Olfaktorik und Entgrenzung: Die Visionen der Wienerin Agnes Blannbekin [1 ed.] 9783737014090, 9783847114093

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Olfaktorik und Entgrenzung: Die Visionen der Wienerin Agnes Blannbekin [1 ed.]
 9783737014090, 9783847114093

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Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter

Band 21

Begründet von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky Herausgegeben von Martin Baisch, Christoph Dartmann, Philippe Depreux und Jürgen Sarnowsky

Julia Seeberger

Olfaktorik und Entgrenzung Die Visionen der Wienerin Agnes Blannbekin

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Dissertation am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt (2019). Ausgezeichnet mit dem Romanikforschungspreis 2019 des Europäischen Romanik Zentrums e.V., gestiftet von der Saalesparkasse und Herrn Gerhard Mauch. © 2022 V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Stift Lilienfeld, Cod. 145, fol. 45r (Visiones cuiusdam virginis). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6231 ISBN 978-3-7370-1409-0

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

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Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität. I.1 Forschungsstand zu den Visionen und der Person Agnes Blannbekins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2 Geruch im Zentrum: theoretischer Rahmen . . . . . . . . . . . I.2.a Besonderheiten des Olfaktorischen . . . . . . . . . . I.2.b Geruchliche Alltagswelten der mittelalterlichen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.c Lesarten des Olfaktorischen . . . . . . . . . . . . . . I.2.c.1 Das Olfaktorische in der sozialen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . I.2.c.2 Das Olfaktorische in der rituellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . I.2.c.3 Synthese der Lesarten des Olfaktorischen und abgeleitete Hypothesen . . . . . . . . . I.3 Zur Sinnesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.a Entstehung eines Forschungsgebietes . . . . . . . . . I.3.b Schwerpunkte und Anliegen bisheriger Forschung . I.3.c Definitionsversuche und methodische Besonderheiten der Sinneserforschung . . . . . . . .

II. Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen . . . . II.1 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.a Neresheim, Bibliothek der Benediktinerabtei, verschollen (Ne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.b Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384, fol. 29r–76v (Zw) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

II.1.c

Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145, fol. 45ra-70rb (Li) . . . . . . . . . . . . . . II.1.d Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a, fol. 268r–272v, Hs. I 117, fol. 188r–195v und Hs. I 160, fol. 51r–55r . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.d.1 Mainz Hs. I 115a (M1) . . . . . . . . . . . . II.1.d.2 Mainz Hs. I 117 (M2) . . . . . . . . . . . . . II.1.d.3 Mainz Hs. I 160 (M3) . . . . . . . . . . . . . II.1.d.4 Resümee zu den in Mainz verwahrten Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.e Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Magdeburg 174, fol. 79v–89r (Ma) . . . . . . . . II.1.f Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v–158Ar (Ba) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.g Straßburg, Stadtbibliothek, verschollen (St) . . . . . II.1.h Resümee und Bewertung der Handschriften . . . . . II.1.i Zur Betitelung: Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis) . . . . . . . . . . . . . . II.1.j Tabellarische Übersicht zu den Kapiteln in den Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2 Editionen und Teilübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.a Die Editio princeps von Bernhard Pez (1731) und ihr Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.a.1 Biografie und Forschungsanliegen des Bernhard Pez . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.a.2 Editio princeps von 1731 . . . . . . . . . . . II.2.a.2.1 Leben und Offenbarungen der verehrungswürdigen Agnes Blannbekin: Ven. Agnetis Blannbekin, Quae sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Impp. Wiennae floruit, Vita Et Revelationes . . . . . . . II.2.a.2.2 Das Buch über die heiligen Wunder der Mutter Gottes Maria: Liber de Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ des Potho von Prüfening . . . . . . . II.2.a.3 Das Verbot der Editio princeps . . . . . . . II.2.b Teilübersetzungen von Karl Güntherode (1790) . . .

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Inhalt

II.2.c II.2.d II.2.e

II.2.f

Teilveröffentlichung von Auszügen aus Pez’ Editio princeps durch Joseph Chmel (1849) . . . . . . . . . Teilübersetzung von Oskar Panizza (1898) . . . . . . Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) – die Neuedition und Übersetzung von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englische Übersetzung von Ulrike Wiethaus »Agnes Blannbekin, Viennese Beguine: Life and Revelations« (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater . . . . . . . III.1 Agnes Blannbekin: Versuch einer Charakteristik . . . . . . . . III.1.a cuiusdam virginis: Name, geografische und soziale Herkunft sowie Sterbedatum . . . . . . . . . . . . . III.1.b Frühe Frömmigkeit und Frömmigkeitspraktiken . . III.1.c Lebensstand zwischen Begine und Franziskanertertiarin . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.d ›imitatio sanctorum‹ oder ›role model‹? . . . . . . . III.2 Beichtvater und Aufzeichner: Versuch einer Charakteristik . . III.2.a ego pauperculus et indignus: Annäherung an den Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.b Ankunft und Etablierung der Minoriten in Wien im 13. und 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.c Die Wiener Minoriten und ›ihre‹ Visionärin . . . . . III.3 Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.a Sprechen und Schreiben: die göttliche Legitimation . III.3.b Zeichen und Beweis: die Erfahrung der Vorhaut Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.c Mit Angst und Scham: zum weiblich religiösen Äußern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.d Einblick in den Interaktionsprozess . . . . . . . . . . III.3.e Das Beichtverhältnis: eine wechselseitige Beziehung . III.3.f Verwobene Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . IV. Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen . . . . . IV.1 Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.a Die Spielleute und die Sinne . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

IV.1.b IV.1.c

Die Sinne: Kommunikation nach außen und innen . Der Geruch(ssinn): Gottessehnsucht und Gottesbegierde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Entgrenzte Eucharistie: vom Küssen und Riechen . . . . . . . IV.2.a Etwa in der Art einer warmen, süß duftenden Semmel: Versuch einer übersinnlichen Geruchsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.b Als ob der Altar gebrannt habe: zur olfaktorischen Antithese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.c Wegen der Heiligkeit des Zelebrierenden: zur Reinheit der Hostie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3 Entgrenzte Autoritäten: gerochene Verfehlung in der Betrachtung der Minoriten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.a Auf der olfaktorischen Fährte: Geruch eines Bruders IV.3.b Zum Vergleich: duftende Mönche und stinkende Domherren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.c Um ein guter Minderbruder zu werden – eine Annäherung an die Ideale der Minderbrüder . . . . IV.3.d Verfehlungen eines Laien und Gnadenerweis . . . . IV.3.e Lachen und Blumen: Vergehen eines Bruders . . . . IV.3.f Gerochenes und Moralisches: entgrenzte Autoritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung – eine Verbindung zwischen Handschriften und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1.a Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . VI.1.b Editionen zu Visiones cuiusdam virginis VI.1.c Andere Editionen und Übersetzungen . VI.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Register . . . . . . . . . . . . . VII.1 Handschriften . . . . . . VII.2 Personen und Orte . . . VII.3 Moderne Autoren/-innen

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Danksagung

Die Beschäftigung mit den Visionen und dem Leben der Agnes Blannbekin ging von einer ersten Verwunderung aus: Die fromme, allein lebende Jungfrau verfolgte am Ende des 14. Jahrhunderts in Wien die Gewohnheit, Altäre zu küssen, wobei sie einen Geruch, zumeist einen Duft wie von warmen Semmeln, wahrnahm. Damit war meine Neugierde geweckt, die Rolle der Olfaktorik zu ergründen. Mit diesem Anliegen kam ich im Oktober 2015 zu Professor Dr. Markus Vinzent (Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Professor of the History of Theology am King’s College London), unter dessen Betreuung die vorliegende Abhandlung entstand und der ihre Ausarbeitung begleitete. Seine kritische Lektüre sowie seine konstruktiven Anmerkungen waren für mich immer eine Bereicherung und Ansporn, neue Blickwinkel einzunehmen und weiterführende Fragen zu entwickeln. Ihm gilt dafür mein ganz besonderer Dank. Die Möglichkeit, mich bereits bei meiner Masterarbeit auf die olfaktorische Fährte des Mittelalters zu begeben, verdanke ich Professor Dr. Klaus van Eickels, Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Otto-FriedrichUniversität Bamberg. Für die Zweitbetreuung meiner Dissertation danke ich ihm sehr. Die Dissertation entstand im interdisziplinären und internationalen Rahmen des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, dessen kolloquienbasierte Struktur mir bereits während des Arbeitsprozesses ermöglichte, zahlreiche Anregungen und Perspektiven von Kollegen/-innen unterschiedlicher Disziplinen aufzunehmen und diesen nachzugehen. Meine besondere Verbundenheit gilt in diesem Zusammenhang den Mitgliedern der Meister-Eckhart-Forschungsstelle des Max-Weber-Kollegs und meinen Mitdoktoranden/-innen, die mir das Kolleg als freundschaftlich-kollegialen Ort gestalteten. Im November 2018 reichte ich die Abhandlung als Dissertation am MaxWeber-Kolleg der Universität Erfurt ein und verteidigte sie im März 2019. Fi-

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Danksagung

nanzielle Unterstützung hatte meine Forschung zuvor im Rahmen der Thüringischen Landesgraduiertenförderung durch ein Christoph-Martin-Wieland-Stipendium der Universität Erfurt erfahren. Im Jahr 2019 wurde die Dissertation mit dem Romanikforschungspreis des Europäischen Romanik Zentrums e. V., AnInstitut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, ausgezeichnet; die Preisvergabe ermöglichen die Stiftung der Saalesparkasse und Gerhard Mauch. Die Überarbeitung des Manuskripts fiel in meine Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Mittelalterliche Geschichte der Universität Erfurt bei Professorin Dr. Sabine Schmolinsky, der ich für ihr offenes Ohr und ihre vielen Ratschläge herzlich verbunden bin. Zum Zwecke der Drucklegung wurde das ursprüngliche Manuskript geringfügig verändert und um jüngste Forschungsergebnisse ergänzt. Für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe »Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter« bin ich den Herausgebern, besonders Professor Dr. Christoph Dartmann, zu Dank verpflichtet. Für die Mühen des Korrekturlesens bedanke ich mich bei meinen Kollegen/innen Moritz Bauerfeind, Dorothee Hüls, Hannah Peaceman und besonders bei Astrid Reinecke. Michele Spadaccini danke ich für die wertvolle Unterstützung in den verschiedenen Entstehungsphasen der Dissertation. Ebenso sei an dieser Stelle vielen anderen Freunden/-innen gedankt, die nicht müde wurden, sich immer wieder nach Agnes Blannbekin zu erkundigen, und mir somit Raum gaben, meine Forschungsarbeit und Ideen zu formulieren und zu diskutieren. Zu den ersten Lesern/-innen meiner Forschungsarbeiten und auch dieser Dissertation zählen meine Eltern, Irmgard Merk-Seeberger und Bernd Seeberger. Während meiner Studien- und Promotionszeit haben sie mich auf vielfache Weise unterstützt und gefördert. Ohne ihre anhaltende Begleitung und ihren Rückhalt wäre dieser Weg nicht sorglos möglich gewesen. Erfurt im Oktober 2021

Abkürzungen

AA.SS. ADB Anm. J. S. Bibl. Cod. fol. Hs. LexMA LThK Migne, PL

MGH SS SS rer. Germ. NDB UB

Acta Sanctorum Allgemeine Deutsche Biographie Anmerkung von Julia Seeberger Bibliothek Codex folio Handschrift Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche Patrologiae Latinae cursus completus, Seria I: Latina, hrsg. Jean P. Migne, 1–221, Paris 1844–1855, zitiert nach der Patrologia Latina Database (elektronische Version der Erstausgaben), verfügbar unter: http://pld.chadwyck.co.uk/?instit1=bengurion&instit2=t3sting Monumenta Germaniae Historica Scriptores Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi Neue Deutsche Biographie Universitätsbibliothek

I.

Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität

Von einer »schweigende[n] Geruchslosigkeit« in der Geschichtswissenschaft sprach der französische Annales-Historiker Alain Corbin in seinem erstmals 1982 erschienenen Werk »Pesthauch und Blütenduft« und gab gleichsam als Appell für kommende historische Forschungen mit auf den Weg, dem Olfaktorischen in der Betrachtung der Vergangenheit mehr Raum zu geben.1 Aufgabe einer kulturhistorischen Forschung ist es nicht, die Rekonstruktion einer vergangenen olfaktorischen Alltagsrealität vorzulegen. Vielmehr ist es nötig, die Rolle des Olfaktorischen in der jeweiligen Gesellschaft zu erklären. Bei der Beschreibung von Gerüchen handelt es sich nicht um eine überzeitliche Aussage, sondern um einen Einblick in eine Zeit und ihren Sinnenhorizont. Das christliche Mittelalter scheint zunächst von einem zweipoligen Geruchssystem dominiert gewesen zu sein: Wohlgeruch wurde zum einen genutzt, um die Epiphanie oder zumindest die Nähe Gottes auszudrücken. Zum anderen wurde die Verbindung zwischen Wohlgeruch und Göttlichkeit genutzt, um mit Beschreibungen von Wohlriechendem Menschen oder soziale Gruppen zu charakterisieren, die ein im christlichen Sinne moralisches Leben führten. Deshalb werden in hagiografischen Quellen beispielsweise Leichname von Heiligen erwähnt, die 1 Im Jahr 1982 erschien im französischen Original »Le miasme et la jonquille«, worin Alain Corbin am Beispiel von Paris im 18. und 19. Jahrhundert die Geschichte der Geruchswahrnehmung, des Gestanks, der Hygiene und ihrer sozialen Folgen schildert. Neben den sich etablierenden Parfümeurs und dem Gelehrten-Diskurs über Gerüche behandelt er auch die gesellschaftliche Vorstellung und Verbindung zu Geruch und Gestank. In Deutschland lag das Buch ab 1984 unter dem Titel »Pesthauch und Blütenduft« vor. In seiner Einleitung fragt Corbin mit Blick auf die Geruchswahrnehmung: »Wie kam es zu jener geheimnisvollen und beunruhigenden Deodorisierung, die uns unschuldig gemacht hat gegenüber allem, was die schweigende Geruchslosigkeit unserer Umgebung durchbricht?« (Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Ungekürzte Ausgabe. Aus dem Französischen von Grete Osterwald (Fischer-Taschenbücher, 4402), Frankfurt am Main 1993 (1988), S. 13). Diese Überlegung greift der Soziologe Jürgen Raab auf und formuliert daraus das »olfaktorische Schweigen« zur Bezeichnung des Forschungszustandes, der in den Kulturwissenschaften hinsichtlich des Geruchs existiere; siehe dazu Jürgen Raab, Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung, Konstanz 2001, S. 27.

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sich durch Wohlgeruch auszeichneten, obwohl die stinkenden Gase des zu erwartenden Verwesungsprozesses einer solchen Zuschreibung entgegenstanden. Als Antithese dazu bildete sich die Zuschreibung von Gestank heraus, wobei Gestank in Verbindung zum Teufel gesetzt und dementsprechend zur Beschreibung unchristlicher Handlungen und Lebensführung genutzt wurde. Für eine mittelalterliche Gesellschaft bedeutete dies, dass die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft eng an die Wahrnehmung des Geruchs geknüpft war. Was hieß das jedoch für die Person oder Gruppe, die olfaktorisch wahrgenommen wurde? Und welche Rolle fiel der Person zu, die roch und damit aktiv ein Urteil über ihre Zeitgenossen und Umstände fällte? Besonders mystische Texte sind aufschlussreich, da sie Zeitgenössisches bewerten und dies oft aus einer individuellen Perspektive heraus tun. Gleichzeitig eröffnet die Untersuchung mystischer Literatur neue Perspektiven: Neben dem Einblick in die der Mystik eigene Christus- oder Gotteserfahrung bzw. -begegnung wird der Blick in Diesseits- und Jenseitsvorstellungen ermöglicht. Gleichsam bietet der geruchsgeschichtliche Zugang einen neuartigen Blick und dann einen Schlüssel für das Verständnis und die Interpretation dieser Visionen. Ein herausragendes Beispiel solcher Visionen stellen diejenigen der Agnes Blannbekin dar, da im Vergleich zu anderen frauenmystischen2 Texten darin Geruchsbeschreibungen eine wesentliche Rolle einnehmen. Ebenso zeigt sich, dass ein diametrales Schema des Olfaktorischen bei Agnes Blannbekin nicht alle Bedeutungsebenen fasst. Denn Geruch und Gestank kommen in den Visionen nicht nur als Bewertungen einer Personengruppe vor, sondern die Verwendung von Olfaktorischem ist vielschichtiger und eng mit der Person der Agnes Blannbekin als einer aktiv Handelnden verbunden.

2 In den letzten Jahren wurden Bedenken gegen die Verwendung des Wortes »Frauenmystik« in wissenschaftlichen Abhandlungen formuliert. 2017 fasst diese die Mediävistin Racha Kirakosian in ihrer Einleitung zur Untersuchung der Vita Christinas von Hane zusammen; siehe dazu Racha Kirakosian, Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge, 144), Berlin [u. a.] 2017, S. 14. Kirakosian, die sich gegen eine geschlechterspezifische Lesart ausspricht, verweist dabei auf die komplette Verwerfung des Begriffs »Frauenmystik«, wie sie Ekkehard Borries für seine Beschreibung des Schwesternspiegels vornimmt; siehe dazu Ekkehard Borries, Schwesternspiegel im 15. Jahrhundert. Gattungskonstitution, Editionen, Untersuchungen, Berlin [u. a.] 2008, S. 451–454. Gleichzeitig erwähnt sie die gemäßigtere Position, die sich bereits bei Kurt Ruh finden lässt, der unter frauenmystischen Texten solche versteht, die »für Frauen geschrieben oder von Frauen durch Diktat oder Bericht« entstanden sind; siehe dazu Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 17. Jenseits der Diskussion pro oder contra eine Verwendung des Begriffs »Frauenmystik« diskutiert das Kapitel III.3 dieser Abhandlung die verwobene Kommunikation und den Arbeitsprozess bei der Niederschrift der Visionen der Agnes Blannbekin.

Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität

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Obgleich in der Geschichtswissenschaft, vor allem in der Sozialgeschichte, der Vergleich als methodischer »Königsweg«3 beschrieben wird, führt ein solcher zwischen mystischen Texten, in die sich die Visionen der Agnes Blannbekin als ein Vergleichsobjekt zwischen andere einreihen, als Lösungsansatz nicht weiter. Ziel eines solchen Vorgehens wäre das Erzeugen von einordnenden Perspektiven, mit denen die Visionen der Agnes Blannbekin mit anderen verglichen, ihnen zugeordnet und dann bewertet werden können. Durch die Abstraktion der daraus gewonnenen Ergebnisse ließen sich anschließend Typologien oder Kategorien von Olfaktorischem entwickeln und deren Interpretation innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft nachzeichnen. Eine solche makrohistorische Betrachtung kann jedoch die engen Verbindungen zwischen riechender Person und Geruch kaum beachten und bleibt bei der Interpretation hinsichtlich der Verwendung von Olfaktorischem im Einzelnen unzulänglich. Eine Einzelfallbetrachtung scheint hier weiterführender. Obgleich Makro- und Mikrogeschichte nicht als Gegensätze verstanden werden müssen,4 liegt der Ansatz der Mikrogeschichte als Lösungsansatz hier durchaus näher. Wie besonders eindrücklich von Carlo Ginzburg in »Der Käse und die Würmer«5 vorgeführt wird, verkleinert die Mikrogeschichte den Beobachtungsmaßstab und richtet den Blick auf die/ den Einzelne/-n,6 ihre/seine Umgebung und vor allem die Abweichungen vom 3 So fasst es Hartmut Kaelble in seinem Artikel zum Wandel des Historischen Vergleichs zusammen und verweist auf die Vorliebe von Sozialhistorikern/-innen (u. a. Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler) aus der sogenannten Bielefelder Schule, die den Vergleich als Methode präferieren; siehe dazu Hartmut Kaelble, Historischer Vergleich, Version 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 14. 08. 2012, https://docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich (zuletzt aufgerufen am 10. 11. 2020). 4 Zur Verknüpfung von Mikro- und Makroansätzen in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie zur Überwindung eines konstruierten Antagonismus siehe u. a. Monika Krause, Recombining Micro/Macro: The Grammar of Theoretical Innovation, in: European Journal of Social Theory 16,2 (2013), S. 139–152 oder Jacques Revel, Multiple Narratives: Scale and Discontinuity in History, in: Unsettling History: Archiving and Narrating in Historiography, hrsg. Sebastian Job und Alf Lüdtke, Frankfurt am Main 2010, S. 49–62. 5 1976 veröffentlichte der italienische Historiker Carlo Ginzburg sein Werk »Il formaggio e i vermi«, das seit 1979 auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600« vorliegt; zur gegenwärtig neuesten deutschsprachigen Ausgabe siehe Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber, 6. Auflage (Wagenbachs Taschenbücher, 444), Berlin 2007. In seiner Studie zeichnet Ginzburg die Gedankenwelt des friaulischen Müllers Menocchio nach, der wegen seiner ungewöhnlichen Ansichten zur Beschaffenheit der Welt und seiner religiösen Vorstellungen im 16. Jahrhundert mehrfach von der Inquisition befragt und letztlich deshalb als Ketzer verurteilt wurde. 6 Giovanni Levi formuliert in seinem Aufsatz »On Microhistory« diese Reduktion des Beobachtungsmaßstabes: »Microhistory as a practice is essentially based on the reduction of the scale of observation, on a microscopic analysis and an intensive study of documentary material« (Giovanni Levi, On Microhistory, in: New Perspectives on Historical Writing, hrsg. Peter Burke, University Park, Pennsylvania 1992, S. 93–113, hier: S. 95).

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Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität

Normalen. Durch eine kleinteilige und dennoch umfassende Rekonstruktion eines Einzelfalles will die Mikrogeschichte Handlungsmöglichkeiten der/des Einzelnen sichtbar machen.7 Der hier gewählte Zugang zentriert sich auf Agnes Blannbekin und ihre Visionen, ist aber in seinem Erkenntnisinteresse spezifischer, denn es geht darum, die Rolle und Bedeutung des Olfaktorischen in den Visionen zu erklären. Dafür werden die Visionen und die Person der Riechenden, ihr soziales Umfeld, ihre visionäre Gabe, der Weg der Berichterstattung ihrer Visionen sowie besonders ihre Handlungspotenzialität (»agency«8) ins Zentrum gerückt. Nur so scheint es möglich, die Bedeutung von Geruch sowie seine Verwendung und Wirkkraft in den Visionen der Agnes Blannbekin erklärbar zu machen. Ausgangspunkt der Analyse ist das Individuum Agnes Blannbekin und dessen Handlungspotenzialität im religiösen Bereich. Für ein solches Vorgehen zielführend ist der Ansatz der Erfurter Kollegforschergruppe zur religiösen Individualisierung in historischer Perspektive.9 Mit Blick vor allem auf den Bereich der römischen Antike fragt Jörg Rüpke, ob individuelle Spielräume des religiösen Handelns auf religiöse Traditionen oder Normen einwirken könnten und, wenn dem so sei, wel-

7 Zu den Anliegen der Mikrogeschichte siehe auch Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hrsg. Hans-Jürgen Goertz, 3. Auflage, Hamburg 1998, S. 628–649. 8 Der Begriff »agency« wird hier in Anlehnung an die von dem Briten Anthony Giddens formulierte Sozialtheorie verwendet. In seinem erstmals 1984 erschienenen Werk »The Constitution of Society« stellt Giddens eine Strukturationstheorie vor, die im Verhältnis zwischen Gesellschaftsstruktur und der/dem Einzelnen eine »Dualität der Struktur« annimmt. Dabei steht vor allem das Handeln der/des Einzelnen im Mittelpunkt, das Auswirkungen auf die Struktur haben kann und in dem sich gleichzeitig die soziale Struktur spiegelt, in die es eingebettet ist; siehe dazu vor allem das erste Kapitel »The Agent, Agency« von Anthony Giddens, The Constitution of Society: Outline of the Theory of Structuration, Berkeley [u. a.] 1984, hier: ab S. 9. Feministische Historiker/-innen formulieren in ihren Forschungsanliegen die Analyse der »agency« von Frauen als zentrales Erkenntnisinteresse der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Die Historikerin Rebekka Habermas zeigt auf, wie der Einfluss der historischen Anthropologie, die gesellschaftliche Prozesse als Wechselspiel zwischen Struktur, Wahrnehmung und Handlungen verstehe, den Blick auf Frauen als Akteurinnen gerichtet habe; siehe dazu Rebekka Habermas, Geschlechtergeschichte und ›anthropology of gender‹. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 1,3 (1993), S. 485–509, hier: S. 497. Den Begriff »agency« ins Deutsche zu übersetzen, wirft einige Schwierigkeiten auf: Denn »agency« umfasst nicht nur die Möglichkeiten, eine Handlung durchzuführen, also Handlungsspielräume zu gestalten, sondern auch diejenigen, eine gewisse Handlungsmacht zu besitzen. Die Übersetzung von »agency« in »Handlungspotenzialität« fasst diese Ebenen weitestgehend; dennoch scheint die Verwendung des Englischen hier weiterhin naheliegend. 9 Dieser Ansatz wurde von 2008 bis 2018 in der DFG-Kollegforschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« mit Jörg Rüpke als Sprecher am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt entwickelt.

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che.10 Dies heißt nicht, dass die Beantwortung der Frage keine Beachtung größerer Strukturzusammenhänge erfordert. Zugleich bedarf es auch der Erforschung des Handlungsrahmens, denn, so führt Rüpke später aus: »Individualisierung ist untrennbar mit Sozialisation verbunden«11. Auch wenn Rüpke seine Überlegungen an der römischen Antike exemplifiziert, können diese durchaus auf das europäische Mittelalter übertragen werden, in dem sich das Christentum bereits etabliert hatte.12 Die Analyse der Visionen und religiösen Handlungen der Agnes Blannbekin ist daher verflochten mit einer Analyse des Kontexts, hier der spezifischen Lebenswelt, ihrer Normierungen und herrschenden Weltbilder, aber zugleich auch ihrer geruchlichen und sozialen Realitäten. Eine erste Beschäftigung der Verfasserin mit Agnes Blannbekin förderte wiederkehrendes Handbuchwissen zutage, wonach Agnes Blannbekin die einzige bekannte Begine im Gebiet des heutigen Österreichs und mit ihrer stark auf die Person Christi und das Corpus Christi zentrierten Frömmigkeit eine Repräsentantin spätmittelalterlicher weiblicher Laien-Frömmigkeit sei.13 Außerdem sind Lebensgeschichte und Visionen der Agnes Blannbekin weitaus unbekannter als im Falle anderer mittelalterlicher Mystikerinnen, wie etwa Elisabeth von Schönau, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn oder Gertrud von Helfta. Sicherlich taucht der Name Agnes Blannbekin in Standardwerken zu mittelalterlicher (Frauen-)Mystik auf;14 erwähnt 10 Bereits im Vorwort seines 2011 erschienenen Werkes zu »Aberglauben oder Individualität« formuliert der Philologe und Religionswissenschaftler Jörg Rüpke die zentralen Fragen zur Individualisierung im religiösen Bereich in der Antike. Er fragt u. a., ob Religion ein Medium von Individualisierung sein könne. Individualisierung versteht er dabei als Entwicklung von Individualität; siehe dazu Jörg Rüpke, Aberglauben oder Individualität. Religiöse Abweichung im römischen Reich, Tübingen 2011, S. 3–4. 11 Rüpke, Aberglauben (wie Anm. 10), S. 147. 12 Zur Einführung von »Individualität als Begriff historischer Forschung« unterstreicht Rüpke in einem 2012 publizierten Aufsatz, dass mit dem Begriff der Individualität keine Schablone für jede zeitliche Epoche geliefert sei. Im Gegenteil, das, »[was] jeweils als ›Individualität‹ bezeichnet wird, umfasst verschiedene Phänomene in sehr unterschiedlichen Konstellationen« (Jörg Rüpke, Religiöse Individualität in der Antike, in: Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, hrsg. Bernd Janowski, Berlin 2012, S. 199–219, hier: S. 203). 13 Siehe dazu beispielsweise Wolfgang Stammler, Blannbekin, Agnes, in: Neue Deutsche Biographie, 2: Behaim – Bürkel, hrsg. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1955, S. 287. 14 Vom 19. Jahrhundert an wird Agnes Blannbekin in zahlreichen enzyklopädischen Schriften und Überblickswerken, wie dem »Lexikon für Theologie und Kirche«, dem »Verfasserlexikon«, biografischen Nachschlagewerken sowie Einführungen in die deutsche Mystik oder die deutsche Literatur des Mittelalters, erwähnt. Im »Verfasserlexikon« widmet Kurt Ruh Agnes Blannbekin einen Eintrag; siehe dazu Kurt Ruh, Blannbekin, Agnes, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 1: A – Col, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hrsg. Kurt Ruh, Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger und Franz Josef Worstbrock, Redaktion: Christine Stöllinger und Kurt Illing, Berlin [u. a.] 1978,

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werden dabei aber meist nur ihre Visionen zur Vorhaut Christi und das damit im Zusammenhang stehende Verbot der gesamten Aufzeichnung nach der Veröffentlichung der Editio princeps, die der Melker Benediktiner Bernhard Pez im Jahre 1731 vornahm. Vor allem der österreichische Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher verhilft Agnes Blannbekin seit den 1980er Jahren mit Aufsätzen und einer erneuten Edition ins Bewusstsein der historischen Forschung.15 Schemenhafte und stereotype Nachzeichnungen dienen wenig zur Ergründung der Agnes Blannbekin und ihrer Visionen, weshalb basale Fragen neu gestellt werden müssen: Wer war Agnes Blannbekin? In welches religiöse und zeitgenössische Umfeld sind ihre Visionen eingebettet? Wer hat sie aufgeschrieben oder gar geschrieben und welches Ziel wurde damit verfolgt? Sp. 887–890. Ebenso wurde Agnes Blannbekin in die »Neue Deutsche Biographie« sowie bereits in die »Allgemeine Deutsche Biographie« aufgenommen; siehe dazu Anm. 15 bzw. Johann Friedrich Ludwig Theodor Merzdorf, Blanbeckin, Agnes, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 2: Balde – Bode, hrsg. Historische Commission bei der Königl[ich Bayerischen] Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1875, S. 688. Auch Joseph von Görres erwähnt sie und veröffentlicht zwei Kapitel der Visionen; siehe dazu Joseph von Görres, Die christliche Mystik, 2[: 4. Buch. Eintritt in die Kreise höheren Zuges und Triebes, so wie höherer Erleuchtung. 5. Buch. Fortstreben zum Ziele in Liebe und höherer Erleuchtung durch die Ecstase.], Regensburg [u. a.] 1837, hier: 5. Buch, S. 242–245. Außerdem ist sie im »Deutsche[n] Literatur-Lexikon« zu finden; siehe dazu Mike Malm, Blannbekin: Agnes (Blanbekin), in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen, 1: Das geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, hrsg. Wolfgang Achnitz, Redaktionelle Leitung: Bruno Jahn, Berlin [u. a.] 2011, Sp. 1050–1052. Kritisch verweist Dinzelbacher auf die große Anzahl der in den Einträgen enthaltenen tradierten Irrtümer; dies betrifft vor allem solche bezüglich des Lebensstandes und der vermeintlichen Ordenszugehörigkeit sowie des Sterbedatums; siehe dazu Peter Dinzelbacher, Einleitung, in: Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315), hrsg. und übersetzt von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 419), Göppingen 1994, S. 3–42, hier S. 35–38. Bereits vor dieser Neuedition erwähnt Dinzelbacher Agnes Blannbekin; siehe dazu Peter Dinzelbacher, Agnes Blannbekin, in: Mein Herz schmilzt wie Eis am Feuer. Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters in Porträts, hrsg. Johannes Thiele (Wege der Mystik), Stuttgart 1988, S. 203–212. Im Jahr 1989 veröffentlicht Dinzelbacher dann einzelne Kapitel der hier untersuchten Quelle mit Übersetzung in Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Peter Dinzelbacher, Darmstadt 1989, S. 170–181. In späteren Einführungswerken zur christlichen Mystik im Abendland erwähnt sowohl Dinzelbacher als auch Ruh Agnes Blannbekin – ohne die bis dahin wiederkehrenden fehlerhaften Angaben. Des Weiteren wird Agnes Blannbekin erwähnt in Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, 3: Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200–1350). Aus dem Englischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, Freiburg im Breisgau [u. a.] 1999, S. 327–331 und Ulrike Stölting, Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse, Mainz 2005, S. 318–320: »5.3 Agnes Blannbekin. Eine Wiener Begine an der Schwelle zum 14. Jahrhundert«. 15 Siehe dazu Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315), hrsg. und übersetzt von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 419), Göppingen 1994.

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Ein Weg zur Beantwortung dieser Fragen führt über die Quellen, weshalb in dieser Studie die Überlieferungssituation untersucht werden wird. Der einzige Beleg für die Existenz der Agnes Blannbekin sind ihre Visionen, die ihr Beichtvater niederschrieb – der sich als Bruder aus dem Orden der Minderbrüder (frater ordinis fratrum minorum) vorstellt16 – und die in Latein mit vereinzelt vulgärsprachlichen Wortgruppen sowie latinisierten Begriffen vorliegen. Die Visionen wurden bei der Aufzeichnung chronologisch nach dem Lauf des Kirchenjahres angeordnet und umfassen mehrere Lebensjahre, teilweise mit Rückblicken. Auf Grundlage einer Sterbenotiz, die als Nachtrag aus dem 14. Jahrhundert einer heute verschollenen Handschrift hinzugefügt wurde, werden der Name Agnes Blannbekin und ihr Sterbedatum im Jahr 1315 abgeleitet.17 Wie später zu zeigen sein wird, bereitet die Feststellung ihrer Identität (und, damit zusammenhängend, auch ihrer sozialen und geografischen Herkunft), ihrer Autorschaft und der Bezeichnung ihres Werkes Schwierigkeiten, ebenso die Identifikation des ihre Visionen Aufzeichnenden und die ihres Beichtvaters als Ermenricus. Aufgrund dieser Zweifel und um gleichzeitig zu betonen, dass Agnes Blannbekin als eine aktiv Handelnde und Protagonistin der vorliegenden Quelle zu den Rezipienten/-innen spricht, wird ihr Name stets kursiv angeführt.

16 Diese Selbstbezeichnung des Beichtvaters findet sich im Prolog der meisten Handschriften, die die Visionen enthalten. Eine Ausnahme stellt die Basler Abschrift dar, denn hier fehlen die Nennung der Ordenszugehörigkeit und die franziskanische Betitelung frater. Der Schreiber stellt sich lediglich als sehr arm und unwürdig – ego pauperculus et indignus ea, quae a sanctis et fide – dar, siehe dazu Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v–158r, hier: fol. 154v. Auch in der durch Pez überlieferten, heute allerdings verschollenen Neresheimer Abschrift, die von Pez in das 14. Jahrhundert datiert wird, findet sich bereits die Selbstbezeichnung ohne den Hinweis auf die Minderbrüder: Lediglich mit den Worten ego pauperculus et indignus …* ea, quae a sanctis et fide dignis personis, […] verweist der Schreiber hier auf sich selbst; siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, Quæ sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Imp[eratoribus] Wiennæ floruit, Vita Et Revelationes Auctore Anonymo Ord[inis] F[ratrum] Min[orum] è Celebri Conv[entu] S[anctæ] Crucis Wiennensis, ejusdem Virginis Confess[ario]. Accessit Pothonis Presbyteri & Monachi celeberr[imi] Monast[erii] Prunveningensis, nunc Priflingensis, prope Ratisbonam, Ord[inis] S[ancti] B[enedicti] qui seculo Christi XII. claruit, Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ, hrsg. Bernhard Pez, Wien 1731, S. 2. Eine genauere Analyse folgt im Kapitel III.2.a dieser Untersuchung. 17 Die Sterbenotiz ist in der Editio princeps von Bernhard Pez aus dem Jahre 1731 abgedruckt. Sie lautet: Anno domini MCCCXVIII. minùs tribus annis obiit hæc Virgo in X. Kal. Maji, * Agnes Blannbekin, filia cujusdam rustici, [et] morabatur Wiennæ, [et] erat de confessione Minoris cujusdam sancti Fratris. Mittels einer Randnotiz verweist Pez darauf, dass dieser Nachtrag ab dem Namen Agnes Blannbekin von einer anderen Hand aus dem 14. Jahrhundert geschrieben sei als die Passage davor: »* Sequentia addita sunt ab alia manu, seculi tamen XIV« (Ven[erabilis] Agnetis (wie Anm. 16), S. 302).

