. Metze, Ingolf, Gesundheitspolitik. Ökonomische Instrumente zur Steuerung von Angebot und Nachfrage im Gesundheitswesen, Stuttgart u. a. 1982. Mikl-Horke, Gertraude, Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, München/Wien 41997. Model, Otto / Creifelds, Carl/ Lichtenberger. Gustav, Staatsbürgertaschenbuch. Alles Wissenswerte über Staat, Verwaltung, Recht und Wirtschaft mit zahlreichen Schaubildern, München 261992. Monzel, Nikolaus, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Herweg, Trude / Grenner, Karl Heinz, München / Wien 1980.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

347

- Die Sehbedingung der Gerechtigkeit, in: ders., Solidarität und Selbstverantwortung. Beiträge zur christlichen Sozialethik, München 1959,53-71. Mückl, Wolfgang J. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999. Müller, Hans-Peter, Emile Durkheim, in: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., München 22000,150-170. Müller, Hans-Peter / Schmidt, Michael, Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in die ..Arbeitsteilung" von Emile Durkheim, in: Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, 481- 532. Müller, Joachim/ Nick, Franz R./ Ehreiser, Hans-Jörg, Sozialstaat und soziale Sicherung, Regensburg 1979. Müller-Hagedorn, Lothar, Einführung in das Marketing, Darmstadt 1990. Münch, Richard, Die Struktur der Moderne. Grundrnuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992. Münk, Hans J., Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Anmerkungen zum Umweltgutachten 1994, in: Stimmen der Zeit 213 (1995) 55 - 66. Murswieck, Axel, Gesundheitspolitik, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Lexikon der Politik, 3. Bd., München 1992, 129-135. Naegele, Gerhard/ Kauss, Thomas, Demographie und Sozialepidemiologie - Zur These vom demographisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben, in: Igl, Gerhard/Naegele, Gerhard (Hrsg.), Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, München 1999,63-85. Nassehi, Armin, Moderne Gesellschaft, in: Kneer, Georg / ders./ Schroer, Markus (Hrsg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001, 208-245.

- Risikogesellschaft, in: Kneer, Georg / ders./ Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, 252 - 279. Nassehi, Armin / Weber, Georg, Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989. Neckel, Sighard, Die Macht der Unterscheidung. Beutezüge durch den modernen Alltag, Frankfurt a.M. 1993. Nederegger, Georg u. a., Zukunft des gesetzlichen Krankenwesens in Deutschland: von der Budgetierung zur wert- und leistungsorientierten Gesundheitsversorgung, in: Salfeld, Rainer/Wettke, Jürgen (Hrsg.), Die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens. Perspektiven und Konzepte, Berlin u. a. 2001, 77 -94. Nell-Breuning, Oswald von, 15.5. 1931. Erinnerungen zur Entstehungsgeschichte von ..Quadragesimo anno", in: ders., Wie sozial ist die Kirche? Leistungen und Versagen der katholischen Soziallehre, Düsseldorf 1972, 127 -136.

- Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg/Basel/Wien 1990. - Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, München 21985. - Soziale Frage, in: Sacramentum Mundi, 4. Bd., Freiburg/Basel/Wien 1969,606-613.

348

Literaturverzeichnis

- Wirtschaftsethik, in: Lenk, Hans I Maring, Matthias (Hrsg.), Wirtschaft und Ethik, Stuttgart 1992,31-44. Nell-Breuning, Oswald von I Sacher, Hermann, Iustitia socialis, in: Wörterbuch der Politik, 3. Heft, Freiburg 1949,29-36.

- Soziale Frage, in: Wörterbuch der Politik, 3. Heft, Freiburg 1949, 2-7. - Wettbewerb, in: Wörterbuch der Politik, 4. Heft, Freiburg 1949, 65 - 80. - Wirtschaft, in: Wörterbuch der Politik, 4. Heft, Freiburg 1949,2 - 24. Neumann, Lothar F.I Schaper, Klaus, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M./New York 4 1998. Nickel, Volker, Aufgaben in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Werbung. Was die Solidargemeinschaft ZAW leistet, Vortrag, Regionales GWA-Chef-Treffen, Bonn 1995.

- Mehrwert Werbung. Ökonomische und soziale Effekte von Marktkommunikation, Bonn 1999. - Werbung in Grenzen. Report über Werbekontrolle in Deutschland, Bonn 111994. - Gesundheit. Heilsame Fakten zur Publikumswerbung für Arzneimittelwerbung, Bonn 1987. Nörr, Knut W.I Oppermann, Thomas (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997. Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Katholische Soziallehre, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgartl Berlin I Köln 2001,814-824.

- Verteilungsgerechtigkeit, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002) 196 - 201. Oberender, Peter, Marktsteuerung der Gesundheitsnachfrage: Möglichkeiten und sozialpolitische Grenzen - Vorschläge und Neuorientierung im Gesundheitswesen, in: Geigant, Friedrich I ders. (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen einer Marktsteuerung im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, Gerlingen 1985, 13 - 57.

- Mehr Wettbewerb auf dem Pharmamarkt, in: Simon, Hermann I Hilleke-Daniel, Klausl Kucher, Eckhard (Hrsg.), Wettbewerbsstrategien im Pharmamarkt, Stuttgart 1989, 63 -72. Oberender, Peter I Fibelkom, Andrea, Ein zukunftsfähiges deutsches Gesundheitswesen. Ein Reformvorschlag unter besonderer Berücksichtigung der ambulanten Versorgung, Bayreuth 1997.

- Krankenversicherung, in: Knappe, Eckhard I Berthold, Norbert (Hrsg.), Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Heidelberg 1998,90-123. Oberender, Peter I Hebbom, Ansgar, Allokation: 2. Gesundheitsökonomisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 116/117.

- Wachstumsmarkt Gesundheit. Therapie des Kosteninfarkts, Bayreuth 1998. Oberreuter, Heinrich, Bundestag, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997, 83-95.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

349

Offe, Claus, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Kress, Giselal Senghaas, Dieter (Hrsg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a.M. 1969, 155-189. Ogbum, William E, Social Change, New York 1922. Opp, Karl-Dieter, Die Entstehung sozialer Normen, Tübingen 1983. Parsons, Talcott, Definition von Gesundheit und Krankheit im Lichte der Wertbegriffe und der sozialen Struktur Amerikas, in: Mitscherlich, Alexander u. a. (Hrsg.), Der Kranke in der modemen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1984, 57 - 87.

- Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a.M. 1968. - Struktur und Funktion der modemen Medizin. Eine soziologische Analyse, in: König, Rene/Tönnesmann, Margaret (Hrsg.), Probleme der Medizin-Soziologie. Sonderheft 3 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln I Opladen 1958, 10-57. - The Social System, New York/London 1951. - Towards a General Theory of Action, Cambridge, Mass. 1951. Peseh, Heinrich, Lehrbuch der Nationalökonomie. Allgemeine Volkswirtschaftslehre I, 2. Bd., Freiburg 2+31920.

- Lehrbuch der Nationalökonomie. Grundlegung, 1. Bd., Freiburg 1905. - Lehrbuch der Nationalökonomie. Grundlegung, 1. Bd., Freiburg 21914. Peters, Horst, Die Geschichte der sozialen Versicherung, Sankt Augustin 31978. Pfeffer, Marina E., Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike unter besonderer Berücksichtigung der Sicherung bei Krankheit, Berlin 1969. Pflanz, Manfred, Medizinsoziologie, in: König, Rene (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, 14. Bd., Religion, Bildung, Medizin, Stuttgart 21979, 238-344. Pieper, Annemarie, Autonomie, in: Korff, Wilhelm I Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 289 - 293.

- Einführung in die Ethik, Tübingen 21991. Pitschas, Rainer, Gesundheitswesen: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 135 -141. Prüller-Jagenteufel, Gunter M., Eine Option für die Opfer. Versuch einer ethischen Kriteriologie zur "christlichen Tugend" der Solidarität, in: Theologie und Glaube 91 (2001) 262-276.

- Solidarität - eine Option für die Opfer. Geschichtliche Entwicklung und aktuelle Bedeutung einer christlichen Tugend anhand der katholischen Sozialdokumente, Frankfurt a.M. u. a. 1998. Rager, Günter, Medizin als Wissenschaft und ärztliches Handeln, in: Honnefelder, Ludger I Rager, Günter (Hrsg.), Ärztliches Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a.M. 1994, 15 - 52.

- Medizin: 2. Wissenschaftstheoretisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,642-646.

350

Literaturverzeichnis

Rauscher, Anton, Heinrich Pesch, in: Aretz, Jürgen I Morsey, Rudolfl ders. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, 3. Bd., Mainz 1979, 136-148. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 71993. Recker, Marie-Luise, Sozialpolitik im Dritten Reich, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991,245-267. Reibnitz, Christine von I Schnabel, Peter-Ernstl Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Der mündige Patient. Konzepte zur Patientenberatung und Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen, Weinheim/München 2001. Rendtorff, Trutz, Konsens und Konflikt: Herausforderungen an die Ethik in einer pluralen Gesellschaft, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999, 198-207. Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 2 1985.

- Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, 2. Bd., Gütersloh 1990. Ricken, Frido, Gerechtigkeit: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin I Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,71-73. Ridder, Paul, Einführung in die Medizinische Soziologie, Stuttgart 1988. Riege, Fritz, Gesundheitspolitik in Deutschland. Aktuelle Bilanz und Ausblick, Berlin 1993. Riklin, Aloisl Batliner, Gerard (Hrsg.), Subsidiarität: Ein interdisziplinäres Symposium, Baden-Baden 1994. Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989.

- Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983. - Der deutsche Sozialstaat. Anlange, historische Weichenstellungen und Entwicklungstendenzen, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998, 11-44. Roos, Lothar, Sozialstaat in der Schieflage? Zwischen Eigenverantwortung und sozialer Sicherung, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Grundlagen des Sozialstaates, Köln 1998,45 -64.

- Subsidiarität, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg I Basel/Wien 1993, 1045-1049. Ropohl, Günter, Zur Technisierung der Gesellschaft, in: Bungard, Walter/Lenk, Hans (Hrsg.), Technikbewertung. Philosophische und psychologische Perspektiven, Frankfurt a.M. 1988,79-97. Rosen, George, Die Entwicklung der sozialen Medizin, in: Deppe, Hans-Ulrich I Regus, Michael (Hrsg.), Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt a.M. 1975,

74-131.

Rosenbrock, Rolf, Gesundheitspolitik, in: Hurrelmann, Klaus I Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998,707 -751.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

351

Ruckdäschel, Stephan, Wettbewerb und Solidarität im Gesundheitswesen. Zur Vereinbarung von wettbewerblicher Steuerung und solidarischer Sicherung, Bayreuth 2000. Ruf, Ambrosius, Werbung und Ethik, in: Die neue Ordnung 28 (1974) 136-144. Ruh, Ulrich, Säkularisierung, Säkularisation, Säkularismus: I. Terminologie, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8. Bd., Freiburg u. a. 31999, 1467/1468. Ryll, Andreas, Versorgung mit ambulanten medizinischen Einrichtungen, in: Hurrelmann, Klaus 1Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim I München 1998,539-558.

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sondergutachten 1995, Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Mehr Ergebnisorientierung, mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit, Baden-Baden 1995. Schäfers, Bernhard, Die Grundlagen des Handeins: Sinn, Normen, Werte, in: Korte, Hermannl ders. (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, 17-34. Seheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bem/München

101983.

Schell, Wemer, Das deutsche Gesundheitswesen von Abis Z. Ein Nachschlagewerk für die Angehörigen der Gesundheitsberufe und interessierte Laien, Stuttgart I New York 1995. Scheur, Wolfgang, Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 1967. Schimank, Uwe, Dynarniken wissenschaftlich-technischer Innovationen und Risikoproduktion, in: Halfmann, Jostl Japp, Klaus P. (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990,61-88.

- Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. Schimank, Uwel Volkmann, Ute, Gesellschaftliche Differenzierung, Bielefeld 1999. Schipperges, Heinrich, Die Technik der Medizin und die Ethik des Arztes. Es geht um den Patienten, Frankfurt a.M. 1988.

- Gesundheit - Krankheit - Heilung, in: Böckle, Franz u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 10. Teilbd., Freiburg I Basel! Wien 1980, 51 - 84. Schirbel, Eugen, Geschichte der sozialen Krankenversorgung vom Altertum bis zur Gegenwart, Berlin 1929. Schirmer, Helmut, Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung, in: Schulin, Bertram (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 1. Bd., Krankenversicherungsrecht, München 1994,448-484. Schlicht, Wolfgang, Gesundheit, in: Grupe, Ommo/Mieth, Dietmar (Hrsg.), Lexikon der Ethik im Sport, Schomdorf 1998, 211 - 217. Schluchter, Wolfgang, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. Schmiihl, Winfried, Versicherungsgedanke und Sozialversicherung - Konzept und politische Bedeutung, in: ders. (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985, 2-12.

352

Literaturverzeichnis

Schmelter, Jürgen, Solidarität: Die Entwicklungsgeschichte eines sozialethischen Schlüsselbegriffs, Diss. München 1991.

- Solidarität: Entwicklungslinien eines sozialethischen Schlüsselbegriffs, in: Mertens, Gerhard/Kluxen, Wolfgang/Mikat, Paul (Hrsg.), Markierungen der Humanität. Sozialethische Herausforderungen auf dem Weg in ein neues Jahrtausend, Paderborn u. a. 1992, 385-394. Schmid, Josef, Einführung in die Bevölkerungssoziologie, Reinbek bei Hamburg 1976.

- Parteien, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 31997, 415 -419. - Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in historisch-vergleichender Perspektive, Opladen 1996. Schmidt, Elke M. / Malin, Eva-Maria, Kostendämpfung oder RisikoseIektion? Die Wirkung von Maßnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung am Beispiel der Beitragsrückzahlung, in: Düllings, losef u. a., Von der Budgetierung zur Strukturreform im Gesundheitswesen. Beiträge der AG Gesundheitssystemforschung und Gesundheitsökonomie der DGSMP, Heidelberg 1996, 49 - 68. Schmidt, Manfred G., Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998. Schmidt, Peter, Mehr Markt und Wettbewerb. Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung muss aber bewahrt werden, in: Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 7/200 1, 3-14. Schmidt-Jonzig, Edzard, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: Isensee, losef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Bd., Heidelberg 1989,635 -666. Schmitz, Philipp, Ethik der neuen Techniken, in: Moraltheologisches Jahrbuch 1 (1989) 224-248. Schneider, Lothar, Subsidiäre Gesellschaft. Implikative und analoge Aspekte eines Sozialprinzips, Paderborn u. a. 1983. Schneider, Martin, Soziale Gerechtigkeit, in: Baumgartner, Alois / Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001, 31-78. Schockenhoff, Eberhard, Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz 1993.

- Heil, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998, 207 - 211. Schoeck, Helmut, Geschichte der Soziologie. Ursprung und Aufstieg der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, Freiburg 1974. Schöffski, Oliver / Galas, Eckart / Schulenburg, Matthias Graf von der, Der Wettbewerb innerhalb der GKV unter besonderer Berücksichtigung der Kassenwahlfreiheit, in: Sozialer Fortschritt 45 (1996) 293-305. Schöllgen, Wemer, Die soziologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre, Düsseldorf 1953.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

353

Schöne-Seifert, Bettina, Medizinethik, in: Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Ein Handbuch, Stuttgart 1996, 552-648. Schramm, Michael, Subsidiarität der Moral. Institutionenethische Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre, in: Mückl, Wolfgang J. (Hrsg.), Subsidiarität. Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1999,9-34.

- Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems. Sozialethische Überlegungen, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 43 (1997) 233 - 244. Schreiber, Hans-Ludwig/Jungeblodt, Stefan, Patient/Patientenrecht: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 838 - 840. Schroer, Markus, Individualisierte Gesellschaft, in: Kneer, Georg I Nassehi, Arrnin I ders. (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, 157 -183. Schulenburg, Matthias Graf von der, Die Entwicklung der Gesundheitsökonomie und ihre methodischen Ansätze, in: Schöffski, Oliver I Glaser, Petra I ders. (Hrsg.), Gesundheitsökonomische Evaluation. Grundlagen und Standortbestimmung, Berlin u. a. 1998, 15-23.

- Die ethischen Grundlagen des Gesundheitssystems in der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer Positionsbestimmung, in: Sachße, Christoph / Engelhardt, H. Tristram (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M. 1990, 313-335. - Theorie der Gesundheitsökonomik, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 82 (1993) 71-96. - Versicherungen, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 4. Bd., Gütersloh 1999,633-647. Schulenburg, Matthias Graf von der I Greiner, Wolfgang, Gesundheitsökonomie, Tübingen 2000. Schulte, Bernd, Das deutsche System der sozialen Sicherheit, in: Allmendinger, Jutta/Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hrsg.), Soziologie des Sozial staats. Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim I München 2000, 15 - 38.

- Sozialhilfe, in: Korff, Wilhe1m/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998, 389-393. Schutz, Günther, Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vorn Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vorn 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 137 -176. Schulze, Angela, Werbung an der Grenze. Provokation in der Plakatwerbung der 50er bis 90er Jahre, Wiesbaden 1999. 23 Bohnnann

354

Literaturverzeichnis

Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M.1 New York 21992. Schwab, Dieter, Konkurs der Familie? Familienrecht im Umbruch, München 1994. Schwartländer, Johannes, Menschenwürde 1Personwürde, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwinl Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,683-688. Schweiger, Günter 1Schrattenecker, Gertraud, Werbung. Eine Einführung, Stuttgart 1Jena

1992.

Seewald, Otfried, Präventivmedizin: 2. Rechtlich, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,60-63.

- Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, Köln u. a. 1981. Seifert, Karl Heinzl Hömig, Dieter, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar, Baden-Baden 51995. Sellier, Ulrich, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert. Das Ringen zwischen christlich-sozialer Ursprungsidee, politischen Widerständen und kaiserlicher Gesetzgebung, Paderbom u. a. 1998. Sesselmeier, Wemer, Sozialversicherung, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 1Berlin 1Köln 200 I, 1491- 1507. Siefer, Gregor, Gesundheit - nur ein Konsumartikel? Überlegungen zur Veränderung der Vorstellungen von Gesundheit in der Gegenwart, in: Arzt und Christ 38 (1992) 151-161. Siegrist, Johannes, Arzt-Patienten-Beziehung: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelml Beck, Lutwin 1Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,

238-242.

- Compliance, in: Korff, Wilhelm 1Beck, Lutwin 1Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998,450/451. - Medizinische Soziologie, München 1Wien 1Baltimore 51995. - Medizinische Soziologie, München 1Wien 1Baltimore 41988. - Patient 1Patientenrecht: 1. Zum Problemstand, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,835 -837. Siep, Ludwig, Patient/Patientenrecht: 3. Ethisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,840-842. Sikora, Joachiml Jünemann, Elisabeth, Der Weg ist das Ziel. Planung und Verlauf des Konsultationsprozesses für ein sozialpolitisches Wort der Kirchen, in: Stimmen der Zeit 214

(1996) 777 -786.

