Ordnungen der Kontingenz: Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland - Jean Paul - Brentano) 9783484151123, 3484151129

The modernist awareness of contingency is variously prefigured in German narrative discourse around 1800. In the course

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German Pages 282 [280] Year 2006

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Ordnungen der Kontingenz: Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland - Jean Paul - Brentano)
 9783484151123, 3484151129

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Systematik: Kontingenz und Ordnung
III. Der historische Ort: Kontingenz und Ordnung um 1800
IV. Die »unendliche Verschiedenheit in den Begriffen«: Ordnungskonflikte in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon
V. »Doppelsinnigkeiten von allen Ecken«: Allegorisches Erzählen in Jean Pauls Blumen-, Frucht- und Dornenstücken oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs
VI. »Drang zur Darstellung«: Zur Poetik der Unterbrechung in Clemens Brentanos Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter
VII. Ausblick: Kontingenz und Ordnung um 1900
Literaturverzeichnis

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 112

SASCHA M I C H E L

Ordnungen der Kontingenz Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland - Jean Paul - Brentano)

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2006

Meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-15112-3 ISBN-10: 3-484-15112-9

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

II.

Systematik: Kontingenz und Ordnung 1. Einleitung 2. Semiologische Kontingenz 3. Narratologie des Zufalls

III. Der 1. 2. 3. 4.

ι n n 14 24

historische Ort: Kontingenz und Ordnung um 1800 Einleitung Der archimedische Punkt: Zur Begründung des Subjekts . . . . Einbildungskraft und Zufall Teleologie-Diskurse im 18. Jahrhundert

35 35 38 43 50

IV. Die »unendliche Verschiedenheit in den Begriffen«: Ordnungskonflikte in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon 69 1. Einleitung 69 2. Zufall und Geschichte 74 2.1 Erzählen in Anführungszeichen: Zur Ironie des Vorberichts . . 77 2.2 Ordnung im Plural 85 3. Ontologische Kontingenz und narrative Theodizee 95 3.1 »dieses unerklärbare, launische, widersinnige Ding, unsre Seele«: Agathon als »Charakter« 95 3.2 Rahmendes und unterbrechendes Erzählen: Das Ende der ersten Fassung 107 3.3 Ordnung und Gewalt: Das Ende der dritten Fassung 115 V.

»Doppelsinnigkeiten von allen Ecken«: Allegorisches Erzählen in Jean Pauls Blumen-, Frucht- und Dornenstücken oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs 1. Einleitung 2. Telos und Kontingenz 2.1 Passion und Initiation 2.2 »Der bestochene Zufall« 2.3 Allegorie und semiologische Kontingenz

127 127 129 129 136 139 V

3· 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Eine Welt »voll Zeichen«: Zur symbolischen Ordnung der erzählten Welt »Wörter, Spielmarken und Medaillen«: Religion und Autorschaft im Bildfeld der Ökonomie Die »Anfanggründe eines Namens«: Zur Logik des Namenstauschs Ursprung und Kontingenz: Die (An-)Archie der Schrift Identität und Alterität: Zur Figuration von Autorschaft in den Vorreden Ursprung und Apokalypse in den Blumenstücken Digression und Enzyklopädie: Zur Poetik der Schrift Die Macht der Unterbrechung: Lenette und die »Sprachmaschine«

145 145 149 152 157 163 169 179

VI. »Drang zur Darstellung«: Zur Poetik der Unterbrechung in Clemens Brentanos Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter . . 185 1. Einleitung 185 2. Zufall und Augenblick 188 3. Erzählen in Stationen: Der erste Brief 192 4. »Können wir beide uns etwas sagen?« 199 5. Verwilderung: Zur Narratologie des Perspektivismus 203 6. Die Suche nach dem Ursprung: Zur Melancholie des Erzählens 216 6.1 Otilie oder: »kein Begehren, keine Geschichte mehr« 218 6.2 Violette oder: »ewig zu der Wunde wieder hin« 229 7. »Wo will es am Ende hinaus!« 242 VII. Ausblick: Kontingenz und Ordnung um 1900

251

Literaturverzeichnis

263

VI

I.

Einleitung

Zufall ist das keiner gewesen, weil Zufall in dem Sinn gibt es keinen, das ist erwiesen. Wolf Haas, Auferstehung der Toten

In allen Bereichen der modernen Kultur wird Kontingenzbewußtsein demonstriert und chronisch darauf reflektiert, daß das, was ist, immer auch anders möglich ist. Trotz dieser Omnipräsenz jedoch, die vom Hollywoodfilm bis zur »Bastelbiographie«1 reicht, gibt es keine einschlägige Monographie. Und auch innerhalb der Literaturwissenschaft sucht man bislang vergeblich nach einer umfassenden historisch-systematischen Verortung des Themas, obwohl doch gerade die Literaturwissenschaft ihre Gegenstände spätestens seit der Implementierung poststrukturalistischer Fragestellungen bevorzugt mit dem Index der Kontingenz versieht. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine solche historische Systematik spezifisch literarischer, genauer gesagt: narrativer Kontingenz nachzuliefern und dabei nicht nur einen modischen Allerweltsbegriff literaturwissenschaftlich zu operationalisieren, sondern mit Hilfe dieses Begriffs auch die vielfach untersuchte Epochenschwelle um 1800 neu in den Blick zu nehmen.2 Literaturtheoretisch knüpfe ich mit diesem Vorhaben naheliegenderweise an bestimmten Denkfiguren des Poststrukturalismus an. Wie ich in der Systematik weiter ausführen werde, vertritt der Poststrukturalismus einen radikalisierten Begriff von Kontingenz, der, verstanden als »Durchkreuzung der Funktionalität«,3 auf die Subversion von Ordnung abzielt. Diese Ordnungssubversion äußert sich in literarischen Texten als das, was ich im Anschluß an Jacques

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Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. A u f dem Weg in eine andere Moderne, 7. Aufl., Frankfurt am Main 1990, S. n 6 f . Durchaus zu Recht hat man kritisiert, daß der Kontingenzbegriff beim Import aus der Philosophie oder den Naturwissenschaften in die Literaturwissenschaft zu einer unpräzisen Metapher zu werden droht: »The worst such abuses occur when terms that have a clearly defined meaning, usually mathematical, in the physical sciences are imported into literary studies as metaphors. By the time they reach pop books, a good skeptics baloney detector should be red-lining. Latest to make this transition are the two C-words, Chaos and Complexity, and their hybrid offspring, Contingency and Counterfactuals« (Frank Miele, »Special Section Introduction: A Quick & Dirty Guide To Chaos A n d Complexity Theory«, in: Skeptic 8 (2001), Nr. 3, S. 54ff.). - Daß dessen ungeachtet der präzise literaturwissenschaftliche Gebrauch des Kontingenzbegriffs bestimmte Texte überhaupt erst angemessen zu erschließen erlaubt, wird im folgenden zu zeigen sein. David E. Wellbery, »Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus«, in: Poststrukturalismus — Dekonstruktion - Postmoderne, hrsg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1992, S. 1 6 1 - 1 6 9 , hier S. 162. I

Derrida semiologische Kontingent nenne. Kurz gesagt, ist damit eine von allen ontologisch-essentialistischen Fundierungen losgelöste Zeichenverkettung und Sinnproduktion gemeint, die sich keiner semantischen Teleologie oder ursprünglichen Intention fügt. Das Wissen um die semiologische Kontingenz ist dabei so alt wie die Reflexion auf Sprache selber und tritt vor allem dort zutage, wo über Erinnerung - als dem Paradigma von Textgenerierung — nachgedacht wird. Schon bei Aristoteles etwa ist von den wie »zufällig« in der Seele auftauchenden Erinnerungen die Rede, die den Gedächtnisprozeß immer wieder »anders«, d.h. gegen die eigentlichen Intentionen, verlaufen lassen.5 Und Augustinus weist in seinen Confessiones darauf hin, daß bei dem Versuch, »etwas aus der Erinnerung« zu erzählen, plötzlich »anderes« als das Gesuchte »mitten vor dich hin [springt], als riefe es: Sind wir's vielleicht?«6 Dieses Bewußtsein semiologischer Kontingenz, das bei Aristoteles und Augustinus noch an den Rand gedrängt wird, ist für die Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts geradezu prägend geworden: Ob in Bachtins Dialogizitätskonzept oder der an Bachtin anknüpfenden Intertextualitätstheorie,7 ob in Lacans Theorie einer vom Begehren angetriebenen Sprache, die stets »alles andere als das« bezeichnet, »was sie sagt«,8 oder ob in de Mans dekonstruktivem Nachweis rhetorischer Bedeutungssubversionen - stets geht es darum, die Unzuverlässigkeit semiotischer Beziehungen herauszustellen. Die mit solchen theoretischen Positionen einhergehende Fixierung auf die Differenz der Zeichen, das Andere des Gesagten und die Unlesbarkeit der Texte mag im Zuge des Poststrukturalismus zwar eine schnell langweilig gewordene »Rhetorik der Aporie« hervorgebracht haben, bei der man, ohne noch genau hinsehen zu müssen, immer schon weiß, daß die Texte etwas anderes machen, als sie sagen. Doch jenseits von »erpreßte[r] Unversöhntheit«9 geht es mir im folgenden darum, en detail zu zeigen, daß die Texte 4

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In dem Text Die zweifache Siance ist vom »semantischen oder eher semiologischen Zufall« die Rede (Jacques Derrida, Die zweifache Seance, in: Ders., Dissemination, Wien 1995, S. 193-320, hier S. 287). Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung, in: Ders., Uber die Seele. Die Lehrschriften, hrsg. v. Paul Gohlke, 2. Aufl., Paderborn 1953, Bd. 6.2, S. 71 (452b). Augustinus, Bekenntnisse. Eingeleitet, übersetzt u. erläutert v. Joseph Bernhart, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 505. Vgl. hierzu Frauke Berndt, Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900, Tübingen 1999, S. 22ff. Vgl. Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, hrsg. v. Jens Ihwe, Frankfurt am Main 1972, S. 345-375, sowie Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, Frankfurt am Main 1990. Jacques Lacan, »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: Theorie der Metapher. Studienausgabe, hrsg. v. Anselm Haverkamp, 2. Aufl., Darmstadt 1996, S. 175-215, hier S. 188. Jörg Lau, »Literatur. Eine Kolumne. Literarische Theorie, theoretische Literatur«, in: Merkur 52 (1998), S. 153-159, hier S. 155. Vgl. auch die Abrechnung desselben Autors mit der sogenannten Postmoderne: Jörg Lau, »Der Jargon der Uneigentlichkeit«, in: Postmoderne. Eine Bilanz, Sonderheft Merkur 52 (1998), S. 944—955.

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um 1800 nun einmal unversöhnlich und aporetisch sind. Anders gesagt: Weil die Ordnungssubversionen, die im Zentrum des mittlerweile längst historisch gewordenen Poststukturalismus gestanden haben, Bewegungen der Texte selber sind, führt der antipoststrukturalistische Jargon genauso von den Texten weg wie der poststrukturalistische. Worum es mir also geht, ist philologische und historische Nähe zu den Texten und keine Wiederbelebung literaturtheoretischer Grabenkämpfe. Um an die ordnungssubversiven Bewegungen der Texte heranzukommen, muß man die aufwendige und raffinierte »Ordnungsarbeit«10 nachvollziehen, die gerade für die >wild< und >chaotisch< erscheinenden Romane konstitutiv ist. Für die Zeit um 1800 bedeutet dies, so meine These, daß man insbesondere den metaphysischen Ehrgeiz der Texte ernst nimmt. Denn mit ihrer poetologischen Ordnungsarbeit partizipiert die Literatur immer auch an den Ordnungsmodellen und -problemen metaphysischer Diskurse. Zwar besteht diese Partizipation, wie zu sehen sein wird, in höchst riskanten Randgängen. Doch bei allem >Wissen< um die ontologische und semiologische Kontingenz jeder Ordnungssetzung,11 lassen die Texte um 1800 nicht von dem metaphysischen Begehren ab, eine letzte arche oder ein endgültiges telos zu erreichen. Der Vorwurf, den man sich damit als Literaturwissenschaftler einhandelt, liegt auf der Hand: Wie Richard Rorty durchaus zu Recht angemerkt hat, gerät man durch die philosophische Perspektive auf die allgemein kulturelle, also auch literaturgeschichtliche Rolle der Metaphysik in Versuchung, einen Generalschlüssel ä la Derrida zur Verfügung zu haben, mit dessen Hilfe sich das Geheimnis wirklich aller Texte lüften lasse. In ihrer Extremform verleitet diese Auffassung die Literaturwissenschaftler dazu, jeden Text so anzugehen, als >handle< er von den immer gleichen alten Gegensätzen: Zeit und Raum, Sinnliches und Intelligibles, Subjekt und Objekt, Sein und Werden, Identität und Verschiedenheit und so fort. Gerade als wir pragmatischen, an Wittgenstein geschulten Therapeuten uns dazu beglückwünschten, der gelehrten Welt die Vorstellung ausgeredet zu haben, daß diese Gegensätze etwas >Tiefes< darstellen, also gerade als wir glaubten, wir hätten diese Terminologie hübsch nivelliert und trivialisiert, merkten wir, daß all die liebgewordenen >Probleme der

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Bernhard Waidenfels, »Das Ordentliche und das Außer-ordentliche«, in: Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, hrsg. v. Bernhard Greiner u. Maria Moog-Griinewald, Heidelberg 2 0 0 0 , S. 1-13, hier S. Ii. Ontologische Kontingenz meint die ontologische Grundlosigkeit jeder symbolischen Ordnung, die als bloße Setzung prinzipiell auch anders möglich ist. Es gibt sozusagen keinen archimedischen Punkt außerhalb der Ordnung, von dem her eine Letztbegründung möglich wäre. Und weil jede symbolische Ordnung ontologisch kontingent ist, entsteht überhaupt erst der unendliche Spielraum semiologischer Kontingenz. Z u m Begriff der ontologischen Kontingenz vgl. Waidenfels, »Das Ordentliche und das Außer-ordentliche«, S. 4ff. Der Begriff selbst stammt von Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie de la perception, Paris 1945, S. 456.

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P h i l o s o p h i e « aus d e m L e h r b u c h als d a s v e r b o r g e n e K o n z e p t u n s e r e r L i e b l i n g s g e dichte u n d - r o m a n e apostrophiert wurden.

Das Problem ist, daß Rorty hier selbst als Philosoph auftritt, der seinen Generalschlüssel anbietet. Rorty schlägt nämlich »pragmatisch« vor, »sich damit zufrieden zu geben«, die metaphysischen Gegensätze »auf die leichte Schulter zu nehmen, sie zu >dethematisieren< und nichts weiter in ihnen zu sehen als ein paar zusätzliche sprachliche Bilder«.13 Das aber geht genauso an den Texten um 1800 vorbei wie der Versuch, die Texte lediglich exemplarisch vor dem immer gleichen Hintergrund von Metaphysik und differance zu lesen. Wie zu sehen sein wird, schlagen Romane wie Christoph Martin Wielands Agathon, Jean Pauls Siebenkäs oder Clemens Brentanos Godwi ganz unterschiedliche Erzählwege ein und arbeiten sich doch an ähnlichen Problemen ab. Da diese >Arbeit< nichts anderes als die jeweiligen literarischen Verfahren meint, verbietet sich jede begriffliche Hypostasierung und philosophische Instrumentalisierung. Was die Romane um 1800 aber auch demonstrieren, ist der Ernst der Probleme, die sie als Texte vorführen: Bei aller Ironie, bei allem Witz, bei aller Lust am Erzählen nehmen sie ihre je eigenen Darstellungsprobleme, die untrennbar mit der metaphysischen Ordnung von arche und telos zusammenhängen, alles andere als auf die leichte Schulter. Sicherlich besteht das Moderne der Literatur um 1800 auch darin, daß sie performativ — und nicht bloß inhaltlich — versucht, »an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln«.14 Doch das ist nur die halbe Wahrheit. In ihrem Ursprungsbegehren und ihrer programmatischen Teleologie träumen die Texte um 1800 zugleich immer noch den alten Traum von Endgültigkeit und verläßlicher Ordnung. Die Relation zwischen Kontingenz und Ordnung, die im Zentum der vorliegenden Arbeit steht, stellt ein geradezu klassisches Gegensatzpaar der metaphysischen Tradition dar. Mit der Wahl dieses Begriffspaares will ich aber genausowenig wie die Texte selbst - und gegen Rortys Unterstellung — auf etwas »Tiefes« verweisen. Im Gegenteil: Wie die Romane um 1800 die vermeintliche metaphysische »Tiefe« als bloßes Konstrukt und sprachlichen Effekt vorführen — Novalis spricht in anderem Zusammenhang von einer

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Richard Rorty, Dekonstruieren und Ausweichen, in: Ders., Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart 1993, S. 104—146, hier S. 143. Rorty, Dekonstruieren und Ausweichen, S. 143. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität, 2. A u f l . , Frankfurt am M a i n 1993, S. 5of. — Z u m Zusammenhang zwischen einer sich als nachmetaphysisch verstehenden Moderne und dem Bewußtsein f ü r Kontingenz (im Sinne der prinzipiellen Fallibilität von Aussagen) vgl. Albrecht Wellmer, Wahrheit, Kontingenz, Moderne, in: Ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, F r a n k f u r t / M . 1993, S. 1 5 7 - 1 7 7 . 4

v>nothwendige[n] Fiction«15 —, dienen mir die beiden Begriffe lediglich zur Beschreibung der Art und Weise, wie die Texte als Texte funktionieren. Das ist deshalb möglich, weil Kontingenz und Ordnung, so meine pragmatische These gegen Derridas »ultra-transzendentalen«16 Anspruch, narratologisch operationalisierbare Begriffe sind. Nicht zufällig ist das einzige literaturwissenschaftliche Feld, auf dem bereits wichtige Ansätze zu einer historischen Systematik literarischer Kontingenz entwickelt worden sind, das der Narratologie und Erzählanalyse.17 Der Grund hierfür liegt darin, daß die mit dem Geschichtenerzählen verbundene Schicksalssemantik seit jeher auf Zufallstopoi angewiesen ist: Kein Abenteuer, keine Liebesgeschichte, kein Bildungsroman, keine Erzählung unerhörter Begebenheiten ohne Einsatz (vermeintlich) zufälliger Stürme, Entführungen und Begegnungen. Erzählungen, so bringt es eine Anthologie zeitgenössischer Geschichten auf den Punkt, beschreiben das, was d a z w i s c h e n k o m m t . W e n n nichts

dazwischengekommen

wäre, hätte H o m e r nie v o n Odysseus' Reise zu erzählen gehabt. J e d e m k o m m t aber i m m e r irgend e t w a s d a z w i s c h e n , ein verspäteter Z u g , ein U n f a l l a u f der A u t o b a h n , ein schlechtgelaunter Taxifahrer, ein M a n n , der aus d e m

Fenster

springt.18

Entsprechend taucht der Kontingenzbegriff im literaturwissenschaftlichen Diskurs vornehmlich als erzählter Zufall auf. Narratologisch gesprochen: Kontingenz ist eine Angelegenheit der histoire. Und da diese histoire dadurch definiert ist, daß sie die erzählten Ereignisse in einen kausal bzw. teleologisch motivierten Handlungszusammenhang stellt, hat die Forschung zu Recht immer wieder betont, daß es >echte< Zufälle in der Literatur nicht geben kann. Schon Ernst Nefhat beispielsweise daraufhingewiesen, daß »Zufälligkeit [...] jeweils nur innerhalb einer geltenden Ordnung« zutagetrete, »das heißt, jeder Zufall ist nur in bezug auf ein bestimmtes Ordnungsprinzip zufällig«.19

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Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn, Richard Samuel, Hans-Joachim M ä h l u. Gerhard Schulz, Stuttgart 19 6 ο ff., Bd. II, S. 179. Bd. I u. II zitiere ich nach der 3., Bd. III u. I V nach der 2. Auflage. Christoph Menke-Eggers, »>Deconstruction and Criticism< - Zweideutigkeiten eines Programms«, in: Literaturkritik — Anspruch und Wirklichkeit, hrsg. v. Wilfried Barner, Stuttgart 1990, S. 351—366, hier S. 354. Vgl. vor allem Ernst Nef, Der Z u f a l l in der Erzählkunst, Bern 1970; Klaus-Detlef Müller, »Der Z u f a l l im Roman. Anmerkungen zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz«, in: G R M 59 (1978), S. 2 6 5 - 2 9 0 ; Werner Frick, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen R o m a n des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988; Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische R o m a n (1670—1770), Tübingen 1994; sowie Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2 0 0 2 , S. 139—222. Verena A u f f e r m a n n , Vorwort — Spione der Gegenwart, in: Beste Deutsche Erzähler 2 0 0 1 , hrsg. v. Verena A u f f e r m a n n , Stuttgart u. München 2 0 0 1 , S. 9. Nef, Der Z u f a l l in der Erzählkunst, S. 5.

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Auch die vorliegende Arbeit geht »allen Spontaneitätsfanatikern und Zufallsadepten zum Trotz«20 vom Primat ästhetischer Ordnung aus. Im Unterschied allerdings zur bestehenden Forschungsliteratur verorte ich die Relation zwischen Kontingenz und Ordnung nicht nur innerhalb der histoire, sondern beziehe sie auch auf den discours, den narrativen Text. Uber die unspezifische Aussage des Poststrukturalismus hinaus, daß jeder Text Effekte semiologischer Kontingenz erzeugt und daß jeder Ordnung immer auch die eigene Subversion unterläuft, vertrete ich die These, daß diese Subversion — erstens — aufgrund bestimmter Ordnungssetzungen um 1800 je spezifische Formen annimmt und daß - zweitens — ontologische und semiologische Kontingenz vom discours regelrecht in Szene gesetzt werden können. Ausgehend von Derridas Hinweis, daß »die Dissemination [...] eine bestimmte Theorie [...] der Digression vorschlagen« würde,21 lautet mein Operationalisierungsvorschlag, daß eines der entscheidenden narrativen Verfahren dieser Inszenierung die Digression ist. Gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs an Erzähltexte, eine chronologisch geordnete Geschichte konstruieren zu können, in deren Dienst sich der Text zu stellen hat, erscheinen diejenigen Erzähldiskurse bzw. diejenigen Passagen im Erzähldiskurs als kontingent, die sich immer wieder digressiv vom Handlungsgang entfernen. In der Rhetorik wird die dispositio solcher Texte, die nicht einfach eine lineare Geschichte von Anfang bis Ende erzählen, sondern immer wieder abschweifen, als ordo artificialis bezeichnet. Und wie schon der Begriff des ordo deutlich macht, handelt es sich natürlich auch bei der vermeintlichen Kontingenz des discours um keine >echte< Kontingenz, sondern im Gegenteil um ein rhetorisches Ord«ttwgfprinzip, das den formalen Zusammenhang des Textes bestimmt. Auch hier erweist sich also die Relationalität des Kontingenzbegriffs in bezug auf den Begriff der Ordnung als Asymmetrie·. Es gibt keine Kontingenz im Bereich des Ästhetischen ohne immer schon vorausgesetzte Ordnung. Vor allem dann, wenn Texte besonders chaotisch und semiologisch kontigent sein wollen, müssen sie einen hohen rhetorischen (Ordnungs-)Aufwand betreiben. Wie man semiologische Kontingenz an digressive Erzählverfahren koppeln kann, so sind auch die Ordnungsbegriffe arche und telos narratologisch operationalisierbar. Innerhalb der histoire etwa werden die Romanfiguren immer wieder von einem problematischen Ursprungsbegehren angetrieben, mit Roland Barthes gesprochen: die Geschichten gehen »auf Odipus zurück«.22 Die damit verbundene narzißtische Logik ist gerade für das telos der Romane, die stets

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Dietrich Mathy, »Die Notwendigkeit des Zufälligen. Z u r Integration des Z u f a l l s in die Sphäre des Ästhetischen«, in: Spielzüge des Zufalls. Z u r Anatomie eines Symptoms, hrsg. v. Carola Hilmes u. Dietrich Mathy, Bielefeld 1994, S. 2 1 - 3 8 , hier S. 21. Jacques Derrida, Buch-Außerhalb. Vorreden/Vorworte, in: Ders., Dissemination, S. 9 - 6 8 , hier S. 35. Roland Barthes, Die Lust am Text, 7. Aufl., Frankfurt am M a i n 1992, S. 70.

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auch Initiationsgeschichten erzählen, von zentraler Bedeutung. Was mich aber auch hier vor allem interessiert, ist der discours. Inwiefern zum Beispiel durchkreuzt die semiologische Kontingenz das (vermeintlich) versöhnliche Ende einer Geschichte? Was hat es zu bedeuten, wenn es wie im Agathon verschiedene Textfassungen des Endes oder wie im Godwi noch eine Fragmentarische Fortsetzung gibt? Gerade weil die Teleologie als Ordnungsform für Erzähltexte so wirkungsmächtig ist, läßt sich die Frage nach der Kontingenz am Ende des discours besonders profilieren. Von im wahrsten Sinn des Wortes grundsätzlicher Bedeutung ist darüber hinaus die Frage nach der Relation zwischen Kontingenz und Ordnung in bezug auf die arche. Narratologisch nämlich richtet sich diese Frage auf den >Ort< des Erzählens und damit den Akt selbst, »der eine Erzählung hervorbringt«.23 Da dieser Akt nichts anderes als eine Setzung ist, die durch ironische Erzählerkommentare und rahmende Erzählverfahren reflektiert werden kann, sind Erzähltexte geradezu prädestiniert, nicht nur semiologische, sondern auch die immer schon vorausgesetzte ontologische Kontingenz jeder Ordnungssetzung zu inszenieren. Die zentrale Figur, die bei der Inszenierung narrativer Kontingenz immer wieder auftaucht, ist die der Unterbrechung. Was darunter rhetorisch zu verstehen ist, liegt im Fall der Digression auf der Hand: Die Abschweifung zeichnet sich dadurch aus, daß sie die argumentatio oder narratio, um die es >eigentlich< geht, unterbricht. Und so wenig der erzählte Zufall bei genauerem Hinsehen aus kausal und/oder teleologisch motivierten Zusammenhängen herausfallen mag — als singuläres Ereignis, etwa in Gestalt eines Unfalls oder sonstigen Schicksalsschlags, unterbricht der erzählte Zufall zumindest vordergründig ein kausal bestimmbares, also vorhersehbares Handlungskontinuum. Darüber hinaus aber läßt sich auch die Relation zwischen Ordnung und ontologischer bzw. semiologischer Kontingenz als Bewegung der Unterbrechung denken: Wie jede Selbstreflexion eine Spaltung und damit eine Unterbrechung zwischen Reflektierendem und Reflektiertem generiert, stellt auch das selbstreflexive Wissen einer Ordnung um ihr prinzipielles Auch-anders-sein-Können, d.h. ihre ontologische Kontingenz, eine Unterbrechung der in der Ordnung aufgehobenen Praxis dar, und der vermeintlich identitätsstiftende Akt der Selbstreflexion mündet in das Bewußtsein von Alterität und Relativität. Neben dieser erkenntnistheoretischen Bedeutung besteht die semiologische Dimension der Unterbrechung darin, daß es weder eine ursprüngliche noch teleologisch zu garantierende notwendige Beziehung oder gar Identität zwischen Signifikant und Signifikat gibt. Die Beziehungen zwischen den Zeichen und ihren Bedeutungen, die in der metaphysischen Tradition — und damit auch in den Texten um 1800 — als harmonisch und stabil gedacht (oder imaginiert)

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Z u r narratologischen Kategorie des >Ortes< vgl. Marias Martinez u. Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 75.

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werden, sind trotz allen Ordnungsbegehrens durch unendliche Störungen gekennzeichnet. Um zu einer (möglichen) Bedeutung zu gelangen, muß man den labyrinthischen Umweg über das kulturelle Gedächtnis nehmen, und ob man dabei ankommt, wo man hinwill, ist alles andere als gewiß. Die historische Eingrenzung des Themas und das Kriterium für die Auswahl der Texte sind in diesen systematischen Vorüberlegungen bereits angelegt. Die narrative Vorführung \on ontologischer und semiologischer Kontingenz sehe ich im Zusammenhang einer um 1800 entstehenden Moderne, die dem ontologischen »Ordnungsschwund«24 die Selbstreflexion artifizieller Ordnungen entgegensetzt.25 Gerade im Hinblick auf die vielfach herausgestellte Ambiguität moderner Ordnungsentwürfe bietet sich die Relation zwischen Kontingenz und Ordnung als diskursanalytische Leitdifferenz an. In bezug auf literarische Verfahren interessieren mich dabei insbesondere diejenigen Texte, die bei aller Teleologie mit digressiven Erzählverfahren oder allgemeiner gesprochen: mit Unterbrechungen der histoire experimentieren26 und die vorgenommenen Ordnungssetzungen zugleich immer wieder in Anführungszeichen setzen. Mit der Etablierung eines »selbstbewußten Erzähler[s], der Reflexionen über sich, sein Erzählen und seine Geschichte anstellt und sich in einem steten Gespräch mit seinen Lesern befindet«,27 geht um 1800 zum Beispiel eine Veränderung im Umgang mit erzählten Zufällen einher, in deren Gefolge die teleologische Ordnung der histoire, im Barock noch Spiegel der göttlichen Weltordnung selber, als kontingente Setzung erscheint. Von dieser ontologischen Kontingenz wird konsequenterweise nicht nur das Ende der Geschichte, sondern auch der Ursprung der Setzung, das sub-iectum des Erzählens, erfaßt: Vom Agathon über den Siebenkäs bis zum Godwi ist das Erzählen dadurch gekennzeichnet, daß es mit dem archimedischen Punkt der Erzählinstanz(en) sein dekonstruktives Spiel treibt und jede setzende Instanz als ihrerseits gesetzte entlarvt. Zusammenfassend könnte man sagen, daß sich im narrativen Spiel mit dem Zufall um 1800 ein für die Moderne konstitutives Kontingenzbewußtsein artikuliert. Da jedoch, wie zu sehen sein wird, auch der vermeintliche >Ursprungsort< dieses Bewußtseins, narratologisch gesprochen: die sogenannte «rtradiegetische Erzählinstanz, lediglich als

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Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1996, S. i5off. Vgl. die Vorbemerkung von Maria Moog-Grünewald, in: Kontingenz und Ordo, hrsg. v. Bernhard Greiner u. Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2000, S. VII—XIII. Die beiden literaturwissenschaftlich beliebtesten Beispiele für solche Diskurse der Unterbrechung im 18. Jahrhundert sind Laurence Sternes Tristram Shandy und der vom achten Buch des Tristram Shandy inspirierte Roman Jacques le fataiiste von Denis Diderot, der davon handelt, daß die Handlung der eigentlich angekündigten Geschichte immer wieder unterbrochen wird. Vgl. Rainer Warning, »Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques le fataiiste«, in: Nachahmung und Illusion, hrsg. v. Hans Robert Jauß, 2., durchges. Aufl., München 1983, S. 96-112. Zu Sterne vgl. Kap. III.4. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 86. 8

eine Figur innerhalb dieses Spiels vorgeführt wird, ist noch die Rede vom Kontingenzbewußtsein eben jener Metaphysik der Präsenz verhaftet, deren teleologische und ursprungslogische Ordnung in den Erzähldiskursen um 1800 auf dem (narrativen) Spiel steht.

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II. Systematik: Kontingenz und Ordnung

Kein Kunstwerk verdient seinen Namen, welches das seinem eigenen Gesetz gegenüber Zufällige von sich weghielte. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie

i.

Einleitung

Der Begriff der Kontingenz ist diskursgeschichtlich stets relational bestimmt worden.1 Modallogisch wird Kontingenz seit Aristoteles in Abgrenzung zu Notwendigkeit und Unmöglichkeit definiert: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist«.2 Genauer gesagt, bezeichnet Kontingenz die prinzipielle, zweiseitige Möglichkeit, daß etwas sowohl sein als auch nicht sein kann. Der Zufall, häufig synonym zu Kontingenz gebraucht, meint die faktische, keiner Notwendigkeit geschuldete Realisierung der Möglichkeit, daß etwas ist: »grundlos fixierte Kontingenz«3 im Sinnes eines Ereignisses, das genausogut auch nicht oder anders sein könnte. Die Rede vom Zufall setzt, so gesehen, die zweiseitige Möglichkeit der Kontingenz voraus.4 Innerhalb der an Gründen und notwendigen Zusammenhängen interessierten metaphysischen Tradition ist der Zufall entweder eine bloß akzidentielle Größe und damit vernachlässigbar, oder aber er wird als Provokation der eigenen Ordnungsbemühungen aufgefaßt, auf die mit entsprechenden Integrationsmaßnahmen reagiert werden muß. Aristoteles domestiziert den Zufall zum Beispiel dadurch, daß er ihn so denkt, als ob er zweckmäßig wäre, d.h.

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Vgl. den Artikel »Kontingenz«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Darmstadt 1976, Bd. 4, Sp. 1027—1038. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S. 152. — Den systematischen Ort des Kontingenzbegriffs bei Luhmann bringt folgende Passage lapidar auf den Punkt: «Komplexität [...] heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko« (ebd., S. 47). Rüdiger Bubner, »Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik«, in: Kontingenz, hrsg. v. Gerhart von Graevenitz u. Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, München 1998, S. 3-21, hier S. 7. Vgl. Franz Josef Wetz, »Die Begriffe >Zufall< und >KontingenzSignifikant des Signifikantem [...] im Gegenteil die Bewegung der Sprache — in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbring u n g selbst hinwegrafft und auslöscht. Das Signifikat fungiert darin seit je als Signifikant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang an, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme [...]. Die H e r a u f k u n f t der Schrift ist die H e r a u f k u n f t des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten. 53

Das klingt dramatisch. Und wie bei jedem anständigen Drama funktioniert das Szenario nur dadurch, daß es einen mächtigen Gegner gibt: die Metaphysik der Präsenz, die für Derrida vor allem mit den Ordnungskonzepten der Archie und Teleologie einhergeht. Diese sind einerseits so mächtig, daß jede noch so kritische Äußerung von ihnen infiltriert ist: [...] [E]s ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn m a n die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache - über keine Syntax und keine Lexik - , die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte. 54

Andererseits ist es die Sprache selbst, die das metaphysische Gewebe der Notwendigkeit permanent unterläuft, weil es kein Signifikat gibt, das nicht zugleich ein weiterverweisender Signifikant bzw. — mit Peirce gesprochen - Interpretant wäre. Weil die Dekonstruktion auf genau solche ambigen Verschränkungsfiguren abhebt und davon ausgeht, daß die Archie gar nicht von der Anarchie der Schrift zu trennen ist (und umgekehrt), ist die Dekonstruktion für die Frage nach dem Verhältnis von Kontingenz und Ordnung nach wie vor der attraktivste Theoriekandidat. Allerdings — und das macht gerade das Zitat von der »Heraufkunft des Spiels« deutlich — neigt Derrida immer wieder dazu, die Seite der Kontingenz und Anarchie polemisch überzubetonen. Das Problem dabei 53 54

Derrida, Grammatologie, S. 17Γ. Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 425.

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besteht darin, daß Derrida in mehrfacher Hinsicht — aus dramaturgischen Gründen - das Kind mit dem Bade auszuschütten droht. Denn erstens ist Derrida zwar beizupflichten, wenn er über die arbiträre Relation zwischen Signifikant und Signifikat hinaus die Kontingenz der Sprache vor allem darin sieht, daß Signifikanten immer wieder nur auf Signifikanten verweisen und damit ein sinnerzeugendes und zugeich sinn zerstreuendes Beziehungsspiel generieren. Die Frage ist aber, ob diese semiologische Kontingenz als Bedingung der Möglichkeit jeder Sprachverwendung und Diskursform verstanden werden kann. Christoph Menke-Eggers hat etwa darauf hingewiesen, daß die Ordnung kommunikativer Sprachverwendungen und alltäglicher Sprachspiele keineswegs mit Notwendigkeit durch die semiologische Kontingenz der Sprache unterlaufen wird oder nur durch den gewaltsamen Ausschluß anderer Bedeutungsmöglichkeiten aufrechterhalten werden kann. Kurz gesagt: Im pragmatisch begrenzten Kontext und Ordnungsrahmen alltäglicher Kommunikation spielen sich die Dramen semiologischer Kontingenz schlicht nicht ab, wie sie Derrida vor Augen hat.55 Gesteht man andererseits zu, daß Derrida zu dem »im Begriff der differance zusammengefaßte[n] dekonstruktive[n] Befund von der selbstsubversiven Logik allen Sinns« 56 vor allem am Beispiel literarischer Diskurse gelangt, kann man daraus zweitens den Vorwurf ableiten, daß Derrida die Literatur für Erkenntniszwecke instrumentalisiert. 57 Denn Derridas Lektüren bleiben bei aller Aufmerksamkeit für subtilste Spielzüge und Überraschungsmomente sprachlicher Strukturen genuin philosophische Lektüren, denen es gerade am Gegenstand literarischer Texte um das Immergleiche geht: den erkenntniskritischen Nachweis der differance als Bedingung der Möglichkeit (und Unmöglichkeit) von Wahrheit und Bedeutung überhaupt. Aus diesem philosophischen, »ultra-transzendentalen« 58 Anspruch folgt drittens die Gefahr, daß Derrida bei aller berechtigten Betonung der Unzuverlässigkeit und Offenheit von Zeichen bzw. Zeichensystemen zum einen vor allem die literarischen Diskurse — von Mallarme bis Celan — favorisiert, die den anvisierten dekonstruktiven Befund auf besonders reflektierte Weise veranschaulichen, und daß Derrida zum anderen die je spezifische Ordnung und Kontingenz literarischer Diskurse mit der Perspektive auf den kontingenten Status der Sprache im allgemeinen überblendet. Auch wenn man etwa mit Wellbery das vom Poststrukturalismus akzentuierte »Element der Willkür, das aller Bedeutung innewohnt, zu einem konstitutiven Prinzip«59 der Literatur erklärt, bleibt das noch zu allgemein. Will man die

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Vgl. Menke-Eggers, »>Deconstruction and Criticism««, S. 353. Menke-Eggers, »>Deconstruction and Criticism»Deconstruction and Criticism««, S. 354. Wellbery, »Die Äußerlichkeit der Schrift«, S. 347.

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poststrukturalistische Kontingenz-These literaturwissenschaftlich operationalisieren, ist dies nur möglich, wenn man eine bestimmte, auf die jeweilige Ordnung des vorliegenden Textes bezogene Sinn- und Ordnungssubversion oder eine >kalkulierte< Inszenierung eben dieses konstitutiven Merkmals von Literarizität nachweisen kann. Winfried Menninghaus hat hierfür den paradoxalen Begriff einer »vorsätzliche[n] Dissemination« vorgeschlagen.60 Derrida selbst scheint zwar etwas Ahnliches in seiner Mallarme-Lektüre61 im Auge zu haben, wenn er das Spiel mit dem Signifikanten »OR« akribisch beschreibt, das einerseits durch »regelgenau kalkuliert«62 wirkende Wiederholungsfiguren, also eine strenge formale Ordnung, gekennzeichnet ist und andererseits mit permanenten semantischen Verschiebungen und disseminalen drifts einhergeht. Letztlich aber bleibt auch diese Lektüre »exemplarisch«6j und interessiert sich eben nicht literaturwissenschaftlich für die spezifischen Inszenierungsweisen ontologischer und semiologischer Kontingenz.64 Um die narrative Inszenierung von Kontingenz überhaupt beschreiben zu können, möchte ich das Feld der Literaturtheorie und Semiologie verlassen und mich im folgenden der Narratologie bzw. Rhetorik zuwenden, die das nötige Beschreibungsvokabular zur Verfügung stellen. Derridas Vorbehalt gegenüber diesem Vokabular — »Wie nur sollen die Kategorien der klassischen Rhetorik mit diesen Verschiebungen klarkommen?« —65 halte ich dabei für absolut berechtigt. An Derridas Lektüren kann man aber auch erkennen, daß es das ganz andere Vokabular, das die Sprache des absoluten Zufalls spräche, nicht geben kann.

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Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, F r a n k f u r t am Main 1995, S. \-ji. Auch Eco verweist im Zusammenhang des offenen Kunstwerks auf Mallarme, läßt sich aber bezeichnenderweise auf keine akribische Lektüre ein: »Noch weiter geht Mallarme: [...] der leere Raum um das Wort herum, das Spiel mit der Typographie, die räumliche Komposition des Textes tragen dazu bei, dem Wort eine Aura des Unbestimmten zu verleihen und es auf tausend verschiedene Dinge hindeuten zu lassen« (Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 6. Aufl., Frankfurt am M a i n 1993, S. 37). Derrida, Die zweifache Seance, S. 312. Derrida, Die zweifache Seance, S. 215. Derridas Argumentation mag dabei zwar eine strikt antihermeneutische Pointe nahelegen. N i m m t man allerdings die dramatische Zuspitzung zurück, beschreibt Derrida in seiner Mallarme-Lektüre lediglich die »Grenze des Thematismus« (Derrida, Die zweifache Seance, S. 296) Das heißt: Derrida spielt nicht einfach Kontingenz gegen Ordnung, die Materialität der Schrift gegen hermeneutische Synthesen aus, sondern führt den Konflikt zweier O r d nungen vor Augen: den Konflikt zwischen der Ordnung formaler Zusammenhänge einerseits und der Ordnung hermeneutisch-thematischer Sinnzusammenhänge andererseits. U n d auch wenn im Z u g e dieses Konfliktes unüberbrückbare Sinnlücken entstehen, ist die damit verbundene hermeneutische K r ä n k u n g doch gerade nicht mit der völligen Verabschiedung hermeneutischer Konstruktionen gleichzusetzen. Z u dieser Lesart vgl. Sonderegger, Ästhetik des Spiels, S. 85fr., i 8 3 f f „ 285ff. Derrida, Die zweifache Seance, S. 297. 2-3



Narratologie des Zufalls

Schon wenn man von einer Narratologie des Zufalls spricht, setzt man damit automatisch den Akzent auf die Ordnung von Erzähldiskursen. Das liegt daran, daß die Narratologie eines der ureigenen Felder strukturalistischer Funktionalisierungen und Taxonomien ist. Da aber nach Wellbery genau dieser Funktionalisierungseifer durch den poststrukturalistischen Kontingenzbegriff in Frage gestellt wird und umgekehrt der von der Narratologie vorausgesetzte chronologische Zeitbegriff »nichts anderes als die Auslöschung«66 eines emphatisch verstandenen Zufalls im Sinne einer achronischen Singularität bedeutet, kommt die Rede von der Narratologie des Zufalls gewissermaßen einer contradictio in adiecto gleich. Anders gesagt: Da die strukturalistische Narratologie davon ausgeht, daß in einer Erzählung schlechterdings »alles funktionell« 67 ist, kann eine so verstandene Narratologie per se kein Sensorium für die erwähnten Lücken im Gewebe der Notwendigkeit haben und die Durchkreuzung der Funktionalität, von der Wellbery spricht, nicht einmal denken. Wenn im folgenden dennoch der Versuch unternomen wird, eine vorläufige narratologische Systematik des Zufalls zu entwerfen, hat dies mehrere Gründe: Erstens ist das linear-chronologische Zeitmodell keine Erfindung der strukturalistischen Theorie, sondern findet sich als Zeitvorstellung, die das gesamte abendländische Denken bestimmt, eben auch in den Erzähltexten selbst wieder; entsprechend wimmeln die Erzählungen dieser Tradition zweitens nur so von erzählten Zufällen, die dieses Modell gerade nicht aufbrechen, sondern überhaupt erst erfüllen; und wo drittens tatsächlich der Zufall als das ganz Andere der chronologischen Ordnung auftauchen mag, ist auch dieses Andere nur vor dem Hintergrund dieser Ordnung zu erkennen. 68 Vor allem aber trifft Wellberys Kritik der Narratologie viertens allenfalls auf der narratologischen Ebene der histoire zu; was Kontingenz auf der Ebene des discours bedeuten könnte, wird nicht nur von Wellbery, sondern auch von der Narratologie vernachlässigt, die den Primat grundsätzlich auf die histoire legt

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Wellbery, »Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs«, S. 167. Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 109. »In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert: sollte ein Detail unweigerlich bedeutungslos erscheinen und sich hartnäckig gegen jede Funktion sperren, so erhielte es letztendlich dennoch die Bedeutung des Absurden oder des Nutzlosen: entweder ist alles sinnvoll oder nichts« (ebd.). In Ousia und gramme versucht Derrida einen anderen, die Präsenzmetaphysik transzendierenden Zeitbegriff zu entfalten. Da ein solcher Begriff einerseits in der metaphysischen Tradition bereits angelegt ist, sich andererseits aber nur im »System der grundlegenden Oppositionen der Metaphysik« bewegen kann, bleibt als Denkmöglichkeit wieder einmal nur der Rand- und Grenzgang. Die Grenze der chrono-logischen, mathematisierten Zeit liegt für Derrida bezeichnenderweise im »Jetzt« als »Akzidens« und »Zufall der Zeit« (Jacques Derrida, Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in 'Sein und Zeittiefere Notwendigkeit< kausaler und/oder teleologischer Motivierung als bloßer Schein enthüllen. Erzählte Zufälle befinden sich — analog zu den eingangs genannten Fällen der Koinzidenz zweier Kausalketten — nicht nur inmitten einer kausal bestimmbaren Welt, sondern stellen — im Unterschied zu >echten< Zufällen - in der Regel auch Ereignisse in der erzählten Welt dar, die im Sinne von Roland 69

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Zur Unterscheidung histoire — discours vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 2off. Karlheinz Stierle geht von der umgekehrten Reihenfolge aus: Der Erzähldiskurs ist die sprachliche Repräsentation der Geschichte. Doch damit nicht genug: Vor der Geschichte und dem Text der Geschichte gibt es bei Stierle auch noch das sogenannte Geschehen, das seinerseits die Geschichte fundieren soll. Vgl. Karlheinz Stierle, »Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte«, in: Geschichte — Ereignis und Erzählung, hrsg. v. Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 530—534. 2-5

Barthes' »Kardinalfunktionen« für den kausalen Zusammenhang der Geschichte geradezu notwendig sind.71 Darüber hinaus erweisen sich Zufälle innerhalb einer teleologisch geordneten Erzählwelt ohnehin nur als Fügungen göttlicher bzw. auktorialer Allmacht, die als schicksalssemantische Topoi alles andere als ordnungssubversiv sind. Mehr noch: Erzählte Zufälle sind dadurch, daß sie zum Erreichen des Telos beitragen, geradezu ordnungskonstitutiv. Wie diese teleologische »Bestechung« erzählter Zufälle funktioniert, 72 werde ich im folgenden vor allem an Wielands Agathon und Jean Pauls Siebenkäs zeigen. Erst in Brentanos Godwi tauchen auf der Ebene der histoire Motive auf,73 die in ihrer >kalkulierten< Singularität und Diskontinuität keiner teleologischen Ordnung mehr folgen. Da erzählte Zufälle als kausal bzw. teleologisch in den Handlungszusammenhang der histoire integrierte Ereignisse sogenannte verknüpfte Motive darstellen, sind sie per se alles andere als kontingent im Sinne ordnungssubversiver Singularität. Zudem sind aus narratologischer Sicht auch die sogenannten freien Motive nicht schon deshalb kontingent, weil sie im Unterschied zu den verknüpften Motiven keine unmittelbar kausale oder teleologische Handlungsfunktion aufweisen. 74 Neben der kausalen und teleologischen Motivierung gibt es nämlich noch die Möglichkeit, daß ein Motiv entweder metaphorisch oder metonymisch mit der Handlung verbunden ist (und dadurch hermeneutisch doch wieder vom freien zum verknüpften Motiv wird): Ersteres ist zum Beispiel beim Schaukel-Motiv in Efß Briest der Fall, das symbolisch auf die Riskanz der Liebesaffäre verweist; letzteres gilt etwa für das berühmte Cechov-Beispiel vom Nagel in der Wand, an dem sich der Held am Ende der Geschichte aufhängt. 75

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»Funktionen« sind einzelne Handlungen oder Ereignisse, die in Korrelation zu anderen Handlungen oder Ereignissen stehen. Barthes unterscheidet zwischen Kardinalfunktionen und Katalysen: Letztere füllen lediglich den narrativen Raum zwischen den Kardinalfunktionen und haben eine bloß konsekutive Funktion, während erstere regelrechte Scharniere der Geschichte darstellen und dem post hoc den Anschein des propter hoc verleihen. Vgl. Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. ii2ff. Zum Begriff des bestochenen Zufalls vgl. Max Kommerell, Jean Paul, 3. unveränd. Aufl., Frankfurt am Main 1957, S. 123-135. Siehe auch Kap. V.2.2. Der Begriff des Motivs bezeichnet — ähnlich wie der Begriff der Funktion — »die kleinste, elementare Einheit der Handlung« (Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 108). Grundsätzlich kann man zwischen dynamischen (Geschehnissen und Handlungen) sowie statischen Motiven (Zuständen und Eigenschaften) unterscheiden. Verknüpfte dynamische oder statische Motive sind dadurch definiert, daß sie »unmittelbar handlungsfunktional sind, indem sie zum Fortgang der Handlung beitragen« (ebd., S. 114). Frei ist ein Motiv im Unterschied zum verknüpften dann, wenn es nicht »für den Fortgang der Haupthandlung unmittelbar kausal notwendig« ist (Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 109). Vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. u^f. - Daß solche Motivierungen auch im schlichtesten Hollywoodfilm zu finden sind, zeigt sich etwa am Weißen Hai II: Analog zu Öechovs Nagel wird mit dem Stromkabel, das zu Beginn des Film zufällig vom Meeresboden gehievt wird, am Ende des Films der Hai erledigt.

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Martinez und Scheffel schlagen für diese tropologische Integration (vermeintlich) freier Motive den Begriff der kompositorischen Motivierung vor, der einerseits zwar als Oberbegriff auch die kausale und finale Motivierung umfaßt, der andererseits aber gerade angesichts scheinbar freier Motive den Akzent darauf legen soll, daß innerhalb der histoire stets mit der »Ökonomie und Zweckmäßigkeit der Motive«76 zu rechnen ist. Dieser strukturalistische Funktionalisierungseifer führt so weit, daß selbst diejenigen Motive, die weder für den kausalen oder teleologischen noch den tropologischen Motivationszusammenhang notwendig sind, sondern etwa als »Katalysen« lediglich den narrativen Raum zwischen den Kardinalfunktionen füllen, immer noch funktional beschreibbar sein müssen: »Da das Notierte immer notierenswert erscheint, weckt die Katalyse ständig die semantische Spannung des Diskurses, sagt ständig: es gab, es wird Sinn geben«.77 Ahnliches gilt für die scheinbar überflüssigen Details der erzählten Welt, die keiner Motivierung unterworfen sind: Sie können gerade in ihrer Funktionslosigkeit dadurch eine wichtige Funktion erfüllen, daß sie das erzeugen, was Barthes einen l'effet de reel nennt, das heißt: sie simulieren die >sinnlose< Kontingenz des Realen und Faktischen 78 (2) Die Ordnung eines Erzähltextes als eines formal geregelten Zusammenhangs meint den discours der Erzählung. In der Rhetorik und Erzählforschung ist der Begriff der Ordnung für die Reihenfolge bzw. An-Ordnung des Erzählten im Textverlauf reserviert: Wird die Geschichte ab ovo und chronologisch erzählt, liegt das vor, was die Rhetorik ordo naturalis nennt; wird anachronisch mit Analepsen und Prolepsen erzählt, spricht man vom ordo artificialis. Darüber hinaus kann die gesamte Einrichtung des Textes, also etwa sein Erzähltempo oder das Spiel mit Distanz, Fokalisierung und Ort des Erzählens — einschließlich räumlicher Textstrukturen wie Symmetrien und Parallelismen —79 als spezifische »Ordnungsarbeit«80 des discours angesehen werden. Diese Ordnungsarbeit kann auch auf der Ebene des discours genau darin bestehen, daß Kontingenz inszeniert wird. Im Unterschied allerdings zum

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Boris Tomasevskij, Theorie der Literatur. Poetik, hrsg. v. Klaus-Dieter Seemann, Wiebaden 1985, S. 227f. (zit. n. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 114). Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 114. Vgl. Roland Barthes, L'effet de iccl, in: Ders., Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 179—187. - Da das Phänomen des Detailrealismus als Kennzeichen realistischer Erzähldiskurse im 19. Jahrhundert den historischen Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, kann ich auf diese Art der Kontingenzsimulation innerhalb der histoire nicht näher eingehen. Tzvetan Todorov spricht hierbei (neben der logisch-kausalen und zeitlichen Ordnung) von einer räumlichen Ordnung des Textes: Tzvetan Todorov, Poetik, in: Einführung in den Strukturalismus, hrsg. v. Francois Wahl, Frankfurt am Main 1973, S. 105-179, hier S. 138-141. Waldenfels, »Das Ordentliche und das Außer-ordentliche«, S. 11.

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erzählten Zufall innerhalb einer kausal bzw. teleologisch organisierten histoire kann die Kontingenzsimulation des Erzähldiskurses selbstreflexiv auf die ontologische und semiologische Kontingenz der eigenen Ordnungssetzungen verweisen und damit die eigene Ordnungsarbeit in den Dienst der Subversion von Harmonie, Teleologie und Archie stellen. Anders gesagt: Es gibt Texte, die das durch ontologische und semiologische Kontingenz ermöglichte Spiel der Zeichen mit Hilfe bestimmter Textverfahren sozusagen w/ispielen. Dieses Spiel der Texte folgt einerseits - wie jedes Spiel - bestimmten beschreibbaren Regeln, gehorcht mit seinen Inszenierungen also einem poetologischen Kalkül. Andererseits schließt das Kalkül keineswegs aus, daß bei den geordneten und zugleich ordnungssubversiven Randgängen dieses Spiels nicht auch unkalkulierbare Lücken im Gewebe der Notwendigkeit entstehen. Daß das Erzählen spätestens seit der historischen Etablierung des Autors als Textfunktion die präsenzmetaphysische Frage nach der arche provoziert, liegt auf der Hand: In Analogie zum Schöpfergott gilt der Erzähler als Ursprung der erzählten Welt. Narratologisch richtet sich diese Frage nach dem Ursprung auf den >Ort< des Erzählens und damit den Akt selbst, »der eine Erzählung hervorbringt«.81 Dadurch, daß Erzähltexte auf ihre eigene Vermitteltheit bzw. narrative Rahmung reflektieren und den Akt des Erzählens als Akt erkennbar machen, führen sie die ontologische Kontingenz ihrer eigenen Ordnungssetzungen vor. Subversiv für die Ordnung der Archie ist diese Selbstreflexion dort, wo durch mehrfache Rahmung oder etwa das Spiel mit Paratexten die Antwort auf die Frage nach dem Ersten und Ursprünglichen potentiell unendlich aufgeschoben wird. Das zentrale narrative Verfahren, das die semiologische Kontingenz der Sprache auf der Ebene des discours vor Augen führt, ist die Digression, wie sie für den ordo artificialis kennzeichnend ist. Schon bei Quintilian wird das digressiv-artifizielle Erzählen bezeichnenderweise mit dem Index der Kontingenz versehen:82 Auch ist es gewiß kein Irrtum zu glauben, die Natur selbst beruhe auf einer Ordnung, durch deren Verwirrung alles zugrunde gehen werde. So muß auch die Rede, der dieser Vorzug fehlt, unvermeidlich ins Gedränge kommen, ohne Lenkung dahinströmen und ohne inneren Zusammenhang vieles wiederholen, vieles übergehen, als irrte sie bei Nacht in unbekanntem Gelände, und ohne daß ihr ein A n f a n g und ein Ziel gesetzt ist, eher dem Zufall folgen als einem Plan. 8 '

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Martinez/Scheffel, E i n f ü h r u n g in die Erzähltheorie, S. 75. Roland Barthes hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß »paradoxerweise [...] naturalis·, kulturell und artificialis: spontan, kontingent, natürlich« bedeutet (Roland Barthes, Die alte Rhetorik, in: Ders., Das semiologische Abenteuer, 3. Aufl., Frankfurt am M a i n 1994, S. 1 5 - 1 0 1 , hier S. 83). Marcus Fabius Quintiiianus, Ausbildung des Redners. Zweiter Teil Buch V I I - X I I , hrsg. u. übers, v. Helmut Rahn, 3., gegenüber der 2. unveränd. Aufl, Darmstadt 1995, Buch V I I , S.3.

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Daß auch dieses vermeintlich kontingente Erzählen nur als inszeniertes möglich ist, macht schon der Begriff des ordo artificialis deutlich: Auch wenn Quintilian eine Rede, deren dispositio nicht dem ordo naturalis folgt, unvermeidlich in die Planlosigkeit und Zufälligkeit geraten sieht, ändert diese Einschätzung doch nichts daran, daß erstens auch hierbei eine bestimmte Ordnung, eben eine artifizielle, vorliegt und daß zweitens die Relation zu anderen, weniger willkürlich wirkenden — eben >natürlichen< — Ordnungsmodellen die Abweichung überhaupt erst erkennbar macht. Formal ist der ordo artificialis dem Quintilian-Zitat zufolge zunächst vor allem durch das Fehlen eines >natürlichen< Anfangs und Endes charakterisiert.84 Die künstlich geordnete Rede hat in der Regel einen Einstieg medias in res statt ab ovo oder mit exordium. Das >natürliche< Ende, das in der Rhetorik darin besteht, daß (teleologisch entweder die besten Argumente oder chronologisch die jüngsten Ereignisse an den Schluß der Rede gestellt werden, wird beim ordo artificialis durch eine bewußte Änderung der Reihenfolge umgangen — und zwar dann, wenn dadurch eine abwechslungsreiche, aber zweckmäßige Variation des üblichen Schemas ermöglicht wird oder wenn es die Situation der Rede erforderlich macht.8' Das entscheidende rhetorische Mittel des ordo artificialis ist die digressio·. die Abschweifung. Sie stellt einerseits für die Rhetorik - wie der ordo artificialis insgesamt - eine legitime Möglichkeit der bewußten, sachgemäßen Abweichung dar, etwa dann, wenn sie die Wirkungen des conciliare und permovere erfüllt.86 Andererseits wird die Digression zum rhetorischen Problem, wenn sie nicht, wie es Cicero fordert, »wieder geschickt und elegant zur Sache führ[t]«, um die es eigentlich geht.87 Die Frage ist allerdings bei literarischen Texten

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Welche Bedeutung Anfang und Ende für eine normative, am natürlichen Ordnungsmodell orientierte Poetik haben, verdeutlicht eine Passage aus Aristoteles' Poetik: Gegenstand der Nachahmung, so Aristoteles, ist eine »in sich geschlossene und ganze Handlung, die eine bestimmte Größe hat [...]. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten« (Aristoteles, Poetik, S. 25, Hervorh. S.M.). Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart u. Weimar 1996, S. 133. Vgl. Andreas Härter, Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian - Opitz - Gottsched — Friedrich Schlegel, München 2000, S. i8f. Marcus Tullius Cicero, De oratore, übers, u. hrsg. v. Harald Merklin, 2., durchges. und bibliogr. erg. Aufl., Stuttgart 1991, III, 203, S. 575. Auch Ottmers betont diesen ordnungsgefährdenden Aspekt der Digression, wenn er schreibt, daß der Exkurs »zur vitia werden« kann, »wenn nämlich Einschub auf Einschub folgt und so der Argumentationszusammenhang verlorengeht« (Ottmers, Rhetorik, S. 193).

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außerhalb des pragmatischen Kontextes einer Gerichtsverhandlung, worin diese »Sache«, die über die Notwendigkeit von Redeelementen bestimmen soll, überhaupt besteht. Da für die »Sache« bei Erzähltexten in der Tradition des Strukturalismus wie der Hermeneutik nur die histoire in Frage kommt, erscheinen Digressionen dann als kontingent, wenn sie sich als überflüssig oder gar störend für die Konstruktion einer Geschichte erweisen. Das Gleiche gilt für auffällige Wiederholungsfiguren im engeren Sinne, auf die im Quintilian-Zitat hingewiesen wird, 88 oder für alle wuchernden Formen der accumulatio, zu denen neben der Digression etwa auch Beschreibungspassagen gehören: 89 Vom strukturalistischen und hermeneutischen Primat der histoire her gesehen, gelten diese rhetorischen Phänomene insofern als kontingent, als sie funktional nicht in die Konstruktion einer Geschichte integriert werden können. Im Sinne von Merlau-Ponty handelt es sich also auch hierbei zunächst um Phänomene ontischer Kontingenz, die — als bloße Akzidentien der >eigentlich< erzählten Geschichte — genausogut überlesen werden können, die bei einem weniger auf die Ordnung der histoire fokussierten Blick jedoch durchaus als bedrohliche Lücken im Gewebe der Notwendigkeit bzw. als im wahrsten Sinne bedeutsame semantische Uberschüsse erscheinen. Gerade ein Text wie Jean Pauls Siebenkäs, in dem die Digression als systematische Unterbrechung des Geschichtenerzählens das eigentliche poetische Kapital darstellt, legt es auf solche Lücken und Überschüsse regelrecht an. Zwar bietet der Roman auch eine >ordentlich< motivierte histoire. Man verpaßt aber den gesamten Witz des Textes, wenn man den Blick allein auf die Geschichte lenkt und die unzähligen, wuchernden Abschweifungen als bloße Akzidentien abzutun versucht. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Tropen. Daß Metaphern und Metonymien in Erzähltexten nicht einfach nur als akzidentieller ornatus zu verstehen sind, sondern auch Motivierungs- und damit Ordnungsfunktionen innerhalb der histoire übernehmen können, wurde bereits erwähnt. Und auch im discours können bestimmte Metaphern und metonymische Ketten schon

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Zur Bedeutung der Wiederholung vgl. vor allem Kap. VI.7. - Die Kontingenzsimulation, die insbesondere durch das repetitiv-serieUe Erzählen ermöglicht wird, ist in den hier untersuchten Texten, von Brentanos Godwi abgesehen, kaum ausgeprägt. Wie man aber schon am Godwi sehen kann, ist auch die serielle Ordnung primär eine Angelegenheit des Erzähldiskurses, und nur eine phänomenologische Seite dieses Textprinzips der Reihung und Serialität ist auch auf der Ebene der histoire — in Gestalt ateleologisch aneinandergereihter Einzelereignisse - zu verorten. Vgl. hierzu den historisch weiter ausgreifenden Aufsatz von Rainer Warning, »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2002), S. 176—209. Ottmers nennt drei Formen der accumulatio: die innerthematische, die außerthematische und die eingeschobene Hinzufügung. Zur letzteren Form gehört neben der Parenthese auch die Digression; zur innerthematischen accumulatio rechnet Ottmers unter anderem die (Details aufzählende) descriptio, zur außerthematischen vor allem Vergleich, Exemplum und Sentenz (vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 189—193). 30

allein dadurch Ordnung herstellen, daß sie dem Gewebe des Textes qua Wiederholung eine Art Muster verleihen. Vor allem aber sind es gerade die Tropen, die für die Produktion semiologischer Kontingenz verantwortlich sind. Da diese semiologische Kontingenz die Ordnung der Harmonie, Teleologie und Archie, also auch jede Konstruktion einer eindeutigen histoire, durch seminale Wucherungen durchkreuzt, kann man den Kontingenzeffekt der Tropen auch als digressiven Effekt bezeichnen.90 Digressives Erzählen wäre dann im weiteren Sinne ein Erzählen, das mit Hilfe spezifischer tropologischer Strategien semiologische Kontingenz in Szene setzt: jene »vorsätzliche Dissemination«, von der bereits die Rede war. 9 ' Die beiden Tropenformen, die sich dabei für eine dezidiert narratologische Fragestellung aufdrängen, sind die Metonymie und Allegorie. Bei letzterer hat bereits Paul de Man eine »Neigung [...] zum Narrativen« konstatiert, insofern ihr als fortgesetzter Metapher die Tendenz innewohnt, »sich entlang der Achse einer imaginären Zeit auszubreiten«.91 Bei der Metonymie war es Roman Jakobson, der darauf hingewiesen hat, daß sie aufgrund der von ihr aktualisierten syntagmatischen Kontiguitätsrelationen einen »erzählenden Kontext«93 herstellt. Sowohl bei der Allegorie als auch der Metonymie sind demnach narrative Ordnungseffekte in bezug auf die Konstruktion der histoire im Spiel. Im Falle der Allegorie wird dies besonders an dem Beispiel deutlich, das Quintilian in der Ausbildung des Redners gibt und auf das im SiebenkäsKapitel noch zurückzukommen sein wird: Die Allegorie [...] stellt einen W o r t l a u t dar, der entweder einen anderen oder gar zuweilen den entgegengesetzten Sinn hat. Die erstere A r t erfolgt meist in durchgef ü h r t e n Metaphern, so etwa >Schiff, dich treibt die Flut wieder ins Meer zurück!/ W e h , was tust du nur jetzt! Tapfer dem Hafen zu< und die ganze Stelle bei Horaz,

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° Andreas Härter weist etwa daraufhin, daß nicht nur abschweifende Exkurse, sondern auch Tropen als Abweichungen von der vorgegebenen Ordnung verstanden werden können (vgl. Härter, Digressionen, S. 2zff.). Gerade für die Tropen ist charakteristisch, was für die digressio gilt: »Als digressio läßt die Abweichung nicht ohne weiteres eine Ordnung des Verhältnisses von Ordnung und Abweichung zu; sie bleibt ordnungsfeindlich und undomestiziert. Dabei braucht die digressio keineswegs nur destruktiv zu sein; vielmehr kann sie auf eigene, der gegebenen Ordnung allerdings nicht gehorchende, Weise kreativ wirken; sie kann den Text, dessen Ordnung sie stört, zu Sinnbewegungen veranlassen, die nicht seiner Ordnung entsprechen, ihr möglicherweise widersprechen, aber schließlich als Teil des Textes gefaßt werden müssen« (Härter, Digressionen, S. 51). 91 Derrida selbst kommt, wie erwähnt, zu dem Schluß, daß »die Dissemination [...] eine bestimmte Theorie [...] der Digression vorschlagen« würde (Derrida, Buch-Außerhalb. Vorreden/Vorworte, S. 35). 92 Paul de Man, Die Rhetorik der Zeitlichkeit, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 83—130, hier S. 124. 93 Roman Jakobson, »Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«, in: Theorie der Metapher. Studienausgabe, hrsg. v. Anselm Haverkamp, 2., erw. Aufl., Darmstadt 1996, S. 163—174, hier S. 168.

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an der er Schiff für das Gemeinwesen, Fluten und Stürme für Bürgerkriege, Hafen für Frieden und Eintracht sagt. 9 4

Gemäß ihrer Tendenz zum Narrativen breitet sich die fortgesetzte Metapher innerhalb der erzählten Zeit einer histoire mit Anfang, Mittelteil und anvisiertem Happy End aus. Die Geschichte ist dabei nicht nur kausal motiviert {weil Fluten und Stürme aufkommen, wird das Schiff ins Meer getrieben), sondern sie ist auch noch mit einem programmatischen Telos versehen: Ziel ist es, daß das Schiff eines Tages wieder sicher im Hafen liegt. 95 Interessant ist nun, daß neben diesem (teleologischen) Ordnungsaspekt der Allegorie ebenfalls schon bei Quintilian eine weitere Bestimmung auftaucht, die aufgrund der allegorischen Tendenz zu »sprachlicher Wucherung« 9 6 eine Verbindung zur semiologischen Kontingenz herstellt: »Wie aber maßvoller und passender Gebrauch der Metapher der Rede Glanz und Helle gibt, so macht ihr häufiger Gebrauch sie dunkel und erfüllt uns mit Überdruß, ihr dauernder Gebrauch aber läuft schließlich auf Allegorie und Rätsel hinaus.« 9 7 Diese andere Seite der Allegorie, die ihrem teleologischen Sinn- und Ordnungsbegehren diametral entgegengesetzt ist und mit der Figur der Unterbrechung einhergeht, hat auch Walter Benjamin betont, wenn er allegorische Texte etwa dadurch charakterisiert, daß sie »ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt [...] häufen«. 9 8 Entsprechend hat de M a n in der Nachfolge Benjamins die allegorische Rhetorik der Zeitlichkeit vor allem im Sinne der semiologischen Kontingenz verstanden, da für das allegorische Zeichen gerade sein intertextueller Bezug »auf ein anderes, ihm voraufgehendes Zeichen« 9 9 im unendlichen enzyklopädischen Universum konstitutiv ist. Gleiches gilt für die Metonymie: Neben den Ordnungseffekten, die etwa Jakobson der Metonymie ganz zu Recht zuschreibt, ruft auch die Metonymie Kontingenzeffekte hervor. Innerhalb der poststrukturalistischen Literatur-

94 95

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Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Buch V I I I , S. 237. Gerhard Kurz unterscheidet zwei Formen von literarischen Allegorien: deskriptive und narrative. »Narrative Allegorien sind etwa allegorische Erzählungen und Romane. Sie haben eine betonte Handlungsstruktur. Reise, Pilgerfahrt, Suche sind Muster der narrativen Allegorie.« Die deskriptive Allegorie hingegen beschreibt zum Beispiel »eine Situation, ein[en] R a u m , eine Landschaft«, enthält aber bezeichnenderweise »natürlich auch narrative Elemente« (Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 2., verb. Aufl., Göttingen 1988, S. 50). Für Umberto Eco ist die Allegorie im Unterschied zum Symbol, das als »plötzliche Erscheinung eines Phänomens [...] den Verlauf der vorangegangenen Erzählung stört«, »ein Stück verlängerter Narrativität« (Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 238). Heinz J. Drügh, Anders-Rede. Z u r Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Freiburg i. Br. 2 0 0 0 , S. ri. Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Buch V I I I , S. 223. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/i, Frankfurt am M a i n 1980, S. 2 0 3 - 4 3 0 , hier S. 354. de M a n , Die Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 103.

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theorie gilt die Metonymie — ähnlich dramatisch zugespitzt wie Derridas Spiel der differance — geradezu als Figur der Kontingenz schlechthin. Im Gegensatz zur Metapher nämlich, die als Figur scheinbarer Notwendigkeit abqualifiziert wird, beruht die Metonymie auf zeitlicher Kontiguität und damit auf der bloß »zufälligen Begegnung zweier Entitäten [...], die sehr wohl für sich und in Abwesenheit der jeweils anderen existieren könnten«.100 Nach Werner Hamacher verunsichern diese »Kontiguitäts- und Kontingenzbeziehungen« fortgesetzt »das Feld der Sprache« und dementieren »jede Figur, die Beständigkeit, Notwendigkeit und Unmittelbarkeit der Bedeutung und Anschauung verspricht«.101 Dieses (metaphorische) Versprechen bedient sich zwar, wie de Man an Prousts A la recherche du temps perdu zeigt, gerade der metonymischen >Brücken< im Text, um den Schein der Notwendigkeit erzeugen und eine beständige Sinnordnung suggerieren zu können. Doch die dabei hergestellte »zwingende[ ] Kohärenz«101 bleibt ein metaphorisches Trugbild, das die metonymische Kontingenz der Sprache auf Dauer nicht zu kaschieren vermag. Fraglich ist allerdings, ob die Metapher tatsächlich auf ein solches Versprechen der Notwendigkeit reduziert werden kann. Denn nicht erst auf der textuellen Ebene des Syntagmas bei metonymischen Verknüpfungen und fortgesetzten Metaphern, sondern bereits bei der einzelnen Metapher ist das enzyklopädische Universum unendlicher Interpretanten und damit semiologische Kontingenz wirksam: Jeder Signifikant braucht nur metaphorisch — um mit Gottfried Benn zu sprechen — »die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen« seinem Flug.103 — Wenn das aber so ist, kann man die horizontale Achse metonymischer Beziehungen auf die vertikale Achse paradigmatischer Beziehungen umklappen und hat es bereits bei der einzelnen Metapher mit kontingenten Kontiguitätsrelationen zu tun. Nichts anderes meint auch Umberto Eco, wenn er davon spricht, daß die »metonymische[ ] Beziehung [...] als Grundlage für jede metaphorische Substitution betrachtet werden sollte«.104 Das Zugeständnis an de Man bestünde dieser Lesart zufolge darin, daß die Metapher zwar entgegen seiner Ansicht alles andere als beständig und totalisierend ist, daß ihre Unbeständigkeit aber gerade daher rührt, daß die metonymische Kontingenz bereits für jede einzelne Metapher konstitutiv ist. Für die Kontingenz der Metapher wäre, so gesehen, weiterhin die Metonymie verantwortlich.