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Zum Aufbau dieser Abhandlung Um den Entstehungsrahmen, den Prozess der Arbeit zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater sowie die Rolle und Funktion des Geruchs in den Visionen zu ergründen, ist die vorliegende Abhandlung in folgende Kapitel gegliedert: Die Einleitung wird zunächst mit einer Übersicht über die wichtigen Repräsentanten der Literatur zu den Visionen einer gewissen Jungfrau fortgesetzt (I.1). Danach rückt Geruch ins Zentrum des Erkenntnisinteresses (I.2), wobei er aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird: Erstens erfolgt ein Überblick zu olfaktorischen Besonderheiten (I.2.a). Dabei geht es weniger um die biochemische Konstitution von Geruch, vielmehr wird er als Mittel menschlicher Kommunikation vorgestellt, weshalb die somatischen und psychologischen Besonderheiten des Olfaktorischen im zwischenmenschlichen Miteinander im Vordergrund stehen. Des Weiteren wird das europäische Mittelalter als temporaler und geografischer Rahmen betrachtet (I.2.b), denn die olfaktorische Alltagsrealität unterschied sich gravierend von der heutigen geruchlichen Alltagssituation. Damit sei nicht die Vorstellung von einem stinkenden Mittelalter heraufbeschworen, sondern diejenige einer seinerzeit dauerhafteren Geruchsgewöhnung an konstante olfaktorische Umwelten (Habitualisierung) nähergebracht. Dabei gilt es außerdem zu beachten, dass die Kategorien ›gut-‹ und ›schlechtriechend‹ im Vergleich zu heute auf ein andersartiges Geruchsspektrum referierten. Daran schließen theoretische Überlegungen zum Olfaktorischen an (I.2.c), die auf der Grundlage von einerseits soziologisch-kulturanthropologischen (I.2.c.1) und andererseits religionshistorischen (I.2.c.2) Überlegungen in Hypothesen münden (I.2.c.3). Anknüpfend daran, erfolgt eine Vorstellung der Sinnesgeschichte (I.3), ihrer Genese (I.3.a) und Anliegen (I.3.b) als historische Subdisziplin sowie des Untersuchungsgegenstandes und der Methodik in der Sinnesforschung allgemein (I.3.c). Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Überlieferungssituation, wobei zunächst alle bisher bekannten Handschriften vorgestellt und bewertet werden (II.1.a bis II.1.h). Zur Bezeichnung für das gesamte Opus der Visionen der Agnes Blannbekin wird vorgeschlagen, den Titel Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis) zu verwenden.18 Eine Begründung dieser Entscheidung (II.1.i) schließt sich an die Betrachtung der Handschriften ebenso an wie 18 Die Visionen der Agnes Blannbekin werden deshalb nachfolgend im Haupttext unter dem Titel »Visionen einer gewissen Jungfrau – Visiones cuiusdam virginis« und in den Fußnoten mit dem Kurztitel »Vis. c. virg.« angeführt. Für die Zitation von Textstellen aus den Visionen der Agnes Blannbekin ist die 1994 erschienene Edition Dinzelbachers und Vogelers als Grundlage des lateinischen Textes sowie der deutschen Übersetzung verwendet worden. Ebenso ist die darin enthaltene Kapiteleinteilung (unter Verwendung der Abkürzung »Cap.«) übernommen worden, um eine bessere Überprüfbarkeit – auch im Hinblick auf andere Publikationen – zu ermöglichen.

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eine tabellarische Übersicht zu den Kapiteln des Werkes in den Handschriften (II.1.j). Darauf folgt eine kommentierte Übersicht über die vorhandenen Editionen (II.2), beginnend mit der Editio princeps von 1731 bis zu den Teilübersetzungen (II.2.a bis II.2.f). Eine Charakteristik der Agnes Blannbekin und ihres Beichtvaters zu zeichnen, ist Anliegen des dritten Kapitels, das zunächst Akteurin und Akteur getrennt sowie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen und Gegebenheiten betrachtet (III.1 und III.2). Anschließend werden die Formen der Interaktion untersucht, die in diesem Falle nicht nur zwischen Seelsorge- und Arbeitsverhältnis changieren, sondern eine verwobene Kommunikation darstellen (III.3). Mithilfe der Begriffe ›Olfaktorik‹ und ›Entgrenzung‹ erfolgt im vierten Kapitel eine Analyse der Visionen einer gewissen Jungfrau. Zunächst werden alle Sinne sowie deren Bedeutung und Rangordnung bei Agnes Blannbekin vorgestellt (IV.1). Außerdem wird erläutert, dass die Sinne ihr Kommunikation nach innen und außen ermöglichen (IV.1.b) sowie bei ihr mit Konzepten geistiger und körperlicher Sinne korrespondieren. Die Konzentration auf den Geruchssinn geschieht rasch, vor allem bei der Betrachtung der Kommunikation und Begegnung mit Gott (IV.1.c). Nachfolgend wird das Olfaktorische mit der Eucharistie verknüpft (IV.2). Agnes Blannbekin begegnet den Rezipienten/-innen dabei als eine aktiv Handelnde, die individuelle Frömmigkeitspraktiken entwickelte und nutzte, um die Präsenz Christi zu erfahren. Im Zuge dessen muss auch die zeitgenössische Diskussion zur Idee der Reinheit der Hostie thematisiert werden (IV.2.c). Das anschließende Kapitel folgt der olfaktorischen Fährte eines Bruders (IV.3.a). Um diese zu entschlüsseln, bedarf es zum einen eines textimmanenten Vergleichs mit anderen Geruchsbeschreibungen innerhalb der Visionen einer gewissen Jungfrau und zum anderen eines vergleichenden Blicks auf Geruchsbeschreibungen aus mystischen Texten Hildegards von Bingen und Mechthilds von Magdeburg. Zurückkommend zur Olfaktorik der Agnes Blannbekin, muss dieses Geruchskonzept vor dem Hintergrund des Beziehungsgeflechtes zwischen der Jungfrau und den Wiener Minoriten gelesen werden. Abschließend erfolgt eine Diskussion der gewonnenen Ergebnisse.

I.1

Forschungsstand zu den Visionen und der Person Agnes Blannbekins

In unterschiedlichen Forschungskontexten wurden im letzten Jahrhundert und den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich Agnes Blannbekin und ihre Visionen erwähnt. Dabei interessierte vor allem die Person Agnes Blannbekin die öster-

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reichisch-regionalhistorische Forschung, die diese im beginalen Kontext ihrer Zeit oder im franziskanischen Umfeld der Stadt Wien zu verorten suchte. Nach dem Erscheinen einer erneuten Edition mit deutscher Übersetzung von Dinzelbacher und Vogeler im Jahre 1994 wurde der Zugang zur Quelle erleichtert, wodurch sich ein entsprechendes Forschungsgebiet öffnete. Die dann erschienenen Abhandlungen konzentrierten sich überwiegend auf den Inhalt der Visionen. Es fehlt jedoch weiterhin eine umfassende Studie, die sowohl die Person der Agnes Blannbekin als auch ihre Visionen aus kulturgeschichtlichem Interesse analysiert. Regionalhistorische Arbeiten: In seiner 1925 veröffentlichten Dissertation beschäftigt sich Walter Tschulik mit der Reklusin Wilbirg (aus St. Florian in Österreich) und Agnes Blannbekin,19 wobei er sich im zweiten Teil ganz auf die Letztere konzentriert und ausgewählte Visionen behandelt. Er beleuchtet sowohl den Entstehungskontext der Vita – die Rolle des Beichtvaters und die Situation der Wiener Minoriten – als auch den Kontext der Veröffentlichung der Editio princeps von 1731. Die Besprechung der ausgewählten Passagen erfolgt stark textorientiert, sodass sie wegen zahlreicher Zitate eher einer Nacherzählung gleicht. Wenn auch zurückhaltend, wagt Tschulik an einzelnen, wenigen Stellen Folgerungen und Interpretationen.20 Auch Richard Strauss betrachtet im letzten Drittel seiner 1948 erschienenen Dissertation (unter Betreuung Hans Rupprichs) die Visionen der Agnes Blannbekin.21 Dabei ist es ihm ein Anliegen, »die visionär begabte Minoritenbegine und ihre inbrünstig verlangte Einigung mit Gott deutlich vor Augen zu führen«.22 Diesem Vorhaben sollen die Edition von Quellenauszügen sowie die Übersetzung einzelner Kapitel dienen; auf weitere Analyseschritte verzichtet Strauss. Eine fruchtbarere Analyse legt 1954 dagegen der Literaturhistoriker Hans Rupprich selbst mit seiner Monografie zum »Wiener Schrifttum des ausgehenden Mittelalters«23 vor. Er erwähnt im Kapitel zur religiösen Zweckliteratur, Mystik und Ordensdichtung Vertreterinnen der 19 Siehe dazu Walter Tschulik, Wilbirg und Agnes Blannbekin. Ein Beitrag zur Geschichte christlich-mittelalterlicher Mystik in Österreich, Dissertation maschinenschriftlich, eingereicht an der Universität Wien, 1925. 20 Aufgrund der Angaben in Cap. 30 ihrer Visionen folgert Tschulik, dass Agnes Blannbekin wohl in der Nähe oder sogar im Kloster der Minoriten selbst gewohnt haben müsse; siehe dazu Tschulik (wie Anm. 19), S. 74. In seinem Kapitel über die Priester (ab S. 83) verweist er auf eine ähnliche Beschreibung Hildegards von Bingen; siehe dazu Tschulik (wie Anm. 19), S. 84, Fußnote 4. 21 Siehe dazu Richard Strauss, Studien zur Mystik in Österreich mit besonderer Berücksichtigung von Agnes Blambeck, Dissertation, maschinenschriftlich, eingereicht an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, 1948. 22 Strauss (wie Anm. 21), S. 90. 23 Hans Rupprich, Das Wiener Schrifttum des ausgehenden Mittelalters (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 228,5), Wien 1954, hier besonders: S. 39–45.

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Mystik und führt neben Agnes von Österreich auch Agnes Blannbekin an. Anknüpfend an einen kurzen Abriss zur Etablierung der Minoriten in Wien, vertritt Rupprich die These, dass Agnes Blannbekin um 1275 als Franziskaner-Tertiarschwester im Haus der Schwestern vom dritten Orden gelebt habe. Dabei handelte es sich allerdings um eine Feststellung mit ungenau recherchierten Angaben, die dennoch häufig angeführt wurde.24 Des Weiteren ordnet Rupprich – leider ohne Erläuterungen – den Namen Ermenricus als einen Eigennamen dem Beichtvater der Agnes Blannbekin und Aufzeichner ihrer Visionen zu.25 Im Gegensatz zu vorangegangenen Publikationen bezieht Rupprich in seinem kurzen Abschnitt über Agnes Blannbekin (sechs Seiten) deutlich Stellung zu offenen Fragen; schwer nachzuvollziehen bleibt jedoch die Beweisführung für seine Thesen. Bereits vor seiner Neuedition der Visionen veröffentlichte Dinzelbacher 1985 einen Aufsatz,26 in dem er diese aus einem neuen Blickwinkel als Vertreterinnen des literarischen Genres der Offenbarungsliteratur betrachtet und als »Gnadenvita« oder »Offenbarungsschrift mit biographischen Elementen«27 klassifiziert. 1987 behandelt die Historikerin Anneliese Stoklaska Agnes Blannbekin und ihre Offenbarungen.28 Neben inhaltlichen und sprachlichen Analysen fragt Stoklaska nach der Zielsetzung des Textes. Aufgrund mangelnder biografischer Angaben und der Singularität einer Begine im österreichischen Raum hinterfragt Stoklaska erstmals die Existenz von Agnes Blannbekin. Stoklaska plausibilisiert die These, dass Agnes Blannbekin eine literarische Figur sei, erschaffen, um »Lehrvisionen mit vorwiegend pastoraler Zielsetzung«29 zu veröffentlichen. Eine solche literarische Konstellation ermögliche es einem Autor, Kritik an kirchlichen Vertretern und Institutionen zu äußern. Im Gegensatz zu ihren schlüssig und textnah begründeten inhaltlichen und sprachwissenschaftlichen Argu24 Bei Rupprich heißt es in diesem Zusammenhang lediglich: »Um 1275 wurde Agnes Franziskaner-Tertiarschwester in Wien und wohnte wahrscheinlich im Haus der Schwestern vom dritten Orden, das allerdings urkundlich erst 1302 zum erstenmal erwähnt wird«. Dazu führte Rupprich in einer Fußnote eine Quelle an, die die erste bekannte Meisterin Schwester Exsal (Isolde) von 1306 belegt; siehe dazu Rupprich (wie Anm. 23), S. 40. 25 Siehe dazu Rupprich (wie Anm. 23), S. 41. 26 Siehe dazu Peter Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) im Rahmen der Viten- und Offenbarungsliteratur ihrer Zeit, in: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 22.–25. Februar 1984 in Weingarten, hrsg. Dieter R. Bauer und Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1985, S. 152–177. 27 Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 174. 28 Siehe dazu Anneliese Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin. Ein mystisches Unikat im Schrifttum des Wiener Mittelalters, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 43 (1987), S. 7–34. 29 Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 31.

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mentationen lässt Stoklaska bei ihrer Quellenkritik hinsichtlich der Textintention Fragen offen, die ihre These von Agnes Blannbekin als literarischer Figur stützen könnten, wie diejenigen nach den Adressaten und der zeitgenössischen Verbreitung der Quelle. In einem weiteren Aufsatz gibt Stoklaska 1988 eine Übersicht über die mittelalterlichen Frauenklöster in Wien und ging dabei auch der Frage nach dem Beginenstatus von Agnes Blannbekin nach.30 Da für die Existenz von Beginengemeinschaften im österreichischen Raum kaum aussagekräftige Quellen vorhanden sind und in Wien keine solche Gemeinschaft zu Lebzeiten der Agnes Blannbekin nachweisbar ist, stellen die Geschichte und Visionen der Agnes Blannbekin die einzige Quelle für ein Lebensmodell als Begine dar. Bei dessen Entwurf knüpft Stoklaska an ihre frühere These an, dass die Charakteristik und der Lebensstand einer Begine auf den Erwartungs- und Erfahrungshorizont einer bestimmten Leserschaft referierten, womit sie ihre Idee der literarischen Figur wiederholt und untermauert. Mit der Beziehung zu den Wiener Minoriten setzt sich 1992 erneut Dinzelbacher auseinander.31 Beginnend mit einem Überblick über die Entwicklung und Etablierung der Ordensgemeinschaft in Österreich, wendet er sich den zahlreichen kritischen Äußerungen über die Wiener Minoriten aus den Visionen der Agnes Blannbekin zu. Im Zuge der Neuedition und Übersetzung bündelt Dinzelbacher 1994 die bisherigen Forschungsergebnisse, wobei er auch die Überlegungen Stoklaskas zum Beginentum und zur literarischen Konzeption der Figur der Agnes Blannbekin berücksichtigt. Als Reaktion darauf führt er neue Quellen an, die die Existenz eines Drittordens in Wien belegen sollen. Zudem thematisiert Dinzelbacher das Verbot der Pez’schen Edition und analysiert den Streit zwischen Pez und dem kaiserlichen Hofbibliothekar Garelli sowie der Societas Jesu anhand zahlreicher Zitate aus zeitgenössischer Korrespondenz. Veröffentlichungen nach der Edition durch Dinzelbacher und Vogeler aus dem Jahr 1994: Basierend auf der erneuten Edition, thematisiert eine 1996 an der Universität Graz eingereichte Diplomarbeit im Bereich der Mediävistik Agnes Blannbekin unter dem Titel »Körperbewußtsein und Körperverständnis in der mittelalterlichen Frauenmystik«.32 Die Autorin Katja Slywa geht von einer Kör30 Siehe dazu Anneliese Stoklaska, Weibliche Religiosität im mittelalterlichen Wien unter besonderer Berücksichtigung der Agnes Blannbekin, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, hrsg. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 28), Köln 1988, S. 165–184. 31 Siehe dazu Peter Dinzelbacher, Die Wiener Minoriten im ausgehenden 13. Jahrhundert nach dem Urteil der zeitgenössischen Begine Agnes Blannbekin, in: Bettelorden und Stadt. Bettelorden und städtisches Leben im Mittelalter und in der Neuzeit, hrsg. Dieter Berg (Saxonia Franciscana, 1), Werl 1992, S. 181–191. 32 Katja Monika Slywa, Körperbewußtsein und Körperverständnis in der mittelalterlichen Frauenmystik am Beispiel der Begine Agnes Blannbekin, unveröffentlichte Diplomarbeit am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz, 1996.

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per-Seele-Einheit aus, die sie zum einen mit der leibesfreundlichen Einstellung der Agnes Blannbekin begründete. Zum anderen sieht Slywa diese Einheit auch in der Herausforderung für Agnes Blannbekin, ihr Empfinden zwischen einem geistigen und einem körperlichen zu unterscheiden.33 Obgleich die Arbeit unveröffentlicht blieb, greift die Autorin mit dem körpergeschichtlichen Ansatz erstmals eine Perspektive auf, die in der Forschung zu Agnes Blannbekin noch weiterverfolgt werden sollte. 2009 veröffentlicht Albrecht Classen, Mediävist an der Universität von Arizona, in einem kurzen Aufsatz eine sinnesgeschichtliche Betrachtung der Visionen der Agnes Blannbekin.34 Dabei arbeitet Classen durch einen Vergleich zu anderen Mystikern/-innen die starke sinnliche Wahrnehmung der Agnes Blannbekin als einen Weg heraus, Gott zu erfahren. Classen beobachtet bei ihr die Betonung aller fünf Sinne und folgert, dass das, was sie als Mystikerin besonders auszeichne, ihr brennender Wunsch sei, alle ihre Visionen durch ihre körperlichen Sinne zu erfahren und dies obwohl sie in eine spirituelle Wahrnehmung verwandelt würden, die tief in ihrem körperlichen Selbst verwurzelt sei.35 Die Überlegungen Classens stellen auch für die vorliegende Untersuchung erste Anknüpfungspunkte dar. Bereits vor dieser fokussierten Betrachtung der Agnes Blannbekin thematisiert Classen sie in zwei weiteren Aufsätzen: Neben der Sprache bei Mechthild von Magdeburg und Margareta Ebner betrachtet er diejenige der Agnes Blannbekin mit einem Fokus auf die Unsagbarkeit der mystischen Erfahrung.36 Dabei orientierte er sich stark an den von Haug und Haas veröffentlichten Thesen, die er an den drei ausgewählten frauenmystischen Texten exemplifiziert.37 1999 stellt Classen Agnes Blannbekin erneut als Vergleichspartnerin Mechthild von Magdeburg und diesmal auch Hildegard von 33 Siehe dazu Slywa (wie Anm. 32), S. 83–84. 34 Siehe dazu Albrecht Classen, Taste, Sound and Smell in the Mystical Realm: Visionary Phenomenology on the Basis of Sensual Experiences: Agnes Blannbekin (†1315), in: Studies in Spirituality 19 (2009), S. 71–91. 35 »If anything makes Agnes Blannbekin really stand out as a mystic, then we can really identify her burning desire to experience all visions by way of her corporeal senses, though transformed into a spiritual perception, deeply planted within her bodily self« (Classen, Taste, Sound and Smell (wie Anm. 34), S. 91). 36 Siehe dazu Albrecht Classen, The Literary Treatment of the Ineffable: Mechthild von Magdeburg, Margaret Ebner, Agnes Blannbekin, in: Studies in Spirituality 8 (1998), S. 162– 187. 37 Siehe dazu die Arbeiten von Walter Haug und Alois Haas, u. a. Walter Haug, Zur Grundlegung einer Theorie mystischen Sprechens, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hrsg. Kurt Ruh (Germanistische Symposien-Berichtsbände, 7), Stuttgart 1986, S. 494–508 sowie den später erschienenen Artikel von Alois Haas, der jedoch frühere Thesen aufgreift, Alois M. Haas, Die Verständlichkeit mystischer Erfahrung, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hrsg. Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 9–29.