Simmei, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Brücke und Tor, hrsg. und eingeleit. von Susmann, Margarethe 1Landmann, Michael, Stuttgart 1957, 227 - 242.

- Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie, in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt a.M. 3 1989, 131-139.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

355

Smigielski, Edwin, Die Bedeutung des Versicherungsgedankens für die gesetzliche Krankenversicherung, in: Schmähl, Winfried (Hrsg.), Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985, 76-88. Sorensen, Annemette, Unterschiede im Lebenslauf von Frauen und Männem, in: Mayer, Karl Ulrich (Hrsg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 31/1990, Opladen 1990,304-321. Spieker, Manfred, Sozialstaat, in: Staatslexikon, 5. Bd., Freiburg / Basell Wien 71989, 72 - 78.

Spruchpraxis Deutscher Werberat, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 71997. Stallberg, Friedrich W. (Hrsg.), Soziale Probleme. Grundlegende Beiträge zu ihrer Theorie und Analyse, Neuwied 1983. Stegmann, Franz J., Soziale Frage, in: Staatslexikon, 4. Bd., Freiburg 71988, 1231-1234. Stenger, Horst, Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des New Age, Opladen 1993. Stich, Jutta, Herd, Acker, Fabrik - Wie sich die Erwerbsstruktur von Frauen und die Lebensformen gewandelt haben, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht's der Familie?, München 1988, 35 -46. Stierle, Wolfram, Der Preis der Gesundheit. Zur ökonomischen Argumentation des philosophischen Plädoyers für die Tauschgerechtigkeit, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 43 (1999) 26-32. Strohm, Theodor, Mittelverknappung im Gesundheitswesen. Leistungsträger und Beitragsstabilität auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 41 (1997) 186 - 202. Suchanek, Andreas, Knappheit, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/BasellWien 1993,518-523. Süß, Winfried, Gesundheitspolitik, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, 55-100. Sutor, Bernhard, Kleine politische Ethik, Opladen 1997.

- Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderbom u. a. 2 1992. Syrup, Friedrich, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik, hrsg. von Scheuble, Julius, bearb. von Neuloh, Otto, Stuttgart 1957. Tennstedt, Florian, Der Ausbau der Sozialversicherung in Deutschland 1890 bis 1945, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft fUr Sozialund Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg, Stuttgart 1991, 225-243.

- Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981. Teppe, Karl, Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977) 195-250. 23'

356

Literaturverzeichnis

ThiellTUlnn, Lars, Krankheit, Heilung und Gesundheit: ökonomische, rechtliche und soziale

Dimensionen, in: Concilium 34 (1998) 496-501.

Thiemeyer, Theo, Gesundheitswesen: I. Gesundheitspolitik, in: Albers, Willi u. a. (Hrsg.),

Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 3. Bd., Stuttgart u. a. 1981,576-591.

TholTUls von Aquin, Summa Theologica, 11-11, 57 - 79, hrsg. von der Albertus-Magnus-Aka-

demie Walberberg bei Köln, 18. Bd., Heidelberg u. a. 1953.

1önnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie,

Darmstadt 31991.

Troschke, Jürgen Freiherr von, Gesundheits- und Krankheitsverhalten, in: Hurrelmann,

Klaus / Laaser, Ulrich (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim / München 1998,371-394.

Ullrich, Carsten G., Moral Hazard und gesetzliche Krankenversicherung. Möglichkeiten zu

Mehrentnahmen an Gesundheitsleistungen in der Wahrnehmung und Bewertung durch gesetzlich Versicherte, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47 (1995) 681-705.

Ulsenheimer, Klaus, Ärztliches Standesrecht, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat, Paul

(Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 1. Bd., Gütersloh 1998, 256-261.

Veith, Wemer, Solidarität der Generationen, in: Baumgartner, Alois/Putz, Gertraud (Hrsg.),

Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001, 107-124.

Vierkandt, Alfred, Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, Stutt-

gart 21928.

- Solidarität, in: Bemsdorf, Wilhelm (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Berlin 21969, 944-946. Vogt, Markus, Das neue Sozialprinzip "Nachhaltigkeit" als Antwort auf die ökologische

Herausforderung, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,237 -257.

- Institutionen als Organisationsformen menschlichen Handeins, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999, 268 - 284. - Soziale Interaktion und Gerechtigkeit, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, 1. Bd., Gütersloh 1999,284-309. - Sustainable development, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 9. Bd., Freiburg u. a. 32000, 1145. Waschkuhn, Amo, Institutionentheoretische Ansätze, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.), Lexikon der

Politik, 2. Bd., München 1994, 188-191.

- Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur "Civil Society", Opladen 1995. Wasem, Jürgen, Gesundheitsökonomie und Versicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Ver-

sicherungswissenschaft 82 (1993) 121-160.

I. Bücher, Artikel, Aufsätze

357

Weber, Max, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Winckelmann, Johannes,

Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952, 106-120.

- Gesammelte Aufsätze zu Religionssoziologie I, Tübingen 91988. - Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, Tübingen 51985. Weede, Erich, Markt, in: Enderle, Georges u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Frei-

burg/Basel/Wien 1993,643-646.

Weinberg, Peter, Erlebnismarketing, München 1992. Weiß, Johannes, Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975. Welty, Eberhard, Herders Sozialkatechismus, 1. Bd., Grundfragen und Grundkräfte des sozia-

len Lebens, Freiburg 21952.

Werbick, Jürgen, Person, in: Eicher, Peter (Hrsg.), Neues Handbuch der theologischen Grund-

begriffe, 3. Bd., München 1985, 339-350.

Werbung in Deutschland 1999, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 1999. Werbung in Deutschland 2000, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn2000. Werbung in Deutschland 2001, hrsg. vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Bonn 2001. Wiese, Leopold von, Geschichte der Soziologie, Berlin 91971. Wildfeuer, Arrnin G., Person: 1. Philosophisch, in: Korff, Wilhelm/Beck, Lutwin/Mikat,

Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 3. Bd., Gütersloh 1998,5 -9.

Wildt, Andreas, Solidarität - Begriffsgeschichte und Definition heute, in: Bayertz, Kurt

(Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998, 202 - 216.

- Solidarität, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfiied (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 9. Bd., Darmstadt 1996, 1004-1015. Wilhelms, Günter, Subsidiarität im Kontext der ausdifferenzierten Gesellschaft, in: Baumgart-

ner, Alois/Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien - Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck/Wien 2001,125-141.

Willems, Herbert, Werbung als Medieninszenierung: Genrespezifische Kontextbedingungen

und dramaturgische Strategien, in: Soziale Welt 50 (1999) 115-132.

Wils, Jean-Pierre, Person und Subjektivität, in: ders.lMieth, Dietmar (Hrsg.), Grundbegriffe

der christlichen Ethik, Paderborn u. a. 1992, 110-129.

Wirtschaftsbericht 2001, hrsg. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin 2001. Wolf!, Dietmar, Neue Freiräume für Werbung, Bonn 2000.

- Schleichwerbung in Pressemedien, Bonn 1997.

358

Literaturverzeichnis

Wolff, Hanns P., Arzt und Patient, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 184-211.

Zacher; Hans F., Das soziale Staatsziel, in: Isensee, JoseflKirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., Heidelberg 21995, 1045 - 1111.

Zapf, Wolfgang, Wandel, sozialer, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 51998.

Zdrowomyslaw, Norbert/ Dürig, Wolfgang, Gesundheitsökonomie. Einzel- und gesamtwirtschaftliche Einführung, München/Wien 1997.

Zehenter; Christian, Patienten-Ratgeber. Rechte und Selbsthilfe bei Krankheiten, München 2000.

Zelinka, Udo, Institution, Institutionalisierung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 5. Bd., Freiburg u. a. 31996, 545 /546.

Zerche, Jürgen, Krankenversicherung, in: Korff, Wilhelm / Beck, Lutwin / Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, 2. Bd., Gütersloh 1998,473-475.

Zimmennann, Gunter E., Solidarität, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1998,307 -310.

Zoll, Rainer, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt a.M. 2000. Zöllner; Detlev, Landesbericht Deutschland, in: Köhler, Peter A./Zacher, Hans F. (Hrsg.),

Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981, 45 - 179.

Zulehner; Paul M. u. a., Solidarität. Option für die Modernisierungsverlierer, Innsbruck / Wien 1996.

Zürcher; Markus D., Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Zur Phänomenologie, Theorie und Kritik der Solidarität, Tübingen 1998.

11. Kirchliche Dokumente Centesimus annus, in: AAS LXXXIII (1991) 793-867. Centesimus annus, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von/Schasching, Johannes, Köln/Kevelaer 81992, 689-764. Ethik in der sozialen Kommunikation, Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000. Ethik in der Werbung, Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover / Bonn 1997.

H. Kirchliche Dokumente

359

Gaudium et spes, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von/Schasching, Johannes, Köln 1 Kevelaer 71989,331-435. Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle", Aus deutscher Sicht kommentiert von Hengsbach, Friedhelm, Freiburg 1Basel/Wien 1987. Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21991. Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 19, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998. Laborem exercens, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989, 569 - 641. Lumen gentium, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 12. Bd., Freiburg 2 1966/1986, 156-347. Mater et magistra, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989,211-280. Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Beschäftigung erweitern, Arbeitslose integrieren, Zukunft sichern: Neun Gebote für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Memorandum einer Expertengruppe berufen durch die Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 20, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998. Mündigkeit und Solidarität. Sozialethische Kriterien für Umstrukturierungen im Gesundheitswesen, Eine Studie der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Soziale Ordnung, Gütersloh 21995. Octogesima adveniens, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989, 497 -533. Pacem in terris, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1 Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989,281-330. Populorum progressio, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989, 445 - 480.