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de Man, Allegorien des Lesens, S. 96. Werner Hamacher, Lectio. D e M a n s Imperativ, in: Ders., Entferntes Verstehen, F r a n k f u r t am M a i n 1998, S. 151—194, hier S. 161. de Man, Allegorien des Lesens, S. 96. Gottfried Benn, Lebensweg eines Intellektualisten, in: Ders., Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt am M a i n 1984, S. 274. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 171.

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Ich beende damit die systematischen Vorüberlegungen und nähere mich im folgenden zunächst der diskursgeschichtlichen Situation um 1800 an, bevor ich mich in den drei Hauptkapiteln der Arbeit endlich dem zuwende, worum es mir geht: der Entfaltung eines historisch präzisen Begriffs von narrativer Kontingenz auf dem Weg akribischer Lektüren. Wie zu sehen sein wird, taucht das auf den vorangegangenen Seiten ausgebreitete Vokabular nicht nur als notwendiges Begriffsinstrumentarium meiner eigenen Lektürearbeit auf; auch die Texte um 1800 selbst kreisen immer wieder um die gleichen semiologischen und poetologischen Fragen.

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III. Der historische Ort: Kontingenz und Ordnung um 1800 Die fremdesten Dinge kommen durch Einen Ort, Eine Zeit, Eine seltsame Aehnlichkeit, einen Irrthum, irgend einen Z u f a l l zusammen. So entstehn wunderliche Einheiten und eigenthümliche Verknüpfungen - und Eins erinnert an alles — wird das Zeichen Vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeygerufen. Novalis, Fragmente und Studien ιγρρ/1800

ι.

Einleitung

Neuzeitliches Denken ist durch die Erfahrung dessen geprägt, was Hans Blumenberg als »Ordnungsschwund« bezeichnet hat. 1 Gemeint ist damit nicht Ordnung im allgemeinen, sondern eine historisch bestimmte Form der Ordnung, die philosophiegeschichtlich an die Gültigkeit des ontologischen Paradigmas 2 geknüpft ist: an die Uberzeugung, daß die Welt >da draußen< der Ausgangspunkt allen Denkens ist. Ordnung im Rahmen dieses Paradigmas ist ontologisch vorgegeben und allumfassend — etwa im Sinne des griechischen Kosmos oder mittelalterlichen Ordo 3 —, und die Erkenntnis des wahren Grundes und Zusammenhangs der Welt vollzieht lediglich nach, was in der »dem Menschen zugewandte[n] Ordnungsstruktur« 4 selbst schon objektiv angelegt ist. Ein solches Konzept beginnt dann zu schwinden und weicht einer »neuefn] Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen können, [...] wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter möglichen anderen«,5 wenn diese also als ontologisch kontingent wahrgenommen wird. Die aus dem ontologischen Ordnungsschwund hervorgehende neue Ordnungsform kann daher »nicht mehr fertig in den Dingen bereitliegen und nicht mehr in den Lauf der Dinge eingezeichnet« 6 sein, sondern wird gemacht, erfunden, optimiert, erweitert, grundlegend umgewälzt oder durch eine andere Ordnung ersetzt. Michael Makropoulos hat das die »konstruktivistische Disposition« 7 der Moderne genannt. 1 2

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4 5 6 7

Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. i5off. Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie, in: Philosophie. Ein Grundkurs, hrsg. v. Ekkehard Martens u. Herbert Schnädelbach, Bd. i, Reinbek 1991, S. 37—76, hier S. 46ff. Vgl. Bernhard Waldenfels, Ordnung im Potentialis. Z u r Krisis der europäischen Moderne, in: Ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990, S. 15-27, hier S. 18. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 151. Waidenfels, Ordnung im Potentialis, S. 18. Waidenfels, Ordnung im Potentialis, S. 19. Michael Makropoulos, »Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts«, in: Kontingenz, hrsg. v. Gerhart von Graevenitz u. Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, München 1998, S. 55-79, hier S. 71. — Vgl. hierzu auch den Abschnitt über »Kontingenz und Konstruktion« in: Silvio Vietta, Ästhetik der Moderne. Literatur 35

Mit dieser konstruktivistischen Disposition steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die abendländische Tradition der Präsenzmetaphysik mit ihren Ordnungsformen der Harmonie, Teleologie und Archie. Modernität - das ist spätestens seit Nietzsches Genealogie8 das metaphysikkritische Bewußtsein ontologischer und semiologischer Kontingenz, im Zuge dessen sich der einstmals harmonische Kosmos in ein Chaos ohne Zentrum verwandelt9 und sowohl arche als auch telos als diskursive Effekte entlarvt werden. Andererseits betreibt gerade die moderne Philosophie seit Descartes wie jede prima philosophia insofern immer noch eine dem Denken des Ursprungs verhaftete Präsenzmetaphysik, als im Subjekt selbst das neue fundamentum inconcussum ausgemacht werden soll. Und wenn es um 1800 mehr denn je von teleologischen Denkfiguren wimmelt, zeigt sich daran zum einen, daß die Ordnungsform der Teleologie vom Bildungsroman bis zur Geschichtsphilosophie gerade für die neuen Subjekt-Diskurse unverzichtbar ist, und zum anderen, daß auch die alten ontologischen Teleologie-Modelle nicht einfach verschwunden sind. 10 Entsprechend fällt das Bild der Epochenschwelle um 1800 höchst ambivalent aus: Die moderne Ursprungsphilosophie etwa verstrickt sich in ihrer immanenten Begründungslogik in Darstellungsprobleme und Aporien, die das Ursprungsdenken zugleich radikal in Frage stellen." Die immanent ansetzende Kritik der Frühromantik an dieser das Subjekt begründenden Ursprungsphilosophie gelangt einerseits zur Einsicht in die semiologische Kontingenz jeder symbolischen Ordnung und verabschiedet andererseits doch nicht einfach arche und telos als metaphysische Begriffe. Ähnlich ambivalent

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9

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"

und Bild, München 2001, S. 28-32, sowie den systemtheoretisch orientierten Band über Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750—1830, hrsg. v. Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt u. Nicolas Pethes, Würzburg 2004. »Mit der Verspätung, die der philosophischen Explikation geschichtlich wirksamer Bewußtseinsantriebe eigen ist, hat Nietzsche die Situation des im Ordnungsschwund von der natürlichen Vorsorge verlassenen und sich selbst überantworteten Menschen formuliert, aber nicht, um der Enttäuschung des verlorenen Kosmos Ausdruck zu geben, sondern um den Triumph des aus der kosmischen Illusion zu sich selbst erwachten Menschen zu feiern und ihn der Mächtigkeit über seine Zukunft zu versichern« (Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 152). Soziologisch geht der Verlust des Zentrums nicht mit Chaos, sondern mit der Pluralisierung funktional ausdifferenzierter Ordnungen bzw. Systeme einher — eine Pluralisierung, die gerade in der Literatur die Suche nach einer gesamtgesellschaftlichen Semantik auslöst und dabei nur immer neue Kontingenzen produziert (vgl. Einleitung, in: Kontingenz und Steuerung, S. 7ff.). Zur Problematisierung und Hartnäckigkeit teleologischer Weltmodelle im Zeitalter der Aufklärung vgl. Frick, Providenz und Kontingenz, S. ioff. Werner Hamacher zeigt die aporetische Situation der modernen Subjektphilosophie an der Metapher des fundamentum inconcussum auf, das seit Descartes gerade durch den methodischen Zweifel und die damit verbundene »Bewegung der absoluten Erschütterung selbst« erreicht werden soll (Werner Hamacher, Das Beben der Darstellung. Kleists /Erdbeben in Chili«, in: Ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main 1998, S. 235-279, hier S. 237ff.).

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nimmt sich das hermeneutische Sinn-Paradigma aus, das sich um 1800 durchzusetzen beginnt: Auch hier wird nach dem Ursprung — in Gestalt des AutorsIZ bzw. der >miitterlichen< Stimme hinter den Schriftzeichen13 — sowie dem Zusammenhang des (harmonisch geordneten) Ganzen gefragt; zugleich aber produziert just dieses Erkenntnisinteresse seinen eigenen Widergänger: den Un- bzw. Nicht-Sinn, das störende Singuläre, das sich keinem Zusammenhang fügen will. Ausgehend von der Leitdifferenz »Kontingenz und Ordnung« werde ich die Ambivalenz, die für die Epoche des Subjekts kennzeichnend ist, an drei diskursgeschichtlichen Schnittpunkten aufzeigen: erstens am archimedischen Punkt des Subjekts selbst, genauer gesagt: an dem Repräsentationsproblem, das mit dem ursprungsphilosophischen Anspruch aufgeworfen wird, das reine oder absolute Ich zu denken; zweitens am Begriff der Einbildungskraft, mit dessen Karriere um 1800 - namentlich bei den Frühromantikern — eine über das mentalistische Paradigma hinausgehende semiologische Wende und damit das Wissen um die semiologische Kontingenz der Subjektdarstellung verbunden ist; drittens schließlich an den (De-) Konstruktionen teleologischer Ordnung, die bereits im 18. Jahrhundert die Identität des (erzählten) Ich in Frage stellen. Wenn ich dabei am Ende die chronologische Bahn und das semiologische Reflexionsniveau der Frühromantiker wieder verlasse, möchte ich damit einer teleologischen Fokussierung auf die frühromantische Dekonstruktion avant la lettre vorbeugen. Zum einen nämlich soll hier keine große Erzählung vom zunehmenden Kontingenzbewußtsein präsentiert werden. Zum anderen verstehe ich die frühromantische Poetologie nicht als Generalschlüssel für das Verständnis der im folgenden zur Diskussion stehenden Romane. So wichtig die Frühromantik als Konzeption semiologischer Kontingenz und als diskursgeschichtlicher Background für Autoren wie Jean Paul und Clemens Brentano ist — die je spezifische narrative Organisation von Romanen wie Jean Pauls Siebenkäs oder Brentanos Godwi kann nicht dadurch beschrieben werden, daß sie mit dem romanpoetologischen Kriterienkatalog von Friedrich Schlegel oder Novalis abgeglichen und dann mit dem Qualitäts- und Aktualitätssiegel der Frühromantik versehen wird. Vor allem im Hinblick auf Wielands Agathon gilt es auch die foridealistischen Diskurse historisch zu berücksichtigen. Was mich sowohl bei der frühromantischen IdealismusKritik als auch bei den voridealistischen Diskursen im Kontext von Ratio-

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Z u r D u r c h s e t z u n g der A u t o r f u n k t i o n im 18. J a h r h u n d e r t vgl. M i c h e l Foucault, W a s ist ein Autor?, in: Ders., S c h r i f t e n zur Literatur, F r a n k f u r t a m M a i n 1988, S. 7 - 3 1 , vor allem S. 18. V g l . den A b s c h n i t t »Der M u t t e r m u n d « in: Friedrich A . K i t t l e r , A u f s c h r e i b e s y s t e m e 1800/1900, 2., erw. u. korr. A u f l . , M ü n c h e n 1987, S. 31—75; sowie ders., Dichter — M u t t e r — K i n d , M ü n c h e n 1991, S. I9if., sowie Hans-Walter S c h m i d t , E r l ö s u n g der S c h r i f t . Z u m B u c h m o t i v im Werk C l e m e n s Brentanos, W i e n 1991, S. 25ff.

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nalismus und Empirismus interessiert, ist der systematische Zusammenhang von Philosophie und Poetologie.

2.

Der archimedische Punkt: Zur Begründung des Subjekts

In der Nachfolge der antiken prima philosophia tritt auch die moderne Subjektphilosophie als Ursprungs- oder Grundsatzphilosophie auf. Descartes etwa weist im Schreiben an seinen französischen Ubersetzer Picot ganz traditionsbewußt darauf hin, daß alles Philosophieren mit der Erforschung der ersten Ursachen beginnen müsse. Das gesamte (deduktive) System des menschlichen Wissens, einschließlich der praktischen Erkenntnis, beruht auf diesen ersten Ursachen bzw. Prinzipien. Als Kandidat für das oberste Prinzip kommt seit Descartes allerdings nur noch das denkende Bewußtsein selbst, das Cogito, in Frage.14 Noch Immanuel Kant ist von der Evidenz dieses ersten Prinzips ausgegangen. Auch bei ihm markiert das »Ich denke« den »höchste[n] Punkt«15 einer Philosophie, die sich primär als Erkenntnistheorie versteht. Im Unterschied zu Descartes jedoch — und ganz im Sinne David Humes — entsubstantialisiert Kant das Ich und verwandelt es — über Hume hinausgehend —l6 in ein transzendentalphilosophisches Prinzip, das als Einheit der Apperzeption zwar die notwendige Bedingung aller Erkenntnis ist, das sich selbst aber der objektiven Erkenntnis entzieht, da man »dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen« kann. 17 Nach Kant nämlich gehört zu jeder objektiven Erkenntnis sowohl sinnliche Anschauung als auch begriffliche Synthesis mittels der Kategorien. Beides aber ist beim »Ich denke« logisch ausgeschlossen: Kategorial — also etwa im Rückgriff auf die Relationskategorie der Substanz — kann das »Ich denke« deshalb nicht bestimmt werden, weil die »Apperzeption [...] selbst der Grund der Möglichkeit der Kategorien« ist.18 Und auch der für die gegen14

Vgl. Rene Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt u. erl. v. Artur Buchenau, 7. Aufl., Hamburg 1965, S. X X X I I f f . Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Ders., Werkausgabe, 12 Bde, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, Bd. III/IV, S. 137 (B 134, Anm.). Im folgenden abgekürzt: KrV. 16 Für Kant ist die von Hume beschriebene zeitliche Diversität des Ich, die Frage also, »ob bei den verschiedenen inneren Veränderungen des Gemüts [...] der Mensch, wenn er sich dieser Veränderungen bewußt ist, noch sagen könne, er sei ebenderselbe«, schlicht eine »ungereimte Frage; denn er kann sich dieser Veränderungen nur dadurch bewußt sein, daß er sich in den verschiedenen Zuständen als ein und dasselbe Subjekt vorstellt, und das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalte) nach zwiefach« (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders., Werkausgabe, Bd. XII, S. 417). •7 KrV, S. 397 (A 402). 18 KrV, S. 397 (A 401). 15

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ständliche Erkenntnis konstitutiven sinnlichen Anschauung entzieht sich das »Ich denke«, weil die transzendentale Einheit der Apperzeption als höchster Punkt und »unbedingtes]« Selbstbewußtsein 19 der Anschauung logisch vorausgesetzt ist. In seiner Kritik der rationalen Psychologie zeigt Kant konsequent auf, daß jeder Versuch, das reine Ich des »Ich denke« im Sinne objektiver Erkenntnis zu denken, einer »Subreption des hypostasierten Bewußtseins«10 gleichkommt, bei der das logische Subjekt mit dem realen Subjekt, die logische Identität des Ich mit der numerisch-empirischen Identität des Ich verwechselt wird. Hinter dieser Verwechslung verbirgt sich ein Circulus vitiosus: D a ich aber, wenn ich das bloße Ich bei dem Wechsel aller Vorstellungen beobachten will, kein ander Correlatum meiner Vergleichungen habe, als w i e d e r u m m i c h selbst, mit den allgemeinen B e d i n g u n g e n meines Bewußtseins, so k a n n ich keine andere als tautologische Beantwortungen auf alle Fragen geben, indem ich nämlich meinen B e g r i f f und dessen Einheit den Eigenschaften, die mir selbst als O b j e k t z u k o m m e n , unterschiebe, und das voraussetze, was m a n zu wissen verlangte. 2 1

Anders gesagt: Sobald man versucht, das reine Ich des »Ich denke« zu denken, das als Apperzeption alle Vorstellungen bzw. Perzeptionen begleitet, hat man es immer schon vorausgesetzt, da diese Selbstperzeption eben auch nur eine vom »Ich denke« begleitete Vorstellung ist. Das reine Ich ist daher für Kant eine zwar notwendige, aber »gänzlich leere Vorstellung«, ein x, welches nur durch die G e d a n k e n , welche seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten B e g r i f f haben können; u m welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, u m irgend etwas von i h m zu urteilen [ . . . ] . "

Für Kants Kritik der reinen Vernunft stellt diese Zirkularität und die damit einhergehende Konsequenz des ignoramus et ignorabimus kein Problem dar, das innerhalb der transzendentalphilosophisch gezogenen Erkenntnisgrenzen gelöst werden könnte. Kant geht von der evidenten Einheit der Apperzeption einfach aus, um mittels der transzendentalen Deduktion der Kategorien das zu erreichen, worum es ihm eigentlich geht: die Fundierung seines Objekti•9 KrV, S. 397 (A 401). 20 KrV, S. 397 (A 402). 21 KrV, S. 37 3 f. (A 366). 11 KrV, S. 344 (B 404). Philosophiegeschichtlich wird diese Vor-stellung des Ich von Leibniz bis Husserl als Selbstreflexion gedacht (vgl. Manfred Frank, »>Intellektuale AnschauungIntellektuale Anschauung*«, S. 109. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, V o m Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am M a i n 1985, S. 39—134, hier S. 71. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. J . H . Fichte, Bd. 1, Berlin 1845/46, S. 519-534, hier S. 526.

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Wirkliches Bewußtsein im Sinne eines absolut Ersten, Unbedingten, durch keine Subjekt-Objekt-Differenz Entzweiten kann nur als unmittelbares Bewußtsein gedacht werden. Und genau dafür steht die intellektuale Anschauung: In ihr sind »Subjektives und Objektives schlechthin Eins«. 26 Der Trick, mit dem Fichte diese Einheit oder Gleichursprünglichkeit aus dem Hut idealistischer Grundsatzphilosophie zaubert, besteht darin, daß Fichte die intellektuale Anschauung als Handeln denkt: »Die Anschauung, von welcher hier die Rede ist, ist ein sich Setzen als setzend [...]«.27 In der intellektualen Anschauung also schaut sich das Ich nicht selbstobjektivierend als ein tätiges Bewußtsein an, sondern ist Tätigkeit, die im Akt der Anschauung in sich selbst zurückkehrt und dabei das Ich allererst hervorbringt. Dieser Tätigkeit des Ich spricht Fichte »den kognitiven Modus der Anschauung zu«, weil »nur sie [...] unmittelbares [also ursprüngliches, nicht in einen unendlichen Regreß geratendes, S.M.] Bewußtsein und Indistinktion von Setzendem und Gesetzten verbürgen [kann]. Die Anschauung schaut an die Handlung des Sich-selbst-Setzens, noch bevor sie ins Licht begrifflicher Distinktion tritt.« 28 Daß diese Handlung des Sich-selbst-Setzens aber ganz entgegen Fichtes eigener Intention gerade kein einheitliches Subjekt-Objekt verbürgt und schon am Ursprung des Selbstbewußtseins von einer untilgbaren Distinktion durchzogen wird, verdeutlicht bereits die Formel des Ich = Ich, mit der Fichte das Sich-selbstSetzen auf den Begriff bringt. Inhaltlich nämlich wird damit zwar die Identität von Subjekt und Objekt behauptet, im Akt dieser Behauptung jedoch wird das Ich zugleich verdoppelt, und die vermeintliche Identität entpuppt sich als Differenz zwischen denkendem und gedachtem Ich. Die vermeintliche Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins ist hier bereits durchbrochen. Erst recht aber kann von Unmittelbarkeit keine Rede mehr sein, wenn Fichte selbst, ganz in der Tradition des Rationalismus stehend, die Notwendigkeit des Begriffs betont. Denn ohne Begriff gibt es kein deutliches, d.h. distinktes Bewußtsein des Ich von sich selbst, und Distinktion wiederum »setzt Gegensatz voraus: omnis determinatio est negatio«,29 Fichte muß deshalb die Setzung des Ich mit der Entgegensetzung eines Nicht-Ich innerhalb des unmittelbaren, identischen Bewußtseins zusammendenken und damit paradoxerweise die intellektuale Anschauung, die für die vermittlungslose Identität von Subjekt und Objekt sorgen soll, mit ihrem Gegenteil: dem begrifflichen Denken, die Nicht-Bestimmung mit der Bestimmung versöhnen. Die Widersprüche, in die sich Fichte bei diesem Unternehmen verstrickt, sind in der Folge vor allem von den Frühromantikern entlarvt worden. 30 Im 26 27 28 29 30

Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 528. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 528. Frank, »>Intellektuale Anschauung Novalis, Schriften, Bd. II, S. 257 (Hervorh. S.M.). 80 Novalis, Schriften, Bd. II, S. 209f. 81 Novalis, Schriften, Bd. I, S. 325. 78

49

philosophische Problem des Selbstbewußtseins um 1800 in ein Erzähtproblem. Das Ich kann zwar nicht gedacht, gleichwohl aber soll es erzählt werden. Oder wie Friedrich Schlegel mit Bezug auf die narrative Tropenform schreibt: »Das Höchste kann man eben, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen«.82 Dadurch, daß das Ich allegorisch dargestellt wird, bewegt es sich einerseits teleologisch auf den eigenen Ursprung zu, andererseits aber wird es aufgrund der semiologischen Kontingenz, die mit jeder allegorischen Ordnung verbunden ist, auf unendliche Um- und Abwege geführt. Als »narratologisch prädestinierte Figur einer sich zeitlich entfaltenden Poiesis«83 indiziert die Allegorie als fortgesetzte Metapher die Unendlichkeit dieser Bewegung, die digressiv und teleologisch zugleich ist.

4.

Teleologie-Diskurse im 18. Jahrhundert

Teleologisches Erzählen ist so alt wie das Erzählen selbst: Ob die Heimkehr am Ende steht wie in Homers Odyssee oder die Hochzeit wie in Heliodors Die Abenteuer der schönen Chariklea - stets ist die Handlung vor allem bei älteren Erzähltexten [...] durch eine [...] finale Motivierung bestimmt. Die Handlung final motivierter Texte findet vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an festgelegt, selbst scheinbare Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Allmacht. 84

Das teleologische Erzählmodell korrespondiert bei jenen älteren Texten mit der Herrschaft einer vorgegebenen ontologischen Weltordnung. Wenn sich etwa am Ende der höfisch-historischen Barockromane die zuvor geschilderten Verwicklungen und Zufälle teleologisch auflösen, garantiert das ein durch Fatum [...] oder Providenz [...] bedingtes sittliches und gottgewolltes Ordnungsgefüge, das das Geschehen der unbeständigen Fortunawelt im Roman >überwölbtnachbildend< ästhetisch vermittelt.85

Die Annahme einer solchen teleologisch ausgerichteten, göttlichen Ordnung ist auch im voridealistischen 18. Jahrhundert, in dem der von Blumenberg beschriebene ontologische Ordnungsschwund längst um sich gegriffen hat, 82 83 84

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Friedrich Schlegel, K A , Bd. II, S. 324. Wiethölter, »Ursprünglicher Gedanken Refrain — Wiederholung«, S. 655. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. i n . — Vgl. hierzu auch Marias Martinez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen u. Zürich 1996, vor allem S. 27-32. Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 17. SO

immer noch allgegenwärtig. Der Fortbestand dieses teleologischen Weltmodells läßt sich im 18. Jahrhundert vor allem an der Präsenz der Theodizee von Gottfried Wilhelm Leibniz und der an Leibniz anknüpfenden Metaphysik von Christian Wolff erkennen. Dieser ist es auch, der den Begriff der Teleologie 1728 allererst einführt. 86 Gemeint ist damit bei Wolff zunächst eine für den Bereich der Naturphilosophie reservierte Betrachtung der Dinge, die nicht nur nach der zu beobachtenden Wirkursache (causa efficiens), sondern auch nach der jeweils vorgesehenen Zweckursache (causa finalis) fragt. Sowohl bei Wolff selbst jedoch als auch in der physikotheologisch argumentierenden Popularphilosophie führt dieses Erkenntnisinteresse zu weit über die Naturphilosophie hinausgehenden Spekulationen über die Zwecksetzungen und providentiellen Absichten des Schöpfergotts. Auch die für das 18. Jahrhundert nicht minder charakteristische Kritik an solchen Spekulationen als anthropozentrischen, ontologisierenden Konstruktionen87 ändert nichts an der diskursiven Macht teleologischer Ordnungsmodelle. Noch Kants kritizistischer Vorschlag, »alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre«,88 dient lediglich der transzendentalphilosophischen Transformation teleologischen Denkens.89 Der deutsche Idealismus nach Kant kann sich dann bei aller beibehaltenen Kritik am Anthropozentrismus »mit einem bloß kritischen >Ansehen als ob«< gerade nicht mehr begnügen90 und ontologisiert die Teleologie insofern erneut, als in 86

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Vgl. den Artikel »Teleologie; teleologisch« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 970-977, hier Sp. 970. Für Kant zum Beispiel ist der physikotheologische Anthropozentrismus Ausdruck einer »faule[n] Vernunft« (KrV, S. 596, Β 717): Die »oft nur von uns selbst dazu gemachte[n] Zwecke« der Natur haben vor allem die Funktion, »es uns in der Erforschung der Ursachen recht bequem zu machen« (KrV, S. 597, Β 719). Den Nonsens dieser Bequemlichkeit spitzt Schiller im Distichon Der Teleolog folgendermaßen zu: »Welche Verehrung verdient der Weltenschöpfer, der gnädig,/ Als er den Korkbaum schuf, gleich auch die Stöpsel erfand!« (Friedrich Schiller, Der Teleolog, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, 8., durchges. Aufl., München 1987, Bd. I, S. 258) Bei Nietzsche schließlich kommt es zum Generalangriff auf jegliche anthropozentrische Verzauberung der Welt; auch die Rede vom Zufall verdankt sich noch der Herrschaft teleologischer Projektionen: »Der Gesammt-Charakter der Welt ist [...] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. [...] Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwekken hat das Wort >Zufall< einen Sinn« (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2., durchges. Aufl., München 1988, Bd. 3, S. 468). KrV, S. 594 (B 714), Hervorh. S.M. Zur Nähe und Differenz zwischen Leibniz und Kant vgl. Klaus E. Kaehler, »Die Ultima Ratio der Naturteleologie bei Kant und ihr Verhältnis zu Leibniz«, in: Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Jürgen-Eckardt Pleines, Würzburg 1994, S. 56-68. Art. »Teleologie; teleologisch«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 972.

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ihr das geschichtsphilosophische Prinzip erkannt wird, das dem historischen Prozeß substantiell zugrundeliegt. Auch wenn »Leibniz' Vernunft [...] keine Geschichte« hat, 91 teilt Leibniz' Theodizee mit Hegels objektivem Idealismus die metaphysische Annahme, daß das Wirkliche das Vernünftige sei. 92 Dieses Wirkliche wird dabei von Leibniz einerseits zwar mit dem Index der Kontingenz versehen, andererseits aber - im Sinne der von Waldenfels genannten Ordnungsformen - nicht nur als Teleologie, sondern auch als Archie und Harmonie gedacht. Im Gegensatz zum logischen Bereich der Vernunftwahrheiten, die strikt dem Satz vom Widerspruch gehorchen, ist die Wirklichkeit der Tatsachenwahrheiten nach Leibniz insofern kontingent, als es rein logisch möglich ist, die Nichtexistenz der Tatsachenwahrheiten anzunehmen: Es ist widerspruchsfrei denkbar, daß die Welt, so wie sie ist, auch anders bzw. nicht sein könnte. Warum ist dann aber, so Leibniz' rationalistische, auf einen zureichenden Grund abzielende Ausgangsfrage, die existierende Welt ausgerechnet so, wie sie ist? - Da es erstens einen Grund für die Existenz genau dieser Welt geben muß, weil davon auszugehen ist, daß prinzipiell alle möglichen Welten gleichermaßen nach Realisierung streben, um den Status des ontologisch minderwertigeren Bloßmöglichen zu verlassen, und da zweitens die Suche nach einem solchen Grund innerhalb der Welt kontingenter Tatsachenwahrheiten in einen unendlichen Regreß führen würde, 93 kann der zureichende letzte Grund für die Existenz der Welt, wie sie ist, nur außerhalb dieser Welt »in einer notwendigen Substanz liegen [...], und dies nennen wir Gott«.94 Leibniz' Antwort ist also eine klassisch metaphysische und damit eben auch ursprungsphilosophische: Wenn die Welt schon nicht logisch notwendig ist, verdankt sie sich doch einer ursprünglichen göttlichen Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit gilt zwar nicht absolut wie der Satz vom Widerspruch und geht insofern auf die freie Entscheidung Gottes zurück, als dieser widerspruchsfrei auch eine andere Welt hätte auswählen können. Immerhin aber ist die Welt »ex

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Johannes Seifen, Der Z u f a l l - eine Chimäre? Untersuchungen zum Zufallsbegriff in der philosophischen Tradition und bei G o t t f r i e d Wilhelm Leibniz, Sankt Augustin 1992, S. 237. Vgl. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 75. »Bei kontingenten Sätzen [...] geht der Fortschritt der Analyse über die Gründe der Gründe ins Unendliche, so daß man niemals einen vollen Beweis besitzt, obwohl immer ein G r u n d f ü r die Wahrheit besteht und von Gott allein vollkommen eingesehen wird, der allein mit einem Geistesblitz die unendliche Reihe durchläuft« (Gottfried Wilhelm Leibniz, Über die Kontingenz, in: Ders., Philosophische Schriften, Frankfurt am M a i n 1996, Bd. 1, S. 179— 187, hier S. 181). Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, in: Ders., Monadologie und andere metaphysische Schriften, hrsg. v. Ulrich Johannes Schneider, Hamburg 2 0 0 z , S. 127 (§ 38). - Das metaphysische Mittel, auf das Leibniz hier bei seiner Suche nach einem letzten zureichenden G r u n d zurückgreift, ist der alte kosmologische Gottesbeweis, wie er vor allem von Thomas von Aquin entfaltet worden ist. Z u r Kritik am Leibnizschen Beweis »a contingentia mundi« vgl. KrV, S. 53das Innre«106 des Subjekts: B e y e i n e r g e w o n n e n e n S c h l a c h t ists n i c h t d a s I n n r e d e s F e l d h e r r n , u m d a s w i r u n s b e k ü m m e r n ; d i e S a c h e selbst h a t i h r e n R e i z f ü r u n s ; a b e r b e y d e n B e g e b e n h e i t e n u n s r e r M i t m e n s c h e n , ist es d e r Z u s t a n d i h r e r E m p f i n d u n g , d e r u n s , b e y E r z ä h lung ihrer Vorfälle, m e h r oder weniger Theil daran n e h m e n läßt.107

Damit dieser Zustand der Empfindung überzeugend wirkt und die Anteilnahme daran überhaupt möglich ist, muß die »innre Geschichte eines Charakters«108 streng kausal als »Kette von Ursach und Wirkung« 109 geordnet sein. Zwar ist der Glaubwürdigkeitsanspruch an das Erzählen und umgekehrt der Vorwurf des bloß Romanhaften »so alt wie der Roman und seine Theorie« selbst, die Durchsetzung der empirischen Wissenschaften jedoch führt im 18. Jahrhundert zu einem »strengerefn] Beachten der Wahrscheinlichkeitsforderung auf der Grundlage des Kausalitätsprinzips«.110 Mit diesem pragmatischen Anspruch an das Erzählen geht vor allem eine Abkehr vom Barockroman einher, der mit seinen providentiellen Handlungseingriffen in Gestalt erzählter Zufälle sowie seiner »annalistische[n] Erzähltechnik des bloß chronikalischen Nacheinander«111 nicht mehr plausibel und zudem moralisch bedenklich erscheint. Statt die Einbildungskraft und Sittlichkeit der Leser - vor allem der Leserinnen — mit »außerordentlichen Zufällen, Entführungen, Blutschande, Verwechselungen unter dreyfachen Namen, Einbrüchen, Zweykämpfen, Verkleidungen, Gefahren zu Wasser und zu Lande« zu verderben112 und bloß die »Sucht nach Abentheuern«"3 zu bedienen, soll der pragmatische Roman die äußere Begebenheit nur noch in kausaler Verbindung mit dem »innre[n] Zustand« der Figuren erzählen.114 Das romanpoetologische Ideal ist eine geradezu »lückenlose Kausalmotivation, die keine Leerstellen der inneren oder äußeren Handlung mehr aufweist«:"5 Bei jedem erzählten Vorfall soll der Leser »all' die Ursachen« erkennen, »warum die Begebenheit erfolgt ist, und warum

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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 17. 106 F r i e d r i c h v o n Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 18. Vgl. auch ebd., S. 305. 107 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 18. 108 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 390. 109 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 10. 110 Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. 186. 111 Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. 187. 112 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 307. 113 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 309. 114 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 305. 115 Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. 187.

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sie vielmehr so als anders hat erfolgen müssen«." 6 Der damit verbundene Motivierungsaufwand führt dazu, daß die äußeren Begebenheiten schon rein quantitativ eine geringere Rolle als im Barockroman spielen." 7 Insbesondere für die Zufälle einer von außen eingreifenden Providenz ist in diesem Konzept kein Platz mehr. Statt solcher spektakulären Zufälle und Abenteuer stehen die äußerlich unscheinbaren, dafür aber psychologisch symptomatischen Vorfälle im Zentrum des Interesses."8 Und wenn sich für bestimmte Begebenheiten kein empirisch glaubwürdiges »Wie [...] in dieser ganzen Welt« finden läßt, kommen sie nach Blanckenburg für den aufgeklärten Romanautor ohnehin nicht in Frage." 9 Was Blanckenburg zum »Leibnizianer« macht, 120 ist vor allem der mit dem pragmatischen Erzählen verbundene Anspruch, Kausalität und Finalität zusammenzudenken und dabei sowohl auf Leibniz' Begriff der individuellen, nach Selbstvervollkommnung strebenden Substanz als auch auf die ontologische Fundierung der teleologischen Ordnung zu rekurrieren. Neben dem Wahrscheinlichkeit verbürgenden Kausalnexus der erzählten Geschichte soll der finale Nexus dafür sorgen, daß die äußeren Begebenheiten zweckmäßig mit dem Entwicklungsgang des Charakters, mit dessen Perfektibilität, vermittelt werden. Wie »der individuelle Begriff jeder Person ein für allemal das einschließt, was ihr jemals zustoßen wird«, 121 und also α priori bereits das Telos ihrer Geschichte enthält, so ist auch bei Blanckenburgs Charakter der »Endzweck«122 bzw. »das schließliche Resultat, woraufhin alles angeordnet zu sein hat, insgeheim schon die erste Voraussetzung«.123 »Der Mensch selbst«, schreibt Blanckenburg in unverkennbarer Anlehnung an Leibniz' Vorstellung vom rationalistischen Schöpfergott, »war ehe, als Begebenheit oder Vorfall«;124 entsprechend steht der narrative Gang der Dinge von vornherein fest, und der gesamte kausal und teleologisch motivierte Handlungsverlauf steht unter dem Gesetz innerer Notwendigkeit. 125

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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 309. Vgl. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 308. Vgl. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 30$f{. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 308. Holger Jergius, »Versuch über den Charakter. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der Poetik des 18. Jahrhunderts«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 6 (1971), 8 . 7 - 4 5 , hier S. 28. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 85f. (§ 13). Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 355. Jergius, »Versuch über den Charakter«, S. 29. Zu Leibniz' Charakterbegriff vgl. auch Friedrich Kaulbach, »Der Begriff des Charakters in der Philosophie von Leibniz«, in: Kant-Studien 57 (1966), S. 1 2 6 - 1 4 1 . Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 355. Leibniz illustriert diese α priori gegebene Bestimmung des Charakters am Beispiel Julius Caesars: »[...] wenn ein Mensch fähig wäre, den ganzen Beweis durchzuführen, kraft dessen er diese Verknüpfung des Subjekts, das Caesar ist, mit dem Prädikat, das sein glückliches Unternehmen ist, beweisen könnte, so könnte er in der Tat einsichtig machen, daß die

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Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun [...] so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. [...] Wir müssen die Verbindung der Theile unter sich, und mit dem Ausgange des Werks anschauend erkennen, ihr Verhältniß gegen einander prüfen, die Wirkungen und Ursachen abmessen, und es mit Gewißheit sehen können, warum die Sachen vielmehr so, als anders erfolgen? 126 Abgesehen davon, daß das hier beschworene Ganze mit dem Anspruch auf Kausalität und Finalität zwei systematisch unvereinbare Konzepte enthält, 117 wird dieses Ganze bei Blanckenburg noch ganz im Sinne von Leibniz' Metaphysik normativ auf ein ontologisch vorgegebenes Fundament zurückgeführt. Wie nämlich das »Alk bzw. die »Natur« als ein kausal geordnetes, »in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte«, seinen »Anfang« in der Weisheit des Schöpfers und sein Ende »vielleicht in unsrer höhern Vervollkommnung« hat, so soll auch der vom Dichter als alter deus geschaffene Roman eine solche nachgeahmte natürliche Notwendigkeit aufweisen, an dessen Ende die Vervollkommnung des Charakters steht. 118 Auffällig ist jedoch, daß Blanckenburgs Text ausgerechnet an der Stelle, an der die »Legitimität metaphysischer Letztbegründungsfragen« unterstrichen119 und die narrative Finalität ontologisch fundiert werden soll, ins Strudeln gerät:130

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zukünftige Diktatur Caesars [und damit auch seine Ermordung, S.M.] ihre Grundlage in seinem Begriff oder seiner Natur hat, so daß man darin einen Grund sähe, warum er sich lieber dazu entschloss, den Rubikon zu überschreiten, als vor ihm anzuhalten, und warum er die Schlacht bei Pharsalus gewann statt sie vielmehr zu verlieren, und daß es vernunftgemäß und folglich sicher ist, daß sich all dies ereignete [...]« (Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 91, § 13). — Vgl. auch den >göttlichen Blick< auf den Charakter des Römers Sextus im allegorische Schlußtableau der Theodizee (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Dritter Teil, in: Ders., Philosophische Schriften, Frankfurt am Main 1986, Bd. 2.2, S. 266f.). Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 3i3f. - Blanckenburg knüpft hier unverkennbar an Lessings Handlungsbegriff an: »Eine Handlung nenne ich, eine Folge von Veränderungen, die zusammen Ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruhet auf der Ubereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke« (Gotthold Ephraim Lessing, Von dem Wesen der Fabel, in: Ders., Werke, Bd. 5, S. 355-385, hier S. 367). Unvereinbar sind beide Konzepte unter anderem deshalb, weil sich hinter dem Begriff der Kausalität die am naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal orientierte Vorstellung einer entteleologisierten, kausal erklärbaren Welt verbirgt, während der Begriff der Finalität moralphilosophisch auf das am Ende der Geschichte stehende Happy End verweist, das einerseits die Kompensation vorangegangenen Unglücks, andererseits die Belohnung tugendhaften Handelns garantieren soll. Vgl. hierzu Frick, Providenz und Kontingenz, S. I5f., sowie Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. i9off. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 313. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 359. Vgl. hierzu auch Peter J. Brenner, Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung, Tübingen 1981, S. 64f.

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Wir sehn eine, bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen: ein, in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte; oder vielmehr dessen verschiedene Fäden sich alle in einen Anfang — die Weisheit des Schöpfers vereinen, und dessen Ende vielleicht in unsrer höhern Vervollkommnung... doch wer kann dies, wer kann das Ganze übersehen? Aber Vernunft, Natur, Erfahrung bestätigen alle das wirkliche Daseyn dieser Verknüpfung. — Wenn der so gepriesene Grundsatz der Nachahmung irgend einen Sinn hat: so ists wohl kein andrer, als der: verfahret in der Verbindung, der Anordnung eurer Werke so, wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt. 131

Da es hier immerhin um die ontologische Begründung einer Poetik geht, die eine Nachahmung der kausal und final organisierten Natur fordert, ist es zunächst irritierend, daß gerade die finale Organisation der Welt im Sinne eines Vervollkommnungsprozesses gar nicht garantiert ist, weil niemand »das Ganze übersehen« kann. Die »ontologische Fundierung der Finaliät« bleibt also letztlich »unerweislich«.132 Zwar hat Werner Frick recht mit der Feststellung, daß Blanckenburg lediglich ein »Problem der finiten Erkenntnis [...], keines der ontologischen Objektivität« beschreibt.133 Auch bei Leibniz ändert ja das Wissen um die Endlichkeit des menschlichen Geistes nichts an dem Anspruch, substantielle Aussagen über die göttliche Ordnung treffen zu können. Die Frage ist aber, ob man diesen Verweis auf die finite Erkenntnis im historischen Rückblick überhaupt noch ohne Kants Kritizismus lesen kann und ob nicht bereits bei Leibniz selbst der rationalistische Begründungsanspruch in sich zusammenbricht, wenn zugestanden wird, daß die Annahme eines stets nur das Beste wollenden Gottes lediglich geglaubt werden kann: Es genügt also, das Vertrauen in Gott zu haben, daß er alles zum besten lenkt, und daß denen, die ihn lieben, nichts schaden kann; aber im besonderen die Gründe zu erkennen, die ihn dazu bewegen konnten, gerade diese Ordnung des Alls zu wählen, die Sünden zu dulden und seine Heilsgnaden auf eine bestimmte Weise zu gewähren, übersteigt die Kräfte eines endlichen Geistes [...].134

Den rationalistischen Begründungsnöten entspricht bei Blanckenburg das Stottern des Diskurses. Ganz im Gegensatz nämlich zum ununterbrochenen Faden des göttlichen Gewebes unterbricht sich Blanckenburg in der zitierten Passage immer wieder selbst mit Vorbehalten, Einschränkungen und Ergänzungen: Eingeleitet mit einem »oder vielmehr« stellt Blanckenburg dem Bild des ununterbrochenen Fadens bezeichnenderweise die Metapher verschiedener Fäden gegenüber, die alle in einem Anfang vereint sein sollen; der Formel vom Ende, das »vielleicht« in der Vervollkommnung liegt, folgen

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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den R o m a n , S. 313. Engel, Der Roman der Goethezeit, S. 92. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 359. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 67 (§ 5), Hervorh. S . M .

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im Text drei Punkte sowie der mit einem einschränkenden »doch« eingeleitete Hinweis auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis; diese Einschränkung wird dann sogleich wieder durch ein adversatives »Aber« zurückgenommen: »Aber Vernunft, Natur, Erfahrung bestätigen alle das wirkliche Daseyn dieser Verknüpfung«. Am Ende landet Blanckenburg also offenbar doch noch auf ontologisch sicherem Boden: dem »wirkliche[n] Daseyn« kausaler und teleologischer Verknüpfung, so daß der Weg frei zu sein scheint für das Nachahmungspostulat im folgenden Absatz. Aber innerhalb der von Blanckenburg beschworenen Trinität von »Vernunft, Natur, Erfahrung« ist es gerade die Erfahrung, die im 18. Jahrhundert längst nicht mehr mit einem teleologischen Ordnungsdenken ä la Leibniz kompatibel ist. Dem Asyndeton von »Vernunft, Natur, Erfahrung« entspricht diskursgeschichtlich die Kluft zwischen Rationalismus und Empirismus. Manfred Engel spricht in seiner Blanckenburg-Analyse von den »empiristischen Schockwellen, die (auch ohne das berühmte Erdbeben von Lissabon) das rationalistische Weltbild im 18. Jahrhundert immer nachhaltiger erschüttern«.135 Daß diese Schockwellen insbesondere die ontologische Fundierung der Finalität ins Wanken bringen, hängt damit zusammen, daß der Empirismus eine mentalistische Erkenntnistheorie vertritt, die sich, wie etwa bei David Hume, allein für Bewußtseinsinhalte, die aus impressions und ideas bestehenden perceptions, interessiert. Menschliches Erkennen soll nach Hume als bewußtseinsimmanentes Verhältnis der ideas zu den impressions sowie der ideas untereinander beschrieben werden. Empiristisch an diesem erkenntnistheoretischen Konzept ist die Uberzeugung, daß der Ursprung der ideas, wenn diese nicht bloß spekulativ sein sollen, in den impressions der Wahrnehmung zu suchen 1st.136 Worauf die impressions ihrerseits zurückzuführen sind, bleibt prinzipiell verborgen. Zwar ist es eine lebensweltlich verbreitete und nützliche Gewohnheit, daß den impressions Substanzen als beharrende Dinge der Außenwelt angedichtet werden, erkenntnistheoretisch jedoch ist diese Annahme nicht zu beweisen, weil wir erstens nie die Wirklichkeit an sich wahrnehmen, sondern nur über mehr oder weniger intensive Perzeptionen innerhalb des Bewußtseins verfügen, und weil die impressions zweitens auch bei vermeintlich gleichartigen Ereignissen nie identisch sind. Natürlich sind Ereignisse wie das Erdbeben in Lissabon 1755 schockierend gewesen und haben diskursgeschichtlich, etwa mit Voltaires Candide, wirkungsmächtige Spuren hinterlassen. Die empiristischen Schockwellen aber,

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Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit, Stuttgart u. Weimar 1993, S. 92. Die impressions sind bei Hume als Außen- WM^Innenwahrnehmungen (wie Liebe und Haß) zu verstehen. Zum empiristischen Grundprinzip, das auf die größere Intensität und/oder zeitliche bzw. sachliche Priorität der impressions gegenüber den ideas abhebt vgl. Gerhard Streminger, David Hume: »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstands Ein einführender Kommentar, Paderborn u.a. 1994, S. 66ff. 59

von denen Engel spricht, bestanden gerade nicht in vermeintlich schlagenden Beweisen gegen Leibniz' Theodizee innerhalb der Erfahrungswelt. Da Leibniz als Rationalist eine mit apriorischem Geltungsanspruch auftretende Metaphysik vertritt, ist jeder noch so polemische Hinweis auf die Übel der Empirie belanglos. Im Gegenteil: Die kontingenten Übel sind gerade das, was in die Integrationsmaschine der Theodizee geworfen wird, damit am Ende das herauskommt, was von Anfang an axiomatisch feststeht — daß diese Welt die beste aller möglichen ist und daß auch die weniger schönen Ereignisse und Zufälle mit einer solchen Welt kompatibel sind. Genau diese unwiderlegbare Axiomatik greift der Empirismus an. Die epistemologische Erschütterung, die dabei vom Empirismus ausgeht, ist ohne die genannten erkenntnistheoretischen Prämissen gar nicht zu verstehen. Der zentrale Einwand gegen Leibniz und die gesamte von ihm repräsentierte Metaphysiktradition lautet nämlich, daß die Idee einer besten aller möglichen Welten aufgrund ihrer Abstraktion von Erfahrung, also von den impressions, nichts anderes als eine spekulative idea bzw. ein bloßer Glaubenssatz ist: empirisch weder zu verifizieren noch zu falsifizieren und damit ohne Erklärungswert für die Welt, auf die sich diese Idee ja immerhin zu beziehen vorgibt. In den erkenntnistheoretischen Prämissen des Empirismus ist auch der Grund dafür zu sehen, warum bei Hume von der natürlichen Religion bzw. Theologie — immerhin dem Zentrum klassischer Metaphysik — nur noch die Ruine des teleologischen Gottesbeweises übrigbleibt. Da für Hume der Anspruch, »to demonstrate a matter of fact [wie die Existenz Gottes, S.M.], or to prove it by any arguments a priori«, »an evident absurdity« darstellt 137 — denn über Tatsachen können nach H u m e nur Urteile α posteriori gefällt werden, und apriorische Beweisführungen sind ausschließlich innerhalb der Mathematik möglich kommen der ontologische und kosmologische Gottesbeweis von vornherein schon methodologisch nicht in Frage.138 Und der teleologische bzw. physikotheologische Gottesbeweis, der theoretisch immerhin in Betracht zu ziehen ist, weil er α posteriori von der Erfahrung einer geordneten, zweckmäßigen Natur ausgeht, scheitert unter anderem gerade im Hinblick auf das Theodizee-Problem: »Wohlgeordnetheit mag in der Welt sein, doch Schmerz, Übel und Bosheit sind es auch. Wenn man nun fortfährt, daß Gott mit dem Übel in der Welt am Ende nur Gutes bezweckt, so ist Gottes unendliche Güte schon vorausgesetzt, nicht aber durch das teleologische Argument bewiesen«.'39

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David Hume, Dialogues Concerning Natural Religion, hrsg. v. Henry D. Aiken, N e w York 1959, S. 58. Z u diesem Argument vgl. Lothar Kreimendahl, David H u m e : »Dialoge über natürliche Religion< (1779), in: Ders., Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus, Stuttgart 1994, S. 385-418, hier S. 402f. Jens K u h l e n k a m p f f , David Hume, München 1989, S. 144.

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Humes Kritik der Gottesbeweise hat Kant zu dem Geständnis veranlaßt, daß es die Erinnerung an Hume gewesen sei, die ihm »vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach«.140 Denn schon in Humes Erkenntnistheorie sind die beiden Waffen gegen rationalistische Spekulationen enthalten, die Kants Transzendentalphilosophie auszeichnen und zum Einsturz der traditionellen Metaphysik führen: Antisubstantialismus und Konstruktivismus. Diese konstruktivistische Disposition von Humes Empirismus hängt damit zusammen, daß der Ausgangspunkt der Erkenntnis eben die impressions sind. Jede plausible idea — und erst recht, wenn sie komplex ist — kann nur ein mentales Konstrukt auf der Grundlage dieser impressions sein. Das betrifft bereits die Vorstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen immer wieder beobachteten Verknüpfungen von Ereignissen — das Bewußtsein konstruiert gewissermaßen aus dem wiederholten post hoc der Empirie ein logisches propter hoc. Es betrifft aber vor allem auch die Gottesvorstellung oder Konzepte wie das der Teleologie. Denn im Unterschied zu Descartes sieht Hume in Gott keine vorgegebene oder angeborene Idee, sondern ein Konstrukt des Subjekts, das sich aus der metaphysischen Steigerung gegebener impressions ergibt. Und daß die Vorstellung einer teleologisch organisierten Natur nichts anderes ist als eine anthropozentrische Erfindung der menschlichen Einbildungskraft, verdeutlicht schon die Metapher der Welt als Bauwerk, die per Analogie auf den Weltplan eines intelligenten Architekten-Gottes schließt. Wie schon im Hinblick auf Kant und Leibniz interessieren in diesem Zusammenhang jedoch nicht die philosophieinternen Diskussionszusammenhänge als solche, sondern die Verknüpfungen mit poetologischen bzw. literarischen Diskursen der Zeit. Neben der Theodizee-Kritik, an der auch die Literatur des 18. Jahrhunderts partizipiert, sind es gerade die beiden Waffen der Metaphysikkritik: der Konstruktivismus und Antisubstantialismus, die Hume literaturgeschichtlich, genauer gesagt: romanpoetologisch, interessant machen. Zwar gibt es den Konstruktivismus schon vor Hume - Leibniz' Gott ist auch nichts anderes als der Konstrukteur einer möglichen Welt —, doch Hume ist im 18. Jahrhundert vor Kant der Repräsentant eines Diskurses, in dem die Teleologie nicht mehr wie bei Leibniz und Blanckenburg als ontologisch vorgegebene (und entsprechend literarisch nachzuahmende) Struktur innerhalb der Ordnung der Dinge, sondern als bloßes Produkt der Einbildungskraft begriffen und reflektiert wird. Diese Reflexion findet im literarischen Diskurs des 18. Jahrhunderts als ironische statt. Wenn sich die Erzählliteratur etwa inmitten der »fortschreitende [n] Krise und Auflösung der christlichen Providenz-Metaphysik und der ihr korrelierten teleologischen Wirklichkeitsauffassung«141 dennoch teleologischer

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Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 3, S. 118 (A13). Frick, Providenz und Kontingenz, S. 11.

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Ordnungsmuster samt der damit verbundenen Funktionalisierung von Zufällen bedient, tut sie dies bezeichnenderweise mit reflexivem Vorbehalt: Die ästhetische Signatur dieses notgedrungenen Rekurses auf anachronistische semantische Deutungsfiguren sind diverse Formen des Vorbehalts, der uneigentlichen Rede und der textinternen Distanzierung: Metaphorisierung, Eklektizismus, Ironisierung etc. 1 4 2

Gerade in Wielands Agathon, an dem Blanckenburg die eigene Romanpoetologie ironischerweise vor allem zu demonstrieren versucht, sind solche Distanzierungsbewegungen omnipräsent. Teleologie ist im Agathon, wie zu sehen sein wird, eben nicht mehr ontologisch verbürgt, sondern wird als Strategie eines konstruktivistischen Erzählers inszeniert.143 Wie dieser Konstruktivismus funktioniert, kann man sich zum Beispiel an Ludwigs Tiecks erster Straußfedern-Eizählimg aus dem Jahr 1795 vor Augen führen, die den bezeichnenden Titel Schicksal trägt. Nach Auskunft von Tiecks Ich-Erzähler bezeichnet das Wort Schicksal »für uns eine Art von Symbol, ein Bild, unter welchem wir gewöhnlich den Gang der Umstände zusammenfassen, deren natürlichen, nothwendigen Zusammenhang wir recht gut einsehen.«144 Der Erzähler bezieht sich also zwar zunächst durchaus noch auf einen vorgegebenen Gang der Dinge; jenseits der symbolischen Zusammenfassung jedoch gibt es gar keinen Zugang zu dessen >natürlicher< Ordnung. Entsprechend betont die Erzählung konsequent den sprachlichen Inszenierungscharakter des teleologischen Erzählschemas, das die Schicksalssemantik der Geschichte bestimmt. Sichtbar macht der Erzähler diese Inszenierung naheliegenderweise vor allem daran, wie das Ende herbeigeführt wird: Tieck behandelt die literarischen Lösungen seiner Straußfedern-Geschichten insgesamt mit einer Lakonik, die ans Unverschämte grenzt. Die Schlußpointen wer-

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Frick, Providenz und Kontingenz, S. 16. — Der Begriff des Anachronistischen impliziert natürlich ein Vorverständnis dessen, was als zeitgemäß, d.h. als aufgeklärt oder modern gelten darf. Wie hilflos eine solche Kategorie ist, zeigt sich daran, daß zum Beispiel jeder anständige Hollywoodfilm noch immer ohne großes Problembewußtsein auf jene finalistischen Erzählmuster zurückgreift. Der Deal mit dem Kinopublikum besteht dabei gerade darin, daß mit dem Kauf der Eintrittskarte an der Kinokasse immer auch die Garantie auf ein mehr oder weniger unironisches Erzählen erworben wird, das die Guten gewinnen und das Liebespaar am Ende doch noch zusammenkommen läßt. Viktor 2megac spricht in bezug auf die Romane des 18. Jahrhunderts vom transzendentalen Erzähler, dessen Funktion darin bestehe, den Leser darauf aufmerksam zu machen, »daß der Erzählakt eine künstliche Handlung ist, eine artifizielle Angelegenheit mit besonderen Prozeduren, kurz, etwas Gemachtes« (Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik, Tübingen 1990, S. 5if.). Zum auktorialen Erzähler des 18. Jahrhunderst vgl. auch Wolfgang Kayser, »Die Anfänge des modernen Romans im 18. Jahrhundert und seine heutige Krise«, in: DVjs 28 (1954), S. 417—446, sowie Michael von Poser, Der abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im achtzehnten Jahrhundert, Bad Homburg 1969. Ludwig Tieck, Schicksal, in: Ders., Schriften, Berlin 1829, Bd. 14, S. 3.

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den in knappen Sätzen aufeinandergehäuft, wie um dem Leser zu zeigen, daß er ohnehin schon wußte, wie alles hat kommen müssen.' 4 5

So wird Anton, der Held der Liebesgeschichte in Schicksal, als »Narr des Zufalls« 146 vorgeführt, den der Erzähler in »einem langweiligen, unaufhörlichen Spiele« nie gewinnen, 147 d.h. in seinen Versuchen, mit der Geliebten zusammenzukommen, systematisch scheitern läßt. >Langweilig< erscheint dieses Spiel deshalb, weil es in seiner Immergleichheit keinerlei Variation bietet: Die den Gang der Umstände lenkende Topik des »unglücklichen Zufall[s]« 148 zögert eben nicht einfach - als probates Mittel der Spannungserzeugung - das Glück der Liebenden fortwährend hinaus, sondern wird so verabsolutiert eingesetzt, daß das bloße Erzählmuster wichtiger als der konkrete Inhalt wird. Am Ende freilich, unvermittelt nach einem Gedankenstrich im Text, 149 wendet sich das Schicksal plötzlich doch noch zum Guten, und es kommt zum obligatorischen Happy End, in dessen Unglaubwürdigkeit und topischer Künstlichkeit »sich die Fiktion selbst entlarvt«.150 Diese Unglaubwürdigkeit ist jedoch kein Problem für den Erzähler: Antons umständlichen Versuche waren genauso überflüssig, wie die unglücklichen Zufälle auch nachträglich nicht mit dem Index der Notwendigkeit versehen werden. Notwendig erscheint allein das Happy End: als ironische Erfüllung des etablierten und von den Lesern erwarteten teleologischen Erzählmusters. Angesichts dieser konstruktivistischen Disposition verwundert es nicht, daß die im 18. Jahrhundert verbreiteten digressiven Erzähltexte die Teleologie programmatisch gleich ganz verabschieden, wobei natürlich wie bei jeder Verabschiedung das Verabschiedete immer noch vorausgesetzt wird. 151 In Wezeis Tobias Knaut etwa bekundet der auktoriale Ich-Erzähler vor dem Hintergrund »natürlicher« Lesererwartungen frech und selbstbewußt seine Vorliebe fürs abschweifende Erzählen:

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Christoph Brecht, Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993, S. 69. 146 Tieck, Schicksal, S. 27. 147 Tieck, Schicksal, S. 40. 148 Tieck, Schicksal, S. 26. ,4 » Tieck, Schicksal, S. 51. 150 Brecht, Die gefährliche Rede, S. 69. 151 Noch Tiecks Die sieben Weiber des Blaubart, einer der radikalsten Versuche, antiteleologisch und unzusammenhängend zu erzählen, setzt die Erwartung von Kohärenz und Zweckmäßigkeit bei der Leserschaft voraus: »Kein einziger Leser kann es so sehr fühlen, als der Verfasser, daß es [sein Buch, S.M.] gänzlich an guter Simplicität Mangel leide, daß es gar kein Ziel und keinen Zweck habe, und sich in jedem Augenblick widerspreche, daß es nur der geringste Unsinn sey, wenn der Blaubart nicht lesen könne, und doch eine Stelle aus dem Horaz citiere. Warum, geliebter Leser, soll es aber nicht auch einmal ein Buch ohne allen Zusammenhang geben dürfen, da wir so viele mit trefflichem, dauerhaftem Zusammenhang besitzen?« (Ludwig Tieck, Die sieben Weiber des Blaubart, in: Ders., Schriften, Bd. 9, S. 220). Vgl. hierzu Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 92-190.

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Ich weiß es, der meiste Teil der Leser fodert eine fest zusammengeknüpfte, nie unterbrochne, in gleicher Linie fortgehende Reihe der Begebenheiten, und ich f ü r meinen Teil finde nichts Einschläferndes als solche Erzählungen in gerader Linie." 2

Daß diese Lust am Abschweifen diskursgeschichtlich mit dem Empirismus in Verbindung steht, hängt mit der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Assoziation zusammen: »Mit Sternes Tristram Shandy«, also dem Paradigma digressiven Erzählens, »hält der Lockesche Empirismus Einzug in die Weltliteratur — und mit ihm vor allem die Assoziation«.153 Während bei Locke jedoch nur diejenigen Ideenverbindungen einen »Associate« aufweisen, die im Unterschied zur »natural Correspondence« lediglich auf »Chance [!] or Custom« beruhen und daher »a sort of Madness« darstellen,154 wird die Assoziation bei Hume zum regulären Kombinationsprinzip für die complex ideas insgesamt aufgewertet. Ort dieser Kombination von Vorstellungen ist die Einbildungskraft: Sie sorgt dafür, daß eine bestimmte Idee quasi automatisch eine andere nach sich zieht. Dabei sind drei >Gravitationskräfte< bzw. Assoziationsprinzipien wirksam, die für die Ordnung der ideas sorgen: »Resemblance, Contiguity in time or place, and Cause or Effect«.Auch die Kontiguität also, die bei Locke gerade für die »Madness« der Einbildungskraft und bei Derrida schließlich für die seminalen Abenteuer der Spur sorgt, wird von Hume auf die Seite der Ordnung geschlagen: »And even in our wildest and most wandering reveries, nay in our very dreams, we shall find, if we reflect, that the imagination ran not altogether at adventures [...]«.156 So gesehen ist auch die berühmte Assoziation zwischen dem Geschlechtsakt und dem Aufziehen der Uhr am Anfang von Sternes Tristram Shandy alles andere als einfach nur >abenteuerlich< oder >verrückt< im Lockeschen Sinne. Zwar besteht zwischen beiden Ideen in der Tat keine »connection in nature«; aber daß Tristram Shandys Mutter beim einen stets ans andere denkt und umgekehrt — »the thoughts of some other things unavoidably popp'd into her head«157 —, folgt den Gesetzen poetologischer Notwendigkeit. Mit Hume wäre darauf hinzuweisen, daß Sternes Zufälle und Digressionen durchaus ein »design« erkennen lassen, das dem Text - im Unterschied zu den »ravings of a madman« — »a kind of Unity« verleiht.158 152

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Johann Karl Wezel, Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Aus Familiennachrichten gesammlet, Berlin 1990, S. 10. Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999, S. 44. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. v. Peter H. Nidditch, Oxford 1979, S. 395 (2. Buch, 33. Kap.). David Hume, An Enquiry concerning Human Understanding. A Critical Edition, hrsg. v. Tom L. Beauchamp, Oxford 2000, S. 17 (Kap. 3). Hume, An Enquiry, S. 17 (Kap. 3), Hervorh. S.M. Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, hrsg. v. Melvyn New, London [u.a.] 2003, S. 9 (Buch I, Kap. 4). Hume, An Enquiry, S. 18 (Kap. 3).

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David Ε. Wellbery etwa hat diese Seite der Ordnung am Tristram Shandy als systematisch durchgeführte »Unterbrechung der Paternität« bestimmt, 159 die darauf zurückzuführen ist, daß der Vater in seinem autoritären Anspruch auf Fortpflanzung und genealogische Fortsetzung ohne ein missives Element — ein durchs M e d i u m Geschicktes, eine Transmission, eine Emission, einen Emissär - nicht auskommt. A u f dieser strukturalen Abhängigkeit beruht Sternes Poetik der Kontingenz. D a s missive Element nämlich macht den Vater für Unterbrechungen, für Kontingenzen jeglicher Art, empfindlich. Eine solche Unterbrechung ist die durch die Ideenassoziation Geschlechtsakt/Aufziehen der U h r motivierte Frage von Frau Shandy, mit der der R o m a n seinen unvergeßlichen A n f a n g n i m m t . ι β ο

Abgesehen davon, daß bei der Ideenassoziation von Mrs. Shandy nicht nur das Prinzip der Kontiguität, sondern auch das der Ähnlichkeit wirksam ist, insofern zum Beispiel »die lustlos-mechanische Natur des einen Vorgangs ein passendes Bild abgibt für die Art, wie ihr Ehemann das intimere Geschäft verrichtet«,101 ist die Frage der Mutter vor allem in ihrer poetologischen Selbstreflexivität alles andere als »a silly question«.161· Als Akt der Unterbrechung führt sie auf der Ebene der histoire vor, was den gesamten digressiven discours bestimmt: eine gegen die >väterliche< Teleologie gerichtete Poetik der Kontingenz. Die neben dem Konstruktivismus zweite zentrale Position von Humes Empirismus, die verdeutlicht, daß Hume als »verkappte[r] Ästhetiker«,163 ja geradezu als Erzähltheoretiker gelesen werden kann, besteht in der antisubstantialistischen Auffassung vom Ich: Da menschliches Erkennen auf perceptions beruht, die immer wieder zeitlich unterbrochen sind und dadurch lediglich die Konstatierung von Ähnlichkeiten erlauben, kann man weder eine feste Gegenständlichkeit in der Außenwelt noch — in der Selbstwahrnehmung — ein identisches, unveränderliches Ich erkennen. Wie die Annahme der Existenz externer Objekte basiert auch die Annahme von der Existenz eines identischen Ich auf der Verwechslung von Ähnlichkeit und Identität. Zwar ist die Annahme des identischen Ich eine lebenspraktisch und moralisch wichtige Fiktion, erkenntnistheoretisch jedoch stellt das Ich für Hume nichts anderes als ein Bündel unterschiedlicher Wahrnehmungen dar: »a bundle or collection of different perceptions« 104 - ohne substantiellen Kern. Schon vor der Frühromantik also wird die Identität des Ich zum Problem.

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David E . Wellbery, »Der Z u f a l l der Geburt. Sternes Poetik der Kontingenz«, in: Kontingenz, hrsg. v. Gerhart von Graevenitz u. O d o Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, München 1998, S. 2 9 1 - 3 1 7 , vor allem S. 2 9 4 - 3 0 3 . Wellbery, »Der Z u f a l l der Geburt«, S. 2 9 9 f . Wellbery, »Der Z u f a l l der Geburt«, S. 304. Sterne, T h e Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, S. 6 (Buch I, Kap. 1). Lobsien, Kunst der Assoziation, S. 29. David H u m e , A Treatise of H u m a n Nature, hrsg. v. L . A . Selby-Bigge, O x f o r d 1958, S. 252. »The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appear-

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Daß dieses philosophische Problem auch vor der Frühromantik und der mit ihr verbundenen semiologischen Wende bereits als Erzählproblem verstanden werden kann, hängt damit zusammen, daß der Empirismus über Leibniz hinaus einen fürs Erzählen konstitutiven Faktor ins Spiel bringt: die Zeit. 1 6 5 Die Wahrnehmung des Ich innerhalb der Zeit nämlich löst den typisch modernen Verdacht aus, von dem zum Beispiel jeder autobiographische Erzähler umgetrieben wird, »that the present self is not the same person with the self of that time«. 166 Dieser Verdacht wird im 18. Jahrhundert zwar programmatisch immer wieder beiseite geschoben, wie sich etwa in der Vorrede zum zweiten Teil des Anton Reiser zeigt: Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich - und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. 1 6 7 Die Erzähltexte selbst hingegen sprechen eine andere Sprache. Und es ist bezeichnend, daß Moritz in einer anderen Vorrede, dem Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde, die anzustrebende Harmonie und gefor-

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ance; pass, re-pass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and situations. There is properly no simplicity in it at one time, nor identity in different [...]« (ebd., S. 253). Vgl- hierzu den Aufsatz von Niklas Luhmann: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, Bd. 1, S. 235—300. — Systeme, so Luhmann, »kann man als komplex bezeichnen, wenn sie so groß sind, daß sie nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpfen können« (S. 237). Sie sind also zwangsläufig auf Selektionen angewiesen. Um die Zahl der Selektionsmöglichkeiten und damit die Flexibilität in bezug auf unterschiedliche Umweltzustände zu steigern, nehmen komplexe Systeme »Zeit in Anspruch [...], um im Nacheinander mehr Relationen zu aktualisieren, als zugleich möglich wären« (S. 238). — Anknüpfend an diese These, die Luhmann historisch an den Komplexitätszuwächsen der Neuzeit diskutiert, könnte man das moderne Subjekt als ein solches komplexes System begreifen, das die Zeit einer Entwicklungs- oder Bildungsgeschichte durchlaufen muß, um sich gegenüber seiner Umwelt konstituieren und behaupten zu können. Gegen Luhmann allerdings würde ich einerseits die Integrationsresistenz der einzelnen Elemente betonen und andererseits der Transformation von Komplexität in chronologisch-narrative Linearität den immer auch digressiven 7«cicharakter der narrativen Subjektkonstitution entgegenhalten. Gerade aufgrund ihrer Komplexität können die Geschichten des modernen Subjekts keinem »Faden« mehr folgen, sondern breiten sich in einer »unendlich verwobenen Fläche« aus (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. v. Adolf I'nse, Reinbek 1984, S. 650). Hume, A Treatise of Human Nature, S. 262. - Vgl. hierzu den Aufsatz von Aleida Assmann, »Die "Wunde der Zeit. Wordworth und die romantische Erinnerung«, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann, München 1993, S. 3 5 9 - 3 8 2 , zu Hume S. 3 7 1 - 3 7 3 . Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, in: Ders., Werke, hrsg. v. Horst Günther, Bd. 1, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1993, S. 120. - Bis in die Wortwahl hinein erinnert diese Passage an das bereits zitierte Quintilian-Verdikt zum or do artificialis.

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derte teleologische Zweckmäßigkeit nicht in der Sukzession, sondern allererst im vergleichenden Nebeneinander der anthropologischen Beobachtung für möglich hält: Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende ist überhaupt ein wichtiges Erforderniß des Menschenbeobachters, und dann die Uebung in der Nebeneinanderstellung des Successiven, weil der ganze Mensch blos aus successiven Aeusserungen erkant werden kan. Nun wird aber dasjenige in der Nebeneinanderstellung oft zur Harmonie, was einzeln genommen, mißtönen würde: dies trift auch bei dem Menschen ein. Welche Harmonie muß der höchste Verstand vernehmen, indem alles neben einander steht, und zugleich tönet, was uns auf einander zu folgen und einzeln zu tönen scheinet! etwas Aehnliches wird vielleicht einmal das Resultat von allen neben einander gestehen Bemerkungen des Menschenbeobachters sein.' 68

Zwar können Harmonie und Teleologie auch von einem anthropologisch beobachtenden Erzähler konstruiert werden. Doch das Erzählen bleibt dabei mehr als der systematisierende Blick des Seelenkundlers an die zeitliche Sukzession und damit nicht zuletzt an die identitätsgefährdende »Verschiedenheit eines Augenblicks von dem andern«109 gebunden. Neben dieser Diskontinuität aber gefährdet eine andere Erfahrung die Identität des Ich. Was Moritz nämlich bereits vor der Frühromantik registriert, ist die Medialität und Alterität des Subjekts, empiristischer gesagt: die Kopplung der Erfahrung ans Lesen: Ja nichts macht die Menschen wohl mehr unwahr, als eben die vielen Bücher. Wie schwer wird es dem Beobachter, unter all dem, was durch das Lesen von Romanen und Schauspielen in den Karakter gekommen ist, das Eigne und Originelle wieder hervorzusuchen! Anstatt Menschen, ο Wunder! hört man jetzt Bücher reden, und siehet Bücher handeln. 170

In Anlehnung an Humes berühmte Formulierung könnte man sagen, daß das Ich mitten in der Epoche der Subjekt- und Authentizitätsemphase als Bündel höchst unterschiedlicher Zitate erscheint: als bundle or collection of different quotations. Auch die teleologische Ausrichtung der Biographie, in deren zeitlichem Verlauf sich das Ich konstituieren soll, ist nichts anderes als ein solches Zitat.

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Karl Philipp Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde, in: Ders., Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch f ü r Gelehrte und Ungelehrte herausgegeben von Carl Philipp Moritz, hrsg. v. A n k e Bennholdt-Thomsen u. Alfredo Guzzoni, B d . 1, Lindau 1978. Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde. Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde.

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IV. Die »unendliche Verschiedenheit in den Begriffen«: Ordnungskonflikte in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon Ein epischer Dichter gleichet dem Schöpfer, in dessen Werke Alles voll Ursachen und Absichten ist. In einem epischen Gedichte darf so wenig Ungefähres sein als in der Welt; der kleinste scheinbare Z u f a l l muß seine Ursache und seinen Zweck haben. Christoph Martin Wieland, Abhandlung von den Schönheiten des epischen Gedichts »Der Noah«

i.