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Bingen gegenüber.38 Er vertritt dabei die These, dass »die mystische Erfahrung zutiefst als eine xenologische anzusehen ist«39. Damit beschreibt er eine Fremdheitserfahrung nicht gegenüber einem anderen Menschen, sondern gegenüber sich selbst.40 Hierbei lässt sich Classens argumentative Begründung schwer nachvollziehen, und der Teil zu Agnes Blannbekin ist auffallend kurz. Ähnlich schwierig gestaltet sich die Lektüre der 2002 veröffentlichten Monografie »Kindheit und Mystik im Mittelalter«41 des Psychotherapeuten Ralph Frenken, der auf Kinder und Jugendliche spezialisiert ist. Sein Anliegen bestand darin, die Objektbeziehungen – wobei »Objekt« bei ihm zumeist Mutter und Vater beinhaltet – deutscher Mystikerinnen und Mystiker vom 13. bis zum 15. Jahrhundert zu hinterfragen. Dafür analysiert Frenken 17 Einzelfälle. Neben bekannten Mystikern/-innen wie Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn, Gertrud von Helfta oder Heinrich Seuse bildet auch Agnes Blannbekin einen Gegenstand der Untersuchung. Gleich zu Beginn seiner Vorstellung von Agnes Blannbekin fallen gängige Ungenauigkeiten in Bezug auf ihre Biografie auf.42 Das Fasten der Agnes Blannbekin – und hier sei korrigierend angemerkt, dass dieses, im Vergleich mit demjenigen von Heiligen wie Klara von Assisi, mehr als moderat war und überwiegend aus fleischloser Ernährung bestand – beschreibt Frenken unter Bezug auf andere Autoren/-innen als Anorexie, die aus einer pathologischen Objektbeziehung erwachsen sei. Er folgert: »Nur erwähnt sei an dieser Stelle, dass verschiedene Autoren annehmen, dass zur Ätiologie der Anorexie [Narrativ der krankhaften Magersucht, J. S.] neben anderen Faktoren die Erfahrung einer ausbeutenden Mutter gehört, der eine sexualisierte Beziehung zum Vater folgt. Insbesondere parasitiere die Mutter ihr Kind (PositionsUmkehr und Parentifikation) und ›verschlinge‹ dessen emotionale Welt aufgrund eigener Bedürftigkeit. Eine ganz ähnliche Konstellation wird bei der Entstehung des Borderline-Syndroms vermutet. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die SymptomKomplexe sich überlagern: Bei allen untersuchten Mystikern liegt ein Syndrom aus gespaltenen Eltern-Imagines, Anorexie (und genereller Anhedonie) und Selbstbeschädigung auf dem Boden des Borderline-Syndroms vor«.43

38 Siehe dazu Albrecht Classen, Die Suche nach dem Ich in der Gottheit. Mystische Literatur als epistemologisches Phänomen im Spätmittelalter. Zu Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Agnes Blannbekin, in: Études médiévales. Revue 4 (2002), S. 21–34. 39 Classen, Die Suche (wie Anm. 38), S. 28. 40 Siehe dazu Classen, Die Suche (wie Anm. 38), S. 28–29. 41 Ralph Frenken, Kindheit und Mystik im Mittelalter (Beihefte zur Mediaevistik, 2), Frankfurt am Main [u. a.] 2002. 42 Frenken behauptet beispielsweise, dass Agnes Blannbekin Mitglied einer Beginengemeinschaft in Wien gewesen sei, und datiert ihr Sterbedatum auf den 10. Mai 1315; siehe dazu Frenken (wie Anm. 41), S. 93. 43 Frenken (wie Anm. 41), S. 94.

Forschungsstand zu den Visionen und der Person Agnes Blannbekins

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Des Weiteren deduziert Frenken über die Darstellung von Priestern bei Agnes Blannbekin, dass sie wohl Opfer einer Vergewaltigung durch einen Priester geworden sei.44 Die Vision zum Beschneidungstag Christi wurde von Frenken ebenfalls sexuell gelesen und zusätzlich eine direkte Verbindung zwischen Vorhaut und Mutterbrust aufgebaut.45 Frenkens Lesart der Visionen spiegelt stark sein Erkenntnisinteresse als das eines Psychotherapeuten, der nach dem Rahmen der ICD 10 (der Internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen) psychische Dispositionen in den Visionen unterschiedlicher Mystikerinnen und Mystiker sucht, um diese zu pathologisieren. Leider stehen dabei weder die Kindheit im Vordergrund, noch wird der Rahmen der Vision als übernatürliche Erfahrung eingehend reflektiert. Für eine kulturwissenschaftliche Fragestellung kann die von Frenken vorgelegte Monografie daher kaum fruchtbar gemacht werden. An die Edition von Dinzelbacher und Vogeler knüpft auch der 2016 erschienene Aufsatz des an der katholischen Hochschule von Padua lehrenden Theologen Luciano Bertazzo an, der darin Agnes Blannbekin erstmals für den italienischen Sprachraum zugänglich macht.46 Bertazzos Bestreben ist dabei weniger, einer thematischen Fragestellung nachzugehen, als vielmehr, die – wie er schreibt – faszinierende Figur der Agnes Blannbekin und ihre Visionen der italienischen Forschung als eine neue Quelle vorzustellen.47 Nach der Nennung einiger Textzeugen der Visionen folgt eine kurze Charakterisierung der Agnes Blannbekin.48 Eine neue Perspektive bietet die politische Kontextualisierung der Quelle in ihrer Zeit: Aus dem in den Visionen erwähnten schwelenden Konflikt mit Ungarn leitet Bertazzo allerdings keine ereignishistorische Interpretation ab, sondern zeigt vielmehr die Macht des fürbittenden Gebets der Agnes Blannbekin (»la potenza della preghiera«) und damit letztlich ihre Einflussnahme auf.49 Die 44 Frenkens Deutung bezieht sich hier auf Cap. 41 der Visionen; siehe dazu Frenken (wie Anm. 41), S. 98. 45 Siehe dazu Frenken (wie Anm. 41), S. 94 und 100–101. 46 Siehe dazu (Padre) Luciano Bertazzo, Agnes Blannbekin Beghina viennese del Xlll secolo. Prime note, in: Studi in ricordo di Felice Moretti, hrsg. Nicola Pice und Custode Silvio Fioriello = Studi Bitontini 101–102 (2016), S. 31–48. 47 »[… S]i tratta di una figura di grande fascino, al limite dello stupore, affrontando i testi che ci sono stati tramandati« (Bertazzo (wie Anm. 46), S. 31). 48 Dabei geht Bertazzo davon aus, dass Agnes Blannbekin aus Plambacheck stammte, was bereits Rupprich (1950) vermutete; siehe dazu Bertazzo (wie Anm. 46), S. 33. Auch nimmt Bertazzo den Lebensstand der Agnes Blannbekin als den einer Begine als gegeben an und identifiziert den Schreiber auf Grundlage der Nachtragsnotiz als Ermenrico; siehe dazu Bertazzo (wie Anm. 46), S. 34 bzw. 35. 49 »Altri episodi dicono di una funzione intercessoria con cui la beghina Agnes si fa presente nelle vincende della storia, evidenziando la potenza della preghiera nel fermare l’ira di Dio che incomberebbe sugli uomini se non venisse frenata dall’intercessione dei devoti« (Bertazzo (wie Anm. 46), S. 36).

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anschließende Einbettung in die franziskanische Spiritualität und Gedankenwelt ist mit Vorsicht zu lesen, da dem Autor an manchen Stellen einzelne Bezugspunkte ausreichen, um eine inhaltliche Nähe zu belegen.50 Anknüpfungspunkte für die hier vorliegende Untersuchung bietet vor allem die Folgerung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater, das Bertazzo als eines von der Dynamik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägtes sieht, in dem sich die weibliche Erfahrung und ihre Originalität hätten durchsetzen können.51 Im Jahr 2019 betrachtet der italienische Philologe Daniele Solvi Agnes Blannbekin in einem Aufsatz, wobei auch er sich auf von Dinzelbacher und Vogeler gewonnene Erkenntnisse stützt.52 Wie im Titel »Dall’estasi al testo« angekündigt, geht es Solvi dabei vor allem um die Betrachtung des Verlaufs von der Wahrnehmung der Visionärin hin zu dem geschriebenen und festgehaltenen Text des Beichtvaters. Dabei erörtert er auf unterschiedliche Weise die prozesshafte Entstehung des Textes. Von besonderem Interesse für die vorliegende Abhandlung ist dabei die Passage, in der sich Solvi der sinnlichen Wahrnehmung zuwandte: Es sei dabei schwierig, die einzelnen Sinne, die Agnes Blannbekin zur Beschreibung ihrer Erfahrung verwende, voneinander zu trennen, vielmehr flössen die Wahrnehmungskanäle ineinander und hin zum Ziel des persönlichen Gefallens oder Erfreuens (»piacere«).53 Er resümiert, dass bei den Visionen der Agnes Blannbekin weniger die Frage nach der Textgattung als vielmehr nach dem Textnutzen zu stellen sei. Bei den Visionen handele es sich Solvi zufolge um eine Art Spiegel, im Sinne von Lehrvisionen, die Orientierung für ein religiöses Leben böten, wie die Struktur des Textes nach den Festtagen des Kirchenjahres aufzeige. Veröffentlichungen im Umfeld der englischen Übersetzung: Parallel zu ihrer 2002 erschienenen englischen Übersetzung der Visionen54 veröffentlicht Ulrike Wiethaus den Aufsatz »Street Mysticism«, worin sie vor allem die alltägliche Perspektive der Agnes Blannbekin thematisierte, die viel über das Leben auf

50 Hier sei beispielsweise auf die Erwähnungen Klaras von Assisi oder Bertholds von Regensburg verwiesen; siehe dazu Bertazzo (wie Anm. 46), S. 38 bzw. 39. 51 »Si viene a creare così una dinamica tra oralità e scrittura in cui è l’esperienza femminile a imporsi per la sua originalità« (Bertazzo (wie Anm. 46), S. 42). 52 Siehe dazu Daniele Solvi, Dall’estasi al testo: le rivelazioni di Agnese Blannbekin, in: Stati alterati di coscienza come pratica rituale. Documenti, testimonianze e rappresentazioni, hrsg. Carmine Pisano und Daniele Solvi (Speaking Souls – Animæ loquentes, 4), Lugano 2018, S. 131–166. 53 Siehe dazu Solvi (wie Anm. 52), S. 137–138. 54 Siehe dazu Ulrike Wiethaus, Agnes Blannbekin, Viennese Beguine: Life and Revelations. Translated from the Latin with Introduction, Notes and Interpretive Essay (Library of Medieval Women), Cambridge [u. a.] 2002.

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Straßen, Märkten und die sonstige Welt gewöhnlicher Menschen berichtet.55 2004 betrachtet Christina Landman, Theologin an der Universität von Südafrika in Pretoria, die Visionen der Agnes Blannbekin als Quelle indigenen Wissens.56 Zunächst bietet Landman eine kurze Einführung in europäische Frauenmystik und das Beginentum, um dann die Visionen unter thematischen Aspekten quellennah wiederzugeben. Sie folgert, ähnlich wie Wiethaus, dass aus der Analyse der Quelle zahlreiche Informationen über den Alltag (»food and nature«) sowie die Beschreibung religiöser Konzepte und Alltags- oder Laienfrömmigkeit im europäischen Mittelalter gewonnen werden könnten. Landman betont, gerade aufgrund der darin zu Tage tretenden Verknüpfung von Weiblichkeit und visionärer Gabe liege eine besondere Quelle innerhalb eines sonst durch Berichte männlicher Mystiker dominierten Bereiches vor. Obgleich ihr darin zuzustimmen ist, dass die Visionen der Agnes Blannbekin ein besonderes Zeitdokument darstellen, erinnert das Resümee Landmans stark an Aussagen der älteren feministischen Forschung und blendet aus, dass ab dem 12. Jahrhundert zunehmend Frauen visionär begnadet waren und ab dem 13. Jahrhundert frauenmystische Schriften sogar den Großteil des mystischen Textkorpus ausmachten.57

I.2

Geruch im Zentrum: theoretischer Rahmen

Der Inhalt der hier untersuchten Visionen ist heterogen, denn er betrifft das Innenleben der Visionärin und gewährt zugleich Einblick in ihre soziale Lebenswelt und das zeitgenössische Geschehen, das häufig mit Offenbarungen und Begegnungen verknüpft ist. Dabei bilden die Sinne sowohl ein Medium der Kommunikation als auch ein Instrument zur Erweiterung von Handlungsspielräumen und -macht. Auf individueller Ebene werden sie bei der Gottesbegegnung und -begierde bedeutsam. Besonders odoratus (Geruch, Geruchssinn) nimmt in der Begegnung mit Gott eine, im Vergleich zu den anderen Sinnen, herausgehobene Stellung ein. Des Weiteren werden die Sinne in der Kommunikation mit der sozialen Lebenswelt genutzt, um durch Sinneswahrnehmungen Statusgruppen zu charakterisieren. Auffällig ist die deutlich überwiegende Ver55 Siehe dazu Ulrike Wiethaus, Street Mysticism: An Introduction to ›The Life and Revelations‹ of Agnes Blannbekin, in: Women Writing Latin: From Roman Antiquity to Early Modern Europe, 2: Medieval Women Writing Latin, hrsg. Laurie J. Churchill, Phyllis Rugg Brown und Jane E. Jeffrey (Women writers of the world, 6), New York [u. a.] 2002, S. 281–307. 56 Siehe dazu Christina Landman, Agnes Blannbekin († 1315): Lay Female Mysticism as a Source of Indigenous Knowledge, in: Acta Patristica et Byzantina 15 (2004), S. 219–232. 57 Siehe dazu u. a. Peter Dinzelbacher, Einführung, in: Mittelalterliche Visionsliteratur (wie Anm. 14), S. 1–32, hier: S. 27–28.

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wendung von olfaktorischen gegenüber bildhaften und farbenprächtigen Beschreibungen. Die Analyse folgt diesen olfaktorischen Spuren, die sich durch die Visionen einer gewissen Jungfrau ziehen. Ziel eines solchen Vorhabens ist es, die Bedeutung des Geruchs und des Geruchssinns in den Visionen aufzuzeigen. Obgleich das Olfaktorische im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, stellt diese Untersuchung keine isolierte Betrachtung dessen dar. Für eine gelungene Analyse des Olfaktorischen ist es außerdem nötig, die anderen sensuellen Eindrücke, das Beziehungsgeflecht der Sinne sowie deren Rangordnung zu beleuchten. Weiterhin ist eine reine, visionsimmanente Zentrierung auf die Sinne allein für eine kulturhistorische Betrachtung nicht aussagekräftig. Vielmehr bedarf es einer Einbettung der Visionen in deren jeweiligen historischen Kontext sowie der Beachtung der sozialen Lebenswirklichkeit, in der sich die handelnden Personen bewegen. Erst die Verknüpfung all dieser Untersuchungsanliegen ermöglicht es, dem Bedeutungsgehalt der Sinne, insbesondere des olfaktorischen, in den Visionen nachzuspüren. Bevor eine Analyse der olfaktorischen Spur und eine historische Einbettung der Visionen einer gewissen Jungfrau erfolgen kann, wird zunächst der Geruch in Verbindung mit der menschlichen Sphäre aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. So werden Besonderheiten im Sinne von Wesensmerkmalen des Olfaktorischen vorgestellt (I.2.a). Dabei finden neben der kurz dargelegten somatischen Beschaffenheit des menschlichen Geruchssinns vor allem die Chancen des Geruchs als Mittel nonverbaler Kommunikation im zwischenmenschlichen Bereich Berücksichtigung. Diesbezüglich kann zwischen bewusster und unbewusster Geruchswahrnehmung unterschieden werden, wobei auch die gesteuerte unbewusste Geruchswahrnehmung nicht unerwähnt bleibt. Obgleich ›Duft‹ und ›Gestank‹ als Kategorien bipolare Bewertungen implizieren, ist ihr geruchlicher Bedeutungsinhalt nicht überzeitlich determiniert. Vielmehr ist das dahinterliegende olfaktorische Profil von veränderlichen Faktoren wie geografischen Bedingungen einer sich wandelnden Gesellschaft und ihren jeweiligen technischen Entwicklungen bei Hygiene und im Kommunalwesen abhängig, weshalb in einem kurzen Überblick geruchliche Alltagswelten der mittelalterlichen Gesellschaft skizziert werden (I.2.b). Nach diesem Blick ins Mittelalter kehrt die Abhandlung zu theoretischen Überlegungen zurück und präsentiert zwei Lesarten, die für die Interpretation des Olfaktorischen einen Rahmen bilden werden (I.2.c).