360

Literaturverzeichnis

Quadragesimo anno, in: AAS xxrn (1931) 177 -228. Quadragesimo anno, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989,101-160. Rerum novarum, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von/Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989, 41-78. Sollicitudo rei socialis, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Nell-Breuning, Oswald von 1Schasching, Johannes, Köln 1Kevelaer 71989, 659 - 727. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess über ein gemeinsames Wort der Kirchen, hrsg. vorn Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vorn Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover 1Bonn o.J.

ill. Normative Texte (Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte, in der Fassung der Beschlüsse des 100. Deutschen Ärztetages 1997 in Eisenach, geändert durch die Beschlüsse des 103. Deutschen Ärztetages 2000 in Köln, in: http://www.bundesaerztekarnrner.de (Stand: 05. 09. 2002). Darstellungsmöglichkeiten des Arztes im Internet, in: http://www.bundesaerztekarnrner.de (Stand: 05. 09. 2002). Das Genfer Ärztegelöbnis, in: Sass, Hans-Martin (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 355. Kurzerläuterungen zu den Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen, in: Nickel, Volker, Kinder, Kinder. Über das Unbehagen an der Werbung, Bonn 1994,42/43. Rechte für Patientinnen und Patienten, Charta der Gesundheitsministerkonferenz vorn 9./10. Juni 1999, hrsg. vorn Gesundheitsladen München e.V./Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt. Im Internet veröffentlicht unter: http://www. gesundheitsladen-muenchen.de (Stand: 05. 09. 2002). Verfahrensordnung des Deutschen Werberates. Fassung vorn 24. 09. 1979, in: Nickel, Volker, Werbung in Grenzen, Bonn "1994, 125 - 127. Verhaltensregeln des Deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen (1992), in: Nickel, Volker, Kinder, Kinder. Über das Unbehagen an der Werbung, Bonn 1994, 40/41. ZAW-Richtlinien für redaktionell gestaltete Anzeigen (1980), in: Nickel, Volker, Werbung in Grenzen, Bonn "1994, 134/135.

V. Allgemeine Internetadressen

IV. Zeitungsartikel Bürger sollen für ihre Gesundheit mehr zahlen, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 06. 2001, I. FOCUS (Ärzteliste), Nr. 43, 23. 10.2000, 198 -232. Harte Zeiten für betrügerische Ärzte, in: Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 2001, 21. Hoffmann, Andreas, Doktor im Zwielicht, in: Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 2001, 21.

Niejahr; Elisabeth, Deutschlands kranke Kassen, in: Die Zeit, Nr. 31, 26. 07. 2001, I.

v. Allgemeine Internetadressenk http://www.agv.de/politik.htm(Stand: 18.09.2001). http://www.bfarm.de/de_ver I aufgaben I (Stand: 05. 09. 2002). http://www.bgvv.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.bmgesund.de/rninist/sach.htm(Stand: 22. 08. 2000). http://www.bmgesundheit.de/rninist/auf.htm(Stand: 06. 04. 2001). http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/aids/aids.htm (Stand: 22. 08. 2000). http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat!drogen/auf.htm (Stand: 22. 08. 2000). http://www.bmgesundheit.de/minist/beirat/ethik/auf.htm (Stand: 09. 09. 200 1). http://www.bmgesundheit.de/minist!beirat/risiko/auf.htm (Stand: 09. 09. 2001). http://www.bmgesundheit.de/rninist/gesund/inter2.htm (Stand: 22. 08. 2000). http://www.bmgesundheit.de/minist/inst.htm(Stand: 22. 08. 2000). http://www.bpi.de/intemet/vielfaIt/03.htm(Stand: 03. 07. 2001). http://www.bundesaerztekammer.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.bzga.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.bzga.de/studien/stud06.htm (Stand: 22.08.2001). http://www.csu.de (Stand: 29.08.2001). http://www.diaIog-gesund.de/weg/surf/ges.htm (Stand: 09. 09. 2001). http://www.dimdi.de/(Stand: 05. 09. 2002). http://www.discem.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.discem.org.uk/(Stand: 05. 09. 2002). http://www.freiewohlfahrtspflege.de/german/ (Stand: 05. 09. 2002). http://www.gesundheitsladen-muenchen.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.hon.ch/HONcode/German/(Stand: 05. 09. 2002). http://www.nakos.de (Stand: 05. 09. 2002).

361

362

Literaturverzeichnis

http://www.patienten-infonnation.de(Stand: 05. 09. 2002). http://www.pei.de/infos/vorstell.htm(Stand: 05. 09. 2002). http://www.pkv.de/verband/verb.htm (Stand: 05. 09. 2001). http://www.rki.de/GBE/GBE_HOME.htm(Stand: 05. 09. 2002). http://www.svr-gesundheit.de. (Stand: 05. 09. 2002). http://www.svr-gesundheit.de/aufgaben/aufg.htm (Stand: 05. 09. 2002). http://www.svr-gesundheit.de/Bedarf.htm (Stand: 22. 08. 2001). http://www.svr-gesundheit.de/mitgllraete/raete.htm(Stand: 05. 09. 2002). http://www.tk-online.de (Stand: 05. 09. 2002). http://www.vdak.de/aufgaben.htm (Stand: 03. 07. 2001). http://www.zdf.de/ratgeber 1praxis 1nakos 134410 1index.html (Stand: 06. 04. 200 1).

VI. Texte aus dem Internet

Fischer; Andrea, Rede der Bundesgesundheitsministerin aus Anlass der konstituierenden Sitzung des Ethik-Beirats beim Bundesgesundheitsministerium am 15. 11. 1999, in: http://www.bmgesundheit.de/presse/reden/ethik.htm(Stand: 22. 08. 2000). Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft, in: http://www. bundesaerzte kammer.de (Stand: 17.07.2001). Techniker-Krankenkasse (Hrsg.), Der informierte Patient. Der Weg zu einer erfolgreichen Behandlung, Hamburg 1999, in: http://www.tk-online.de (Stand: 05. 09. 2002). Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (Hrsg.), Lohnt der Wechsel innerhalb der PKV?, PKV-Info, Köln 2000, in: http://www.pkv.de/brosch/brosch_frame.htm (Stand: 06.04.2001). - (Hrsg.), Wie werden die Beiträge in der PKV kalkuliert?, PKV-Info, Köln 2000, in: http://www.pkv.de/brosch/broschjrame.htm (Stand: 06. 04. 200 1).

VD. Infonnationsbroschüren, Faltblätter Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (Hrsg.), Selbstmedikation 2000 - Standortbestimmung. Aktuelle Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen, Bonn 2000. Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheitsrefonn 2000. Infonnationen zum Gesetz zur Refonn der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsrefonn 2000), Januar 2000. - (Hrsg.), Aufgaben und Ziele, Infonnationsblatt, Bonn 1998. - (Hrsg.), Gesundheit in Deutschland. Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik, Bonn 1997.

VIII. Parteipolitische Schriften (Programme und Infonnationen)

363

Bundesverband der Phannazeutischen Industrie e.V., bpi-Jahresbericht 1998/99, Frankfurt a.M. o.1. - (Hrsg.), Phanna Daten ' 98, Frankfurt a.M.

28 1998.

Der Überblick zur neuen Rente. Oder wissen Sie schon alles?, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Berlin 2001. Integritas. Verein für lautere Heilmittelwerbung e. V., Geschäftsbericht 1999/2000, Bonn 2000. - Faltblatt, Bonn o.J. Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg.), Eckpunkte für eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik Deutschland aus kassenärztlicher Sicht. Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Köln 1998. Ratiophann, Naturtalente aus Ihrer Apotheke, Ulm 0.1. Satzung vom 01. 12. 1999, Integritas. Verein für lautere Heilmiuelwerbung e. V., Bonn.

VIII. Parteipolitische Schriften (Programme und Informationen) CDU, Der faire Sozialstaat - Eine neue Politik für eine neue Zeit. Diskussionspapier der "Kommission Sozialstaat 21 - Arbeit für alle", 0.1. - Freiheit in Verantwortung. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, beschlossen vom 5. Parteitag Hamburg, 20.-23 . Februar 1994. CDU 1CSU, Leistung und Sicherheit. Regierungsprogramm 2002 - 2006. CSU, Gesundheitspolitik für das neue Jahrhundert. Mehr Gesundheit - mehr Qualität - mehr Verantwortung, München 2001, in: http://www.csu.de (Stand: 29. 08. 2(01). - Gesundheitspolitisches Programm, verabschiedet vom Parteiausschuß Ansbach, 13. Juli 1991. CSU-Kommission "Für eine sozial gerechte Gesundheitsrefonn", Diskussionspapier, München 29. 11. 1999. FDP, Bürgerprogramm 2002. Programm der FDP zur Bundestagswahl 2002, beschlossen auf dem 53. Ord. Bundesparteitag vom 10.-12.05. 2002 in Mannheim. SPD, Erneuerung und Zusammenhalt. Regierungsprogramm 2002-2006. - Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin, geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17. 04.1998. SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.), Gesundheit. Unser wertvollstes Gut - und bezahlbar, Gesundheitsstrukturrefonn 2000, Berlin 1999.

364

Literaturverzeichnis

IX. Statistische Daten Daten des Gesundheitswesens. Ausgabe 2001, hrsg. vom Bundesministerium f"tir Gesundheit, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, 137. Bd., Baden-Baden 2001. Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2000, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit, Bonn 2000.