Einleitung

Nichts ist charakteristischer f ü r Christoph Martin Wieland als das gelehrte Erzählen in Anführungszeichen. Gerade der Kronzeuge der Blanckenburgschen Poetik führt vor Augen, daß die von den neuen Romanen geforderte »innre Geschichte eines Charakters« 1 nur im Medium des Zitats, also in der permanenten Entäußerung an literatur- und problemgeschichtliche Topoi, erzählt werden kann. Schon die Frühromantiker haben sich über diese mal mehr, mal weniger deutlich markierte Intertextualität bei Wieland lustig gemacht: Nachdem über die Poesie des Hofrath und Comes Palatinus Caesareus Wieland in Weimar, auf Ansuchen der Herren Lucian, Fielding, Sterne, Bayle, Voltaire, Crebillon, Hamilton und vieler andern Autoren Concursus Creditorum eröffnet, auch in der Masse mehreres verdächtige und dem Anschein nach dem Horatius, Ariosto, Cervantes und Shakespeare zustehendes Eigenthum sich vorgefunden; als wird jeder, der ähnliche Ansprüche titulo legitimo machen kann, hierdurch vorgeladen, sich binnen Sächsischer Frist zu melden, hernachmals aber zu schweigen.2 Z u denjenigen, die »ähnliche Ansprüche titulo legitimo machen« können, zählt unverkennbar auch der Ordnungs- und Kontingenztheoretiker Leibniz. Joseph Vogl hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Geschichtenerzählen im 18. Jahrhundert vor allem vor dem Hintergrund der Leibnizschen Philosophie gesehen werden muß: Wie diese die Welt der Tatsachen als kontingent definiert und dabei zugleich einen emphatischen Ordnungsanspruch erhebt, der zu Fragen der Darstellung und Poetik führt, so entfalten auch die Romane des 18. Jahrhunderts ihre Geschichten anhand kontingenter Ereignisse im »Gefüge der zufälligen Dinge« 3 und versuchen das scheinbare Chaos dieses Gefüges immer wieder in die narrative Ordnung eines »entwickelten Zusammenhangs«

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3

Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 390. Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 2.2, Darmstadt 1973, S. 340. Leibniz, Theodizee, Bd. 2.1, S. 217.

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zu überführen. 4 So gesehen ist auch die »hyperbolische Verdichtung des Zufälligen und schlechthin Kontingenten«, 5 die Vogl an Wielands Agathon beobachtet, nicht von dem ebenso hyperbolischen Ordnungsbegehren des Romans zu trennen. Dieses Begehren zielt zum einen teleologisch auf die von Leibniz geforderte »entknötung« 6 der aufgebotenen Zufälle und impliziert zum anderen ursprungslogisch einen quasi göttlichen Ort des Überblicks über die erzählte Welt kontingenter Ereignisse. Beides aber — die teleologisch-providentielle »entknötung« der Zufälle ebenso wie der erkenntistheoretisch bzw. narratologisch >sichere< Ort, der den Zusammenhang des Erzählten garantieren soll - wird bei Wieland zum Problem. In bezug auf den teleologischen Ordnungsanspruch ist sich die Forschung weitgehend einig darüber, daß Wielands Agathon an einer historischen Nahtstelle steht: Einerseits ist er im Zusammenhang der Entwicklung zu sehen, die auf die Formel vom »Ordnungsschwund« 7 und »Ende der Providenz«8 gebracht worden ist — und in deren Folge der Zufall als poetologischer Erfüllungsgehilfe der Vorsehung, wie er etwa für den Barockroman charakeristisch ist, zunehmend problematisch wird. Andererseits sind die traditionellen Providenzkonzepte im Sinne verfügbarer Vokabulare bei Wieland nach wie vor präsent, und es wird am »Zufall als sinnstiftende [m] Prinzip« 9 im Sinne eines erzähltechnischen Mittels, das die (wenn auch unwahrscheinliche) Konstruktion teleologischer Geschichten zu garantieren vermag, weiterhin festgehalten. Mehr noch: In Wielands Agathon wimmelt es nur so von erzählten Zufällen, weshalb sich auch die Forschung immer wieder mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Klaus Oettinger spricht in einer Studie zu Wielands Erzählpoetik davon, daß der Zufall »das fundamentale Prinzip der Ereignisstruktur« 10 im Agathon sei - allein das Wort taucht »rund fünfzig Mal«11 auf. Und in den Untersuchungen von Klaus-Detlef Müller 12 und Werner Frick,' 3 die sich der »Erzählfunktion des Zufalls« 14 vor allem aus literarhistorischer Perspektive widmen, nimmt Wielands Roman eine Schlüsselposition ein.

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9 Ic

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Vogl, K a l k ü l und Leidenschaft, S. 152. Vogl, K a l k ü l und Leidenschaft, S. 208. Brief von Leibniz an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, 26. April 1713, in: Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Dieter Kimpel u. Conrad Wiedemann, Bd. 1, S. 67. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. i j o f f . Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, Frankfurt am M a i n 1993, S. i 6 f f . Müller, »Der Z u f a l l im Roman«, S. 268. Klaus Oettinger, Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands, München 1970, S. 85. Oettinger, Phantasie, S. 87. Müller, »Der Z u f a l l im Roman«, S. 265-290. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 383-495. Müller, »Der Z u f a l l im Roman«, S. 268.

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Da das erklärte Ziel der Geschichte des Agathon darin besteht, die weltfremde Tugendhaftigkeit des Helden mit der Weisheit desjenigen zu vermitteln, der in der empirischen Welt Erfahrungen gesammelt und allerlei Prüfungen bestanden hat,15 steht der erzählte Zufall, so die These von Oettinger bis Frick, nicht im Widerspruch zur teleologischen Ordnung, sondern übernimmt selbst eine teleologisch bestimmte Funktion: Um seinen Helden die programmgemäßen Proben und Entwicklungsstationen durchlaufen lassen und ihn schließlich ans Ziel bringen zu können, ist sich der Roman keiner auch noch so unwahrscheinlichen Intervention des Zufalls zu schade. Im Gegenteil: Der Text plündert das Archiv der Zufallstopik regelrecht aus, wie sie etwa der Heliodorsche Roman bereitstellt. Im Rückgriff auf diese Topik allerdings geht Wielands Agathon insofern über die Tradition teleologischen Erzählens hinaus, als er dabei dem Leser gegenüber auf ironisch-selbstreflexive Weise mit offenen Karten spielt, weil ihm jede »erkenntnistheoretische Unschuld« 1 ^ bei der Verwendung von teleologisch bestochenen Zufällen abhanden gekommen ist. Wolfgang Kayser hat diesen ironischen Zug bereits an einem der maßgeblichen Subtexte von Wielands Agathon beobachtet — an Henry Fieldings Tom Jones·. »Fielding«, so Kayser, beschwört wohl die blinde Göttin Fortuna als Lenkerin, aber das ist Ironie: im ganzen modernen Roman wird der nun nicht mehr transzendent bezogene Zufall zu einer bestimmenden Macht des Seins, gehört er zu den Konventionen, die Autor und Leser heimlich miteinander geschlossen haben.' 7

Diese ironische Seite ist jedoch nur die halbe Wahrheit: So sehr Wielands Agathon den obligatorischen Einsatz erzählter Zufälle nur noch ironisch betreiben kann, weil ihm diese im Zuge moderner Plausibilitätansprüche eben nicht mehr selbstverständlich als »Fügungen göttlicher Allmacht«, 18 sondern nur noch als narrative Konstrukte erscheinen, so unironisch — und mit moralphilosophischem Ernst — hält Wielands Roman andererseits an der teleologischen Ordnung seiner Geschichte fest. Auch die spielerischste Ironie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich das teleologische Erzählmodell einerseits und die Plausibilitäts- bzw. Wahrscheinlichkeitsansprüche ans Erzählen andererseits mit ihrer jeweiligen Ordnungsemphase unversöhnlich gegenüberstehen.

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Ziel des Romans ist in den Worten von Frick ein »Balanceverhältnis von moralischer >Glückswiirdigkeit< und tatsächlicher >Glückseligkeit«< (Frick, Providenz und Kontingenz, S. 401). Oder als Frage formuliert: »Ist es möglich, den Entwicklungsroman zu schreiben, dessen Held den G e w i n n theoretischer Einsicht und eines realistischeren Selbst- und Weltverhältnisses nicht mit der Enttäuschung und schließlich mit der Preisgabe seiner moralisch-normativen Intentionen bezahlen muß?« (Frick, Providenz und Kontingenz, S. 432). Frick, Providenz und Kontingenz, S. 500. Kayser, »Anfänge des modernen Romans«, S. 434. Martinez/Scheffel, E i n f ü h r u n g in die Erzähltheorie, S. m . 71

Die hieraus resultierende Ambiguität zeigt sich nicht nur am teleologischen Erzählproblem der ersten Fassung von 1766/67, sondern insbesondere daran, daß dieses Erzählproblem zu zwei weiteren Fassungen und in der dritten von 1794 bezeichnenderweise zu einem ganz anderen Schluß führt. Im Unterschied zur etablierten Wieland-Forschung spiele ich deshalb nicht die Fassungen gegeneinander aus oder integriere sie ihrerseits in eine Teleologie des Wielandschen Gesamtwerks. Vielmehr versuche ich, insbesondere die erste und dritte Fassung in ihrem gleichberechtigten Nebeneinander anzuerkennen. Werner Frick bevorzugt beispielsweise den Schluß der ersten Fassung, weil ihr »reflektierte [s] Scheitern« raffinierter und doppelbödiger als das versöhnliche Ende der »insgesamt recht dogmatischen Finalvariante von 1794« ist.19 Joseph Vogl und David Wellbery20 hingegen favorisieren, als verstünde es sich von selbst, eindeutig die dritte Fassung: Ganz im Sinne des Vorberichtfs] zu dieser neuen Ausgabe gehen sie davon aus, daß »dem moralischen Plane des Werkes durch den neu hinzu gekommenen Dialog zwischen Agathon und Archytas [...] die Krone« aufgesetzt worden sei (591).21 Den weisen Archytas erklärt Vogl gar zur »arche dieses Romans«,22 womit die vom Text programmatisch behauptete Verbindung von Teleologie und Archie auch literaturwissenschaftlich abgesegnet wird. Mit solchen Hierarchien zwischen den Fassungen verpaßt man jedoch das von Wielands Agathon-Roman(en) inszenierte Teleologie-Problem. Die Notwendigkeit des neuen Schlusses ist gerade nicht Ausdruck der Lösung, sondern der Hartnäckigkeit des Problems. Gegen die hermeneutischen Reduktionismen der Forschung ist einerseits daran zu erinnern, daß das Begehren nach Ordnung nicht mit der Präsenz einer bestimmten Ordnung verwechselt werden darf. Das für Wieland typische Erzählen in Anführungszeichen setzt eben auch die noch so begehrte teleologische Ordnung immer wieder in Anführungszeichen: Sie ist nicht mehr als ein verfügbares Zitat, ein Vokabular, dessen sich der Diskurs zur Konstruktion seiner Geschichte bedient. Und gerade dadurch, so meine These, daß die Herbeiführung des Endes nicht mehr als Manifestation einer in der Welt wirkenden und garantierten Providenz inszeniert wird, sondern als prinzipiell auch anders mögliche Setzung des Textes erscheint, wird das Ende selbst, von dem her sich die Kontingenzen der vorangegangenen Geschichte in Notwendigkeit verwan-

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Frick, Providenz und Kontingenz, S. 485. David E . Wellbery, »Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)«, in: Das Ende. Figuren einer Denkform, hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1996, S. 600—639. Ich zitiere im folgenden sowohl die erste Fassung von 1766/67 als auch den neuen Schluß der dritten Fassung von 1794 mit Seitenangaben in Klammern nach Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, hrsg. v. Klaus Manger, in: Ders., Werke, hrsg. v. GonthierLouis Fink u.a., Bd. 3, Frankfurt am M a i n 1986. Vogl, K a l k ü l und Leidenschaft, S. 218.

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dein sollen, mit dem Index der Kontingenz versehen. Andererseits besteht das Besondere von Wielands Agathon gerade darin, daß es der Roman im Sinne der Lesarten von Wellbery und Vogl auch teleologisch ernst meint. Wie die unterschiedlichen Romanfassungen mit ihren Erzählstrategien und Schlüssen die ontologische Kontingenz jeder teleologischen Ordnung vor Augen führen, so wird die Zerreißprobe, die das für den Text selbst bedeutet, überhaupt nur verständlich, wenn man sein teleologisches Ordnungsbegehren nicht gleich auf ein allzu aufgeklärt-ironisches Spiel reduziert, das jede Sehnsucht nach ontologischen Fundierungen und metaphysischen Gewißheiten souverän hinter sich gelassen hat. Ähnliches gilt für das Begehren nach einem verläßlichen Ursprung. Mit der teleologischen Ordnung von Wielands Agathon steht nicht nur, wie zu sehen sein wird, die Identität des Helden, sondern auch die Identität des Erzählers und damit die narrative Ordnung der Archie in Frage. Nicht zufällig wird das teleologische Erzählen bei Blanckenburg ganz im Leibnizschen Sinne ontologisch fundiert und der Erzähler als archimedischer Punkt in Analogie zum Schöpfer-Gott gesetzt, der als unbewegter Beweger das »Ganze übersehend und daher auch das Ziel der erzählten Geschichte verbürgen kann. Worin aber besteht dieser archimedische Punkt im Agathon, wenn sich der Text einer medialen Filiationsgeschichte verdankt, die von einer »Art von Tagebuch« — »(sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon« - über die Abschrift durch einen »Freund zu Crotona« bis hin zum Manuskript eines »ungenannte[n] Verfasser[s]« (38) und schließlich zur Herausgabe der vorliegenden Geschichte des Agathon reicht? Neben dem Herausgeber/Erzähler sind also bereits in der ersten Fassung unterschiedliche Stimmen präsent, die zu einer »Aufspaltung der Erzählfunktion«24 führen. Hinzu kommt in der dritten Fassung noch die Stimme des überarbeitenden, vermeintlich reiferen Herausgebers. So gesehen erfaßt die ontologische Kontingenz nicht nur das teleologische Erzählen, sondern auch den Ursprung dieses Erzählens selber. Wo alles aus zweiter Hand stammt, hat die vermeintliche arche ihre ursprüngliche Autorität immer schon verloren. Und doch gilt es auch hierbei, die Rechnung nicht ohne den Ernst zu machen, mit dem im Agathon Ursprung und Identität zugleich machtvoll in Szene gesetzt werden. Wie bei der Teleologie hat auch bei der Ordnung der Archie immer noch die Leibnizsche Metaphysik ihre mächtigen Finger im Spiel. Der Fahrplan der Textanalyse ist damit bereits grob skizziert: Im Zentrum wird — nicht zuletzt als Einführung in die Arbeit insgesamt — eine Art Phänomenologie des erzählten Zufalls und das Problem der teleologischen »entknötung« stehen. Vor allem die erste Fassung von Wielands Roman, so

24

Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 313. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 4 S j { { .

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meine These, ist Ausdruck eines ausgeprägten Kontingenzbewußtseins im Sinne ironischer Selbstreflexion der erzählerischen Ordnungen). Im Zuge dieser Reflexion wird aber auch, wie zu sehen sein wird, die Instanz der auktorialen Setzung selbst ursprungskritisch eingeklammert. Der Schluß der dritten Fassung nimmt das ironische Bewußtsein für die Künstlichkeit der eigenen Erzählarrangements zwar weitgehend zurück und inszeniert sich als notwendige Krönung des ursprünglichen Plans. Doch vor dem Hintergrund der ersten Fassung wird ersichtlich, daß der Schluß der dritten Fassung lediglich eine andere Möglichkeit des Endens darstellt.

2.

Zufall und Geschichte

Innerhalb der aristotelischen Poetik ist die Geschichtsschreibung der Ort narrativer Kontingenz.25 In Geschichtswerken wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d.h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus ergäbe. 16

Anders die Dichtung, die für Aristoteles deshalb »etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung« darstellt, weil sie nicht das »Besondere« bzw. »wirklich Geschehene« mitteilt, sondern das »Allgemeine«: »das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche«.17 Wichtigstes Kriterium für diese Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit ist die Einheit der Handlung, 28 d.h. eine Handlung, die zum einen die richtige Größe bzw. Ausdehnung hat19 und die zum anderen »Anfang, Mitte und Ende« aufweist, also aus (kausal bzw. teleologisch angeordneten) Ereignissen besteht. Im Unterschied zur Geschichtsschreibung (oder zur schlechten episodischen Dichtung) sollen diese Ereignisse nicht »in wechselseitiger Unabhängigkeit

25

26 27 28 19

Z u m Begriff der Kontingenz innerhalb der Historiographie vgl. allgemein A r n d H o f f m a n n , Z u f a l l und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt am M a i n 2005. Aristoteles, Poetik, S. 77 (1459a; Hervorh. S.M.). Aristoteles, Poetik, S. 29 (i45ia-i45ib). Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 27ff. (1451a) Die »Anschauung« der Handlung »verwirrt« sich nämlich oder ist in ihrer Gedächtnisleistung überfordert, wenn der Gegenstand der Handlung zu klein oder zu groß, d.h. unübersichtlich ist (vgl. Aristoteles, Poetik, S. zjff.; i45ob-i45ia).

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und durch Zufallgemischtenromanhaft< geht es im folgenden zur Sache: Agathon wird nachts von »jungen Thracischen Weibern« (23), die ein Bacchus-Fest feiern, aus dem Schlaf gerissen und beinahe das Opfer ihrer Ekstase; wie es das Schicksal (oder der Erzähler) will, tauchen plötzlich Seeräuber auf und bringen Agathon auf ihr Schiff, w o Agathon zufällig seine verlorene Jugendliebe Psyche wiederfindet und wieder verliert, nachdem sie ihm ihre Geschichte erzählt hat; schließlich wird er in Smyrna als Sklave an den Sophisten Hippias verkauft. Schon das erste Buch des >Agathon< widerspricht sogleich der im >Vorbericht< entworfenen Poetik einer wahrscheinlichem Geschichte. Hatte sich nämlich der apologetische Ton des >Vorberichts< [...] gegen die >barockenGeschichte des Agathon< dagegen mit genau den [...] Erzählformen, für deren Ablehnung der Erzähler die Leser gerade noch einzustimmen schien: Wechselhafte Schicksalsfälle und überraschende Szenenwechsel [...], Schiffsfahrten [...], nachgeholte Vorgeschichten [...], sowie Vereinigung und Trennung der Liebenden [...] entwerfen ein Szenario, das den traditionellen Handlungsmustern des >hohen< höfischen Romans entlehnt 1st.50 Schaut man sich den Vorbericht genauer an, erkennt man, daß auch hier bereits alles im Zeichen des ironischen Spiels mit romanpoetologischen Topoi steht, bei dem weit und breit kein abschließendes Vokabular in Sicht ist. Im Rahmen der Herausgeberfiktion ist diese poetologische Ironie insofern selber bereits ein Topos, als beispielsweise schon bei dem im Agathon vielfach zitierten Don Quijote die Herausgeber- und Geschichtsfiktion in ihrer Wahrhaftigkeitsrhetorik51 dadurch ironisiert wird, daß das Manuskript, auf das sich der Herausgeber beruft, von einem arabischen Verfasser stammt und ausgerechnet »das Lügen eine besondere Eigentümlichkeit« der Araber ist. 51

s

° Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 98. »[...] der Geschichtsschreiber muß und soll genau, wahrhaftig und nie leidenschaftlich sein; weder eigensüchtige Zwecke noch Furcht, weder Groll noch Zuneigung dürfen ihn vom Weg der Wahrheit abbringen, deren Mutter die Geschichte ist, die Nebenbuhlerin der Zeit, Aufbewahrerin der Taten, Zeugin der Vergangenheit, Vorbild und Belehrung der Gegenwart, Warnung der Zukunft« (Miguel de Cervantes Saavedra, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, München 1986, S. 79). Auch bei dieser poetologischen Passage handelt es sich um das Zitat eines antiken Klassikers; Cervantes zitiert aus Ciceros De oratore (vgl. Hemmerich, Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 24): »Und die Geschichte vollends, die vom Gang der Zeiten Zeugnis gibt, das Licht der Wahrheit, die lebendige Erinnerung, Lehrmeisterin des Lebens, Künderin von alten Zeiten, durch welche Stimmen, wenn nicht die des Redners, gelangt sie zur Unsterblichkeit« (Cicero, De oratore, II, 36, S. 229). 52 Cervantes, Don Quijote, S. 79. 51

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Bereits der erste Satz des Vorberichts von Wielands Agathon ist als Aufforderung zu verstehen, der Rhetorik des Herausgebers zu mißtrauen. Ausgerechnet nämlich die »Wahrscheinlichkeit« spricht dagegen, »das Publicum überreden zu können«, daß die Geschichte »in der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei« (n). Zwar impliziert die Logik der Herausgeberfiktion, daß ein solches Manuskript existiert, weil nur so die historische Glaubwürdigkeit des Erzählten garantiert werden kann. Entscheidender aber als »gerichtlich[e]« Beweise dafür, daß die Geschichte »in den Archiven des alten Athens gefunden worden sei«, ist das anthropologisch Allgemeine des Erzählten, das bei allem Sinn fürs Besondere und Individuelle »die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft« zum Gegenstand haben soll (n). Statt also auf die Frage nach der historischen Quelle weiter einzugehen, die ja durch die behauptete Herausgeberschaft allererst nahegelegt wird, weicht der Herausgeber ganz traditionell auf die aristotelische Bestimmung der Dichtung aus, die im Gegensatz zur Geschichtsschreibung aufs Allgemeine zielt. Da es »nicht die Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche«,53 fordert der Herausgeber, alles so zu dichten, »daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde« (12). Was dann allerdings überhaupt nicht zu Aristoteles' Auffassung von Dichtung (und der damit verbundenen Abwertung der Geschichtsschreibung) paßt, ist der klassische Anspruch des Herausgebers, daß »keine Hirngespenster für Wahrheit« verkauft werden (12). Plötzlich wieder der Logik einer an historischen Quellen orientierten Herausgeberschaft folgend, betont der Herausgeber seine Wahl Agathons als Charakters der Geschichte damit, daß er ihn »am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat«, und kann aus diesem Grunde [...] ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von jeher viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen haben. (12)

Unverkennbar ist in Passagen wie diesen die nacharistotelische Aufwertung des Historischen am Werk. Die Argumentation des Herausgebers ist also schlicht inkonsistent. Daß diese Inkonsistenz Folgen hat, wird an der Beteue-

55

Aristoteles, Poetik, S. 29 (1451a).

8l

rung der eigenen Zuverlässigkeit deutlich: Damit der Herausgeber einer im »Wesentliche[n]« (12) historischen Geschichte als zuverlässig gelten kann, müßte er eigentlich über gesicherte Quellen verfügen. Die Frage nach den Quellen hat der Herausgeber aber zuvor gerade dadurch beiseite geschoben, daß er auf Aristoteles ausgewichen ist: Weil auch der beste Gerichtsbeweis zur Existenz eines Manuskripts noch nichts darüber aussagt, wie gut, d.h. wahr und nützlich, die im Manuskript erzählte Geschichte ist, kann man sich alle historische Rechenschaft sparen und »dem Leser [...] überlassen, davon zu denken, was er will« (11). Zwar ist der Herausgeber dafür, daß er »am besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen« (11), ganz schön geschwätzig. Die historische Rechenschaft aber, auf die es durch die Aufwertung der Geschichtsschreibung ankäme, wäre diese Aufwertung ernst gemeint, wird verweigert. Von Zuverlässigkeit — im Sinne einer gesicherten und transparenten Quellenlage — kann somit keine Rede sein.54 Zudem wird ironischerweise in Aristoteles' Poetik ausgerechnet der Tragödiendichter Agathon als Beispiel dafür genannt, daß in der Dichtung die Namen der Figuren durchaus »in derselben Weise frei erfunden« sein können »wie die Geschehnisse«.55 Auch der folgende Rekurs auf Aristoteles ist mit gravierenden Brüchen in der Argumentation verbunden. Die immer wieder unwahrscheinlich wirkenden Reaktionen seines Helden vorwegnehmend — und damit implizit auch die Unwahrscheinlichkeit der Zufälle, denen Agathon ausgesetzt ist —, schreibt der Herausgeber: Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit unwahrscheinlichere D i n g e begegnen, als der Chevalier de M o u h y selbst zu erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe, wie er. (12)

Schon in Aristoteles' Poetik taucht diese paradoxe Argumentationsfigur auf und wird dort ausgerechnet dem Namensgeber des Wielandschen Helden in den Mund gelegt: Niemand anderes als der griechische Tragödiendichter Agathon hat die Wahrscheinlichkeit dessen betont, »daß sich vieles gegen die

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55

In der zweiten und dritten Fassung wird die historische Rechenschaft zwar nachgeholt. Die zusätzliche Vorrede Über das Historische im Agathon landet jedoch bezeichnenderweise nicht bei historischen Fakten, sondern bei der Literatur: »Was die in dieser Geschichte vorkommenden Personen, und zwar fürs erste den Agathon selbst betrifft, so müssen wir unverhohlen gestehen, daß man ihn vergebens in irgend einem Geschichtschreiber suchen würde. Gleichwohl finden wir unter den Freunden des Sokrates einen Agathon, der einige Grundzüge zu dem Bilde unsers Helden hergegeben haben könnte. [...] Wiewohl nun dieser historische Agathon einige Züge zu dem Charakter des erdichteten geliehen haben mag, so ist doch gewiß, daß der Verfasser das eigentliche Modell τα dem letztern in dem Ion des Euripides gefunden hat« (j78f.). Aristoteles, Poetik, S. 31 (1451b). 82

Wahrscheinlichkeit abspielt«.56 Gegen den poetologischen Topos der Kritik an narrativer Kontingenz, der im 18. Jahrhundert als Kritik am barocken Erzählen reformuliert wird, wird bei Wieland also ein anderer Topos aufgeboten: der von der unwahrscheinlichen WahrscheinlichkeitΡ Indem aber dieser poetologische Verteidigungstopos narrativer Kontingenz zitiert wird, öffnet sich das scheinbar abschließende Vokabular des Verteidigers und handelt sich dabei gefährliche offene Flanken ein. Erstens nämlich ist das Argument der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit in Aristoteles' Poetik lediglich für einen einzigen neuralgischen Punkt reserviert: für das poetologische Problem der Peripetie. Nur an diesem (teleologisch entscheidenden) Umschlagpunkt, an dem »die Dichter in erstaunlichem Maße [erreichen], was sie erstreben, d.h. das Tragische und das Menschenfreundliche«,'8 ist die Konstruktion unwahrscheinlicher Fälle erlaubt. Davor aber, dort also, wo es um »Verknüpfung«59 und nicht um einen singulären Umschlagpunkt geht, hat das Unwahrscheinliche nichts verloren. Der inflationäre Gebrauch des Zufalls im Laufe der »Charakter«-Geschichte und das wiederholte Vorkommen unwahrscheinlicher Handlungen und Reaktionen des Helden sind gerade nicht mit Aristoteles zu rechtfertigen. Zweitens geht der argumentative Rückgriff auf Aristoteles auch an dieser Stelle mit der Unvereinbarkeit zweier poetologischer Konzepte einher. Einerseits nämlich beruft sich der Herausgeber grundsätzlich auf den aristotelischen Begriff der Wahrscheinlichkeit, wenn er die »Wahrheit« der folgenden Geschichte damit begründet, »daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme« (n): »Das ist die Wahrscheinlichkeit der Aristotelischen Poetik, wonach die Dichtung der Sphäre des Gesetzmäßigen und der Ursachen nähersteht als den Singularitäten, die die Historie berichtet«.60 Wenn der Herausgeber aber zu seiner Verteidigung auf das Unwahrscheinliche »im menschlichen Leben« verweist, koppelt er andererseits die »Wahrheit des Charakters« (12) an eben diese Singularität des historischen Ereignisses, das die Wahrscheinlichkeit der Dichtung korrigiert. Auf engstem Raum nimmt der Herausgeber also die entgegengesetzten Positionen der aristotelischen Wahrscheinlichkeitsdebatte für sich in Anspruch. Wahr ist danach sowohl das Wahrscheinliche wie das Unwahrscheinliche. Keine Paradoxie, sondern einfache Inkonsistenz.61

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58 59

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Aristoteles, Poetik, S. 59 (1456a). Vgl. hierzu Rüdiger C a m p e , Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2 0 0 2 , S. 309—343. Aristoteles, Poetik, S. 59 (1456a). »Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. [...] Unter Verknüpfung verstehe ich den A n f a n g bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht [...]« (Aristoteles, Poetik, S. 57; 1455b). Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 323. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 323.

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Drittens schließlich ist die Argumentationsfigur vom unwahrscheinlichen Wahrscheinlichen bereits bei Aristoteles höchst prekär. Denn was Aristoteles' Poetik bei der Peripetie zugesteht, kritisiert die Rhetorik, in der das AgathonZitat ebenfalls auftaucht, als Scheinargument·. Ebenso gibt es in der Rhetorik scheinbare Enthymeme durch die Unterstellung, etwas sei nicht ein absolut Wahrscheinliches sondern ein spezielles Wahrscheinliches. Dieses aber kann nicht den Anspruch des Allgemeingültigen [...] erheben, wie ja auch Agathon sagt: Wohl kann man sagen: wahrscheinlich sei gerade dies, Daß Menschen vieles Unwahrscheinliche geschieht. Es ereignet sich nämlich etwas, was dem Wahrscheinlichen zuwiderläuft, so daß folglich das Wahrscheinliche auch gleich dem ist, was dem Wahrscheinlichen zuwiderläuft. Verhält es sich aber so, dann ist auch das Nicht-Wahrscheinliche wahrscheinlich, jedoch nicht absolut, sondern wie in den sophistischen Reden das Weglassen des Worin, des Wozu und des Wo die falsche Ausage bewirkt, so auch hier, daß etwas nicht absolut dem Wahrscheinlichen zuwiderläuft, sondern einem speziellen Fall von Wahrscheinlichkeit/ 2 Die Ironie dieses Zitats liegt darin, daß sie den Herausgeber als Sophisten enttarnt - und damit in die Nähe der später auftretenden Romanfigur Hippias rückt, von der sich der Herausgeber eigentlich entschieden distanziert: Leute, die aus gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu gründe richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der Menschen damit angesteckt werden könnte. (i4f.; Hervorh. S.M.) Der Trugschluß von der speziellen Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen auf die allgemeine Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen wird innerhalb der aristotelischen Rhetorik als scheinbares Enthymem63 klassifiziert. Da das Schlußverfahren der Enthymeme nach Aristoteles insbesondere für die Beweisführung in Gerichtsreden relevant 1st,64 läßt sich der Vorbericht

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63 64

Aristoteles, Rhetorik, übers, v. Franz G . Sieveke, 5., unveränd. Aufl., München 1995, S. 161 (1402a). Vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 157ft. (i40ia-i402a). Vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 216 (1417b).

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insgesamt als ironische Simulation einer poetologischen Gerichtsverhandlung lesen, bei der das romanhafte Erzählen über sich selbst zu Gericht sitzt. Die Anklagepunkte lauten: antiaristotelische Unwahrscheinlichkeit einerseits, unaufgeklärte »Hirngespenster«-Geschichten andererseits. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, daß sich an die Passage vom unwahrscheinlichen Wahrscheinlichen eine weitere »Art Syllogismus« 6 5 anschließt: Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe, (nf.; Hervorh. S.M.) Allein die Unmöglichkeit des Gegenbeweises also spricht dafür, daß der Herausgeber die Wahrheit sagt und Agathon tatsächlich so gedacht oder gehandelt hat. Was jedoch durch die Wenn-dann-Struktur des Satzes eine logische Schlußfolgerung suggeriert, folgt zum einen allein der juristischen Konvention des in dubio pro reo, und zum anderen ist die Prämisse inhaltlich unvereinbar mit der Konklusion: Während die Prämisse erneut aristotelisch auf »das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« verweist, 66 ist die Konklusion unvermittelt erneut beim historisch Wirklichen gelandet. Zwar gesteht Aristoteles zu, daß sich die »Dichter an die Namen von Personen [halten], die wirklich gelebt haben«, weil »im Falle des wirklichen Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist«. 67 Im Hinblick auf das Allgemeine der Dichtung kommt es jedoch auf das Mögliche an — unabhängig davon, ob es auch wirklich (geworden) ist. Abgesehen davon besteht das Trügerische des Enthymems darin, daß der Herausgeber, der sich in der Konklusion plötzlich als »Verfasser« bezeichnet (13), einen unerlaubten Umkehrschluß vornimmt: Nach Aristoteles ist zwar alles Wirkliche auch möglich, das Mögliche ist jedoch nicht notwendigerweise auch wirklich.

2.2 Ordnung im Plural Die in solchen ambivalenten Konstruktionen sichtbar werdende »Fragilität und Künstlichkeit der im Roman produzierten Sinnhorizonte«, 68 zu denen die aristotelische Poetik ebenso wie das pragmatische Erzählen gehört, wer-

65 66 67 68

Aristoteles, Rhetorik, S. 141 (1395b). Aristoteles, Poetik, S. 29 (1451a). Aristoteles, Poetik, S. 31 (1451b). Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 103.

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den auch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder vorgeführt. Wie im Vorbericht unvereinbare poetologische Konzepte aufeinanderprallen und die permanent zitierende >Predigt< des Herausgebers sich mit ihren eigenen Zitaten ironisiert, verhindert die »perspektivische Unruhe des Textes«69 auch im folgenden jede Hypostasierung einer Ordnung. So gesehen ist das eigentliche Thema des Romans die ontologische Kontingenz der symbolischen Ordnungen und Vokabulare, auf die der Text im Vollzug seiner Narration zurückgreift, um sich selbst zu konstituieren. Mit Werner Hamacher könnte man diese Selbstkonstitution emphatisch als Artikulation historischer Kontingenz verstehen, wie sie nur die Literatur zu leisten vermag. Denn »eben darin artikulieren« literarische Texte im Unterschied zur Geschichtsschreibung ihre Geschichtlichkeit, daß sie die Form ihres Sprechens und die Beziehung zu ihrer eigenen Vorgeschichte als kontingent exponieren. Sie sprechen - oft genug ausschließlich — davon, daß sie auch anders und daß sie auch nicht hätten sein können. Sie sind Instanzen einer Wirklichkeit, die sich nicht in ihrer Positivität des Vorhandenen, und Einbruchsteilen einer Möglichkeit, die sich nicht in der Idealität des Notwendigen erschöpft. 70

Mit Michael Scheffel könnte man Wielands Agathon auch als einen typisch >modernen< Roman lesen, in dem sich der »für den Beginn der Neuzeit charakteristische[ ] Prozeß der >Kunstwerdung der Künste< [realisiert und reflektiert]«, wobei >Kunstwerdung< zum einen die »Befreiung vom Wahrheitskriterium historischer Faktizität« und zum anderen die »Ablösung vom Gebot der Nachahmung einer metaphysisch-providentiell geordneten Wirklichkeit« bedeutet.71 Doch sowohl bei Hamachers emphatischem Literaturbegriff als auch bei Scheffels (teleologischer) Emanzipationsgeschichte gerät die Ambivalenz von Wielands Text aus den Augen: Die »Idealität des Notwendigen« ist eben nicht nur für die Geschichtsschreibung, sondern auch für die teleologischen Erzählstrategien der europäischen Romantradition kennzeichnend, und die Abkehr von der »Nachahmung einer metaphysisch-providentiell geordneten Wirklichkeit« ist nicht gleichzusetzen damit, daß die alten metaphysischen Ordnungskonzepte der Harmonie, Archie und Teleologie ihre narrative Funktion verlieren. Daß sich Wielands Agathon nicht einfach auf die Seite der Kontingenz schlägt, zeigt sich gerade an der »hyperbolische[n] Verdichtung des Zufälligen und schlechthin Kontingenten«,72 die für die histoire des Romans so charak69 70 71

72

Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 103. Hamacher, »Über einige Unterschiede«, S. 14. Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997, S. 119. Vogl, K a l k ü l und Leidenschaft, S. 208.

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teristisch ist. Chronologisch beginnt der hyperbolische Rückgriff auf erzählte Zufälle damit, daß Agathons Vater zufällig Musarion, Agathons Mutter, kennenlernt (vgl. 250). Da das gemeinsame Kind geheim gehalten werden muß und die Mutter frühzeitig stirbt, wird Agathon als Kind vom Vater in die Obhut des Tempels zu Delphi gegeben. Nach seiner Flucht aus Delphi gelangt Agathon durch »Zufall oder eine mitleidige Gottheit nach Corinth« (243), wo er unverhofft seinem Vater begegnet. Durch »einen Zufall« wird Agathon in Athen »in die öffentlichen Angelegenheiten verwickelt« (36). Als er, aus Athen verbannt, nach Indien zu reisen versucht, hindern ihn natürlich - damit setzt die Romanhandlung zu Beginn des discours ein — »Zufälle« daran (287): Den »Zufällen des widrigen Glücks« (21) ausgesetzt, wird er beinahe von »thracischen Mänaden zerrissen«, doch die »Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle leiten«, bringen »ein Mittel seiner Errettung« herbei (26) — Agathon gerät in die Hände Cilicischer Piraten (vgl. 26). Zufällig befindet sich Psyche auf dem Schiff, die Geliebte aus Delphi, die ihrerseits durch einen Sturm auf eine Cycladen-Insel verschlagen worden ist (vgl. 34),73 Die zufällige »Zeitung« (37) eines reich beladenen Schiffes veranlaßt die Seeräuber schließlich, Agathon — ohne Psyche — auf einer Barke nach Smyrna zu bringen, wo er als Sklave verkauft werden soll. Auf der Fahrt gibt es keine weiteren Zwischenfälle. Erst am Ende der Smyrna-Handlung kommt Agathon wieder ein »unverhoffter Zufalll« zu Hilfe (334): Agathon trifft einen Kaufmann aus Syracus, den er von Athen her kennt und der bereit ist, Agathon nach Syracus mitzunehmen. Die Fahrt nach Sizilien wird erneut »durch keinen widrigen Zufall beunruhiget« (340). Allerdings wird die für das Scheitern von Agathons politischen Ambitionen entscheidende Wende des Hof-Theaters in Syracus durch einen »von diesen kleinen Zufällen« eingeleitet (465): Der Herrscher Dionysius verliebt sich ausgerechnet in Cleonissa, die insgeheim auf eine Gelegenheit wartet, sich für Agathons Verschmähung ihrer Reize zu rächen. Das Finale in Tarent steht am Ende dann ganz im Zeichen zufälliger Wiederbegegnungen: Durch einen Schlag mit der erzählerischen »Zauberrute« (532) betritt Psyche, die mittlerweile mit einem Sohn des Archytas verheiratet ist und sich überdies als Agathons Schwester entpuppt, erneut die erzählerische Bühne. Den Cicilischen Seeräubern ist sie natürlich mit Hilfe des Zufalls, und zwar wieder einmal in Gestalt eines Sturms, entkommen (vgl. 533). Und Agathon selbst wird durch ein zufälliges Unwetter »eines der glücklichsten Abenteuer« zuteil, »das unserm Helden jemals zugestoßen ist«

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In Aristoteles' Metaphysik wird der Zufall bekanntlich ebenfalls am Beispiel von Sturm und Gefangennahme erläutert: Jemand kommt nicht deshalb nach Aigina, »weil er hinkommen wollte, sondern vom Sturme verschlagen oder von Räubern gefangen« wird (Aristoteles, Metaphysik, Buch VI, S. 246-249; 1025a, 14-34). Vgl. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen, in: Ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1996, S. 117-139, hier S. 119.

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(541): In einem Landhaus Schutz suchend, trifft er die von ihm in Smyrna verlassene Danae wieder. Auffällig ist, daß der Zufall besonders massiv am Anfang des Romans und im abschließenden Tarent-Abschnitt eingesetzt wird. Innerhalb der Smyrnaund Syracus-Episode spielt der Zufall keine bedeutsame Rolle. Nur zwischen diesen beiden Stationen wird auf den Zufall zurückgegriffen, damit der Held vom einen Schauplatz zum anderen wechseln kann. Gleiches gilt für den Anfang: Auch hier hat der Zufall eine Art Scharnier- oder Schalterfunktion inne, mittels derer auf die folgende Station umgeschaltet wird. Hat der Zufall diese Funktion erfüllt, ist Agathon also auf den richtigen Weg gebracht, kann die »Zauberrute« (532) der narrativen Kontingenz vorerst wieder eingepackt werden. Der Text betont den Verzicht auf den Zufall regelrecht an den Stellen, an denen Agathon in der Barke nach Smyrna und auf dem Schiff des Kaufmanns in Richtung Syracus unterwegs ist. Werner Frick hat insofern ganz zu Recht darauf hingewiesen, daß insbesondere an den »Gelenkstellen der Handlung immer wieder äußerst konventionelle Zufallsarrangements bemüht« werden.74 Die narrative Verknüpfungsarbeit wird also in erster Linie mit Hilfe erzählter Zufälle geleistet. Die Erzählkonvention, auf die am Anfang des Romans zurückgegriffen wird, ist die des Heliodorschen Abenteuerromans. Mit seinen überraschenden Wendungen und Zufällen ist das poetologische Vokabular des Heliodorschen Abenteuerromans ein metaphysisches Ordnungsmodell par excellence, das mit dem Anspruch auftritt, die chaotische Kontingenz der erzählten Ereignisse am Ende providentiell aufzulösen. Der Rückgriff auf dieses wirkungsmächtige Vokabular der Spätantike erfolgt allerdings im 18. Jahrhundert — wie schon im Barock — mittels christlicher Providenzkonzepte. Das entscheidende Bindeglied zwischen den antiken und neuzeitlichen Erzähldiskursen ist die Leibnizsche Theodizte. Was Leibniz' Theodizee in die Nähe des Heliodorschen Abenteuerromans rückt, ist die optimistische Verbindung von Kontingenz und Providenz. Die Garantie, daß sich alles zum Besten wendet, steht auch bei Leibniz gerade nicht im Widerspruch zum hyperbolischen Zufall. Wie die Welt bei Heliodor und im höfischen Roman des Barock der Willkür Fortunas unterworfen ist, so ist die Welt bei Leibniz als Reich der Tatsachenwahrheiten grundsätzlich mit dem Index der Kontingenz versehen. Und wie bei Heliodor am Ende doch nichts schiefgehen kann,75 so hat auch für Leibniz

74 75

Frick, Providenz und Kontingenz, S. 446. »Obwohl sie das meiste von dem, was gesprochen wurde, nicht verstanden hatten, errieten sie die Zusammenhänge aus dem, was ihnen schon von Chariklea bekannt war, oder der Wille der Götter, der so wunderbar den Knoten gelöst, ließ sie die Wahrheit erkennen. Hatte er doch die stärksten Gegensätze miteinander ausgesöhnt, Freude und Leid vereint, Lachen und Weinen vermischt und tiefstes Unglück in ausgelassenen Jubel verwandelt« (Heliodor, Die Abenteuer der schönen Chariklea, übers, v. Rudolf Reymer, München 1990, S. 305).

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die Kette der >Zufälle< [...] im Ablauf der Welt [...] ihre einmalige Gewißheit, sie bleibt angelegt und aufgehoben im göttlichen Plan der optimalen Welt. Unter dem Gebot der Theodizee zeigen sich auch die kontingenten — die geschichtlichen - Ereignisse als notwendig, nicht notwendig im Sinne eines geometrischen Beweises, sondern als necessaire ...ex hypothesi, pour ainsi dire par accident76

Auf diese Notwendigkeit der geschichtlichen Ereignisse spielt Wielands Agathon im zweiten Kapitel des ersten Buches an, wenn der Herausgeber unter der Uberschrift »Etwas ganz Unerwartetes« im Stil der Vorreden-Ironie anmerkt: Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein RomanenSchreiber zu dichten wagen dürfte. (23)

Einer der Topoi, die sich hinter dieser Formulierung verbergen, ist der des Zufalls als asylum ignorantiae. Auch Leibniz verwendet diesen Topos in der Theodizee, wenn er schreibt: »Ein [...] reiner Zufall [...], eine solche wirkliche und unbedingte Zufälligkeit ist eine Chimäre, die sich nie in der Natur findet. Alle Weisen sind sich einig, daß der reine Zufall nur ein Schein sei wie das Glück: Nur die Unkenntnis der Ursachen erzeugt ihn.«77 Im Gegensatz zu seinem (anfangs) allzu schwärmerisch-naiven Helden, dessen »Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche Zufälle und unverhoffte Veränderungen betrogen wird« (113), weil er mögliche konspirative Ursachen und Verführungsabsichten im Hintergrund nicht durchschaut, schlägt sich der selbstreflexive Roman, der »das Ganze übersehen« will/ 8 auf die Seite transparenter Motivierungen und Zusammenhänge. Zumindest in dieser Hinsicht herrscht Einigkeit zwischen den Vokabularen, die Wielands Agathon aufruft: Ob Heliodors Abenteuerroman oder Leibniz' Theodizee, ob Aristoteles' Poetik oder das Konzept des pragmatischen Geschichtenerzählens — in allen vier Vokabularen wird ein Gewebe der Notwendigkeit konstruiert, in dem gerade der Zufall alles andere als dem Zufall überlassen bleibt. Die Notwendigkeit dieses Gewebes entsteht durch kausale und/oder teleologische Motivierung. (1) Bei Aristoteles zum Beispiel wird der Zufall wie bei Leibniz grundsätzlich nicht als unbedingt, sondern kausal vermittelt gedacht: Der Zufall, der »zu den Ursachen gezählt«79 wird, ist laut Aristoteles ein Ereignis, das bei aller Unbestimmbarkeit immerhin »wegen etwas« passiert: »Wenn im Bereich

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Koselleck, »Der Z u f a l l als Motivationsrest«, S. 139. Leibniz, Theodizee, Bd. 2.2, S. 95. Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 313. Aristoteles, Physik, hrsg. v. Hans Günter Zekl, H a m b u r g 1987, S. 69 (195b).

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der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das >zufälligaufgeklärten< Umgang mit historischen Zufällen an einer von dem Historiker Archenholtz erzählten Anekdote aus dem Siebenjährigen Krieg: Weil ein Mönch auf seinem Spaziergang zufällig den aufgewirbelten Staub des preußischen Heeres in der Ferne erblickt, kann er den Stadtkommandanten von Prag rechtzeitig warnen und so die Stadt vor der Belagerung retten. Diese Rettung wird von Archenholtz allerdings nicht als »Fügung Gottes« verstanden, sondern vor dem Hintergrund militärischer Kriegsführung entzaubert: Auch wenn der Mönch nicht zufällig spazieren gegangen wäre, hätte Prag aufgrund seiner militärischen Überlegenheit nicht eingenommen werden können. Von seiner W i r k u n g her betrachtet wird der schlachtbestimmende Ausflug unseres Mönches also seines zufälligen Charakters entkleidet. Eingespannt in die rationalisierbaren G r ü n d e und Folgen der damaligen Kriegsführung wird das von außen her Einfallende zwar von Archenholtz registriert, aber indirekt als ein austauschbares Ereignis abgewertet. 8 '

Mit solchen kausalen Integrationen des Zufalls ist in der pragmatischen Geschichtschreibung ebenso wie in der Poetik des pragmatischen Romans ein moralisch-teleologisches Prinzip verbunden, nach dem die kausal motivierte Geschichte84 zugleich als Geschichte moralischer Vervollkommnung erzählt 80 81 82 83 84

Aristoteles, Physik, S. 81 (197b). Aristoteles, Metaphysik, Buch VI, S. 259 (1027a). Aristoteles, Poetik, S. 33 (1452a). Koselleck, »Der Zufall als Motivationsrest«, S. 134. Auch wenn Wielands Agathon gerade nicht »entschieden die Partei der >HistorikerWahrheit< als poetologisch verstandene Kategorie meint nämlich nichts anderes als die Ordnung und den Zusammenhang des Textes: »Zusammenhang und Kohärenz der Episoden sollen das Indiz ihrer >Wahrheit< sein« (Frick, Providenz und Kontingenz, S. 452). Was den Zusamenhang des Erzählten stiften soll, ist — gemäß dem geradezu empiristischen Programm des Erzählers (vgl. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 388ff.) — das Prinzip der Kausalität: Erstens soll »alles mit dem Lauf der [dem Satz vom zureichenden Grunde unterworfenen, S.M.] Welt übereinstimme[n]« (n), zweitens sollen insbesondere die Wandlungen von Agathons Charakter psycho-logisch motiviert, die Stationen seiner Seelengeschichte quasi-naturgesetzlich aufeinander bezogen sein. Bereits im ersten Kapitel wird Agathons Charakter als Schwärmer und Typus der »empfindliche[n] Seelen« (22) in Szene gesetzt, der aufgrund seiner übersteigerten Einbildungskraft hinter dem Wasser einer Quelle »eine wohltätige Nymphe« vermutet (22). Im Zuge dieser psychologischen (und pathologisierenden) Typisierung werden zwei weitere poetologische Vokabulare aufgerufen: das des >empfindsamen< und das des >komischen< Romans (vgl. Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 99f.).

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(3) Im Heliodorschen Abenteuerroman gibt es weder die psycho-logische Verknüpfung äußerer Begebenheiten mit dem ninnre[n] ZustandBegriff< des Agathon angelegt ist: tugendhaft und weise.

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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Vogl, K a l k ü l und Leidenschaft, S. 146. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. Sjf. (§

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Roman, S. 305. Roman, S. 307. Roman, S. 309. 13).

Da die aufgerufenen poetologischen Vokabulare jeweils strikte Integrationsmuster für erzählte Zufälle aufweisen, bestehen die Momente der Ordnungssubversion in Wielands Agathon weniger im hyperbolischen Gebrauch erzählter Zufälle als vielmehr im hyperbolischen Zitieren unterschiedlichster Ordnungen, in deren Rahmen die Zufälle jeweils inszeniert werden. Anders gesagt: Kontingenz als Ordnungssubversion ist in Wielands Agathon an die (konflikthaftige) Pluralisierung von Ordnungen sowie das damit aufgeworfene Problem der Rahmung und Kontextualisierung gekoppelt. Der Versuch, als Grundlage für den teleologischen Anspruch des Romans doch noch ein ontologisch verläßliches Fundament hervorzuzaubern, untergräbt sich dadurch selbst, daß offenkundig nicht mehr das Fundament verfügbar ist und die lediglich im Zitat vorhandenen teleologischen Ordnungen samt ihrer Fundierungsdiskurse schlichtweg nicht zusammenpassen. Je hyperbolischer der interdiskursive Ordnungsaufwand, desto unausweichlicher die Verstrickung in ontologische und semiologische Kontingenz. Die mit der ontologischen Kontingenz einhergehenden Ordnungskonflikte wären allerdings gar nicht zu verstehen, wenn man die Logik des jeweiligen Vokabulars und das emphatische Ordnungsbegehren des Romans von vornherein nicht ernst nähme. Erst wenn man sich den (metaphysischen) Ernst der Begründungsnöte klar gemacht hat, kann man sich vor Augen führen, inwiefern der Text aus der Not eine erzählerische Tugend macht, ohne daß er deshalb gleich wieder auf der sicheren Seite souveräner Spielereien landet. Daß es in Wielands Agathon vor allem um eine zuverlässige teleologische Ordnung geht, zeigen die genannten vier Vokabulare, die für das Erzählen im 18. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sind. Die Frage ist aber, was es mit dieser Zuverlässigkeit auf sich hat, wenn die teleologischen Ordnungsgaranten poetologisch nicht zusammenpassen. Das Modell einer »pragmatisch-kritischen Geschichte« (371) steht zum Beispiel - abgesehen davon, daß es ein internes Vermittlungsproblem zwischen Kausalität und moralischer Teleologie aufweist91 — in eklatantem Widerspruch zu der nicht

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Daß alles in der Welt einen G r u n d hat, heißt noch lange nicht, daß es auch einen Z w e c k in einer >gut< eingerichteten Gesamtordnung hat. »Die theoretische Spannung, die einem Geschichtsbegriff zugrunde liegt, der die kausale Herleitung gegenwärtiger Zustände aus ihren Ursachen mit einer »utilitarisch-moralistischen Zweckbestimmung* zu verbinden sucht, kennzeichnet [...] die deutsche Romantheorie etwa seit der Mitte des 18. Jhs. Dabei lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden, insofern in den 4oiger Jahren und A n f a n g der 5oiger Jahre die beiden Forderungen nach strenger Kausalität und moralischem Endzweck in ein und denselben Texten nebeneinander postuliert werden, ohne daß die Frage der Kohärenz oder Verknüpfung zum Problem würde, weil die moralische Zweckbestimmung noch als eindeutig primär angesehen wird, während in den 6oiger und 70iger Jahren die dualistische Gleichzeitigkeit (und Gleichrangigkeit) beider Intentionen evident ist und bei einzelnen Theoretikern (Wieland, Blanckenburg) exemplarisch studiert werden kann« (Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, S. 191).

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auf empirische Plausibilität bedachten »Sucht nach Abentheuern«,92 wie sie für den Heliodorschen Romantypus kennzeichnend ist, der am Anfang von Wielands Agathon zitiert wird. Der Heliodorsche Abenteuerroman mag statt dessen zwar aufgrund seines gänzlich apsychologischen Erzählens und seiner ontologisch verbürgten Teleologie mit der aristotelischen Philosophie und Poetik kompatibel sein; mit Aristoteles jedoch, der kausale Verknüpfung bis zum Ende fordert und daher auch wenig mit dem teleologischen Trick eines deus ex machina anfangen kann,93 läßt sich kaum die Inflation des Zufalls rechtfertigen. Der Eindruck einer allzu »romanesken Fabelverknüpfung«,94 die sich hyperbolisch des erzählten Zufalls bedient, paßt weder zu Aristoteles noch zur Poetik des pragmatischen Romans. Was diese beiden Vokabulare wiederum bei allem gemeinsamen Anspruch auf lückenlose Motivierung trennt, ist unter anderem das konträre Geschichtsverständnis. Gerade die bereits zitierte Legitimation der folgenden narrativen Kontingenzen zu Beginn des zweiten Kapitels macht deutlich, daß Geschichte im 18. Jahrhundert nicht mehr das Feld bloßer Singularität und Zufälligkeit ist, sondern ihrerseits - wie der als Geschichtsschreibung etikettierte Roman - ein Gewebe der Notwendigkeit darstellt, in dem »alle Dinge [...] in der genauesten Beziehung auf einander stehen«, auch wenn die Historie augenscheinlich »viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen-Schreiber zu dichten wagen dürfte« (23). — Und Leibniz' Theodizee? Laufen in diesem ehrgeizigen Letztbegründungsversuch einer umfassenden teleologischen Ordnung womöglich doch noch alle in Wielands Agathon zitierten diskursgeschichtlichen Fäden zusammen? Ist die durch Leibniz' System garantierte »entknötung« am Ende aller scheinbaren Verwirrung und Kontingenz nicht genau das, was Wielands Roman anvisiert und was von Aristoteles über den Heliodorschen Abenteuerroman bis zum pragmatischen Erzählen durchweg gefordert wird? Die Ambiguität von Wielands Agathon resultiert in erster Linie daraus, daß der Roman bei allem gegen Leibniz gerichteten Bewußtsein für die Verstrickung in ontologische Kontingenz doch nicht von dem Anspruch ablassen kann, die Geschichte des Agathon als Theodizee — und somit als Harmonie, Archie und Teleologie zugleich - zu erzählen.

92 53

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Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den R o m a n , S. 309. »Es ist o f f e n k u n d i g , daß auch die L ö s u n g der H a n d l u n g aus der H a n d l u n g selbst hervorgehen muß, und nicht [...] aus dem E i n g r i f f eines Gottes« (Aristoteles, Poetik, S. 49; I454a/b). Oettinger, Phantasie, S. 86.

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Ontologische Kontingenz und narrative Theodizee

3.1 »dieses unerklärbare, launische, widersinnige Ding, unsre Seele«: Agathon als »Charakter« In der besten aller möglichen Welten sind Identitätsprobleme nicht vorgesehen. Wie man innerhalb der mathematischen Welt analytischer Wahrheiten »durch beliebig weit fortgesetzte Analyse« am Ende immer »zu einer identischen Gleichung gelangt«,95 gibt es bei Leibniz auch in bezug auf die Welt kontingenter Wahrheiten eine Art Identitätsgarantie. Da bei »kontingenten Sätzen [...] der Fortschritt der Analyse über die Gründe der Gründe ins Unendliche [geht]«,'6 ist diese Identitätsgarantie zwar nicht innerhalb dieser Welt zu erhalten. Gerade dieser unendliche Regreß aber führt — im Rahmen des kosmologischen Gottesbeweises — zu der metaphysischen Annahme, daß der zureichende letzte Grund der Dinge eben nur außerhalb dieser Welt liegen kann: Daß Adam zum Sünder wird und Caesar den Rubikon überschreitet, hat seinen letzten Grund darin, daß Gott in diesen Verbindungen von Subjekt und Prädikat die bestmögliche Realisierung des jeweiligen Individuums erblickt. Denkbar sind zwar unzählige andere Verbindungen von Subjekt und Prädikat, das heißt: prinzipiell kann Gott auch ganz andere Geschichten erzählen, — realisierbar jedoch ist angesichts eines Gottes, der stets das Beste wählt, nur eine Geschichte mit jeweils einem bestimmten Telos. Am — bezeichnenderweise narrativen - Ende von Leibniz' Theodizee wird diese metaphysische Denkfigur allegorisch in Szene gesetzt:97 Der Priester Theodorus wird im Traum von der Jupiter-Tochter Pallas in einen Palast geführt, der »Darstellungen nicht allein dessen [enthält], was wirklich geschieht, sondern auch alles dessen, was möglich ist«.98 In unterschiedlichen Gemächern wird jeweils vorgeführt, wie die Geschichte des Sextus Tarquinius, der verbannt von der Heimat im Elend stirbt, weil er Vaterlandsverrat und Ehebruch begeht, auch verlaufen könnte. Was Theodorus in den pyramidal angeordneten Zimmern »wie bei einer Theatervorstellung«99 erblickt bzw. in jeweils dort ausgelegten Büchern nachlesen kann, sind immer neue Geschichten und Identitäten: »Sextusse jeder Art und in unzähligen Gestalten«. 100 Während die unteren Zimmer der Pyramide jedoch, die »nach unten ins Endlose« gehen, 101 nur mögliche und weniger vollkommene Geschichten von Sextus enthalten, wird im obersten Gemach die wirkliche Geschichte präsentiert:

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98 99 IOC 101

Leibniz, Über die Kontingenz, S. 181. Leibniz, Über die Kontingenz, S. 181. Z u dieser Erzählung und einer poetologisch-narratologischen Lesart der Leibnizschen Philosophie vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. I42ff. Leibniz, Theodizee, Bd. 2.2, S. 261. Leibniz, Theodizee, B d . 2.2, S. 265. Leibniz, Theodizee, B d . 2.2, S. 263. Leibniz, Theodizee, B d . 2.2, S. 267.

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Als Theodorus dieses oberste G e m a c h betrat, verfiel er einem Zustand von Wonnetrunkenheit, so daß die Göttin ihm zur H i l f e kommen mußte: ein Tropfen eines göttlichen Saftes, den sie ihm auf die Z u n g e träufelte, brachte ihn wieder zur Besinnung. E r war außer sich vor Freude. W i r befinden uns hier in der wirklichen Welt, sprach die Göttin, und du befindest dich an der Quelle des Glücks. Siehe hier, was Jupiter dir bereitet, wenn du fortfährst, ihm treu zu dienen. Hier nun ist Sextus, wie er ist und wie er wirklich sein wird. E r verläßt voll Z o r n den Tempel, er mißachtet den Rat der Götter. Dort siehst du ihn nach R o m gehen, alles in Verwirrung stürzend, das Weib seines Freundes schändend. Hier erscheint er mit seinem Vater, vertrieben, geschlagen, unglücklich. Hätte hier Jupiter einen Sextus, der in Korinth glücklich oder König von Thrakien wäre, an seine Stelle gesetzt, so würde es nicht mehr diese Welt sein. U n d doch mußte er diese Welt wählen, die alle anderen an Vollkommenheit übertrifft und die Spitze der Pyramide bildet: denn sonst würde Jupiter seiner Weisheit entsagt und mich, die ich seine Tochter bin, verbannt haben. 1 0 2 In die (zeichentheoretische) 103 Terminologie von Leibniz' Philosophie übersetzt, sind im »Begriff einer individuellen Substanz« 1 0 4 w i e >Sextus< bereits alle Prädikate, die im L a u f e ihrer individuellen Geschichte z u m Vorschein k o m m e n , angelegt. D a s oberste Z i m m e r der Pyramide ist nichts anderes als die allegorische Repräsentation dieses Begriffes in Gestalt seiner Prädikate. D i e unterschiedlichen Gemächer verdeutlichen zwar, daß - rein logisch — alles auch anders möglich, also nicht im strengen Sinne n o t w e n d i g ist. D a es aber aufgrund der W a h l des Besten realiter nur eine Geschichte des Sextus Tarquinius geben kann, ist die Version im obersten Z i m m e r gerade nicht ontologisch kontingent. U n d da die individuelle S u b s t a n z an bestimmte Prädikate gebunden ist, die »kompossibel« sind, können nicht einfach die maßgeblichen Prädikate aus anderen Z i m m e r n der Möglichkeitspyramide auch im höchsten Z i m m e r auftauchen. 1 0 5

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Leibniz, Theodizee, Bd. 2.2, S. 267. ' Zur Zeichentheorie bei Leibniz und im gesamten »klassischen« Zeitalter vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 13. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 9iff. 104 Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 85 (§ 13). 105 »Wenn es [...] zutrifft, dass jedes Ereignis der Welt auch anders möglich ist, wenn es stimmt, dass das, was geschieht, bestimmbar und damit notwendig und zugleich eine Variante aus dem Reservoir des Möglichen ist, so sind zwar der folgsame und der zornige, der zufriedene und der unglückliche Sextus gleichermaßen möglich, aber nicht zusammen möglich, d.h. >kompossibelinkompossibel< sind. Einerseits zeigt sich hier, wie der Kontingenzbegriff die gegebene Welt als den Horizont möglicher Abwandlung voraussetzt; es zeigt sich, wie das neuzeitliche Denken des Kontingenten gerade die Realität der wirklichen Welt als erste Bedingung des Möglichseins versteht. Andererseits aber ist bei Leibniz nicht alles Mögliche in jeder möglichen Welt möglich; und die Kontingenz der Weltereignisse eröffnet hier einen Raum, der zwar viele >mögliche Weiten;, nicht aber eine >Welt alles Möglichen; umfasst. So sehr sich darin eine Aufwertung des Zufalls, des Kontingenten und des Möglichen manifestiert, so sehr wird beides im Konzept von den unendlichen möglichen Welten begrenzt, deren Gesamtheit IO

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Wenn in Wielands Agathon wiederholt vom »Charakter« die Rede ist, 106 greift der Text intertextuell auf diese metaphysische Grundfigur der Leibnizschen Theodizee zurück. Mit dem Charakter nämlich ist bei Leibniz nichts anderes gemeint als »der Inbegriff aller Prädikate eines Individuums«, d.h. »der vollständige Begriff eines Seienden«, wobei dieser Begriff ontologisch mit »diesem Seienden selbst [gleichgesetzt]« wird und »nicht mehrere Individuen ein und demselben Charakter subsumierbar« sind. 1 0 7 Wie immer es darum bestellt sein mag und ob solche Spekulationen philosophisch aufrechtzuerhalten sind: unabhängig davon bleibt ihre Bedeutung für die Poetik bestehen. Sie machen einmal verständlich, w a r u m es in der Dichtung wesentlich auf die Darstellung der Personen bzw. Charaktere ankommen soll, zum anderen durchsichtig, w o r a u f es dabei anzukommen hat: die Personen sind so vorzuführen, daß sie in ihrer Darstellung wesentlich eine Vorstellung von sich selbst geben bzw. eben ihr apriorisches Wesen vorstellen. Der Held wird hier in seinem Tun gezeigt, nicht weil es auf die einzelne Tat und deren Folgen ankommt, sondern um an den Handlungen das ideelle Wesen der Person sichtbar zu machen, so daß möglichst solche Handlungen und Situationen zu wählen sind, die den Charakter möglichst profiliert zum Ausdruck bringen. Alles an der dargestellten Person muß gewissermaßen exemplarisch für sie selbst sein. 108 Im Falle Agathons gehört zu diesem apriorischen Charakter die Tugendhaftigkeit des Helden. Im Unterschied aber zu »moralischen Romanen« (436), deren Helden am »Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes« (13) orientiert sind, ist Agathons Tugend gerade durch Unvollkommenheit gekennzeichnet. Als »Bild eines wirklichen Menschen« (13) soll sich der Charakter erst allmählich vervollkommnen, er ist also durchaus einer »Entwicklung« unterworfen. Die Motoren dieser Entwicklung sind »verschiedene Proben«, durch welche Agathons »Denkungsart und [...] Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht« ist, »nach und nach abgesondert« werden soll (15): In moralischen Romanen finden wir freilich Helden, welche sich immer gleich bleiben — und darum zu loben sind — denn wie sollte es anders sein, da sie in ihrem zwanzigsten Jahre Weisheit und Tugend bereits in eben dem Grade der Vollkommenheit besitzen, den die Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbesserungen ihrer selbst kaum im sechzigsten erreicht haben? Aber im Leben finden wir es anders. Desto schlimmer für die, welche sich da immer selbst gleich bleiben - Wir reden nicht von Toren und Lasterhaften — die Besten haben an

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eben noch nicht den R a u m einer modernen und endlichen Welt des Möglichen ergibt« (Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 145). So heißt es zum Beispiel bereits im Vorbericht: »Seine [des Herausgebers, S.M.] Hauptabsicht war, sie [die Leser, S . M . ] mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten bekannt zu machen« (12). Vgl. auch Hemmerich, Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon«, S. 6ff. Hemmerich bezieht den Charakter-Diskurs allerdings nicht auf Leibniz, sondern auf Kants Moralphilosophie. Jergius, »Versuch über den Charakter«, S. 2$f. Jergius, »Versuch über den Charakter«, S. 26.

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ihren Ideen, Urteilen, Empfindungen, selbst an dem worin sie vortrefflich sind, an ihrem Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu verändern. Und die Erfahrung lehrt, daß wir selten zu einer neuen Entwicklung unsrer Selbst, oder zu einer merklichen Verbesserung unsers vorigen innerlichen Zustandes gelangen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen, welches eine falsche Farbe auf uns reflektiert, und unsre wahre Gestalt eine Zeitlang verdunkelt. (436)

Ganz im Leibnizschen Sinne wird hier an einer apriorischen »wahre[n] Gestalt« festgehalten, die aufgrund der Beschränktheit und perspektivischen Vermitteltheit menschlicher Erkenntnis zwar »eine Zeitlang verdunkelt« sein kann; prinzipiell aber, das heißt von einem göttlichen Standpunkt aus bzw. vom Ende der Geschichte her gesehen, steht fest, daß es einen Charakter, eine Identität des Helden Agathon gibt 109 und daß sich diese Identität gerade in ihrer individuellen Perfektibilität, also ihrem jeweiligen teleologischen Potential der Selbstvervollkommnung, zeigt. »Wir haben unsern Helden«, kommentiert der Herausgeber/Erzähler, »bereits in verschiedenen Situationen gesehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umstände, ein wenig anders als er würklich ist« (436; Hervorh. S.M.). Wer Agathon »würklich« ist, scheint von diesen Umständen nicht substantiell abzuhängen; es steht genauso vorab fest, wie der Herausgeber schon im Vorbericht »von der Entwicklung« seines Helden (teleologisch bestimmt) sagen kann, daß Agathon »in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird« (16). Bei aller vorübergehenden Verdunklung ist am Ende dann doch Leibniz' »entknötung« garantiert, weil die Ordnung der Dinge immer schon vorausgesetzt ist. Andererseits jedoch meldet sich im letzten Satz der zitierten Passage die Stimme der »Erfahrung« zu Wort. Vor dem Hintergrund der Leibnizschen Philosophie müßte diese Stimme nicht weiter beunruhigend sein, da die rationalistische >Heilsgewißheit< vor aller Erfahrung gründet: So übel es in der Welt zugeht, so diskontinuierlich und inkohärent das Leben der Individuen erscheinen mag — letztlich ist dieser Eindruck nur der perspektivischen Beschränktheit menschlicher Erkenntnis geschuldet; vom Standpunkt eines

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So gesehen hat Wellbery nicht ganz recht, wenn er schreibt, daß in Wielands Agathon nicht »der Sieg einer sich identisch bleibenden Tugend über die Gefahren, denen sie in einer Reihe zufälliger Begegnungen ausgesetzt wird«, erzählt werden solle, »sondern der Identitätsverlust [...] als — >natürlich-menschlicher< - Weg zur Identität« (Wellbery, »Die Enden des Menschen«, S. 6oechten< Identitätsverlust aber kann es im Leibnizschen Kosmos gar nicht geben, und wo dieser Kosmos in Wielands Agathon brüchig wird, ist der dann doch drohende Identitätsverlust eine ganz andere Katastrophe als innerhalb von Romanen, die keine Charakter-Geschichten mehr, sondern moderne Geschichten des psychologischen Subjekts erzählen. Für einen Erzählansatz, der, wie ironisch auch immer, von »einer vorweg typologisch fixierten Konzeption des Charakters« ausgeht (Brecht, Die gefährliche Rede, S. 22), stellt der Identitätsverlust nicht weniger als eine poetologische Katastrophe dar. Mit ihm steht das gesamte teleologische Erzählprogramm auf dem Spiel.

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allwissenden und gütigen Gottes aus gesehen, wie ihn das Leibnizsche System als epistemologischen und moralteleologischen Fluchtpunkt konstruiert, ist die real existierende Welt der Individuen an Harmonie schlichtweg nicht zu übertreffen. Was aber, wenn wir als Ausgangspunkt unserer Urteile nur diese Erfahrung zur Verfügung haben? Und wenn infolgedessen apriorische Begriffe wie derjenige der »wahre[n] Gestalt« spekulativ und leer erscheinen? Zu Recht hat Werner Frick darauf hingewiesen, daß es — gegenläufig zum Leibnizschen Rationalismus — auch eine starke empiristische Seite in Wielands Agathon gibt. Für Frick ist Wielands Erzählen geradezu »a priori auf Empirisierung und Erfahrungsbezug als Wahrheitsbedingungen festgelegt«, so daß der im Roman immer wieder zu beobachtende »Transgreß der Erscheinungswelt in Richtung auf übersinnliche Ordnungsgewißheiten« zugleich grundsätzlich in Frage gestellt wird. 110 Die Figur im Roman, die solche Transgressionen mit besonderer Vorliebe unternimmt, ist Agathon selbst. Was von dieser Charaktereigenschaft zu halten ist, zeigt eine Passage in Agathons analeptischer (autobiographischer) Erzählung, die er seiner Geliebten Danae in Smyrna vorträgt: Kurz bevor der tugendhafte Held durch »Zufall oder eine mitleidige Gottheit« (243) seinem Vater begegnet, die erzählte Handlung also auf eine zum Wohle des Helden eingerichtete Welt zu verweisen scheint, wird der Glaube an die (gerechte) Ordnung der Dinge als Schwärmerei enttarnt — als narzißtische Reaktion des Helden auf die zuvor erlittene Trennung von Psyche. In diesem Augenblick erfuhr ich den wohltätigen Einfluß dieser glückseligen Schwärmerei, welche die Natur dem empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die Übel, denen sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu haben scheint. Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden war. Der Gedanke daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken, meiner geheimsten Neigungen gewesen seien, goß lindernden Trost in mein verwundetes Herz. Ich sähe meine geliebte Psyche unter ihre Flügel gesichert. >Neindie Unschuld kann nicht unglücklich sein, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten! In diesem majestätischen All, worin Sphären und Atomen sich mit gleicher Unterwürfigkeit nach den Winken einer weisen und wohltätigen Macht bewegen, war es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu überlassen. — Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe. [...]< (244)

Interessanterweise ist die »Schwärmerei«, die hier in Anschlag gebracht wird, genau das, was an Agathons »Denkungsart und [...] Tugend [...] übertrieben, und unecht« ist und daher durch »verschiedene Proben« »nach und nach abgesondert« werden soll (15). So wichtig die Einbildungskraft für die Konstruktion

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Frick, Providern und Kontingenz, S. 462. — Z u r problematischen Verbindung von Rationalismus und Empirismus bei Blanckenburg vgl. Kap. III.4.