Geruch im Zentrum: theoretischer Rahmen

I.2.a

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Besonderheiten des Olfaktorischen

Versuche, die Besonderheiten des Olfaktorischen, des Geruchs und des Geruchssinns im Allgemeinen zu resümieren, gestalten sich schwierig – einerseits, weil die einschlägige Forschung neurobiologische, biochemische, physische und psychische Fragen noch nicht abschließend beantworten kann und stets neue hinzukommen,58 andererseits, weil die naturwissenschaftliche Forschung nur einen Teil der Antworten zu dem Komplex des Olfaktorischen liefern kann. Geruch und Geruchssinn in Hinblick auf deren zwischenmenschliche Möglichkeiten ebenso wie auf deren gesellschaftliche Bedeutung zu umreißen, erfordert eine nahezu holistische Betrachtung. Daher können hier nur einzelne Aspekte vorgestellt werden, anhand derer die Verbindung von biologischer Beschaffenheit und sozialer Verflechtung bei der menschlichen Interaktion exemplifiziert werden kann. Erkennbar wird dabei, dass Geruch meist als Medium nonverbaler Kommunikation fungiert und ferner, aufgrund seiner neurobiologischen Beschaffenheit, bisher unbeachtete Handlungsoptionen in sich birgt. Entgegen der aristotelischen Hierarchisierung der menschlichen Sinne, die den Geruchssinn als einen zeitlos niederen klassifiziert, datieren neurobiologische Untersuchungen die Ausprägung des Geruchssinns in ein frühes Stadium der menschlichen Individualentwicklung. Der amerikanische Biologe und Genetiker Gary Beauchamp erklärt gemeinsam mit Kollegen/-innen, dass die Fähigkeit, Gerüche zu erkennen, pränatal entwickelt werde. Bereits in der 11. Schwangerschaftswoche hätten der Riechkolben (Bulbus olfactorius) und die Rezeptoren das erwachsene Muster erreicht59 und im Verlauf des Lebens sei es 58 Jürgen Raab weist auf die Ungewissheit der anatomischen und physiologischen Aspekte des Olfaktorischen in der naturwissenschaftlichen Forschung hin. Dabei betont er zunächst, dass auch in den Naturwissenschaften der Geruchssinn ein, im Vergleich zu den anderen Sinnen, weniger erforschter sei. Dann listet er eine Reihe von Forschungsbemühungen unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Teildisziplinen auf, die jedoch Fragen nach den bei der Geruchswahrnehmung beteiligten Körperregionen (sowohl im Nasen- und Rachenraum als auch im Gehirn) sowie zum Zusammenspiel der Sinne weitestgehend unbeantwortet lassen mussten; siehe dazu Raab (wie Anm. 1), S. 38–40. 59 U. a. Gary Beauchamp, ehemaliger Leiter des Monell Chemical Senses Center, des weltweit größten Zentrums zur Erforschung von Geschmack und Geruch im amerikanischen Philadelphia, konstatiert: »The ability to detect odors may develop prenatally. The olfactory bulb and receptors have the adult pattern by the 11th week of gestation« (Gary K. Beauchamp, Beverly Cowart und Hilary J. Schmidt, Development of Chemosensory Sensitivity and Preference, in: Smell and Taste in Health and Disease, hrsg. Thomas V. Getchell, Linda M. Bartoshuk, Richard L. Doty und James B. Snow, New York 1991, S. 405–416, hier: S. 410). Damit in Zusammenhang steht eine weitere Forschungsdiskussion Beauchamps und seiner Kollegen/-innen, nämlich ob die pränatale Prägung geschmacklicher und geruchlicher Präferenzen von den Ernährungsgewohnheiten der Mutter abhängt und, falls dies zutrifft, wie groß deren Einfluss ist. Eine gelungene Zusammenfassung dazu bieten Peter Scheer, Marlis Eichberger, Michaela Tappauf, Thomas Trabi und Marguerite Dunitz-Scheer, Erlernen

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für Menschen möglich, bis zu einer Billion unterscheidbarer Gerüche wahrzunehmen.60 Außer bei der körperlichen Entwicklung ist Geruch auch in der nonverbalen Kommunikation des gesellschaftlichen Miteinanders zu betrachten. Diese kann sowohl bewusst als auch unbewusst erfolgen. Im letzteren Falle dringen olfaktorische Eindrücke von Orten oder Menschen tief ein und sind für die/den Einzelne/-n wirkmächtig, weil sie bestimmte Emotionen hervorrufen. Zumeist sind die evozierten Emotionen mit Erinnerungen an Ereignisse, Erfahrungen oder Personen gekoppelt. Die Bewertung der olfaktorischen Eindrücke verläuft unvermittelt und ist nur schwierig zu revidieren. Der Chemiker und Aromaforscher Günther Ohloff erläutert: »Geruchsreize, die an den Rezeptoren in der Nasenschleimhaut ausgelöst werden, erreichen ohne Schaltstelle den Riechkolben im Vorderhirn, um dann über wenige Synapsen sofort in den Archicortex einzudringen, der das Limbische System beherbergt. In diesem stammesgeschichtlich ältesten Teil des Zentralnervensystems werden Triebund Instinkthandlungen ausgelöst, Gefühle und Emotionen erzeugt, sowie Lust und Unlust in Gang gesetzt«.61

Diese schnelle Signalverarbeitung von Geruchseindrücken wirkt gleichsam als olfaktorisches Warnsystem: Duftstoffe, die bei der biologischen Zersetzung von Nahrung entstehen, können als Warnhinweise auf potenzielle Gefahr interpretiert werden, die von Verdorbenem ausgehen mag. In diesem Zusammenhang verläuft die Geruchswahrnehmung unmittelbar; die Reize werden direkt von der Nase (äußere Wahrnehmung) zum Gehirn (innere Wahrnehmung) geleitet. Dieser Unmittelbarkeit in der nonverbalen Kommunikation steht das Indirekte emotional bedeutsamer unbewusster Geruchswahrnehmung entgegen. Es manifestiert sich im Miteinander auf mehrfache Weise: Eine Ausprägung unbewusster Wahrnehmung von Duft zeigt sich am Sexualhormon Pheromon im Sozialverhalten der Säugetiere, dabei spielen vor allem Steroide und Moschus-

von Geschmack und Geruch. Einfluss der ethnischen Zugehörigkeit und der Diät der Schwangeren, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 155,3 (2007), S. 287–288. 60 Seit den 1920er Jahren wurde die Zahl der wahrnehmbaren Gerüche auf ca. 10.000 geschätzt, was jahrzehntelang als wissenschaftliche Grundlage galt. Im März 2014 veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern/-innen in der Zeitschrift »Science« neue Erkenntnisse: »On the basis of the results of psychophysical testing, we calculated that humans can discriminate at least 1 trillion olfactory stimuli« (Caroline Bushdid, Marcelo O. Magnasco, Leslie B. Vosshall und Andreas Keller, Humans Can Discriminate More than 1 Trillion Olfactory Stimuli, in: Science 363,6177 (2014), S. 1370–1372, hier: S. 1370, online unter http://www.sci encemag.org/content/343/6177/1370 (zuletzt aufgerufen am 06. 06. 2020)). 61 Günther Ohloff, Düfte. Signale der Gefühlswelt, Zürich 2004, S. 63. Ähnliches findet sich auch in der soziologischen Abhandlung von Jürgen Raab; siehe dazu Raab (wie Anm. 1), S. 29.

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gerüche eine Rolle.62 Diese werden als Chemo-Signale ausgesendet, um anziehend und luststeigernd zu wirken.63 Androstenon, das sich zumeist in männlichem Achselschweiß nachweisen lässt,64 hat einen urinös sandelholzartigen und moschushaften Geruch, wird aber in sozialen Kontexten häufig mit dem Attribut ›männlich‹ versehen.65 Psychologische Versuche zeigten, dass Frauen den Geruch von Androstenon zumeist als abstoßend bewerten.66 Zum Zeitpunkt ihrer Ovulation – der fruchtbarsten Phase des weiblichen Zyklus – wird er von ihnen jedoch als wesentlich angenehmer eingestuft.67 Dem vorgelagert ist die Erkenntnis, dass sich die Geruchswahrnehmung und der Geruch von Frauen während des Zyklus verändern können. Zum Zeitpunkt der Ovulation ist die Geruchsintensität, gemeint ist hier die Stärke des Geruchsempfindens, bei Frauen am ausgeprägtesten

62 Maiworm weist darauf hin, dass insbesondere die Moschusgerüche in der nonverbalen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen und oft als Pheromone wirken können; siehe dazu Regina E. Maiworm, Menschliche Geruchskommunikation. Einflüsse körpereigener Duftstoffe auf die gegengeschlechtliche Attraktivitätswahrnehmung (Internationale Hochschulschriften), Münster in Westfalen [u. a.] 1993, S. 71. 63 Unter »Chemorezeption« werden Wahrnehmungsvorgänge zusammengefasst, die den Geschmacks- und Geruchssinn betreffen. Sie werden als die »chemischen Sinne« bezeichnet, weil sie direkten Kontakt mit einer chemischen Verbindung benötigen: Geschmack benötigt Feuchtigkeit, Geruch hingegen Luft, also Gase. Diese Einteilung beschreibt Ohloff ausführlich in Günther Ohloff, Irdische Düfte – himmlische Lust. Eine Kulturgeschichte der Wohlgerüche, Basel [u. a.] 1992, S. 8–13. Die Chemorezeption erklärt Regina Maiworm in ihrer Studie zu Duft und gegengeschlechtlicher Anziehung; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 31. 64 Maiworm erklärt, dass Androstenon vermutlich erst durch Bakterienaktivität in Achselschweiß gebildet werde, da es in frischem Achselschweiß nicht nachzuweisen gewesen sei; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 81. 65 So lässt es sich aus den Untersuchungen zur Attraktivität unter Einfluss von Androstenon ableiten; siehe dazu Michael D. Kirk-Smith, David A. Booth, D. Carroll und P. Davies, Human Social Attitudes Affected by Androstenol, in: Research Communications in Psychology, Psychiatry & Behavior 3,4 (1978), S. 379–384. 66 »70% der Frauen finden den Geruch von Androstenon abstoßend. Die Beschreibung von Androstenon als ›moschusartig‹ und ›stark‹ stimmt mit der Klassifikation von männlichem Achselsekret überein«, so Maiworm mit Verweis auf eine Studie von 1985; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 83. 67 Die Beispiele sind der Diplomarbeit aus dem Studiengang Psychologie von Eva Patricia Güra entnommen; siehe dazu Eva Patricia Güra, Geruch und Emotion. Emotionale Konditionierung von Gerüchen, 1, unveröffentlichte Diplomarbeit im Studiengang Psychologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 1999, S. 28. In älteren Studien (1986) sei hingegen die These vertreten worden, dass die Fähigkeit, Androstenon wahrzunehmen, bei Frauen in der präovulatorischen Phase ihres Zyklus viel höher sei, als in der Zeit der Ovulation, in der eine sehr erniedrigte Sensibilität habe festgestellt werden können. Darauf verweist Maiworm in ihrer bereits 1993 erschienenen Studie; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 87. Diese und andere Studien zur gegengeschlechtlichen Wirkung von Androstenon mit teilweise kontroversen Ergebnissen listet Maiworm auf; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 81–88.

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und zum Zeitpunkt der Menstruation am geringsten ausgeprägt.68 Die ChemoKommunikation wirkt allerdings nicht nur gegengeschlechtlich, sondern auch innerhalb eines Geschlechts. So verändert sich auch der körpereigene Duft von Frauen während ihres Zyklus, was sowohl den Atem als auch Intimgerüche betreffen kann. Ein Phänomen, das sich unter Umständen über den Geruch und seine Veränderung einstellt, ist die weibliche Zyklussynchronisation: Beim Zusammenleben von Frauen über einen längeren Zeitraum hinweg gleichen sich deren Menstruationsphasen an, obwohl sie zuvor weit auseinandergelegen haben mögen. Mit Hilfe diverser Teststudien wurde ausgeschlossen, dass äußere Einflüsse, wie beispielsweise Ernährung, für die Synchronisation verantwortlich sind. Vielmehr konnte, mehrmals seit den 1980er Jahren, nachgewiesen werden, dass olfaktorische Stimuli (weibliche Achselsekrete) die Harmonisierung der Zyklen erzeugen.69 Zwischenmenschliche Geruchswahrnehmung ist in Alltagssituationen zumeist nur ein unbewusster Vorgang. Dennoch können Geruch und dessen Wahrnehmung Katalysatoren für die Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen sein sowie Sympathie oder Antipathie mitbegründen. Aus diesen neurobiologischen Erkenntnissen schöpft auch die moderne Marketing-Branche ihre Konzeptideen, wenn sie den Konnex zwischen unbewusster Geruchswahrnehmung, Emotion und Erinnerung für ihre Strategien nutzt. In der wirtschaftswissenschaftlichen Studie »Sensory Branding« beschreibt Paul Steiner, welche Optionen die Sinneswahrnehmung bei der Markenführung eröffnet.70 Steiner beschränkt sich dabei keineswegs nur auf die Möglichkeiten des Olfaktorischen, sondern zeigt Perspektiven und Schwierigkeiten einer multisensorialen Markenführung auf. Eine besondere Herausforderung und zugleich Chance biete das Olfaktorische allerdings. Für seine gewinnbringende Nutzung in der Marketing-Branche sei es erforderlich, die unterbewusste, meist nebenbei 68 Dies habe Richard Doty im Jahre 1981 nachweisen können; siehe dazu Richard L. Doty, Olfactory Communication in Humans, in: Chem Senses 6,4 (1981), S. 351–376, zitiert nach Maiworm (wie Anm. 62), S. 95. 69 Da diese Ergebnisse immer wieder angezweifelt wurden und werden, führt Maiworm mehrere Studien zu diesem Thema an. Im Laufe der 1980er Jahre wurden sowohl äußere Faktoren ausgeschlossen als auch explizit die Wirkungen des Achselsekrets getestet; siehe dazu Maiworm (wie Anm. 62), S. 74–75. 70 Siehe dazu Paul Steiner, Sensory Branding. Grundlagen multisensualer Markenführung, 2. Auflage, Wiesbaden 2016. Der Autor zeigt, wie stark die Markenführung mit den menschlichen Sinnen arbeitet, um die Verbraucher dauerhaft an eine Marke oder ein bestimmtes Produkt zu binden. Neben Grundlagen zur Markenführung und einem Überblick über die Funktionsweisen der Sinne gibt Steiner Einblick in multisensorisches Branding am Beispiel der Fluggesellschaft Singapore Airlines, des österreichischen Kristallherstellers Swarovski oder auch der Automobilindustrie. Es werden der Einfluss der Olfaktorik auf die Markenwahrnehmung und dabei der Duft als »unsichtbare Markenpersönlichkeit« beschrieben; siehe dazu Steiner (wie Anm. 70), S. 108–113 bzw. S. 109.

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erfolgende Geruchsaufnahme in eine bewusste Verknüpfung von Geruch und Marke oder Produkt umzuwandeln. Obgleich auch visuelle und auditive Reize die geruchliche Performance eines Produktes begleiten und beeinflussen könnten, verspreche das Olfaktorische eine nachhaltigere Wirkung. Dafür verantwortlich sei besonders die Verbindung von Emotionen und Geruch, weil diese es ermögliche, die Erinnerung an ein positives Erlebnis mit einem bestimmten Duft nach einer gewissen Zeit unvermittelt zu reaktivieren. Allerdings müsse der Geruch dafür so gewählt sein, dass er von einer möglichst großen Zielgruppe als angenehm empfunden werde und zugleich negative Assoziationen ausspare.71 Andere Formen der Geruchswahrnehmung in Verbindung mit dem Unbewussten sind die Adaption sowie die Habitualisierung. Im Gegensatz zu den bereits angeführten Beispielen handelt es sich bei diesen beiden Formen um eine Minderung der Sensibilität gegenüber Geruchsreizen einer olfaktorischen Umwelt. Die Adaption drückt sich durch die Nicht-Wahrnehmung eines Geruchsreizes aus, sobald ein Mensch ihm für eine bestimmte Dauer und bei gleichbleibender Konzentration ausgesetzt ist. Dies stellt jedoch ein vorübergehendes Phänomen dar, denn sobald der Mensch seine olfaktorische Umgebung verändert, ist seine Geruchswahrnehmung wieder vollkommen restituiert. Diese Wiederherstellung wird als Deadaption bezeichnet.72 Bei der Habitualisierung handelt es sich hingegen um ein dauerhaftes Phänomen der Nichtwahrnehmung. Sie stellt eine Gewöhnung an bestimmte Geruchsreize aufgrund von deren regelmäßiger Wiederkehr dar. Dies gilt beispielsweise für spezielle Berufsgruppen, deren Arbeit in einer geruchsintensiven und olfaktorisch gleichbleibenden Umgebung stattfindet. Bei Adaption wie Habitualisierung ist der Geruchsreiz weiterhin vorhanden, die Fähigkeit zur Ausblendung ist jedoch hoch entwickelt und wird frequent genutzt.73 In den meisten Gesellschaften herrscht eine bestimmte Prägung hinsichtlich der Bewertung von Olfaktorischem, auf deren Grundlage Gerüche als wohlriechend oder abstoßend eingestuft werden. Diese Orientierung kann je nach geruchlicher Sozialisation, also geografischer Lage, zeitlicher Epoche oder auch sozialer Klasse, variieren. Trotz einer solchen vorgeprägten Einstellung ist die Bewertung nicht gänzlich determiniert, sondern kann innerhalb eines be-

71 Siehe dazu Steiner (wie Anm. 70), S. 50. 72 Die Adaption an olfaktorische Umwelten ist ein alltägliches Phänomen, das häufig vorkommt. Kehrt man beispielsweise in einen Raum zurück, in dem mehrere Menschen ohne Frischluftzufuhr über eine bestimmte Zeit hinweg konzentriert gearbeitet haben, nimmt man den abgestandenen Geruch von verbrauchter Luft schlagartig wahr und empfindet ihn als unerträglich. Vor dem Verlassen des Raumes wurde dieser Geruch jedoch nicht wahrgenommen bzw. wurde nicht als störend empfunden. 73 Die begrifflichen Definitionen sind angelehnt an Steiner (wie Anm. 70), S. 49.