Personenverzeichnis Achinger, Hans 140/141 Alber, Jens 121, 124, 127, 171, 186, 193/194,230 Altendorf, Rainer 140, 152 Arnery, earl 63 Andersen, Hansfried H. 196 Anzenbacher, Arno 52-54, 75/76, 78/79, 82,99,105/106,137,146,206 Aristoteles 68 Bäcker, Gerhard 20, 153-157, 160-162, 166,168/169,172-175,266,285 Backes, Otto 40/41 Bader, Franz Xaver von 125 Baerns, Barbara 315 Bahrdt, Hans P. 45, 57, 208/209 Bandelow, Nils C. 172, 194/ 195 Bandura, Bernhard 44 Barth, Hans 267/268 Baßeier, Ulrich 109/ 11 0 Batliner, Gerard 108 Bauch, Jost 228 Bauer, Eva 84 Baumbach, Adolf 110, 307 Baumgartner, Alois 24, 74/75, 82, 87/88, 90, 94/95, 97 -100, 104/105, 107, 137, 151,179,243,267 Baur, Rita 142,267/268,280,283 Beck, Ulrich 209-211, 219-221, 223/224, 228 Beck-Gernsheim, Elisabeth 219 - 224, 234, 238,243/244,246 Becker, Ulrich 292 Becker, Winfried 125 Bellebaum, Alfred 56 Bendix, Reinhard 200 Berger, Brigitte 78, 209

Berger, Peter L. 78, 201, 209, 212/213, 234 Beske, Fritz 128, 152, 156/157, 159, 161/162,166,168,171-173,175/176, 178, 180, 190, 194, 197 Bette, Karl-Heinrich 235 Bilgrien, Marie Vianney 91 Binder, Stephan 263 Bismarck, Otto von 120, 122-125 Bittner, Rüdiger 33 Blome-Drees, Franz 111 Blum, Karl169 Bock, Michael 84 Bock, Teresa 178 /179 Böckle, Franz 77 Boethius 76 Boethius, Jan 276 Bogs, Walter 129/ 130, 197 Böhm-Bawerk, Eugen von 263 Bohrmann, Thomas 298/299, 301, 305, 307 -309,313/314 Böing, Günther 52 Bolte,KarlM.41/42, 119, 121,238-240 Bonß, Wolfgang 228, 236 Bourdieu, Pierre 210 Bourgeois, Leon 87, 89 Branahl, Udo 305 Brater, Michael 211 Braun, Hans 140-142, 144/145 Brennecke, Ralph 65, 148, 160 Breyer, Friedrich 165,263 Brück, Gerhard W. 140-142 Buchanan, Allen 274/275 Buchborn, Eberhard 251 Buchholz, Edwin H. 17/18,161 Bühl, Walter L. 81 Bühler, Theodor 131 Bülow, Peter 315/316 Burkhardt, Björn 77 Buß, Joseph Ritter von 125

366

Personenverzeichnis

Cansier, Dieter 34 Cassel, Dieter 276,292-294 Comte, Auguste 84, 89, 200 Conti, Leonardo 130 Creifelds, Carl 183 Dabrock, Peter 25,271,273/274,280,282, 324 Daheim, Hansjürgen 211 Dahrendorf, Ralf 45 Deppe, Hans-Ulrich 191 - 193, 266/267 Deutsch, Erwin 255 Dierks, Marie-Luise 289 Dunkel, Wolfgang 243 Dürig, Walter 81 Dürig, Wolfgang 17,37,159,162/163,168, 173,175,242 Durkheim, Emile 44, 84-87, 89,200,204, 214 Düttmann, Renate 152 Ehreiser, Hans-Jörg 123 Eichendorff, Joseph von 225 Eigler, Jochen 250 Elias, Norbert 226/227 Engelhardt, Dietrich von 19 Engels, Friedrich 87 Eser, Albin 40, 254 Ewald, Fran~ois 237 Fack-Amuth, Werner G. 169 Fellenneier, Jakob 68 Fibelkorn, Andrea 294 Fibelkorn-Bechert, Andrea 152, 154 Fischer, Andrea 187 Fleischhauer, Kurt 266, 283 Forschner, Maximilian 78 Freud, Sigmund 227 Frey, Christofer 25 Fröhlich, Sigrid 1191120 Fuchs, Michael 22, 26 Furger, Franz 56, 67, 82 Fürstenberg, Friedrich 214 Gabriel, Karl 237 Galas, Eckart 291/292 Gawrich, Simone 310, 317 Gehlen, Arnold 59/60, 225

Gensicke, Thomas 202/203 Gerhard, Uta 21 Gide, Charles 87 - 89 Giers, Joachim 70, 75 Giese, Constanze 260 Göbel, Elisabeth 298 Goebbels, Joseph 130 Göpffahrt, Dirk 26, 37/38 Gottstein, Adolf 31/32 Greiner, Wolfgang 165,263,294 Greis, Andreas 23 Grimm, Rolf 304 Gründel, Johannes 77 /78, 231 Gukenbiel, Hennann L. 48, 59 Gundlach, Gustav 24, 56 Hagen, Thomas 16,22,25 Halder, Alois 76 Halfmann, Jost 236 Hallauer, Johannes F. 128, 152, 156/157, 159, 161/162, 166, 168, 171-173, 175/176,178,180,190,197 Häring, Bernhard 22 Hastedt, Heiner 232 Hättich, Manfred 55 Hauck, Gerhard 84 Hauser, Jürg A. 241 Hausmanninger, Thomas 50, 54/55, 61, 79/80,207,216,299 Hebborn, Ansgar 34,36, 149/150, 154, 165, 232,269,271,277,297 Hefennehl, Wolfgang 110, 307 Heim, Nikolaus 45, 151, 165 Heimbach-Steins, Marianne 73, 113 Heimer, Andreas 142,280,283 Heinrich, Jürgen 109/110 Helle, Horst J. 53, 84/85 Heller, Andreas 19 Heller, Sonja 33 Henke, Klaus-Dirk 26, 37/38, 152, 159, 261,272,294 Hentschel, Volker 123, 126/127, 131 Herder-Dorneich, Philipp 34/35, 118, 124/125, 128/129, 132, 134, 163/164, 166,263,295 Hennann, Robert 118 Hesse, Michael 26, 261 Hillmann, Karl-Heinz 42,51,61, 130, 199

Personenverzeichnis Hilpert, Konrad 16,54/55,74,137,246 Hinske, Norbert 53 Hitzler, Ronald 234 Hockerts, Hans Günter 123 - 125, 133 Höffe, Otfried 25/26, 68, 101, 107, 271-274 Hoffmann, Andreas 289/290 Höffner, Joseph 68, 70,83, 101/102 Höhn, Hans-Joachim 81 Holl, Joachim 227 Holler, Albert 133/134 Holzern, Christoph 249, 256, 258 Homann, Karl 111 Hömig, Dieter 136 Hondrich, KarlOtto 95, 100, 204 Honecker, Martin 48, 50 Honer, Anne 244/245 Honnefelder, Ludger 50 Hradil, Stefan 202, 208, 210 Hubbauer, Carolin 235, 245 Hübner, Emil187 Hunold, Gerfried W. 23, 246 Hurrelmann, Klaus 22, 32/33, 42, 44,165 Huth, Rupert 299 Huxley, Aldous 19 llIhardt, Franz J. 259 Irrgang, Bemhard 63, 226 Jäger, Wieland 211 Jähnichen, Traugott 25 Japp, Klaus P. 236 Johannes XXIII. 81, 91 Johannes Pauill. 91/92, 95, 112 Jünemann, Elisabeth 281 Jungbauer-Gans, Monika 181 Jungeblodt, Stefan 181 Kaiser Wilhelm I. 123 Kant, Immanuel 53, 80 Kappe, Dieter 121, 238-240 Käsler, Dirk 44,215/216,218 Kaufmann, Franz-Xaver 51, 120, 145, 239, 241,251/252 Kaupen-Haas, Heidrun 43 Kauss, Thomas 241/242 Kerber, Walter 50, 68/69, 71/72,99 Kern, Walter 77

367

Kersting, Wolfgang 18, 26, 144, 261-266, 271,274/275 Ketteler, Wilhelm E. 101/102, 125 Keupp, Heiner 221 Kindermann, Wilfried 245 Klages, Helmut 42 Klas, Christian 26, 232, 290 Kleeis, Friedrich 119, 124-126 Kleinhenz, Gerhard D. 139 Klose, Joachim 271 Klüber, Franz 52 Kluxen, Wolfgang 143 Kneer, Georg 203 Knoblauch, Hubert 85, 213/214 Koch, Hans-Georg 40 Koch, Traugott 81 Koch, Walter 109/110 Koch-Arzberger, Claudia 95, 100 Kolping, Adolf 125 Könches, Barbara 313 König, Rene 84, 200 Korff, Wilhelm 17, 33/34, 40, 49, 53-60, 62/63,74/75,79,82,90,94/95,97,99, 105,111,137,205-208,2321233,243 Korte, Hermann 42, 84, 226 Körtner, Ulrich H. J. 236 Kraemer, Klaus 250 Kramer, Hans 20 Krämer, Walter 290 Krohn, Wolfgang 225, 236-238 Kromphardt, Jürgen 109 Krücken, Georg 236 - 238 Küenzlen, Gottfried 215 Kuhlmann, Eberhard 309 Kühn, Hagen 17 Kulbe, Arthur 149, 156 Laaser, Ulrich 32/33 Labisch, Alfons 17/18, 26, 32, 191, 230, 233,256 Lampert, Heinz 133,139-141 Lanzerath, Dirk 19 Lau, Christoph 228, 236 Lau, Thomas 234 Laubach, Thomas 23, 246 Laufer, Heinz 188 Laufs, Adolf 40, 250 - 252, 255 Lautmann, Rüdiger 56