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eines mit der individuellen Tugend kompatiblen Kosmos ist, so hinderlich ist eine allzu übersteigerte, also schwärmerische Einbildungskraft auf dem Weg zur Weisheit, dem erklärten Entwicklungsziel der Geschichte des Agathon, das dafür sorgen soll, daß der tugendhafte Charakter sich nicht unrealistisch an »inkompatible [n] Wirklichkeiten«111 aufreibt und womöglich gar enttäuscht seinen gesamten Tugend-Idealismus einbüßt. Wenn diese Gefahr nicht grundsätzlich auszuschließen ist, scheint es mit der Leibnizschen Identitäts- und Telosgarantie am Ende doch nicht so weit her zu sein. Eine der Proben, an der sich Agathons tugendhafter Charakter bewähren muß, ist die Begegnung mit dem Sophisten Hippias, der Agathon von den Seeräubern als Sklave erwirbt, ihn bald aber wieder in die Freiheit entläßt. Hippias ist Agathons wichtigster Antipode: Gegen den moralischen Rigorismus des Helden setzt er einen offensiven Hedonismus; Agathons idealistischem Universalismus begegnet Hippias mit einem nüchternen, relativistischen Kontextualismus; und statt Agathons metaphysische Transgressionen zu teilen, vertritt Hippias die Position eines »nach natürlichen und mechanischen Kausalzusammenhängen fragenden, auf erfahrungsmäßiger Verifikation aller Erkenntnisse bestehenden Empirismus«.112 Wie wichtig die Figur des Hippias ist, zeigt schon der etwa dreißigseitige Monolog zu Beginn der Smyrna-Handlung (vgl. 73—105), in dem Hippias — als Aufklärer — alles daran setzt, »den Zauber zu vernichten, den die Schwärmerei« auf Agathons »Seele gelegt hat« (105). Und die Wieland-Forschung hat zu Recht betont, daß Hippias' philosophisches »System« (69), so sehr es als moralisch verwerflicher Herrschaftsdiskurs vorgeführt" 3 und seinerseits kontextualisiert wird," 4 eine auffällige »Affinität

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Frick, Providenz und Kontingenz, S. 426. - An solchen Gegenüberstellungen zeigt sich, daß Wielands Agathon einem weiteren narrativen Vokabular verpflichtet ist: dem philosophischen Roman der Aufklärung. Zur ausführlichen Erörterung der ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen, die sich hinter den Positionen von Hippias und Agathon verbergen, vgl. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 4o8ff.; Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. I04ff.; sowie Christiane Herde, Jenseits der Moralsysteme. Philosophische Gespräche in Wielands >Geschichte des AgathonEin Mensch, der so lebt wie Hippias*, dacht' er [Agathon, S.M.], >muß so denken; und wer so denkt wie Hippias würde unglücklich sein, wenn er nicht so leben könnte. Ich muß lachen«, fuhr er mit sich selbst fort, >wenn ich an den Ton der Unfehlbarkeit denke, womit er sprach. [...]Welt< der Erzählinstanz infiziert, deren Identität so zwielichtig wie diejenige Agathons ist. Mit unverkennbarem Bezug auf das empiristische Identitätsproblem"7 zweifelt der Herausgeber/Erzähler allerdings nicht an sich selbst, sondern am Helden seiner Geschichte: D i e V e r ä n d e r u n g e n , die in unsrer innerlichen V e r f a s s u n g vorgehen, müssen beträchtlich sein, w e n n sie in die A u g e n fallen sollen; u n d w i r fangen gemeiniglich nicht eher an, sie deutlich wahrzunehmen, bis w i r uns genötigt finden, zu stutzen, u n d uns selbst zu fragen, ob w i r noch eben dieselbe Person seien, die w i r waren? (495)

Auch der Hinweis auf erkennbare »Symptomen«, die »Bürge dafür« sein sollen, daß Agathon doch »noch Agathon ist« (510), macht lediglich deutlich, daß

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Frick, Providenz und Kontingenz, S. 422. — Ich erinnere an die sophistischen Trugschlüsse, die den Herausgeber des Vorberichts mit Hippias verbinden (s. Kap. IV.2.1). 116 Frick, Providenz und Kontingenz, S. 390. "7 Vgl. Kap. III.4.

ΙΟΙ

Identität gegen Ende des Romans eben nicht mehr wie bei Leibniz a priori garantiert, sondern nur noch unter Hinweis auf empirische >Belege< postuliert werden kann — und das fällt dem Herausgeber/Erzähler nach allem, was vorgefallen ist, sichtlich schwer. Denn die Geschichte von Agathons Proben ist unverkennbar eine Geschichte des Scheiterns, die am Ende des zehnten Buches in der ersten Fassung des Romans in fundamentale Zweifel am Charakter des Helden mündet. Die erste große Probe nach Agathons Zeit in Delphi - »Eine Probe der besondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis genennet wird« (255) — fängt erfolgversprechend an: Agathon wird durch seinen wohlhabenden Vater Stratonicus in die Republik Athen eingeführt und erlangt alsbald große Popularität als Redner und Politiker. Zwar hat Agathon politische Feinde, diese aber können zunächst nichts gegen die Hoffnungen ausrichten, die Athens Volk in den hinreißend tugendhaften Helden setzt. Nachdem Agathon auch noch als auf Verständigung und Ausgleich bedachter Abgesandter Athens für Frieden in den aufbegehrenden Kolonien gesorgt hat, kennt der »Strom der populären Dankbarkeit« (269) keine Grenzen mehr. Statt sich aber als erfolgreicher Politiker zur Schau zu stellen, zieht sich Agathon — geradezu stolz auf seine Bescheidenheit und aus »Mangel an einer gewissen Republikanischen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann« (269) — auf ein Landgut zurück. Die Zeit seiner Abwesenheit wird prompt von Agathons Feinden genutzt. Durch geschickte Rhetorik gelingt es ihnen, die Stimmung des Volkes aus heiterem Himmel umkippen zu lassen: Agathons Friedensangebote in den Kolonien erscheinen plötzlich als verdächtig großzügig und schädlich für die Republik, Agathon wird als »Ehrsüchtige[r]« (274) angeklagt und mit der Behauptung konfrontiert, er sei gar nicht Stratonicus' Sohn und somit kein Bürger Athens. — Alles das erzählt der Held rückblickend selbst, so daß kaum Zweifel an der eigenen Tugend aufkommen können. Das Problem, so scheint es, ist nicht Agathons Tugendrigorismus, sondern die Tugendfeindlichkeit der Republik: »Zu Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt«, so Agathon in seiner autobiographischen Erzählung, »daß sich das ganze Gebäude der Republikanischen Verfassung auf die Tugend gründe; die Athenienser lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich selbst nirgends weniger geschätzt wird, als in einer Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnöten hat [...]« (286). Die erste Probe hat also zwar die Korrektur einer weltfremden politischen These aus der Zeit in Delphi zur Folge. Der Delphische Tugendanspruch bleibt jedoch grundsätzlich erhalten und führt — in Verbindung mit der »beleidigten Eigenliebe« des Helden (280) — dazu, daß Agathon zum zynischen Antirepublikaner wird: Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abschätziger Haufen

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blöder Toren dar, die sich von einer kleinen Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, weiß für schwarz anzusehen; die bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn es darauf ankam, über die Versifikation eines Trinklieds, oder die Füße einer Tänzerin zu urteilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem Verdienst hatten [...]. (280)

Voller Verachtung und unter bewußtem Verzicht auf jegliche Form von strategischer Rationalität ist Agathon zu keinem Zugeständnis an das Athener Volk bereit und wird schließlich aus der Stadt verbannt. Die Probe endet damit, daß sich Agathon in dem Glauben, seiner »Pflicht gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge getan zu haben« (287), vorerst aus der Politik zurückzieht. Tugend und Weisheit, so das Fazit, sind nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur in der meditativen Abgeschiedenheit zu finden: Agathon macht sich auf den Weg nach Indien. Statt in Indien landet er jedoch in Smyrna, wo die zweite Probe ansteht: Agathons Tugend muß sich gegenüber dem von Hippias systematisch vertretenen und von Danae im wahrsten Sinn des Wortes verkörperten Hedonismus bewähren. Da Hippias als >Empirist< nicht ausschließen kann, daß Agathon eine »lebendige Widerlegung seines Systems« (113) darstellt, setzt er alles daran, den tugendhaften Helden zu verführen. Als Agathon tatsächlich den Reizen der Tänzerin und Mätresse Danae erliegt, scheint Hippias den philosophischen Sieg davongetragen zu haben. Zwei Dinge nur hat Hippias nicht einkalkuliert: erstens, daß Danae fähig ist, »ihr Herz an einen Platonischen Liebhaber zu verlieren« (306), und zweitens, daß Agathon als unverbesserlicher Schwärmer glaubt, ausgerechnet in Danae die »vollkommene Liebe« (314) gefunden zu haben. Die Geschichte geht ihren in bezug auf die beteiligten Charaktere psychologisch notwendigen Gang: Zum einen wird durch die nicht zufällig gerade am Ende der Danae-Geschichte eingeflochtene Analepse über die Zeit in Athen der politische Anspruch des Tugendideals ins Gedächtnis gerufen und somit die Schlußfolgerung nahegelegt, daß ein Charakter wie Agathon nicht für alle Zeit in den privaten »Blumen-Fesseln der Liebe und eines wollüstigen Müßiggangs gefangen« gehalten werden kann (292).118 Z u m anderen kann ein Charakter wie Hippias nicht anders, als den beiden Liebenden »einen Streich zu spielen« (305), d.h. Agathon über Danaes wenig tugendhafte Vergangenheit als »Beischläferin« (320) anderer Männer, inklusive von Hippias selbst, aufzuklären. Zwar hat Hippias nicht die Absicht, die beiden Liebenden auseinanderzubringen, aber sein Streich muß, »dem Charakter des Agathon nach, notwendig diese Würkung tun« (305):

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Flankiert wird diese aus Smyrna herausführende Tendenz von einer allgemeinen Psychologie der »Uberfüllung« (296), die darin besteht, daß die »Seele [...] doch nur eines gewissen Maßes von Vergnügen fähig« ist (296). Hält der Reizzustand zu lange an, machen sich Unzufriedenheit und »eine gewisse Mattigkeit der Seele« (295) breit.

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Aber so bald es dahin gekommen war, daß er [Agathon, S.M.] sich in seiner Meinung von ihrem Charakter und moralischen Werte betrogen zu haben glaubte; so bald er sich gezwungen sah, sie zu verachten; hörte sie auf, Danae für ihn zu sein; und durch eine ganz natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblick wieder Agathon. (300)

Die Psychologie des Charakters also scheint zu funktionieren — wäre da nicht die »Schwachheit« des Helden (334), die ihn an seinem Entschluß, Smyrna zu verlassen, doch wieder zweifeln läßt. Und da auf die psychologischen Kausalmechanismen kein Verlaß ist, muß am Ende wieder einmal der Zufall helfen: Ein glücklicher Zufall — doch, warum wollen wir dem Zufall zuschreiben, was uns beweisen sollte, daß eine unsichtbare Macht ist, welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden Tugend die Hand zu reichen - fügte es daß Agathon, in diesem zweifelhaften Augenblick unter dem Gedränge der Fremden [am Hafen von Smyrna, S.M.], welche die Handelschaft von allen Welt-Gegenden her nach Smyrna führte, einen Mann erblickte, den er zu Athen vertraulich gekannt, und durch beträchtliche Dienstleistungen sich zu verbinden Gelegenheit gehabt hatte. (336)

Der Bekannte aus Athen nimmt Agathon nach Syracus mit, das durch die »philosophische Bekehrung« des Prinzen Dionysius im Begriff ist, »der Sammelplatz der Weisesten und Tugendhaftesten zu werden« (337). Nachdem die Probe einer republikanischen Verwirklichung der Tugend gescheitert und der Rückzug ins Private sich als keine dauerhafte Alternative erwiesen hat, steht nun also mit der dritten Station von Agathons Charaktergeschichte erneut ein politischer Test an: Wie läßt sich die Tugend in einer Monarchie realisieren und wie bewährt sich Agathons Charakter im Verlauf dieses Projekts? Auch die Ereignisse im sizilianischen Syracus sind psychologisch motiviert: Weil Agathon sich wieder ganz den öffentlichen Angelegenheiten widmen will und nach der gescheiterten Beziehung mit Danae nur noch das »Bildnis« (458) seiner ehemaligen Geliebten Psyche platonisch verehrt, ist sein Verhalten gegenüber den Frauen von Syracus durch »Kaltsinnigkeit« (458) gekennzeichnet. Diese Haltung wiederum ermöglicht eine Kette von Ereignissen, die mit den beteiligten Charakteren vermittelt und zugleich kontingent sind. Zum einen nämlich verliebt sich die schöne Cleonissa durch einen »natürlichen Zufall« (461) in den nicht minder schönen Agathon; durch dessen Kaltsinnigkeit jedoch verwandelt sich ihre Liebe in gekränkte Eitelkeit und schließlich in einen auf Rache sinnenden Haß (vgl. 462f.). Zum anderen sorgt die »Unverbesserlichkeit« (443) von Dionysius' Charakter dafür, daß sich der Tyrann, der nicht ohne »Liebeshändel« (444) leben kann, ausgerechnet in Cleonissa verliebt. Durch einen »von diesen kleinen Zufällen, welche so oft die Ursachen der größesten Begebenheiten werden«, verwandelt sich seine »natürliche Trägheit auf einmal in die ungeduldigste Leidenschaft« (465). Dadurch wiederum, daß sich Agathon »aus Sorge für den Staat« (470) in diese Leidenschaft einmischt, 104

passiert genau das: Die lächerliche Liebesgeschichte des Herrschers führt zum Scheitern Agathons, und so wenig Agathons erfolgreiche »Staats-Verwaltung« (453) am Hof des Fürsten im Zeichen von Glück und Zufall stehen mag (vgl. 453), so sehr werden am Ende doch - durch Agathons eigene Schuld" 9 - »die größesten Würkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht« (439). Kurzum: Auch Agathons Versuch, die Tugend innerhalb der Monarchie zu verwirklichen, ist zum Scheitern verurteilt; empört über die »Undankbarkeit des Dionys« (481), glaubt Agathon, eine Verschwörung gegen den unverbesserlichen Tyrannen anzetteln zu müssen; die Verschwörung mißlingt, der Held landet im Gefängnis, und nur dank der Intervention des befreundeten Archytas aus der Republik Tarent, der letzten Station des Romans, wird Agathon wieder freigelassen. Bevor sich der Text dieser letzten Station zuwendet, wird die histoire in der ersten Fassung des Romans von drei Kapiteln unterbrochen (vgl. 492—517), in denen eine Art Bilanz über den »Moralische [n] Zustand unsers Helden« (494) gezogen wird. Mit Aristoteles gesprochen, stehen die drei Kapitel, die in der dritten Fassung bezeichnenderweise eliminiert sind, zwischen dem Teil der »Verknüpfung« und dem der »Lösung« des Romans. 120 Nicht zufällig finden sich hier die meisten der bereits zitierten Passagen, in denen es um die Frage nach Agathons Identität geht. Und wie nirgendwo sonst wird in diesen drei Kapiteln deutlich, daß das Problem von Identität und Charakter zugleich das poetologische Problem der »entknötung« aufwirft. Am Ort einer deutlich markierten Unterbrechung also steht nichts anderes als Leibniz' Theodizee zur Disposition. Von Leibniz her gesehen ist die Sache klar: Da der Begriff des Charakters seine Geschichte impliziert, können die im Lauf der Geschichte auftauchenden Prädikate nicht im Widerspruch zu diesem Begriff, d.h. Agathons Tugend stehen. Genau diese aber scheint am Ende des zehnten Buches fraglich geworden zu sein: Agathons »Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmste« von dem, was Hippias den Menschen an Egoismus und Niedertracht zuschreibt (498);

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Wie schon in Athen und Smyrna ist es weniger die Tugend als vielmehr Agathons gekränkte »Eigenliebe« (482), die zum Scheitern führt. Was in allen drei Fällen enttäuscht wird, ist die narzißtische Erwartung, daß das jeweilige Objekt der Schwärmerei — das Volk der Republik, die Frau der vermeintlich vollkommenen Liebe und der philosophisch erziehbare Monarch - keine anderen Interessen bzw. >Liebhaber< hat. Erst die jeweils mit der K r ä n k u n g einhergehende Verachtung — gegenüber einem von geschickten Redner verführbaren Volk, gegenüber einer Danae, die es gewagt hat, mit anderen Männern zu schlafen, sowie einem undankbaren Monarchen, der sich mehr f ü r seine Liebeshändel als für Politik interessiert - läßt die Situation eskalieren und die Probe vollends scheitern.

120

»Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung verstehe ich den A n f a n g bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom A n f a n g der Wende bis hin zum Schluß« (Aristoteles, Poetik, S. 57; 1455b).

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und auch wenn für den Helden selber keine »zufällige Ursache« innerhalb der empirischen Welt die »Begriffe des wesentlichen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und die Ideen des sittlichen Schönen [...] ausreuten« kann (499), gibt es für den empirisch aufgeschlosseneren Erzähler bzw. Herausgeber doch Indizien dafür, daß der mittlerweile (scheinbar) erlangte höhere Grad an Weisheit - über die notwendige Abkehr von der Schwärmerei hinaus (vgl. 508) — auf Kosten von Agathons Tugend gegangen ist: Der neue Schwung, den seine [Agathons, S.M.] Denkungsart zu Syracus bekam, würde uns ziemlich gleichgültig sein, wenn die Veränderung sich bloß auf spekulative Begriffe oder den Ton und die Verteilung des Lichts und Schattens in seiner Seele erstreckte: Aber wenn er dadurch weniger rechtschaffen, weniger ein Liebhaber der Wahrheit, weniger empfindlich f ü r das Beste des menschlichen Geschlechts, weniger edelgesinnt, und wohltätig, weniger zur vorzüglichen Teilnehmung an der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft [...] und zur Freundschaft, diesem Lieblings-Phantom schöner Seelen, weniger aufgelegt würde — erlaubet mir, ihr strengen Anti-Platonisten, denen alles Schimäre heißt, was sich nicht geometrisch beweisen läßt, erlauber mir noch weiter zu gehen - wenn dieser schöne, herzerhöhende, wohltätige, und der Tugend so vorteilhafte Gedanke — für eine größere Sphäre als dieses animalische Leben, für eine edlere Art von Existenz, für vollkommenere Gegenstände, und zu einer vollkommnern Art von Aktivität, als unsre dermalige bestimmt zu sein — [...] wenn er keinen Reiz, keine Macht auf seine Seele mehr hätte — O! Agathon, Agathon! dann würdest du, nicht unsern Haß, nicht eine lieblose Beurteilung, nicht eine triumphierende Freude über deinen Fall, aber - unser Mitleiden verdienen. (5o8f.)

Angesichts von Agathons »Misanthropie« (499) und Ernüchterung in Syracus spricht Werner Frick von einer »fallenden Bewegungslinie der Desillusionierung«, die »von einer aufsteigenden Linie zum Telos Tarent [gekreuzt]« werde.121 Gegen diese These der Desillusionierung gibt es jedoch einen entscheidenden Einwand: »Desillusioniert [...] werden kann nur ein Subjekt, nicht aber ein Charakter im Sinne des 18. Jahrhunderts«.122 Da die Identität des Charakters sich nicht psychologisch »im Prozeß des Erzählens erst konstituieren« muß,123 ist auch keine grundsätzliche Problematisierung dieser Identität als Erfahrung der Desillusionierung möglich. Da trotzdem gegen Ende von Wielands Agathon Identitätsprobleme auftauchen, ist man auf andere Erklärungen angewiesen. Drei Erklärungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund des Leibnizschen Charakter-Modells bieten sich an: Erstens ist nicht auszuschließen, daß sich der Herausgeber/Erzähler, der mit seinem Helden unverhüllt sympathisiert, schlichtweg irrt und einen falschen Begriff von seinem Helden hat; im Sinne des Charakter-Modells wäre zu fragen, worin dann die eigentliche Identität des Charakters besteht. Zweitens wäre es möglich, daß Agathon zwar als

121 122 123

Frick, Providenz und Kontingenz, S. 441. Brecht, Die gefährliche Rede, S. 22. Brecht, Die gefährliche Rede, S. 21.

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eindeutig tugendhafter Held konzipiert ist, sich im Prozeß des Erzählens aber verändert und somit eine andere Identität a posteriori gewinnt; im Roman würden dann zwei unvereinbare Identitätsmodelle aufeinanderprallen, das des Leibnizschen Rationalismus und das des Empirimus. Drittens schließlich wäre denkbar, daß Agathon nicht a posteriori zu einer anderen Identität gelangt, sondern entgegen aller Beteuerungen des Herausgebers bzw. Erzählers von vornherein auf mehr als einen Begriff zu bringen ist; mit dieser Lesart würde Leibniz' Konzept der Kompossibilität in Frage gestellt. Die für den Roman insgesamt charakteristische Verbindung heterogener Vokabulare sowie die durchgängigen Verweise auf die epistemologische Relevanz der »Erfahrung« sprechen für die zweite Möglichkeit. Die gerade durch ihre Erfahrungsresistenz ausgezeichnete Charaktereigenschaft der narzißtischen »Eigenliebe«, die sich konstant durch sämtliche Proben des Helden zieht, spricht eher für die erste oder dritte Erklärung. 124 Allen drei Erklärungen aber ist gemeinsam, daß sie, statt auf die Kategorie der Desillusionierung zurückzugreifen, vom Leibnizschen Charakter-Diskurs ihren Ausgang nehmen und die Identitätsprobleme des Helden nicht psychologisch, sondern poetologisch als abgründige Randgänge dieses Diskurses verstehen. Da »der individuelle Begriff jeder Person ein für allemal das einschließt, was ihr jemals zustoßen wird«,125 beziehen sich die poetologischen Probleme mit diesem individuellen Begriff im zehnten Buch vor allem auf das, was der Person am Ende ihrer Geschichte zustoßen wird. Das Problem der Identität ist somit in erster Linie ein Problem des teleologischen Erzählens.126 3.2 Rahmendes und unterbrechendes Erzählen: Das Ende der ersten Fassung Im Verlauf der bisherigen Ausführungen ist immer vom »Herausgeber/Erzähler« die Rede gewesen. Diese etwas umständliche Formulierung sollte darauf hinweisen, daß die sich mit Kommentaren und Leseranreden einmischende 114

125 126

In dem 1800 entstandenen Dialog Agathon und Hippias, ein Gespräch im Elysium erhebt Hippias explizit den Narzißmus-Vorwurf und faßt zusammen, was im Roman unter der Uberschrift der »Eigenliebe« immer wieder angedeutet wird: »Bald sollt* ich glauben, auch Du, schöner Agathon, hättest noch einiger Abschälungen vonnöten. Denn Du scheinst mir, wie weiland Narcissus, und vielleicht eben so unwissender Weise wie er, in Deine eigene Gestalt so verliebt, daß Du nicht begreifst, wie man etwas taugen könne ohne Agathon zu sein« (780). Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 85f. (§ 13). Intertextuell ist die Teleologie-Problematik unter anderem mit Henry Fieldings Tom Jones verknüpft: »Das Problem des Endes ist wie so vieles im Agathon aus Fieldings Tom Jones ererbt: Wie dort das notorisch gute Herz des Helden es unwahrscheinlich macht, daß die Geschichte für ihn ein gutes Ende nimmt, so ist bei Wieland unwahrscheinlich, daß der Enthusiasmus Agathons trotz aller Lernerfolge jemals zur Versöhnung mit einer Wirklichkeit bereit sein könnte, die das gute Ende des Romans wäre« (Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 335).

IO7

extradiegetisch-heterodiegetische Stimme in Wielands Agathon einerseits die Stimme eines Herausgebers ist, der die Geschichte des Agathon einem griechischem Manuskript entnimmt, daß dieser Herausgeber andererseits aber durchaus in die Rolle eines typischen auktorialen Erzählers schlüpft. Kennzeichnend für diesen auktorialen Erzähler sind die zahlreichen Digressionen, mit denen er immer wieder die histoire unterbricht. Schon die Kapitelüberschriften stellen geradezu heraus, daß das Erzählte auf bestimmte Weise angeordnet ist und fortwährend durch Kommentare, Leseranreden, Abschweifungen etc. unterbrochen wird. Doch obgleich der Text keine lineare Geschichte im strengen Sinne des ordo naturalis erzählt, präsentiert sich Wielands Agathon nicht als >wilder< oder >chaotischer< Erzähldikurs. Das liegt zum einen daran, daß die histoire vom »Anfang dieser Geschichte« (21) an, also bis auf die nachgetragene Jugendgeschichte, chronologisch von Station zu Station erzählt wird. Zum anderen liegt es daran, daß bei den Anachronien ebenso wie bei den Einschüben und Abschweifungen alles seinen notwendigen Gang zu gehen scheint. Wenn der Erzähldiskurs als >unordentlich< zu bezeichnen ist, so allenfalls im Sinne jenes von Agathon angelegten Gartens, »in welchem, nach Persischem Geschmack, große Blumenstücke, Spaziergänge von hohen Bäumen, kleine Weiher, künstliche Wildnisse, Lauben und Grotten in anmutiger Unordnung unter einander geworfen« scheinen (182). Daß beispielsweise die Jugendgeschichte Agathons ausgerechnet zu dem Zeitpunkt nachgetragen wird, wo die Liebesgeschichte zwischen Agathon und Danae ihrem Ende entgegengeht, hat eine bestimmte Funktion. Denn durch die Erinnerung an Psyche und die mit ihr verknüpften Delphischen Ideale wird Agathon an sein »ehemalige[s] besser[es] Selbst« erinnert (324).127 »Agathons Jugendgeschichte« werde, so Gerhart Mayer, nicht an den Anfang des Romans gesetzt, wo sie auf Grund ihres zeitlichen Orts und ihres Umfangs eigentlich hingehörte, sondern sie wird genau dort eingefügt, wo sie als kausaler Faktor für Agathons weitere Entwicklung bedeutsam ist. Der Jüngling erzählt ja der geliebten Danae die Geschichte seiner reinen, unschuldigen Jugend gerade zu der Zeit, als sich seine Leidenschaft für sie merklich abzukühlen beginnt. 128

Schon der wenige Seiten zuvor eingefügte Traum, in dem Psyche erstmals wieder auftaucht, ist nicht das Produkt einer »schwärmende[n] Phantasie, ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit« (40), wie Agathon an anderer Stelle meint, sondern deutlich markiertes Signal eines Umschwungs in der Geschichte des Helden und Zeichen für Agathons »wiederauflebende [ ] Tugend« (187).

127

128

Wellbery weist d a r a u f h i n , daß Psyche Agathons »eigenes Ich, seine eigene Tugend, spekulär zurückgibt [...]; sie ist die >Quelle< seines Ichs, eben seine psyche« (Wellbery, »Die Enden des Menschen«, S. 606). Gerhart Mayer, »Die Begründung des Bildungsromans durch Wieland. Die Wandlung der »Geschichte des Agathonordentliches< Happy End eröffnet: Weil es der »Autor« des griechischen Manuskriptes entgegen allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nun einmal so will, kann der Held, dessen Charakter sich spätestens in Syracus als höchst unzuverlässig erwiesen hat, doch noch - wie eigentlich auch

129

Frick, Providenz und Kontingenz, S. 4 S j f f .

IIO

v o m Herausgeber i m Vorbericht geplant — t u g e n d h a f t und weise werden. Zugleich kann der Hiatus zwischen Erfahrung und T h e o d i z e e bzw. zwischen Kausalität und Teleologie einfach a u f die D i f f e r e n z zwischen dem aufgeklärten Herausgeber und einem Autor geschoben werden, der die pragmatischen Ansprüche eines Geschichtsschreibers ebensowenig wie die Forderungen der aristotelischen Poetik befolgt. D a der griechische Autor eher ein A n h ä n g e r Heliodors zu sein scheint, stellt sich der R o m a n a m Ende regelrecht einen Freibrief teleologischer Bestechung aus. D u r c h die ironische W e n d u n g der Herausgeberfiktion, die eigentlich gerade für die Historizität bzw. Wahrscheinlichkeit des Erzählten einstehen soll, kann sogar der bereits von Aristoteles kritisierte deus

ex machina

wieder aus der erzählerischen Mottenkiste geholt

werden. 1 ' 0 Z w a r »scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den hauptsächlichsten Stücken«, bis z u m zehnten B u c h »dem ordentlichen L a u f der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so g e m ä ß zu sein, d a ß wir keinen G r u n d sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln« (512). Aber, so der Herausgeber, in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt [...] ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an [.·.]• ($12) Dieser Rückgriff auf die Möglichkeit der Herausgeberfiktion, die erzählerische Problemlast dem >eigentlichen< A u t o r aufzubürden, ist deshalb so raffiniert, weil dadurch das H a p p y End des elften Buches in Frage gestellt und d o c h

IJ °

Im achten Kapitel des fünften Buches hat sich der Herausgeber/Erzähler den Trick des deus ex machina angesichts der Charaktermängel seines Helden noch ironisch verboten: »Wir können indes nicht bergen, daß wir aus verschiednen Gründen in Versuchung geraten sind, der historischen Wahrheit dieses einzige mal Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum ex Machina hätte geschehen müssen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er sich würklich befindet, herauszuwickeln, als es für die Ehre des Piatonismus, die er bisher so schön behauptet hat, allerdings zu wünschen gewesen wäre. Allein da wir in Erwägung zogen, daß diese einzige poetische Freiheit uns nötigen würde, in der Folge seiner Begebenheiten so viele andre Veränderungen vorzunehmen, daß die Geschichte Agathons würklich die Natur einer Geschichte verloren hätte, und zur Legende irgend eines moralischen Don Esplandians geworden wäre: So haben wir uns aufgemuntert, über alle die ekeln Bedenklichkeiten hinauszugehen, die uns anfänglich stutzen gemacht hatten, und uns zu überreden, daß der Nutzen, den unsre verständigen Leser sogar von den Schwachheiten unsers Helden in der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen könnten, ungleich größer sein dürfte, als der zweideutige Vorteil, den die Tugend dadurch erhalten hätte, wenn wir, durch eine unwahrscheinlichere Dichtung als man im ganzen >Orlando< unsers Freunds Ariost finden wird, die schöne Danae in die Notwendigkeit gesetzt hätten, in der Stille von ihm zu denken, was die berühmte Phryne bei einer gewissen Gelegenheit von dem weisen Xenocrates öffentlich gesagt haben soll« (i63f.). III

erzählt - oder umgekehrt: die Lösung präsentiert und gleichzeitig zurückgenommen werden kann. Indem der Roman mit der glücklichen Lösung seiner Erzählaufgabe zugleich auch deren skeptischen Kommentar, ja ihr Dementi liefert, verzichtet er auf ästhetische Geschlossenheit um ihrer selbst willen; sein Telos findet er nicht in der spannungslosen Abgeklärtheit von Blanckenburgs beruhigendem Punkts sondern in der scharf akzentuierten Problematik einer höchst beunruhigenden unaufgelösten Antithesis. 1 ' 1

Für "Werner Frick liegt der Vorzug der Fassung von 1767 darin begründet, daß sie sich im Gegensatz zur dritten Fassung auf ironisch-selbstreflexive Weise der Unlösbarkeit ihrer zentralen Erzählproblematik stellt - dem Problem also, daß die teleologische »entknötung« nur auf Kosten eines empirisch plausiblen Erzählens, d.h. unter Zuhilfenahme fragwürdiger providentieller Erzählfiguren und Zufallsarrangements, zu bewerkstelligen ist. Das »reflektierte Scheitern« der ersten Fassung verdiene, so Frick, wegen ihres erzählerischen Raffinements wie aufgrund ihrer kalkulierten und erkenntnisfördernden Doppelbödigkeit, den Vorzug gegenüber der geschlosseneren, durch eine postulatorische Philosophie unterbauten, mit dem Ganzen des Romans jedoch nur notdürftig vermittelten und insgesamt recht dogmatischen Finalvariante von 1794. 1 3 2

Gerade am Ende der ersten Fassung wird sichtbar, daß Wielands Agathon nicht nur Zufälle erzählt, sondern zugleich auch das Erzählen der Zufälle erzählt. Anders gesagt: Wielands Roman bedient sich nicht nur des Zufalls, »um sich aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen« (533); er weiß auch, daß er dies tut, und er macht kein Hehl daraus, daß er es weiß. So wird die teleologisch-providentielle Funktion des Zufalls — und damit die Position einer Erzählinstanz, die gottgleich die Fäden ihrer Geschichte in den Händen hält - auch vor dem Tarent-Finale immer wieder angedeutet, wenn etwa vom »Gewebe der Zufälle« (26) oder von der »unsichtbare [n] Macht« die Rede ist, »welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden Tugend die Hand zu reichen« (336). Vor allem aber im Schlußteil des Romans ist der Blick hinter die Kulissen wichtiger als das Erzählte selbst — die Wiederbegegnung Agathons mit Psyche und Danae: Wohin uns diese Vorbereitung wohl führen soll?< - werden vielleicht einige von unsern scharfsinnigen Lesern denken — >ohne Zweifel wird man uns nun auch die Dame Danae von irgend einem dienstwilligen Sturmwind herbeiführen lassen, nachdem uns, ohne zu wissen, wie? das gute Mädchen Psyche, durch einen wahren Schlag mit der Zauberrute, aus dem Gynäceo des alten Archytas entgegengesprungen ist -< (532)

IJI 1,2

Frick, Providenz und Kontingenz, S. 490. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 485.

112

Ein heftiger Sturm ist ein sehr unglücklicher Z u f a l l f ü r Leute, die sich mitten auf der offenen See [...] finden; aber f ü r die Geschichtschreiber der Helden u n d Heldinnen ist es beinahe der glücklichste unter allen Zufällen, welche man herbeibringen kann, um sich aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen. Es war also ein Sturm, (und Sie haben sich nicht darüber zu beschweren, meine Herren, denn es ist, unsers Wissens, der erste in dieser Geschichte,) der die liebenswürdige Psyche aus der fürchterlichen Gewalt eines verliebten Seeräubers rettete. (533) Werner Frick spricht bei Passagen wie diesen von »Fiktionsironie«, durch welche »die artifizielle M e c h a n i k zweckmäßiger literarischer E r f i n d u n g und epischer Geschehensverknüpfung nicht verdeckt«, sondern transparent gemacht wird. 1 3 3 Entscheidend ist, daß durch solche ironischen Kommentare die Ereignisketten eben nicht mehr als von einer in der Geschichte verorteten Providenz u n d göttlichen M a c h t gesteuert erscheinen, sondern als bloße auktoriale Setzungen erkennbar werden: 1 3 4 als Setzungen eines Erzählinstanz, die nichts anderes macht, als die zur Verfügung stehende Zufallstopik in den Dienst ihres Erzählprogramms zu stellen. U n d wenn dabei auch vor den ältesten Zufallsklischees wie dem schon von Aristoteles angeführten S t u r m nicht zurückgeschreckt wird, dient dies allein dem Z w e c k , die Erzählmaschinerie hinter den Kulissen als konstitutives Element des gesamten Spiels vorzuführen. 1 3 5

133

Frick, Providenz und Kontingenz, S. 464. - Natürlich darf hierbei auch nicht fehlen, daß der Erzähler seine Romanfiguren als Romanfiguren outet: »Sie beklagten itzt bei sich selbst, daß sie, nach dem Beispiel der Liebhaber in den Romanen, eine so günstige Zeit mit unnötigen Erzählungen verloren« (36). Zuvor hat der Erzähler seine Romanfiguren eben solche unnötigen Erzählungen vortragen lassen, weil die nachgetragenen Geschichten nun einmal zum Schema des Heliodorschen Liebesromans gehören, das der Text ironisch zitiert. '34 Vgl. Frick, Providenz und Kontingenz, S. 465^ 135 Eine ähnliche Aufwertung der Ironie nimmt Walter Erhart in seiner umfangreichen Lektüre des gesamten Agathon-Projektes vor: »Der philosophische Roman Wielands steht [...] quer zu einem Modell der deutschen und europäischen Romanliteratur, die - von Gellerts Romanprogramm bis zur Theorie des Bildungsromans und den Spielarten des poetischen Realismus - Kontingenzen und lebensweltliche Aporien im Medium narrativer Sinngebung aufzuheben versucht. Statt dessen werden im gesamten Verlauf des >AgathonVersöhnung< und »Vermittlung« der in Agathon und Hippias repräsentierten Gegensätze intendiert und eine Synthese unlösbarer Dissonanzen letztlich nur noch ironisch und resignativ einfordert. Jene >schöne Harmonie von Weisheit und Tugend« [...], auf die der Erzähler seine >Hoffnung< am Ende des Syrakus-Abenteuers noch einmal stützt, ist vielmehr ein der Epoche eingeschriebenes Ideal, dessen Dekonstruktion die erste >Agathondekonstruktivistischen< und »ironischen« Text, der die Sinnsysteme und Ordnungsprinzipien seiner Epoche im Grunde nur zitiert, um sie gegeneinander auszuspielen. Vielmehr vertritt Jacobs die Auffassung, daß es in Wielands Roman statt um bloße Problemanzeige durchaus um (teleologische) Resultate geht. Wenn diese Resultate in der ersten Fassung nicht erreicht werden, ändert das nichts am Programm. Im Gegenteil: Gerade weil das Problem der Vermittlung von Tugend und Weisheit, von >Realität< und Moralität, von Glückswürdigkeit und tatsächlicher Glückseligkeit, von Kausalität und Finalität etc. mit großem Ernst in Angriff genommen wird, entstehen die narrativen »Begründungsnöte« allererst (vgl. Jürgen Jacobs, »Fehlrezeption und Neuinter113

Dieser selbstreflexive Blick, der das teleologische Weitererzählen der histoire unterbricht, wird am Ende von Wielands Agathon durch den Rahmencharakter der Herausgeberfiktion ermöglicht. Rüdiger Campe hat darauf aufmerksam gemacht, daß die romantheoretische Figur des unwahrscheinlichen Wahrscheinlichen, die bereits bei Aristoteles verhandelt wird, vor allem als Figur der Rahmung und (Meta-)Beobachtung zu verstehen ist: Wenn das ansonsten, normalerweise, Unwahrscheinliche, diesmal, im besonderen Fall, vielmehr wahrscheinlich ist, kann man das auch so auffassen, daß das, was im besonderen Fall wahrscheinlich ist, vom Standpunkt des Normalen aus unwahrscheinlich ist. Diese Pointe bereitet die Rahmung und Modellierung des Wahrscheinlichen durch eine artifizielle Anordnung vor. Denn nun stehen die Prädikate unwahrscheinlich und wahrscheinlich nicht mehr auf einer logischen Ebene oder in einer Welt von Sachverhalten einander widersprechend gegenüber. Vielmehr rahmt man nun einen Weltzustand ab, in den man von außen hineinsieht - von einem Außen, das einen anderen, den ersten Weltzustand dominierenden Weltzustand darstellt. Anders gesagt: man unterscheidet zwei logische Ebenen, die hierarchisch angeordnet sind. 136

Als Beispiel für eine solche »Figuration der Beobachtung«137 verweist Campe auf die Peripetie — auf jenen prekären Umschlagpunkt also, der auch zwischen dem zehnten und elften Buch in Wielands Agathon zur Disposition steht. Und wie bei Aristoteles der Umschlag vom Glück ins Unglück bzw. vom Unglück ins Glück seine (behauptete) Wahrscheinlichkeit in der »Verknüpfung« der Ereignisse, seine Unwahrscheinlichkeit jedoch als »auktoriale Metaregie oder poetische Gerechtigkeit« hat,138 so erscheint auch das Tarent-Finale erst von der logisch höheren Ebene, narratologisch gesprochen: vom Ort des Herausgebers aus, als unwahrscheinlich. Vor allem aber erscheint es, vom Rand des Rahmens her betrachtet, als ontologisch kontingent. Allein dadurch nämlich, daß die »Beobachtung« des Herausgebers die Frage aufwirft, ob die erzählten Ereignisse empirisch plausibel genau so und nicht anders verknüpft sein können und ob nicht womöglich der Autor >dahinter< seine Finger im Spiel hat, gerät die teleologische Ordnung des dem griechischen Autor zugeschriebenen Endes in den Status des »Potentialis«.139

136 137 138 I3?

pretation von Wielands >AgathonProgrammpunkte< von Agathons Charaktergeschichte auf die Tagesordnung setzen, durch die der Held mit sich »selbst in bessere Ubereinstimmung« gebracht, sprich: endlich weise werden soll (749): Erstens, so Archytas, komme es darauf an, Agathons »Liebe zu Chariklea [die frühere Danae, S.M.] auf immer vor einem Rückfall

152 153

Brecht, Die gefährliche Rede, S. 22. Auch für Jacobs zielt die dritte Fassung zwar auf ein »demonstrativ harmonisches Ende« ab (Jacobs, »Fehlrezeption und Neuinterpretation von Wielands >AgathonAgathonars vivendi«< (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 350). Im Unterschied zur ersten Fassung wird Erhart zufolge in der Figur des Archytas eine durch die Erinnerungs- und Trauerarbeit, durch das Delphische Kenne dich selbst, zu erlangende »Heiterkeit der Seele« und »Ruhe« (752) in Aussicht gestellt, welche die Verlusterfahrungen der Figuren lediglich kompensieren soll. Unverändert bleibt also auch in der dritten Fassung die Diagnose einer Dissonanz zwischen Sein und Sollen. Was sich aber geändert hat, ist die Antwort, mit der die Fassung von 1794 auf dieses Problem reagiert: »Setzte die erste Fassung noch alles daran, diese Dissonanz gegen die literarischen Sinnangebote der Epoche zur Geltung zu bringen und bis in die inneren Konflikte des Subjekts selbst nachzuzeichnen, so schildern die Romangespräche in Syrakus und Tarent jene wechselseitigen Anstrengungen, die Aufklärung über den Weltzustand in therapeutische Maßnahmen individueller Krisenstrategien zu verwandeln« (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 392). Von gewaltsamer Teleologie kann daher keine Rede sein: »Die Teleologie der Romanhandlung wird zugunsten der tarentinischen Gespräche stillgelegt, statt einer >Erfüllung< der >Träume< und Projektionen des Helden verwandelt sich das Romanende in die therapeutische Aufarbeitung der Ziellosigkeit und Mißerfolge von Agathons Geschichten - ohne daß der narrative Plan von einer sinnvollen, den passiven Helden integrierenden Ordnung gleichsam überformt würde« (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 399).

157

Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 220. 121

thons Vater Stratonicus ausgegeben wird (517). Doch auch die noch so heilige »Bande des Gastrechts« (517), die beide Familien verbindet, und eine plötzlich aus dem Ärmel geschüttelte Freundschaft zwischen Agathon und Archytas' jüngstem Sohn Critolaus, die »durch zufällige Ursachen [...] eine Zeitlang unterbrochen« gewesen, aber schon während der Syracus-Zeit »wieder erneuert« worden ist (518), kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die »Freunde zu Tarent« (479) eher durch einen »wahren Schlag mit der Zauberrute« (532) als durch plausible Motivierung innerhalb der histoire aufgetaucht sind (vgl. auch 414). Das Auftauchen der Freunde aus Tarent wird also auch innerhalb der erweiterten histoire nicht besser motiviert. Durch das Gespräch mit Hippias wird jedoch zumindest Agathons Identitätsproblem (rhetorisch) aus der Welt geschafft, und in der Folge kann der Held mit seiner geretteten Tugend Richtung Tarent ziehen, um schließlich — wie Archytas — auch noch weise zu werden. Da die dritte Fassung demnach wenigstens in der Durchführung ihres moralphilosophischen Projekts folgerichtiger als die erste erscheint, ist sie dieser Vogl zufolge eindeutig vorzuziehen. Entsprechend mündet die von Vogl konstatierte Argumentationslogik in die teleologische literaturwissenschaftliche >Erzählung< von einem über Jahrzehnte >reifendenlogischer< werdenden Romandiskurs, der als »konsequente Auswicklung eines anfänglichen und keimhaft angelegten Plans«158 beschrieben werden kann. Doch mit einer solchen untergründigen Logik - ob bei Wieland selbst oder bei Vogl, der sich allzusehr auf die Seite der leibnizianischen Ordnung schlägt — wird man die Erzählprobleme nicht los, die mit dem Ordnungsbegehren des Romans verbunden sind. Abgesehen davon nämlich, daß die narrative Motivierung der Rettung aus dem Gefängnis in der dritten Fassung nicht weniger unzureichend als in der ersten Fassung ist, wird gerade das argumentationslogisch so wichtige Gespräch zwischen Hippias und Agathon unverkennbar mit dem Index der Kontingenz versehen. Wie die erste Fassung, deren Text ja weitestgehend beibehalten wird, greift auch die dritte Fassung auf poetologisch nicht zu vereinbarende Vokabulare zurück. Dadurch zum Beispiel, daß vor dem Gespräch zwischen Hippias und Agathon ausgerechnet der antike Topos des »Genius« (599) als passendes Providenz-Angebot aufgerufen wird, verstrickt sich auch die dritte Fassung in schwerwiegende Konsistenzprobleme, da im überarbeiteten Text weiterhin jene poetologischen Bekenntnisse zur aristotelischen Wahrscheinlichkeit oder zur historischen Wahrheit zu finden sind, die schon in der ersten Fassung nicht zusammenpassen.159 Wenn demnach der Genius der Tugend den »Zufall« (600) eines

158 159

Vogl, K a l k ü l u n d Leidenschaft, S. 220. A u c h Werner Frick betont, wie »unverbindlich, vage und d i f f u s « sich die »heterogene S k a l a jener transzendenten Instanzen« a u s n i m m t , »die, entgegen dem empirischen Anschein, f ü r O r d n u n g u n d S i n n von A g a t h o n s Leben bürgen sollen« (Frick, Providenz u n d Kontingenz, S. 447)·

122

Gefängnisbesuches von Hippias herbeiführt, ist das auch innerhalb der dritten Fassung allenfalls eine unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit und steht wie jede gewaltsame Transgression über die Empirie hinaus unter »Hirngespenster«-Verdacht.l6° Die Figur innerhalb der erzählten Welt, die diesen Verdacht gerade gegenüber Agathon erhebt, ist niemand anderes als Hippias. Wenn er dies tut, steht er also durchaus auf der Seite des Herausgebers. Andererseits jedoch ist es gerade Hippias, der im Gefängnis von Syracus »argumentationslogisch« verabschiedet wird. Gegen Hippias' Vorwurf, Agathon habe in Syracus nicht nur nicht strategisch klug gehandelt, sondern sei sich selbst, gemessen an den eigenen Grundsätzen, untreu geworden (vgl. 608), beschwört Agathon eine zuverlässige »Stimme« in seinem »Innersten« (612) und entgegnet Hippias, daß seine Zwecke und Grundsätze immer die gleichen gewesen seien; geändert hätten sich nur die Umstände und die entsprechenden Mittel zur Verwirklichung der eigenen Gundsätze (vgl. 615). Da kein Mittel, auch nicht das der politischen Gewalt, für eine Veränderung der Umstände im Sinne der eigenen Grundsätze getaugt hat, kann Agathon das Syracus-Kapitel, so die Logik des Arguments, einerseits reicher an Erfahrung - die allerdings nur Agathons Fehler bei der Einschätzung äußerer Umstände und Mittel betrifft — und andererseits als unverändert tugendhafter Charakter innerlich abschließen. Nach diesem innerlichen Abschluß, bei dem Agathons »in ihrem Grund« erschütterte Identität (599) auf wenigen Seiten wiederhergestellt zu werden scheint, kann die Geschichte auch äußerlich fortgesetzt werden: Agathon schickt Hippias nach Smyrna zurück, und Archytas erwirkt Agathons Freilassung. Daß Agathons Gefängnisrede nicht nur die Identität des Charakters, sondern auch die des Erzähldiskurses selber mit seiner Suche nach einer unerschütterlichen arche und einem versöhnlichen telos retten soll, wird schon an der Positionierung der Rede im Text deutlich: Am aristotelischen Ort der Peripetie soll Agathons Gefängnisrede die »Lücken« zwischen Syracus- und Tarenthandlung füllen, »die den reinen Zusammenhang der Seelengeschichte Agathons bisher noch unterbrochen« haben (591). Statt daß also die Unterbrechung markiert würde wie noch an der gleichen systematischen Stelle in der ersten Fassung, geht es in der Gefängnisrede offenkundig um Kontinuität — und zwar sowohl der Charaktergeschichte als auch des Erzähldiskurses. Entsprechend korrespondiert Agathons Rückbesinnung auf den »Grund« (599) seiner Tugend mit dem Versuch der »auktoriale[n] Metaregie«,161 die 160

161

Auch der Vorbericht der ersten Fassung, in dem der B e g r i f f der »Hirngespenster« fällt (12), ist in der dritten Fassung — von wenigen Änderungen abgesehen — in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Ironie übernommen worden (vgl. Christoph M a r t i n Wieland, Geschichte des Agathon, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. der »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit mit dem »Wieland-Archiv«, Biberach/Riß und Dr. Hans Radspieler, Bd. i, H a m b u r g 1984, S. I X - X X ) . Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 312.

123

drei digressiven Unterbrechungskapitel aus der ersten Fassung als »fremdartige Auswüchse [...] wegzuschneiden« (591), was wiederum damit einhergeht, daß die Diskontinuität bzw. Nicht-Identität zwischen Herausgeber und griechischem Autor zurückgenommen wird. Wenn dieses Begehren nach Kontinuität weder Agathons Identitätsprobleme noch die Erzählprobleme des Romans lösen kann, liegt das am Ort der Peripetie, der als Ort systematischer Unterbrechung nach Campe stets zwei »logische Ebenen« ins Spiel bringt, »die hierarchisch angeordnet sind«: 102 die der mehr oder weniger plausiblen narrativen Verknüpfung von Ereignissen und die einer übergeordneten »poetische[n] Gerechtigkeit«. 163 Diese poetische Gerechtigkeit ist allerdings nicht ontologisch fundiert wie die göttliche Gerechtigkeit der Leibnizschen Theodizee, die dafür sorgt, daß jedes Individuum das seiner Identität entsprechende Ziel erreicht. So sehr es insbesondere am Ort der Peripetie von teleologischen und ursprungslogischen Selbstinszenierungen wimmelt, so wenig gibt es auch dort einen archimedischen Punkt, an dem das Ordnungsbegehren des Textes zur Ruhe kommen könnte. Hinter den Kulissen von noch so notwendig erscheinenden narrativen Setzungen stößt man immer wieder nur auf die ontologische Kontingenz der jeweiligen Inszenierungspraxis. Die dritte Fassung versucht die ontologische Bodenlosigkeit hinter den Kulissen dadurch zu verschleiern, daß sie am Ort der Peripetie im Unterschied zur ersten Fassung keine metadiegetische »Figuration der Beobachtung« 164 in Szene setzt, sondern auf der intradiegetischen Ebene des Erzählten lediglich die Figuren Agathon und Hippias sprechen läßt. Gleichwohl tauchen die Spaltungen und Diskontinuitäten, die mit der metadiegetischen Figuration einhergehen, wie in einer Art Wiederkehr des Verdrängten auch in Agathons Gefängnisrede auf. So korrespondiert die Nicht-Identität zwischen griechischem Autor und Herausgeber, die in der ersten Fassung vorgeführt wird, mit zwei Gegenüberstellungen, die in der Gefängnisrede in Form von gewaltsamen Abspaltungen vorgenommen werden: Da Hippias anbietet, Agathon aus dem Gefängnis zu befreien, wird er in der dritten Fassung - darin besteht die erste Gegenüberstellung — als mögliche Alternative zu Archytas ins Spiel gebracht. Wenn sich Agathon, der seine »von zwei sehr verschiedenen Regungen nach zweierlei Richtungen gezogene Hand nur langsam aus der stärkern Faust des Sophisten« windet (610), gegen Hippias' Angebot entscheidet, heißt das poetologisch genau das, was in der ersten Fassung ironisch durch die Distanzierung des Herausgebers geschieht: Die narrativen Ansprüche an Wahrheit und Wahrscheinlichkeit werden der Teleologie geopfert — im Vergleich zur ersten Fassung allerdings mit dem Unterschied, daß dieses poetologische Opfer, für

162 163 164

C a m p e , Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 310. C a m p e , Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 312. C a m p e , Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 313.

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das Hippias steht, als innerliche Befreiungstat von Agathon verkauft wird. Mit dieser scheinbaren >psychologischen< Wende der dritten Fassung hängt auch die zweite Gegenüberstellung bzw. Abspaltung zusammen. Um sich nämlich argumentationslogisch gegen Hippias durchsetzen zu können, muß Agathon eine innere Spaltung vollziehen, die wiederum auf Archytas' platonistischen Identitätszwang am Schluß des Romans verweist: Agathon unterscheidet zwischen den Bedürfnissen seines »sichtbarem und seines »unsichtbaren Ichs« (6i9f.), und natürlich werden alle Verfehlungen dem empirischen, sichtbaren Ich angelastet, während das unsichtbare Ich nichts anderes als das gesuchte fundamentum inconcussum der Tugend darstellen soll. Die arche dieses unsichtbaren Ichs also, das wird durch die Gegenüberstellung deutlich, erzeugt im Moment ihrer (Er-)Findung zugleich ein abgespaltenes Doppel. Allgemeiner gesagt: Kontinuität und Identität sind allenfalls durch Gewalt und Ausgrenzung zu haben. Hinter dieser Gewalt aber verbirgt sich das Gegenteil: Diskontinuität und Unterbrechung - genau das also, was die erste Fassung an derselben systematischen Stelle unverhohlen in Szene setzt.105 Mit Foucault könnte man sagen, daß in Wielands Agathon jener »Augenblick« der Moderne anbricht, »wo die Identitäten der Repräsentation aufgehört haben, ohne Verschwiegenheit und Rückstand die Ordnung der Wesen zu offenbaren«.'66 Diese Identitätsproblematik zeigt sich nicht nur daran, daß die von Agathon und Archytas produzierten »empirisch-transzendentale[n] Dublette[n]«l67 lediglich mit Gewalt zusammengehalten werden können. Vielmehr zeigt sie sich vor allem auch daran, daß es gar nicht den einen Roman namens Geschichte des Agathon gibt. Zwar beschwört die dritte Fassung teleologisch und ursprungslogisch die »möglichste Übereinstimmung« des Ganzen »mit der ersten Idee« (591) und grenzt sich im Vorbericht zur neuen Ausgabe autoritativ von der ersten Fassung ab. Entscheidend aber ist, daß gerade die erste Fassung eben jenen Foucaultschen »Rückstand« darstellt, den die dritte Fassung an den geänderten, >besseren< Stellen nicht mehr los wird. So sehr die Geschichte des Agathon von 1794 auszugrenzen versucht, »was störend wäre«,168 so wenig entkommt sie der Alterität, die durch fremde Zitate hervorgerufen wird. Zu diesen Zitaten gehören nicht nur — wie in der ersten Fassung - unversöhnliche poetologische Vokabulare, sondern die erste Fassung selber, die »eine Art von Medium« darstellt, das die »wahre Gestalt« der dritten Fassung nicht nur »eine Zeitlang«, sondern bei jeder Lektüre aufs neue »verdunkelt« (436), d.h. unterbricht.

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166 167 168

Gerhart Mayer blendet dieses M o m e n t der G e w a l t und Nicht-Identität aus, wenn er behauptet, daß Agathon »im A k t der erkennenden Selbstfindung zum klaren Bewußtsein seiner autonomen Natur und wahren Bestimmung« durchstoße (Mayer, »Die Begründung des Bildungsromans«, S. 24). Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 367. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 384. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, S. 67 (§ 5).

125

Als »Spuren ihrer Geschichte« haften der Fassung von 1794 die ungelösten Probleme und Ironien der ersten Fassung an, auch wenn sie »mit Hilfe von Retuschen und Zusätzen« gewaltsam ausradiert werden sollen (95ο).169 Aus diesem Grund auch verbietet sich jede Hierarchisierung der Fassungen. Weder ist die Geschichte des Agathon von 1766/67 der >ursprünglichen< ontologischen Kontingenz näher, noch ist der Text von 1794 als teleologisch endgültige »wahre Gestalt« (436) aufzufassen. Im Rahmen meiner Fragestellung ist die erste Fassung zwar vor allem aufgrund ihrer Figuration der Unterbrechung am Ort der Peripetie als Einzeltext der aufschlußreichere. Die Erzählprobleme und Brüche jedoch, die durch die ontologische und semiologische Kontingenz aufgeworfen werden, sind auch in der dritten Fassung zu beobachten. Genaugenommen besteht die eigentliche Figuration der Unterbrechung gerade zwischen den einzelnen Fassungen, die lediglich unterschiedliche Möglichkeiten der Inszenierung von Kontingenz und Ordnung durchexerzieren. Wie die Pluralisierung der poetologischen Vokabulare innerhalb der einzelnen Fassungen führt die Pluralisierung der Fassungen vor Augen, daß es nicht mehr die teleologische Ordnung gibt, d.h. daß gerade das Ende immer auch anders möglich ist. Jede der Schlußkonstruktionen ist eine mögliche >Lösung< desselben Problems. Wechselseitig offenbart die eine >Lösung< die Kontingenz der anderen — und damit den Fortbestand des Problems, das gerade darin besteht, daß eine endgültige Geschichte des Agathon zugleich begehrt und immer wieder unterbrochen wird. Statt also — wie bisher in der Forschung geschehen'70 — von einem hierarchischen Verhältnis der Schlüsse auszugehen, gilt es die unterschiedlichen Fassungen in ihrem gleichberechtigten Nebeneinander anzuerkennen. Mehr noch: Der Begriff der Fassung selber ist bereits verfehlt, weil er insgeheim eine Werkidentität und damit eine ursprüngliche Idee des Ganzen unterstellt, die in Wielands Agathon-Bjomznen radikal in Frage gestellt wird.

169

170

Ich zitiere aus dem Kommentar von Klaus Manger. Nicht zufällig hat sich Manger als Herausgeber von Wielands Agathon dafür entschieden, die erste Fassung komplett und von der dritten Fassung den neuen Schluß vom neunten Kapitel des zwölften Buches an abzudrucken. Walter Erhart ist der einzige, der die erste und dritte Fassung einer eingehenden werkgeschichtlichen Untersuchung unterzieht. Erharts Interpretationsvorschlag schießt jedoch deshalb über das Ziel einer enthierarchisierten Lektüre der Fassungen hinaus, weil er zum einen die dritte Fassung teleologisch in das Wielandsche Gesamtwerk einordnet und zum anderen den neuen Schluß allzu unhistorisch in die Nähe einer postmodernen KontingenzApologie ä la Rorty rückt.

126

V. »Doppelsinnigkeiten von allen Ecken«:

Allegorisches Erzählen in Jean Pauls Blumen-, Frucht- und

Dornenstücken oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs Jeder Zufall, als eine wilde Paarung ohne Priester, gefällt uns vielleicht, weil darin der Satz der Ursächlichkeit (Kausalität) selber, wie der Witz, Unähnliches zu gatten scheinend, sich halb versteckt und halb bekennt. Glauben wir einen Z u f a l l als einen reinen anzuschauen — ohne alle Möglichkeiten eingemischter Ursächlichkeit - , so vergnügt er uns eben nicht, und wir gebrauchen nicht einmal das Wort Zufall. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik

i.

Einleitung

Wie bei keinem anderen Autor um 1800 besteht der Witz des Jean Paulschen Erzähldiskurses darin, daß das Geschichtenerzählen gerahmt und immer wieder durch Digressionen unterbrochen wird. Am Ort dieser Rahmungen und Unterbrechungen geht es ähnlich wie bei Wieland um die Frage nach einem zuverlässigen Ursprung, und wie bei Wieland offenbart sich gerade dort, wo die auktoriale Macht einer erzählerischen arche am sichtbarsten vorgeführt wird, die ontologische Kontingenz jeder auktorialen Setzung - einschließlich des vermeintlich sicheren archimedischen Punktes der Setzung selber, der mit in den Strudel seiner Setzungen und Entgegensetzungen gerissen wird. Entsprechend sind gerade dort, wo es um die Identität dessen geht, was man landläufig Erzähler nennt, immer auch Phänomene der Alterität zu beobachten. Im Unterschied zu Wielands Agathon verweisen die Identitätsprobleme, die sich von der extradiegetischen Ebene der Erzählinstanz(en) bis zur intradiegetischen Ebene der Figuren ziehen, über den leibnizianischen Charakterdiskurs hinaus auf die zentralen Aporien, die im Zuge des deutschen Idealismus bei Kant, Fichte und innerhalb der Frühromantik sichtbar werden.1 In Jean Pauls Siebenkäs betritt also - trotz aller fortbestehenden, eklektizistischen Anleihen auch bei iwideal is tischen Diskursen - das Subjekt des deutschen Idealismus die Bühne der Erzählliteratur. Da dieses Subjekt dadurch gekennzeichnet ist, daß es sich jeder selbstreflexiven Identifikation entzieht, ist es um 1800 untrennbar mit dem problematischen Anspruch seiner narrativen Darstellung verbunden: Das Ich, dieser höchste Punkt der idealistischen Philosophie, kann nach Auskunft der Frühromantiker zwar nicht gedacht, gleichwohl aber soll es erzählt und damit in seiner unhintergehbaren Brüchigkeit bzw. Zeitlichkeit vorgeführt werden. Das Subjekt ist also um 1800 eine philosophische 1

Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. III.2. u. 3.

127

und poetologische Kategorie. Und da die Allegorie die narrative Tropenform darstellt, für die nicht nur die zeitlich-syntagmatische Ausdehnung, sondern auch der Bruch konstitutiv ist, verwundert es nicht, daß Jean Pauls Siebenkäs als allegorischer Text funktioniert. Als allegorischer Text wiederum produziert der Roman nicht nur jenes »strukturell begründetet ] Zuviel«2 sprachlicher Wucherungen, das sich besonders in den Digressionen zeigt. Vielmehr geht mit der allegorischen Verfaßtheit auch ein teleologisches Ordnungsbegehren einher: Die vordergründig erzählte (Anti-)Ehegeschichte ist unter anderem, wie zu sehen sein wird, auch eine teleologisch organisierte Passions- und Initiationsgeschichte. Weil aber solche teleologischen Erzählschemata nur noch im allegorischen Zitat vorhanden sind, erscheinen sie wie schon bei Wieland als ontologisch kontingent und werfen Ordnungskonflikte auf, die ohne archimedischen Punkt jenseits der zitierten Ordnungen nicht gelöst werden können. Die allegorische Tendenz zu »sprachlicher Wucherung«3 führt also ähnlich wie bei Wieland dazu, daß sich die unterschiedlichen Teleologie-Modelle gegenseitig relativieren und durchkreuzen. Uber Wieland hinaus geht sie jedoch mit der entfesselten tropologischen Inszenierung semiologischer Kontingenz einher, die sich weder ursprungslogisch noch teleologisch integrieren, geschweige denn hermeneutisch harmonisieren läßt.4 In Jean Pauls Vorschule der Ästhetik wird diese tropologische Inszenierung unter der Uberschrift des Witzes verhandelt. Und da gerade für den Witz die Relation zwischen Kontingenz und Ordnung konstitutiv ist,5 geht es im folgenden um nichts anderes als das im wahrsten Sinne witzige Erzählen im Siebenkäs. So sehr auch die Geschichte des Agathon bereits um die ontologische Kontingenz der eigenen Setzungen und teleologischen Bestechungen weiß, so fundamental unterscheidet der allegorische und damit immer auch semiotische Blick, der mit dem witzigen Erzählen verbunden ist, Jean Pauls Siebenkäs von Wielands Roman.

2 5 4

5

Drügh, Anders-Rede, S. Ii. Drügh, Anders-Rede, S. Ii. Da auch die spätere Fassung von Jean Pauls Siebenkäs aus dem Jahr 1818 die tropologischdigressiven Randgänge der ersten Fassung (1796/97) nicht zurücknimmt, geht es mir im folgenden nicht — wie bei Wielands Agathon — um eine Gegenüberstellung und Enthierarchisierung der Fassungen. »Den Zufall gibt es nur am Maße der Kausalität als deren Bruch und Suggestion und als ein Zusammentreffen, das so >wild< es sei, so sehr es einer >Ursachlichkeit< als Verknüpfung widerstreitet, doch als >Widerspiel< eine konkurrierende Motiviertheit im zeitlichen oder räumlichen Zusammenfallen zu belegen scheint« (Bettine Menke, »Jean Pauls Witz. Kraft und Formel«, in: DVjs 76 (2002), S. 201-213). 128

2.

Telos u n d K o n t i n g e n z

2.1

Passion und Initiation

Wenn um 1 8 0 0 Ordnung gegen Kontingenz ausgespielt und der Zufallsverdacht erhoben wird, w i r f t man den Texten in der Regel ihr »barockes« M o m e n t vor. U n d »barock« wirkt a m Siebenkäs auf den ersten Blick bereits der Titel: »Blumen-, Frucht- u n d Dornenstücke oder Ehestand, T o d u n d Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs«. D o c h der rhetorische A u f w a n d der doppelten Enumeratio

f ü h r t gerade

nicht zu jenen etwa von Hegel kritisierten »barocke[n] Zusammenstellungen von Gegenständen, welche zusammenhangslos auseinanderliegen«. 6 V i e l m e h r verweist der Titel auf ein narratives Ordnungsmodell, das weniger kontingent kaum sein kann: »Ehestand, T o d und Hochzeit« des Armenadvokaten Siebenkäs entsprechen nämlich der »Passion, K r e u z i g u n g und Auferstehung« Christi. Jean Pauls assoziative Schreibweise, seine die Konturen des Ereignisgerüstes immer wieder überspringenden Phantasien scheinen sich einer das G a n z e umfassenden Strukturformel eher zu entziehen. Dennoch kann es dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß der R o m a n sich nach einem Baugesetz entfaltet, das der Vorgabe des Titels sehr genau folgt. 7 D i e offensive Leseanweisung, die der Doppeltitel für die R o m a n - L e k t ü r e gibt, lautet: Lies mich allegorisch. 8 D e r »Ehestand« ist die »Passion«, der »Tod« die »Kreuzigung«, die »Hochzeit« die »Auferstehung«, u n d Siebenkäs ist ein Postfigurant Jesu Christi. D i e Z u o r d n u n g e n der einzelnen (allegorischen) Signifikate sind streng geregelt, die fortgesetzte Metapher folgt - wie bereits

6

7

8

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Ders., Werke, Bd. 13, Frankfurt am Main 1986, S. 382. In Hegels Ästhetik-Vorlesung aus den i8zoer Jahren wird Jean Paul als exemplarischer Autor der sich auflösenden romantischen Kunstform begriffen. Nach Hegel ist die »klassische« Einheit von Form und Inhalt bei Jean Paul der »vollendete[n] Zufälligkeit und Äußerlichkeit des Stoffs« bzw. der Willkür eines Humors gewichen, der sich »in dem Zufall seiner Einfälle und Späße gehenläßt« und die entferntesten Gegenstände nur noch subjektivistisch aneinanderreiht (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Ders., Werke, Bd. 14, S. 220 u. 230). Ganz im Sinne der ordo-artificialisBestimmung von Quintilian versieht Hegel den Jean Paulschen Erzähldiskurs mit dem Index der Zufälligkeit, denn »den vernünftigen Lauf der Sache stets zu unterbrechen [!], willkürlich anzufangen, fortzugehen, zu enden, eine Reihe von Witzen und Empfindungen bunt durcheinanderzuwürfeln und dadurch Karikaturen der Phantasie zu erzeugen ist leichter, als ein in sich gediegenes Ganzes im Zeugnis des wahren Ideals aus sich zu entwickeln und abzurunden« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Ders., Werke, Bd. 13, S. 381). Gerhard Neumann, »Der Anfang vom Ende. Jean Pauls Poetologie der letzten Dinge im Siebenkäs«, in: Das Ende. Figuren einer Denkform, hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1996, S. 476—494, hier: S. 479. Neumann stellt die beim teleologischen Erzählmodell naheliegende Frage nach dem Ende ins Zentrum seiner Siebenkäs-Interpretation und diskutiert sie im Zusammenhang einer Poetologie der Autorschaft. Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, daß allegorische Texte mit der »Gepflogenheit der Doppeltitel« einhergehen (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 371). 129

das Allegorie-Beispiel, das Quintilian in der Ausbildung des Redners gibt - der Notwendigkeit einer teleologischen Narration: Die Allegorie [...] stellt einen Wortlaut dar, der entweder einen anderen oder gar zuweilen den entgegengesetzten Sinn hat. Die erstere Art erfolgt meist in durchgeführten Metaphern, so etwa >Schiff, dich treibt die Flut wieder ins Meer zurück!/ Weh, was tust du nur jetzt! Tapfer dem Hafen zu< und die ganze Stelle bei Horaz, an der er Schiff für das Gemeinwesen, Fluten und Stürme für Bürgerkriege, Hafen für Frieden und Eintracht sagt.9

Zwar distanziert sich der Erzähler des Siebenkäs von einem allzu schematischen, dreigeteilten Teleologie-Modell, bei dem die Geschichte vom Glück des Anfangs über einen stürmischen Weg in der Mitte bis zum Erreichen des Hafens am Ende verläuft: Die Katholiken zählen im Leben Christi fünfzehn Geheimnisse auf, fünf freudenreiche, fünf schmerzenreiche und fünf glorreiche. Ich bin unserm Helden durch die fünf freudenreichen, die etwan der Lindenhonigmonat der Ehe zu zählen hat, bedächtig nachgegangen; ich komme nun mit ihm an die fünf schmerzhaften [...] Mit dem vorstehenden Absätze fing ich dieses Bändchen in der ersten Auflage unbefangen an, als wär' er völlig wahr; aber zweite stark umgearbeitete Auflagen fodern von selber mich auf, verbessernd beizufügen, daß die erwähnten fünfzehn Geheimnisse sich nicht hinter einander, wie Stufen und Ahnen, gestellt, sondern, wie gute und schlechte Karten, sich einander durchschossen haben. (152)10

Die dem Zufall geschuldeten »Mischungen des Lebens« (152) haben jedoch immer schon zur Schicksalssemantik teleologischer Geschichten gehört und ändern nichts daran, daß am Ende des Siebenkäs eindeutig — zumindest programmatisch — die Hochzeit als Erlösung und Beendigung der »Leiden unsers Freundes« (576) stehen soll. Die Funktion der »Mischungen des Lebens« besteht lediglich darin, den Schematismus des Passionsmodells mit Realitätseffekten anzureichern. Einer der auffälligsten Realitätseffekte im Siebenkäs ist der die temporale Ordnung der Geschichte bestimmende, immer wieder mit genauen Datierungen versehene Ablauf der Jahreszeiten und Wetterlagen, der mit dem Passionsverlauf metaphorisch korrespondiert und ihm den Anschein >natürlicher< Notwendigkeit verleiht. So wird der Erzählerkommentar über die fünfzehn Geheimnisse im Leben Christi bezeichnenderweise an der Stelle eingefügt, an der die Geschichte der Ehe, die ohnehin nicht etwa im Frühling, sondern erst im Spätsommer, im August 1785, beginnt, buchstäblich und metaphorisch den

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Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Buch V I I I , S. 237. Ich zitiere im folgenden mit Seitenangaben in Klammern nach Jean Paul, Blumen-, Fruchtund Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Abt. I, B d . 2, Frankfurt am M a i n 1996.