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stimmten Rahmens individuelle Präferenzen oder Abweichungen aufweisen und lässt folglich Raum, um einen subjektiven Geschmack auszubilden. Geruchliche Bezeichnungen wie ›Duft‹ und ›Gestank‹ sind zwar überzeitlich, aber ihre Verwendung unterliegt oftmals einer diametralen Bewertung. So ist etwa der süße Geruch des Paradieses eine überzeitliche Beschreibung, dem noch immer der Gestank der Hölle entgegensteht. Gleichwohl können die Begriffe konträr zu einer geruchlichen Realität eingesetzt werden und mittels ihrer vereinbarten Benennung von Wohl- oder Übelriechendem eine bestimmte Interpretation suggerieren. Dies bezieht sich vor allem auf die Geruchsbewertung in bestimmten sozialen Kontexten. Dabei wird der Geruch ungeachtet seiner biochemischen Beschaffenheit zum sozialen Geruch, der eine Verortung des Gerochenen im sozialen Gefüge einer Gesellschaft impliziert. Diese Varianz der Geruchsverwendung sei erwähnt, um zu betonen, dass Sprache und Ausdruck Bewusstseinsformen schaffen, die nicht immer mit der Realität kongruieren müssen, sondern einer sozialen Konstruktion gleichen und als solche Wirkmächtigkeit besitzen. Dennoch verweisen die Zuschreibungen ›Duft‹ und ›Gestank‹ auf olfaktorische Zustände. Diese sind jedoch nicht unverrückbar festgelegt; vielmehr speist sich ihr olfaktorisches Profil aus einer bestimmten Alltagswelt, in der die Variablen ›Raum‹ und ›Zeit‹ bedeutenden Einfluss haben. Ebenso spielt die geruchliche Gewöhnung (Adaption und Habitualisierung) eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung. Zwar empfindet ein Mensch des 21. Jahrhunderts Autoabgase und Emissionen der chemischen Industrie nicht als wohltuend, aber er kennt diese als Teil seiner geruchlichen Umwelt in Großstädten und anderen Ballungszentren. Das olfaktorische Spektrum urbaner Räume der mittelalterlichen Welt wies keine vergleichbare Kohlenstoffdioxid- oder StickstoffdioxidBelastung auf, wäre aber für den Menschen des 21. Jahrhunderts trotzdem schwer erträglich, weil ungewohnt.

I.2.b

Geruchliche Alltagswelten der mittelalterlichen Gesellschaften

Anhand umwelt- und sozialgeschichtlicher Quellen wird im Folgenden die darin tradierte Beschäftigung mit Geruch sowie sein Auftreten im hoch- und spätmittelalterlichen Gemeinwesen skizziert. Der geografische Fokus liegt dabei auf den sich entwickelnden Städten Mitteleuropas, denn im Gegensatz zu ländlichen Räumen besteht für sie eine weitaus bessere Überlieferungssituation. Zugleich scheint auch eine weitergehende geografische Eingrenzung geboten, da klimatische Bedingungen sowie technische Entwicklungen das olfaktorische Profil einer Landschaft gänzlich verändern können. Diese Skizze versteht sich als vorgelagerter und lohnender Einblick, um danach ›Geruch‹ als soziale Kategorie

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und die damit verbundenen olfaktorischen Zuschreibungen kontextualisierbar und erklärbar machen zu können. Im Juli 1184 reiste der junge König Heinrich VI. im Auftrag seines Vaters, des Kaisers Friedrich I., nach Polen via Erfurt, wo er einen Streit zwischen Erzbischof Konrad I. von Mainz und Landgraf Ludwig III. von Thüringen schlichten musste. Bei den Verhandlungen in der Dompropstei ereignete sich ein tragisches Unglück: Während Heinrich bemüht war, den Frieden zwischen dem Erzbischof und dem Landgrafen herzustellen, saßen er und viele Adlige in einer Stube. Plötzlich brach deren Fußboden ein und viele der Anwesenden stürzten in die darunter liegende Latrinengrube. Einige konnten nur mit Mühe gerettet werden, andere hingegen erstickten im Schlamm. Zahlreiche geistliche Würdenträger und adelige Herren fanden so in der Kloake den Tod.74 Dieses Unglück ist der Nachwelt als »Erfurter Latrinensturz« bekannt.75 Der Bericht der Chronik von St. Peter zu Erfurt führt im Anschluss an die unten zitierte Passage zwar die Namen der wichtigsten zu Tode gekommenen Würdenträger an (Heinrich selbst überlebte den Sturz). Was dabei jedoch ausgeklammert wird, ist die olfaktorische Komponente. Weder in der Erfurter Chronik noch in anderen Überlieferungen zum Einsturz wurde der geruchlichen Situation Aufmerksamkeit geschenkt. Aufgrund solcher Ereignisse wie dem Erfurter Latrinensturz ist es kaum verwunderlich, dass der Topos ›mittelalterliche Zustände‹ das Bild eines vor Schmutz und Unrat starrenden und vom Gestank erfüllten mittelalterlichen Alltagslebens zeichnet. Vor allem die Aufklärer des 18. Jahrhunderts charakterisierten das Mittelalter gerne als den hygienischen Tiefpunkt und wandten sich bewusst von dessen Wohn- und Lebensverhältnissen ab.76 Gegenwärtige Um74 Heinricus rex Poloniam iturus Erphordiam divertit, ubi Cunradum Mogontinum et Lodewigum provincialem comitem ob illatam episcopatui cladem graviter inter se dissidentes invenit. Inter quos pacem reformare studens dum in cenaculo vallatus multis resideret, repente pavimento disrupto plures in cloacam subtus latitantem ceciderunt; quorum alii vix educti, alii in ceno sunt suffocati (Cronica s[ancti] Petri Erford[ensis] mod[erna], in: Monumenta Erphesfurtensia saec. XII. XIII. XIV, hrsg. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [42]), Hannover [u. a.] 1899, S. 117–369, hier: S. 192–193). 75 Zwar schwanken die Angaben über die Zahl der Todesopfer, jedoch benennen Schätzungen und Quellenbelege meist ungefähr 60 Personen; siehe dazu Steffen Raßloff, Geschichte der Stadt Erfurt, Erfurt 2012, S. 20 oder auch Klaus Reichold, Goldgrübler schaffen die Unlust beiseite. Im Mittelalter stank es allerorten zum Himmel, in: Wasser. Bayerns kostbares Nass, hrsg. Karin Dütsch und Rosemarie Zacher, Bamberg 2008, S. 109–112, hier: S. 109. 76 Am Beispiel Voltaires zeichnet der Schweizer Historiker Philipp Sarasin diese Grundhaltung in einem Aufsatz nach; siehe dazu Philipp Sarasin, Die moderne Stadt als hygienisches Projekt. Zum Konzept der ›Assanierung‹ der Städte in Europa im 19. Jahrhundert, in: Stadt & Text. Zur Ideengeschichte des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert [internationale Arbeitstagung, die im November 2006 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich stattfand], hrsg. Vittorio Magnago lampugnani, Katia Frey und Eliana Perotti, Berlin 2011, S. 99–112, hier: S. 99–100.

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welthistoriker/-innen bemühen sich um eine differenziertere Wahrnehmung und die damit verbundene Korrektur des pauschalen Urteils über das verschmutzte Mittelalter. Insbesondere Luft- und Wasserverschmutzung stehen dabei im Zentrum der Betrachtungen. Zugleich mahnen die Forscher/-innen zur Vorsicht beim Herstellen einfacher Kausalitäten: Ein fehlendes zentrales Ver- und Entsorgungssystem rechtfertige kein Pauschalurteil über ein »schmutzstarrende[s] Mittelalter«77. Mit Blick in ausgewählte mittelalterliche Gesetzgebung und theoretische Abhandlungen zeigt der Stadt- und Umwelthistoriker Ulf Dirlmeier auf, welche Kenntnisse über die Ver- und Entsorgung vorherrschten. Er hält fest, dass unter anderem die Konstitutionen von Melfi (1231), der Fürstenspiegel des Aegidius Romanus (1277/79), die Yconomica (1350–52) Konrads von Megenberg und auch De cura rei publicae des Philipp von Leyden (1355) Gebote und Verbote für die Entsorgung sowie zur Erhaltung guter Luft und reinen Wassers enthalten. Außerdem sind neben den theoretischen Überlegungen erste Vorschriften zur Abfall- und Abwasserbeseitigung in den Stadtrechten erkennbar.78 Deshalb kann zusammengefasst werden, dass sich in mittelalterlichen Rechtstexten und juristischen Abhandlungen, trotz des Mangels an einem Umweltbegriff im modernen Sinn,79 ein Bewusstsein für Sauberkeit von Luft und Wasser sowie menschliche Gesundheit spiegelt. Da auch die Umwelt des Mittelalters dem Menschen nicht abgeschlossen gegenüberstand, sondern vielmehr Lebens- und Arbeitsraum war, soll der sozialund alltagsgeschichtliche Blick die Aussagen über sie – und damit auch über die zeitgenössische Geruchssituation – ergänzen. Neben Metzgern, Flecksiedern, Färbern, Schmieden, Webern, Ölmachern, Mitgliedern der Bauhütte, Metallarbeitern, aber auch Apothekern, Ärzten u. a. m. zählten besonders Gerber zu den »immissionsträchtigsten Berufen des Mittelalters«80. Die Verwendung und Verarbeitung organischer Substanzen und die dabei entstehenden, teilweise giftigen Dämpfe stellten eine beträchtliche gesundheitliche Belastung für die betreffenden Handwerker dar. Nicht selten folgten wegen ungenügender oder gänzlich 77 Ulf Dirlmeier, Zu den Lebensbedingungen in der mittelalterlichen Stadt. Trinkwasserversorgung und Abfallbeseitigung, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. Bernd Herrmann, Stuttgart 1986, S. 150–159, hier: S. 150. 78 Siehe dazu Ulf Dirlmeier, Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter (vor allem auf dem Gebiet der Ver- und Entsorgung), in: Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte. 18. Arbeitstagung in Villingen, 3.–5. Nov. 1979, hrsg. Jürgen Sydow (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, 8), Sigmaringen 1981, S. 113–150. 79 Zur Begriffsentstehung von »Umwelt« sei verwiesen auf Hans-Werner Nicklis, Mundus circumquaque. Gedanken zur Umwelt des Früh- und Hochmittelalters, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 275–289, hier: S. 275–276. 80 Martin Illi und Hansruedi Steiner, Von der Schîssgruob zur modernen Stadtentwässerung, Zürich 1987, S. 20.

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fehlender Schutzmaßnahmen nach längerer Tätigkeit berufstypische Erkrankungen, wie etwa die der Lunge.81 Neben gesundheitlichen Folgen für die arbeitenden Menschen existierten auch für die Umwelt Belastungen, die einen weitaus größeren Bereich als den eigentlichen Arbeitsraum betrafen. Aufgrund des durch sie erzeugten Schmutzes und Geruchs mussten sich die oben genannten Gewerbe an Stadtränder zurückziehen oder ihre Produktionsstätten an die Ausläufer von Flüssen oder Bächen verlegen.82 Ein Fluss oder Stadtbach wurde nicht selten zur Lebensader einer Stadt oder anderen Siedlung, denn er diente als Verkehrsweg für den Gütertransport, ebenso zur Energiegewinnung für Mühlen, aber auch zur Entsorgung von gewerblichem und privatem Abfall.83 Gesetze zur Reinhaltung des Wassers wurden in vielen Fällen umgangen oder sind mit modernen Hygienevorstellungen nur schwer vereinbar. Demzufolge basierte die Wasserversorgung weit mehr auf innerstädtischem Quell- oder Brunnenwasser sowie zugeleitetem Wasser aus dem Umland als heute in Zeiten der Wasseraufbereitung.84 Zudem konnte es bei lockerer Bodenbeschaffenheit und mangelhaftem Abstand zwischen Senk- oder Sickergruben und Brunnen zu starken Wasserverunreinigungen kommen.85 Kontaminiertes Trinkwasser blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein chronische Ursache für Infektionen und Seuchen.86 Außer der Auslagerung geruchsintensiver Gewerbe in städtische Randlagen zeigen die beiden Historiker Illi und Steiner am Beispiel des spätmittelalterlichen Zürichs auf, dass vor allem wohlhabende Stadtteile nahezu frei vom »stinkenden Gewerbe«87 gewesen seien. Schmutz und Gestank hätten zwar zum mittelalterlichen Alltag gehört, sich aber nicht von sozialen Bedingungen und Zugehörigkeiten trennen lassen.88 Nicht ohne Grund verlagert auch Thomas Morus in 81 Einen Einblick in die Arbeitsverhältnisse mittelalterlicher Handwerker und die mit ihren Tätigkeiten zusammenhängenden gesundheitlichen Risiken bietet Volker Zimmermann, Ansätze zu einer Sozial- und Arbeitsmedizin am mittelalterlichen Arbeitsplatz, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter (wie Anm. 77), S. 140–149. 82 Siehe dazu u. a. Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Darmstadt 2002, S. 32. 83 Dirlmeiers Blick in Gesetzestexte zeigt, dass dem Wasser eine starke reinigende Kraft zugeschrieben wurde; siehe dazu Dirlmeier, Kommunalpolitische Zuständigkeiten (wie Anm. 78), S. 119–127. 84 Siehe dazu Dirlmeier, Lebensbedingungen (wie Anm. 77), S. 152. 85 Siehe dazu Gottfried Hösel, Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturgeschichte der Städtereinigung, München 1987, S. 53. 86 Am Beispiel der Londoner Themse in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt Schubert eine drastische Wasserverschmutzung auf; siehe dazu Schubert, Alltag im Mittelalter (wie Anm. 82), S. 95. 87 Illi und Steiner (wie Anm. 80), S. 23–24. 88 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Folgerungen Schuberts verwiesen, in denen er Dreck als »Folgeerscheinung von Armut« (Schubert, Alltag im Mittelalter (wie Anm. 82), S. 97) charakterisiert, die vor allem in städtischen Randgebieten vorzufinden gewesen sei.

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seiner erstmals 1516 erschienenen Utopia, einer idealen Staats- und Gesellschaftsvorstellung, das Schlachten von Tieren in Gebiete außerhalb der Stadtmauern: Doch zunächst werden die Tiere außerhalb der Stadt an besonders dafür vorgesehenen Orten von Leibeigenen geschlachtet und das Fleisch im Fluss gesäubert; erst dann wird es in die Stadt transportiert. […] Überdies wird nichts Schmutziges, Widerwärtiges oder Unsauberes in der Stadt geduldet, damit die Luft nicht durch den Gestank verunreinigt und dadurch zum Träger von ansteckenden Krankheiten wird.89

Neben dem produzierenden Gewerbe als größter Quelle der Verschmutzung und Geruchsbeeinträchtigung trugen aber auch menschliche und tierische Exkremente sowie der tägliche Hausmüll zur Verunreinigung bei, besonders im sich verdichtenden städtischen Bereich. Aufgrund fehlender kommunaler Zuständigkeiten in einem sich erst entwickelnden Stadtverband war die Entsorgung menschlicher Exkremente zunächst eine private Angelegenheit.90 Allerdings muss die – besonders in populärwissenschaftlichen Publikationen vertretene – Auffassung vom unbedarften Ausleeren menschlicher Ausscheidungen direkt auf die Straße oder aus einem Fenster zurückgewiesen werden. Zum einen gab solch widerrechtliches Entsorgen Anlass zur Beschwerde und erzeugte zumeist Verkehrsbehinderungen.91 Zum anderen widerlegen sowohl Abzugsrinnen oder -gräben – oft an der Häuserrückseite oder in schmalen Gassen zwischen den Häusern – als auch Senk- oder Sickergruben – die spätestens seit dem 12. Jahrhundert in mitteleuropäischen Städten nachweisbar sind –, dass Unrat in der Regel auf die offene Straße entleert worden sei. Vielmehr sind häusliche Abfallgruben, die ›privaten‹ Unrat sowie Latrinenabfall enthalten konnten, eine der wichtigsten Quellen zur Rekonstruktion des mittelalterlichen Alltagslebens.92 89 Thomas Morus, Utopia. Neu aus dem Englischen übersetzt und mit einer Vorbemerkung versehen von Michael Siefener, Wiesbaden 2013, II c. Über das Zusammenleben und den Umgang der Utopier untereinander, hier: S. 100–101. 90 Erst im 14. Jahrhundert entwickelte sich ein Bewusstsein städtischer Zuständigkeit für innere Angelegenheiten, wie Ver- und Entsorgung. Wie Dirlmeier konstatiert, sei die Stadt viel eher ein Zusammenschluss zur Verteidigung nach außen gewesen; siehe dazu Dirlmeier, Lebensbedingungen (wie Anm. 77), S. 151. 91 Am Beispiel eines Goslarer Gerichtsstreits von 1402 zeigt Schneidmüller auf, dass widerrechtliches Entsorgen von häuslichen Abfällen und Exkrementen im öffentlichen Raum zu Streitigkeiten führen konnte; siehe dazu Bernd Schneidmüller, Städtische Umweltgesetzgebung im Spätmittelalter, in: Mensch und Umwelt in der Geschichte, hrsg. Jörg Calließ, Jörn Rüsen und Meinfried Strieglitz (Geschichtsdidaktik. Neue Folge, 5), Pfaffenweiler 1989, S. 119–138, hier: S. 119–120. 92 Hier sei exemplarisch auf die interdisziplinären Überlegungen von Bernd Herrmann verwiesen, der mittels parasitologischer Untersuchungen Aussagen über Ernährung, persönliche Hygiene und Umweltsituation trifft; siehe dazu Bernd Herrmann, Parasitologische Untersuchungen mittelalterlicher Kloaken, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter (wie Anm. 77), S. 160–169.