368

Personenverzeichnis

Leisering, Lutz 239 Leo xrn. 52, 125 Lepsius, Rainer M. 199 Leroux, Pierre 83 Lesch, Walter 48 Ley, Katharina 220 Lichtenberger, Gustav 183 Lienkamp, Andreas 17,75 Lincoln, Abraham 101/102 Linton, Ralph 45, 208 Lipp, Wolfgang 60 Litz, Dieter 288 Lochbühler, Wilfried 75 Logstrup, KnutE. 94,99 Loo, Hans van der 54,200-204,208/209, 211,214/215,218,224,229,231 Losinger, Anton 102 Luckmann, Thomas 213/214 Luhmann, Niklas 207, 236 Lutterotti, Markus von 253

Neckei, Sighard 219 Nederegger, Georg 282 Nell-Breuning, Oswald von 34, 51/52, 56, 68, 71, 78, 90, 99, 102/103, 106/107, 109, 111,325 Neumann, Lothar F. 135, 138, 140/141, 155 Nick, Franz R. 123 Nickel, Volker 300/301, 306, 308 Niejahr, Elisabeth 15 Nollmann, Gerd 203 Nörr, Knut W. 108 Nothelle-Wildfeuer, Ursula 115, 272

Mack, Elke 24, 66 Malin, Eva-Maria 269 Marschalck, Peter 131 Marshali, Gordon 43 Marshali, Thomas H. 137 Marx, Karl 87 Marx, Reinhard 61,108 Massing, Ottwin 84 Mayer, Tilman 241 Mead, George H. 45 Meckenstock, Günter 108 Metze, Ingolf 39 Mikl-Horke, Gertraude 42, 45,84 Model,Otto 183 Monzel, Nikolaus 68, 122, 125 Mückl, Wolfgang J. 108 Müller, Hans-Peter 84, 86 Müller, Joachim 123 Müller-Hagedorn, Lothar 298 Münch, Richard 207 Münch, Ursula 188 Münk, Hans J. 75 Murswieck, Axel 37

Parsons, Talcott 21, 46/47, 165 Parteina, Manfred 310, 317 Paul, Norbert 17,26,191,230,233,256 Paul VI. 91/ 92, 103 Pesch, Heinrich 60, 88-90, 95,126,297 Peters, Horst 119,124,126-129,133/134 Pfadenhauer, Michaela 234 Pfeffer, Marina E. 118 Pflanz, Manfred 43, 45/46 Pflaum, Dieter 299 Pieper, Annemarie 49, 259 Pitschas, Rainer 26 Pius XI. 92, 101 Prüller-Jagenteufel, Gunter M. 97/98

Naegele, Gerhard 241/242 Napoleon III. 123 Nassehi, Armin 200/201, 235, 237

Oberender, Peter 34, 36, 149/150, 152, 154, 165,232,269,271,277,294/295,297 Oberreuter, Heinrich 188 Offe, Claus 195 Ogburn, William F. 200 Opp, Karl-Dieter 56 Oppermann, Thomas 108

Rachold, Ursula 294 Rager, Günter 231, 251 Rauscher, Anton 88 Rawls, John 264 Recker, Marie-Luise 131 Reibnitz, Christine von 165 Reijen, Willem van 54, 200-204, 208/209, 211,214/215,218,224,229,231 Rendtorff, Trutz 51 Rich, Arthur 50, 109 Ricken, Frido 69170 Ridder, Paul 42

Personenverzeichnis Riege, Fritz 22 Riklin, Alois 108 Ring, Gerhard 315 / 316 Ritter, Gerhard A. 120-122, 124/125,131 Roos, Lothar 145/146, 198 Ropohl, Günter 225 Rosen, George 42/43 Rosenbrock, Rolf 37 - 39 Rosmini, Antonio 70 Ruckdäschel, Stephan 26 Ruf, Ambrosius 299 Ruh, Ulrich 212 Ryll, Andreas 161, 171 Sacher, Hermann 34, 52, 71, 109 Schäfers, Bernhard 57 Schaper, Klaus 135, 138, 140/141, 155 Scheler, Max 76/77 Schell, Wemer 23,37,162,229,304 Schellschmidt, Henner 271 Schimank, Uwe 203/204, 232 Schipperges, Heinrich 19,251 Schirbel, Eugen 118/ 119 Schirmer, Helmut 148, 150, 156 Schlicht, Wolfgang 21 Schluchter, Wolfgang 215 Schmähl, Winfried 140 Schmelter, Jürgen 83/84, 87/88 Schrnid, Josef 121,178,188,238-240,242 Schmidt, Elke M. 269 Schrnidt, Manfred G. 123 Schrnidt, Michael 84, 86 Schrnidt, Peter 165, 276, 283 Schmidt-Jortzig, Edzard 305 Schmitz, Philipp 225 Schnabel, Peter-Emst 165 Schneider, Lothar 102, 198 Schneider, Martin 115 Schneider, Wemer 181 Schockenhoff, Eberhard 19,236 Schoeck, Helmut 42 Schöffski, Oliver 291 /292 Schöllgen, Wemer 79 24 Bohrmann

369

Schöne-Seifert, Bettina 249, 256 Schramm, Michael 24, 10 1 /1 02, 177, 272, 279 Schrattenecker, Gertraud 298 Schreiber, Hans-Ludwig 181 Schroer, Markus 218/219, 221 Schulenburg, Matthias Graf von der 35, 152, 165,231,263,291/292,294 Schulte, Bemd 135, 137/138, 143 Schulz, Günther 124 Schulze, Angela 313 Schulze, Gerhard 210 Schwab, Dieter 251 Schwartländer, Johannes 79/80 Schwartz, Friedrich W. 289 Schweiger, Günter 298 Seewald, Otfried 135, 182 Seifert, Karl Heinz 136 Sellier, Ulrich 125 Sellmann, Matthias 75 Sesselmeier, Wemer 143, 152 Siefer, Gregor 18 Siegrist, Johannes 20, 44, 47, 181,258 Sikora, Joachim 281 Simmel, Georg 210, 234 Smigielski, Edwin 148/149 Sorensen, Annemette 222 Spieker, Manfred 136 Spörlein, Bernhard 68/69, 71 Stallberg, Friedrich W. 51 Stebner, Frank A. 40/41 Stegmann, Franz J. 51 Stenger, Horst 214 Stich, Jutta 222 Stierle, Wolfram 25, 273 Strodtholz, Petra 44 Strohm, Theodor 279 Suchanek,Andreas34 Süß, Winfried 130 Sutor, Bernhard 37, 68-70, 73/74, 81 Syrup, Friedrich 129 Taparelli, Luigi 70 Tennstedt, Florian 121, 132 Teppe, Karl 132 Thielmann, Lars 139, 266 Thiemeyer, Theo 17, 39 Thomas von Aquin 67/68, 10 1

370

Personenverzeichnis

T6nnies, Ferdinand 85/86, 200 Troschke, Jürgen Freiherr von 20 mlrich, Carsten G. 269 mpian67 msenheimer, Klaus 252 Veith, Werner 97 Vierkandt, Alfred 93/94,96,98, 100 Vogt, Markus 58, 60, 75, 115 Volkmann, Ute 204 Waldeck, Rüdiger 304 Walter, Ulla 289 Waschkuhn, Arno 60, 101 Wasern, Jürgen 36 Weber, Georg 235 Weber, Max 42, 84, 96/97, 209, 211, 216-218,231 Weede, Erich 109 Weinberg, Peter 300 Weiß, Johannes 212 Welty, Eberhard 68 - 71 Werbick, Jürgen 76 Westennann, Klaus 68/69, 71 Wiese, Leopold von 42

Wieseler, Silvia 142,280,283 Wildfeuer, Arrnin G. 54, 76 Wildt, Andreas 83, 87, 96 Wilhelms, Günter 104 Willems, Herbert 299 Wils, Jean-Pierre 76 Woelk, Wolfgang 32 Wolff, Dietmar 295,315 Wolff, Hanns P. 249, 255 - 259 Wulsdorf, Helge 61, 108 Zacher, Hans F. 136 Zapf, Wolfgang 200 Zdrowomyslaw, Norbert 17, 37, 159, 162/163,168,173,175,242 Zehenter, Christian 288 Zelinka, Udo 59 Zerche, Jürgen 149 Ziller, Ruth 310, 317 Zimmennann, Gunter E. 93 Zoll, Rainer 87/88, 98 Zöllner, Detlev 122/123, 127 -132, 134 Zulehner, Paul M. 96 Zürcher, Markus D. 83, 90 Zweifel, Peter 165, 263

Sachverzeichnis Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 134/135 Allokation 34, 36, 263, 266 Alter/ Altem 240-242 Alterungsrückstellung 157 Antike 118 Apotheken 172/173, 176, 195, 288, 294/295,303 applied ethics 50 Äquivalenzprinzip 141, 149/150, 156 Arbeiter-Ersatzkassen-Verband (AEV) 160 Arbeiterfrage 52 Arbeiterwohlfahrt (AWO) 178 Arbeitgeberanteil 126 Arbeitnehmerversicherung 126 Arbeitsteilung, soziale 85 Arbeitsunfähigkeit 21, 127, 142,251 Armenhilfe 124 Arzneimittel 173 - 175, 301 - apothekenpflichtige 173, 176,301 - freiverkäufliche 173, 301 - rezeptpflichtige 173, 301/302 - verschreibungspflichtige 173/174, 301 Arzneimittelgesetz 41 Arzt-Patienten-Verhältnis 181, 250-252, 254-260 Arztrecht 40 Arztrolle 45-47 Arztwahl, freie 188/189,260/261 Asymmetrie s. auch: Arzt-Patienten-Verhältnis 47, 165,255,273 Aufklärung 53/54 Aufklärungspflicht, ärztliche 252/253, 260 Ausgleich, sozialer 144, 152, 156 Autonomisierung 54 Barmherziger Samariter 98/99 Basisversorgung, medizinische s. Grundversorgung 24·