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Anfang des Herbstes erreicht hat. Hintergrund der Einlassungen des Erzählers ist der erste große Konflikt zwischen Siebenkäs und Wendeline Lenette, hervorgerufen dadurch, daß Lenette am 29. September, dem Michaelistag, während einer delikaten Ehebruchsituation von dem Namenstausch ihres Mannes mit seinem Freund Leibgeber erfährt: Durch diesen Tausch wird das Ehepaar nicht nur um das auf Siebenkäs' >eigentlichen< Namen ausgestellte Erbe gebracht; Lenette selbst wird dadurch mit der »Zweifelhaftigkeit ihres jetzigen — Namens« konfrontiert, da sie nicht weiß, ob »sie an einen Siebenkäs oder an einen Leibgeber verheiratet« ist (106). Der Erzähler vergleicht diesen ersten Konflikt mit einem Gewitter im Frühjahr, an dem man die weitere Wetterentwicklung des Jahres ablesen kann: Ich beobachte nichts schärfer und protokolliere nichts weitläuftiger als zwei Tagund Nachtgleichen, die eheliche, wenn nach den Flitterwochen die Sonne in die Waage tritt, und die meteorologische draußen, weil ich imstande bin, aus der Witterung in beiden das Wetter wunderbar auf lange Zeit vorauszusagen. Am wichtigsten ist mir das erste Gewitter im Frühjahr und im Ehestand; die andern alle ziehen aus seiner Gegend her. (112) Allerdings hat es einen ungetrübten Frühling für die im August geschlossene Ehe nie gegeben. Schon wenige Tage nach der Hochzeit vermeldet der Erzähler den »ersten Schlag des Gewitters« (57), und das »Rad der Fortuna fing bald an zu knarren und Kot auszuspritzen« (54). Auch das Glück der »Flitterwochen« (77) ist nicht nur nicht von Dauer, sondern steht von vornherein im Zeichen des Herbstes: Das Glück schicke uns eine noch so unfreundliche frostige Herbstluft auf den Hals - zerbricht es uns nur nicht wie Schwänen das oberste Flügelgelenk: so wird uns allemal das Geflatter, das wir damit machen, wo nicht in ein wärmeres Klima tragen, doch ein wenig selber in Wärme bringen. (77) Schnell folgt dann die eigentliche Passionszeit im Herbst und Winter 1785/86, in denen der »Schönheitapfel der Ehe« endgültig zum sauren Zankapfel wird (37). Vor allem der November markiert einen Einschnitt im Eheprozeß. Im Ubergang vom Oktober in den November geht die Ehe »vom Nachsommer in den Vorwinter über, und moralische Fröste und Nächte nehmen mit den physischen zu« (197). Entsprechend hat der »fünfundachtziger November [...] einen fatalen pfeifenden Atem, eine kalte H a n d wie der Tod und eine unangenehme Wolken-Tränenfistel«; die »Wetterfahne« wird für das Ehepaar zur »Trauerfahne« (197). Im »Totenschein« der Dezembersonne schließlich scheint es keine H o f f n u n g mehr zu geben (312). Z w a r kommt es am elften Februar 1786, dem »Euphrosinenstag« (338) und Geburtstag Lenettes, noch einmal zur Versöhnung. Aber die Versöhnung wird sofort zurückgenommen und offenbart sich im nachhinein als Betrug des Erzählers: In einem eingeschobenen, auf den 2. Februar datierten Brief von Leibgeber wird Siebenkäs aufgefordert, Lenette zu verlassen und im Mai nach Baireuth zu reisen (vgl. 344-349), außerdem wird 131

dem Leser die »sympathetische Freude« (349) über die Versöhnung zwischen Siebenkäs, Lenette und dem Hausfreund Schulrat Stiefel, der Lenette auf dem Weg zur Vermählung von Augsburg nach Kuhschnappel begleitet hat, dadurch genommen, daß der Erzähler kurz und bündig vermeldet: »Wendeline liebte den Rat: das wars« (350). Die Ehe also ist nicht zu retten; Februar, März und April ziehen entsprechend »mit einem großen tropfenden Gewölke« über Siebenkäs' Haupt (351), und kurz vor Ostern verliert der Armenadvokat auch noch seinen zweiten Erbschaftsprozeß. Daß mit dem Mai dann der kanonische Monat aller vom Text exzessiv ausgebreiteten Frühlings- und Idyllentopik den Hintergrund für Siebenkäs' Aufbruch und seine Liebe zu Natalie abgibt, ist von einer gleichsam natürlichen Notwendigkeit. Doch mit dem erreichten »Himmeltore des Frühlings« (358) ist die Geschichte nicht zu Ende und bei den glorreichen Geheimnissen des Lebens Christi angekommen. Wie schon bei Lenettes zweimal aufgeschobener Ankunft am Anfang des Romans wird auch das Happy End mit Natalie hinausgezögert. Zunächst muß - ein Jahr nach der Hochzeit mit Lenette, im August 1786 - der Tod von Siebenkäs inszeniert werden, damit der Held aus der Ehe befreit werden kann. Und erst ein weiteres Jahr später, ebenfalls im »Totenmonat« August (563), finden Siebenkäs und Natalie auf Lenettes Grab endlich zueinander. Als Roman, der nicht zur bürgerlichen Ehe hin-, sondern aus ihr herausführt, dreht der Siebenkäs die herkömmliche Ordnung von Liebesgeschichten auf den Kopf. Was Hegel ans Ende des »Romanhaften« gestellt hat: daß das Subjekt im »Katzenjammer« der Ehe landet, 11 ist gerade der Ausgangspunkt von Jean Pauls Roman. Was den Siebenkäs aber mit zeitgenössischen Liebesgeschichten verbindet, die immer auch Bildungsgeschichten des (männlichen) Subjekts sind, ist der Anspruch, daß »für Liebe, Sexualität und Ehe eine neue Einheitsformel gesucht und in der Idee persönlicher Selbstverwirklichung gefunden wird«. 12 Da um 1800 die »Sozialität des Liebens [...] als Steigerung der Chance zur selbstbewußten Selbstbildung begriffen« wird, 13 genau diese Sozialität jedoch, die nach Luhmann darin besteht, daß die Frau den Mann liebt, damit dieser selbstreferentiell das Lieben lieben kann, 14 in der Ehe zwischen Siebenkäs und Lenette fehlt, führt der Selbstverwirklichungs- und Liebesanspruch des männlichen Helden zwangsläufig aus der Ehe heraus. So gesehen ist Jean Pauls Siebenkäs die Inversion des modernen Bildungsromans. Während es im Bildungsroman darum geht, daß das männliche Subjekt Liebe und Begehren nach mehr oder weniger zahlreichen Begegnungen mit

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Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Ders., Werke, B d . 14, S. 220. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Z u r Codierung von Intimität, 4. Aufl., Frankfurt am M a i n 1998, S. i5of. Luhmann, Liebe als Passion, S. 172. Diese Selbstreferentialität der Liebe bringt Leibgeber auf den Punkt, wenn er Siebenkäs gegenüber betont: »[...] und am Ende kann man ja bloß die Liebe lieben [...]« (534).

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unterschiedlichen Frauentypen schließlich in die bürgerliche Ordnung, das heißt: die Ehe integriert, muß Siebenkäs die Ehe gerade verlassen, um zum Liebenden werden zu können. In beiden Fällen aber steht die Initiation des männlichen Helden im Zentrum, für die Liebe der entscheidende Motor ist. Auch der Siebenkäs gehört also, obwohl er kein Bildungsroman ist, dem narrativen Typus des Initiationsromans an, den Michael Titzmann als »eine repräsentative Erzählform der Epoche« um 1800 bestimmt hat.15 Und wie das Passionsmodell weist die Ordnung der Initiationsgeschichte ganz im Sinne der Formel von »Trennung — Initiation - Rückkehr«, die Joseph Campbell als Kern der großen Heldenmythen ausgemacht hat, 16 »eine dreiphasige Organisation« auf: »Der Held tritt aus einer etablierten sozialen Ordnung in den außersozialen Raum aus, wobei diese Transitionsphase durch eine Reise markiert wird, um am Ende in eine neue, mit der ersten nicht identische soziale Ordnung einzutreten«.17 Die etablierte soziale Ordnung, die in Jean Pauls Roman an den Anfang gesetzt wird, ist nicht die bürgerliche, mütterlich geprägte Kleinfamilie, von der die jugendlichen Helden der Bildungsromane als Söhne aufbrechen, sondern die Institution der Ehe im Rahmen der bürgerlichen Ordnung von Kuhschnappel. Die Vorgeschichte dieser Ehe wird nicht erzählt. Siebenkäs ist, wie es im Text heißt, «auf einmal in die Flitterwochen eines Zweisiedlers gefahren« (77; Hervorh. S.M.): Der Erzähler setzt alle familiären und genealogischen Rituale der Eheschließung außer K r a f t . E r läßt die wichtige Frage der Liebe außer acht, er läßt sein Paar nicht einmal zusammenfinden, sondern stellt es von vornherein als gegeben hin. [...] Das apodiktische Wort der Genesis >Es ist dem Menschen nicht gut, daß er allein sei«, das ohnehin die Ehe zur maßgebenden Lebensform des 18. Jahrhundert aufwertet, wird auch hier ohne weitere Begründung zum Leitsatz f ü r das Z u s a m menkommen des Paares. 1 8

Da die Frage der Liebe um 1800 jedoch — gerade im Hinblick auf die Ehe - unhintergehbar ist,19 ist die »Trennung« vorprogrammiert. Schon die

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Michael Titzmann, »Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770—1830)«, in: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Link u. Wulf Wülfing, Stuttgart 1984, S. 100-120, hier: S. ιοί. Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 36. Michael Titzmann, »Bemerkungen«, S. 101. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische GeschlechterWerkstatt, Freiburg i.Br. 1999, S. 228. In der Vorschule der Ästhetik spricht Jean Paul vom Dichter, der »gleich einem Gotte, vorn am ersten Tage der Schöpfung seine Welt setzt« (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Frankfurt am Main 1996, Abt. I, Bd. 5, S. 246; im folgenden abgekürzt: VdÄ). Zu den unterschiedlichen Codierungen von Liebe in der Kunstperiode vgl. den gleichnamigen Sammelband, hrsg. v. Walter Hinderer, Würzburg 1997. Zum Vermittlungsanspruch von 133

Nachordnung der Liebe entlarvt die Ehe zwischen Lenette und Siebenkäs als historisch überholte, »alte Ehe«, der die Annahme zugrundeliegt, daß im besten Falle »der Eheschließung Zuneigung und Liebe [...] folgen werde«.20 Selbst wenn dieser beste Fall im Siebenkäs eintreten würde, wäre die Ehe verlaufslogisch nicht zu retten. Denn die emphatische Liebe, ohne die individuelle Bildungsprozesse nicht zu haben sind, wird um 1800 vorehelich gedacht und muß daher zum Sprengsatz einer Ehe werden, die keine Geschichte hat und eine solche Liebe per se nicht bieten kann. Ohnehin erscheint das gesamte Arrangement der Ehe als bloße Versuchsanordnung und Satire auf die bürgerliche Institution der Ehe: Wie Siebenkäs und Leibgeber »nur aus satirischer Bosheit« und »sehr zum Spaße« die »vernünftigsten Gebräuche« und »schöne[n] bürgerliche[n] Sitten« kopieren (53), so wirken die ehelichen Rituale von der Trauung und dem Hochzeitsessen bis zum häuslichen Alltagsleben wie ein Rollenspiel, auf das man wie Leibgeber bei der Trauung in der Kirche herabschauen kann, um die beteiligten Figuren »zwölf Stunden lang auszulachen« (39).11 Was von diesem Spiel zu halten ist, macht der Erzähler in seinen kritischen Anmerkungen zur Ehe immer wieder deutlich. In einer selbstreflexiven Passage gegen Ende des Romans wird etwa der an den Anfang gesetzte »Ehestand« zwischen Siebenkäs und Lenette unmißverständlich mit der Hochzeit zwischen einer Witwe, »die weniger geliebt als geheiratet sein« will, und einem »schweren Geschäftsmann« verglichen, der sich die Liebe spart und »seinen Roman auf der Stufe« anfängt, »wo alle Romanschreiber die ihrigen ausmachen, nämlich auf der Trau-Altarstufe« (558). Wenn der Romantitel nach »Ehestand« und »Tod« am Ende, wie es die Konvention verlangt, eine »Hochzeit« in Aussicht stellt, könnte man gemäß der »Rückkehr«-Stufe innerhalb des Initiationsschemas eine gelungene Vermittlung von (vorehelich gewonnener) Liebe und bürgerlicher Ehe erwarten. Allerdings kann der Siebenkäs, der als Eheroman zugleich ein Anti-Eheroman ist, nur eine »himmlische Hochzeit«22 ans Ende setzen, für die kein Ort mehr innerhalb der bürgerlichen Ordnung vorstellbar ist.

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Liebe und Ehe innerhalb der Codierungsgeschichte von Intimität vgl. Luhman, Liebe als Passion, S. I49f., I73ff·, i83ff., sowie Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. i i $ f f . Zur Ehethematik im Roman um 1800 (mit einem narratologisch wenig ergiebigen Siebenkäs-Kapitel) vgl. Bettina Recker, »Ewige Dauer« oder »Ewiges Einerlei«. Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800, Würzburg 2000. Luhmann, Liebe als Passion, S. 182 (Hervorh. S.M.). Vgl. Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 230. In einer auf den Hochzeitsmonat August 1785 datierten Vorrede in den Palingenesien wird die Rollenspiel- und TheaterMetaphorik nochmals aufgegriffen, wenn Siebenkäs schreibt, daß er mit seiner Heirat »nun endlich nach langem Harren auf das Theater des Lebens hereingesprungen« sei (Jean Paul, Palingenesien, in: Ders., Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 4, S. 717—923, hier S. 734). Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 224. Jean Paul mag zwar, wie Luhmann behauptet, der »eindrucksvollste[ ] Prophet« einer selbstreferentiellen »Liebe um Liebe« sein (Luhmann, Liebe als Passion, S. 175), dem romantischen Ideal einer Liebesehe aber

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Bildung und Initiation als »Verwandlung[en] von Natur in Kultur«23 sind an den Erwerb von Zeichen und die Kompetenz gekoppelt, diese Zeichen lesen zu können. Deshalb ist gerade die Liebe als kulturell-gesellschaftlicher »Code der Intimität« im Sinne Luhmanns funktional notwendig für das Erzählen von Initiationsgeschichten. Deshalb ist es aber auch so naheliegend, die Tätigkeitsfelder der Initianden im Bereich ästhetischer Medien und Zeichenwelten anzusiedeln. Vom Wilhelm Meisters Lehrjahren bis zum GrünenHeinrich sind die Helden der kanonischen Bildungsgeschichten nicht nur Liebende, sondern immer auch Künstler. Jean Pauls Siebenkäs stellt da keine Ausnahme dar. Als Armenadvokat in Kuhschnappel und später als Inspektor in Vaduz tritt Siebenkäs als Gelehrter auf, der sich aufs professionelle Lesen von (Schrift-)Zeichen versteht. Darüber hinaus wird Siebenkäs auch zum Produzenten von Zeichen. Zum einen nämlich schreibt er Rezensionen und kommt wie das Erzähler-Ich auf den Gedanken, »das zu machen, was ich hier mache - ein Buch, obwohl ein satirisches« (81). Zum anderen verfaßt er — im Autorenteam mit Leibgeber — das Drehbuch seiner eigenen »Kreuzigung« und muß dann bis zur Lösung »des harten, ewigen Knoten[s] [...] seine Stunden auf dem Theater« zubringen (560). Die Passionsgeschichte ist demnach zugleich eine Geschichte der Initiation zur Inszenierungskunst und Autorschaft. 24 Und dieser Weg wird durch ein weiteres Ordnungsschema strukturiert: das Oppositionspaar »Prosa« und »Poesie«, das der Gegenüberstellung von Ehe und Liebe entspricht.25 »Prosa« ist, dem Sprachgebrauch der Zeit gemäß, als »bürgerliche Alltäglichkeit«26 der Welt von Kuhschnappel zu verstehen, die für einen Eheroman der deutschen

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wird im Siebenkäs eine klare Absage erteilt: Was der Roman leistet, ist vielmehr »eine kritische Beleuchtung auf die größte Neuerung des Geschlechterverhältnisses um 1800, auf das Projekt der Liebesehe. [...] Bevor auch nur die gültigen Formulierungen dieses Projekts bei Fichte, Schlegel und Novalis erschienen sind, überführt sie der Roman, der sie auf den ersten Blick zu teilen scheint, in die schwierige Bailance einer Anerkennung des Anderen, in die Dialogizität einer gegenseitigen Auseinandersetzung und in die Dynamik der verfließenden Zeit« (Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 291). Gerhard Neumann, Struktur und Gehalt, in: Johan Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. Friedmar Apel, Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Frankfurt am Main 1989, S. 915—987, hier S. 955. Nach Gerhard Neumann wird die Kunst- und Autorschaftsthematik bereits im Titel angezeigt, da die erste Reihung des Titels (»Blumen-, Frucht- und Dornenstücke«) »ein ästhetisch-mimetisches Feld« evoziere (Neumann, »Der Anfang vom Ende«, S. 479). »Die Liebe ist die Sonnennähe der Mädchen, ja es ist der Durchgang einer solchen Venus durch die Sonne der idealen Welt. [...] In diesem Frühlinge schlagen diese Nachtigallen bis an die Sommersonnenwende: der Trautag ist ihr längster Tag. Dann holet der Teufel zwar nicht alles, aber doch jeden Tag ein Stück. Das Bastband der Ehe bindet die poetischen Flügel, und das Ehebette ist für die Phantasie eine Engelsburg und ein Karzer bei Wasser und Brot« (556). Statt einer Vermittlung von Liebe und Ehe bietet der Siebenkäs strikte Dualismen. VdÄ, S. 2 5 4 f .

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Schule27 wie den Siebenkäs kennzeichnend ist. Der Poesie entspricht Natalies »Fantaisie«: In Lenetten hatt' er [Siebenkäs, S . M . ] keine Natalie geliebt, wie in dieser keine Lenette; seine eheliche Liebe war ein prosaischer Sommertag der Ernte und Schwüle, und die jetzige eine poetische Lenznacht mit Blüten und Sternen, und seine neue Welt war dem N a m e n ihrer Schöpfung-Stätte, der Fantaisie, ähnlich (448)·

Das Oppositionsschema von Prosa und Poesie strukturiert nicht nur den Verlauf der Geschichte, die Bewegung des Helden von Lenette zu Natalie, sondern stellt vor allem auch eine räumliche Ordnung zwischen den Orten Kuhschnappel und Baireuth oder Fantaisie her. Die Grenze zwischen beiden Welten wird durch den Fluß Jaxt markiert: Hier taucht bei der Hinreise nach Baireuth erstmals der (innerhalb der Mai-Topik obligatorische) Wunsch nach einer Geliebten auf,28 und auf der Rückreise wird mit Erreichen des Flusses umgekehrt wieder die Erinnerung an Lenettes Welt geweckt: A m Morgen ging in ihm eine andere Welt auf, nicht die bessere, sondern die ganz alte. Ordentlich als hätten die konzentrischen Zauberkreise von Natalie und Leibgeber nicht weiter gereicht und nicht mehr umschließen können als bloß noch das kleine Sehnsucht-Tal an der Jaxt: so trug jeder Schritt nach der Heimat die Dichtkunst seines bisherigen Lebens in poetische Prose über (465; Hervorh. S.M.).

Daß es an diesem Ort nach Tagen des Sonnenscheins und blauen Himmels plötzlich zu regnen anfängt, ist dem Ubergang vom poetischen Paradies in die prosaische Welt angemessen und verbindet die räumliche Ordnung mit der von Jahreszeit und Wetterlage.29 z.2 »Der bestochene Zufall« In den romanpoetologischen Passagen seiner Vorschule der Ästhetik legt Jean Paul großen Wert auf das ordentliche »Motivieren« einer Geschichte.'0 Bei allem Bewußtsein für die »verschiedenen möglichen Richtungen«31 des Erzählens

2

7 Vgl. VdÄ, S. 254. Zunächst versammelt der Text alle Versatzstücke eines >romantischeneigene< Texte zitieren, die der im Siebenkäs »als >Autor< apostrophierten Erzählinstanz >Jean Paul Fr. Richter< zugeschrieben sind«.111 Auf der anderen Seite erweist sich nach Pross »die gleiche narrative Geste«, die in der gelehrten Aneignung anderer Texte die Souveränität und »Produktivität [...] des auktorialen Subjekts ausstellt, [...] als Ent-Eignung des Textes durch das fremde >geliehene< Wort«.112 Wie jede Allegorie ist die Ich-Allegorie als Figuration von Autorschaft ordentlich und kontingent zugleich. Während die Kontingenz im Falle der Passions- und Initiationsgeschichte des Armenadvokaten die teleologische Ordnung durchkreuzt, ist die Kontingenz im Falle der Ich-Allegorie gegen die Ordnung der Archie, das heißt: die Herrschaft des Ursprungs, gerichtet. Und wie sich die Spannung von Teleologie und Kontingenz gerade an den finalen Figurationen der histoire offenbart, zeigt sich die Spannung zwischen Archie und Kontingenz nirgendwo deutlicher als an dem Ort, an dem der Ursprung der Rede, ihr »Verfasser« (11) und »Autor« (17), am ehesten bei sich selbst zu sein scheint: in den Vorreden des Siebenkäs."3 4.1 Identität und Alterität: Zur Figuration von Autorschaft in den Vorreden »Um das >Papiergeld< eines Textes als Literatur auszuweisen und seinen Wert auf dem literarischen Markt zu >realisierensprechenden< Ich, inthronisiert werden. Und infolgedessen geht es in den Blumenstücken doch wieder — wie in den Vorreden — auch um die Macht des Ursprungs und die Autorität der Autorschaft. Aus dieser Perspektive erscheint die Christus-Rede des ersten Blumenstücks als Selbstermächtigung des Sohnes zum virtuosen Autor-Gott und Christus wiederum als ein Doppelgänger des Traum-Autors: des intradiegetischen Ich.

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Vgl. hierzu die Analyse der Metaphernkette in der Lichtschneuz-Episode zwischen Lenette und Siebenkäs bei Waltraud Wiethölter, Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls, Tübingen 1979, S. i^ff.

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Die Machtdemonstration der Christus-Rede verweist damit auf das narrative Setting der Vorrede von »Jean Paul Friedr. Richter« am Anfang des Siebenkäs, in der sich hinter dem rhetorischen Machtgestus des Erzähler-Ich ebenfalls ein >Vatermord< verbirgt. Das Ich verrät sich in der Vorrede sogar selbst, wenn es beiläufig erwähnt: »Daran mußt' er versterben — ich meine entschlafen« (25), während es den Vater des Hauses »durch langstilisiertes Redenhalten« (20) einzuschläfern versucht, um als die Vater-Position einnehmender »Autor« (25), der eigene Werke vorträgt, an die Tochter, Johanne Pauline, heranzukommen. Was im narrativen Verführungsszenario der Vorrede nur zum Teil gelingt, da das Ich nach der Lesung aus dem Hesperus (am Heiligen Abend) vom wiedererwachten Vater nach Hause geschickt und schließlich mitten im Versuch, am Silvesterabend aus dem (noch gar nicht fertigen) Siebenkäs vorzutragen, vom wachsamen Vater regelrecht aus dem Haus gejagt wird, kann in der Imagination des (Wunsch-)Traumes endlich gelingen, den beide Blumenstücke zum Ausdruck bringen. Der Vater, Gott also, wird im ersten Blumenstück rhetorisch für tot erklärt, und im zweiten kann Christus dann triumphierend die Position des Vaters einnehmen. Analog zur inzestuösen Logik der Vorrede geht es innerhalb der Konfiguration der Heiligen Familie zwar nicht um die Vereinigung von »Autor und Tochter« (25), statt dessen verwandelt sich der Sohn in den »Geliebte[n]« Marias (277), und diese wiederum wird - wie Johanne Pauline für den Vorredner und Natalie für Siebenkäs - zum bloßen »Medium«149 der von Christus eingegebenen Liebesträume, die am Ende selbstreferentiell (und damit sowohl eine Spiegel- als auch Kreisstruktur bildend) in eine Mutter-Kind-Apotheose münden. Das intradiegetische Ich des zweiten Blumenstücks fungiert dabei erneut als Doppelgänger Christi, weil es als auktoriale Instanz — analog zur göttlichen Position des Sohnes - einen Bewußtseinsbericht von Marias Traum im Traum zu liefern vermag. Sowohl das erste als auch das zweite Blumenstück sind also Ausdruck einer narzißtisch-inzestuösen Omnipotenzphantasie, die das intradiegetische Ich der Rahmenerzählung mit seinem Doppelgänger Christus in der Binnenerzählung und dem »Jean Paul Friedr. Richter« der Vorrede verbindet. Was jedoch von einem narzißtisch geprägten Versöhnungsszenario zwischen Mutter und Sohn zu halten ist, wie es das zweite Blumenstück am Ende präsentiert, wird deutlich, wenn man dem Verweis folgt, der von Marias Wunsch ausgeht, die »Liebe der Menschen« im Traum gezeigt zu bekommen, »wenn sie sich wiederfinden nach einer schmerzlichen Trennung« (277). Dieser Ver149 Wirtz, >»Ich komme bald', sagt die Apokalypsis und ich«, S. 75. Wirtz legt den Akzent darauf, daß die Reduktion der Zuhörerin zum Medium des männlichen Autors innerhalb der empfindsamen (und narzißtischen) Kommunikationssituation vor allem für die erste Fassung gilt. Die Umstellung der Blumenstücke im Roman ändert aber nichts daran, daß das Problem von Autorschaft und Narzißmus auch in der zweiten Fassung überaus präsent ist. Bezeichnend für Wirtz' Interpretationsansatz ist denn auch, daß er auf das zweite Blumenstück gar nicht erst eingeht. 168

weis nämlich führt zum fragwürdigen Happy End des Romans und steht bei Maria ebenso wie bei Natalie und Siebenkäs im Zeichen des »Todesengel [s]« (277).150 Hinzu kommt, daß die durch den »böse[n] Feind des Zufalls« (268) gescheiterte Versöhnungsinszenierung mit dem Blumenstrauß auf dem Grab unmittelbar vor den beiden Blumenstücken in der zweiten Fassung nicht nur die rhetorische Strategie des ersten Blumenstücks in Frage stellt, worauf Wirtz bereits hingewiesen hat, 151 sondern gerade auch die narzißtisch-auktorial erpreßte Versöhnung des zweiten Blumenstücks. Da die auf dem Friedhof spielende Blumenstrauß-Szene ebenso im Zeichen des Todes wie das zweite Blumenstück steht, wird der Wunsch nach Versöhnung insgesamt mit dem Tod in Verbindung gebracht. Versöhnung als Aufhebung aller Differenzen und Kontingenzen ist demnach, zugespitzt gesagt, tödlich. Weil aber das Ende der Differenz zugleich das Ende der Schrift bedeutet, verweist die Versöhnungsszene zwischen Mutter und Sohn im zweiten Blumenstück ebenso auf den Schluß der histoire wie auf das Ende des discours als >Tod< des Romans. Wie die tödliche Umarmung der Riesenschlange am Schluß des ersten Traums die »letzte Stunde der Zeit« einläutet (275), das ewige Nichts aber noch einmal durch das Erwachen des intradiegetischen Ich — und damit durch das Weiterlaufen des discours — abgewendet werden kann, ist die »schöne [ ] Umarmung« (280) von Mutter und Kind am Ende des zweiten Traums als Metapher für das Ende der Zeit, das heißt: des discours selbst, zu verstehen. Nicht das erste also, sondern das zweite Blumenstück stellt für den Siebenkäs die eigentliche Apokalypse dar. 1 ' 2 4.3 Digression und Enzyklopädie: Zur Poetik der Schrift Ob man bei der Lektüre der Blumenstücke den Akzent auf die Ursprungslosigkeit (und potentielle Unendlichkeit) der Schrift und damit auch auf die Kritik des Textes am narzißtischen Ursprungsbegehren legt oder ob man eher die paradoxale Inszenierung dieses Begehrens innerhalb der Schrift betont, fest steht jedenfalls: Bei beiden Blumenstücken handelt es sich um Digressionen, die - alles andere als kontingent - aufs engste mit dem Gesamtzusammenhang

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Auch Dangel-Pelloquin weist auf die »motivische Verknüpfung« des Romanschlusses mit dem zweiten Blumenstück hin (Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 311). Vgl. Wirtz, »>Icb komme baldIch

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Zur Struktur des Narzißmus bei Jean Paul vgl. Alice A. Kuzniar, »Titanism and Narcissism. The Lure of the Transparent Sign in Jean Paul«, in: DVjs 60 (1986), S. 440—458, sowie Waltraud Wiethölter, »Die krumme Linie. Jean Pauls humoristisches ABC«, in: Jahrbuch f. Internat. Germanistik XVIII (1986), S. 36-56, vor allem S. 42ff. Lacan, »Das Drängen des Buchstabens«, S. 187. Die Nähe zu Bachtins Dialogizität und Polyphonie liegt auch hier auf der Hand. Lacan, »Das Drängen des Buchstabens«, S. 188. Diese Vielstimmigkeit macht den allegorischen Charakter der Sprachstruktur im Sinne Lacans deutlich (vgl. Drügh, Anders-Rede, S. 23). Zur Theorie von Lacan allgemein (und zu dessen Nähe wiederum zu Derrida) vgl. Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 367ff. Drügh, Anders-Rede, S. 23. Für Drügh ist dieser Wusch nach Sinnkomplexion und -fixierung ebenso konstitutiv für das Allegorische wie die Sinnzerstreuung und Kontingenz. Das allegorische »Doppelspiel«, von dem Drügh in diesem Zusammenhang spricht (Drügh,

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,S7

komme bald*, sagt die Apokalypsis und ich«, S. 73).

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unerfüllt bleibt, drängt das Begehren »Wortfür Wort«I58 weiter und läßt eine allegorische Narration mit den genannten Spiegelungen und Uberdeterminierungen entstehen, die zugleich nur immer weiter in die Äußerlichkeit und Kontingenz der Schrift führen. Die Blumenstücke stellen da in ihrer Dekonstruktion des Ursprungs keine Ausnahme dar: Die metonymische Verschiebung des (gescheiterten) >Vatermords< in der Vorrede zum Tod von Gott-Vater höchstpersönlich und die Verschiebung des göttlichen Standpunkts zum nullfokalisierten Blick des Traum-Autors oder die Spiegelung des versöhnlichen Happy Ends zwischen Natalie und Siebenkäs in der Mutter-Sohn-Dyade der Heiligen Familie können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hierbei um bloß textuelle Inszenierungsstrategien handelt und daß durch die intra- wie intertextuellen Verweise auch Sinneffekte mitproduziert werden, die sich nicht harmonisch ins Bild integrieren lassen. Vor allem wird durch die ausgestellte Rahmung der Blumenstücke das lediglich Imaginäre der Traum-Reden deutlich, die als »Phantasmen von gelingender Bezeichnung und Vollständigkeit« gerade der ans Medium der Schrift gebundenen »Dauerfrustration« zeichenvermittelter Entfremdung vom eigentlich Gewünschten geschuldet sind. 159 Auch diese narzißmuskritische Dimension der Blumenstücke fügt sich insofern in den Gesamtzusammenhang des Siebenkäs, als dieser aufgrund seiner allegorischen Verfaßtheit gar nicht anders kann, als seine eigene Voraussetzung, die »radikale Zeichenhaftigkeit der Welt«, 160 zu reflektieren und den Zitatcharakter seiner erzählerischen Requisiten immer wieder zu markieren. Was die Vorreden und Blumenstücke im einzelnen kennzeichnet, zeigt sich im Siebenkäs insgesamt: eine bei allem Ursprungsbegehren konsequente Poetik der Schrift, die alles Geschriebene permanent in Anführungszeichen setzt und das kontingente Wuchern der Sprache im eigenen digressiven Erzählverfahren abbildet. A m deutlichsten — das heißt: auf der Oberfläche des discours sichtbarsten - zeigt sich diese Poetik der Schrift in den 180 Fußnoten, die den Roman durchziehen. Caroline Pross hat darauf hingewiesen, daß die narrative Funktion der Fußnoten in ihrem »deiktische[n] Signal auf den Akt des Zitierens selbst«"51 liegt. Die Fußnoten stehen damit ebenfalls - wie die Figuration von Autorschaft insgesamt — in der Spannung von Alterität und Identität, von auktorialer Aneignung und intertextueller Enteignung. Denn die Quellenangaben und das Detailwissen in den Fußnoten verbürgen zum einen zwar

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Anders-Rede, S. 22), ist nichts anderes als das, was ich bei Jean Paul als Spannung zwischen Alterität und Identität, Vergeudung und Verknappung, Aneignung und Enteignung, auktorialer Ordnungspolitik und semiologischer Kontingenz verstehe. Lacan, »Das Drängen des Buchstabens«, S. 189. Drügh, Anders-Rede, S. 22. Drügh, Anders-Rede, S. 25. Pross, Falschnamenmünzer, S. 79.

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die Historizität des Textes und gelehrsame Autorität des Erzählers, zum anderen aber markieren sie graphisch in der Verdopplung des Diskurses und inhaltlich durch den dialogischen Bezug auf fremde Texte die »strukturelle Ent-Autorisierung«102 des vermeintlichen Haupttextes sowie der auktorialen Erzählerstimme. Strukturell wird diese Ent-Autorisierung bei den Fußnoten mit Quellenangaben163 durch den bloßen Verweis auf andere Autoritäten hervorgerufen. Ob die Quellen dabei philologisch korrekt angegeben werden oder überhaupt existieren, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß der allegorische Haupttext durch Kürzel in den Fußnoten wie »Buxt. lex. p. 221« (134) oder »Etudes de la nature, Τ. III. p. 220« (254) sein eigenes Verfahren als musivisches Verweben anderer Diskurse mit dem eigenen Erzähldiskurs kenntlich macht. Dabei könnte über die 180 Fußnoten hinaus potentiell hinter jedem Signifikanten des Haupttextes ein Fußnotenzeichen stehen; und abgesehen davon verweisen die in den Fußnoten nachgewiesenen Diskurse ihrerseits wiederum auf andere Diskurse — ad infinitum. Inwiefern die Fußnoten dem auktorialen Ich »die Throninsignien und den Zepter der Unterredung« (427) wegnehmen, verdeutlicht exemplarisch die zweite Fußnote in der Vorrede von ν Jean Paul Friedr. Richter«. Dort belegt der Vorredner mit Verweis auf »Boysem Koran in Michaelis orientalischer Bibliothek« (28) den im Haupttext angeführten Vergleich: Wie der Vorredner unnötig lange auf den längst eingeschlafenen Vater eingeredet hat, haben laut Koran die Teufel dem nach seinem Tod ausgestopften und mit Stäben aufgestellten König Salomo so lange gedient, bis endlich »die Hinterachse von Würmern zernagt wurde und der Souverän umkugelte« (28). Der einzige Souverän, der hier jedoch umkugelt, ist der Vorredner selbst: So drastisch der mit Hilfe des Vergleichs imaginierte Vatermord auch sein mag, es bleibt doch ein durch die Fußnote als zeichenvermittelte Phantasmagorie markierter und bloß herbeizitierter Vergleich, bei dem der metaphorische Schein der Identität von Schlaf und Tod auf dem Weiterdrängen des Buchstabens vom Schlaf zu dessen metonymischem Bruder, dem Tod (vgl. 412), beruht. Dieser illusionäre Schein muß durch das spätere Verjagtwerden des Vorredners gar nicht mehr zusätzlich entlarvt werden; die Fußnote selbst verdeutlicht, daß es für das narzißtische Subjekt keinen Ausweg aus einer Welt voll Zeichen und Differenzen gibt. 164

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Pross, Falschnamenmünzer, S. 80. Walter R e h m unterscheidet f ü n f Fußnotentypen bei Jean Paul: Erstens Noten, die lediglich Quellenangaben enthalten; zweitens Noten »als Erklärungen von Anspielungen mit und ohne Quellenangaben«; drittens Noten, die eine die histoire kommentierende Funktion haben; viertens Noten mit Übersetzungen fremdsprachlicher Textstellen; und fünftens Fußnoten, die sich in ihrer aphoristischen Form »mehr oder weniger stark vom Text emanzipiert haben« (Walter Rehm, Jean Pauls vergnügtes Notenleben, in: Ders., Späte Studien, Bern 1964, S. 57). Hinzu kommt, daß durch den Vergleich mit dem Teufel ein anderes Licht auf den rheto-

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Daß der Abstieg ins »Noten-Souterrain«165 der Fußnoten aus dem Autoritätsbereich des Haupttextes heraus- und in die semiologische Kontingenz des enzyklopädischen Universums hineinführt, führt die Erläuterung der »Jesuiterblauen [...] giftigen Blumen« (58) beispielhaft vor Augen. Ausgangspunkt ist im Haupttext zunächst die Verlogenheit des Erbschaftsverwalters Heimlicher von Blaise, hinter dessen sonntäglicher Andacht sich wie im alltäglichen Geschäftsleben lediglich egoistisches Interessenkalkül verbirgt. Eingeleitet mit einem »Inzwischen«, das nichts mit inszenierter Gleichzeitigkeit innerhalb der histoire zu tun hat, sondern eine Digression anzeigt, bei der die histoire unterbrochen wird, während der discours weiterläuft,166 baut der Haupttext einen sich über mehrere Zeilen erstreckenden Vergleich auf: Inzwischen rat' ich Kränklichen, nicht an solche schöne himmelblaue Gewächse nahe zu treten oder zu riechen, die der Weinberg der Kirche nur zur Zierde hat, wie ein englischer Garten sich mit dem schönen Napellus (aconitum Nap.) und seinem himmel- oder Jesuiter-blauen1 mannshoch und pyramidalisch aufsteigenden giftigen Blumen putzt. (58)

Die Struktur des Vergleichs ist zunächst relativ unkompliziert: Menschen, die mit von Blaise zu tun haben, sollten sich vor ihm in Acht nehmen, wie Kränkliche sich vor den himmelblauen Ziergewächsen des Weinbergs hüten sollten. Denn — und hier schließt sich kausal der nächste Vergleich an — diese Ziergewächse sind so giftig wie die ebenfalls himmelblauen Blumen des Napellus im englischen Garten. Während die Verwandlung des Weinbergs in einen englischen Garten die Engführung von Religion und Botanik erst einmal aufzulösen scheint, holt der Text die Religionssemantik dann dadurch wieder herein, daß die himmelblauen Napellus-Blumen durch das »oder« alternativ als »Jesuiter-blau« qualifiziert werden. Und genau diese alternative Qualifizierung, die den Text einerseits wieder an das zuvor geöffnete Religionsregister

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rischen Vatermord der Christus-Rede fällt. Christus wird dadurch — als Doppelgänger von Leibgeber, der wiederum der Doppelgänger von Siebenkäs ist - zum Teufel und Gottes Tod zur teuflischen Phantasmagorie. Jean Paul, Des Feldpredigers Schmelzte Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten; nebst der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Frankfurt am Main 1996, Abt. I, Bd. 6, S. 7 - 7 6 , hier S. 10. Narratologisch ist bei solchen Unterbrechungen der histoire von sogenannten »Pausen« die Rede (vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 44). Daß diese von der histoire her gedachte Kategorie der Pause die temporale Dimension des weiterlaufenden Diskurses ausblendet und damit gerade einen digressiven Text wie den Siebenkäs, der gewissermaßen aus unzähligen Pausen besteht, kaum adäquat zu beschreiben vermag, wird an folgender Passage im Siebenkäs deutlich: Eine längere Abschweifung über die »Uhr aus Menschen« endet mit dem Ausruf: »Lieber Gott, wie doch die Zeit verläuft!« (389). Es folgen ein Gedankenstrich und Absatz. Dann meldet sich in der nächsten Zeile das ErzählerIch mit dem Kommentar: »Das seh' ich an dieser Abschweifung« zu Wort. Es folgt erneut ein Gedankenstrich, und ohne Absatz geht die histoire weiter: »Firmian und Heinrich traten heiter in den benachbarten lauten Morgen [...]« (389).

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anbindet, öffnet andererseits durch den Fußnotenlink weitere Bedeutungsfelder. Der Fußnotentext erläutert die Anspielung folgendermaßen: 1 Himmelblau ist die Ordenfarbe der Jesuiten, wie des indischen Krischna und des Zorns. Die Hypothese des Physikers Marat, daß Blau und Rot das Schwarze geben, sollte man untersuchen, indem man dem Jesuiterblau das Kardinalrot zusetzte. Er selber brachte später in der Revolution aus Blau und Rot und Weiß das schönste Elfenbeinschwarz heraus oder den chinesischen Tusch, womit später Napoleon zeichnete. (58)

In der Vorschule der Ästhetik wird der Reiz des Wortspiels mit dem »Erstaunen über den Zufall« erklärt, »der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen«. 167 Und genau darin liegt der Reiz dieser Fußnote: Ob sich die Bewegung des Textes hermeneutisch integrieren läßt, sei dahingestellt; entscheidend ist das Spiel mit Klängen und Weltteilen, bei dem der »Zufall, als eine wilde Paarung ohne Priester«, vom »Satz der Ursächlichkeit (Kausalität)« 168 flankiert wird. Als geographische Weltteile im wahrsten Sinn des Wortes sind innerhalb weniger Zeilen Indien, Frankreich und China vertreten. Die Reiseroute durch diese Weltteile scheint zunächst völliger Willkür zu entspringen: Das äußerliche Attribut »Himmelblau« verbindet die Jesuiten mit dem indischen Krischna, womit der Text immerhin noch im Religionsregister bleibt. D a n n aber springt der Text über das L e m m a »Zorn« kurz ins Register der Psychologie und landet im nächsten Satz unvermittelt bei Physik und Politik. Allerdings ist der »Satz der Ursächlichkeit« insofern auch hier am Werk, als die physikalische Hypothese der Farbmischung wieder ins Religionsregister mit »Jesuiterblau« und »Kardinalrot« zurückführt und das Ergebnis der Mischung, »das Schwarze« (von dem ein fast unwiderstehlicher hermeneutischer Appell ausgeht), metonymisch aus der Etymologie von »Krischna« (sanskr. »der Schwarze«) hervorgeht. Im letzten Satz wird der mit dem L e m m a »Marat« verbundene Verweis auf Politik und Französische Revolution expliziert und durch ein weiterdrängendes »oder« schließlich noch C h i n a und das Register der Schriftkunst ins Spiel gebracht. D a die »Geistes-Freiheit« des Wortspiels - und des Witzes insgesamt — den »Blick von der Sache [...] gegen ihr Zeichen hin« wendet, 169 erscheint dieser Hinweis auf den »chinesischen Tusch« nur konsequent, verweist er doch darauf, daß die Schrift in ihrer Materialität letztlich gegen das interveniert, was diese Fußnote zugleich provoziert: die Konstruktion hermeneutischer Synthesen. Statt also die Fußnote mit der Interpretation stillzustellen, daß Jean Paul »die Machtübernahme durch Napoleon als die negative Folge der Maratschen Blutherrschaft« sieht, wie der Kommentar zum Siebenkäs behauptet (1098), liegt es näher, die prozessuale Textualität des Siebenkäs in ihrem geordneten

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7 VdÄ, S. 193. VdÄ, S. 193. VdÄ, S. 194. Zum Zusammenhang von Wortspiel und Witz vgl. VdÄ, S. I94f.

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Spiel mit dem Zufall weiter mitzuspielen. Entsprechend mag die Fußnote der Sache nach unterschwellig von gescheiterter Revolution und verlorener Freiheit handeln. Weil aber »Napoleon« vor allem eines ist: die klanglich auf den Signifikanten »Napellus« und damit ins Spiel des Haupttextes zurückverweisende Schlußpointe der Fußnote, verwandelt sich diese auch am Ende nicht plötzlich in einen Text, der die Freiheit seines Witzes der Eindeutigkeit einer politischen message opferte. Vom Anfang bis zum Ende realisiert die Fußnote auf engstem Raum das, was in der Vorschule der Ästhetik vom Roman insgesamt gefordert wird: »eine poetische Enzyklopädie«, die für Jean Paul zugleich »eine poetische Freiheit aller Freiheiten« 1st. 170 Die Passage im Roman, in der diese poetische Freiheit in ihrer anarchischen Konsequenz vorgeführt und vor allem poetologisch reflektiert wird, ist der »fast delirante[ ] Schizo-Diskurs«' 7 ' des Leibgeberschen Adambriefes. Leibgeber geht in diesem Brief an Siebenkäs »besessen« dem Gedanken nach, der »erste Adam« (119) und »Protoplastiker« (122) gewesen zu sein, der nach dem Sündenfall in einer Rede an Eva das Pro und Contra der Fortpflanzung und Gründung des Menschengeschlechts erörtert. Die Rede selbst ist dabei der Zweck der Inszenierung: Was Leibgeber motiviert, ist nicht der Wunsch, als Adam in die Rolle »de[s] erste[n] und letzte[n] Universalmonarch[en]« (120) schlüpfen zu können, sondern die Vorstellung, »mit der Eva außen am Spaliere des Paradieses in unsern grünen Tändelschürzen und in unsern Pelzen auf und ab zu spazieren und eine hebräische Hochzeitrede an die Mutter aller Menschen zu halten« (120). Was Leibgeber dann in seiner Rolle als Adam macht, genauer gesagt: was der Text macht, entspricht genau diesem narrativen Setting: Der Text spaziert durch die Enzyklopädie. Wie Montaigne, einer der Ur-Väter des digressiven Diskurses, »ohne Ordnung, ohne Plan und ohne Zusammenhang« in den Büchern seiner Bibliothek blättert und dabei »im Auf- und Abgehen« seine Essays diktiert, 172 so schweift auch der Adambrief durch den intertextuellen Gedächtnisraum und entfaltet seine musivische Textur, indem er »SchriftStücke aus ihrem jeweiligen Kontext herausschneidet und nebeneinander aufklebt«.'73 Der Text reflektiert dieses Verfahren durch den Hinweis auf Adams Exzerpte. Vor dem Sündenfall, so Leibgebers Konstruktion, war Adam - von

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V d Ä , S. 249. Z u m Zusammenhang von Witz und Freiheit vgl. V d Ä , S. 201. Jochen Hörisch, Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen, in: Ders., Die andere Goethezeit. Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800, München 1992, S. 47— 67, hier S. 59. Michel de Montaigne, Essais. Auswahl und Übertragung v. Herbert Lüthy, Zürich 1953, S. 657. Den Hinweis auf das Zitat verdanke ich Götz Müller (vgl. Müller, Mehrfache Kodierung, S. 77). D a ß der Adambrief, wenn er vom »Auf- und Abgehen der Hochzeitprediger und Strohkranzredner« spricht (121), direkt Montaigne zitiert, wird bei Müller allerdings nicht erwähnt. Müller, Mehrfache Kodierung, S. 78.

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der Erkenntnis der »Schlangennatur« abgesehen — im Besitz »alle[r] Erkenntnisse« (127) gewesen und hatte glücklicherweise »in müßigen Stunden« eine Best-of-Auswahl seines Wissens »zu Papier« gebracht (120). Nach dem Sündenfall verliert Adam zwar sein gesamtes Wissen, aber er kann wenigstens auf die »Exzerpte [ ] oder ein räsonierendes Verzeichnis« des verlorengegangenen Wissens zurückgreifen — »und schöpft[ ] daraus« (120).174 Die Zeit nach dem Sündenfall ist im Gegensatz zur Zeit davor auf die Kulturtechnik der Schrift notwendig angewiesen. Auch der Adambrief steht konsequent im Zeichen dieser Kulturtechnik und schöpft permanent aus dem virtuellen räsonierenden Verzeichnis, in dem sich »Ideen aus allen Wissenschaften ohne bestimmtes gerades Ziel [...] nicht wie Gifte, sondern wie Karten« mischen.175 Daß der Adambrief dabei als »Hochzeitrede« (120) daherkommt, ist insofern kein Zufall, als der Witz, der dieses Spiel des Zitierens und Kartenmischens betreibt, laut Vorschule der Ästhetik als »verkleidete[r] Priester« auftritt, der »jedes Paar kopuliert«.176 Und da der Witz »ohnehin nichts darstellen will als sich selber«,'77 ist die mit »schäkernden Ideen-Fischchen vollgelaicht[e]« (127) Hochzeitsrede als poetologische Allegorie der witzigen Kopulationen des Textes selbst zu verstehen. Wie Leibgeber nur um der Hochzeitrede willen der erste Adam sein will und dieser seinerseits vor allem deshalb für Nachwuchs sorgt, weil er sich auf Männer am Jüngsten Tag freut, »die Verstand haben und mit denen sich [im Unterschied zur einfältigen Eva, S.M.] ein Wort reden läßt« (126), so interessiert sich auch der Adambrief in erster Linie für die Dialogizität seiner eigenen Rede und die gesellige Kraft 178 seines Witzes. Gerade um die menschliche »Allwissenheit« (129) wiederherzustellen, die ursprünglich in einem Ich verkörpert gewesen ist, bedarf es der, wie es im Fruchtstück heißt, »Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie« (416) von Figuren, die »noch gescheuter denken als ihr Protoplast selber« (126). Auch im Adambrief geht es also um den Verlust des Ursprungs und die Unhintergehbarkeit einer ausdifferenzierten, zeichenvermittelten Welt. Eingeklagt wird nicht die Einheit des Weltwissens, die es bereits am Ursprung nicht gab, da schon das Ich des ungefallenen Adam mit der Polyphonie des

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M a n kann sich dieses räsonierende Verzeichnis wie die Registertechnik vorstellen, die Jean Paul selbst angewandt hat: »Das Register ist kein Sachwortverzeichnis mit Stellenangaben, sondern höchste Konzentration des Exzerpts in Kurzsätzen, die unter Stichwörtern versammelt werden« (Götz Müller, Nachwort, in: Ders., Jean Pauls Exzerpte, Würzburg 1988, S. 318—347, hier S. 327f.). Die Exzerpte umfassen bei Jean Paul n o Bände ä 30 bis maximal 360 Seiten, das Register umfaßt 1244 Seiten mit 162 Artikeln, von denen der umfangreichste zum T h e m a >Tod< 50 Seiten lang ist. I7 ' V d Ä , S. 20zf. 176 V d Ä , S. 173. 177 V d Ä , S. 198. 178 Vgl. V d Ä , S. 169. Auch Friedrich Schlegel betont den »unbedingt gesellige[n] Geist« des Witzes ( K A , Bd. II, S. 148).

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kulturellen Universums konfrontiert war. 179 Vielmehr geht es - ganz im Sinne der Tendenz des Witzes zu Überfluß und Verschwendung180 - um die ursprüngliche Vielfalt, von der Adam nach dem Gedächtnisverlust des Sündenfalls nur noch einen schwachen Abglanz in seinen Exzerpten hat retten können. Was vor dem Sündenfall gleichzeitig in Adams Kopf vorhanden war, ist nach dem Sündenfall und der Entscheidung zur Fortpflanzung dem historischen Nacheinander anheimgestellt. Nur das Durchlaufen der menschlichen Geschichte ermöglicht am Jüngsten Tag eine erneute, im Unterschied zum Paradies allerdings auf »Aristoteles, Piaton, Shakespeare, Newton, Rousseau, Goethe, Kant, Leibniz« (126) und unzählige andere Stimmen verteilte Gleichzeitigkeit des Weltwissens. Die poetologische Lesart dieser Logik läuft darauf hinaus, daß der Adambrief und mit ihm der gesamte Roman genau diese Gleichzeitigkeit der polyphonen Redesituation am Jüngsten Tag in Szene setzt. Und wie die »erste[n] Eltern« dem »Schicksal« als »Spinnmaschine« (125) dienen, so produzieren die Kopulationen des Witzes im Siebenkäs eine »unübersehliche[ ]« Textur, die sich wuchernd »um die Erdkugel windet« (126) und die entferntesten Weltteile verknüpft. Eines der auffälligsten rhetorischen Mittel dieser »Spinnmaschine« ist die vom Romantitel her bekannte Enumeratio. Am Anfang der ersten Pars heißt es etwa: [...] ich w a n d l e hier mit einem Säetuch u m h a n g e n , w o r i n die Sämerei aller V ö l ker liegt, auf u n d ab und trage das Repertorium u n d die Verlagkasse des ganzen Menschengeschlechts, eine ganze kleine Welt und einen orbem pictum vor mir her, wie Hausierer ihr o f f n e s Warenlager a u f d e m M a g e n . (121)

Vom »Säetuch« und der (auch klanglich naheliegenden) »Sämerei« springt der Text über die Konjunktion »und« zum »Repertorium«, das als Verzeichnis oder Bibliographie auf zukünftige Werke verweist wie der Samen auf die spätere Frucht, und kann dann, einmal im Bildfeld >Buch< angekommen, konsequent zur »Verlagkasse« und zum »orbem pictum« fortschreiten. Das »Warenlager« ist dann genauso metonymisch über das Ökonomie-Register mit »Theaterkasse« verknüpft wie der umgehängte Bauchladen mit dem Umhang des Säetuchs. Man kann im gesamten Adambrief nach solchen »geheimen Fäden« 1 ' 1 suchen, die den Text sowohl intern als auch mit dem umgebenden Text des Siebenkäs verknüpfen. Der überraschende Sprung von den Adam einverleibten

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τ> »Denn ich hatte im Stande der Unschuld alle Wissenschaften innen, die Universal- wie die Gelehrtenhistorie, die verschiedenen peinlichen und andern Rechte und die alten toten Sprachen sowohl als die lebendigen und war gleichsam ein lebendiger Pindus und Pegasus, eine tragbare Loge zum hohen Licht und gelehrte Gesellschaft und ein Taschen-Musensitz und kurzes goldnes Siecle de Louis X I V [...]« (120). 180 Vgl. VdÄ, S. 198. 181 Jean Le Rond d'Alembert, Einleitung in die Enzyklopädie, durchges., u. mit einer Einl. hrsg. v. Günther Mensching, Hamburg 1997, S. 51.

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»Adamiten« zu »alle[n] Riesen« (122) verweist zum Beispiel antithetisch auf die zuvor erwähnte »kleine[ ] Statur« (121) Adams. Und die Erwähnung des »große[n] Christoffek (122), der den Legenden zufolge Gott als kleines Kind über einen Fluß tragen sollte (vgl. 1104), ist mit der am Anfang der ersten Pars in einer Fußnote angeführten Geschichte verbunden, derzufolge der kleine Adam nach dem Sündenfall »durch den Ozean gelaufen« sei (121). Daß die Enumeratio nach den Religionsparteien und dem Riesen Christoffel schließlich zu »alle[n] für Amerika bestimmte[n] Schiffladungen von Negern« und dem »rot gezeichnete[n] Päckel« gelangt, »worin die von den Engländern verschriebene Anspacher und Baireuther Soldateska ist« (122), wirkt gerade deshalb zufällig, weil auch hierbei ein gewisses Maß an »eingemischter Ursächlichkeit«182 zu beobachten ist. Der Wechsel auf engstem Raum von der Religion und religiösen Legende zur Politik und Zeitgeschichte, ist immerhin dadurch motiviert, daß auch die »Schiffladungen« Richtung Amerika metonymisch mit den zuvor intertextuell aufgerufenen >WasserVerlinkungen< gehen also mit semiologischer Kontingenz einher. Mit d'Alembert gesprochen: Man mag innerhalb der Enzyklopädie syntagmatisch vom Lemma »Kegelschnitt« zum Lemma »Akkusativ« kommen, bei der Ankunft allerdings »befindet man sich in solcher Entfernung vom Ausgangspunkt, daß man ihn völlig aus den Augen verloren hat«.184 Daß es keinen »unmittelbaren Zusammenhang«185 zwischen den »Adamiten« und der deutschen »Soldateska« (122) während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gibt, ändert allerdings nichts daran, daß das Spiel des Adambriefes mit semiologischer Kontingenz in einem geordneten Rahmen stattfindet: Die wiederkehrenden Latinismen zum Beispiel oder die vielfachen Aufzählungen sind Wiederholungsfiguren, die den Text strukturieren; die Lemmata aus bestimmten Bildfeldern wie >ReligionOkonomie< oder >Schrift< sind metonymisch verlinkt und lassen graphisch wie semantisch eine dicht gewebte Textur entstehen; und hinzu kommt, daß der Adambrief in seiner 182 183

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V d Ä , S. 193. Baßler u.a., Historismus und Moderne, S. 308. D a das Rhizom nach Eco unter anderem »anti-genealogisch« ist (Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 126), unterläuft der Text die genealogische Ausgangssituation, von der Leibgebers Brief erzählt. d'Alembert, Einleitung, S. 52. Z u r literarischen Enzyklopädie vgl. Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. d'Alembert, Einleitung, S. 51.

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Gliederung strukturell die systematische Strenge einer antithetischen Argumentation parodistisch zitiert, der es nicht um witzige Kopulationen, sondern teleologisch um einen verbindlichen »usus epanorthoticus« (121) zu tun ist. Darüber hinaus steht die Reflexion des Textes auf die eigene semiologische Kontingenz in einem poetologischen Zusammenhang, der eine selbstreferentielle Ordnung herstellt. Da der Adambrief als »allegorische Darstellung[ ] des semiotischen Universums selbst gelesen werden« kann, führt er vor, was für den Siebenkäs insgesamt gilt: daß die vom Text entfesselten Semiosen von keinem Telos oder Ursprung bzw. Zentrum kontrolliert werden. Abgesehen davon, daß eine solche Lesart »nicht mehr erklärt, als daß ein Text ein Text ist«, und man prinzipiell jeden Text »in eine Allegorie seiner selbst« verwandeln kann, 186 legt es der Siebenkäs systematisch auf diese Verwandlung an. Vor allem aber eröffnet der vom Text permanent provozierte allegorische Blick neue Perspektiven auf das, was im Siebenkäs erzählt wird. Abschließend möchte ich deshalb noch einmal auf die Ehe zwischen Siebenkäs und Lenette zurückkommen. 4.4 Die Macht der Unterbrechung: Lenette und die »Sprachmaschine« Lenette kommt im Roman und in der Jean-Paul-Forschung ziemlich schlecht weg. Vom Erzähler wie von Siebenkäs wird Lenette als Verkörperung des Prosaischen präsentiert: Sie ist ungebildet, kleinkariert, unromantisch, und sie stört in ihrer prosaischen Tätigkeit als Hausfrau immer wieder die schriftstellerischen Ambitionen ihres Ehemannes. Folgerichtig serviert der Roman sie am Ende mit dem (vorprogrammierten) Tod im Kindbett ab (vgl. 567).187 In der Forschung hat man sich entsprechend wenig um Lenette gekümmert. Während an den Figuren Siebenkäs und Leibgeber die vielfältigsten Interpretationen ausprobiert worden sind, hat man in Lenette, wenn man sich überhaupt mit ihr beschäftigte, meist nur die kleinbürgerliche »Repräsentantin ökonomischer Rationalität«188 gesehen, als die der Roman sie vorführt. Vergegenwärtigt man sich jedoch noch einmal die Reihe der Frauenfiguren, die neben Lenette im Siebenkäs auftauchen - von Johanne Pauline über Eva und Maria bis Natalie —, fällt rückblickend ein anderes Licht auf Siebenkäs' Ehefrau. Im Gegensatz nämlich zu den weiblichen üc/io-Figuren, die, wie gesehen, bloße Medien männlicher Autorschaft sind und den tödlichen

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Moritz Baßler u.a., Historismus und Moderne, S. 300. Lenette »wird zunächst vom Helden aus der Ehe und dann vom Erzähler aus dem R o m a n geschafft. Siebenkäs entledigt sich auf seinem Weg der Autorschaft dieser widerständigen, ganz im Dunstkreis weiblicher Lebensenge befangenen und nicht als Konsumentin in die Sphäre männlicher Autorschaft integrierbaren Frau. Der Erzähler in seiner schwankenden Zuneigung zu Lenette übertrifft ihn noch und läßt sie in ihrer zweiten, glücklicheren Ehe im Kindbett sterben« (Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 292). Pross, Falschnamenmünzer, S. 70.

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Anschein von Einheit und Versöhnung erwecken,189 ist Lenette alles andere als eine »[a]ndächtige Zuhörerin« (121) wie Eva oder ideale Leserin wie Natalie (vgl. 375f.). Im Gegenteil: Lenette überschreit und überhört ihren Mann (vgl. 295); aus ihrem Mund kommen »seltsame Kreuz- und Querantwort[en]« (78); in die Texte von Siebenkäs wirft sie »keinen Blick hinein« (289); und die schriftstellerischen Ambitionen ihres Mannes durchkreuzt sie mit ihren »weibliche[n] Zwischenakte[n]« (291) genauso wie Siebenkäs' »lyrischen Enthusiasmus der Liebe« (290). Lenette verkörpert also nicht die der »Gewalt des Mannes«190 unterworfene Holzpuppe mit »Haubenkopf«,191 als die der Text sie mit Verweis auf eine Satire aus den Teufelspapieren auszugeben versucht (vgl. 79 u. 336). Wenn Lenette wie die Holzpuppe in der Satire Einfiiltige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheirathet bloß das angenehme Geschöpf ihres Mannes sein soll, dann ist dieses Geschöpf im Siebenkäs gründlich mißglückt. Auch bei Lenette lauern jene allegorischen »Doppelsinnigkeiten«, die im Siebenkäs »von allen Ecken« (486) kommen. Einerseits nämlich repräsentiert Lenette in der Tat die bürgerliche Ordnung und Ökonomie. Lenettes arabesken »Sprachschätze« (184), ihr Hang zur Wiederholung und narrativen Ausschmückung (vgl. i85f.) passen andererseits gerade in sprachlicher Hinsicht ganz und gar nicht ins Bild ökonomischer Rationalität. Auch Lenettes Alltagsverrichtungen sind nicht nur Konstituentien der bürgerlichen Ordnung, sondern konfrontieren als »steinige spitzige Gegenwart der Zufälligkeiten« (130) die Siebenkässche Autorschaft — am Ursprung der Schrift, im Akt des Schreibens — mit störender Kontingenz. Diese Störung geschieht weniger verbal als durch das »Rauschen« des Besens (156) und den »leisen Lärm« (158), der — ob für Siebenkäs tatsächlich zu hören oder eingebildet — von Lenettes Hausfrauentätigkeit ausgeht. Eine Frau vermags im ersten Zwiste noch nicht, sondern erst im 4ten, loten, i o o o o t e n ist sie imstande, zugleich mit der Z u n g e zu verstummen und mit dem Torso zu lärmen und jeden Sessel, den sie wegschiebt, jeden Querl, den sie hin-

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Echo ist bekanntlich die Nymphe, die sich in Narziß verliebt, ohne daß dieser, völlig seinem Spiegelbild verfallen, Echos Liebe erwidern könnte. Die insbesondere mit Natalie verbundenen Todeszeichen verweisen deutlich auf den tödlichen Ausgang der Geschichte von Narziß und Echo (vgl. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch — Deutsch, hrsg. v. Niklas Holzberg, Darmstadt 1996, Liber III, 339ff.). Jean Paul, Auswahl aus des Teufels Papieren, in: Ders., Sämtliche Werke. Jugendwerke und vermischte Schriften, hrsg. v. Norbert Miller u. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Abteilung II, Bd. z, S. 111—469, hier S. 410. Die Holzpuppe in der Satire besteht aus dem Körper einer hölzernen Mosesfigur und einem »Haubenkopf« (Jean Paul, Auswahl aus des Teufels Papieren, S. 395). Im Siebenkäs taucht der »Haubenkopf« als Substitut für Lenette gleich am Anfang auf: »Am frischen Morgen fuhr der Schulrat Stiefel ν or und hob aus der Kutschenarche [...] einen Haubenkopf statt der Braut [...]« (35). Zum Haubenkopf als Konstruktionsrequisite von Weiblichkeit vgl. Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. i87ff.

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streckt, zu ihrer Sprachmaschine und Sprachwelle zu verbrauchen und desto mehr Instrumentalmusik zu machen, je länger ihre Vokalmusik pausiert. (ii2f.)

Nach Monika Schmitz-Emans ist »Sprachmaschine« bei Jean Paul in erster Linie ein pejorativer Begriff, der sich kritisch gegen die »Abwesenheit eines inneren Sinnes«192 und die mechanischen »Vortäuschungen von Beseeltheit«193 wendet. Im Siebenkäs denunziert der Begriff vor allem Lenettes Spracharmut und Oberflächlichkeit. Zugleich jedoch markieren »Sprachmaschine« und »Instrumentalmusik« innerhalb der histoire die Differenz von Eigenem und Fremdem, kommunikationstheoretisch gesprochen: von Alter und Ego, und richten sich damit kritisch gegen Siebenkäs' egozentrischen Machtanspruch. Denn Lenette zeigt Siebenkäs gerade mit ihren Sprach- und Alltagsgewohnheiten, daß nicht »alle Leute denken« wie er (186). Der narzißtische Siebenkäs jedoch ist zu dieser Anerkennung des Anderen nicht in der Lage — genausowenig wie er zum Beispiel imstande ist, seinen performativen Selbstwiderspruch zu erkennen, als er Lenette befiehlt, sie solle »nur nicht gar zu gehorsam« sein (78). Daß es über die egozentrische Borniertheit von Siebenkäs und dem mit ihm verbundenen auktorialen Erzähler-Ich hinaus eine Stimme im Roman gibt, die auf der von Lenette verkörperten Seite der Differenz und Unterbrechung steht, wird deutlich, wenn man dem intratextuellen Link zu einer anderen Passage im Roman folgt. 194 Im ersten Fruchtstück hält Viktor, die Hauptfigur aus dem Hesperus, eine Rede auf die Menschenliebe und dreht ebenfalls eine »Sprachmaschine« (427). Kritischer Gegenstand dieser Rede ist bezeichnenderweise die »Eigenliebe«, die »nichts als Wiederholungen des Ich [...] um sich zu haben (sucht)« (430). Viktors Sprachmaschine redet also gegen genau jene Eigenschaft an, die auch Siebenkäs kennzeichnet und die einer der Gründe dafür ist, warum die Ehe mit Lenette, die im Gegensatz zu Natalie keine Wiederholung von Siebenkäs' Ich bietet, scheitern muß. Viktor macht in seiner Rede, was der Roman insgesamt praktiziert: Er erzählt eine allegorische Geschichte. Im Unterschied zum Siebenkäs jedoch hat sie eine eindeutige Moral: Wenn man angesichts des Todes hinter die Kulissen

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Monika Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache, Bonn 1986, S. 265. Zur Erfindung der Sprachmaschine vgl. auch Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte, Freiburg u. München 1975, S. I03f. u. 244ff. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, S. 263. Zwar bezweifelt Jean Paul den Optimismus von Descartes, der von der erkennbaren Unverwechselbarkeit der menschlichen Rede mit der Rede künstlicher Maschinen ausgegangen war, gleichwohl teilt Jean Paul Descartes' Dualismus, wenn er — im Unterschied zu La Mettrie — die mit der res cogitans verbundene, beseelte Rede der Körpermaschine >Mensch< nicht mit den rhetorischen Simulationen mechanischer Apparate gleichsetzt (vgl. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, S. 261). Dangel-Pelloquin spricht von einer gegen die männliche Ordnung gerichteten »Gegenstimme [...], die dem Roman, in welch reduzierter Form auch immer, eben auch eingeschrieben ist« (Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe, S. 292). 181

fremder Existenzen und Lebensgeschichten schaut, verwandelt sich der schlimmste Geizkragen und Bösewicht in einen Menschen, den man nicht mehr hassen kann, sondern eigentlich lieben muß. Die mit dieser Moral einhergehende Kritik am »satirischen Vergnügen an fremder Torheit« (433) richtet sich unmißverständlich auch gegen Siebenkäs, der sich immer wieder über Lennettes Dummheit lustig macht und sich mit seinen Teufelspapieren nicht als Romanautor, sondern als Satiriker erweist. So weit, so eindeutig. Doch auch bei Viktors »Sprachmaschine« tun sich irritierende »Doppelsinnigkeiten« auf. Der Text betont zum Beispiel immer wieder, daß Viktors Sprachmaschine den Dialog des Fruchtstücks mehr oder weniger rigide in einen Monolog verwandelt, bei dem sich das monologisierende Ich »die Throninsignien und den Zepter der Unterredung nicht mehr aus [s]einen Händen« nehmen lassen will (427). Im Nachschreiben von Jean Paul-wud diese Rede auf die Menschenliebe als »tugendhafte [s] Zürnen« beschrieben (433) und damit auf den Tugendterror des im Juli 1794 gestürzten und hingerichteten Robespierre bezogen. Während Lenettes Sprachmaschine zunächst also gegen die Macht des Gelehrten gerichtet ist und dessen Schreibakt unterbricht, stellt Viktors Sprachmaschine — gerade umgekehrt - selbst einen gelehrten (Macht-)Diskurs dar, der sich gegen die Unterbrechungen der Dialogpartner verwahrt. Nimmt man diese Lesart ernst, erscheinen auch Lenettes Störungen von Siebenkäs' Autorschaft in einem anderen Licht. Denn Lenette ist nicht so unschuldig und ohnmächtig, wie es den Anschein hat. Wie Viktor setzt Lenette die Sprachmaschine als treffsichere Waffe der Auseinandersetzung ein, mit der man die eigene, nicht minder egozentrische Position durchsetzen kann. Wenn es stimmt, daß Liebe »weder Zweiheit, noch Einheit, sondern Vereinigung« will, 195 hätte nicht nur die symbiotisch-narzißtische Einheit von Siebenkäs und Natalie, sondern auch die Ehe zwischen Siebenkäs und Lenette nichts mit Liebe zu tun, weil in ihr die notwendige Differenz zur bloßen Zweiheit führt. Lenettes Sprachmaschine wäre so gesehen vor allem als Zeichen dieser Entzweiung zu verstehen. Entsprechend hat Jochen Hörisch darauf hingewiesen, daß der Mechanismus der Sprachmaschine, der Puppen kaum von Menschen zu unterscheiden erlaubt, die »(in diesem Falle: eheliche) Illusion einer herrschaftsfreien Kommunikation« zerstört.196 Zugleich aber wohnt der »eigentümliche[n] Ambivalenz«197 der Sprachmaschine ein Moment von Freiheit inne. Denn als poetologische Metapher verstanden, verweist die von Lenette verkörperte Alltagskontingenz der Sprachmaschine auf die semiologische Kontingenz und Anarchie des Witzes. Gerade die Äußerlichkeit der Rede von Sprachmaschinen, in der »kein Inneres nach Ausdruck und

197

VdÄ, S. 445. Hörisch, Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen, S. 55. Hörisch, Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen, S. 55.

182

Erscheinung strebt«,198 reflektiert die gegen die ursprungslogische Ordnung gerichtete Bewegung des Siebenkäs-Diskurses, dessen metonymisches »Rauschen« und wortspielerische »Instrumentalmusik« die hermeneutischen Synthesen immer wieder unterbricht. Auch wenn der Siebenkäs keine Liebesgeschichte erzählt, in der die Uberwindung der Einheit oder Zweiheit der Geschlechter aufschiene, bietet immerhin der Diskurs selbst die von der Liebe geforderten Vereinigungen: als witziges Erzählen, das »teilweise Gleichheit« findet, »unter größere Ungleichheit versteckt«. 1 "

198

Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten, S. 265. " 9 V d Ä , S. 171.

183

V I . »Drang zur Darstellung«: Z u r Poetik der Unterbrechung in Clemens Brentanos

Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter Ich will immer anfangen einen Brief an Dich zu schreiben, und nehme die Feder und schreibe mancherlei nieder, und vergesse Dich dabei. Dann fällst D u mir plötzlich wieder ein, und der ganze Brief wird dann durch einen Zufall abgebrochen, und es ist mir unmöglich, den Faden wiederzufinden. Ludwig Tieck, William Lovell

i.