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Gereinigt wurden die Rinnen oder Gruben an vielen Orten von bestimmten Personen. Je nach Kommune oder regionalem Idiom erhielten diese Grubenreiniger unterschiedliche Bezeichnungen: In Nürnberg hießen sie Pappenheimer, in Frankfurt heymelichkeits-fegere, und in München beschönigte der Name Goldgräber ihre Aufgabe.93 Am Beispiel der Nürnberger Satzungsbücher aus dem 14. Jahrhundert lassen sich ihre Arbeitsvorschriften und -bedingungen aufzeigen, denn wegen der hohen Geruchsbelastung durften die Gruben nur bei Nacht in der kälteren Jahreshälfte, zwischen Oktober und April, entleert werden.94 Auch die Aufzeichnungen des Nürnberger Stadtbaumeisters Endres Tucher aus den Jahren 1464 bis 1470 eröffnen einen Einblick in die Frequenz der Entleerung: Eine reihe, die da get zwischen der juden heuser herab an die Ledergass und also ferr zwischen den heusern pis an die Newengass, das alles ist der gemein: diesselbe reihe hab ich räumen lassen durchaus im siebenzigsten jar (1470) zu Martini und gab darzu auß zu führen zwei und zwaintzig pfunt alt, die reihe war in 18 jahren nit geräumt worden.95

Eine offene Abfallrinne (reihe) zwischen Häusern im jüdischen Viertel Nürnbergs ließ der Stadtbaumeister folglich nach 18 Jahren wieder einmal räumen. Hinter diesem langen Zeitraum versteckt sich vermutlich kein spätmittelalterlicher Antijudaismus, sondern er stellt eine gängige Zeitspanne dar. Denn mittels eines Städtevergleichs wird erkennbar, dass Sickergruben in vielen mittelalterlichen Städten wie Nürnberg, Frankfurt am Main, Freiburg oder Köln bewusst besonders groß angelegt wurden, damit eine mühevolle und stinkende Räumung selten erfolgen musste.96 Dass dabei unsichere Fundamente oder faulende Stützbalken, die in dem Unrat standen, unbeabsichtigte Folgen waren, zeigt das Beispiel des Erfurter Latrinensturzes deutlich. Eine weitere Folge war der Gestank, der sowohl von nicht oder unzulänglich geleerten offenen reihen ausging, als auch von unterirdischen Latrinengruben nach außen drang. Gräben oder Gruben ließen zwar große Teile des Unrats als Materie verschwinden, der mit ihm einhergehende Geruch konnte so aber nicht verhindert werden. Zusätzlich erhöhten Hausmüllbeseitigung und die intensive innerstädtische Schweinehaltung die Geruchsbelästigung. Obgleich es auch in diesem Kontext verkehrstechnische Beschwerden über und Unfälle wegen freilaufender 93 Eine Übersicht über die regionalen Benennungen der Grubenentleerer findet sich bei Dirlmeier, Lebensbedingungen (wie Anm. 77), S. 155–156 oder Hösel (wie Anm. 85), S. 53. 94 Siehe dazu Walter Lehnert, Entsorgungsprobleme der Reichsstadt Nürnberg, in: Städtische Versorgung und Entsorgung (wie Anm. 78), S. 151–163, hier: S. 152. 95 Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475), hrsg. Matthias Lexer (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 64), Stuttgart 1862, S. 119–120. Auf das Beispiel von Tucher verweisen sowohl Dirlmeier, Lebensbedingungen (wie Anm. 77), S. 155 als auch Hösel (wie Anm. 85), S. 54. 96 Einen solchen Städtevergleich bietet die quellennahe Abhandlung von Hösel; siehe dazu Hösel (wie Anm. 85), S. 53.

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Tiere gab,97 war öffentliche Schweinehaltung auf den städtischen Straßen und Gassen bis ins 15. Jahrhundert gängig. Vor allem bei Bäckern war sie beliebt – wegen der beim Mahlen von Getreide anfallenden Kleien, die zur Schweinefütterung verwendet werden konnten.98 Doch neben dem praktischen Nutzen der Schweine als Abfallbeseitiger hinterließen sie selbst Exkremente und konnten bei instabilen hygienischen Verhältnissen zu Krankheitsüberträgern werden.99 Verbote und Einschränkungen städtischer Schweinehaltung ließen sich nicht selten aufgrund zahlreicher Ausnahmen umgehen.100 Erst die Pflasterung der Straßen – die in Paris bereits 1185 begann, in Hamburg allerdings nicht früher als 1248 und in Nürnberg seit 1368 belegt ist101 – sowie die Entstehung einer kommunalen Abfallentsorgung mit außerstädtischen Deponien (bestimmten Stadtgräben) für Mist und Unrat – als erstes in Köln ab 1353 – boten eine Basis zur Eindämmung der Geruchsbelastung.102 Sowohl häuslicher Unrat, Schmutz, gewerblicher Abfall und Kloakeninhalt als auch der mit ihnen verbundene Geruch waren Elemente der »Alltagsrealität« im mittelalterlichen Zusammenleben.103 Trotz der Bemühungen und Überlegungen in theoretischen Abhandlungen und Gesetzestexten blieben Abwasserfragen und Müllbeseitigung bis zur Frühen Neuzeit Dauerprobleme kommunaler Zuständigkeit.104 Dennoch soll hier, wie erwähnt, nicht das Bild eines schmutzigen und stinkenden Mittelalters unterstrichen werden. Das olfaktorische Spektrum des mittelalterlichen Gemeinwesens bestand im Wesentlichen aus alltäglichen Gerüchen der Entstehung und Verwesung organischer (End-)Produkte. Gewiss wurden diese Gerüche zumeist als übelriechender Gestank wahrgenommen; gerade die Enge der hochmittelalterlichen Städte trug zur Verdichtung von unerträglichen Gerüchen bei.105 Dabei war der dauerpräsente Gestank von Kloake und Verwesung prägend. Er verdeutlichte Endlichkeit und wurde folglich als 97 Hier sei auf den bekannten Unfall Philipps, des ältesten Sohnes König Ludwigs VI. von Frankreich, verwiesen. Im Jahr 1131 starb Philipp an den Folgen eines Reitunfalls in Paris, nachdem sein Pferd von einem Schwein aufgescheucht worden war; siehe dazu Daniel Furrer, Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens, Darmstadt 2004, S. 39. 98 Siehe dazu Schneidmüller (wie Anm. 91), S. 125. 99 Siehe dazu Hösel (wie Anm. 85), S. 46 und ebenso Furrer (wie Anm. 97), S. 39. 100 Eine Auflistung der Verbote und Einschränkungen zur städtischen Schweinehaltung nimmt Hösel vor; siehe dazu Hösel (wie Anm. 85), S. 46. Zu den Ausnahmen sei verwiesen auf Lehnert (wie Anm. 94), S. 155–156. 101 Siehe dazu Hösel (wie Anm. 85), S. 47. 102 Siehe dazu Schubert, Alltag im Mittelalter (wie Anm. 82), S. 101. 103 Die Wendung »Alltagsrealität« ist an die von Schubert getroffene Aussage angelehnt, dass in ganz Europa Dreck auf den Straßen eine Alltagsrealität sei; siehe dazu Schubert, Alltag im Mittelalter (wie Anm. 82), S. 95. 104 Siehe dazu Herrmann (wie Anm. 92), S. 160. 105 Siehe dazu Nicklis (wie Anm. 79), S. 284–285.

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negativ wahrgenommen. Nicklis merkt hierzu an, dass dieser irdische Gestank »nicht desensibilisier[t]; er schärft die Sinne für die Wohlgerüche der Welt«.106 Als anfallender irdischer Geruch strukturiere er die Welt, benenne »Quartiere menschlicher Hausung«107 und diene zur Charakterisierung und Abgrenzung sozialer Gruppen. Parallel zum irdischen Geruch habe ein konträres Geruchssystem existiert, das die Vorstellungen vom Jenseits verkörpert habe.108 Hier zeigt sich, dass der wahrgenommene Geruch nicht immer mit seinen Beschreibungen korrespondieren muss. Vielmehr kann er auch ein sozialer sein, dessen Zuschreibung ein bestimmtes Quartier einer ethnischen oder sozialen Gruppe kennzeichnen soll, so beispielsweise die Attribuierung des sogenannten ›odor judaicus‹.109 Eben deshalb sind Lesarten, im Sinne von Theorien, zur Deutung des beschriebenen Geruchs wesentlich, die das Olfaktorische und seine Funktion im Kontext des sozialen Miteinanders sichtbar und damit letztlich erklärbar machen können.

I.2.c

Lesarten des Olfaktorischen

Die Lesarten des Olfaktorischen beruhen auf zwei theoretischen Ansätzen. Die erste Lesart steht vor dem Hintergrund soziologischer Theorien und deutet Geruch als Mittel sozialer Distinktion. Im Umgang mit anderen kann damit sowohl soziale Nähe als auch Ablehnung ausgedrückt werden. Die zweite Lesart verdankt sich der anthropologischen Beobachtung ritueller Kommunikationen. Hierbei wird der Geruchssinn als Sinn der Übergänge benannt und außerdem mit dem Wesensmerkmal der Undefinierbarkeit versehen. In dieser Studie erfolgt eine Synthese der beiden genannten Lesarten und eine Rückkopplung an die untersuchten Visionen, woraus sich Hypothesen für deren Analyse ergeben. I.2.c.1 Das Olfaktorische in der sozialen Kommunikation Mit Blick in soziologische Grundlagenwerke kann festgestellt werden, dass das Olfaktorische nur selten Gegenstand soziologischer Betrachtung war.110 Gründe für diese lange Unerforschtheit mögen in der gesellschaftlichen Diskreditierung 106 Nicklis (wie Anm. 79), S. 284. 107 Nicklis (wie Anm. 79), S. 283. 108 Siehe dazu die Ausführungen zum postmortalen Duft bei Heiligen im Kapitel IV.3.e dieser Abhandlung. 109 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel I.2.c.1, besonders Anm. 120. 110 Dies merkte auch Jürgen Raab mit Blick in die Arbeiten der Gründungsväter der Soziologie, wie Comte, Durkheim und Weber, an. Diese hätten nicht nur den Geruchssinn stiefmütterlich behandelt, sondern für die Sinne generell kein Interesse gezeigt. Eine erste soziolo-

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des Geruchssinns liegen, denn trotz aller biologischen Erkenntnis und Aufwertung haftet dem Geruchssinn in der gesellschaftlichen Bewertung das »Signum der Animalität«111 an, und so diffamiert auch der Soziologe Georg Simmel den Geruchssinn. In seiner erstmals 1908 erschienenen Abhandlung »Soziologie. Untersuchung über die Form der Vergesellschaftung« unternimmt Simmel einen »Exkurs über die Soziologie der Sinne« und ist somit der Erste, der sich eingehend mit den Sinnen und deren sozialer und kultureller Bedeutung auseinandersetzt.112 Er untersucht die Sinne und deren Verbindung zur Gesellschaft, wobei er zunächst an die aristotelische Hierarchisierung der Sinne anknüpft, bevor er schließlich über den Geruchssinn folgert: »Gegenüber der soziologischen Bedeutung von Gesicht und Gehör tritt die der niederen Sinne zurück, wenngleich die des Geruchs nicht so weit, wie die eigenthümliche Dumpfheit und Unentwickelbarkeit seiner Eindrücke anzunehmen verleitet.«113

Simmel teilt die menschlichen Sinne nach ihrer sozialen Bedeutung für die Gesellschaft in zwei Gruppen: in die höheren Sinne, die das Sehen und Hören umfassen. Ihnen gegenüber stünden die niederen Sinne, zu denen auch der Geruchssinn zähle. Obgleich Simmel Geruch zu den niederen Sinnen zählt, schränkt er ein: Wer verleitet sei, die soziale Bedeutung des Geruchssinns weiter unten in der Sinneshierarchie zu verorten, irre. Die »eigenthümliche […] Unentwickelbarkeit«, also ein besonderes, merkwürdiges Fehlen des Entwicklungspotenzials bei Geruchseindrücken suggeriere dies. Der angesprochene Mangel an Entwicklungsmöglichkeiten der Eindrücke zeigt sich für Simmel vor allem in sprachlicher Begrenztheit und fehlendem Vokabular, die es schwierig bis unmöglich machten, geruchliche Eindrücke präzise zu beschreiben, und schließlich eine Abstraktion verhinderten: »Der Geruch bildet nicht von sich aus ein Objekt, wie Gesicht und Gehör es tun, sondern bleibt sozusagen im Subjekt befangen; was sich darin symbolisiert, daß es für seine gische Beschäftigung mit den Sinnen, insbesondere der Formung der sinnlichen Wahrnehmung durch milieuspezifische Zugehörigkeit, lasse sich nach Raab (wie Anm. 1), S. 81 bei dem amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen in dessen 1899 erstmals erschienenem Werk »The Theory of the Leisure Class: An Economic Study in the Evolution of Institutions« und dort vor allem im Kapitel V »Pecuniary canons of taste« nachweisen. Bei Veblen geht es aber mehr um die Formung der sinnlichen Wahrnehmung, konkret: den Geschmack von Essen und das ästhetische Empfinden von Kunst, in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu einer höheren gesellschaftlichen Klasse als um eine wirkliche soziologische Betrachtung aller menschlichen Sinne; siehe zu einer neueren Auflage Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions, mit einer Einführung und Anmerkungen hrsg. Martha Banta (Oxford World’s Classics), Oxford [u. a.] 2007. 111 Raab (wie Anm. 1), S. 34. 112 Hier zitiert wird Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 3. Auflage, München [u. a.] 1923. 113 Simmel (wie Anm. 112), S. 489.

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Unterschiede keine selbständigen, objektiv bezeichnenden Ausdrücke gibt. Wenn wir sagen: es riecht sauer, so bedeutet das nur: es riecht so wie etwas riecht, das sauer schmeckt. In ganz anderm [sic] Maße als die Empfindung jener Sinne entziehen sich die des Geruchs der Beschreibung mit Worten, sie sind nicht auf die Ebene der Abstraktion zu projizieren«.114

Simmel thematisiert hier ein grundlegendes Problem der Kommunikation über sinnliche Erfahrung: Sinnliche Erfahrung bedarf des sprachlichen Ausdrucks, um sie wiederzugeben und an andere zu vermitteln. Zugegebenermaßen können bestimmte Materialien, wie zum Beispiel Textilien, einen Geruch über einen begrenzten Zeitraum konservieren und wiedergeben, allerdings verflüchtigt sich auch dieser konservierte Geruch im Laufe der Zeit. Um olfaktorische Eindrücke für andere dauerhaft wiederzugeben, müssen sie verbalisiert werden. Hier stößt das gegenwärtige Vokabular an seine Grenzen: Zwar kann der Mensch, wie oben angeführt, etwa eine Billion Gerüche unterscheiden, doch die sprachlichen Möglichkeiten diese überhaupt zu beschreiben, ja vielmehr noch zu präzisieren, gibt es heute nicht (mehr).115 Visuelles und Auditives über Sprache auszudrücken, gelingt dagegen vielfach geschulter und differenzierter. Im olfaktorischen Kontext fehlt dieser Weg der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit – was, wenn man intersubjektive Nachvollziehbarkeit als unverzichtbares Element von Wissenschaftlichkeit begreift, Olfaktorisches in die Nähe der Unwissenschaftlichkeit rückt. Dennoch, so Simmel in seinem »Exkurs über die Sinne« weiter, hat Geruch »etwas Radikales und Inappellables«.116 Zunächst zu den Wortbedeutungen: »Radikal« kann in diesem Zusammenhang das Extreme und damit gleichzeitig das Entscheidende und Essentielle beschreiben. »Inappellabel« ist heute zumeist nur im juristischen Vokabular zu finden und benennt dabei etwas Unanfechtbares oder eine unhintergehbare Entscheidung. Hier scheint jedoch eine weitere, ursprünglichere Wortbedeutung zielführender zu sein: »Inappellabel« kann etwas bezeichnen, was eben nicht bezeichnet oder benannt werden kann. Es bedeutet hier etwas Unbenennbares (lat. »appellare« = »nennen, bezeichnen«). Damit ist zwar schon Generelles geklärt, aber wofür steht »Extremes« und »Unbenennbares« in Bezug auf Geruch?

114 Simmel (wie Anm. 112), S. 489. 115 Robert Jütte weist darauf hin, dass in der Frühen Neuzeit das Vokabular für olfaktorische Eindrücke wesentlich ausdifferenzierter gewesen sei als im Mittelalter. Seit dem 19. Jahrhundert habe sich diese sprachliche Ausdrucksvielfalt aufgrund gesellschaftlichen Einflusses infolge von verstärktem Zuckerkonsum verändert und sei schließlich verkümmert; siehe dazu Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000, S. 229–234. 116 Simmel (wie Anm. 112), S. 490.

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Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität

Um dies zu eruieren, ist es sinnvoll, sich mit der Materialität des Olfaktorischen zu beschäftigen und darüber den Begriff ›Geruch‹ zu präzisieren. ›Geruch‹ benennt zunächst die Materialität der olfaktorischen Wahrnehmung. Ein Konglomerat von Begriffen kann den Begriff ›Geruch‹ erweitern und zugleich differenzieren. Zumeist werden in der Alltagssprache ›Duft‹ oder ›Aroma‹ synonym für angenehm bewertete Gerüche verwendet, wohingegen Ausdrücke wie ›Ausdünstung‹ oder ›Gestank‹ auf einen eher negativ bewerteten Geruchseindruck verweisen. Gleichwohl hilft das Muster der diametralen Bewertung von Geruch nicht umfassend weiter, da Begriffe wie ›Odem‹, ›Hauch‹ oder ›Ruch‹ nicht unabhängig von der Quelle ihres Geruchs bewertet werden können. Ein Grund dafür ist in der materiellen Beschaffenheit des Geruchsstoffes zu suchen, der mit dem Objekt seiner Ausströmung verbunden bleibt. Geruch ist träge und braucht die Nähe zu seiner Quelle. Demzufolge würden Bewertungen des Geruchs auch ein Urteil über seinen Träger oder seine Trägerin bergen und somit »duftende Organismen und Gegenstände mit ihren geruchlichen Entäußerungen ihren reinen und heilen Zustand an die Umgebung signalisieren«.117 Auf gesellschaftlicher Ebene würde demnach die Wahrnehmung von Geruch erstens ein gesellschaftlich vermitteltes Werturteil implizieren. Diesem würde zweitens eine Grenzziehung folgen, indem der Standort des Riechenden und des Gerochenen im sozialen Gefüge verortet wird. Entgegen der standardmäßigen Einordnung des Geruchssinns in die Hierarchie der Sinne scheint sein gerade genanntes Potenzial nicht unbedeutend, sondern stellt ihn als bedeutungsvoll für das Miteinander in der Gesellschaft heraus. Auch Simmel räumt dem Geruchssinn diese Relevanz ein. Dabei hält er am Gegensatz zum Kognitiven und Rationalen fest und spricht von »instinktmäßigen Antipathien und Sympathien«, die der Geruch von unterschiedlichen Gruppen erzeuge, seien es nun ethnische oder soziale. Aufgrund der »Unüberwindlichkeit der Geruchseindrücke« avanciert der Geruchssinn bei Simmel sogar zum »dissoziierenden Sinn«, womit er die soziale Frage zuspitzt und zur »Nasenfrage«118 entwickelt. Dies verleiht dem Geruch tatsächlich etwas 117 Eva Barlösius, Über den Geruch. Langfristige Wandlung der Wahrnehmung, Kontrolle und Gestaltung von Riechenden, in: Der unendliche Prozeß der Zivilisation. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Norbert Elias, hrsg. Helmut Kuzmics und Ingo Mörth, Frankfurt am Main [u. a.] 1991, S. 243–256, hier: S. 243. 118 Simmel erklärt dies an Beispielen des sozialen Aufstiegs; die dabei verwendeten Bezeichnungen, die heute wegen ihres despektierlichen Charakters aus dem wissenschaftlichen Wortschatz verschwunden sind, können wohl teilweise mit dem Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts erklärt werden: »Um so weniger Widerstände des Denkens und Wollens finden die instinktmäßigen Antipathien und Sympathien, die sich an jene, den Menschen umgebende Geruchssphäre heften und die z. B. für das soziologische Verhältnis zweier auf demselben Territorium lebenden Rassen sicher oft folgenreich werden. Die Rezeption der Neger in die höhere Gesellschaft Nordamerikas scheint schon wegen der Körperatmosphäre des Negers ausgeschlossen, und die vielfache dunkle Aversion von Juden und Germanen