Beamten 135, 142/143, 153, 157 Bedürftigkeit 142, 149, 151,266,270,278 Bedürftigkeitsprüfung 141/142 Begräbnisvereine 118 Beihilfe 143, 157 Beitragsbemessungsgrenze 153, 157, 159, 194,268/269,279 Beitragserhebung 141, 151 Beitragsrückerstattung 157, 268/269 Beitragssatz 155/156, 292/293 Beitragszahier 141, 144, 155, 159/160,247, 267 Benetton 313 Beratungssystem 284, 288 Bereichsethik 49/50 Berufsethik 50/51 Berufsethos 50, 172 Berufsordnung 171, 176, 193,252,295 Berufsrecht 40/41 Bevölkerungsentwicklung s. Demographie Bevölkerungspolitik 130/131 Bismarcksche Sozialreform 123-126, 137, 140 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 174, 183/184 Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (B gVV) 183/184 Bundesländer 189/190 Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 182/183, 185 -187,281,290 Bundesrat 182, 187/188 Bundesregierung 182, 187/188 Bundesstaat - demokratischer 136 - sozialer 136 Bundestag 134, 182, 187/188 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) 183, 185,287

372

Sachverzeichnis

caritas socialis 70 CDU 189, 194,271/272 Centesimus annus 92, 103, 112 Charta der Gesundheitsministerkonferenz 254 collegia funeratica 118 collegia tenuiorum 118 compliance 258 CSU 177, 189,271/272,194 Definitionsmacht, ärztliche 47 Demographie 240/241 Deutscher Caritasverband (DCV) 178 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Der PARITÄTISCHE) 178 Deutscher Werberat 307/308,311/312 Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) 183, 185 Deutsches Reich 121- 128, 321 Deutsches Rotes Kreuz (DRK) 178 Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (DW) 178 Diesseitsreligion 235 Differenzierung, funktionale 203 - 211, 228-230 Diskriminierungsverbot 154,278, 193, 195 Dokumentationspflicht, ärztliche 252 - 254, 260 Domestizierung 224 - 227 Ehe 222-224 Ehrenamt 179 Eigenverantwortung s. Selbstverantwortung Einkommensumverteilung 153 Entzauberung der Welt 211,214/215 Eranosgesellschaften 118 Ethik 48-50 - angewandte 50 - der Gesundheitspolitik 65/66, 320 - der Gesundheitssicherung 65/66, 262, 320 - der Gesundheitsversorgung 65/66, 320 - des Gesundheitswesens 63, 65/66, 180 - in der sozialen Kommunikation 112 - in der Werbung 112,297,312-319 - inhärente 309 Ethos 143

- der Solidarität 144/145, 152, 196/197 - der Sozialversicherung 143 - 164 - der Subsidiarität 196 - 198 Europäische Union 107, 190 Expertenmacht, ärztliche 47 Fachwerbung 301/302, 314 Familie 222 - 224 Familienlastenausgleich 153 Familienmitversicherung 127, 268, 270/271 FDP 189, 194 Fehlverhalten, gesundheitliches 23/24, 270 Finanzierung, paritätische 151 Fortschritt 19, 233 fratemite 87 Freiheit, ökonomische 108, 115,263 Fremdkontrolle der Werbung 308 Fremdmedikation 302 Führerprinzip 132 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 27, 92, 103,112/113, 145 Fürsorgeprinzip 142/143 Gärtner- oder Hegeauftrag 62/63 Gaudium et spes 16, 62, 81/82, 114, 305 Geburtskostenrisiko 156 Gehorsamsverantwortung vor Normen 58 Gemeinwohl und Eigennutz 112 Generationenausgleich 152 Generika 173/174 Genfer Ärztegelöbnis 256 Gerechtigkeit 26, 67/68, 264 - 266, 272, 321 - Bedürfnisgerechtigkeit 71/72, 279, 321/ 322 - Beflihigungsgerechtigkeit 282 - Besitzstandsgerechtigkeit 72 - Beteiligungsgerechtigkeit 73, 115,280 - Chancengerechtigkeit 71/72 - intergenerationelle 74 - Legalgerechtigkeit 68 - Leistungsgerechtigkeit 72, 263, 273, 279, 321 - Lohngerechtigkeit 69 - Preisgerechtigkeit 69 - soziale 70-74, 265 - Tauschgerechtigkeit 25, 68/69, 263, 272/273,279

Sachverzeichnis - Verkehrs gerechtigkeit 68 - Versicherungsgerechtigkeit 69 - Verteilungsgerechtigkeit 68 - 70, 272 - Vertragsgerechtigkeit 68 - Zukunftsgerechtigkeit 74 Geschlechterumverteilung 153 Gesellenverbände 119 Gesellschaftsvertrag 264 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) 306-308, 310/311 Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens (HWG) s. Heilmittelwerbegesetz Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 142, 148, 150-159, 161, 174, 194/195, 266-271,275/276,279,284,289,290, 292/293,322,324 Gestaltungsverantwortung für Normen 58 Gesundheit als transzendentales Gut 18, 280 Gesundheitsämter 190, 284 Gesundheitsbegriff 17 - 23, 31 Gesundheitsdienst - ambulanter 161-166 - stationärer 166-169 Gesundheitsdienstberufe 170 Gesundheitsfinanzierer 194 Gesundheitsleistungen 160 Gesundheitsökonomik 33 - 36 Gesundheitspolitik 37 -39,181 Gesundheitsproduzenten 194 Gesundheitsrecht 40 Gesundheitsreform 2000 163 Gesundheitsregulierer 194 Gesundheitssicherung, duale 268,271-285, 290,293,323/324 Gesundheitssoziologie 41 - 48 Gesundheitsstrukturgesetz 153,291/292 Gesundheitsversorgung, solidarische 278/ 279 Gesundheitswesen als "Kampfplatz" 188, 191-195,321 Gesundheitswissen 286 Gesundheitswissenschaft / Gesundheitswissenschaften 31 /32 Gewährleistungsauftrag 162 Gleichheit 81, 116, 139, 151, 154, 196, 278/279 Gottebenbildlichkeit 17, 62, 79/ 80, 104

373

Grundgesetz 134-136, 189 Grundrechte 134/ 135 Grundversorgung, medizinische 271, 274278,280,282 Handeln für die Zukunft der Schöpfung 75 Härtefalle 152, 198,267 Heil 235/236 Heilmittelwerbegesetz (HWG) 41, 302, 310, 316-319 Heilserwartung, säkulare 234 - 236 Herrschaft, legitime 217/218 Herrschaftsauftrag 62/63 Hilfspflicht, ärztliche 252, 256, 260 Hippokratische Modell 256/257 Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA 73/74 imago dei 62, 80 Individualethik 49/50 Individualisierung 218 - 224,237 - 239,323 Industrialisierung 120/121, 137,238 informed consent 259/260 Inhaltsethik 312 - 319 Innovativwirtschaft 111 Institution / Institutionen 58 - 60 Integritas 306, 310 / 311 Interaktionsmodell 257 Interdisziplinarität 61 / 62 Interessenvertretung 160, 162, 171/172, 178 Internet 295 /296 Interpenetration 207 iustitia - commutativa 68/69 - contributiva 73 - distributiva 68 - 70, 73 - generalis 68 - legalis 68 - 70 - particularis 68 - socialis 70-74

Juridisierung s. Verrechtlichung Kaiserliche Botschaft 123 Kassenarten s. Krankenkassen Kassenärzte/ Kassenärztinnen 129, 161-165 Kassenärztliche Bundesvereinigung 134

374

Sachverzeichnis

Kassenärztliche Vereinigung 129, 134, 162, 171 Kassenarztrecht 126, 129, 133/134, 162 Kassenwahlfreiheit 291/292 Kategorischer Imperativ 80 Kennzeichnungspflicht 315 Kinder 314,318 Knappschaftswesen 119, 128 Kommunen 190 Kommunikationsfreiheit 305 Konsultationsprozess 113,280/281 Konsumentensouveränität 36, 165,274,286 Konsumfreiheit 165 Kontrahierungszwang 154, 195 Körper 43, 214, 226/227, 234, 244/245, 323 Körperideal 234, 244/245 Kostenerstattungsprinzip 149/150, 156,290 Krankengeld 21/22 Krankenhaus / Krankenhäuser 167 - 169 Krankenkassen - Allgemeine Ortskrankenkassen 150, 160 - Betriebskrankenkassen 124, 150, 160, 269 - Bundesknappschaft 150 - Ersatzkassen 150 - Innungskrankenkassen 150, 160 - Landwirtschaftliche Krankenkassen 150 - See-Krankenkassen 150 Krankenkassenverbände 160 Krankenversicherung, solidarische 151-153, 278-280 Krankenversicherungsrecht 127, 129 Krankheitsbegriff 17 - 23 Kultursachbereiche 204 - 208 Laborem exercens 91 Laienorganisationen 38,179-181 Leistungsabwahl 277 Lexikon der Bioethik 26 Lotsenrnodell163 Lumen gentium 16