Einleitung

Im Ii. Brief über Die ästhetische Erziehung des Menschen führt Friedrich Schiller die anthropologische Unterscheidung zwischen »Zustand« und »Person« ein. Während die »Person« auf das »Bleibende« im Menschen »als Idee des absoluten in sich selbst gegründeten Seins, d.i. die Freiheit« verweist, bezeichnet der »Zustand« die zeitlich bedingte Existenz des Menschen.1 Da für diese Existenz das zeitliche Nacheinander sich ausschließender Zustände kennzeichnend ist, vermag der Mensch innerhalb des jeweiligen Zustandes niemals »die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen« zu überblicken. Solange er im Zustand verharrt und nur »das Gegenwärtige empfindet«, ist der Mensch nach Schiller gleichsam außer sich·, »nichts als eine Größeneinheit, ein erfüllter Moment der Zeit — oder vielmehr er ist nicht, denn seine Persönlichkeit ist solange aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht und die Zeit mit sich fortreißt«.2 Dieser Topos der reißenden Zeit taucht in der Brentano-Forschung immer wieder auf. Emil Staiger zum Beispiel hat bereits 1939 das im Godwi abgedruckte Gedicht Ein Fischer saß im Kahne als »reißende Folge von einzelnen Da« beschrieben und in dieser raum-zeitlichen Vereinzelung vor allem einen »Mangel an Umsicht« gesehen.3 Im Anschluß an Staiger ist dieser Befund häufig mit dem seit Hegel etablierten Topos einer allgemeinen Romantikkritik verbunden worden, die in dem Vorwurf eines gerade bei Brentano zu beobachtenden »extremen Subjektivismus«4 gipfelt. Erst Karl Heinz Bohrer hat in seiner Untersuchung zum romantischen Brief die ausgetretenen Pfade

1

1 5

4

Friedrich Schiller, Die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V, S. 601. Schiller, Die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 604. Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich u. Leipzig 1939, S. 70. Josef Zierden, Das Zeitproblem im Erzählwerk Clemens Brentanos, Frankfurt am Main 1985, S. 70. Z u m Subjektivismus-Vorwurf vgl. bereits Hermann August K o r f f , Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturge185

dieser Zeit- und Romantikkritik verlassen und sich der antihegelianischen Frage nach der »Entstehung ästhetischer Subjektivität« zugewandt. Das »diskontinuierliche Bewußtsein«5 des Schillerschen Zustandes und die Erfahrung der reißenden, in Augenblicke zerfallenden Zeit markieren dabei für Bohrer gerade das Neuartige und Moderne6 von Autoren wie Brentano, Günderrode und Kleist. Zwar leugnet Bohrer nicht das Bedrohliche und Abgründige dieser modernen Zeiterfahrung. Was ihn aber vor allem interessiert, ist eine IchEmphase um 1800, die überhaupt erst durch die Destruktion herkömmlicher Identitätskonzepte möglich wird: Ästhetische Subjektivität entsteht dann, wenn sowohl das an Selbsterhaltung und Authentizität orientierte Subjektmodell der (Spät-)Aufklärung und Empfindsamkeit als auch die immer noch teleologische, vom Idealismus ausgehende Struktur des frühromantischen »Ich-Projekts zerfällt oder gefährdet ist«.7 Nach Bohrer geht mit dieser Entstehung der ästhetischen Subjektivität vor allem zweierlei einher: erstens eine radikal antiteleologische Poetik der Diskontinuität, zweitens die Stilisierung des Subjekts »aus dem bereitliegenden poetischen Arsenal«,8 die zur »Auflösung der >psychologischen< Situation in symbolisches bzw. allegorisches Sprechen«9 sowie zur »Substituierung des Ich durch Literatur« führt. 10 Auch wenn Bohrer ein anderes Erkenntnisinteresse verfolgt, ist er ein geeigneter Ausgangspunkt für meine Argumentation, weil er den Blick jenseits aller Anthropologie auf rhetorisch-literarische Inszenierungsstrategien lenkt und dabei mit dem Brief als Medium ästhetischer Subjektivität ausgerechnet jene Textsorte ins Zentrum rückt, auf die auch der erste Teil des Godwi zurückgreift. Gerade die von Bohrer beleuchtete Topik des Subjekts, mit der in den Briefen von Brentano, Günderrode und Kleist die eigene Autorschaft

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7 8 9 10

schichte. III. Teil Romantik: Frühromantik, 2., unveränd. Nachdruck d. 3., durchges. Aufl., Leipzig 1959, S. 48ff. u. 2i8ff. Kar! Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main 1989, S. 85. Schillers »Zustand« nicht anthropologisch, sondern als Signatur der Moderne zu verstehen, ist bei einem sentimentalischen Autor wie Schiller selbst schon angelegt. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß etwa Dirk von Petersdorff — in bezug auf den Godwi — das Konzept der reißenden Zeit, sowohl über Staigers enthistorisierende Sichtweise als auch über Bohrers Differenz von ästhetischer und sozialer Moderne hinausgehend, im Kontext allgemeiner Modernisierungsprozesse verortet: vgl. Dirk von Petersdorff, »Ein Knabe saß im Kahne, fuhr an die Grenzen der Romantik. Clemens Brentanos Roman >GodwiMaskeradeMarmorbild< und >Ruine< zeigt," die Rhetorik des Augenblicks eine entscheidende Rolle. Im Zuge dieser Rhetorik wird, so meine These im Anschluß an Bohrer, nicht nur explizit über Kontingenz geredet, sondern dieser »Rede über Kontingenz« folgt im Godwi auch eine entsprechende »poetische Kontingenzdarstellung«.12 Mit poetischer Kontingenzdarstellung meint Bohrer die Erzählung von Ereignissen innerhalb der histoire, die strikt singulär und nicht mehr, wie etwa bei Wieland oder Jean Paul, teleologisch bestochen sind. Bohrers Paradigma hierfür ist der radikale Diskontinuität markierende Unfall, wie er erstmals etwa in Rousseaus Les reveries du promeneur solitaire aus dem Jahr 1782 oder in Kleists Brief vom 21. Juli 1801 an Wilhelmine von Zenge geschildert wird. 13 Ein solches Unfallereignis taucht im Godwi zwar nicht auf. Gleichwohl zeichnet sich Brentanos Roman durch ein diskontinuierliches Erzählen aus, bei dem der Anspruch auf Kontinuität und Chronologie durch narrative Pausen, wuchernde Analepsen und insgesamt durch das permanente Abbrechen bzw. Wiedereinsetzen des Erzählens im Rahmen eines >wilden< Perspektivismus systematisch unterminiert wird. 14 Zu beobachten ist dabei eine Poetik der Unterbrechung,15 die sich — analog zum Bohrerschen Unfall

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15

Zu den Topoi >MaskeradeMarmorbiId< und >Ruine< vgl. Bohrer, Der romantische Brief, S. 244, 253, 97f. — Ausgehend vom Topos der Maskerade ließe sich der historische Bogen nicht nur zu Kafka schlagen, den Bohrer als Vertreter der ästhetischen Moderne im 20. Jahrhundert besonders hervorhebt, sondern auch zum Ästhetizismus und fin de siecle um 1900, namentlich zu Hofmannsthal (vgl. Waltraud Wiethölter, Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk, Tübingen 1990, S. 2off.). Bohrer, Der romantische Brief, S. 93 (Hervorh. S.M.). Vgl. Bohrer, Der romantische Brief, S. 34ff. u. 93ff. Daß diese Poetik literaturgeschichtlich noch im (kritischen) Bezug zum pragmatischen Roman zu sehen ist, verdeutlicht folgende Briefpassage: »Man hört oft: »Dieser und jener Mensch hat keinen Charakter, er bleibt sich nicht gleiche — Und in dieser Rede ist doch nichts gesagt, als daß dieser Mensch uns nicht in chronologischer Ordnung eine gewisse Anzahl ähnlicher Empfindungen zusammengelogen hat« (Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald u. Detlev Lüders, Bd. 30: Briefe II, hrsg. v. Lieselotte Kinshofer, Stuttgart u.a. 1990, S. 119). Das Phänomen der Unterbrechung und Diskontinuität ist zwar in der GWifi-Forschung immer wieder hervorgehoben und an einzelnen Beispielen belegt, bislang jedoch nicht systematisch-narratologisch untersucht worden. — Auch Thomas E. Schmidt geht es nicht um Erzähldiskurse und die Beschreibung einer Poetik der Kontingenz um 1800, sondern in erster Linie um die frühromantischen Romanfiguren und Geschichten als Reflexionsmedien einer lebensweltlichen »Orientierungskrise«, die jenseits der Texte historisch-real um 1800 stattgefundet hat (Thomas E. Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans. Literarische Reaktionen auf die Erfahrung eines kulturellen Wandels, Tübingen 1989, S. 238f.). Dabei stimme ich Schmidt völlig zu, wenn er die Romanfigur Godwi etwa »als eine Figuration der Dysfunktionalität und Diskontinuität« bestimmt, die einerseits gegen das Konzept des »mittleren Charakters< und andererseits gegen die damit verbundene pragmatische Romanpoetologie »einer kausalgenetischen Verknüpfung und lückenlosen

187

— in Ereignissen der histoire manifestieren kann, die darüber hinaus aber als Textregie den gesamten discours bestimmt. Was im Zuge dieser Poetik zugleich hergestellt und von Kontingenz befallen wird, ist die Harmonie, Archie und Teleologie der narrativen Ordnung. Brentanos Bruch mit der systematischen Antisystematik der Frühromantiker, die bei allem antiidealistischen Einspruch gegen ursprungslogische und teleologische Versöhnungsansprüche immer noch am philosophischen Diskurs des deutschen Idealismus partizipieren, verläuft demnach nicht ganz so glatt, wie Bohrer das im polemischen Zusammenhang seiner Argumentation unterstellt. Auch im Godwi geht es wie im Agathon und Siebenkäs erneut um das in der narrativen Organisation aufgeworfene bzw. selbsreflexiv in Szene gesetzte Problem der Identität und damit am Ende auch wieder um die Frage nach dem Ende, die um 1800 die Frage nach dem Ursprung und Zusammenhang mit einschließt. Bei aller Kontinuität der Ordnungsprobleme ist die Poetik der Unterbrechung im Godwi jedoch mit einem anderen Erzählen als im Siebenkäs — und erst recht im Agathon — verbunden. Worin dieses andere Erzählen genau besteht, wird im folgenden zu zeigen sein.

1.

Zufall und Augenblick

Auf die Frage von Joduno, der ersten Frauenfigur, die im Roman auftaucht, »warum er [Godwi, S.M.] denn immer so die Kreuz und Queer herumreite«, antwortet Godwi mit einer schwärmerischen Apologie des Zufalls: »ich liebe den Zufall, überlasse mich ihm mit Sorglosigkeit; habe ich ihm nicht vieles zu danken, hat er mich nicht unter die Eiche, neben sie, schönes Fräulein, gesetzt? Sorgenlose Freude soll mich immer begleiten, kein einförmiges Lied, nein, wie der Gesang der Vögel über uns, in den Schlupfwinkeln der Eiche, frey und ohne Fessel, natürlich und genügsam. Soll ich grübeln, sinnen, calculiren, speculiren, so lang ich froh und gut bin, so lange Freude in jedem meiner Blutstropfen pocht, und jede meiner Handlungen ihr Gepräge trägt? [...]« (38f.)' 6

Motivation der Handlung« gerichtet ist (ebd., S. 185). Daß Schmidts Ansatz aber in eine ganz andere Richtung als die hier vorliegende Arbeit zielt, wird gerade dann deutlich, wenn Schmidt von »Kontingenz« spricht: »Das antipragmatische Selbstverständnis der frühromantischen Romanfiguren [...], ihre selbstgewählte oder auferlegte Herkunftslosigkeit, die genossene oder verzweifelt hingenommene Zukunftsoffenheit ihrer Lebensbahnen, deutet auf eine gesteigerte Sensibilität für die Historizität individueller Existenz, Erfahrungen, die nicht mehr mit dem Weltbildwissen der Aufklärungskultur in Einklang zu bringen waren. Die Helden stehen für die Erfahrung einer Kontingenz-Radikalisierung, die mit den bisherigen Modellen veränderter Lebenswirklichkeit nicht mehr explikativ zu kompensieren war« (ebd., S. 238, Hervorh. S.M.). 16

Ich zitiere den Godwi im folgenden mit Seitenangaben in Klammern nach Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria, hrsg. v. Werner Bellmann, in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hrsg. v. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald u. Detlev Lüders, Bd. 16, Stuttgart u.a. 1978. 188

Zwar haben auch ähnlich empfindsame Figuren wie Werther oder Siebenkäs dem Zufall insofern vieles zu danken, als er sie mit schönen Fräuleins wie Lotte und Natalie zusammenführt. Im Unterschied aber zu Goethes und Jean Pauls Roman wird dieser Zufall im Godwi nicht zum Startmechanismus für eine teleologisch auf die Katastrophe bzw. Hochzeit hin erzählte Liebesgeschichte, sondern es bleibt bei dieser singulären Begegnung: Godwi, dessen »ganzes Wesen [...] durch Eindrücke beherrscht« wird (98), bricht kurze Zeit später zum nächsten Fräulein auf, und die obligatorische Hochzeit, die im zweiten Teil geradezu unverschämt kurz nachgetragen wird (vgl. 482^), findet bezeichnenderweise zwischen Joduno und Godwis Freund bzw. Stiefbruder Römer statt, der teleologisches Denken als bürgerliche Zweckrationalität verkörpert.17 Allerdings ist es gerade Römer, der zwischenzeitlich, nachdem er eine kaum reglementierte »Geschäftsreise« (54) angetreten hat, selbst von der Zeit fortgerissen wird. Und Römer ist es auch, der, bei seiner »jetzigen Freyheit ein ganz anderer Mensch geworden« (58), den Schillerschen Zustandsbegriff zeittheoretisch auf den Punkt bringt, dabei aber — anders als Godwi - Schillers pejorativ-zivilisationskritische Perspektive teilt, wenn er von seinen »Eindrücken« auf einem Lustschloß berichtet: J e d e s E i n z e l n e ist n u r E i n z e l n e s , i n d e m es d a s v e r g a n g e n e E i n z e l n e v e r s c h l u c k t . M a n k a n n h i e r n i c h t s als d e m T o d e der V e r g a n g e n h e i t n a c h w e i n e n , d u r c h d i e G e b u r t d e r G e g e n w a r t ü b e r r a s c h t w e r d e n , u n d k o m m t m a n z u s i c h selbst, so ist i h r L e b e n h ö c h s t e n s n o c h d a s N a c h u n d n a c h des V e r s c h w i n d e n s . S o ist a u c h hier d u r c h die Z u s a m m e n s t e l l u n g aller dieser V e r s c h i e d e n h e i t e n k e i n e G e g e n w a r t , m a n sieht n i c h t , m a n sieht n u r n a c h u n d e n t g e g e n . (62)

Der entscheidende Referenztext des ersten Godwi-Teils ist allerdings nicht Schillers Abhandlung über Die ästhetische Erziehung des Menschen, sondern Ludwig Tiecks Briefroman William Lovelle Godwis Vater zum Beispiel hat die Rolle des amoralischen Verführers von Lovell geerbt, der — ebenfalls Engländer - die Gunst einer bereits verlobten Frau dadurch zu gewinnen versucht, daß er sich verkleidet und schließlich den verreisten Bräutigam nicht nur wie Godwis Vater durch gefälschte Briefe für tot erklärt (vgl. 461), sondern den Nebenbuhler mit dessen Dolch tatsächlich im wahrsten Sinn des Wortes 17

18

»Zweck ist doch ein Donnerwort in deinem [Römers, S.M.] Munde, Z w e c k des Daseyns, des Nützlichseyns, den versäume ich? M i t deinem Zweck hat es wenig auf sich, durchlaufe dein System, du kömmst nicht weiter, du stehst im Cirkel, und zwar in dem kleinsten — Arbeit um Geld, Geld um Brod, Brod um Nahrung, N a h r u n g um Stärke zur Arbeit [...]« (43)· Neben Rousseau läßt Bohrer bezeichnenderweise nur noch den jungen Tieck als Vorläufer von Brentanos Momentanismus gelten: »Lovell, der Held von Tiecks gleichnamigem Briefroman, schreibt schon in seinem ersten Brief an den Freund Burton von der A h n u n g einer Diskontinuierlichkeit der Empfindung [...]« (Bohrer, D e r romantische Brief, S. 104). Entsprechend ist bereits bei Tieck, so Bohrer, »die Entwertung des jeweiligen Gefühls durch das Bewußtsein der Instabilität der Erlebniskette in der Zeit« und die »>Substanzlosigkeit< des Helden« zu finden (ebd.)· 189

»aussticht^19 Brentanos Godwi steht aber vor allem deshalb in der Nachfolge von Tiecks William Lovell, weil dieser bereits das von Bohrer beschriebene Zeitbewußtsein artikuliert und dabei keine verläßliche Anthropologie ä la Schiller zur Verfügung hat. »Der Mensch«, bringt es Lovells Freund Rosa auf den Punkt, ist sich s e l b s t s o r ä t s e l h a f t , d a ß er e n t w e d e r g a r n i c h t ü b e r s i c h

nachdenken,

o d e r a u s d i e s e m N a c h d e n k e n sein H a u p t s t u d i u m m a c h e n m u ß : w e r i n d e r M i t t e s t e h e n b l e i b t , f ü h l t sich u n b e f r i e d i g t u n d u n g l ü c k l i c h . - Ich s i n n e o f t d e m G a n g e m e i n e r Ideen nach, u n d v e r w i c k l e m i c h n u r u m so tiefer in diese L a b y r i n t h e , je m e h r ich n a c h s i n n e . S o v i e l ist g e w i ß , d a ß w i r g e w ö h n l i c h v i e l z u s e h r d e n g e g e n w ä r t i g e n M o m e n t vor A u g e n haben, u n d darüber unser ganzes voriges Leben a u ß e r a c h t lassen; d i e g e g e n w ä r t i g e E m p f i n d u n g v e r s c h l i n g t a l l e f r ü h e r e n , u n d d i e j e t z i g e I d e e m a c h t , d a ß u n s a l l e v o r h e r g e h e n d e n n i c h t m e h r als Idee, s o n d e r n als k i n d i s c h e u n g e s c h i c k t e n t w o r f e n e S k i z z e n e r s c h e i n e n . 2 0

Nach Manfred Frank ist für den Lovell die »Erfahrung der wesenhaften Kontingenz und Vorläufigkeit dessen« charakteristisch, »was die Stabilität des Charakters verbürgen könnte«.21 Und ganz im Sinne Bohrers beobachtet Frank überall in Tiecks Werk eine »übermächtige[ ] Gegenwärtigkeit«,22 die das zeitliche Kontinuum der dargestellten Lebensläufe und damit die Identität von Figuren wie William Lovell grundsätzlich in Frage stellt. Entsprechend ist auch im Lovell immer wieder vom Zufall und Augenblick die Rede. Die Ermordung etwa des Bräutigams von Rosaline erscheint bei aller strategischen Rationalität des Verführers letztlich als Zufallsprodukt. Einerseits nämlich verhindert der »Zufall« eines im letzten Augenblick auftauchenden Boten, der die Nachricht von der Rückkunft des Bräutigams überbringt, daß es endlich zu der von Rosaline bereits zugesagten Nacht kommt.23 Andererseits stellt Lovell den Tod des Bräutigams insofern als gerechten Zufall dar, als »ein so rauher, eisenfester Mensch« eigentlich nicht an einer so »unbedeutenden Streifwunde« verbluten könne, zu der es eher zufällig im Handgemenge gekommen war; wenn aber doch ein solch unwahrscheinlicher »Fall« eintrete, 19

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22 2

s

Ludwig Tieck, William Lovell, in: Ders., Frühe Erzählungen und Romane, München 1978, S. 44of. Tieck, William Lovell, S. 469. — Zwar wird bei aller Rätselhaftigkeit immer noch an der Vorstellung eines zeitlosen Wesens festgehalten; dadurch aber, daß dieses Wesen des Menschen völlig opak ist, bleibt nur noch die nackte Kontingenz übrig: »Der Mensch und sein Wesen sind mir in sich selbst so unbegreiflich, daß mir jene Zufälligkeiten, unter welchen er so, oder anders erscheint, sehr gleichgültig sind« (Tieck, William Lovell, S. 334). — Z u r Zeit- und Identitätsproblematik siehe auch den Lovell-Exkurs bei Susanne Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied. Clemens Brentanos »Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter«, Würzburg 1996, S. 43ff. M a n f r e d Frank, Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, 2., überarbeitete Aufl., Paderborn u.a. 1990, S. 245. Frank, Das Problem »Zeit«, S. 247. Tieck, William Lovell, S. 438f.

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dann, so Lovells entschuldigende Providenz-Deutung, »hatte es der Schurke reichlich an mir verdient«.24 Diese Providenz-Deutung jedoch verweist nicht mehr auf eine metaphysische Ordnung mit verläßlicher göttlicher Instanz,25 sondern erscheint als beliebig zitierbare Formel, deren Gebrauch der augenblicklichen »Verworrenheit aller Begriffe« sowie einer »Flasche Cy per wein«26 geschuldet ist. Wie im William Lovell ist auch im Godwi die Topik des Zufalls und Augenblicks allgegenwärtig. Godwi betont beispielsweise die eigene Zerrissenheit, die durch die steten »Gefühlswechsel« hervorgerufen wird (20), und stilisiert seine Vergangenheit als »Ruine«, in der die »unordentlich gesammelte[n] Steine« (131) - ganz im Sinne Schillers - den diskontinuierlich verbundenen Zuständen der Vergangenheit entsprechen.27 Oder Godwi setzt den von Benno von Wiese konstatierten »Triumph des Augenblickshaften«28 selbstbewußt mit dem Gestus des >jungen Wilden< der »bürgerliche[n] Ordnung« entgegen (44) und schildert explizit die Erfahrung von Beschleunigung und reißender Zeit: »Ich gab meinem Pferde die Sporen, und so schnell bin ich lange nicht geritten, außer mir flogen die Gegenstände wie Augenblicke vorbey [...]« (23). In einem späteren Brief geht Römer auf genau diese Augenblickshaftigkeit ein und bedient sich dabei nicht zufällig der Metaphorik des Reißens. Im

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26 27

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Tieck, William Lovell, S. 441. Diese Auflösung providentieller Deutungs- und Erzählmuster korrespondiert im Lovell mit der Form des Briefromans: »Doch wie Tiecks vielperspektivischer Briefroman die Illusion einer auktorialen Kontrolle über die erzählte Geschichte dementiert und jede Romanfigur zum potentiell gleichberechtigten Erzähler ernennt, stellt er die Beziehung zwischen Subjekten und ihrer Wirklichkeit als kontingent, ja als tendenziell undenkbar heraus« (Brecht, Die gefährliche Rede, S. 23). Tieck, William Lovell, S. 441. Bohrer weist darauf hin, daß dieser Ruinen-Topos auch bei Kleist zu finden ist (vgl. Bohrer, Der romantische Brief, S. 97f.): »So lange wir noch die Trümmern der Vergangenheit besuchen können, so lange hat das Leben auch immer noch eine Farbe. Aber wenn ein unruhiges Schicksal uns zerstreut, wenn die rohen Bedürfnisse des Daseins die leiseren übertäuben, wenn die Nothwendigkeit uns zu denken, zu streben, zu handeln zwingt, wenn neue Gedanken sich zeigen u wieder verschwinden, neue Wünsche sich regen u wieder sinken, neue Bande sich knüpfen, u wieder zerreißen, wenn wir dann zuweilen, flüchtig, mit ermatteter Seele, die geliebten Ruinen besteigen, das Blümchen der Erinnerung zu pflücken, und dann auch hier Alles leer u öde finden, die schönsten Blöcke in Staub u Asche gesunken, die letzten Säulen dem Sturze nah, bis zuletzt das ganze Monument matt u flach ist, wie die Ebene, die es trägt, dann erst verwelkt das Leben, dann bleicht es aus, dann verliert es alle seine bunten Farben — Wie viele Freuden habe ich auf dieser Reise genossen, wie viel Schönes gesehen, wie viele Freunde gefunden, wie viele großen Augenblicke durchlebt, — Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben, zu eng ist das Herz sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen - Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, u matt giebt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet [...]« (Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Ilse-Marie Barth u.a., Bd. 4, hrsg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns, Frankfurt am Main 1997, S. 249f.). Benno von Wiese, Brentanos >GodwiVorstellung< schließlich der Vorhang zur nächsten gehoben werden: N u n , nun Herr Baron, wo bleiben Sie denn, donnerte mich eine Stimme von oben herunter an, ich war aus der Wendeltreppe des Schlosses auf die meiner Laune gerathen, und hatte vergessen, auf der ersten weiter zu gehen, nun schlich ich vorwärts. Die breite schöne Treppe in Molly's Landhaus, wo führte die mich hin, ach! in das Amphitheater ihrer A r m e , das schöne Schauspiel ihres Geistes in ihren Augen zu sehen, und diese verdammte Wendeltreppe, wo führt sie mich wohl hin? (26)

Die Theatermetaphorik, die schon im Siebenkäs zu beobachten war38 und den ersten Brief im Rückblick als eine Art Stationendrama erscheinen läßt, verbindet Jodunos bevorstehenden Auftritt mit dem >Theater< in B., und die Frage auf der Wendeltreppe: »wo führt sie mich wohl hin?« verweist wiederum auf die Frage: »wer kommt nun?« (17), die bereits am Anfang des Briefes bei der Beschreibung der Ahnengalerie an der Stelle des Übergangs vom Hirschgeweih zum Porträt von Joduno formuliert wurde. Der Kreis also beginnt sich — wie die »Linie« der Familie, die sich »mit Anfang und Ende« vor dem am Schreibtisch sitzenden Erzähler »vereinigt« (17) - , am Schluß des ersten Briefes zu schließen. Und indem die analeptische Unterbrechung wieder auf ihren Ursprung zusteuert, wird bei aller erzählerisch inszenierten Diskontinuität auch die Kontinuität des ersten Briefes und des Romans insgesamt deutlich: Mit Molly gesprochen, darf dem »Jünglinge« - Godwi nämlich — »nie werden, was Belohnung des handelnden Mannes ist, gekrönte Liebe« (20). Denn »[e]s ist Verdienst, im Arme des Weibes ruhen zu dürfen, es ist Elend, vom Arme des Weibes ruhen zu müssen. Müssen Sie nie um zu dürfen« (20). Genau das aber ist der Fall: Allenfalls Godwis »Elend«, auf das ich noch zurückkommen werde und das mit der Mutterthematik des Romans zusammenhängt, hätte Molly dazu bewogen, Godwi die Erfüllung zu gewähren. Verdient aber hat

Vgl. Kap. V.2.3.

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er diese Erfüllung so lange nicht, wie er als Jüngling unfähig zum Handeln ist und statt des nötigen Maßes an Zweckrationalität alles dem Zufall und Augenblick überläßt. Deshalb auch begegnen Godwi im Sinne eines fortwährenden »wer kommt nun?« lediglich unerreichbare Tochter- und Mutterfiguren. Zugleich aber wird innerhalb dieser Wiederholungsstruktur - gewissermaßen im permanenten Ubergang von der Spindel der Mutter zum Buch der Tochter — der Erzähler geboren. So ist es, wie bereits erwähnt, Joduno, die Godwi alles fürs Schreiben Notwendige »auf den Tisch« legt (29), und entsprechend endet der erste Brief mit einer (auf die verdunkelte sexuelle Phantasie zurückverweisenden) Todes- und Wiedergeburtsphantasie: - das Bild der lieben Joduno sieht mich so freundlich an, daß ich jetzt fast schon vor der Dunkelheit erschrecke, wenn ich das Licht auslöschen werde. Gute Nacht, ich steige ins ungeheure Riesenbette, in dem vielleicht alle Herrn von Eichenwehen, und wohl auch die liebe Joduno gebohren sind, um heute Abend zu sterben, und morgen früh wieder neu gebohren zu seyn. (29)

Auf diese Wiederholungsstruktur des Godwi werde ich noch einmal am Ende des GWitv-Kapitels, wenn es erneut, wie schon beim Agathon und Siebenkäs, um das Problem des Romanendes gehen wird, ausführlich zu sprechen kommen und vor allem auch die Frage zu beantworten versuchen, worin der Zusammenhang zwischen der Poetik der Unterbrechung und der angedeuteten Autorschafts- und Weiblichkeitsthematik besteht. Zunächst aber werfe ich noch einen Blick auf die Kommunikationssituation des Briefromans. Dabei wird deutlich werden, daß auch die Abfolge der Briefe, statt dialogischen Austausch und verständigungsorientierte Weiterentwicklung der Figuren anzuzeigen, vor allem durch Diskontinuität und Unterbrechung gekennzeichnet ist, von Kommunikation im eigentlichen Sinne also kaum gesprochen werden kann.

4.

»Können wir beide uns etwas sagen?«

Susanne Scharnowski vertritt die These, daß sich der Briefroman vor dem Hintergrund eines Identitätsdiskurses im 18. Jahrhundert, der wie bei Schiller zwischen »Zustand« und »Person« unterscheidet, »zunehmend des Widerspruchs [...] zwischen der zeitlich bedingten Existenz des Ich und dem philosophischen Postulat der idealischen, als unbedingt gesetzten Einheit und absoluten Identität des Ich« annehme und dabei gerade »den zeitlichen Aspekt der subjektiven Erfahrung« akzentuiere.39 Der Briefroman tue dies dadurch, so Scharnowski, daß

39

Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 37.

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durch die spezifische literarische F o r m der Abfolge einer Vielfalt von einzelnen m o m e n t a n e n Eindrücken, die eben die wechselnden Zustände der Figuren dokumentieren, das Changieren der Existenz (im Gegensatz z u m Postulat der Einheit der Essenz) der Personen betont, u n d diese an die bloß wechselnden Zustände gefesselte Subjektivität zunächst e r n s t g e n o m m e n wird, o h n e ihr sogleich das Postulat der absoluten Selbsterhaltung u n d -erhöhung gegenüberzustellen. 4 0

Neben diesem Widerspruch zwischen der (unterstellten) Identität und zeitlich bedingten Pluralität des Ich setzt sich der Briefroman nach Scharnowski mit einem weiteren Widerspruch des Ich auseinander: Einerseits nämlich ist der Gattung der optimistische »aufklärerisch-empfindsame Glaube an Authentizität, Aufrichtigkeit und unmittelbare Kommunikation der >Seele< des Ich mit dem Anderen« eingeschrieben; andererseits betont der Briefroman gerade die »Einsamkeit, die Isolation des Schreibenden, sein Zurückgeworfensein auf das eigene Ich, das zwar durch den Brief zu kommunizieren sucht, seine Isolation beim Schreiben, in der Reflexion jedoch verstärkt sieht«.41 Dies hat zur Folge, daß nicht nur, wie am ersten Brief des Godwi zu sehen war, innerhalb des einzelnen Briefes ein diskontinuierliches Erzählen zu beobachten ist, sondern auch die Abfolge der Briefe, in der sich die histoire »von Brief zu Brief gewissermaßen erst herstellt«,42 lediglich als Aneinanderreihung von Zuständen erscheint, bei der kein Kontinuum der Kommunikation zwischen den einzelnen Briefen und Briefschreibern entstehen kann. So gesehen ist die »Tendenz zur Auflösung der Briefform« 43 als inszenierter Korrespondenz und Verständigung zwischen Subjekten in der Gattung selbst schon angelegt. Und so überrascht es auch nicht, daß Kommunikation im Godwi vor allem Unterbrechung und Abbruch der Kommunikation bedeutet. Schon Römers Antwort auf Godwis ersten Brief zeichnet sich nicht durch empfindsam-freundschaftliche Zuwendung und Aufgeschlossenheit aus. Auch wenn Römer bekundet, daß es ihm widerstrebt, seinem »liebe[n] Freund [...]

40

41 4Z

43

Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 37f. - »Die Form des brieflichen Ausdrucks reflektiert und akzentuiert die Erfahrung des Ich, das die Zeit als eine unverbundene Folge einzelner Momente wahrnimmt« (Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 73). Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 38. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 28. — Da die histoire grundsätzlich nicht vor dem discours und seiner Lektüre von Signifikant zu Signifikant vorhanden ist, kann mit der Herstellung der histoire »von Brief zu Brief« natürlich nur eine bestimmte Darstellungsillusion gemeint sein, die dadurch gekennzeichnet ist, daß eben keine abgeschlossene Handlung im Überblick und im Tempus des Präteritums erzählt wird. Das prozessuale Entstehen einer noch nicht abgeschlossenen histoire verbindet, wie zu sehen sein wird, den ersten Teil des Godwi mit dem zweiten. — Zum narrativen Gebrauch des Präteritums vgl. auch Roland Barthes: »Die Erzählvergangenheit ist also letztlich Ausdruck einer Ordnung und infolgedessen einer Euphorie. Dank ihrer ist die Realität weder geheimnisvoll noch absurd; sie ist klar, fast vertraut, in jedem Augenblick zusammengefaßt in der Hand eines Schöpfers« (Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays, Hamburg 1959, S. 33). Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 72.

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Lehren zu geben« - mit der Begründung, daß dieser nur »durch die Zeit und ihren Inhalt geheilet seyn« will (32), alles Reden also sowieso keinen Sinn hat —, besteht der gesamte Brief nur aus solchen Lehren und einer abstrakten Kritik an Godwi, die zu wissen behauptet, was es heißt, ein »Mann« (33) zu sein. Statt Empfindsamkeitspsychologie führt der zweite Brief einen Gegentypus zu Godwi ein: Dem schwärmerischen Jüngling wird der >Realist< mit Erwachsenengestus entgegengesetzt.44 Entsprechend erzählt Römer auch nichts, sondern doziert und interpretiert nur - und zwar kontinuierlich den gesamten Brief hindurch. Die Diskontinuität liegt zwischen den beiden Briefen. Auch im folgenden wird immer wieder die typologische Differenz zwischen Römer und Godwi betont, die eine Verständigung weder erlaubt noch überhaupt als Zielsetzung erkennbar werden läßt. So fängt Godwis Antwort auf Römers ersten Brief schon nicht mit der persönlichen Anrede, sondern mit einem verallgemeinernden »Ihr Menschen hinter euren Pulten« (40) an und holt zur typisch schwärmerischen Gegenkritik aus. Der nächste Brief von Römer scheint sich dann zwar dadurch, daß Römer wie Godwi nach B. reist und dabei zu einem Erzähler wird, der seinen Brief »aus einzelnen Bruchstükken« zusammensetzt (73), Godwi anzunähern. Doch Römer figuriert dabei lediglich als der von Godwi beschriebene Philister-Typus, der »alles, was außer der Poststraße liegt, Abentheuer« nennt (40). Und daß Römer sozusagen ein Schiller und kein Romantiker ist, zeigt sich gerade daran, wie Römer über den Augenblick spricht: Zwar beschreibt er den Schillerschen »Zustand« sehr genau, wenn er jedes »Einzelne« dadurch bestimmt, daß es das »vergangene Einzelne verschluckt« (6z). Römers Reflexion auf das »Nachundnach des Verschwindens« (62) ist jedoch nicht apologetisch wie bei Godwi, sondern kritisch gemeint und richtet sich gegen das bunte Treiben auf dem Lustschloß, wo Römer ebenfalls Molly Hodefield kennenlernt. In den späteren Briefen der beiden Hauptfiguren des ersten Teils wird dieser grundsätzliche Bruch zwischen Godwi und Römer noch schärfer herausgestellt. Dies wird bereits beim Blick ins Inhaltsverzeichnis daran erkennbar, daß — nach einem weiteren Brief von Godwi an Römer — die vermeintliche Briefkommunikation in zwei große, parallel gesetzte Blöcke zerfällt: Unterbrochen von zwei ihrerseits singulären (und unbeantworteten) Briefen von Joduno und einem zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Schreiber namens Antonio Firmenti werden im Text zunächst acht Briefe von Godwi und schließlich ebenfalls acht Briefe von Römer abgedruckt. Diesem ausgestellten Parallelismus korrespondiert die Rede der Figuren, die um das Problem kreist, wie und ob man überhaupt zueinander finden kann. So schreibt Godwi

Z u G o d w i als »Typus des Schwärmers« vgl. T h o m a s E . Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans, S. i82f.

201

— im unverkennbaren Bezug auf die Unterscheidung zwischen »Zustand« und »Person« — im ersten seiner acht Briefe: Werden wir uns wieder kennen, Römer, da der Wechsel die Dinge nun ergriff, und in der Werkstätte des Lebens wir, andere Bilder, dastehen? Werden wir unsre Herzen herausfinden aus diesen Falten augenblicklicher Stimmungen? und wann werden wir ewig unveränderlich, nackt und vollkommen die schönste Vollendung unsrer Eigenthümlichkeit seyn? wo kein äußeres Zeichen mehr unsre Ordnung bestimmt, sondern wir selbst ein einziges, untheilbares Zeichen für unser höchstes Daseyn sind. (129)

»Wie ist dir?« (129) fragt Godwi daraufhin mit einer Anteilnahme, die ebenso überraschend ist wie die plötzliche Sehnsucht nach der Unveränderlichkeit und Unteilbarkeit der eigenen »Person«. Doch schnell wird klar, daß Godwis Freundschafts- und Identitätsbeschwörung ironischerweise auch wieder nur Ausdruck seiner momentanen, mit dem >Realisten< Römer gesprochen: infantilen Stimmung ist. Da Godwi, der sich mittlerweile nicht mehr auf Schloß Eichenwehen, sondern beim Einsiedler Werdo Senne und dessen Tochter Otilie aufhält, zum »Kind« (132) geworden ist und sich von der »Liebe mit unendlich zarten Armen umfangen, und an das warme lebendige Herz der Natur sanft herangezogen« glaubt (130), darf auch die Beziehung zu Römer nicht aus der allgemeinen Einheit des »heiligen Gewerkes« (129) herausfallen. Schon in diesem ersten Brief aber gibt sich die Idylle des »stille[n] einfache[n] Friede[ns]« (135) als tödliche Friedhofsruhe zu erkennen: Die ersehnte Erfüllung nämlich, die Godwi dank Otilie, einer weiteren Tochterfigur also, zu erreichen hofft, ist nur im Tod möglich, und Römers Freundschaftsbeweis soll vor allem darin bestehen, daß der Freund vor Godwis Andenken niederkniet: Wenn mich Tilie liebt, so habe ich keinen Wunsch, kein Begehren, keine Geschichte mehr, ich bin aus dem Leben in die Natur getreten, und, guter Römer! knie dann neben mein Andenken hin, stille deine Thränen, und sprich die wahren, heiligen Worte: Er ruht sanft, ihm ist es besser als uns, wir müssen alle diesen Weg, wohl uns! (135)

Godwi beendet den Brief mit einem an Römer gerichteten »wohl dir!« (135) - und folglich ist der Freund in den weiteren sieben Briefen für Godwi gestorben. Das heißt: Der kurzfristig als Freund wiederentdeckte Römer wird vor allem zum Adressaten von Godwis Tagebuchaufzeichnungen umfunktioniert. Statt zu kommunizieren, verschickt Godwi Texte, in denen er im wahrsten Sinn des Wortes krankhaft darum bemüht ist, seine »kindische« Welt (129) weiter auszumalen und vor Desillusionierungen zu bewahren. Nur konsequent ist es daher, wenn Römer den ersten seiner acht Briefe mit der nüchternen und für die Gattung des Briefromans vernichtenden Erkenntnis beginnt, daß man sich ohnehin nichts zu sagen habe:

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Ich habe eine ganze Reihe von Briefen von dir, und wenn ich sie beantworten sollte, was könnte ich sagen? Können wir beide uns etwas sagen? da keiner fest steht, da ein jeder getrieben wird. W i r können höchstens einer dem andern das Eigne zeigen, und vertauschen; aber uns erfüllen können w i r nicht, ich kann dir nicht geben, was dir fehlt, und du mir nicht, denn der Streit ist mit einem jeden losgebrochen, und jeder hat nur mit dem Seinigen zu thun. (218)

Nach Römers Briefen bricht der erste Teil schließlich ab - und mit ihm die Gattung des Briefromans.45 Bevor ich aber zum zweiten Teil übergehe, möchte ich zunächst noch an einigen Briefpassagen des ersten Teils eine weitere Technik der Kontingenzdarstellung im Godwi vorstellen, die einerseits die ontologische Kontingenz der (narrativen und deskriptiven) Konstruktion von >Wirklichkeit< vor Augen führt und andererseits die Poetik der Unterbrechung mit anderen Mitteln fortsetzt. Dabei werde ich dann auch bereits den zweiten Teil des Godwi berücksichtigen. Denn gerade die Poetik der Unterbrechung und Diskontinuität ist es, die trotz der Verabschiedung des Briefromans eine Kontinuität zwischen erstem und zweitem Teil herstellt.46

5.

Verwilderung: Zur Narratologie des Perspektivismus

In der GoGodwiohne Tendenz«*, in: Wirkendes Wort 16 (1966), S. 24—33, hier S. 25.

47

Regener, »Arabesker Godwi«, S. 597. — Auch Marieke Krajenbrink bestätigt diesen Befund, wenn sie das Erzählen im Godwi als einen »über immer weitere Perspektivierungen ablaufende[n] Prozeß der Interpretation von Interpretation« versteht (Marieke Krajenbrink,

203

weise aber ist dieser allseits konstatierte Perspektivismus, der ja im Roman selbst bei der Bestimmung des Romantischen als »Perspectiv« (314) poetologisch reflektiert wird, bislang weder narratologisch verortet noch en detail beschrieben worden. Zwar hat man problemgeschichtlich etwa unter Hinweis auf Kant daran erinnert, daß das »Zurückgeworfensein des Subjekts auf sich selbst, seinen Erkenntnisapparat und seine Innerlichkeit« im Zentrum des Godwi stehe,48 oder man hat das Charakteristische von Brentanos Roman unter der Überschrift einer »Kritik am idealistischen >Grund und BodenDenn das Wort hat Farbe und Tone Beobachtungen zu den Bildern in Clemens Brentanos Godwi«, in: Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion, hrsg. v. Gerd Labroisse u. Dick van Stekelenburg, Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 45 (1999), S. 105—122, hier S. 114). — Zum perspektivischen Erzählen im Godwi vgl. bereits Paul Böckmann, »Die romantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck. Ein Beitrag zur Entwicklung der Formensprache der deutschen Romantik«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1934/35, S. 56—176, hier S. I34ff., sowie ders., »Der Roman der Transzendentalpoesie in der Romantik«, in: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts, hrsg. v. Maria Bindschedler u. Paul Zinsli, Bern 1969, S. 165-185, hier S. I76ff. - »Seit Böckmann steht der >Perspektivismus< der Darstellungstechnik Brentanos und seine Beziehungen zu den ästhetischen Theorien Friedrich Schlegels im Vordergrund des Forschungsinteresses« (Wolfgang Frühwald, »Stationen der Brentano-Forschung 1924-1972«, in: Sonderheft DVjs 1973, S. 182-269, hier S. 260). 48 49

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von Petersdorff, »Ein Knabe saß im Kahne«, S. 82. Marlies Janz, Marmorbilder. Weiblichkeit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal, Königstein/Ts. 1986, S. 91. - Ausgerechnet aber Friedrich Schlegel und nicht Fichte selbst als Kandidaten für das ursprungsphilosophische Festhalten am idealistischen »Grund und Boden« zu nennen, geht völlig an der frühromantischen IdealismusKritik vorbei (vgl. Kap. III.2./3.). Zwar weist Gerhard Storz darauf hin, daß die »perspektivische Absicht Brentanos [...] erst wirklich faßbar« werde, »wenn die Komposition des Romans sichtbar geworden« sei (Gerhard Storz, »Beobachtungen an Brentanos >GodwiWie< der Darstellung — und zwar, da die jeweilige Fokalisierung gar nicht von anderen Ebenen des discours getrennt werden kann, das >Wie< der Darstellung insgesamt, für das gerade im Hinblick auf die Frage nach der Konstruktion von >Wirklichkeit< neben dem »Modus« der Fokalisierung vor allem auch der narratologische Aspekt der »Stimme«, d.h. die Frage nach Zeitpunkt, Ort, Stellung und Subjekt des Erzählens, von zentraler Bedeutung ist.53 Dieser Blick auf die Darstellung wird vom Godwi, so meine These, geradezu provoziert. Denn ganz im Sinne der Frühromantik weiß Brentanos Roman, daß die Literatur das ersehnte »Identische« gerade »verlassen« muß, »um es darzustellen«.54 Die Konsequenz ist im Falle des Godwi ein Lyrik und Prosa vermischender, höchst selbstreflexiver Roman, der entsprechend der frühromantischen Forderung nach einer »progressive[n] Universalpoesie« sich permanent unterbrechend »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen« kann.55 So wenig es mir darum geht, die Zeit um 1800 teleologisch auf die Frühromantik hin zu lesen, so wenig fruchtbar ist es meines Erachtens, Brentanos Godwi als typisch frühromantischen Roman zu entlarven. Friedrich Schlegel selbst hat mit Bezug auf Goethes Meister betont, daß man »dieses schlechthin neue und einzige Buch [...] nur aus sich selbst verstehen lernen kann«; es zum Beispiel nach einem vorgegebenen Gattungs- oder Epochenbegriff zu beurteilen, »das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will«.56 Entsprechend interessiert mich nicht das »Schächtelchen« der Frühromantik, sondern die konkrete Leseanweisung, die im zitierten 116. Athenäums-Fragment enthalten ist. Mit dem Schweben nämlich »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden« ist nichts anderes gemeint als der Wechsel von einem hermeneutischen Thematismus zum Blick auf den Text als performance. Dieser Blick auf das Darstellende, also »keine Person und keine Substanz, sondern eine Tätigkeit oder eine Verfah-

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» s6

Nach Genette lassen sich drei Typen von »Fokalisierung« unterscheiden: 1) Die Nullfokalisierung, bei der die Erzählinstanz aus der Perspektive der Übersicht erzählt und dabei mehr als irgendeine der Figuren wahrzunehmen oder zu wissen vermag; 2) die interne Fokalisierung, bei der die Erzählinstanz die aktoriale Perspektive der Mitsicht einnimmt und nicht mehr als die Figur weiß; 3) schließlich die externe Fokalisierung, bei der die Erzählinstanz die neutrale Perspektive der Außensicht einnimmt, so daß der Leser keinen direkten Einblick in das Denken und innere Erleben der Figuren erhält (vgl. Genette, Die Erzählung, S. 134—138, sowie Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 63ft.). Zum >Wie< der Darstellung, d.h. zu »Modus«, »Stimme« etc., vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 27—89. Novalis, Schriften, Bd. II, S. 104. Friedrich Schlegel, K A , Bd. II, S. i8if. Friedrich Schlegel, K A , Bd. II, S. 133.

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rensweise«,57 wird, wie gesagt, vom Godwi selbst provoziert und verbindet das Erzählverfahren des Perspektivismus mit der Dekonstruktion von Archie und Teleologie. Denn was die perspektivischen (Unter-)Brechungen innerhalb des discours anzeigen, ist der erzählstrukturelle Entzug eben jenes stabilen archimedischen Punktes und verläßlichen Ursprungs, dem die mutterlosen Figuren auf der thematischen Ebene der histoire unendlich nachtrauern. Der Godwi handelt also nicht nur von melancholischen Figuren, sondern er ist selbst als discours melancholisch. Oder um es erneut abstrakt, d.h. vor der eigentlichen Lektüre, mit dem Vokabular der Frühromantiker zu sagen: Die progressive Universalpoesie ist zugleich eine regressive, deren unendliche Reflexionsbewegungen im Zeichen der Erinnerung und des melancholischen Bewußtseins stehen, daß das Ich, der Zeit ausgeliefert, immer schon verspätet ist. Die narrative Struktur des Briefroman-Teils im Godwi läßt sich in der spröden Beschreibungssprache der Erzähltheorie folgendermaßen zusammenfassen: Ein heterodiegetisch-extradiegetischer Herausgeber namens Maria (der im zweiten Teil dadurch, daß er in die erzählte Welt selbst eintritt, zum homodiegetischen Erzähler wird, und bei dem sich außerdem herausstellt, daß er auf nicht näher erläuterte Weise manipulativ in die Briefe eingegriffen hat) tut so, als ob er — analog zur zitierten wörtlichen Rede — den Wortlaut fremder Briefe wiedergeben würde, in denen die jeweiligen Briefschreiber auf einer intradiegetischen Ebene homodiegetisch von ihrer Welt oder gar autodiegetisch hauptsächlich von sich selbst erzählen und dabei entweder im Sinne gleichzeitigen Erzählens die Situation während des Schreibakts schildern oder im Sinne späteren Erzählens auf die Vergangenheit zurückblicken, wobei die erzählte Welt, die durch die Herausgabe der Briefe konstituiert wird, immer schon auf einer metadiegetischen Ebene zu verorten ist und innerhalb dieser Welt wiederum Figuren eingeführt werden können, die, wie im bereits beschriebenen Fall des Burschen Conrad, ihrerseits zu Erzählern werden und dadurch eine metametadiegetische Ebene eröffnen. Im Hinblick auf die Fokalisierung besteht die »Illusion der Darstellung« (219) beim Herausgeber darin, daß er intern fokalisiert die aktoriale Perspektive der Mitsicht einnimmt, während die erzählenden Briefschreiber über alle Fokalisierungsarten verfügen können. Multiperspektivisch wirkt der erste Teil deshalb, weil das Romangeschehen aus der Mitsicht mehrerer Briefschreiber bzw. Figuren erzählt wird und es sogar vorkommt, daß ein und dasselbe Ereignis aus unterschiedlicher Perspektive dargestellt wird; die Erzähltheorie spricht in diesem Fall von einer repetitiven Erzählung.58 57 58

Sonderegger, Ästhetik des Spiels, S. 145. Z w a r kommt auch Dirk von Petersdorff ohne narratologischen Jargon zu der Beobachtung, daß »die Briefschreiber an einigen Stellen über gleiche Ereignisse und Personen« sprechen, und sieht die »formalen Möglichkeiten« des Briefromans völlig zu Recht genau darin begründet, daß sich alles »Geschilderte [...] von A n f a n g an als perspektivische Figurensicht« erweise, »die von anderen Briefen relativiert wird« (von Petersdorff, »Ein Knabe

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Eine solche repetitive Erzählung liegt etwa an der Stelle vor, an der Molly noch einmal aus ihrer Sicht die Ereignisse der letzten Nacht in B. erzählt. Bei der Wiedergabe der Abschiedsszene fällt auf, daß Molly gegenüber Godwis Erzählung die Reihenfolge zwischen ihrem >Befehl< abzureisen und Godwis Kuß umdreht: Während Godwi aussagt, daß sie zuerst den Befehl gibt und er erst danach »ohne Kühnheit die Thräne des Abschieds von ihrer Wange« küßt, die Molly ihm, über ihn »herab gebogen«, geradezu hinhält (19), legt Mollys Version nahe, daß Godwi ihr ziemlich unvermittelt zuerst den Kuß »raubte« und sie im Anschluß daran alle ihre »Gewalt« habe zusammennehmen müssen (ioof.), um zunächst zu bitten und schließlich zu befehlen, Godwi solle abreisen. Zwar durchschaut Godwi laut eigener Darstellung die »Heucheley« von Mollys »Enthaltsamkeit« und erkennt die performative »Wahrheit« des Kusses (19), die im Widerspruch zur Abreiseaufforderung steht. Doch Godwi setzt dieses Wissen, das durch Mollys Erzählung abgestützt wird, erstaunlicherweise in keine ernsthaften Verführungsversuche um, sondern konstruiert eine bei aller Ambivalenz eindeutige Hierarchie, der er sich letztlich fügt: Molly steht vor ihm wie sein »Herr«, dessen Befehl ihn zum »Sclaven« macht (19). Erst nachdem diese Konstellation gewährleistet ist, wagt Godwi den »ersten und letzten« Kuß (20), durch den die »Scheidestunde« nur deshalb nicht »weggenommen« (20) wird, weil Godwi von der »Wollust« (19) lediglich träumt, aber nichts für deren Erfüllung unternimmt. Molly hingegen betont zunächst gerade Godwis »Kühnheit« und kann sich sein Einlenken auf ihren eher hilflosen Abwehrversuch, der vom »Zufall« der Dunkelheit begünstigt ist (ioif.), allein damit erklären, daß Godwi sie nun einmal »nicht verstand« und die »Mühe« ihres Befehls nicht erkannte (101). Aus Mollys Interpretationslogik heraus ist es dann auch völlig nachvollziehbar, daß Godwi mit einem »rührenden Ernste« fragt: »Habe ich ihre Liebe verscherzt?« (101). In Godwis eigener Erzählung allerdings taucht diese Frage signifikanterweise gar nicht auf und wäre aus seiner Sicht auch allenfalls rhetorisch zu verstehen. Was aber ist nun richtig? — Zwar ist festzuhalten, daß durch beide Versionen sowohl Mollys Ambivalenz als auch Godwis Nichtweiterküssen bestätigt wird. Wann allerdings der Kuß erfolgte und ob Godwi Mollys Schwanken womöglich erst retrospektiv als erzählendes Ich nach der Zusatzinformation

saß im Kahne«, S. 89). W i e diese formalen Möglichkeiten aber aussehen und auf welchen Ebenen sie narratologisch zu verorten sind, wird durch den Verzicht auf Analyse nicht deutlich. — Z u m Multiperspektivismus vgl. auch T h o m a s E. Schmidt, der einschränkend einwendet, daß von »einem wirklich mehrperspektivischen Erzählen [...] nur begrenzt die Rede sein« könne, da der »Hauptteil der Korrespondenz [...] von dem Briefwechsel G o d wis und Römers bestritten« werde (Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans, S. 179). — Z u m repetitiven Erzählen hat bereits Paul B ö c k m a n n angemerkt, daß die Briefe »vor allem die Möglichkeit [geben], das gleiche Ereignis von verschiedenen Individuen aus zu schildern, so daß die eine Begegnung in mehrfacher individueller Brechung erscheint. Solche Doppeldarstellungen machen die Darstellung als Darstellung fühlbar [...]« (Böckmann, »Die romantische Poesie Brentanos«, S. 137).

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von Conrad wahrnimmt und insofern also doch Molly mit ihrer Annahme recht hat, daß Godwi seine Chance im entscheidenden Augenblick nicht erkannte — alles das kann einfach deshalb nicht entschieden werden, weil es keinen Korrespondenzpunkt außerhalb der Erzählungen gibt, von dem her sich der jeweilige Geltungsanspruch auf Wahrheit überprüfen ließe. Allenfalls im Sinne einer Kohärenztheorie der Wahrheit wirkt Godwis Erzählung in sich weniger plausibel als die von Molly: Warum nämlich sollte Godwi seine von ihm selbst eingestandenen »kühnefn], sehr verwegne[n] Hoffnungen« (18) mit einem Male aufgeben, wenn er, wie er vorgibt, nicht erst im Rückblick, sondern in der Situation selbst schon weiß,59 daß Molly verführbar ist. Auch das plötzliche, bereits zitierte »Doch auf dem Gipfel des Rausches entsinkt uns der Becher, kalt strömt die Wirklichkeit [...]« (19) kommt einigermaßen unvermittelt daher und spricht nicht gerade für die psychologische Kohärenz der Erzählung — ganz zu schweigen von Godwis schiefem Vergleich zwischen Molly und einem »geizigen Wirth[ ]«, der seinem berauschten Gast mit zunehmender Dauer immer jüngere, saurere Weine ausschenkt (20). Denn einerseits ist Godwi ja gerade nicht so berauscht, daß er den Betrug nicht merken würde, und andererseits möchte Molly nach Godwis Interpretation auch gar nicht geizig sein. Womöglich aber liegt die Kohärenz von Godwis Erzählung ganz woanders. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß für den Jüngling Godwi das infantile »Elend, vom Arme des Weibes ruhen zu müssen« (20), kennzeichnend ist und aufgrund der von Molly genannten »Verwandtschaft« (102) eine virulente Inzestproblematik die Situation bestimmt, dann ist Godwis Handlungshemmung, die etwa an Goethes Werther erinnert, durchaus folgerichtig, und jener »andere[ ] Umstand«, der Molly »zwing[t]«, sich gegen die »Wahrheit in dem Kusse« (19) zu richten, wäre nichts anderes als das bürgerliche Inzesttabu.60 Wie bei Goethes Werther oder Wilhelm Meisters Lehrjahren bestünde der Vorteil eines solchen Interpretationsansatzes darin, daß man damit der einseitigen Identifikation mit dem schwärmerischen Helden vorgebeugt hätte: Wie Werther und Wilhelm Meister (oder auch Jean Pauls Siebenkäs) erschiene Godwi aus dieser Perspektive vor allem als ödipal fixiertes Muttersöhnchen, das immer wieder in die narzißtische »Falle des

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So schreibt G o d w i etwa in bezug auf die Augenblickswahrnehmung: »Sie [Molly, S.M.] richtete sich auf, und so wie etwa Ludwig der achtzehnte aussieht, wenn er in Reval über Frankreich regiert, erschien sie mir in ihrer Armuth, in diesem kleinen Schiffbruche ihres Plans, der mir nicht entging [...]« (20). So gesehen ist G o d w i s erotische Wendeltreppen-Phantasie mit der »Zauberin« Molly als tabuisierter und deshalb verdunkelter Inzest zu verstehen, und die »ziemlich unziemliche[n] Blößen« (26) verweisen direkt auf 3. Mose 18, 6 f f : »Niemand von euch soll sich irgendeinem seiner Blutsverwandten nähern, um die Blöße aufzudecken. Ich bin der H E R R . Die Blöße deines Vaters und die Blöße deiner Mutter sollst du nicht aufdecken; sie ist deine Mutter, du sollst ihre Blöße nicht aufdecken. Die Blöße der Frau deines Vaters sollst du nicht aufdecken; es ist die Blöße deines Vaters.«

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Imaginären« tappt.61 Diese narzißmuskritische Stimme ist im Godwi zwar unverkennbar angelegt. Das Problem besteht jedoch darin, daß man sich mit dieser normativen Interpretation nicht etwa auf die Seite der Wahrheit schlägt, sondern - in dem vom Roman gerade problematisierten Glauben daran, daß es einen »Standpunkt« gibt, von dem aus man alles »übersehen« kann (488) — lediglich auf die Seite einer anderen Figur. Statt dem Perspektivismus zu entrinnen, droht man als Interpret bei Römers >Wahrheit< zu landen, der Godwi gegenüber das Realitätsprinzip verkörpert. Römer aber ist im ersten Romanteil auch nur eine Stimme. 62 Und so ist es denn nicht verwunderlich, daß Godwis Abschiedskuß auch von Römer kommentiert wird: Aus seiner Perspektive erscheint Molly als durchtriebene Schauspielerin und »Verderberin« (31), die noch bei der Vorführung ihrer Ambivalenz die Fäden in der Hand hält. Sogar die zweite Kußszene, die Molly im eigenen Brief als Ausdruck ihrer Schwäche beschreibt, interpretiert Römer mit der entsprechenden Verachtung als perfides »Spiel«, durch das Mollys eindeutiger »Sieg« von Godwi irrtümlicherweise im nachhinein als »Schmeicheley« (32) wahrgenommen wird: Die Geschichte am Morgen scheint mir das, was den Mozart ausgezeichnet hätte, der aus Laune, oder auf Bitte eines mächt'gen Geschmacklosen, ein elendes Lied auf seiner Violine hinzauberte. Es war in Rücksicht auf den moralischen Werth der ganzen Sache das Selbstgefühl eines Bierfiedlers, der, hat er in seinem G a s senhauer die Beine seines Pöbels genug zum Tanzen gezwungen, an das E n d e des letzten Takts noch einen Ohrenzwang gratis anhängt. (32)

Worin Mollys »Sieg« besteht, wird durch Römers Erzählung zwar genauso wenig beantwortet wie die Frage, was Godwi »so glücklich aus den Schlingen dieser liebenswürdigen Verderberin« hat entkommen lassen (31). Doch darum geht es Römer auch gar nicht. Was seine Interpretation, die als Kritik von Godwis Interpretation auftritt, vor allem leistet, ist die Abgrenzung vom Freund.63 Und wollte man die Interpretationsspirale, Römers Kritik an Godwis Interpretation ihrerseits kritisierend, weiterdrehen, könnte man darauf insistieren, daß Römers »Verdammniß der Moralität« (31) weniger gegen Molly als gegen Godwi gerichtet ist, weil Römer gegenüber Godwi das Gesetz des

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Wiethölter, »>... was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben«, S. 165. Schon weil diese Figurenstimme im zweiten Teil zum Verstummen gebracht wird, werde ich die figurenpsychologische Narzißmus-Kritik an Godwi bei allem Primat des discours nicht ausblenden. Römer nimmt dabei nach Thomas E. Schmidt den »Standpunkt empirischer Psychologie« ein und »vereindeutigt die Liebesgeschichte mit Molly zu einer Episode spätrokokohafter Erotik, zu einer illusionslosen Liaison zwischen einer erfahrenen Frau, deren Lebenswandel fragwürdig ist, und einem schwärmerischen jungen Mann. [...] Mit der Antithetik Schwärmer/Realist, Reisender/Kaufmann ist eine Figurenkonstellation eröffnet, die auf Goethes 'Wilhelm Meisten, aber auch auf die Werther/Albert-Konstellation zurückverweist« (Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans, S. 183).

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Vaters verkörpert u n d weil er — alles andere als interesselos u n d neutral die Wahrheit s a g e n d - die Position des S o h n e s alleine besetzen will. A b g e s e h e n aber v o n der G e f a h r , lediglich die eine F i g u r e n p o s i t i o n g e g e n die andere auszuspielen, lautet der entscheidende E i n w a n d gegen einen solchen hermeneutischen T h e m a t i s m u s , daß m a n d a m i t eben jenem Ursprungsbegehren a n h e i m f ä l l t , d a s der verwilderte discours des Godwi in F r a g e stellt. N e b e n der Intertextualität, die, wie ich gezeigt habe, in J e a n Pauls Siebenkäs

f ü r eine die

Souveränität des Erzählers durchkreuzende Vielstimmigkeit sorgt, 6 4 ist es gerade die E r z ä h l s t r u k t u r des Perspektivismus, die i m Godwi die S u c h e nach e i n e m a r c h i m e d i s c h e n P u n k t p e r m a n e n t unterbricht. D e n n was die Aneinanderreih u n g der Briefe u n d repetitiven E r z ä h l u n g e n bei aller D o m i n a n z von G o d w i s S t i m m e i m ersten Teil erzeugt, ist der E f f e k t einer Enthierarchisierung. A l l e A u s s a g e n stehen dabei d u r c h die V e r s c h i e b u n g des Erzählten a u f eine i m m e r schon (mindestens) metadiegetische E b e n e g e w i s s e r m a ß e n in A n f ü h r u n g s zeichen u n d verweigern sich d a m i t jeder u n m i t t e l b a r e n Identifikation. A u c h w e n n es i m Godwi keine totale A n a r c h i e der S t i m m e n gibt u n d die i m m e r auch v o r h a n d e n e T e n d e n z zur u r s p r u n g s l o g i s c h e n F i x i e r u n g sich schon a m Titel des Godwi zeigt, sorgt der Perspektivismus — u n d d a r i n besteht einer der f ü r diesen R o m a n charakteristischen Inszenierungsmodi der Relationalität von K o n t i n g e n z u n d O r d n u n g - strukturell f ü r die D e z e n t r i e r u n g des Erzählens. D i e »Verfassung« des R o m a n s ist also, u m erneut a u f die F r ü h r o m a n t i k zu verweisen, »republikanisch« u n d folgt eben nicht j e n e m »recht grobe[n] Kitzel des E g o i s m u s [und N a r z i ß m u s , S . M . ] « , der d a r i n besteht, d a ß »alle Personen in einem R o m a n sich u m E i n e n b e w e g e n wie Planeten u m die S o n n e , der d a n n gewöhnlich des Verfassers unartiges S c h o ß k i n d ist, u n d der Spiegel u n d S c h m e i c h l e r des entzückten Lesers w i r d « . 0 5 In A n l e h n u n g a n N i k l a s L u h m a n n k ö n n t e m a n sagen: D e r B r i e f r o m a n ist durch ein systematisches » B e o b a c h t e n zweiter O r d n u n g « gekennzeichnet. In der A n e i n a n d e r r e i h u n g unterschiedlicher Briefe b e o b a c h t e t der T e x t (und m i t i h m der Leser) die B e o b a c h t u n g e n anderer Beobachter zu jeweils anderen Z e i t p u n k t e n . I m B r i e f r o m a n wird d e m n a c h durch das Erzählen per Brief stets »nur B e o b a c h t e n beobachtet, u n d erst so vermittelt k o m m t m a n zur [metadiegetischen, S . M . ] Welt« des E r z ä h l t e n . 6 6 D e r E f f e k t dieser grundsätzlichen Vermitteltheit ist n a c h L u h m a n n — u n d wie bereits a n W i e l a n d s

Agathon

gezeigt — nichts anderes als K o n t i n g e n z : Beobachten zweiter Ordnung läßt [...] die Wahl offen, ob man bestimmte Bezeichnungen dem beobachteten Beobachter zurechnet und ihn dadurch charakterisiert oder sie als Merkmale dessen ansieht, was er beobachtet. Beide Zurechnungen, Beobachterzurechnung und Gegenstandszurechnung, bleiben möglich;

s 6

* Vgl. Kap. V . 4 . ' Friedrich Schlegel, K A , Bd. II, S. 183. Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, S. 101.

66

2IO

i h r e E r g e b n i s s e k ö n n e n d e s h a l b als k o n t i n g e n t a u f g e f a ß t w e r d e n . S i e lassen sich d u r c h a u s k o m b i n i e r e n - so w e n n m a n eine B e o b a c h t u n g f ü r s a c h r i c h t i g h ä l t , s i c h a b e r t r o t z d e m f r a g t , w e s h a l b d e r b e o b a c h t e t e B e o b a c h t e r sich a u s g e r e c h n e t d a f ü r statt f ü r e t w a s a n d e r e s interessiert. I n d e r m o d e r n e n W e l t w i r d m e h r u n d m e h r a u c h , o d e r in v i e l e n F ä l l e n n u r , a u f B e o b a c h t e r z u g e r e c h n e t . D a s m a g als S y m p t o m f ü r d a s K o n t i n g e n t w e r d e n aller W e l t e r f a h r u n g g e l t e n . 6 7

Dieser Beobachterzurechnung und Kontingenz entkommt im Godwi selbst der Herausgeber nicht. Auch bei der extradiegetischen Instanz des Herausgebers ist demnach das fundamentum inconcussum eines souveränen Ursprungs und archimedischen Punktes nicht zu finden.68 Dies zeigt sich etwa daran, daß bereits am Ursprungsort der Buchproduktion ein irritierter Setzer dazwischenredet (vgl. 57) oder der »Buchdrucker« einen so großen Zeitdruck erzeugt, daß der Herausgeber nicht mehr allmächtig von der Möglichkeit bestimmter Handlungsverläufe Gebrauch machen kann (vgl. 380). Vor allem aber zeigt es sich daran, daß der extradiegetisch-heterodiegetische Herausgeber im zweiten Teil selbst zur homodiegetischen Romanfigur und dabei als eine Erzählerstimme unter anderen immer mehr zum Verstummen gebracht wird. 69 Neben den dominierenden Perspektiven der beiden Briefschreiber Godwi und Römer kommen im ersten Teil auf der intradiegetischen Ebene noch Molly Hodefield, Werdo Senne, Otilie Senne, Jost von Eichenwehen und Antonio Firmenti mit je einem Brief sowie Joduno von Eichenwehen mit zwei Briefen zu Wort, wobei die Briefe von Molly und Antonio Firmenti die mit Abstand längsten sind. Darüber hinaus aber ist zu berücksichtigen, daß erstens im Falle der Rückblenden wie bei jeder Ich-Erzählsituation immer eine doppelte Perspektive aufgrund der mehr oder weniger ausgeprägten Differenz zwischen erzählendem und erzähltem Ich vorhanden ist; daß zweitens in den Briefen wiederum Figuren eingeführt werden können, die durch Erzählungen oder Lieder eine metametadiegetische Perspektive eröffnen; und daß drittens

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Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, S. ι ο ί . Gerade die R o m a n tik ist f ü r L u h m a n n Ausdruck dieser modernen Welterfahrung (vgl. ebd., S. 48f.) Z u m Verlust eines archimedischen Beobachtungspunktes vgl. Niklas Luhmann, Archimedes und wir, Berlin 1987, S. i64f. Vom zweiten Teil her gesehen erscheint der Herausgeber des ersten Teils bei aller Verfügungsgewalt über das Briefmaterial gerade nicht als Stimme der Wahrheit, sondern als weitere Instanz des Perspektivismus. Im zweiten Teil wird dieser extradiegetische Perspektivismus durch Marias Geständnis expliziert, daß er die »Briefe mit dem meinigen vermischt« (273) habe. Dieses »Meinige« zeigt sich bei den drei Erzählungen des Abschiedskusses etwa daran, daß sie, obwohl weder G o d w i noch Römer Mollys Brief kennen können, auf die gleiche Metaphorik zurückgreifen. S o sagt Molly über den K u ß , er habe »den ganzen stolzen Tempel« ihrer »Weisheit zusammengestürzt« (101), während bei G o d w i von den »Trümmer[n] ihres stolzen Befehls« (20) und bei Römer von der Aufforderung des Kusses die Rede ist, »das Gebäude ihrer ganze Weisheit zu zertrümmern« (31). Was dies f ü r die Authentizität der Briefe heißt, ist grundsätzlich nicht zu entscheiden.

211

alle Briefe von einer extradiegetischen Instanz gerahmt werden, die ja nur so tut, als ob sie hinter der Perspektive ihrer Figuren verschwände. Im zweiten Teil scheint dieser Perspektivismus auf den ersten Blick insofern zurückgenommen zu werden, als von den genannten Figuren des ersten Teils nur noch G o d w i als Sprech- und Erzählinstanz übrig geblieben ist; vor allem die »scheinbare Hauptfigur Römer, der im Briefroman annähernd ebenso viel R a u m als erzählendes Ich mit eigener Stimme zugestanden wird wie dem Titelhelden«, erweist sich »im zweiten Teil des Romans als Nebenfigur und erleidet damit ein Schicksal, das sie mit Joduno von Eichenwehen und Otilie Senne teilt«.70 Im Gegensatz dazu tauchen jedoch im zweiten Teil schlichtweg neue Figuren auf und erheben ihrerseits »Anspruch auf Redezeit«: 7 ' neben Godwis Vater und Mutter sowie Annonciata bzw. Kordelia, der Schwester der Mutter, vor allem »Violette, ihre Mutter (die Gräfin von G.) und ihre Schwester Fiammetta, Wallpurgis [...] und selbstverständlich Maria«, 72 der Herausgeber des Briefromans, der G o d w i im zweiten Teil aufsucht, um »wo möglich seine Freundschaft zu gewinnen« und die Fortsetzung des Romans »mit seiner Hülfe auszuschreiben« (275). Innerhalb des Beziehungsgeflechts dieser Figuren geht es vor allem um eines: ums Geschichtenerzählen. Der zweite Teil des Godwi setzt sich zusammen aus Erzählungen, die einerseits auf verschiedenen zeitlichen Ebenen handeln und andererseits in unterschiedliche Erzähl- und Gesprächssituationen eingebettet sind und in ihnen entwickelt werden. Wie bereits mit unterschiedlichem Erfolg im Briefroman, so behauptet auch im zweiten Romanteil das kommunikative, selbstreflexive und prozeßhafte Element der Erzählung seine Stellung.73 Die Erzählung ist dabei nach Scharnowski »auch im zweiten Romanteil zu jedem Zeitpunkt als vermittelte und perspektivische kenntlich gemacht«. 74 Und wie beim Briefroman ist hier zunächst zu fragen, was darunter narratologisch zu verstehen ist.75

70 71 72

73 74 75

Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 114. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 114. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 114. - Zum Beziehungsgeflecht im Godwi \gl. das sehr hilfreiche Schaubild bei Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 116. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 107. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 107. Zur Analyse der Erzählstruktur im zweiten Teil führt Scharnowski eine eigene Terminologie ein: Bei den unterschiedlichen Kommunikationssituationen (aber auch bei Fragen nach Fiktionalität und Fiktionsironie) spricht Scharnowski von Schichten; bei der chronologischen Verortung des Erzählten innerhalb der histoire von zeitlichen Ebenen; und bei der Charakterisierung der Erzählsituation oder der jeweiligen Stellung des Erzählers zur erzählten Welt vom Erzählgestus. Abgesehen davon, daß diese Begriffe sehr vage bleiben und auch in Scharnowskis Argumentation keine wirklich produktive analytische Trennschärfe erkennen lassen, ist die Einführung eines eigenen Vokabulars im wissenschaftlichen Diskurs natürlich immer höchst legitimationsbedürftig - zumal dann, wenn das etablierte

212

Wie im ersten sind auch im zweiten Teil dem >eigentlichen< Erzähldiskurs zwei Paratexte vorangestellt: eine »B.« gewidmete, »unabhängige Dedikazion« (259) von einem Ich ohne Namen sowie eine Vorrede von Maria, in der sich dieser vom extradiegetisch-heterodiegetischen Herausgeber in einen extradiegetisch-homodiegetischen Ich-Erzähler verwandelt und so zur Figur innerhalb der erzählten Welt wird, was wie bei Jean Paul gerade den /wratextuellen Charakter der Vorrede in Frage stellt. Als Figur innerhalb der erzählten Welt steht Maria von Anfang an »in der Nachfolge Godwis«.76 Denn Maria will nicht nur dessen Freundschaft gewinnen (vgl. 275), sondern stattet sich selbst mit ähnlichen Attributen wie Godwi aus: Wie dieser im ersten Romanteil hat auch Maria einen »Theil« seines Lebens damit zugebracht herauszufinden, »als was« er sein »Leben zubringen sollte« (273); analog zu Godwi (vgl. 224) hat Maria »alle Stände wie die Röcke einer Trödelbude« anprobiert (273); und auch das Mutter-Tochter-Thema wird in der Vorrede analog zu Godwis erstem Brief sofort aufgeworfen (vgl. 273^); abgesehen davon, zeichnet sich Maria wie der Briefschreiber Godwi durch einen merkwürdigen »Drang zur Darstellung« (373) aus. Da es keinen übergeordneten Erzähler gibt, der die Handlung als abgeschlossene aus der sicheren zeitlichen Entfernung späteren Erzählens rückblickend vergegenwärtigte, wird der zeitliche Fortgang der histoire im zweiten Teil ähnlich wie im Briefroman als Nacheinander von Zuständen inszeniert, die jeweils ausgehend vom Zeitpunkt eines nur geringfügig späteren Erzählens wiedergegeben werden. Im Fortgang dieser erzählten Zeit widmen sich die Figuren allerdings vor allem der Erzählung von zeitlich entweder noch vor der Handlung des Briefromans oder zwischen erstem und zweitem Teil liegenden Vorgeschichten. Das >Wie< der Darstellung sieht dabei folgendermaßen aus: In den Kapiteln i—17, deren erzählte Zeit von einem Abend bis in die frühen Morgenstunden des übernächsten Tages reicht, 77 erzählt Maria autodiegetisch davon, wie er Godwi begegnet und die erste Nacht auf dessen Gut verbringt. Charakteristisch für diesen Beginn des zweiten Teils sind die zahllosen Passagen zitierter wörtlicher (seltener auch transponierter) gesprochener bzw. Gedankenrede; es dominiert also eindeutig der dramatische Modus und damit wie im ersten Teil

76 77

Begriffsinstrumentarium nicht nur die gleichen, sondern sogar noch mehr Phänomene differenzierter abdeckt. Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans, S. 201. A m A n f a n g des ersten Kapitels ist von einem »Abendessen« die Rede (277); am nächsten »Morgen« macht sich Maria zu Godwis G u t auf (281) und trifft G o d w i schon vorher im Wald zusammen mit dem Dichter Haber (285f.); nachdem sich die drei kurzzeitig verirrt haben, kommen sie in ein Jägerhaus und verbringen die Zeit bis zum »Abend« (323) gemeinsam im Saal des Hauses; dann geht man duch den Wald zu G o d w i s G u t (329), das man nachts schließlich erreicht (344); nach »drei Uhr« (354) verläßt Maria, der im Unterschied zu Haber nicht schlafen kann, die Stube und begibt sich zum D e n k m a l von Violette; während Maria vor dem Bildnis sitzt, bricht der Morgen an.