Machbarkeitsmentalität 43,244-246 Manipulation 299 Marketing-Mix 298 Markt 108-111, 262/263, 321

Markttransparenz 110, 165/166, 174/175, 295/296 Marktversagen 36,321 Marktwirtschaft 109- 111, 164/165 - ökologisch-soziale 113 - soziale 113 Materet magistra 81, 91,108 Medicaid 283 Medicare 283 Medienethik 50, 62, 313 Medikationsdatei 288 Medizinische Ethik 26 Medizinische Soziologie 21, 42/43 Medizinrecht 39-41 Medizintechnik 175 Mehrbesitzverbot 176 Menschenrechte 55, 137,265 - bürgerliche Freiheitsrechte 137 - gesellschaftliche Mitwirkungsrechte 137 - individuelle Freiheitsrechte 137 - soziale Anspruchsrechte 137 Menschenwürde 80, 95 Moderne / Modernisierung / Modernisierungsprozess 54,199-203,227/228,322 Moral-Hazard-Phänomen 269 Mündigkeit und Solidarität 27, 278 Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte (MBO) 193, 252/253, 256,261,295 Mutterschutz 135 Nachhaltigkeit 74/75, 113 National Health Service (NHS) 142 Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) 180 Nationalsozialismus 130-132,208 Nebenwirkungen 302/303, 315/316 Necessary care 283 Negativliste 173 Neuzeit 53/54 Nicht-Markt-Struktur 164 Norm/Normen 56-58 Octogesima adveniens 103 Öffentlichkeitswerbung 301 Ökonomisierung 195, 249/250

Sachverzeichnis Option - für die Annen 95 - für die Schwachen 95, 115, 152, 321 - für die Starken 115,321 Ordnungen, soziale 59/60 Oregon (USA) 283 OTC-Produkte 173,293-295,303 Paeem in terris 27, 80, 103 Parafiskalität 155 Parteien 188, 190 Partnerschaftsmodell 258 Patent 174 Patientenautonomie 180,286 Patientenrechte 287 Patientenrolle 45 -47 Patientenschutz 255, 287 pattern variables 47 Paul-Ehrlich-Institut als Bundesamt für Sera und Impfstoffe (PEI) 183, 185 Person/Personbegriff 54/55,76-81,321 Personalethik 49/50 Personprinzip s. Sozialprinzipien Pflichtangaben 315 Pflichtversicherung 141 Pharmaindustrie 172-177, 195, 294/295,

303/304,310 Pleonexie 25, 273 policy 37 polities 37 Politikbegriff 37 polity 37 Populorum progressio 91 Positivliste 177 Prämien, risikoäquivalente 159, 268, 270 Prämienkalkulation 157 Prävention 38, 181/182, 185/186,262,273 Primärarztsystem 163 Priorisierung 266, 274, 282/283, 324 Prioritätsregel 265 Private Krankenversicherung (PKV) 148, 152,155-160,194/195,268/269,279, 290,322 Privatversicherung 141 Probleme, soziale 52/53 Produktionsfreiheit 165 Professionalität 179 Proletariat 122

375

Protestantismusstudie 216/217 Publikumswerbung 175, 301, 304, 314, 316/317 Quadragesimo anno 70,101,103,104-107

Rahmenordnung 114 Rat des Jitro 102 Rationalisierung 54, 84, 211 - 218, 230 - 233 Rechtsanspruch 139 Rechtsstaat, sozialer 136 Reichsversicherungsordnung (RVO) 128 Rente 285, 324 Rerum novarum 52, 92,103,122 Ressourcen, knappe 34, 115 Revolution - des Geistes 53 - französische 53,81,87 - industrielle 53, 121 - politische 53 Riester-Rente 285, 324 Risiken des Lebens 123, 136/137, 139, 144/145 Risikoausgleich 148/149, 152, 156, 196, 280,293 Risikobeitrag 157 Risikogesellschaft 236/237 Risikostrukturausgleich 154, 291/292 Risikozuschläge 152, 154, 157, 268, 278, 293 Robert Koch-Institut (RKI) 183/184 Rolle, soziale 44-47 Sachleistungsprinzip 149/150,289 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 185/186, 282/283 Säkularisierung 212-214, 234, 246 Schleier des Nichtwissens 264 Schweigepflicht, ärztliche 252/253, 260 Selbstbeteiligung 266/267, 278, 289 Selbsthilfeorganisationen 179-181 Selbstkontrolle der Werbung 308 Selbstmedikation 173,294,302/303 Selbstverantwortung 257/258, 260, 269, 272-274,278,284 Selbstverwaltungsprinzip 154/155 Sicherheit 144-146

376

Sachverzeichnis

Sicherstellungsauftrag 162 Sicherung, soziale 120, 122, 143, 145 Single-Payer-System 263 Sklaverei 52/53, 60 Sociology 01 Health and Illness 43 Solidargemeinschaft 95/96, 128, 153, 194, 196, 238, 246, 248, 267, 269/270, 273/274, 277 - 279, 282 Solidarismus 87 - 89 Solidarität 82 - 100 - als Pflicht 90 - als Rechtsprinzip 99 - Con-Solidarität 97/98, 116, 144, 197, 278,322 - diachrone 100 - Entsolidarisierung 266-271 - faktische 90 - frei willige 99 - Gruppensolidarität 94 - institutionalisierte 96, 99 - intergenerationelle 97 - Makrosolidarität 96/97 - mechanische 86 - Mesosolidarität 96 - Mikrosolidarität 96 - organische 86 - Pro-Solidarität 97/98, 116 - synchrone 100 - verstaatlichte 144 Solidaritätsakteur 94, 97/98, 100, 116, 144 Solidaritätsbeitrag 280 Solidaritätsprinzip s. Sozialprinzipien Solidaritätsrezipient 94, 97/98, 100, 116, 144 solidarite devoir 88 solidarite lait 88 Sollicitudo rei socialis 91/92,95 Sophrosyne 25 Soziale Frage 52/53, 122 Sozialethik, christliche 17, 23/24, 49 - 51, 63 Sozialgesetzbuch (SGB) 41, 128, 137/138, 150,182,268 Sozialgesetzgebung 125 Sozialhilfe 142/143 Sozialkatholizismus 125 Sozialnatur 78 Sozialpolitik 145/146

Sozialprinzipien 74/75, 271 - Nachhaltigkeit 75 - Personalität 76 - 82 - Solidarität 82-100, 145 - Subsidiarität 101-108, 116 Sozialrechte 135/136 Sozialstaat 120, 122, 125, 136,325 Sozialstaatsklausel 136 Sozialstaatsprinzip 134, 136 Sozialversicherung s. Versicherung Soziologie 41/42, 84 SPD 189,271 Staatsmodell 263 Staatsversagen 263 Staatszielbestimmung 136 Steuerungsmacht, ärztliche 47 Strafgesetzbuch (StGB) 152, 251-253 Stratifikation 208 - 211 Strukturen, soziale 56 Stufenmodell der Gesundheitssicherung 273/274 Subjekt, autonomes 54/55, 71 Subjekt, moralisches 54/55, 77, 90 Subjektivation 54 Subsidiaritätsprinzip s. Sozialprinzipien sustainable development 74/75 Technik 231- 233 Therapiefreiheit 165, 177,294 Trennungspflicht 315 Umlageverfahren 152, 159 Umverteilung, solidarische / soziale 152/ 153,156/157,196,322,325 Umweltethik 49/50 Verband der Angestellten-Krankenkassen (VDAK) 160 Verbände der Wohlfahrtspflege 178 Verbraucherschutz 306, 309 Verrechtlichung 181, 195,249-255 Versicherung 125/126, 149/150 - Altersversicherung 123/124 - Arbeitslosenversicherung 139 - Invalidenversicherung 123/124 - Krankenversicherung 123, 125, 127, 136, 139 s. auch: Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) - Pflegeversicherung 136, 139

Sachverzeichnis - Rentenversicherung 139, 285, 324 - Sozialversicherung, Kennzeichen der 123-128,133-135,139,141 - Unfallversicherung 123/124,236,139 Versicherungspflicht 120, 127/128, 144, 150, 159, 194 Versicherungsprämie 149, 159,231 Versicherungsprinzip 126, 140, 142/43 Versicherungsstufen 273 - 275 Versicherungsvertrag 149, 196,275/276 Versicherungszwang 124, 126, 141 Versorgungsmaximalismus 265/266 Versorgungsprinzip 141, 143 Verteilungsproblematik 115 Vertragsmodell 257/258 Wahlleistungen 276, 284/285 Wahltarife 274, 284 Währungsreform 133 Wandel, sozialer 199/200, 219 Weimarer Reichsverfassung 134 Weimarer Republik 128, 133 welfare state 120 Werbeverbote 295 Werbewirtschaft 306 - 308 Werbung 298 - 301 - getarnte 299 - subliminale 299 - verfälschende 299

377

Wettbewerb 109-112, 159, 165/166, 175-177,276/277,291-297 Wettbewerbsordnung 109/ 110 - solidarische 293, 325 Wettbewerbsrecht 306/307 Wirtschaft 33 Wirtschaftsordnung 108/109 Wirtschaftssystem 108/109 Wohlfahrtsstaat 120 World Health Organization (WHO) 22, 191, 236 Zeitschrift für Evangelische Ethik 25 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs 308 Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) 306/307 Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) 178 Zukunftsgut262/263 Zünfte 119 Zunftkasse 119 Zusatzversicherung, private 271, 275 - 277 Zuzahlungen 152, 164, 198, 266/267, 275, 278 Zwangsbeitrag 119 Zwangsversicherung 141,276