213

das Reden in Anführungszeichen. Der Zeitpunkt, von dem aus Maria erzählt, schließt dabei unmittelbar an die jeweilige Situation an (vgl. 280), oder Maria erzählt gar mehr oder weniger gleichzeitig (vgl. 373); wie bei den Gedichten des 17. Kapitels ist Maria vor allem damit beschäftigt zu schreiben. Vom 18. Kapitel an beginnt Maria, mit Godwis Hilfe die Vorgeschichten zum ersten Teil aufzuschreiben. Dabei verfährt Maria zunächst genau so, wie es Godwis >Arbeitsplan< vorsieht: Er [Godwi, S.M.] nahm mehrere Papiere aus dem Schreibpulte, und sagte: diese Papiere enthalten die Geschichte meines Vaters in Bruchstücken, wie auch die meiner Mutter, und das Meiste der Jugendgeschichte des Alten und Molly's, von Cordelien nichts, auch von mir nichts; aus allem diesem nun müssen Sie ihren zweiten Band zusammenschreiben und mir vorlesen, von den Nebenpersonen des ersten Bandes dürfen Sie nicht viel sagen, weil sie bald abtraten. Das Uebrige meines Lebens, bis jetzt, will ich Ihnen dann erzählen. Sie können hier von dieser Zelle Besitz nehmen, und darin arbeiten. In der Zwischenzeit führe ich Sie in die Bildergallerie, welche zu Ihrem Buche hier in dem heiligeren Theile des Hauses sehr vollständig ist, denn mein Vater ließ beinah alle die Hauptscenen aus seinem Leben malen, daher waren auch immer so viele Künstler bey ihm. [...] Ich dankte ihm für seine Güte, und versprach ihm es so gut zu machen, als ich könnte; dann las er mir hintereinander die Aufsätze vor, und ich bildete daraus, was die Leser nun hören werden. (381)

Noch am Nachmittag des ersten Tages auf Godwis Gut schreibt Maria das 19. Kapitel, das von der »Geschichte der Mutter Godwi's und ihrer Schwester« (382ff.) handelt. »So weit hatte ich geschrieben noch diesen Nachmittag, nachdem mich Godwi verlassen hatte«, heißt es am Anfang des 20. Kapitels. »Da ich fertig war, kam er zu mir, und ich las es ihm vor« (389). Was »in der Zwischenzeit« folgt, sind die von Godwis >Arbeitsplan< vorgesehenen Führungen durch die vom Vater in Auftrag gegebene Bildergalerie (20. Kapitel: 389f£; 26. Kapitel (1): 434ff.) und — unterbrochen von gesungenen Liedern in zitierter wörtlicher Figurenrede (21. Kapitel: 398ff.; 24. Kapitel: 42iff.; 26. Kapitel (1): 438ff.) sowie zwei unmittelbar aufgeschriebenen Gedichten (21. Kapitel: 407^) - das erzählte Zeit in Anspruch nehmende Weiterschreiben der Geschichte von Marie, Godwis Mutter, und ihrer Schwester Annonciata bzw. Cordelia (22., 23., 25. und 26. Kapitel (2)). Erzählt wird diese Geschichte ganz konventionell von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler im nullfokalisierten Uberblick. Zwischendurch allerdings werden zwei Briefe von Annonciata wörtlich zitiert (4i4ff.; 429ff.), in denen intern fokalisiert aus ihrer Perspektive erzählt und wiederum die Rede bzw. der Tagebucheintrag einer anderen Figur, Wallpurgis, zitiert wird (4i5ff.). Im 27. Kapitel erzählt Maria, daß er Godwi, wie vereinbart, vorliest, was er schreibt, woraufhin dieser ihm Blätter mit Fragmenten seines Vaters gibt. Maria fügt wieder einmal in der Rolle des Herausgebers »das Merkwürdigste hieher« ein, um die Geschichte des Vaters durch dessen eigene »Empfindungen den Lesern vermuthlich zu machen« (455). Gemäß dem Arbeitsplan beginnt 214

Godwi dann vom 28. Kapitel an, nachdem Maria »mit den Papieren fertig« geworden ist (463), das »Uebrige« (381), d.h. vor allem die Geschichte von Godwis Vaters, Molly und Joseph bzw. Werdo Senne, mündlich zu erzählen und dabei nicht nur wichtige Lücken innnerhalb der.gesamten histoire zu schließen, sondern nachträglich auch noch das Ende der Briefromanhandlung in ein Happy End zu verwandeln (28. bis 31. Kapitel). Godwi tritt also als intradiegetischer Erzähler innerhalb der (immer noch) von Maria extradiegetisch-homodiegetisch erzählten Geschichte auf, bei der allerdings nicht mehr gesagt wird, daß und wann Maria sie aufschreibt. Die von Godwi erzählten Geschichten sind demnach metadiegetisch verortet. Mitten im 31. Kapitel wird der Erzähldiskurs durch ein Zwischenblatt mit dem Titel »Fragmentarische Fortsetzung« unterbrochen (485). Diese Fortsetzung entsteht, so die Vorwegnahme des Zwischentitels, »während der letzten Krankheit des Verfassers [Maria, S.M.]« und stammt nur noch »theils von ihm selbst«, andernteils jedoch »von seinem Freunde« (485). Entsprechend unvermittelt wechselt das Tempus von Marias Erzählung analog zur Erzählsituation eines Briefes oder Tagebuchs ins Perfekt und Präsens. Im Unterschied zum intradiegetischen Erzählen zuvor gibt es jedoch wieder einen klaren Hinweis darauf, daß Maria schreibt: »[...] Godwi hat mir heute Manches von seiner Reise an den Rhein erzählt, was ich nieder geschrieben habe, so gut es meine Krankheit erlaubt« (487). Im folgenden wird dann zunächst, zweimal unterbrochen von Marias eingeschobenem und fast gleichzeitigem Erzählen (495f. u. jiiff.), Godwis Reise intern fokalisiert von Maria (31. bis 33. Kapitel) und vom 34. Kapitel an schließlich von Godwi selbst — autodiegetisch — erzählt. Nachdem Godwi ohnehin schon zuvor einen immer größeren mündlichen Redeanteil beansprucht hat, übernimmt er also Marias Rolle komplett: »Godwi besuchte mich heute Abend, er hatte selbst weiter geschrieben, und las mir vor, wie folgt« (513). Der an einer »Zungenentzündung« (520) erkrankte Maria kommt noch einmal mit einem vom Erzähler wörtlich zitierten Text zu Wort, den er »mit Thränen [...] an die Schiefertafel« geschrieben hat (520). Dann aber, nachdem Godwi seine Geschichte von der Rheinreise und der Zeit mit Violette beendet hat (34. bis 39. Kapitel), vermeldet der Erzähler Marias Tod (559). Mit der Aussicht, »in einer weniger traurigen Zeit« (559) Gedichte von Annonciata bzw. Cordelia zu veröffentlichen, tritt schließlich auch Godwi wieder als Erzähler ab, und es werden von einem anonymen »Zurückgebliebenen« noch einige »Nachrichten von den Lebensumständen des verstorbenen Maria« - womit trotz Namensgleichheit ein anderer, völllig unvermittelt eingeführter Autor gemeint 1st78 — sowie mehrere Gedichte angefügt (56iff.). Mehr noch als im ersten Teil werden im zweiten Teil des Godwi — das dürfte diese grobe Skizze der Erzählstruktur vor Augen führen - alle narrativen

78

Vgl. den Kommentar (780). 215

Register gezogen. >Verwilderung< bedeutet hier nicht mehr nur den Wechsel der Fokalisierung bzw. das Auftreten mehrerer intern fokalisierter Romanfiguren, die etwa, wie gezeigt, repetitiv und multiperspektivisch das gleiche Ereignis erzählen. Weit darüber hinaus wird im zweiten Teil ein perspektivisches Erzählen auf allen Ebenen in Szene gesetzt: durch ein geradezu wucherndes (und zum Teil potenziertes) Zitieren von Figurenrede; durch verschiedene »Orte«, von denen aus erzählt wird wie im Fall von Godwis mündlich vorgetragenen (metadiegetischen) Geschichten; durch Verschiebungen des »Zeitpunkts« vom späteren zum gleichzeitigen Erzählen wie beim Eintritt von Marias Krankheit; durch Veränderungen der »Stellung« des Erzählers zur erzählten Welt wie im Falle von Maria; und schließlich auch durch die zahlreichen Lieder und Gedichte, die einerseits zwar meist als Figurenrede zitiert werden, die andererseits aber gattungsbedingt mit dem lyrischen Ich< noch einmal eine ganz andere Sprechinstanz in den Erzähldiskurs schmuggeln.79 Die sich durch diesen erzählerischen Aufwand geradezu aufdrängende Frage lautet, was sich hinter diesem »Drang zur Darstellung« (373) verbirgt.

6.

Die Suche nach dem Ursprung: Z u r Melancholie des Erzählens

Da die Geschichten und Gedichte im Godwi immer wieder um den Verlust der Mutter kreisen, steht Brentanos Roman - im Sinne Freuds — im Zeichen von Melancholie und Erinnerung.80 Diese Melancholie ist allerdings nicht auf Figurenpsychologie reduzierbar. Vielmehr gehe ich von der These aus, daß Godwi selbst — als discours — melancholisch ist. Martina Wagner-Egelhaaf hat in ihrem Buch Die Melancholie der Literatur daran erinnert, daß Melancholie immer auch mit Repräsentation zu tun hat:81 Freud selbst hat daraufhingewiesen, daß die Melancholie, die aufgrund einer narzißtischen Objektbesetzung zur ambivalenten, zwischen Liebe und Haß changierenden Identifikation des Ich mit dem verlorenen Objekt führt und die im Unterschied zur bewußten Trauer ihren eigenen Grund nicht durchschaut, mit einer »aufdringlichen Mitteilsamkeit« einhergehe.82 Walter Benjamin spricht in bezug auf das deutsche Trauerspiel von »Ostentation«.83

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Vgl. Eva Horn, »Subjektivität in der Lyrik: »Erlebnis und Dichtung«, »lyrisches IchOrt< von Frauenfiguren ausgetragen. Neben den bereits genannten Frauen Molly Hodefield und Joduno sind dabei Otilie im ersten Teil und Violette im zweiten Teil von zentaler Bedeutung. Da die »ostentative Geste der Melancholie [...] notwendig an die Dinglichkeit ihrer Repräsentationen gebunden«93 und der Erinnerungsdiskurs seit Aristoteles an den Bildlichkeitsdiskurs angeschlossen ist,94 verwundert es nicht, daß es an den melancholischen >Ortern< nur so von Gemälden, Skulpturen und Erinnerungsbildern wimmelt. Bei der Inszenierung dieser Melancholie wird, so meine These, das ekstatische Moment von Erinnerung bzw. die genannte Struktur der Differenz in Gestalt einer ostentativen Rhetorik der Zeitlichkeit regelrecht vorgeführt. Diese Rhetorik der Zeitlichkeit folgt weiterhin konsequent einer Poetik der Unterbrechung.

6.1 Otilie oder: »kein Begehren, keine Geschichte mehr« Unverkennbar wird Godwis Aufenthalt bei Otilie, dem im ersten Teil des Romans neun der elf Briefe von Godwi an Römer gewidmet sind, als Wirk-

90

91 92 93 94

Berndt, Anamnesis, S. 49. — Da das Selbstbewußtsein subjektphilosophisch als unmittelbare Selbstpräsenz gedacht wird (vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt am Main 1979, S. iijff.), liegt es nahe, das melancholische Identitätsbegehren im Zusammenhang dessen zu sehen, was Derrida Metaphysik der Präsenz nennt. Entsprechend hat Friedrich A. Kittler das Auftauchen der Mutter-Metaphorik im romantischen Diskurs um 1800 in die Metapherngeschichte dieser metaphysischen Tradition eingereiht (vgl. Kittler, Dichter - Mutter - Kind, S. I9if.). Berndt, Anamnesis, S. 26. Berndt, Anamnesis, S. 24. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 530. Vgl. Berndt, Anamnesis, S. 29. 218

lichkeit gewordene Ursprungsphantasie inszeniert. In Otilies »Elysium« (86) scheint Godwi alles das zuzufallen, was ihm zu seinem Glück fehlt: Hier findet er »de[n] stille[n] einfache[n] Friedefn], in dem sich alle Sehnsucht beantwortet«, und dank der Liebe des »reine[n] kunstlose[n] Weib[es]« hat Godwi plötzlich »keinen Wunsch, kein Begehren, keine Geschichte mehr« (135). »[W]ie die Natur« (161) heilt Otilie, die in ihrer »Gesundheit« »nie anders« war und »nie anders werden« wird (166), »alle Wunden« (161), die durch die Zeit geschlagen werden. Entsprechend zeitlos erscheint das Leben bei Otilie: 95 Hat sich die Zeit in ihrem Gange verändert? — Kein Tag schleicht mehr mit seinen gähnenden Stunden, und keiner stürzt mit seinen Augenblicken hinab. Ο welche stille Wechsel in mir, im gemessenen Takte schreiten die Augenblicke wie Töne zu einer schönen Melodie des Lebens hin, und irret mein Geist durch alle Akkorde auf harmonischen Wegen einen dem andern verbindend, so gelangt er nicht selten, der schönen Folge zur wunderbaren Erquickung, auf einen Gipfel, wo aller Takt weicht, und das Lied gleichsam einen freien ungebundenen Blick in die Ewigkeit thut, und neuerdings kehrt die Melodie zurück, wie das Athmen unsers Busens, das ein sanfter Seufzer unterbrach. Hier eilt das Leben nicht, ich sehe ihm nimmer nach, auch weilt es nicht trag, und ich brauche es nie zu treiben. Ich gehe ruhig mit den Stunden, und jede bietet mir das volle Leben an; so lange ich hier oben bin, habe ich noch nicht an die Zeit gedacht. (153)

Die behauptete Suspendierung der Zeit und gewünschte Versöhnung mit der »ganzen Ordnung der Dinge« (89) ist die eine Seite der Otilie-Episode. Auf der anderen Seite geht mit eben diesem Ursprungsbegehren immer auch die Kritik dieses Begehrens einher. Zwei Ebenen des kritischen Einspruchs lassen sich dabei analytisch unterscheiden: erstens die expliziten Vorbehalte und Kommentare des Erzählers, mit denen er sich sozusagen selbst verrät, und zweitens die zeitliche Ordnung des discours, die gewissermaßen schlauer als der Ich-Erzähler ist und die eindrucksvoll vor Augen führt, daß Texte nicht automatisch auch machen, was sie vordergründig predigen. In der von Godwi verwendeten Metaphorik fällt zunächst auf, daß die idyllische Ruhe und Zeitlosigkeit mit dem Tod assoziiert wird. Hinter der Verabschiedung allen Wünschens und Begehrens verbirgt sich nichts anderes als die Sehnsucht nach dem Tod, genauer gesagt: die Sehnsucht nach der Auflösung des Subjekts im Anorganischen der Natur. Heilung, so scheint es, ist nur im Tod möglich, der wiederum mit der Liebe enggeführt wird. Ist der Tod nicht eine Genesung, und Liebe nicht der Tod? Es giebt eine allgemein treffende Antwort, eine milde wahre Auflösung aller Räthsel der Kunst, in der reinen Natur, und die Natur hat sie in die Liebe des reinsten Weibes

95

Catriona M a c L e o d spricht bezeichnenderweise von »Otilie's static timelessness« (Catriona MacLeod, »Sculpture and the Wounds of Language in Clemens Brentanos Godwi«, in: T h e Germanic Review 74 (1999), S. 178—194, hier S. 190).

219

gelegt. - Wenn mich Tilie liebt, so habe ich keinen Wunsch, kein Begehren, keine Geschichte mehr, ich bin aus dem Leben in die Natur getreten, und, guter Römer! knie dann neben mein Andenken hin, stille deine Thränen, und sprich die wahren, heiligen Worte: Er ruht sanft, ihm ist es besser als uns, wir müssen alle diesen Weg [...]! (135)

Auch die narzißtische Infantilität einer solchen Koketterie mit dem Tod wird vom Erzähler nicht geleugnet. Im Gegenteil: Immer wieder beschreibt Godwi sich selbst als Kind. »Ich liege in der Wiege der Natur«, schreibt Godwi etwa an einer Stelle, an der er seine regressiven Verschmelzungsphantasien unmißverständlich offenbart, und fährt fort: ihr [Otilies, S.M.] Fußtritt bringt mein Leiden mit leichten Schwingungen in die Träume der goldnen Zeit; möge ich erwachend an ihrem Busen von einem Geiste beseelt seyn, für den meine jetzige Sprache ein Stammlen des Kindes ist. Oder werde ich sterben, wenn ich an ihrem Busen erwache, und die Form aller Formen mir vor den Augen und der Quell aller Nahrung und Wollust zwischen meinen Lippen schwillt? (162)

Wie illusionär jedoch der Wunsch ist, zum mütterlichen Ursprung zurückzukehren, verdeutlichen die zahlreichen Hinweise des Erzählers auf die unüberbrückbare Distanz zwischen Otilies vermeintlicher Ursprünglichkeit einerseits und Godwi andererseits, der nur beobachtender >Zaungast< an der »Thüre des Paradieses« (88) sein kann und der für den Naturzustand von Otilies Welt »zu spät gebohren« ist (86). Vor allem die Kunst- und Theatermetaphorik des Erzählers verweist darauf, daß hier allenthalben sentimentalische Projektionen im Spiel sind und die Idylle, die Godwi als >wirklich< zu erleben vorgibt, letztlich nur als »freundliches Schauspiel« (87) zu verstehen ist, das im Nachhinein des Briefes überhaupt erst entsteht und mit der >Wirklichkeit< nicht viel zu tun hat. Gleich in Godwis erstem Brief während des Aufenthalts bei Otilie unterläuft diese reflexive Haltung des Erzählers alle noch so euphorischen Ursprungsbeteuerungen. In den ersten beiden Dritteln des Briefes ist von dieser Euphorie ohnehin nichts zu erkennen. Geschrieben bei Nacht im Schein einer Lampe, die Godwi zum Zeichen seines von der äußeren Natur getrennten »Egoism« (86) wird, sind die Anfangspassagen des Briefes ganz vom »Jammer« (80; 85) geprägt. Dieser Jammer hängt nicht zufällig mit dem »Zahn der Zeit« (85) zusammen und wird durch einen unendlichen »Verlust« (85) hervorgerufen, hinter dem sich sowohl bei Werdo Senne, Otilies Vater, als auch bei Godwi ein geradezu traumatisches Ereignis der Vergangenheit verbirgt: 96 Wie in einem

96

D a das Trauma des Verlusts f ü r G o d w i sozusagen schon den Ursprung selbst - die Kindheit — beschädigt, ist der Blick in die Vergangenheit genausowenig versöhnlich wie der Blick in die Z u k u n f t . Damit aber fällt gerade die Erinnerung aus der Aufzählung des vermeintlich Tröstlichen, »was jedem Edlen übrig bleibt, Natur, Ruhe, Erinnerung und innerer Friede« (81), heraus.

220

der Lieder angedeutet, die Godwi zitiert, ist Werdo Sennes einstige Geliebte im Meer ertrunken (vgl. 8if.); und da diese Geliebte wiederum, wie sich im zweiten Romanteil herausstellt, niemand anderes als Godwis Mutter ist, erscheint das Trauma von Otilies Vater zugleich als Trauma von Godwi, der nicht nur früh seine Mutter verlor, sondern gar selbst als Kind mit ins Meer stürzte - und überlebte.97 Vor diesem Hintergrund des Mutterverlusts wird - von der histoire her - verständlich, warum es gerade in den Otilie-Briefen nur so von Narzißmus-Anspielungen wimmelt. Die entsprechenden Stichwörter lassen denn auch am Ende von Godwis nächtlichem Jammer nicht lange auf sich warten: »kein Spiegel meinem Bilde, kein Echo dem lauten verlaßnen Rufe aus meinem Herzen« (85), klagt Godwi, bevor die »Lampe verlischt« (86), und damit ist im Grunde der weitere Verlauf des Briefes vorgezeichnet. Der Jammer muß und wird ein Ende haben, (das) Echo wird kommen. Was folgt, sieht dann auch prompt nach der Erfüllung aller Wünsche aus. Die Garthentüre gieng auf, und so trat der Engel, von Gott zum erstenmale auf die Erde gesandt, durch die Thüre des Paradieses. Ich stand mit meiner Unzufriedenheit hinter den Weinblättern meines Fensters so schamhaft, wie der erste Mensch hinter seinem ersten Kleide. Ein Mädchen, weiß wie der Schnee, mit schwarzen Augen und Locken, wurde von dem Knaben heftig umarmt. Ich verschlang die schöne Gruppe. Das Reh hatte den Blumenstraus im Maule, und drängte sich an das Mädchen, um ihr denselben zu reichen. Es schien mir, als hätten sich die Geschöpfe Gottes noch nicht veruneinigt, und die Sünde die Gewalt noch nicht hervorgerufen. Das Ganze war so unwillkührlich, war so durch sich selbst entstanden, daß es so schön werden konnte. Meine Seele war in meinen Augen. Eine flüchtige Erinnerung meines Unmuths beschämte mich. Die ganze Scene lebte in mir, und doch sah ich nur das Mädchen. (88)

Auffällig sind allerdings gerade in dieser Passage die Signale der reflexiven Distanz. So emphatisch die Einheit beschworen wird, so eindeutig nimmt Godwi doch die Position des distanzierten Zuschauers und zu spät geborenen Voyeurs ein, dem sich vom Fenster aus die Idylle mit Knabe, Mädchen und obligatorischem Reh lediglich als »schöne Gruppe« und »Scene« (88) darbietet. Darüber hinaus versieht Godwi die »Scene« noch vor der eigentlichen Erzählung dadurch mit einem Vorbehalt, daß er die Möglichkeit, sich selbst und seine Empfindung dabei zu »mahlen« (86), kaum für möglich hält: Könnte ich dir das Erwachen eines Seligen im Elysium mahlen [...]. Könnte ich dir ihn mahlen, wie er ausruft: ich war zu spät gebohren! wenn er in den Garten tritt, in dem alle seine Erdenfreuden als himmlische Blumen blühn, so hätte ich dir meine Empfindung, da ich an diesem Morgen in die Welt sah, in einem Bild zusammengedrängt, hingereicht. (86)

97

Z u r nachträglichen Auflösung vgl. S. 461.

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Und doch geht es — bei allem Wissen um die Unmöglichkeit dieses an die Sprache gebundenen Unternehmens — genau darum: alle Differenz »in einem Bild« aufzuheben98 und dadurch die Einheit herzustellen, die mit dem Sündenfall der Reflexion verlorengegangen ist. Daß es diese Einheit semiotisch tatsächlich geben kann, dafür steht auf der Ebene der histoire Otilie ein, von der behauptet wird, daß ihre »Erscheinung [...] ein reines Wort für ihren Inhalt ist« (89). Die Aporien produzierende Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Versöhnung ist für die Otilie-Briefe durchweg charakteristisch. Entsprechend zieht Godwi fortwährend gegen die Entfremdungen der Sprache und Reflexion zu Felde, denen er als Briefschreiber zugleich immer schon unterworfen ist. Was Godwi ersehnt, ist eine Sprache, die sich selbst durchstreicht: »abgebrochene Sätze und Ausrufungen, wie der, der in dem tiefsten Schooße der Wollust versunken, sich selbst mit aller Aeußerung in ihm auflöst, und keine Beschreibung, als in der Anschauung des Genusses selbst geben kann« (163). — »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr«, hatte Schiller 1797 in dem berühmten Distichon über die Sprache geschrieben." Der Ausweg aus dieser Entzweiung von Seele und Sprache — als ob es eine Seele vor und unabhängig von Sprache gäbe — besteht für Godwi in der Unmittelbarkeit der Anschauung. Mit Godwis Formulierung: »Meine Seele war in meinen Augen« (88), ist das Programm benannt: »Das Ganze« des paradiesischen Zustandes, in dem sich Gottes Geschöpfe »noch nicht veruneinigt« haben (88), soll in seiner Präsenz und Unwillkürlichkeit dadurch zu retten sein, daß die Willkür der Sprache einer direkten Seelen- und Herzenssprache weicht, die als unmittelbare Spiegelung der >Wirklichkeit< funktioniert. Diese Spiegelung wird von Godwi im wahrsten Sinn des Wortes als Augen-Blick gedacht, der mit der Zeit- und Handlungslosigkeit des Naturzustandes korrespondiert. »Wer in der reinen Natur und unter den Menschen Gottes lebt, o! der ist so von der unendlichen Kraft durchdrungen, daß er keine Augen für die Handlung hat« (163). Jede Intention und bewußte Sprachhandlung verfälscht daher die wahre Sprache der Natur: Sprich nie von ihr [von Otilie u n d ihrer >natürlichen< Liebe, S . M . ] , denn auch der Wahrste lügt, will er mit W o r t e n , was er fühlet, sagen, und nur die A e u ß e r u n g ist wahr, die unvermuthet und unverschuldet aus der T i e f e steiget. Es leitet unwillkührlich die N a t u r die Sprache aus der T i e f e unsers Herzens durch die Oberfläche in sich selbst zurück, und enger, enger ziehen sich die Kreise und gehen endlich in den T r o p f e n über, die Thätigkeit so in sich selbst beschließend, die in der R u h e stillen Spiegel fiel. (143)

Was der Intentionalität einer gewollten Seelensprache entgegengesetzt wird, ist demnach nicht etwa die Kontingenz unendlicher Semiosen innerhalb des

98 99

Z u dieser Szene gibt es einen entsprechenden Kupfersich (vgl. 624 u. 797, Abb. 1). Friedrich Schiller, Sprache, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. I, S. 313.

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enzyklopädischen Universums. Im Gegenteil: Der unendliche kulturelle Verweis führt noch tiefer in den Strudel der Deutungsbedürftigkeit, da die dabei aufgerufenen Interpretanten nicht nur das Band zwischen dem Zeichen und dem Referenten zerreißen, sondern überhaupt eine eindeutige Signifikation unterminieren. Der gewollten Seelensprache wird statt dessen das motivierte, natürliche Zeichen entgegengehalten, dessen Bedeutung mit dem Ursprung, der Präsenz des Augenblicks verbunden ist. Inbegriff eines solchen motivierten Zeichens ist traditionellerweise das Bild: D a s Bild ist das Zeichen, das den Anspruch erhebt, kein Zeichen zu sein, u n d sich als natürliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit maskiert (bzw. diese Kriterien für den, der ihm glaubt, auch wirklich erfüllt). Das W o r t ist d a n n das >Andere< des Bildes, eine künstliche, willkürliche Hervorbringung des menschlichen Willens, die das natürlich Gegebene durch die E i n f ü h r u n g so unnatürlicher Elemente wie Zeit, Bewußtsein und Geschichte und das Einschalten einer symbolischen Vermittlung mit ihrer entfremdenden W i r k u n g zertrümmert. 1 0 0

W i e gesagt: Bei aller sprachkritischen Mystifikation des Subjekt und Objekt, Signifikant und Signifikat versöhnenden Augenblicks ist der Erzähler viel zu reflektiert, um dem Anspruch des Bildes glauben zu können. So ausgeprägt das Ursprungsbegehren auch sein mag — der semiotische A u s w e g aus der referentiellen Unzuverlässigkeit der Sprache, die ja nicht nur für Aussagen über die Welt, sondern auch für die Bestimmung der eigenen Identität gilt, muß auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Dadurch wird gerade die substantialistische Rede von der zeitlosen »Tiefe unsers Herzens« (143), die den Wahrheitsgehalt des Gesagten verbürgen soll, in Frage gestellt. U n d aus dem Augenblick der wahren Empfindung, in dem sich das Subjekt eigentlich seiner Identität versichern soll, werden Augenblicke im Plural, hinter denen kein »Wesen« mehr erkennbar ist: Werden wir unsre Herzen herausfinden aus diesen Falten augenblicklicher Stimmungen? und w a n n werden wir ewig unveränderlich, nackt und v o l l k o m m e n die schönste Vollendung unsrer Eigenthümlichkeit seyn? w o kein äußeres Z e i c h e n mehr unsre O r d n u n g bestimmt, sondern wir selbst ein einziges, untheilbares Zeichen für unser höchstes D a s e y n sind. (129)

Uber diese immer wieder durchscheinende Skepsis des Erzählers hinaus - damit komme ich zur zweiten Form des kritischen Einspruchs gegen das Ursprungsbegehren - wird die Unerreichbarkeit eines solchen unteilbaren Zeichens vor allem vom discours des Godwi selbst reflektiert, insofern dieser — auch und vor allem in den Otilie-Briefen — gerade den Vorgang der zeitlichen Verschiebung zu seinem Strukturprinzip macht und als Textverfahren ausstellt. Der beschriebene Perspektivismus ist zeitlogisch gesehen nichts anderes als

100 \jrj_T_ M i t c h e l l , »Was ist ein Bild?«, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge z u r P o e t i k , hrsg. v. V o l k e r B o h n , 2. A u f l . , F r a n k f u r t a m M a i n 1996, S. 17—68, hier S. 5jf.

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die narrative Inszenierung dieser Verschiebung. Denn dadurch, daß der Text das Erzählte in seiner Mittelbarkeit markiert und permanent in Anführungszeichen setzt, entlarvt er die vermeintliche Präsenz des Augenblicks und ersehnte Unmittelbarkeit der Anschauung als das, was sie ist: als nachträgliche »Illusion der Darstellung« (219). Daß diese Illusion als scheinbarer Ausweg aus der symbolischen Vermittlung im ersten Teil des Godwi ausgerechnet von einem Briefschreiber erzeugt wird, der ja nichts anderes macht, als Schrift zu produzieren und Texte zu verschicken, zeugt von einer besonderen, gattungsbedingten Ironie, die auf die grundsätzliche Aporie des Anspruchs verweist, mittels Zeichen — und Bilder sind eben auch nur Zeichen 101 — über die symbolische Ordnung hinauszukommen. Abgesehen aber von der Erzählsituation des Briefromans und der Narratologie des Perspektivismus wird die unhintergehbare Zeitlichkeit und Supplementarität der Schrift durch die intertextuelle Dimension des Godwi deutlich.102 Gerade die Natur- und Ursprungsemphase nämlich ist nichts anderes als ein kultureller Topos, den Brentanos Roman lediglich zitiert. So ist zum Beispiel die bereits angeführte Idyllen-»Scene« mit Frau, Knabe und Reh eine einzige Zitat-Montage: Vom Paradiesgärtlein bis zur Schäfer-Idylle sind alle Versatzstücke versammelt, die das kulturelle Gedächtnis zur Verfügung stellt. Selbst Godwis ästhetische Bestimmung: »Das Ganze war so unwillkührlich, war so durch sich selbst entstanden, daß es so schön werden konnte« (88), ist bereits bei Karl Philipp Moritz zu finden, der das Schöne »erst da seinen Anfang« nehmen läßt, »wo die Sache mit ihrer Bezeichnung eins wird.« 10 ' Aus sich selbst heraus also entsteht gar nichts in Godwis Idyllen-Beschreibung; alles ist vielmehr Wiederholung und verweist nicht auf die »Sache« oder reale Gegenwart, sondern lediglich auf Signifikanten und vorgegebene Topoi, deren Kombination für die erwünschte Referenzillusion des symbolisch aufgeladenen Augenblicks sorgt. Vor allem aber handelt sich der Text damit

101

102

103

So betont etwa Umberto Eco den visuellen Code von Bildern und wendet sich gegen die tautologische Vorstellung eines motivierten ikonischen Zeichens, das seinen Sinn angeblich »aus der dargestellten Sache selbst und nicht aus der Darstellungskonvention bezieht« (Eco, Einführung in die Semiotik, S. 202). Nach Mitchell kommen neuere Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß auch Bilder »als eine Art Sprache verstanden werden müssen; man hält Bilder nicht mehr für transparente Fenster zur Welt, sondern begreift sie als die Sorte Zeichen, die sich trügerisch im Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter der sich aber ein opaker, verzerrender, willkürlicher Mechanismus der Repräsentation, ein Prozeß ideologischer Mystifikation verbirgt« (Mitchell, »Was ist ein Bild?«, S. 18). Nach de Man ist es genau diese intertextuelle, also zeitliche Dimension, die das Bild im Sinne des Anschauungssymbols zu verschleiern versucht. Da jedoch die vom Symbol postulierte »Möglichkeit einer Identität oder Identifikation« semiotisch nicht einzulösen ist, kann das Symbol nach de Man eigentlich nur eine getarnte Allegorie sein (de Man, Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 104). Und tatsächlich: Kurz vor der Darstellung des idyllischen »Schauspiel[s]« ist im Godwi von »Lebensallegorien« (87) die Rede. Moritz, Die Signatur des Schönen. Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?, in: Ders., Werke, Bd. 2, S. 579-588, hier S. 585.

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genau das ein, was verdrängt werden soll: die unhintergehbare Kontingenz von Semiosen, der auch »der Wahrste [...], will er mit Worten, was er fühlet, sagen« (143), nicht entrinnen kann. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als bei Otilie selbst, die als Personifikation der zeitlosen Ursprünglichkeit das ersehnte »untheilbare[ ] Zeichen« (129) veranschaulichen und deren »Erscheinung [...] ein reines Wort für ihren Inhalt« sein soll (89). Denn dadurch, daß der discours intertextuell eine eigenständige Ikono-Logik einschmuggelt, im Zuge derer die unterschiedlichsten Interpretanten aufgerufen werden, wird »Otilie« in ihrer vermeintlichen Identität gerade gespalten: Als Verkörperung der Unschuld und Bewohnerin des Paradiesgartens ist sie einerseits zwar ikonographisch eine Postfigurantin der Jungfrau Maria, andererseits aber verweist der Paradiesgarten und Godwis Selbstbestimmung als Adam bzw. »erste[r] Mensch« (88) auf die Leerstelle »Eva« und damit genau auf das, was Otilies Unschuld und >Heiligkeit< entgegengesetzt ist: die »Sünde« der Reflexion und des Begehrens, durch die alle »Geschöpfe Gottes [...] veruneinigt« (88), sprich: in die Zeit entlassen werden.104 Diese zeitliche Dimension zeigt sich auch an dem neben der Fenster-Idylle zweiten zentralen Bild der Otilie-Briefe, der »Familienskulptur«105 vor dem Turm der Reinhardstein-Schloßruine. Die Dämmerung lag zwischen dem Streben und der Vollendung, der glühende Tag im Feuer des Lichtes zu seiner eignen Gestalt geschmiedet, verglimmte in die dunkle Nacht, in der unendlichen Zahl seiner Brüder unsichtbar untergehend. Ich saß am Thurme zu den Füßen Ottiliens. Ihre Hand lag dicht neben der meinigen, und ich schien mit dem Rande des Gewandes, das sie bedeckte, zu spielen, es w a r e i n s o l c h e s S p i e l des L e b e n s . Eusebio stand hinter ihr, und legte ihr die Haare in Flechten. Ich empfand eine Kühnheit in mir, die schnell in eine große Ruhe zerfloß, als habe mein erhöhtes Daseyn meine Kühnheit wieder eingeholt. - Meine Sehnsucht war durch die ihrige umarmt, und meine Hand lag in der ihrigen. - So war ich aufgelöst in der Natur, die mich umgab, und in der ich nun Alles umgab. (133) 106

Auch wenn durch das »nun« am Ende des Zitats der Augenblick der Einheitserfahrung und durch die Partizipialkonstruktionen — »war [...] umarmt«, »war 104

1:

Abgesehen davon ist Otilie natürlich genau die Echo-Figur, die G o d w i ersehnt (vgl. 85): Da das (narzißtische) Subjekt »in die N a t u r hinausschauen [muß], um sich bestätigt zu finden« (de M a n , Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 90), ist es kein Z u f a l l , daß es ausgerechnet auf ein lebendiges Symbol für die ersehnte Einheit von Innen und Außen trifft, das den R u f des narzißtischen Subjekts nach einer solchen Einheitserfahrung beantwortet. U n d als wären Echo, Eva und Maria nicht genug, bringt G o d w i selbst auch noch Venus ins Spiel: »So war mir, als ich auf die Wiese trat und Tilie neben mir; [...] es war als entstehe sie aus den Wellen der Grashalme und Blumen, über die sie schwebend hinging, wie Venus aus dem Schaume des Meeres« (187). •• Thomas Borgstedt, »Frühromantik ohne Protestantismus. Z u r Eigenständigkeit von Clemens Brentanos >GodwiFamilie< ist, können doch »so unnatürliche! ] Elemente wie Zeit, Bewußtsein und Geschichte«107 nicht eliminiert werden. Abgesehen davon nämlich, daß die »natürliche Unmittelbarkeit« schon dadurch versperrt bleibt, daß in Beschreibungspassagen wie diesen nicht nur das vermeintlich im Augenblick aufgehende erzählte Ich, sondern auch das — grundsätzlich verspätete - erzählende Ich anwesend ist, hat das Familienbild von vornherein eine bestimmte Funktion im >Argumentationszusammenhang< des Briefes, durch den es mit einem unverkennbaren Zeitindex versehen wird. Für den Briefschreiber soll es vor allem das zuvor behauptete »Gleichgewicht der Natur in uns und außer uns« demonstrieren,108 das in der »Minute [!] des Entzückens der Liebe« zustandekommt (i32f.) oder genauer gesagt: dadurch hergestellt wird, daß man (alles andere als passiv) den »Moment [...] sanft und rasch, mit Begeisterung, aus dem Gewirre« der eigenen Wünsche windet (133). Das Bild verweist also aus sich heraus auf eine frühere Aussage des Briefes. Außerdem soll es gar nicht den Augenblick der Harmonie selbst zeigen. Vielmehr ist es dem kurzen zeitlichen Vorgang gewidmet, in dessen Verlauf dem Ich (nun doch wieder passiv) das Glück der Harmonie »geworden [!]« ist (133). Dabei wird die Bildbeschreibung, die ja eine Versöhnung von Innen und Außen anzeigen soll, in die Introspektion des erzählten Ich überführt, in der es - wieder einmal angezeigt durch Gedankenstriche im Text — zeitlich Schlag auf Schlag geht. Erst wird behauptet, daß die »Kühnheit« des Begehrens »schnell [!] in eine große Ruhe zerfloß«, dann findet - parallel zu dem Umstand, daß plötzlich Godwis Hand »in der ihrigen« liegt - die innerliche >Umarmung< zweier verwandter Seelen statt, und im nächsten Satz ist mit einem Mal das Ziel erreicht. »So war ich aufgelöst in der Natur [...]« (133) — quod erat demonstrandum. Die rhetorische >UnnatürlichkeitHeiligen Familie< übernimmt. Da Otilie jedoch zugleich Godwis »Freundinn« (134) ist und der Turm auch als Phallussymbol verstanden werden kann, verwandelt sich die Mutter-Kind-Idylle wiederum in ein alles andere als idyllisches Tableau, hinter dem sich das »Gewirre« ödipal-inzestuöser »Wünsche« (133) verbirgt. Ob man also auf die Vergangenheit der Figuren oder auf das kulturelle Gedächtnis blickt, das eine unversöhnliche Ambiguität in die Szene trägt: Von Harmonie kann hier keine Rede sein. 110 Der eigentliche erzähltechnische Dreh der Otilie-Briefe besteht nun aber darin, daß nicht nur durch die Verweise innerhalb des kulturellen Archivs und Text-Raums, sondern grundsätzlich durch die Ordnung des Erzähldiskurses eine, um mit de Man zu sprechen, Rhetorik der Zeitlichkeit entfaltet wird, die allen symbolischen Versöhnungsansprüchen einen Strich durch die Rechnung macht. Ausgangspunkt ist bezeichnenderweise ein Ereignis, das Werdo Senne und Godwi »veruneinigt« zeigt. Otilies Vater nämlich weist Godwi »wild zurück«, nachdem dieser in seiner infantilen Harmoniesucht am »Halse« von Werdo Senne den »Namen: Vater« genannt hat (146). Godwi sucht nach dieser Zurückweisung Otilie auf, die wie »die Natur [...] alle Wunden« zu heilen vermag (161). Was folgt, ist ein gemeinsamer nächtlicher Spaziergang — eine der Schlüsselszenen des gesamten Romans, weil er an den traumatischen Tod von Godwis Mutter heranführt und das Marmorbild-Motiv samt Wiederkehr des verdrängten Traumas ins Spiel bringt. 111 Entscheidend ist dabei jedoch, wie dieser Spaziergang erzählt wird. Denn während bereits die Erzählung

109

110

111

Z u m »Turm« vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 393p., sowie Christliche Ikonographie in Stichworten, hrsg. v. Hannelore Sachs, Ernst Badstübnern u. Helga N e u mann, S. 347. Daß G o d w i dennoch immer wieder die Harmonie beschwört, zeigt sich etwa in der »Scene aus meinen Kinderjahren«. So wie das Trauma des Mutterverlusts samt Sturz ins Wasser und Ohnmacht unter dem Gesetz der Wiederholung steht, so wiederholt sich auch die unvermittelte (und adversativ-trotzige) Beschwörung von Einheit und Versöhnung: »Ich stürze in den Teich. Ein Freund von mir, / Der mich im Garten [!] suchte, hört den Fall, / Und rettet mich. Bis zu dem andern Morgen / War undurchdringlich tiefe Nacht u m mich, / Doch bleibt in meinem Leben eine Stelle, / Ich weiß nicht wo, voll tiefer Seligkeit, / Befriedigung und ruhigen Genüssen, / Die alle Wünsche, alle Sehnsucht löste. // Als ich am T h u r m zu deinen Füßen saß, / Erschufst du jenen Traum zum ganzen Leben, / In dem von allen Schmerzen ich genaß« (i72f.). Auch das Motiv des Marmorbildes steht im Zusammenhang des Narzißmus und verweist direkt auf Ovids Narziß-Erzählung: »[...] und reglos bleibt mit gebanntem / Blick wie ein

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von der Begegnung mit Otilies Vater zweimal unterbrochen wird, 1 1 2 folgt die Erzählung des nächtlichen Spaziergangs konsequent einer Poetik der Unterbrechung, die den discours in einen Brief- und Tagebuchdiskurs aufspaltet. Zwar geht die histoire (und mit ihr die erzählte Zeit nach dem Spaziergang) in den folgenden Briefen weiter - die mehrteilige »Fortsetzung« des Tagebuchs jedoch, die diesen Briefen beigefügt ist, widmet sich analeptisch dem weiteren Verlauf des Spaziergangs. Godwis Otilie-Briefe sind also durch eine auffällige Gegenläufigkeit gekennzeichnet. Zum einen folgt Godwis narrative Apologie des Naturzustands gerade nicht der Linearität des ordo naturalis, sondern der Achronie des ordo artificialis-, zum anderen schreitet die erzählte Zeit voran, während der Erzähler im Laufe dieser Zeit vor allem damit beschäftigt ist, zurückzublicken und vergangene Ereignisse «wegzutragen. Da der Erzähler diese Erinnerungsarbeit noch nicht einmal kontinuierlich, sondern mit Unterbrechungen und immer neuen Anläufen betreibt, kann keine Rede davon sein, daß, wie der Erzähler beteuert, »die Melodie« zurückkehrt »wie das Athmen unsers Busens, das ein sanfter Seufzer« unterbrochen hat (153). Im Gegenteil: Folgt man der Metapher, erscheinen die im Zeichen der Erinnerung stehenden Unterbrechungen des discours als eben die Seufzer, die der Erzähler im Verlauf der histoire nicht mehr wahrhaben will." 3 Diese Gegenläufigkeit zeigt sich bezeichnenderweise daran, daß Godwi einige Zeit nach dem Spaziergang erkrankt. Im letzten Otilie-Brief behauptet Godwi zwar, wieder »genesen« zu sein, und knüpft vollends narzißtisch an der idyllischen Einheitsvorstellung der vorangegangenen Briefe an: »O wie ist die Natur so groß, und wie ist der

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Standbild er starr, das aus parischem Marmor gehauen« (Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, hrsg. v. Niklas Holzberg, Darmstadt 1996, 3. Buch, Vers 4i8f., S. 109). Beim ersten M a l — G o d w i hat Werdo Senne gerade verlassen und sitzt in seiner Kammer, die bereits geschehene Zurückweisung wurde noch nicht erwähnt - vertröstet G o d w i seinen Freund Römer auf den Brief des folgenden Tages: »Morgen schreibe ich dir weiter« (141); die zweite Unterbrechung erfolgt genau an der Stelle, an der Werdo Senne den entscheidenden Satz sagt: »Ich war sein Vater nicht, bin keines Menschen Vater, jetzt geh zu meinem Kinde hin« (145) — eine Aussage, die G o d w i am A n f a n g des folgenden Briefes wörtlich wiederholt (vgl. 146). — Auch ohne diese explizite Zurückweisung wird der Augenblick des vermeintlichen Familienglücks zwischen Werdo Senne und G o d w i schon allein durch die Unterbrechungen im discours zerstört. Während G o d w i die Situation zunächst als Entdifferenzierung und kleinfamiliale Verschmelzung mißversteht, in der sich alles »verschlungen und durchdrungen« hat, ohne daß G o d w i »irgend einen Uebergang« sieht (141), läßt der Text allenfalls insofern keine Übergänge erkennen, als er zum Beispiel bei der ersten Unterbrechung asyndetisch aneinanderreiht: »Morgen schreibe ich dir weiter; ich habe den Greis verlassen, sitze hier auf meiner Kammer, weine und bete« (141), und signifikanterweise mitten im Brief — an der entscheidenden Stelle des Mißverständnisses (vgl. 144) - in zwei Textblöcke aufgespalten wird. Dieses immer wieder neu einsetzende Zurückblicken verweist bereits auf das Erzählprogramm des zweiten Teils. Durch Godwis Anwesenheit bei Werdo Senne und Otilie wird die Ruhe der Gegenwart genauso gestört wie G o d w i s Ruhe durch die Anwesenheit von Maria im zweiten Teil. Was Werdo Senne andeutet, wenn er sagt: »Die Vorzeit, die ich mir mit M ü h e und vielen tiefen Schmerzen abgewöhnte, sie trat aus dir mir drückend bang entgegen« (142), bestimmt den gesamten zweiten Teil.

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Mensch größer! W i e kann er sie bändigen in sich; wie kann er weit hinaus sehen, u n d so unendlich viel in sein A u g e fassen [...] E s ist m i r n u n alles erklärbar, alles verstehe ich [...]« (183). D a d u r c h aber, daß a m E n d e des letzten Briefs noch der letzte Teil des Tagebuchs folgt, das analeptisch d e m katastrophalen Ende des Spaziergangs gewidmet ist, geschieht zweierlei: erstens wird, weil der Spaziergang innerhalb der histoire zeitlich vorausliegt, jede versöhnungsselige Bekundung retrospektiv mit einem Fragezeichen versehen, u n d zweitens w i r d die von der histoire behauptete G e n e s u n g durch die «^/»getragene Analepse diskursiv wieder zurückgenommen, wenn G o d w i , nachdem er a m Ende des Spaziergangs in O h n m a c h t gefallen ist, lapidar sagt: »Ich bin krank« (188). 1 1 4 Strukturell also schließt sich der Kreis nicht, der von G o d w i als Familienkreis im Schoß der N a t u r ersehnt w i r d : " 5 D i e Analepse k o m m t nicht mehr bei der Gegenwart an, u n d die traumatische Vergangenheit behält in diesem letzten Brief von G o d w i im wahrsten Sinne das letzte W o r t .

6 . 2 Violette oder: »ewig zu der W u n d e wieder hin« F ü r den weiteren Verlauf von G o d w i s Geschichte — u n d das heißt u m 1 8 0 0 i m m e r auch: i m H i n b l i c k a u f eine m ö g l i c h e E h e s c h l i e ß u n g -

ist O t i l i e

bedeutungslos. »Sie muthen mir doch nicht zu, daß ich Ihnen Otilien hätte z u m W e i b e geben sollen«, resümiert M a r i a i m zweiten Teil, u n d G o d w i antwortet ironisch: Nein, soviel nicht - aber ich hätte mich wenigstens umbringen müssen, weil sie mich nicht nehmen wollte oder konnte - einen anderen Ausweg wüßte ich nicht - ihr untreu werden? - das ganze P u b l i k u m hätte auf mich geschimpft — sie heirathen? — sie hätten in geheimnißreichen, chemisch-poetischen, und doch deutlichen Worten die Ehe hereinführen müssen, sonst hätte das Volk bey seiner

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Auch diese Ohnmachtssituation angesichts der »weiße[n] Marmorfrau«, die einen »Knaben im Arm« hält (187) und die Godwi an sein Kindheitstrauma erinnert, wird im zweiten Teil aufgelöst: »Es bleibt mir noch etwas zu lösen [sagt Godwi zu Maria, S.M.], es ist die Erscheinung der weißen Frau mit dem Kinde im Arm, die Sie im ersten Bande [...] so unerklärt erscheinen lassen, es ist niemand anders gewesen, als die Engländerin [Molly Hodefield, S.M.], die ihren Pflegling Eusebio besucht hatte, ohne mir doch begegnen zu wollen. Sie trennte sich eben im Walde von ihm: als ich mit Otilien auf die kleine Wiese hervortrat, hielt sie ihn in den Armen [...]« (479). — Der Kommentar der Historisch-Kritischen Ausgabe weist interessanterweise auf eine analoge Stelle in Tiecks William Lovell hin, wo Lovell zwar keine Mutter-, aber eine ähnlich erschreckende Vater-Erscheinung hat: »Alle Gefühle meiner frühesten Kindheit kamen mir plötzlich zurück, ich glaubte in Ohnmacht zu sinken« (Tieck, William Lovell, S. 339). Was für Tiecks Roman gilt, gilt auch für den Godwi·. »In der Erinnerung kommt [...] mehr zur Sprache als nur die Flucht aus einer gegenwärtigen Misere, weil die Sehnsucht nach Aufhebung der Individuation in ein bewußtloses Glück dem Erinnerten nicht entspricht. Ein Land der kindlichen Unschuld hat es nie gegeben« (Brecht, Die gefährliche Rede, S. 49). Zum Zusammenhang zwischen Kreisstruktur und Narzißmus vgl. Waltraud Wiethölter, »Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften«, in: DVjs 56 (1982), S. 1— 64, hier S. 8.

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armseligen Liebe immer noch gelacht, mich bey Otilien im Bette zu wissen, bey dem sternenreinen Mädchen, die so fein ist, daß Ahndung und Erinnerung wahre Telegraphsbalken für sie sind. Ich kann mir Ihre Otilie kaum wie eine Hostie denken. (379)

Zwar hat Maria bei der Herausgabe des ersten Teils die erzählerische Möglichkeit erwogen, durch Godwi »Otiliens Tugend angreifen zu lassen, nur um ihr etwas Stoff abzugewinnen, weil sie doch auch gar nichts that, als unendlich zart seyn«. Aber der »Buchdrucker« hat Maria beim Verfertigen des ersten Romanteils »so zugesetzt«, daß Maria keine »Zeit hatte«, Otilie zu verführen (380). So endet also die Otilie-Episode weder mit einem Selbstmord ä la Werther noch mit einer Verführung ä la Gefährliche Liebschaften — geschweige denn, daß es gemäß dem teleologischen Programm des Bildungsromans zur obligatorischen Hochzeit kommt." 6 Statt dessen wird Godwis Geschichte einfach abgebrochen und erst im zweiten Teil wieder aufgegriffen. Für Godwi selbst ist im Rückblick auf die Otilie-Briefe im ersten Romanteil nicht Otilie wichtig, sondern das während des Spaziergangs vorgetragene Gedicht »Scene aus meinen Kinderjahren« (vgl. ι6γ(ί). Mit diesem »Lied von der Marmorfrau« hätte, so Godwi, Marias Buch eigentlich »anfangen müssen«, wenn Maria die Geschichte von Godwis Lebens hätte schreiben wollen. »In diesem Marmorbilde lag all mein Schmerz gefangen, ich lag wie das Kind in den kalten Armen des Bildes: was in dem Teiche sich bewegt, das ist dasselbe immer wieder, nur im beweglichen Leben gesehen« (463f.). Neben diesem mütterlichen »Aufgang« besteht der zweite der beiden »schönen Pole[ ]« von Godwis Leben in dem »Untergang« des »Freudenmädchens« Violette (463/64), für das Godwi ein »prächtige[s]« Grabmal (280) errichtet hat. Gleich im ersten Kapitel des zweiten Teils ist von diesem Grabmal die Rede: Maria, auf dem Weg zu Godwis Gut, zieht zunächst in einem Gasthof Erkundigungen bei den Ortsansässigen ein und erfährt neben »mancherlei Gerüchte[n]«, daß Godwi das Grabmal einem Mädchen habe errichten lassen, welches nicht den besten Ruf habe, und mit ihm von seinen Reisen gekommen sey. Man sprach davon, daß sie verrückt geworden sey, und daß das Grabmahl darauf anspiele; sie habe Violette geheißen, und einige Offiziere, die den letzten Feldzug am Rheine mitgemacht hatten, wollten sie sehr gut gekannt haben. (280)

Vom Beginn des zweiten Teils an ist klar, daß die Geschichte von Violette eine zentrale Rolle spielen wird. Und so ist es denn auch nicht verwunderlich, daß Maria noch während der ersten Nacht auf Godwis Gut Violettes Grabmal auf-

116

Innerhalb einer regelrechten Teleologie-Parodie am Ende des 31. Kapitels wird lapidar mitgeteilt, daß Otilie noch lebe und daß sie sich mit Franzesko, dem Vater des Knaben Eusebio, vermählt habe (483). Die »sternenreine[ ]« Otilie kommt also zu einem M a n n und einem (Stief-)Sohn, ohne daß man sie dabei »im Bette [...] wissen« muß (379).

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sucht. Bevor also von Godwi in der Fragmentarischen Fortsetzung des Romans die eigentliche Geschichte seiner Begegnung mit Violette erzählt wird, steht wieder einmal ein Bild bzw. eine Skulptur im Vordergrund: kein >lebendes< Bild wie bei der »Scene« mit Otilie, Knabe und Reh oder der »Familienskulptur« vor dem Turm, sondern - wie beim Denkmal der Mutter - ein allegorisches Artefakt, in dem das Leben der Romanfigur geronnen ist. Diese darstellerische Mortifikation des Lebens teilt Godwi insofern mit seinem Vater, als dieser »alle die Hauptscenen aus seinem Leben« für einen Bildersaal hat »malen« (381) und »in Stein hauen« lassen (389); Godwi allerdings hat diese »Eigenschaft« des Vaters »nur in soweit von ihm geerbt«, als Godwi mit Violettes Grabmal lediglich »die bestimmendste Scene« des eigenen Lebens darstellen ließ (381). Auffällig ist, daß Maria unmittelbar vor seiner Begegnung mit Violettes Denkmal zunächst ebenfalls von einem Bildersaal in seiner Kindheit zu berichten weiß. Auch diese Kindheit wird — wie kann es im Godwi anders sein - mit dem Index traumatischer Entzweiung versehen, und wie beim »ganze[n] Bild« von Godwis Mutter, das für den identifikatorischen Blick des Betrachters »vor schmerzlichen G e w a l t e n / [...] zerspalten« (172) zu werden scheint, wird das »Böse« und Traumatische auch bei Maria durch die Bildbeschreibung gerade nicht verdrängt, sondern allererst sichtbar und >lebendig< gemacht. Maria nämlich, der, im sechsten Lebensjahr von seiner Mutter »zu einer Anverwandten in die Kost gethan«, dort ein von Mißhandlungen und Strafen geprägtes »elendes Leben« zubringt (348), stößt eines Nachts auf ein Gemälde, auf dem das Urteil Salomons dargestellt ist: Die Muhme hielt mich so im Respect, daß wenn sie mir Abends die Hand nicht zu küssen gab, ich Nachts im Bette weinte, und meiner Schwester keinen Schlaf gönnte, mit dem Ausrufe, daß ich ein Verbrecher sey. Hinten am Hause war ein kleiner Garten, an dem ein großer Saal war, der voll Oelgemälde hing. Eines, welches das größte war, stellte das Urtheil Salomons über die zwei Kinder der Bulerinnen vor, grade wie der Kriegsknecht das lebendige Kind am Beine hält und es entzwei hauen will; das andere Kind lag todt und blau an der Erde; die rechte Mutter reckte ihm die Hände in die Höhe, die falsche saß ruhig am Boden und sah zu; der Kriegsknecht hatte einen recht blutrothen Mantel an, und das ganze Bild war in Lebensgröße und mit grellen Farben gemalt. In diesem Saale war ich meistens, wenn ich allein war, und nährte meine kindische Phantasie an dem Bilde. (349)

Alle entscheidenden Motive dieser Szene stehen im Verweisungs- und Spiegelungszusammenhang des gesamten Romans und damit auch in Verbindung mit Godwis Geschichte: Neben dem Bildersaal und der traumatischen, mutterlosen Kindheit ist es gerade Marias »kindische Phantasie«, die ihn mit Godwi verbindet."7 Daß Maria vor dem Salomon-Bild »in die Knie« sinkt (350),

" 7 In der »Scene aus meinen Kinderjahren« heißt es etwa: »Und nie könnt' ich die Phantasie bezwingen, / Die immer mich mit neuem Spiel umflocht« (170).

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erinnert einerseits an Godwis Ohnmacht, verweist andererseits aber auch auf das Schuldmotiv, das untrennbar mit der Bildlichkeits- und Todesthematik des Romans verknüpft ist. Marias Frage: »was habe ich gethan« (350), könnte auch von Godwis Vater geäußert werden, der durch die in Auftrag gegebenen Bilder seines Lebens, »das Böse, welches nie gut gemacht werden kann, schön zu machen« versucht (390). Vor allem aber verweist Marias Kindheitsszene auf die Begegnung mit Violettes Grabmal voraus. Nachdem Maria beim Abendessen mit Godwi und dem Dichter Haber »in einem wilden bacchantischen Zuge« (346) das Unglück seiner Kindheit mit Liedern, Erzählungen und Rollenspielen regelrecht in Szene gesetzt und dabei »eine gewisse Macht über die Gemüther« seiner Zuschauer (354) erlangt hat, legt er sich schließlich zur Ruhe. Doch entgegen Habers Rat, sich mehr zu »appliciren«, sprich: zusammenzunehmen, wacht Maria nach kurzem Schlaf wieder auf. Maria kleidet sich an und öffnet das Fenster, durch das wie im Bildersaal seiner Kindheit der Mond, Zeichen des Marianischen, scheint (vgl. 350 u. 354). Analog zu Godwis Fensterszene auf Schloß Reinhardstein verwandelt sich Maria in einen narzißtischen Voyeur, der in der »gebildete[n] Wildniß« des Gartens (354) eine »hohe weiße Marmorgruppe« (355) erblickt. In der typischen Haltung des Melancholikers und Zeichenlesers, versucht Maria, den Kopf auf den Arm gelehnt, das Bild zu »enträthseln« (355), von dem zunächst nur ein vom Mond beschienener Arm mit einer Lyra zu erkennen ist. Erst mit sinkendem Mond wird dann auch der Körper der Marmorgruppe sichtbar, und die Szene verwandelt sich in eine erotisch-religiöse Phantasmagorie bzw. imaginierte Vergewaltigung.118 Im Unterschied zu Otilie, die Godwi sich »kaum wie eine Hostie denken« kann (379), erscheint Violettes Leib dabei als androgyne Gabe, die Maria wie ein Priester opfern will: »und hätte sie gesprochen, wie der göttliche sprach — nimm hin, das ist mein Leib — ο wie sollte sie unter meinen glühenden Küssen in mich selbst zerrinnen, und ich in sie« (356, Hervorh. S.M.). Zu diesem androgynen Charakter" 9 gesellen sich noch weitere Zeichen der Ambiguität: Violette erscheint nämlich nicht

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Der Aspekt der Gewalt und Vergewaltigung (engl, violence bzw. violation) wird bereits von Violettes Namen angezeigt (vgl. Michael Wetzel, »Allegorien des männlichen Begehrens: Brentanos Violette und andere wilde Mädchen«, in: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre, hrsg. v. Eva Horn u. Manfred Weinberg, Opladen 1998, S. 148-161, hier S. 153)· Michael Wetzel weist darauf hin, daß Violette »die verkleinerte Namensform von Shakespeares Viola« sei (Wetzel, »Allegorien des männlichen Begehrens«, S. 153). Bezeichnenderweise ist Viola eine androgyn-knabenhafte Frauenfigur, die Männerkleidung trägt. Auch das tragische »Geschwister«-Thema, das Maria in seiner Kindheitsschilderung aufwirft, findet sich — komödiantisch gewendet - schon bei Shakespeare. Zwar werden im fünften Akt von Was ihr wollt auch zwei Hochzeiten in Aussicht gestellt, vor allem aber besteht das Happy End darin, daß Viola sich zum einen als Schwester entpuppt und daß zum anderen die über ihren toten Bruder trauernde Olivia zu einem >Ersatzbruder< kommt.

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nur als prostituierter Frauenkörper,120 sondern zugleich als »Apotheose eines verlornen Kindes«, das statt sexueller Lust eher Mitleid erweckt (356) und in dem sich Maria vor dem Hintergrund seiner Kindheit narzißtisch selbst bedauert. Außerdem wird Violette in Anknüpfung an Marias Kindheitsszene als »Schwester« bezeichnet (359). Und da die Schwester in Marias Rollenspiel zuvor wiederum als Substitut der Mutter figurierte (vgl. 35of.), ist Violette nicht zuletzt auch noch eine heimliche Mutter-Imago; der weiße Marmor ihres Grabmals verweist denn auch nicht zufällig auf das Denkmal von Godwis Mutter. Dichter also kann ein Text kaum gewebt sein: (Göttliches) Kind, Hure, Schwester, Mutter — Violette dient als umfassende allegorische Projektionsfläche, und es gibt kaum ein Motiv des Romans, das nicht mit Violettes >Auftritt< verbunden wäre. Anders gesagt: Bei Violette steht alles im Zeichen der intra- und intertextuellen Wiederholung — und zwar einer Wiederholung, die Ordnung, d.h. Zusammenhang, stiftet und zugleich das Begehren nach einer stabilen Ordnung jenseits ambiger Zeichenprozesse als unerfüllbar ausstellt. Neben der Narziß-und Pygmalion-Mythe und dem Melancholie-Diskurs ist der Bezug zu Wilhelm Meisters Lehrjahren das auffälligste intertextuelle Zitat. Die Wiederholung funktioniert dabei vor allem als »Wider-Schreiben«.121 So wird dem Leser schon in der Vorrede des zweiten Teils zu verstehen gegeben, daß es sich bei der Fortsetzung des Godwi um »neue Lehrjahre« handelt, deren teleologischer Ausgang im Unterschied zum (vermeintlichen) Happy End des Goethe-Romans alles andere als gewiß erscheint (275).122 Vor allem aber ist der Bildersaal von Godwis Vater ein unverkennbarer Gegenentwurf zum »Saal der Vergangenheit« in Wilhelm Meisters Lehrjahren,123 Während bei Goethe »Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab« aufheben und alle Darstellungen — vom »Marmorbild eines würdigen Mannes« über das »Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt«, bis hin zu den Bildern »hohe[r] Feierlichkeiten« — den symbolischen Anschein einer generationenübergreifenden Familienharmonie und der quasi-natürlichen Notwendigkeit

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I2J

Die beiden Mütter in der Salomon-Geschichte (i Könige 3, 16—28) sind ebenfalls Prostituierte. Nicht nur durch diesen Bezug zum Sexuellen, sondern auch durch die Verdopplung in eine >böse< und >gute< Mutter wird deutlich, daß das vermeintlich >Heilige< und >Heile< des mütterlichen Ursprungs von der Ambiguität nicht ausgenommen ist. Z u r Intertextualität als »Weiter-, Wider-, Um-Schreiben« vgl. Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. Von entsprechender Unsicherheit und Kontingenz zeugt die in der Vorrede entworfene Schicksalssemantik: »[...] was wird endlich mein Loos seyn? Ich habe mich auf einem schwachen Bote auf das unabsehbare Meer gewagt, und treibe den Wellen überlassen hin. Ο ihr wenigen Herzen, die ihr liebevoll an mir hängt, ihr seht mich ohne Mast und Steuer auf gutes Glück hinaustreiben, und ich werde euch nimmer danken können, schon regen sich die L ü f t e von allen Seiten, die Wellen bewegen sich, und ich werde in meinem kleinen Kahne wohl zu Grunde gehen« (275). Vgl. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 138.

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von gelingender Onto- und Phylogenese vermitteln,124 zeugen die allegorischen Bilder und Statuen im Godwi vor allem von beschädigten Biographien und den unauflöslichen Verstrickungen in »traurige[ ] Familien-Geschichten« (488). Doch auch in Goethes Bildungsroman wird die Familienharmonie gestört. Denn im Saal der Vergangenheit bricht Mignon, das (ebenfalls androgyne) Kind einer inzestuösen Geschwisterliebe, tot zusammen. So gesehen ist das intertextuelle Zitat der Lehrjahre nicht nur als Wider-Schreiben, sondern auch als konsequentes Weiter-Schreiben zu verstehen. Mehr noch: Der »Widerruf der Bildungs- und Erziehungsmodelle des späten 18. Jahrhunderts«, der aus Brentanos Godwi einen »Anti-Bildungsroman« macht, 12 ' ist im Paradigma der Gattung selbst schon angelegt; und gerade die Figur der Mignon steht für diesen Widerruf. Wenig verwunderlich ist es daher, daß Violette unter anderem auch eine Postfigurantin von Mignon darstellt. In der Untersuchung über Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit verortet Michael Wetzel die Begeisterung der Romantik für die Kindhaftigkeit und Androgynität von Mignon im Kontext romantischer »Regressionen«.126 Während bei Goethe das Inzest-Kind trotz aller Sympathie pathologisiert und schließlich im Namen der Turmgesellschaft >beseitigt< wird, werden die Mignon-Nachfolger(innen) in der Romantik zum narzißtischen Liebesideal verklärt: Der romantische Dichter spiegelt sich in seiner Kindsbraut als Kindsbräutigam, und dieses Spiegelverhältnis zwischen Mann und Mädchen bestimmt zugleich die Neudefinition des Geschlechterverhältnisses: Das wiederentdeckte platonische Motiv der Androgynität stellt sich für die Romantik als Geschwisterliebe dar, und zwar nicht als sexuelle Übertretung des Inzestes, sondern als weitere Stufe einer Infantilisierung der Liebe im Sinne der narzißtischen Entdifferenzierung des geschlechtlichen Gegensatzes durch geschwisterliche Gleichheit: Das Verwandtschaftsmodell quasinatürlicher Paarbildung durch die Liebe des Selbst im anderen ersetzt das Triebmodell des Begehrens des anderen. 127

Marias Begegnung mit dem Grabmal von Violette partizipiert an diesem romantischen Liebesdiskurs: Auch wenn Mignon-Violette zur Dirne geworden ist, gehört sie zunächst ganz im Sinne der von Wetzel genannten »Infantilisierung« zu den »verlornen Kinder[n]« (358) und wird dadurch eben zur Schwester von Maria, der sich nicht nur gleichfalls als ein solches verlorenes Kind wahr114

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Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. v. Friedmar Apel u.a., Bd. I/9, hrsg. v. Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann, unter Mitwirk. v. A l m u t h Voßkamp, Frankfurt am Main 1992, S. 92of. Gabriele Brandstetter, »>Eines Weibes Träumen...< Brentanos Autorschaftsphantasien«, in: Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800, hrsg. v. Ina Schabert u. Barbara Schaff, Berlin 1994, S. 2 1 3 - 2 3 1 , hier S. 216. Vgl. Michael Wetzel, Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999, vor allem S. 35iff. Wetzel, Mignon, S. 359.

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nimmt, sondern durch den Verweis auf die Erfahrung des gesellschaftlichen Verstoßenseins auch noch eine Relation zwischen der kindlichen Dirne und den Dichtern herstellt. Die Apologie der Kindsbraut und Geschwisterliebe geht also stets mit der Heroisierung des Lebens als Dichter einher — eines Lebens im Zeichen der Poesie, das — wie bei Jean Paul — im unversöhnlichen Gegensatz zur Prosa der bürgerlichen Verhältnisse, zumal der Institution der Ehe, steht (vgl. 357Ο. Über diesen romantischen Topos hinaus jedoch ist mit der Figur der Violette zudem »ein provozierend chochafter, schwarzer Zug« verbunden, »der den romantisierenden Realitäten von Novalis bis Tieck (mit Ausnahme vielleicht des William Lovell) noch fremd war«.128 Gemeint ist damit weniger die Kontiguität zwischen Liebe und Tod — die ist nicht nur etwa schon bei Novalis, sondern bereits im Narzißmythos selbst zu finden —, sondern vielmehr das im diametralen Gegensatz zur kindlichen Unschuld stehende Moment der Sinnlichkeit und erotischen Obsession. Nach Wetzel ist für Violette gerade die »Zuspitzung des Kindsbrautmotivs im unaufgelöst gelassenen Gegensatz von kindlicher Unschuld und geschlechtlicher Reife«129 charakteristisch. Deutlich wird dieser unaufgelöste Gegensatz sowohl an Marias narzißtischem Phantasma der religiös-erotischen >Opferung< und Inkorporation als auch an der vermeintlich harmloseren Analogie zwischen Dirnen und Dichtern. So will Maria bei der imaginären Eucharistie Violette einerseits zwar in die »Arme [...] nehmen wie ein Kind« (355) und halluziniert durch die eucharistische Einverleibung die Verschmelzung mit dem göttlichen Kind. Andererseits aber ist die Einverleibung unverkennbar als Akt der Gewalt und eines ganz und gar nicht kindlichen Begehrens markiert: Für dieses Begehren ist der auf dem Grabmal dargestellte Genius, samt Lyra Zeichen der Apotheose, einfach nur störend, und das »Kind« wird als ein »Weib« wahrgenommen, das Maria selbst anstelle des Genius »heraufziehen [will] mit liebender Wuth« (355). Wie immer im Godwi läßt die narzißtische Kränkung und damit das Bewußtsein für Differenz nicht lange auf sich warten. Von der Einbildungskraft gedrängt, kann Maria »nicht mehr länger auf der Stube bleiben« und macht sich, das Fenster hinabsteigend, auf den Weg durch den »lebendig« erscheinenden Garten zum Denkmal (356). Doch was sich vom Fenster aus noch als bunter und beweglicher »Karneval« ausgenommen hat, verliert für Maria, kaum daß er unten angekommen ist, seinen »Reiz«: Alles ist wieder von ihm »getrennt«, »allein und einsam« setzt sich Maria schließlich »auf die Stufen des Bildes« (356) und, statt das Bild anzusehen, steigert er sich, den »Kopf mit geschlossenen Augen in die Hand gelehnt« (359), d.h. wieder einmal in der typischen Melancholiker-Haltung, in die besagte Imagination der >Geschwisterliebe
Enthüllungsgeschichte< erzählt, die das »Bild im Leben« (362) aufsucht: Wenn ich sagen wollte, wo man das Bild im Leben fände, so würde ich sagen: Gehst du in Liebeheischenden Frühlingstagen Abends durch wunderbare kunstreiche Gärten, und suchst Liebe in der Dämmerung traulicher Lauben, und tritts du in eine, wo ein Weib so ganz ergeben in Schlaf oder Lust auf weichem Moose ruht, und trittst du hin, bebend in kühnem Rausche und banger Unerfahrenheit, stehst zitternd vor ihr; sie erwacht nicht; ein dünnes formensaugendes Gewand bedeckt sie; der Busen hebt es nicht, und blickt durch das Gewand, wie deine eigene Lust durch deine bange Unerfahrenheit; du wendest deine Augen hin zum Haupte, und glaubst das Bild der Würde selbst zu sehen; dein Entschluß wankt, du sinkest nieder, küssest die schöne Hand, die auf der linken Brust gelinde zu ruhen scheint, und fühlest im Kuß der Hand des Busens ergebenen Widerstand, und wenn sich dann in allen deinen Gliedern das Leben regt, und alle Natur ein Bündniß schließt in deines Herzens Mitte gegen die Tyrannei der Furcht der Sitte und der Unerfahrenheit, und wenn du dann mit kühner Hand das Tuch, das dich so von der Liebe trennen will, verachtend, schüchtern, doch gelinde von den Füßen aufwärts ziehst, und immer höher in Seligkeit die lustbethränten Augen gleiten [...] (362)

Im Gegensatz zum parataktischen ersten Teil der Beschreibung wird in dieser Passage von vornherein die Spannung eines an Werthers Brief vom 10. Mai erinnernden Konditionalsatzgefüges aufgebaut. Zwar wird auch hier aneinandergereiht, die Aufzählung von Nebensätzen steuert allerdings als Klimax auf die Aussage des Hauptsatzes hin und verwandelt das sich über die gesamte Passage erstreckende Satzgefüge in eine bis zum Zerreißen angespannte, immer wieder unterbrochene Periode, die rhetorisch höchst >lebendigwild< erscheint. Wie schon bei der Makrostruktur des narrativen Perspektivismus zeichnet sich Brentanos Godwi auch in dieser Passage durch einen sprachlichen Aufwand aus, der die >Verwilderung< des discours systematisch, einem strengen »poetischen Kompositionsprinzip« folgend, 148 betreibt. Der »Sprachrausch«, von dem Marlies Janz in bezug auf das Konditionalsatzgefüge spricht,149 ist also nicht als eruptive Äußerung irgendeines Unbewußten zu

147

148 149

M i t diesem Akzent auf das zeitliche Nacheinander des Textes, das sich jeder lebendigen Vergegenwärtigung eines Bildes im Sinne der utpicturapoesis-Lehre verweigert, vertrete ich die Gegenposition zu Scharnowski, die davon ausgeht, daß die Syntax dieser Beschreibung die »Gleichzeitigkeit der Ereignisse im Bildnis« unterstreiche (Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 167). Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 169. Janz, Marmorbilder, S. 40.

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verstehen. Vielmehr ist er der Effekt einer Rhetorik, die vom Parallelismus und Polysyndeton über die Klimax und wiederholte Inversion bis zu >lyrischen< Klanfiguren wie Reim und Assonanz alle sprachlichen Register zieht und damit vor allem ostentativ auf eines verweist: die eigene poetische Rede. Das »Leben«, das sich »in allen deinen Gliedern [...] regt« (362), ist dabei nichts anderes als die Dynamik der sich aneinanderreihenden Sätze. Der »immer höher« gleitende Blick (362) ist jener allegorische Blick des melancholischen Erzählers, der ganz im Sinne des bereits angeführten Benjamin-Zitats »Stück für Stück, Glied für Glied« den gleichsam leichenstarren Körper der Frau »durchgeht«. So gesehen geht das >Leben< des melancholischen Erzähldiskurses gerade mit dem >Tod< seiner Objekte einher. Entgegen allen Bekundungen und Animierungsgesten produziert der Text stets nur das, was er kann: tote Buchstaben und »erregende Schrift«. Die Bilder, Statuen und Leichen innerhalb der histoire sind lediglich Allegorien dieser Schriftlichkeit. Und gerade die mit dem allegorischen Verfahren verbundene Poetik der Unterbrechung150 zeugt von dem Wissen darum, daß der Text von der (gleichwohl ersehnten) Präsenz und Lebendigkeit seiner Signifikate für alle Zeit abgeschnitten ist. Gegen Ende der Leichenschau zeigt sich diese Selbstreflexivität an der rhetorischen Argumentationsfigur der Aposiopese,ISI die im Schrift-Bild bezeichnenderweise durch vier Gedankenstriche graphisch hervorgehoben wird: und w e n n das geschürzte G e w a n d das würdevolle H a u p t schon längst bedeckt, d e n B u s e n d u b e f r e i e n w i l l s t , u m h i n z u g e h n in a l l e r F r e i h e i t in d i e L u s t , w e n n d a n n die s c h ö n e h o l d e B r u s t

m i t e i n e r o f f e n e n W u n d e b l u t ' g e n L i p p e n zu

d i r s p r i c h t , w a s d i r des H a u p t e s W ü r d e n i c h t , u n d n i c h t d e s S c h o o ß e s h e i m l i c h e s V e r t r a u e n s a g t e [...] (363)

Bis in die Mikrostruktur hinein führt der Text hier vor, wovon er insgesamt handelt. Die sprechende Wunde ist eine Metapher für die Wunden des Textes selbst, die er mit seiner Poetik der Unterbrechung auf allen Ebenen in Szene setzt. Figurenpsychologisch hängt diese Verwundung mit dem Trauma des Objektverlusts zusammen. Semiologisch aber haben die Verwundungen des discours und der Drang des Erzählens, in unendlich wiederholbaren, stets auch anders möglichen Anläufen »ewig zu der Wunde wieder hin« zu müssen (363), damit zu tun, daß es keine verläßliche Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat gibt. So wenig psycbogenetisch auf die Mutter-Kind-Dyade und erkenntnistheoretisch auf die Identität des Ich mit sich selbst Verlaß ist, so wenig

Is

° Auch de M a n versteht die Allegorie in ihrer Zeitlichkeit als (selbstreflexive) Figuration von Diskontinuität: »Die Ironie ist eine synchrone Struktur, während die Allegorie als Modus des Nacheinander auftritt, aus dem eine Form der Dauer hervorgeht, die eine u m ihren illusionären Charakter wissende Illusion von Kontinuität ist« (de M a n , Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 124). ISI Z u r Bedeutung dieser spezifischen Unterbrechung vgl. etwa Scharnowski, E i n wildes gestaltloses Lied, S. 168, u. Janz, Marmorbilder, S. 41.

241

gibt es semiologisch eine Zeichenpraxis, die nicht dem Umweg der Zeit, d.h. der Kontingenz von Semiosen, unterworfen wäre.152 Mit seiner Poetik der Unterbrechung reflektiert Brentanos Godwi diese diskontinuierliche Zeiterfahrung. Zugleich aber ist der melancholische »Drang zur Darstellung« bei aller Selbstreflexivität immer wieder auf stabile Beziehungsmuster ausgerichtet, die nicht zu erreichen sind. Im Begehren eines verläßlichen (transzendentalen) Signifikats als Ursprung bzw. Telos produziert Brentanos Roman notwendigerweise fortwährend immer neue Wunden.153

7.

»Wo will es am Ende hinaus!«

Nach der Begegnung mit Violettes Grabmal macht sich Maria gemeinsam mit Godwi daran, das Erzählprogramm des zweiten Romanteils zu realisieren (vgl. 381). Dabei besteht das Ziel darin, mit Godwis Geschichte »fertig« zu werden, so daß beide Protagonisten »mit einander eine bessere lebendige des eignen Lebens anfangen können« (464). Auf dem Weg dahin will Godwi das »Volk« seiner Biographie »nach und nach vom Halse bekommen« (476) und einen souveränen »Standpunkt« erreichen, der dadurch, daß er einen Überblick über die Vergangenheit verschafft, aus den Verstrickungen in die eigenen »traurigen Familien-Geschichten« (488) herausführen soll. Die Vergangenheit, auf die sich dieses Erzählprojekt bezieht, ist die Zeit vor der Handlung des ersten Teils und die Zeit zwischen dem Ende des ersten und der Erzählgegenwart des zweiten Teils. Vom 18. bis zum 31. Kapitel, nach den drei Grabmals-Kapiteln also, steht der Text im Zeichen der familiären Vorgeschichten. Erst nachdem die wichtigsten »Knoten« (476) gelöst sind, d.h. die Geschichte des Briefromans nachträglich in ihren kausalen Motivierungen und personalen Zusammenhängen transparent gemacht worden ist, geht der erste Teil des Erinnerungsprojektes »zu Ende« (481), und »eigentlich fertig« (483) sind Maria und Godwi, nachdem sie am Ende des 31. Kapitels auch noch die von der Romanpoetologie des 18. Jahrhunderts geforderte Teleologie erfüllt haben. Wie die Zugvögel, denen Maria einst am Rhein nachgeschaut hat (vgl. 395), ziehen die Familienmitglieder im Schnellverfahren vorbei und werden auf diese Weise teleologisch entsorgt. Auf vier Seiten wird der Maler Franzesko in einem Londoner »Irrenhause von

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153

Vgl. Manfred Frank, »Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache. Das Gespräch als Ort der Differenz von Neostrukturalismus und Hermeneutik«, in: Text und Interpretation, hrsg. v. Philippe Forget, München 1984, S. 181-213, hier S. 198. »Brentanos Poesie läßt den Leser nicht mit heiler, sondern höchstens mit geheilter Haut davonkommen. In ihrer körperlichen Metaphorik legt sie immer ihre Wunde offen: Die innere Gespaltenheit des redenden Subjekts, welche redend nur verbunden werden kann, wodurch die Rede die Wunde aber erst recht markiert. Rede ist so gleichzeitig Wunde und Verband« (Peter Utz, Das Auge und Ohr im Text, München 1990, S. 252).

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seiner Verrücktheit geheilt«; durch einen »glückliche[n] Zufall« findet er seinen Sohn Eusebio wieder (480) — und heiratet schließlich Otilie (vgl. 483); durch Franzesko wiederum kommen Molly und Godwis Vater erneut zusammen; zu deren beider Versöhnung gesellt sich auch noch Werdo Senne (vgl. 481); und Römer bekommt am Ende alles, was zur Initiation in die bürgerliche Gesellschaft erforderlich ist: neben einer Mutter vor allem einen Vater und durch den Vater wiederum ein Geschäft bzw. eine Ehefrau (vgl. 482). Daß der ganze »Zug« dann ausgerechnet Richtung Italien reist (482f.), macht dieses Ende nicht glaubwürdiger. Im Unterschied aber zum Agathon scheint die mangelnde Plausibilität des Telos für den Godwi kein Problem mehr zu sein. In der nur noch parodistischen Aneinanderreihung von Versöhnungstopoi verabschiedet der Text nicht nur das Personal von Godwis Familie, sondern das teleologische Geschichtenerzählen selber, an dem ein Roman wie der Agathon bei aller Ironie regelrecht laboriert und an dem Jean Pauls Siebenkäs zumindest programmatisch noch festgehalten hat. Natürlich ist diese Verabschiedung wie jede Parodie untrennbar mit dem verknüpft, wovon sie sich loszulösen versucht. Wie es für eine Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik keinen Ort jenseits der Ordnungsvorstellungen dieser Metaphysik, jenseits also von arche und telos, gibt, so kann auch Brentanos Godwi nicht einfach eine fröhliche Dezentrierung des Erzählens betreiben. Abgesehen davon aber hat die Teleologie-Parodie, die ja nicht von einem übergeordneten, auktorialen Erzähler, sondern von einer in die Geschichte selbst verstrickten Figur, dem Ich-Erzähler Godwi, vorgenommen wird, eine genau zu bestimmende Funktion: Sie richtet sich gegen Godwi selbst - und damit auch gegen den von ihm formulierten Wunsch nach einem »besserefn] lebendigefn]« Leben (464) jenseits der Verstrickung in die eigenen »traurigen Familien-Geschichten« (488). Schon die von Godwi verwendete Zugvögel-Analogie (vgl. 481) ist dabei überaus verräterisch. Denn der Witz von Zugvögeln ist ja gerade, daß sie immer wiederkehren. Anders gesagt: Wie die Zugvögel immer wieder an den Ursprungsort zurückkehren, so ist stets damit zu rechnen, daß der Erzähler das von ihm nach Italien abgeschobene »Volk« bzw. die mit diesem Volk verbundenen Probleme eben doch nicht »vom Halse bekommen« kann (476). Auch mit der vermeintlichen Souveränität des teleologischen Erzählers ist es nicht weit her, wenn man sich Marias Zugvögel-Beschreibung genauer anschaut, auf die sich Godwi bezieht. Mit einem »traurige[n] Herz[en] voll verschmähter Liebe« nimmt Maria nämlich einen höchst fragilen »Standpunkt« bei seinem Blick über die Rheinebene ein: Er sitzt »höher, als der höchste Berg der Gegend, auf der Spitze eines jungen Baumes, den eine muthige Hand in die höchsten Trümmern eines zerstörten Thurmes gepflanzt« hat (394, Hervorh. S.M.). Nur konsequent ist es daher, daß nach dem teleologischen 31. Kapitel lediglich eine fragmentarische »Fortsetzung« angekündigt wird und die Fortsetzung des Erinnerungsprojektes, die vor allem der Geschichte Violettes gewidmet ist, gerade damit beginnt,

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daß Godwi während seiner eigenen Rheinreise einen »Standpunkt« entbehrt, »von dem er [...] alles hätte übersehen können« (488). Die Pointe meiner Schlußargumentation ist damit benannt. Ich werde noch einmal auf die bereits mehrfach angesprochene Figur der Wiederholung zurückkommen und dabei deren Funktion innerhalb des Doppelspiels von Kontingenz und Ordnung bestimmen. Die überall im Text vorzufindende Wiederholungsbewegung, so meine These, sorgt zum einen für die Ordnung des discours, zum anderen unterläuft sie melancholisch jede teleologische und ursprungslogische Zentrierung dieses discours. Godwis Rhein-Reise, mit der die Violette-Geschichte beginnt, ist zunächst alles andere als melancholisch. Wieder einmal scheint die Welt in Ordnung zu sein: Godwi trinkt ausgiebig mit den »fröhlichen Weinlesern«, er flirtet mit »schönen lustigen Mädchen« (487), und all die »verschrobenen edlen Seelen« seiner Familiengeschichten vergißt er »gleich bey dem zweiten Becher Wein« (488). Daß jedoch auf diese Fröhlichkeit und Gegenwartsseligkeit kein Verlaß ist, wird schon daran deutlich, daß auch hier weiterhin analeptisch erzählt wird und das traurige Ende, Violettes Tod, von vornherein feststeht. Abgesehen davon wimmelt es im discours der Fragmentarischen Fortsetzung nur so von Erinnerungsspuren, die auf frühere Textpassagen verweisen; von einem Neuanfang also kann keine Rede sein. Dies fängt schon damit an, daß das Fluchtprogramm des Vergessens, das explizit gegen Otilie gerichtet ist (vgl. 488), genau die Bekundungen zitiert, die bereits innerhalb der katastrophal endenden Otilie-Episode aufgetaucht sind: Schon bei Otilie nämlich hatte Godwi angeblich »alles vergessen« (132), und wie sich Godwi am Rhein »in einer goldnen Zeit« glaubt, in der man »Alles« liebt und »von Allem geliebt« wird (487), so war ihm schon auf Schloß Reinhardstein nicht weniger als die »ganze Welt« lieb, solange sie ihn selbst »mit dem Blick der Liebe« (personifiziert in einer Frau wie Otilie) ansah (89). Im folgenden wird dann zwar durch den unmißverständlichen Wunsch nach einem »Verhältniß« (489) der Bereich der »sternenreinen Mädchen« (379) ä la Otilie verlassen, doch der Text setzt sich weiterhin vor allem aus Erinnerungsspuren zusammen, die mit Godwis wiederholter Regression korrespondieren. Mit dem Reiter (vgl. 489ff.) beispielsweise, der Godwi zum Schloß der Gräfin führt und sich schließlich als die (verkleidete) Gräfin selbst entpuppt, wird das Motiv der Androgynität und damit auch die virulente Inzestproblematik wieder aufgegriffen. 154 Im dunklen Saal des Schlosses dann, der auf die erotische Imagination des verdunkelten Raumes in Godwis erstem Brief zurückverweist (vgl. 26) und eine Brücke zu Molly, der ersten Mutter-Imago des Romans, schlägt, ist es erneut

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Violette teilt Godwi mit, daß ihre Mutter »immer wie ein Mann gekleidet reite« (504). Wie etwa bei der >heiligen< Natalie im Wilhelm Meister besteht die Funktion der Männerkleidung bei der alles andere als >heiligen< Gräfin darin, die Mutter-Imago im wahrsten Sinn des Wortes zu verhüllen.

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eine Statue, genauer gesagt: eine Venus, die diesmal nicht Marias, sondern Godwis Begehren weckt und an der Godwi vermißt, »daß sie lebendig sey« (493).155 Das heißt: Godwi ist ebensowenig wie Maria in der Lage, das Bild als bloßes Bild bzw. Zeichen anzusehen und damit die Trennung von Signifikant und Signifikat sowie die Abwesenheit des Referenten anzuerkennen. Während Maria aber über diese Abwesenheit nicht hinausgelangt und vor allem bei der Einbildungskraft Zuflucht sucht,156 begegnet Godwi innerhalb der erzählten Welt immer wieder auch lebendigen Frauen. Durch den Ubergang von der toten Venus-Statue zum realen Abenteuer mit zwei leibhaftigen Frauen, der Gräfin und ihrer Tochter, scheint ein Ausweg aus der supplementären Logik angezeigt zu sein. Dadurch, daß die histoire dem Pygmalion-Wunsch nach Verlebendigung nachkommt, der bei Marias nekrophiler Grabmalsphantasie noch im Imaginären verblieben ist, scheint — endlich — die Erfüllung möglich zu sein: das Begehrte ist >real< anwesend. In Aussicht steht also das, was Molly im ersten Teil »gekrönte Liebe« nennt (20). Allerdings wird diese »gekrönte Liebe« von Molly, wie anfangs bereits ausgeführt, als »Belohnung des handelnden Mannes« gedacht (20), so daß sich naheliegenderweise die Frage stellt, ob Godwi mittlerweile zu einem solchen Mann geworden oder mit Römers Worten: »in die Wirklichkeit« zurückgefunden hat (219). Aufschluß hierüber gibt bereits der Beginn des Abenteuers. Godwi nämlich, der vergnügungssüchtig »irgend wohin« reitet und nach der Affäre mit Otilie ein unsentimentales »Verhältniß« »ohne Sorgen und Mühe« sucht (489), muß einfach nur dem Reiter folgen und sich in den dunklen Saal stoßen lassen. Den von der Gräfin versprochenen »Lorbeerkranz« (489) verdient er sich bezeichnenderweise nicht im Sinne zweckrationalen Handelns; er wird ihm vielmehr allein deshalb zuteil, weil die Gräfin, sozusagen den männlichen Verführerpart übernehmend, Godwi »besitzen« will (550). Wie sehr Godwi immer noch Jüngling, nicht Mann ist, zeigt seine Verlegenheit, als Violette ihn nach seinem Alter fragt (vgl. 506). Godwis auch nach der Otilie-Episode fortbestehende Infantilität zeigt sich dann aber vor allem im Anschluß an die Liebesnacht mit der Gäfin: Godwi findet sich im »Krönungssaal« des Ehebettes wieder (526) und gibt sich der ödipal fixierten »Einbildung« hin, »als sey [er] der verstorbene Graf« (527). Entsprechend blickt er sozusagen mit den Augen des Ehemannes auf seine eigenen Jünglingskleider vor dem Bett und fragt sich, ob sein »Weib« womöglich in seiner Gegenwart Ehebruch begangen hat (526). Der narzißtische Triumph ist also eine Art Doppeltriumph: Godwi ima-

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Auch Venus ist im Godwi bekanntlich schon mal aufgetaucht (vgl. 187). Im Unterschied zu Godwi hat Maria keine Begegnungen oder Affären mit Frauen: Römers Tochter bleibt ihm verwehrt (vgl. 275), am Rhein sitzt Maria mit einem »traurige[n] Herz[en] voll verschmähter Liebe« (394), und entweder leidet er rückwärtsgewandt »an einer früheren Leidenschaft« (274), oder er sehnt sich nach der Geliebten, die ewig ausbleiben wird (vgl. 3 2 9 ff.).

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giniert sich als erfolgreicher junger Liebhaber und stolzer Ehemann zugleich, der »schön breit auf einem Throne sitzt« (528). Die ganze Infantilität dieser Phantasie wird jedoch sogleich unmißverständlich enttarnt. Godwi nämlich, der das Bett gar nicht mehr verlassen will, ist ausgerechnet wie einem K i n d e [zu Muthe], das zum erstenmal Komödie gespielt hat, und die bunten Kleider nicht ausziehen mag [...] — nein, sagte ich [gleichsam wider das Realitätsprinzip, S.M.], du kannst den vortrefflichen Schlafrock gar nicht wieder ausziehen, - und wünschte wirklich sehnlich, es möchten ein paar Diebe herein kommen, und meinen schwarzen Frack und die ledernen Beinkleider stehlen. - ($z8f.)

Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, daß das im Zeichen der Wiederholung stehende Begehren »Züge [...] des Narzißtischen oder Regressiven zeigt«.157 Auch die genannte Zugvögel-Allegorie könnte man in diesem Sinne (figuren-) psychologisch lesen: Wiederholung - das meint stets auch die Wiederkehr des Verdrängten bzw. die an immer neuen Objekten sich entzündende Grundproblematik einer ursprünglichen Verlust- und Entzweiungserfahrung.158 Worum es mir aber, wie gesagt, vor allem geht, ist die Funktion der Wiederholung innerhalb des discours und damit eben auch die Rolle der Wiederholung innerhalb des Doppelspiels von Kontingenz und Ordnung. Dieses Doppelspiel zeigt sich — erstens — gerade bei Pänomenen intra- und intertextueller Wiederholung. Dadurch nämlich, daß Texte andere Texte oder sich selbst zitieren, indem sie bestimmte Signifikanten oder aber in einem allgemeineren Sinne vorgegebene Topoi, Konfigurationsmuster, Erzählstrukturen etc. wiederholen, stellen sie einerseits ihre je >eigene< Ordnung als Text bzw. als zusammenhängendes, >dichtes< Gewebe her, andererseits aber wird gerade durch die mit jeder Wiederholung verbundene Verschiebung und Differenz ein Moment von Alterität eingeführt, das auf die Unabschließbarkeit und Kontingenz der von der Wiederholung provozierten Semiosen verweist. Der Effekt ist eine Ambiguität, die sich Brentanos Godwi wiederholt ausgerechnet dort einhandelt, wo es um die Imagination von Einheit und Versöhnung geht. Was den Roman aber über diese allgemeinen Effekte semiologischer Kontingenz als discours im besonderen auszeichnet, ist sein Verfahren des diskontinuierlichen Erzählens: Mit seiner Poetik der Unterbrechung, die den Text, wie gezeigt, in ganz basaler Hinsicht von der Erzählstruktur bis zum Schriftbild bestimmt, reflektiert Brentanos Roman auf der Oberfläche, was sich nicht nur erkenntnistheoretisch in der >Tiefe< des Bewußtseins, sondern auch semiologisch im >Raum< der Zeichen abspielt - daß nämlich jede (Selbst-)

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Wiethölter, »Ursprünglicher Gedanken Refrain — Wiederholung«, S. 592. Zur Wiederholung aus psychostruktureller Perspektive vgl. Jacques Lacan, Unbewußtes und Wiederholung, in: Ders., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI, 4. Aufl., Weinheim u. Berlin 1996, S. 23-70, vor allem S. 67ff.

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Reflexion als Akt der Wiederholung zugleich eine »Handlung des Brechens«159 ist und daß die Identität des Zeichens sich gerade der Nichtidentität, d.h. dem Bruch zwischen Signifikant und Signifikat verdankt. 100 Auch der Perspektivismus von Brentanos Godwi funktioniert - zweitens - über das Prinzip der Wiederholung und das damit verbundene Doppelspiel. Denn zum einen geht es beim repetitiven Erzählen oder beim Einsatz auch lyrischer Stimmen thematisch immer wieder um dasselbe,161 und formal entsteht durch die permanente Wiederholung der genannten Erzählverfahren natürlich auch eine spezifische Strukturiertheit und Ordnung des Textes, in der nichts dem Zufall überlassen bleibt. Andererseits wird gerade durch das perspektivische Umkreisen desselben dem Umkreisten die Präsenz verweigert und damit dem Erzählen der (ontologische) Boden unter den Füßen weggezogen. Was allenfalls zu haben ist, sind in Anführungszeichen gesetzte Re-Präsentationen, ohne daß verläßlich — von einer Metaebene aus — zu bestimmen wäre, worin die »ursprüngliche Wahrheit« besteht.161 Der Entzug von Ursprung und Präsenz wird — drittens — im Wiederholungs- und Ordnungsprinzip der Reihe deutlich. Was den Godwi gerade im Zuge seiner Poetik der Unterbrechung kennzeichnet, ist die diskontinuierliche Aneinanderreihung von unterschiedlichen Textsorten, Rückblenden, Zitaten und — mit Schiller gesprochen — einzelnen »Zuständen«. In dem eingangs angeführten Brief etwa, in dem Römer Godwis »Gefühlswechsel« kritisiert, ist nicht zufällig von einer »Reihe von Briefen« (218, Hervorh. S.M.) und einer

"» Novalis, Schriften, Bd. II, S. 213. ° Bei Lacan und Derrida zeigt dieser Bruch vor allem eine Asymmetrie an. Mit Saussure kann man zunächst behaupten, daß das Prinzip der Differenz auf beiden Seiten der Trennungslinie zwischen Signifikant und Signifikat jeweils bereits am Werk ist: Wie jeder Signifikant allererst durch den differentiellen Bezug zum anderen Signifikanten konstituiert wird, so ist im Bereich der Signifikate jeder artikulierte Gedanke auf Distinktion, also darauf angewiesen, daß »die verschiedenen Gedankenelemente sich voneinander absetzen, sich unterscheiden, differenzieren«. Das aber hat zur Folge, daß die Gedankenelemente »sich zueinander als Signifikanten verhalten [müssen], um Signifikate zu werden. Der Saussuresche Trennungsstrich, der Signifikant von Signifikat trennen soll, geht quer durch die Signifikate hindurch, trennt jedes Signifikat von sich selbst und läßt seine Identität qua Signifikat nur als Produkt dieser Trennung — der Signifikation — erscheinen« (Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Wien 1990, S. 52). 161 In dem bereits von Staiger angeführten Gedicht Ein Fischer saß im Kahne ist beispielsweise das Motiv des Kahnes intratextuell mit anderen Stellen im Godwi verknüpft (vgl. etwa ijoL u. 275), und thematisch geht es um den Verlust eines geliebten Objekts, der entsprechende Fluchtbewegungen ins Imaginäre nach sich zieht. 162 Der Entzug dieser »ursprüngliche[n] Wahrheit« wird bei Derrida mit der Wiederholung enggeführt. Keine Präsenz, kein Ursprung jedenfalls, der, eingespannt in eine unendliche »Retentionsbewegung«, nicht bereits ein Effekt der Wiederholung wäre (Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 123). In eine ähnliche Richtung geht Luhmanns Beobachtung zweiter Ordnung: Auch sie erlaubt wie Derridas Wiederholung keine Rückkehr mehr zu einem Ersten und Ursprünglichen, sondern betont die Unhintergehbarkeit von Vermittlung und Relationalität (vgl. Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, S. 101).

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»Folge« von Bekanntschaften die Rede (219, Hervorh. S.M.), die für Römer eine »vollkommene Krise« des Freundes wahrscheinlich machen (219). Statt einen teleologischen Bildungsprozeß zu durchlaufen, 16 ' an dessen Ende die Rückkehr zur »Wirklichkeit«, d.h. wie bei Römer selbst die bürgerliche Existenz als berufstätiger und verheirateter Mann, steht, durchläuft Godwi von Brief zu Brief lediglich Stationen, die mit entsprechenden Frauenbegegnungen korrespondieren: Von dem Landhause einer Engländerin in die Burg eines Landedelmanns, von da zu einer Ruine, zu einem Einsiedler; ist das nicht der L a u f der Zeit? So auch deine Briefe: der erste Thatendürstend, Molly; der zweite Küssedürstend, J o d u n o ; der dritte Thränendürstend, Otilie; und alle die folgenden Ruhedürstend und voller Heimgehenwollen in die Natur. (219)

Inbegriff des reihenden Verfahrens ist jenes Gedicht, das Staiger als »reißende Folge von einzelnen Da«'64 beschrieben hat und das erneut vor Augen führt, wie im Godwi bis in die Mikrostruktur hinein das Verfahren (und damit auch das Thema) des Textes insgesamt reflektiert, d.h. wiederholt wird. Sicherlich geht es in dem Gedicht Ein Fischer saß im Kahne thematisch um den Tod eines geliebten Objekts und das imaginäre Leugnen von dessen Abwesenheit, das für das melancholische Subjekt selbst tödlich endet. Entscheidend ist jedoch, daß auch hier — wie im Godwi insgesamt — die Form den Inhalt macht. Im Verfahren der Reihung nämlich, das vom anaphorischen »Da« bis zur konsequent durchgehaltenen dreihebig-alternierenden Versform mit Auftakt reicht, wird die supplementäre Logik der Schrift selber vor Augen geführt: Wie nach Derrida die »Addition« von Schrift und mündlicher Rede einen »Mangel, eine ursprüngliche Nicht-Selbstpräsenz« supplementiert — und zwar insofern, als sich die Schrift »notwendig der Rede >hinzufügen< muß, um die Konstitution idealer Objekte zu vollenden«, und die Rede sich wiederum bereits »der gedachten Identität der Objekte >hinzufügen< mußte [...], weil die >Präsenz< des Sinns und der Rede ihrer selbst zu ermangeln begann«165 —, so artikuliert sich im additiven Verfahren des Gedichts eben jener ursprüngliche Mangel, der für jede Repräsentation und Zeichenpraxis konstitutiv ist. Mit Blick auf Novalis und Friedrich Schlegel hat Waltraud Wiethölter nicht nur auf die grundsätzliche Bedeutung der Wiederholung, sondern auch auf die in der Frühromantik immer wieder auftauchende »Constructionsformel 163

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Auch in Wellberys Lektüre des Tristram Shandy spielen Unterbrechung und Reihung als Mittel der Sterneschen Kontingenzpoetik eine entscheidende Rolle: »Sternes wahrhaft geniale Leistung besteht [...] darin, daß er [...] eine narrative Ordnung (er)findet, die als genuine Alternative zur Grammatik der Handlung mit ihrer teleologischen Grundstruktur angesehen werden kann. Die Form narrativen Zusammenhangs, die der Roman erschließt, ist die der Serie; deren Kohärenz beruht auf der Repetition« (Wellbery, »Der Zufall der Geburt«, S. 309)· Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 70. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 144. 248

der Reihe«166 aufmerksam gemacht. Auch Wiethölter weist dabei auf den ursprünglichen Mangel und Präsenzentzug hin, betont darüber hinaus aber vor allem die »Ordnungsoffensive«,167 die mit diesem Strukturprinzip einhergeht. »Das Ganze ruht ohngefähr«, so Novalis' poetologische Bestimmung dieser spezifischen Ordnung, »wie die spielenden Personen, die sich ohne Stuhl, blos Eine auf der andern Knie kreisförmig hinsetzen«,168 und vor dem Hintergrund der durch Variation, Spiegelung und Opposition gekennzeichneten Figurenkonstellationen im Wilhelm Meister stellt sich Novalis diesen Kreis strukturell als »Familie« bzw. »innig verbundene Gesellschaft« vor. 169 — Wie gesagt, es kann nicht darum gehen, den Godwi ins Schächtelchen der Frühromantik zu packen. Heuristisch aber sind die poetologischen Überlegungen der Frühromantiker auch für Brentanos Roman durchaus aufschlußreich. Ganz im Sinne nämlich des Romans als (enthierarchisierter) Familienstruktur und »unendltche[r] Reihe von Sätzen«170 teilt der Godwi mit der Poetik von Novalis und Friedrich Schlegel gerade die Verabschiedung des >StuhlsStuhl< ist zwar auch im Godwi überall präsent, wie etwa die Belvedere-Szenen am Rhein vor Augen führen. Was Brentanos Roman aber ordnet, sind all die Reihen, Spiegelungen und Oppositionen, die sich nicht zufällig in der Konfiguration von Freundschaft und Familie zeigen' 7 ' und die intertextuell auch noch, wie gesehen, auf das von den Frühromantikern genannte Strukturparadigma, Goethes Wilhelm Meister, verweisen.'72 Poetologisch reflektiert wird dieses Ordnungsprinzip der Familien-Reihe bereits am Anfang des Romans, wenn Godwi das »Bataillon carre« (17) der Ahnentafel auf Schloß Eichenwehen beschreibt. Und nach Godwis Familiengeschichten, um die sich der zweite Teil dreht, wird in den »Nachrichten« eines »Zurückgebliebenen« schließlich der Freundeskreis des verstorbenen Dichters Maria vorgeführt, in den sich »Clemens Brentano« (564) als Freund unter anderen einreiht. Daß dieser Clemens Brentano dann in dem Gedicht, das die Reihe von Maria-Gedichten am Ende des Romans abschließt, lediglich als angesprochenes Objekt in Erscheinung tritt, ist angesichts der Reihenstruktur nur

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Novalis, Schriften, Bd. III, S. 68. Vgl. Wiethölter, »Ursprünglicher Gedanken Refrain - Wiederholung«, S. 594. Wiethölter, >»Ursprünglicher Gedanken Refrain — Wiederholung«, S. 622. Novalis, Schriften, Bd. II, S. 242. Novalis, Schriften, Bd. II, S. 564. Vgl. Wiethölter, »Ursprünglicher Gedanken Refrain — Wiederholung.1, S. 594. Novalis, Schriften, Bd. II, S. 570. Neben der Opposition zwischen Römer und Godwi sowie der Doppelgängerrelation zwischen Maria und Godwi steht zum Beispiel das Verhältnis zwischen Godwi und Violette in Analogie zur schuldbeladenen Beziehung von Godwis Vater zu Molly. In bezug auf Mignon spricht Michael Wetzel von einer »donjuaneske[n] Serialität [!] von Kindsbräuten, die genau so plötzlich auftauchen wie sie — nachdem sie sich entpuppt haben - wieder verschwinden, um anderen Platz zu machen« (Wetzel, Mignon, S. 414).

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konsequent: In dieser »Distanzierung von der Funktion des Autors«'73 inmitten einer Epoche, die diese Funktion samt der damit verbundenen Autorität überhaupt erst etabliert, zeigt sich die poetologische Abkehr vom >Stuhl< der arche. Brentanos Godwi zeigt allerdings auch, daß man sich das von Novalis skizzierte Spiel der »Personen [...] ohne Stuhl«174 nicht einfach als »fröhliche [...] Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung«175 vorstellen darf. Denn einerseits öffnet das Prinzip des reihenden Erzählens den Text für die Unendlichkeit möglicher Setzungen und Bezüge: Wer erzählt, wer wen verliert oder liebt, an welcher Stelle was unterbrochen wird, wo man anfängt oder aufhört zu erzählen — alles das wird mit dem Index der Kontingenz versehen. Andererseits muß ein solches Erzählen ohne Zentrum zugleich immer wieder das errichten, wovon es sich abwendet: Ohne Ursprung und Ziel kein Spiel. Und deshalb ist dieses Spiel, das Godwi auf allen Ebenen lustvoll betreibt, nicht fröhlich, sondern im wahrsten Sinn des Wortes mörderisch. Ostentativ fährt der Text ein (verwandtes) »Volk« von Figuren und Erzählern auf, das er sogleich wieder, z.B. durch eine plötzliche »Zungenentzündung« (520), »vom Halse« zu bekommen versucht (476).176 Die Ordnung der Reihe ist so gesehen - buchstäblich und metaphorisch - vor allem eine Ordnung potentiell unendlicher Substitutionen.

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Brandstetter, »>Eines Weibes Träumen...Mord< zieht sich durch den gesamten Text. Von seinem Vater erzählt G o d w i etwa, daß dieser mehrfach mit einem »fremden Künstler« in die Kirche ging und »wieder allein heraus kam, als habe er ihn ermordet« (389). Z u r frühromantischen Rede von »Tod«, »Nichtseyn« und »Selbstvernichtung« vgl. Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S.148.

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V I I . Ausblick: Kontingenz und Ordnung um 1900

So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Kontingenz macht auch vor einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zu diesem Thema nicht halt. Abgesehen davon, daß die Konstruktionen jeder Lektüre immer auch anders vorgenommen werden können, zeigt sich die Kontingenz — systemtheoretisch gesehen — schon in der Frage der Textauswahl: »Komplexität [...] heißt Selektionszwang«, so Luhmann, und »Selektionszwang heißt Kontingenz [,..]«.1 Die Frühromantiker Novalis und Friedrich Schlegel hätten zum Beispiel mit ihren Romanen vertreten sein können. Und selbst der poetische Ubervater der Epoche, bei dem alles so verteufelt geordnet zuzugehen scheint, Johann Wolfgang Goethe, hat sich in seinen erzählerischen Texten immer wieder dem Problem der ontologischen und semiologischen Kontingenz gestellt.2 Auch der radikale Bruch mit teleologischen Ordnungsmustern und die damit verbundene Aufwertung des Zufälligen und Singulären wird nicht allein von Brentanos Godwi markiert. Im Anschluß an Karl Heinz Bohrer wären vor allem Heinrich von Kleist und Ludwig Tieck naheliegende Kandidaten für Poetiken der Unterbrechung um 1800 gewesen,3 die insofern über Wieland

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Luhmann, Soziale Systeme, S. 47. Günter Oesterle schreibt zum Beispiel über Goethes Märchen aus den Unterhaitungen deutscher Ausgewanderten·. »Durch die Förderung und gegenseitige Mitteilung alternativer Allegorieketten erhofft sich Goethe nicht nur eine Belebung und Potenzierung des Geselligkeitsspiels auf der gleichbleibenden Ebene der Scharfsinnsübung, sondern eine qualitative Steigerung, nämlich die Schulung eines Sinns für Kontingenz und eines Gespürs dafür, daß es auch ganz anders sein könnte« (Günter Oesterle, »Die >schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos< sowie >an nichts und alles erinnert< zu sein. Bild- und Rätselstrukturen in Goethes Das Märchen«, in: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Z u r schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, hrsg. v. Helmut J. Schneider, Bielefeld 2001, S. 185—209). Vgl. auch Gabriele Brandstetter, »Poetik der Kontingenz. Z u Goethes Wahlverwandtschaften^:(, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 130—145; und Wiethölter, «... was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben«, vor allem S. I7iff. Z u Tieck vgl. etwa Brecht, Die gefährliche Rede; Menninghaus, Lob des Unsinns; sowie Jörg Bong, Texttaumel. Poetologische Inversionen von »Spätaufklärung« und »Frühromantik« bei Ludwig Tieck, Heidelberg 2000. Z u Kleist vgl. u.a. Hans-Peter Herrmann, »Zufall und Ich. Z u m Begriff der Situation in den Novellen Heinrich von Kleists«, in: G R M 11 (1961), S. 69-99; Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, S. 18-28; David E. Wellbery, »Contingency«, in: Neverending Stories. Toward a Critical Narratology, hrsg. v. A n n Fehn, Ingeborg Hoesterey u. Maria Tatar, Princeton/New Jersey 1992, S. 237—257; und vor allem Werner Hamacher, Das Beben der Darstellung. Kleists >Erdbeben in Chili*, in: Ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, S. 235—279. 251

und Jean Paul hinausgehen, als sie sich einem anderen >Abbaustadium< des Teleologieprinzips verdanken.4 Was sich bereits in den Lektüre-Kapiteln zeigt, gilt erst recht für die Konvention des abschließenden Ausblicks. Wenn es im Rahmen einer Studie wie dieser einen Ort rigoroser Komplexitätsreduktion gibt, ist es naturgemäß das letzte Kapitel, in dem auf engstem Raum noch einmal neue Fässer aufgemacht und mehr oder weniger kühne Sprünge durch die Literaturgeschichte unternommen werden können. Denn in den dafür erforderlichen Selektionen liegt die besondere Chance des Ausblicks. Mit dem entsprechenden Kontingenzbewußtsein springe ich deshalb im folgenden von Brentanos Godwi direkt ins 20. Jahrhundert. Zugleich aber ist dieser Sprung am Ende einer solchen Arbeit — wie könnte es anders sein — kein Zufall. Auch Karl Heinz Bohrer weist auf die klassische Moderne um 1900 voraus und beobachtet vor allem an den Tagebüchern von Franz Kafka jenen radikalen »Verlust an Teleologie«,5 wie er erstmals im romantischen Brief in Szene gesetzt wird. Zwar hütet sich Bohrer zu Recht davor, den Teleologie Verlust als »finalen Emanzipationsprozeß [...] oder als finalen Dekadenzprozeß« zu erzählen und damit selber in die »Falle der Teleologie« zu geraten.6 Doch auch wenn man die Kontingenz nicht teleologisch um 1900 zu sich selbst kommen sieht, fällt immerhin auf, daß es vor allem der Begriff der Kontingenz ist, mit dem die literarische Moderne immer wieder etikettiert wurde und sich selbst etikettiert hat. Charles Baudelaire etwa, einer der Väter der modernen Lyrik, beschwört bereits Mitte des 19. Jahrhunderts »die Modernität« als »das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige«.7 Und Stephane Mallarme hat in seinem bahnbrechenden Gedicht Un coup de des aus dem Jahr 1897 eine Poetik des Würfelwurfs vorgeführt, mit der sich semiologische Kontingenz aleatorisch entfesseln läßt.8 Gerade in den aleatorischen Poetiken der Unterbrechung — etwa der Dadaisten - zeigt sich, daß auch die literarische Moderne

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Vgl. Bohrer, Der romantische Brief, S. 16. Bohrer, Der romantische Brief, S. 17. Bohrer, Der romantische Brief, S. 16. Allerdings versteht Baudelaire darunter nur »eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte« — ganz klassizistisch — »das Ewige und Unwandelbare ist« (Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit m. Wolfgang Drost, 8 Bde, München 1989, B d . 5, S. 213-258, hier S. 226). Stephane Mallarme, Gedichte, in: Ders., Werke, Bd. 1, übers, u. kommentiert von Gerhard Goebel u. Mitarb. von Frauke Bünde u. Bettina Rommel, Gerlingen 1993, S. 243ff. Z u r Aleatorik in der Moderne vgl. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, S. i83ff.; Karl Riha, Uber den Zufall — in der Literatur der Moderne. Ein Problemaufriß, in: Ders., Prämoderne, Moderne, Postmoderne, Frankfurt am M a i n 1995, S. 241—254; sowie Z u f a l l als Prinzip. Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Bernhard Holeczek u. Lida von Mengden, Heidelberg 1992.

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um 1900 durch jene konstruktivistische Disposition gekennzeichnet ist, von der bereits mehrfach die Rede war.9 Trotz aller Verbindungslinien zwischen dem Konstruktivismus des 18. und 20. Jahrhunderts treten um 1900 jedoch andere Figurationen der Unterbrechung und andere Ordnungsprobleme auf als um 1800. Friedrich Nietzsche hat diese Probleme treffend zusammengefaßt: Womit kennzeichnet sich jede l i t t e r a r i s c h e decadence? D a m i t , dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des G a n z e n - das G a n z e ist kein Ganzes mehr. [...] D a s Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. 1 0

Nietzsches literaturgeschichtliche Diagnose hat man zu Recht mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht.11 Denn der Historismus zeichnet sich durch seinen Sammlerblick auf Einzelheiten, mit Hegel gesprochen: durch ein bloß abstraktes Wissen der Welt aus, das Besonderes und Allgemeines nicht mehr zu vermitteln vermag. Poetologisch legt Nietzsches Text nahe, daß der Historismus um 1900 zu neuen künstlichen Ordnungen führt, in denen die sinnverdunkelnden Unterbrechungen durchs Singulare der Normalfall sind. Zugleich aber macht der Text deutlich, daß der historische Verlust eines natürlichen« Ganzen - in Gestalt einer doch noch ontologisch verankerten Harmonie, Archie oder Teleologie - auch um 1900 immer noch nicht fröhlich gefeiert, sondern nach wie vor melancholisch bedauert wird. Und wo Melancholie herrscht, ist die alte Sehnsucht nach einer verläßlichen drehe nicht weit entfernt.12 Kurzum: All das Wissen um ontologische und semiologische Kontingenz, all die linguistic oder rhetoric turns hin oder her - auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts muß man mit dem metaphysischen Begehren nach Präsenz und abschließenden Vokabularen rechnen. Selbst dann, wenn sich allgemein herumgesprochen hat, daß die Welt aus nichts anderem als unterschiedlichen Vokabularen und Sprachspielen besteht, erfreuen sich ursprungslogische bzw. teleologische Denk- und Erzählfiguren zumindest als Strukturzitate nach wie vor großer Beliebtheit.13 9 10

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Vgl. Vietta, Ästhetik der Moderne, S. 28-32. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 27. Vgl. Baßler u.a., Historismus und literarische Moderne, vor allem S. 1-35. In Nietzsches berühmter Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne findet sich zum Beispiel durchaus noch das Begehren nach dem Ursprung einer (begrifflich) unverstellten Anschauung bzw. sensualistischen Wahrnehmung der Dinge. Von einem radikalen linguistic turn kann bei diesem frühen Nietzsche-Text jedenfalls noch nicht gesprochen werden, und es ist kaum nachvollziehbar, weshalb gerade diese Schrift zu den heiligen Texten des Poststrukturalismus zählt. Vgl. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 873—890. Zum Begriff des Strukturzitats vgl. Baßler u.a., Historismus und literarische Moderne, S. 2 7 3 ff. 2-53

Wenn es jedoch eine literarische Epoche gibt, in der aus den historistischen Lücken im Gewebe der Notwendigkeit poetologisches Kapital geschlagen wurde, ist es die Zeit der emphatischen Moderne. Mehr denn je funktioniert das Erzählen um 1900 als Unterbrechung des Erzählens. Und wie schon bei den Texten um 1800 verpaßt man die dabei inszenierte narrative Kontingenz, wenn man sie nur innerhalb der histoire verortet oder lediglich als bewußtseinsgeschichtliches Krisenphänomen versteht. So naheliegend es spätestens seit Georg Lukäcs einflußreicher Studie zur Theorie des Roman erscheinen mag, 14 in den Texten der literarischen Moderne Reflexe einer allgemeinen transzendentalen Obdachlosigkeit und in den Sinnkrisen der erzählten Figuren die Widerspiegelung tragischer Autorenexistenzen zu sehen — so wenig kommt man damit den Texten selber, der Art und Weise, wie sie funktionieren, auf die Spur. Wie also schon bei Wieland, Jean Paul und Brentano ist narrative Kontingenz um 1900 als Figuration der Unterbrechung zunächst einmal eine Angelegenheit des discours, die es als Verfahren zu beschreiben gilt. Einer der Autoren des 20. Jahrhunderts, in dessen Texten Kontingenz thematisiert und performativ vorgeführt wird, ist Robert Musil. »In der modaltheoretischen Fassung expliziert der Kontingenzbegriff genau das, was Musil den Möglichkeitssinn nennt.«15 Dieser Möglichkeitssinn — als Fähigkeit, »alles was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist«'6 — bestimmt in Musils Mann ohne Eigenschaften sowohl die Handlungen und Gedankenbewegungen der Figuren als auch die des Romans selber. Das Textverfahren, das mit dem Möglichkeitssinn korrespondiert, ist das des Essayismus als einer fortwährenden, perspektivisch vermittelten Reflexionsbewegung, die als Text ein »unendliches System von Zusammenhängen«17 spinnt und dabei das Erzählen der histoire systematisch unterbricht.18 14

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In Lukäcs Studie aus dem Jahr 1920 wird Kontingenz ä la Hegel als geschichtsphilosophischer Topos der Moderne an den Begriff des problematischen Individuums gebunden, das, transzendental obdachlos, die Evidenz objektiver Ziele und ewiger Ideen für immer verloren hat (vgl. Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik, Frankfurt am Main 1991, S. 6yff.). — Zur Thematisierung von Kontingenz im modernen Roman vgl. auch Peter Bürger (unter Mitarbeit von Christa Bürger), Prosa der Moderne, Frankfurt am Main 1991, S. 391. Hans-Georg Pott, »Musils Jahrhundert. Erlösung oder die Totalität der Wirklichkeitsformen«, in: Lettre international 18 (1992), S. 76-78, hier S. 76. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 251. Theodor W. Adorno schreibt über den Essay als Form·. »Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten« (Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. n , Frankfurt am Main 1998, S. 9—33, hier S. 10; Hervorh. S.M.). Zum Essayismus in Musils Mann ohne Eigenschaften vgl. vor allem Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt am Main 1990, S. 230—261. 2-54

Musils erster Text, in dem das essayistische »Spiel mit Möglichkeiten«19 bereits als Poetik der Unterbrechung funktioniert, ist die Erzählung Die Vollendung der Liebe aus dem Jahr 1911. Schon im Titel wird auf das teleologische Modell von Liebesgeschichten — als Strukturzitat — angespielt. Ihre Vollendung erfährt die Liebe in dieser ersten Erzählung von Musils Vereinigungen allerdings gerade nicht im Happy End einer Hochzeit oder in einer providentiell abgesicherten Rückkehr der Frau zum eigentlichen Lebenspartner. Vollendung der Liebe heißt vielmehr, daß der Zufall nicht mehr nur als romantischer »Startmechanismus« verstanden, sondern die Liebe selber mit dem Index der Kontingenz versehen wird. 10 Die moderne Erzählung dieser Liebe tritt zwar durchaus mit einer Rhetorik der Krise auf, da die Kontingenz des Anfangs auch die teleologische Aussicht auf Stabilität sabotiert21 und die Auslieferung der Liebenden an die Zeit ganz im Sinne Humes die Identität des Ich in Frage stellt.21 Aber an einem Text wie Musils Vollendung der Liebe wird deutlich, daß die Bewußtseinskrisen der Liebenden, von denen erzählt wird, nicht mit poetologischen Krisen zu verwechseln sind. Im Gegenteil: Die Problemgeschichten der Moderne scheinen eher der Effekt von Erzähldiskursen zu sein, die munter mit neuen Figurationen der Unterbrechung experimentieren und die Textgenerierung zunehmend vom Erzählen der histoire emanzipieren. Zwar weist Musils Erzählung durchaus noch eine paraphrasierbare Geschichte auf — eine Frau fährt ohne ihren Mann zum Internat der Tochter und hat dort eine Affäre mit einem anderen Mann aber um diese Geschichte und den vollzogenen Ehebruch geht es im Grunde nicht. Worum es geht, ist die Erkenntnisreise, die der Text mit Hilfe seiner weiblichen Hauptfigur als einer Art essayistischem Medium unternimmt. Was für Claudines Gedanken gilt,

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10 11

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Robert Musil, Die Vollendung der Liebe, in: Ders., Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, Reinbek 1978, S. 156-194, hier S. 180. Luhmann, Liebe als Passion, S. i8of. Die Gefahr, die Zufall und Augenblick für die bürgerliche Ehe- und Sexualmoral bedeuten, wird in Arthur Schnitzlers Traumnovelle artikuliert: »>Und wenn an jenem Abend(, sagte er dann, ^zufällig ein andereren deinem Fenster gestanden hätte und ihm wäre das richtige Wort eingefallen, zum Beispiel Ein anderer, wer immer es gewesen wäre, er hätte sagen können, was er wollte - es hätte ihm wenig geholfen. [...]< Er verzog spöttisch den Mund. >So sagst du in diesem Augenblick, so glaubst du vielleicht in diesem Augenblick. Aber —«< (Arthur Schnitzler, Traumnovelle, Ii. Aufl., Frankfurt am Main 1999, S. 14; Hervorh. S.M.). So trügerisch der Schein »versäumter Möglichkeiten« auch sein mag (Schnitzler, Traumnovelle, S. 8) — das fundamentale Aber des Möglichkeitssinns lauert bei Schnitzler hinter jeder Beziehung und versetzt der patriarchalischen Sexualmoral einen gleichsam modaltheoretischen Todesstoß. Diskursgeschichtlich ist es vor allem der Physiker Ernst Mach, der das Ich im Anschluß an Hume als bloßes Bündel sich verändernder Empfindungen versteht. Uber erkenntniskritische Allgemeinplätze hinaus führt Musils Poetik der Unterbrechung regelrecht vor, daß das Ich im Sinne Machs »unrettbar« ist.

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die »langsam draußen in den Schnee« hineinwandern, gilt auch für den Text: Er »geht und geht« und füllt das weiße Papier mit Schrift.23 Die Gedankenbewegungen des Textes und seiner Figur verlaufen jedoch nicht linear und gehorchen keiner Chronologie. Wie sich Claudines Bewußtseinsreise gegen »die beständige Bewegung nach vorwärts« richtet,24 die für das Eheleben zu zweit charakteristisch ist, kommt auch der Text selbst ins Stocken, unterbricht seine jeweilige argumentatio oder narratio und öffnet mit seinen zahlreichen Vergleichen fortwährend neue (Reise-)Möglichkeiten der Assoziation und Analogiebildung. Ahnlich wie bei Jean Paul also wird die Befreiung aus der bürgerlichen Ordnung der Ehe an ein digressives Erzählen gebunden, dem punktuelle Metaphern und wuchernde metonymische Ketten wichtiger als die >eigentliche< histoire sind. Wie im Siebenkäs wird durch die tropologischen Abschweifungen beides erreicht: Unterbrechung der histoire, Öffnung für semiologische Kontingenz und Ordnungsstiftung qua Kontiguität und Wiederholung. Die Schnee-Metaphorik zum Beispiel zieht sich durch den gesamten Text und stellt ebenso ein unendliches System von Zusammenhängen her wie die zahlreichen Analogien aus dem Register der Fauna oder des Akustisch-Musikalischen.25 Die Unterbrechung selber — als konsequent verfolgte Poetik — verleiht dem Text eine eigene, im Sinne Nietzsches künstliche Ordnung, in der das souverän gewordene Singuläre fortwährend aus dem Zusammenhang springt: Und es war sonderbar, wie wenn in dem leise rinnenden Faden des Geschehens plötzlich ein Glied zersprungen und aus der Reihe heraus in die Breite gefahren wäre, es erstarrten allmählich alle Gesichter und alle Dinge in einem zufälligen, plötzlichen Ausdruck, winkelrecht quer durch eine widergewöhnliche Ordnung untereinander verbunden. 26

Bis in die Syntax hinein wird diese Poetik der Unterbrechung regelrecht vorgeführt, wenn die Sätze beispielsweise genauso ins Stocken geraten wie die Hauptfigur: In der letzten Zeit, manchmal, vielleicht etwas häufiger, war dieses Zurücksehen, ein stärkeres Sichzurückbiegen nach der Vergangenheit. Claudines Treue lehnte sich dagegen auf, gerade weil sie keine Ruhe, sondern ein Kräftefreimachen war,

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Musil, Die Vollendung der Liebe, S. 168. Musil, Die Vollendung der Liebe, S. 164. Die Gedanken haben beispielsweise einen »tierhaften Schritt« (Musil, Die Vollendung der Liebe, S. 172); Claudine möchte leise schreien, »wie Katzen schreien vor Angst« (S. 172); ihre nackten Füße setzt sie »wie ein Tier auf den Boden« (S. 171); die Worte zappeln »in dem unausgesprochenen Gewirr der Meinungen« wie »Fische an den feuchtkalten Leibern anderer Fische« (S. 183); Claudines Hände starren »einander auf dem Boden wie zwei fünffach gegliederte Tiere an« (S. 189); und »wie eine schnuppernde Hündin« will Claudine sich an den Fußspuren erregen, die andere Hotelgäste auf dem Teppich hinterlassen haben (S. 189). Musil, Die Vollendung der Liebe, S. i84f. (Hervorh. S.M.).

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ein gegenseitiges Einanderstützen, ein Gleichgewicht durch die beständige Bewegung nach Vorwärts. Ein Hand in Hand laufen, aber manchmal kam, mitten darin, doch, plötzlich, diese Versuchung stehenzubleiben, ganz allein stehenzubleiben und um sich zu sehn. 27

Schon zu Beginn des Textes wird die Handlung durch einen auktorialen Erzählerkommentar unterbrochen bzw. stillgestellt: Während Claudine den Tee eingießt, widmet sich der Text selbstreflexiv dem »Stillstehen« der Zeit, 28 und die Gedanken zu diesem Thema werden wiederum dadurch unterbrochen, daß Claudine innerhalb der histoire den Tee absetzt. Diese wechselseitige Unterbrechung von Erzählung und Reflexion setzt sich auch im weiteren Verlauf des Textes fort. Die Gedankenbewegung wird allerdings vom zweiten Abschnitt an intern fokalisiert, d.h. an die Perspektive der Hauptfigur gebunden. Entsprechend ist auch die poetologische Selbstreflexion mit Claudines Eindrücken und Überlegungen vermittelt, die wiederholt um Zufall und Unterbrechung kreisen: [...] Ein Schrank, ein Tisch. Es geriet zwischen ihr und diesen gewohnten Dingen etwas in Unordnung, sie offenbarten etwas Ungewisses und Wankendes. Es war plötzlich wieder jene Häßlichkeit wie auf der Reise, keine einfache Häßlichkeit, sondern es griff ihr Gefühl gleich einer Hand durch die Dinge hindurch, wenn es sie anfassen wollte. Es taten sich Löcher auf vor ihrem Gefühl, als ob - seit jene letzte Sicherheit in ihr verträumt sich anzustarren begonnen hatte - in einer sonst nicht wahrnehmbaren Einbettung der Dinge in ihr Empfinden sich etwas gelockert hätte, und statt eines verketteten Klingens von Eindrücken wurde durch diese Unterbrechung die Welt um sie wie ein unendliches Geräusch. [...] Sie dachte, man gräbt eine Linie ein, irgendeine bloß zusammenhängende Linie, um sich an sich selbst zwischen dem stumm davonragenden Dastehn der Dinge zu halten; das ist unser Leben; etwa wie wenn man ohne Aufhören spricht und sich vortäuscht, daß jedes Wort zum vorherigen gehört und das nächste fordert, weil man fürchtet, im Augenblick des abreißenden Schweigens irgendwie unvorstellbar zu taumeln und von der Stille aufgelöst zu werden; aber es ist nur Angst, nur Schwäche vor der schrecklich auseinanderklaffenden Zufälligkeit alles dessen, was man tut....29

Innerhalb der histoire zeigt sich diese Zufälligkeit nicht nur an den stets auch anders möglichen Entscheidungen der Hauptfigur, sie zeigt sich nicht zuletzt daran, was Claudine widerfährt: Wie es der Zufall will, ist ausgerechnet die Postverbindung »unterbrochen«,30 so daß Claudines Hilferuf an den Ehemann: »Unsere Liebe, sag mir, was sie ist?«,31 nicht abgeschickt werden kann und Claudine den Brief schließlich zerreißt. So wenig sie eine Antwort von ihrem Mann erhält, so wenig erhält auch der Leser von Musils Erzählung eine Antwort 27 28 29 30 31

Musil, Musil, Musil, Musil, Musil,

Die Die Die Die Die

Vollendung Vollendung Vollendung Vollendung Vollendung

der der der der der

Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, Liebe,

S. S. S. S. S.

164. 157. i84f. 176. I75f.

257

auf Claudines Frage. Der Text bricht die hermeneutische Kommunikation mit dem Leser immer wieder ab. Auch die These, daß die Liebe — wie das der Zeit ausgelieferte Ich — nur ein Produkt des Zufalls ist, hilft als Antwort hermeneutisch nicht weiter. Mit dieser grundsätzlichen Kontingenz hängt zwar zusammen, daß gerade im Sich-Ausliefern an den Zufall, im untreuen Spiel mit der Möglichkeit anderer Partner, paradoxerweise die Vereinigung mit dem einen Mann, die geradezu mystische Feier der einen Liebe, vollzogen werden kann. Doch sowohl bei der Destillation einer solchen ursprungslogischen These aus der argumentatio des Textes wie bei der teleologischen Konstruktion einer Ehebruchsgeschichte wird das ausgeblendet, was für den Text gerade signifikant ist: das Wuchern der Metaphern und Vergleiche. Wie die »steifen Blumen des Teppichs«, auf dem Claudine in der Nacht kniet, steht auch die Bildlichkeit des Musilschen Gewebes »verständnislos« vor den Augen des Lesers.32 Diese Unverständlichkeit der Tropen macht aus Musils Erzählung einen genuin modernen Text und unterscheidet ihn fundamental von der Literatur um 1800. Anders als bei Musil sind Kontingenz und Unterbrechung bei Robert Walser nicht mehr an eine Rhetorik der Krise gebunden. Statt um emphatische Liebe oder die Unrettbarkeit des Ich geht es in Walsers Prosa ums Nächstliegende: den Akt des Schreibens. In dem Prosatext Artikel zeigt schon der Titel an, daß sich hier alles um Selbstreflexion und performance dreht. Denn der Witz dieses 1927 im Berliner Tageblatt erschienenen Artikels besteht darin, daß mit Hilfe der Unterbrechung Schreiben als eine Art Zeitvertreib inszeniert wird, bei dem mit jeder weiteren Zeile auch ein größeres Zeilenhonorar geschunden wird. Zeitvertreib ist bei Walser also eine (Text-)Strategie, die innerhalb der Ordnung von Chronologie und Ökonomie verbleibt. Zugleich aber wird die chronologische Ordnung dadurch unterlaufen, daß der Text auf unterschiedlichen Zeitebenen immer wieder vor- und zurückspringt. Und gerade dieses systematische Springen ist konstitutiv für die künstliche Ordnung des Textes. Der Artikel fängt folgendermaßen an: Bezüglich Frauen schaut in Wirklichkeit manches ganz anders aus, als wie sich's in Büchern oder auf dem Zeitungspapier ausnimmt, denke ich da so für mich. Es ist neun Uhr vormittags, und mein Blick fällt zufällig auf den Abrißkalender, den ich von der Herausgeberin, einer Nahrungsmittelfabrik, zugesandt erhielt.33

In der Setzung dieses Anfangs ist im Grunde alles »da«, was der Text im folgenden auf dreieinhalb Seiten entfaltet: Es sind die im weiteren Verlauf 32

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Musil, Die Vollendung der Liebe, S. 189. »Der Text zerfasert in ein unentwirrbares Wurzelwerk von Vergleichen und Metaphern, die sich zwar als Innenaufnahmen von Claudine ausgeben, darüber hinaus und präziser aber nicht mehr zu referentialisieren sind« (Baßler u.a., Historismus und literarische Moderne, S. 274). Robert Walser, Artikel, in: Ders., Es war einmal. Prosa aus der Berner Zeit 1927—1928, Frankfurt am M a i n 1986, S. 126f.

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immer wieder aufgegriffenen Themen >Frauen< und >Lesen< angeschlagen; die chronometrische Vermessung des Anfangs stellt die Schreibszene von vornherein in einen Zeitrahmen und weist damit auf die Angabe »halb zwölf Uhr« 34 am Schluß des Artikels voraus, so daß der inszenierte Zeitvertreib des Textes als zweieinhalbstündige Vormittagsbeschäftigung des Ich-Erzählers erscheint; solche Zeitangaben wiederum sind mit dem durchgängigen Thema >Mahlzeit und Essen< verbunden, das mit der genannten »Nahrungsmittelfabrik« erstmals ins Spiel gebracht wird; und mit dem zufälligen Blick auf den Abrißkalender wird gleich zu Beginn die Vorstellung nahegelegt, daß der Text im Sinne Quintilians »eher dem Zufall folg[t] als einem Plan«.35 Da sich Walsers Artikel\or allem durch seine Selbstreflexivität auszeichnet, wird diese Poetik des Zufalls dort zur Sprache gebracht, wo der Ich-Erzähler behauptet, daß sich »aus allerlei kleinen Geschehnissen, Vorfällen, Zufälligkeiten, Begegnungen [...] unsere zivilisierte Existenz zusammensetzt]«. 36 Denn mit den Zufälligkeiten und Begegnungen sind nicht nur Ereignisse innerhalb der histoire wie das Zusammentreffen mit der Schriftstellerin Ellen Key bei einem Diner gemeint, an das sich der Erzähler »plötzlich« 37 erinnert. Mit solchen Zufälligkeiten und Begegnungen wird darüber hinaus vor allem auf die metonymischen Verknüpfungen und Verschiebungen des Textes selber hingewiesen. Wie sich die zivilisierte Existenz und Erinnerung des Ich-Erzählers aus Zufällen zusammensetzt, so setzt sich auch der Artikel, im Laufe von dessen Genese sich das Ich allererst konstituiert, aus den Kontiguitäts- und Kontingenzbeziehungen der Sprache zusammen. Diese Kontiguitäts- und Kontingenzbeziehungen zerstören das, was man üblicherweise von einem >ordentlichen< Text erwartet: eine kontinuierliche und kohärente Gedanken- oder Handlungsführung. Dadurch, daß die erzählte Schreibgegenwart und die eingeschobenen Analepsen durch allgemeine Reflexionen unterbrochen werden und die am Anfang in Aussicht gestellte argumentatio »[b]ezüglich Frauen« immer wieder durch punktuelle, im Situativen verbleibende Erzählpassagen unterbrochen wird, verzichtet Walsers Artikel systematisch auf die Linearität und Folgerichtigkeit einer Handlungs- oder Argumentationslogik. Diese inszenierte Diskontinuität durch die wechselseitige Unterbrechung von narratio und sprunghafter argumenatio macht Walsers Artikel zu einem digressiven Text, auch wenn diese Unterbrechungen — streng narratologisch gesehen — nicht als Digressionen im Sinne von Pausen zu verstehen sind, weil das die Trennung von Erzähler und Figur bzw. Erzählzeit und erzählter Zeit voraussetzen würde. Die gesamte, dem Begriff der Pause zugrunde

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Walser, Artikel, S. 130. Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Buch V I I , S. 3. Walser, Artikel, S. 127. Walser, Artikel, S. 127.

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liegende Unterscheidung von histoire und discours bzw. von Erzählerreflexion und Figurenreflexion stößt bei Walsers Text an ihre Grenzen, weil dessen histoire gerade von der Produktion des vorliegenden Diskurses >handelt< und die Figur dieser histoire zugleich die Schreibinstanz ist, die von einer solchen Figur erzählt. Durch diese Engführung von erzählter Zeit und Erzähl- oder Schreibzeit verschafft sich der Text die Möglichkeit, gewissermaßen auf sich selbst zurückzublicken und sich daran zu erinnern, was »vorher« schon einmal »erwähnt« worden ist.' 8 Zwar gibt es auch >normale< Analepsen innerhalb der histoire, die in die biographische und historische Vergangenheit zurückspringen und den Text auf diese Weise mit vagen >realistischen< Referenzen ausstatten.39 Entscheidend ist jedoch für Walsers Artikel die Selbstreicrenz, die durch solche Text-Analepsen ermöglicht wird. So sprunghaft die plötzlich eingeflochtene Erinnerung an eine frühere Erwähnung erscheint, so verdichtend wirkt sie doch zugleich, weil sie den Text mit sich selbst verlinkt. Diese Technik des intratextuellen Verweises zeigt sich insbesondere an den metonymisch generierten Wiederholungen, derer sich der Text immer wieder bedient und die vor Augen führen, daß die Kontiguitäts- und Kontingenzbeziehungen der Sprache die üblichen Ordnungen von histoire und argumentatio unterminieren und zugleich ein dichtes Gewebe produzieren. So gesehen ist Quintilians Aussage, daß der ordo artificialis »ohne inneren Zusammenhang vieles wiederhol[t]«, 40 nicht nur als Kritik am Verlust eines >natürlichen< Ganzen, sondern auch als Hinweis auf die spezifische Ordnungsarbeit von Artefakten im Sinne Nietzsches zu verstehen. Einer der wichtigsten Wiederholungstäter des Textes ist der Signifikant »Tisch«: An einem Tisch begegnet der Ich-Erzähler der erwähnten Ellen Key, die ihm beim Diner eine geschälte »Birne [...] auf den Teller« legt.41 Der »Tisch« hängt also mit dem im Artikel allgegenwärtigen Thema >Essen< und über den intertextuellen Link der Birne, der auf den von Eva gereichten Apfel verweist und somit aus dem Text heraus in den Zeit-Raum des kulturellen Gedächtnisses springt, mit dem Thema >Frauen< zusammen. Vor allem aber ist der Tisch der Ort, an dem der Ich-Erzähler während der geschilderten Schreib-Szene, »diese Skizze hier skizzierend«, sitzt.42 Durch solche Verkettungen wird die sprunghafte Bewegung von Walsers Artikel textueW integriert. Hermeneutisch läßt sich dabei zwar kein aussagelogischer Zusammenhang

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Walser, Artikel, S. 128. So erinnert sich der Ich-Erzähler an die Schriftstellerin Ellen Key, neben der er »einst, das heißt vor soundso vielen Jahren, die für die Menschheit so merkwürdig geworden sind«, gesessen hat (Walser, Artikel, S. 127). Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Buch V I I , S. 3. Walser, Artikel, S. 127. Walser, Artikel, S. 127.

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herstellen. Immerhin aber gibt es einen metonymisch geregelten »Verkehr«43 der Wörter. Wie die Züge auf dem »Tableau«,44 das der Ich-Erzähler in der Bahnhofswirtschaft liest, zirkulieren auch die Signifikanten in Walsers Text, hin und her bzw. vor und zurück. Schon in dem Wort »Bezüglich« am Anfang des Artikels sind zum Beispiel die später erwähnten »Züge« enthalten. Doch so geregelt dieser nichtlineare Kreisverkehr der Signifikanten ablaufen mag — am Schluß des Textes werden die unendlich fortsetzbaren metonymischen Ketten über Frauen, Essen, »Gedeckte-Tisch-Frage[n]« und Abrißkalendersprüche doch wieder von der linearen Ordnung der Chronologie eingeholt und endgültig unterbrochen. Weil es mittlerweile »halb zwölf Uhr« ist, kann sich der schreibende Ich-Erzähler endlich »dem nahe bevorstehenden Mittagsmahl zuwenden«.45 Das Mittagessen also als Abschluß der Vormittagsbeschäftigung - so banal kann Teleologie in der Literatur des 20. Jahrhunderts sein, wenn die eigentliche Erfüllung woanders liegt: in der Lust an der puren Digression.

43 44

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Walser, Artikel, S. 127. Walser, Artikel, S. 127. Walser, Artikel, S. 130.

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