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Radikales, und gleichzeitig bleibt das Unbenennbare, das im Wesen des Olfaktorischen begründet liegt. Mit »sensorischer Rassismus«119 fand der Aromaforscher Günther Ohloff eine Benennung, die für Simmels Ausführungen zutreffend ist. »Sensorischer Rassismus« zeigt sich für Ohloff schon im Mittelalter anhand der Ghettoisierung der Juden innerhalb von Städten und dem dabei zugeschriebenen Geruch. Mit ›foetor judaicus‹, jüdischer Gestank/übler jüdischer Geruch, kannten und nutzten christliche Autoren des Mittelalters bereits eine gesonderte gruppenbezogene Bezeichnung, die pejorativer wirkte als ›odor judaicus‹, jüdischer Geruch.120 Sicherlich kann sich der Geruch menschlicher Gruppen aufgrund von Hygienevorstellungen und Ernährungsgewohnheiten oder auch körperlicher Beschaffenheit unterscheiden; hier ist aber weniger ein tatsächlich andersartiger Geruch gemeint, als vielmehr ein sozialer, der vor allem die Träger des Geruchs kennzeichnen soll. Die Fortsetzung der geruchlichen Distinktion ethnischer, kultureller, religiöser und sozialer Gruppen zeigt sich bis hin zum Fußschweiß deutscher Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg.121 Den Umkehrschluss zu Simmels Aussage formuliert die Soziologin Eva Barlösius, die folgert, dass das Empfinden geruchlicher Ähnlichkeit die soziale Zugehörigkeit zu einer gesell-

gegeneinander hat man auf dieselbe Ursache geschoben. Die für die soziale Entwicklung der Gegenwart oft so lebhaft befürwortete persönliche Berührung zwischen Gebildeten und Arbeitern […] scheitert einfach an der Unüberwindlichkeit der Geruchseindrücke. […] Die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage« (Simmel (wie Anm. 112), S. 489). 119 Ohloff, Düfte (wie Anm. 61), S. 100. 120 Wie Eric Zafran aufzeigt, wurde der den Juden zugeschriebene Geruch als ziegenähnlich (goatlike) bezeichnet; siehe dazu Eric Zafran, Saturn and the Jews, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 42 (1979), S. 16–27, hier: S. 18. Auch die als Standardwerk angesehene Abhandlung »The Devil and the Jews: The Medieval Conception of the Jew and Its Relation to Modern Anti-Semitism« von Joshua Trachtenberg thematisiert den zugeschriebenen Gestank. Trachtenberg legt dar, dass der Bock, insbesondere der Ziegenbock, im Mittelalter als Lieblingstier des Teufels bekannt gewesen sei. Dabei habe der Bock die Lüsternheit und Geilheit des Teufels symbolisiert. Folglich seien die Juden wegen ihres nichtchristlichen Glaubens von der christlichen Mehrheitsgesellschaft als Ungläubige und somit Teufelsanhänger betrachtet worden. Nicht nur ihre Darstellung mit Hörnern und Schwänzen habe diese angebliche Beziehung zum Teufel aufgegriffen, sondern auch Gestank und Unglauben (stench, unbelief) seien beliebte Begriffe zum Ausdruck dieser Verbindung gewesen. Siehe dazu im Einzelnen Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews: The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism, 3. Auflage, New Haven 1945, hier: Chapter Three »With Horn and Tail« (S. 44–53) sowie S. 268 (Geilheit des Teufels); der foetor judaicus wird besonders auf S. 48–49 erwähnt. 121 Weitere Beispiele zur Ablehnung von Fremdgeruch führt auch die Anthropologin Annick Le Guérer in ihrer kulturhistorisch-philosophischen Betrachtung der Nase an; siehe dazu Annick Le Guérer, Die Macht der Gerüche. Eine Philosophie der Nase. Aus dem Französischen von Wolfgang Krege, Stuttgart 1992, S. 38–46.

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schaftlichen Gruppe und das Bedürfnis nach sozialer Nähe und Verbindung ausdrücke.122 I.2.c.2 Das Olfaktorische in der rituellen Kommunikation Im Geruch und mit der Aufnahme olfaktorischer Reize durch den Geruchssinn werden bestimmte Botschaften vermittelt, so soll beispielsweise im gesellschaftlichen Miteinander ein wohlgewähltes Parfüm einen bestimmten Eindruck vermitteln. Dies ist ein bekanntes Prinzip, das aus der Natur entlehnt wurde: Der Duft einer Blüte soll anziehend auf bestimmte Insekten wirken, aber sobald er verströmt wird, ist die Pflanze bereits im Übergang zum nächsten Schritt. Düfte verbreiten sich erneut in den Übergängen, wenn die Früchte der Pflanze reifen, gären und schließlich verfaulen. Überträgt man dieses Beispiel auf eine kulturelle Umgebung, eröffnet sich noch eine weitere Funktion und Fähigkeit des Geruchs: Mit ihm vollzieht sich der Wandel von einem Zustand zum anderen, es erfolgt der Übergang von einer Einheit zu einer neuen. Dabei wird eine bestehende Einheit verlassen, und dies wird durch Geruch gekennzeichnet. Für den kulturell-rituellen Bereich formuliert der Anthropologe David Howes diese These von Geruch und Übergang.123 Howes orientiert sich an den Überlegungen des britischen Sozialanthropologen Rodney Needham, der den Zusammenhang von Geräuschen (»percussion«) und dem Moment des (rituellen) Übergangs bemerkt, wie er am Beispiel des Glockenläutens in der Hochzeitsmesse zeigt. Daraus deduziert Needham eine affektive Wirkung von Geräuschen und ihre Möglichkeit, einen Kategorienwechsel zu begleiten.124 Eine ähnliche Verbindung beobachtet Howes beim Zusammenspiel von Geruch und Übergang im rituellen Zusammenhang. Anhand des Momentes der Transsubstantiation innerhalb der katholischen Messfeier verdeutlicht Howes, was Needham mit »Kategorienwechsel« meint. Er zeige sich in der christlichen Eucharistiefeier bei der Wandlung der Hostie, dass Weihrauch genutzt wird und Glockenschläge erfolgen: Nach der im katholischen Ritus vertretenen Auffassung verwandeln sich hierbei Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Vormals profane Gegenstände werden in einem rituellen Prozess zu Sakralem; sie wechseln ihre Kategorie.125

122 Siehe dazu Barlösius (wie Anm. 117), S. 245. 123 Siehe dazu David Howes, Olfaction and Transition: An Essay on the Ritual Uses of Smell, in: The Varieties of Sensory Experience: A Sourcebook in the Anthropology of the Senses, hrsg. David Howes (Anthropological Horizons, 1), Toronto [u. a.] 1991, S. 398–416. 124 So fasste Howes die Beobachtungen von Needham zusammen; siehe dazu Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 398. 125 Siehe dazu Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 399.

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Ohne Howes’ These anzuführen, erklärt der Liturgiewissenschaftler Peter Wünsche, der Messritus der katholischen Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe vorgesehen, dass der Zelebrant Brot und Wein, die am Ende der Gabenbereitung auf dem Altar liegen, in einer genauen Abfolge mit dem Weihrauch zu umkreisen habe, die sogenannte Gabeninzens.126 Dabei würden die vormals profanen Gaben durch das Einhüllen in Weihrauch in den Bereich des Heiligen aufgenommen. Um diesen Vorgang zu benennen, arbeitet Wünsche mit den Begriffen der Ausgrenzung und Hervorhebung. Die Ausgrenzung beziehe sich dabei auf das Umkreisen der Gaben mit dem Weihrauchfass, was ein Innen, eine Sphäre des Heiligen, erzeuge, in dem die Gaben hervorgehoben würden, und ein Außen, das den profanen Bereich beschreibe.127 Wünsches Trennung in ein statisches Innen und Außen scheint genau das zu implizieren, was Howes explizit betont: den Wechsel von einer Kategorie in die andere, der prozessual vom Geruch als Materialität dieses Übergangs begleitet und angezeigt wird. Umgekehrt kann Geruch auch den Kategorienwechsel von ›sakral‹ zu ›profan‹ begleiten, wie Howes am Beispiel des jüdischen Ritus der Hawdala zeigt, die am Abend des Samstags das Ende des Schabbats kennzeichnet128 und so den sakralen Ruhetag vom profanen Alltag unterscheidet.129 Dies vollzieht sich auf mehreren sensorischen Ebenen, wobei zunächst der Segen über den Wein gesprochen wird. Als nächstes folgt der Gewürzsegen, der sich aus dem Riechen an Gewürzen – wie Nelken oder Myrte, die in einem extra dafür vorgesehenen Behälter (Besamimbüchse) aufbewahrt werden – und dem Sprechen eines Segens zusammensetzt. Das jüdische Gebetbuch Siddur führt eine Handlungserklärung sowie den Segensspruch an: 126 Der Ritus servandus in celebratione Missae des Missale Romanum von 1570 sieht bei der Gabeninzens vor, dass der Zelebrant zunächst mit dem Weihrauch drei Kreuze über den Gaben zeichnet und diese anschließend dreimal umkreist, zunächst zweimal gegen und dann einmal im Uhrzeigersinn; für den genauen Wortlaut siehe Ritus servandus in celebratione Missae VII (De offertorio, et aliis usque ad Canonem), 10, in: Missale Romanum ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum S. Pii V. pontificis maximi iussu editum Clementis VIII., Urbani VIII. et Leonis XIII. auctoritate recognitum, 8. Auflage, Regensburg [u. a.] 1894, S. LXXII–LXXV. Siehe dazu ebenfalls Peter Wünsche, Liturgiewissenschaftliche Perspektiven, in: Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes: Religionsgeschichte – Bibel – Liturgie [zum Gedächtnis an Helmut Merklein, 17. September 1940– 30. September 1999], hrsg. Joachim Kügler (Stuttgarter Bibelstudien, 187), Stuttgart 2000, S. 173–191, hier: S. 182. 127 Siehe dazu Wünsche (wie Anm. 126), S. 182. 128 Siehe dazu Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 399. 129 Eine knappe Beschreibung der Bedeutung und des Ablaufs der Hawdala findet sich im Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens, 3. vermehrte und verbesserte Auflage, hrsg. Emanuel bin Gorion, Alfred Loewenberg, Otto Neuburger und Hans Oppenheimer, Berlin 1936 (unveränderter Nachdruck: Frankfurt am Main 1992), S. 274–275.

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Man nimmt den Behälter mit den Gewürzen und sagt, bevor man daran riecht [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt. Du hast verschiedene Arten von Gewürzen geschaffen.130

Danach schließt sich die Preisung des Lichts an, das dabei meist durch eine geflochtene Kerze repräsentiert wird. In diesem multisensorischen Ritual zeigt sich der Geruch, hier das Riechen verschiedener Gewürze, deutlich als ein zentrales Element des Übergangs. Die Multisensualität thematisiert auch Howes, der den Kategorienwechsel von anderen Sinnesreizen bemerkt, wie im Fall der Wandlung in der katholischen Messfeier von Glockengeläut oder bei der jüdischen Hawdala von Licht, das das Ereignis begleitet. Gleichwohl vertritt Howes die Auffassung, dass das olfaktorische Element neben anderen sensuellen, wie auditiven und visuellen, Eindrücken ein wesentlicher Bestandteil der rituellen Kommunikation ist, um Übergänge hervorzurufen und sowohl nach innen als auch nach außen hin zu kommunizieren. Howes führt auch Beispiele aus der Anthropologie an, bei denen Geruch einen Wechsel innerhalb eines rituellen Rahmens begleitet, und zwar nicht nur einen zwischen den Kategorien ›profan‹ und ›sakral‹, sondern ebenso zwischen dem Status des Kindes und dem des Erwachsenen.131 Howes belässt es nicht bei der Idee vom Geruch als Element eines Kategorienwechsels; er spinnt den Gedanken weiter: Geruch sei nicht nur Kennzeichen eines Übergangs, vielmehr ermögliche er eine Neuzusammensetzung, indem zwei Ausgangsobjekte sich im Geruch verbänden und so zu einem neuen Zustand fänden. Zur Verdeutlichung dessen bezieht sich Howes auf die rituelle Kommunikation mit Göttern, wie sie zahlreiche Religionen mit Hilfe von Weihrauch oder anderen Rauchstoffen praktizieren.132 Bei den betreffenden Ritualen gehe es laut Howes nicht nur um einen Wechsel von einer Kategorie in eine andere,

130 [Se¯der hat-tefillôt]. Das jüdische Gebetbuch, 1: Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste, hrsg. Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka, Übersetzung aus dem Hebräischen von Annette Böckler, deutsche Erstausgabe, Gütersloh 1997, S. 147 (hebräischer Text auf S. 146). 131 Anhand einer ethnografischen Studie berichtet Howes über die Bevölkerung auf Mayotte – einer indopazifischen Gemeinschaft auf einer kleinen Insel zwischen Madagaskar und Mosambik –, dass Mädchen und Jungen, bevor sie für heiratsfähig erklärt würden verschiedene Rituale mit Rauch, duftenden Ölen und anderen Substanzen erführen. In Form von olfaktorischen Eindrücken beschreibe dieses Übergangsritual den Wechsel von der Kindheit zum Erwachsenenalter; siehe dazu Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 399–400. 132 Zur Verbindung von Geruch und Rauchopfer im Alten Testament sei hier hingewiesen auf Ulrike Bechmann, Duft im Alten Testament, in: Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes (wie Anm. 126), S. 49–98, hier: S. 61–98.

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sondern das Ziel liege in der dabei entstehenden Verbindung. Der Geruch solle sie und damit letztlich eine neue Einheit herstellen.133 Man sei geneigt zu schließen, so Howes, der Geruchssinn sei der Sinn der Übergänge (»the liminal sense«) schlechthin, konstitutiv für und gleichzeitig wirksam über alle Grenzen hinweg, die wir zwischen verschiedenen Bereichen und Kategorien von Erfahrung zögen.134 Die Vorsicht, die noch aus dem Konjunktiv (»might conclude«) im englischsprachigen Original dieser Folgerung Howes’ herauszulesen ist, verflüchtigt sich mit den weiteren Überlegungen des Autors, in deren Verlauf er Wesensmerkmale des Geruchs erläutert. Ein Charakteristikum ist auch für Howes die enge Verknüpfung von Geruch und Emotionen und die damit einhergehende Wirkkraft. Ein weiteres liege in der Beschaffenheit des Geruchs, denn dieser könne Grenzen fester Einheiten überwinden und an mehreren Orten zeitgleich auftreten. Damit einher gehe die »indefinability«135, eine dem Geruch innewohnende Undefinierbarkeit, die den Geruchssinn zum Sinn der Übergänge mache. I.2.c.3 Synthese der Lesarten des Olfaktorischen und abgeleitete Hypothesen Bei dem Versuch, die theoretischen Lesarten des Olfaktorischen zu resümieren, scheinen die Folgerungen einander zunächst entgegenzustehen, die sich aus der Betrachtung des Olfaktorischen in der sozialen Kommunikation einerseits und der rituellen andererseits ergeben. In der sozialen Kommunikation dient Geruch der Distinktion, die in Hinsicht auf gesellschaftliche Gruppen sowohl Abgrenzung aufgrund geruchlicher Verschiedenheit vornimmt, als auch Nähe aufgrund geruchlicher Ähnlichkeiten feststellt. Im sozialen Miteinander werden im Olfaktorischen Werturteile ausgedrückt, die innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens und des damit zusammenhängenden Wertesystems gelesen werden müssen. Ganz anders gestaltet sich die Rolle des Olfaktorischen in der rituellen Kommunikation: Hier deutet Geruchssinn Übergänge an, begleitet

133 Siehe dazu Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 401. 134 »One might conclude that the sense of smell is the liminal sense par excellence, constitutive of and at the same time operative across all of the boundaries we draw between different realms and categories of experience« (Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 401). 135 Das Wort »indefinability« übernimmt Howes aus folgenden Überlegungen Alfred Gells: »But if a further contrast is drawn between smell and sound – another quality which shares the ability to escape from the object – smell is distinguished by formless, indefinability and lack of clear articulation« (Alfred Gell, Magic, Perfume, Dream, in: Symbols and Sentiments: Cross-Cultural Studies in Symbolism, hrsg. Ioan Myrddin Lewis, London [u. a.] 1977, S. 25–38, hier: S. 27). Siehe dazu auch Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 404.

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Wandel und kann aufgrund seiner immanenten Undefinierbarkeit auch selbst neue Verbindungen und Zustände ermöglichen. Ein Ansatz zur Lösung des Problems, dass die Lesarten der olfaktorischen Spuren einander scheinbar entgegenstehen, kann der Verweis auf die Einteilung der Sinne in körperliche und geistige sein. Diese Einteilung basiert auf den Überlegungen von Origenes, der den fünf physischen/körperlichen Sinnen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten jeweils geistige/spirituelle Entsprechungen gleichen Namens gegenüberstellt, die beispielsweise in der Vision zum Einsatz kommen. Die körperlichen Sinne sind vor allem für eine nach außen gerichtete Kommunikation zuständig. Eine nach innen gerichtete, zumeist rituelle Kommunikation erfolgt dagegen über die geistigen Sinne und kann die Wahrnehmung übernatürlicher, transzendenter Phänomene vor allem in Bezug auf die Begegnung mit Gott ermöglichen. In gleicher Weise wie die Sinne unterscheiden sich auch zwei Räume, in denen das Olfaktorische verschiedene Funktionen erfüllen kann. Ein weiterer Schlüssel für die Analyse liegt in der Beachtung der Person, die riecht. Im vorliegenden Fall steht eine Frau – gleichgültig, ob als literarisch konstruierte Protagonistin oder als historische Person – hinter den zu untersuchenden Visionen. Weit mehr als bisher geschehen muss dabei der zeitgenössische Rahmen mit seinen Geisteshaltungen zu Frauen als Akteurinnen beachtet werden. Dieser umfasst innerhalb der christlichen Gesellschaft des Mittelalters einerseits Ideen zur Verbindung von Sinnen und Körper und andererseits Vorstellungen von den Handlungsmöglichkeiten einer Frau, in diesem Fall sogar einer Jungfrau. Ohne der Analyse vorzugreifen, kann bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Handlungspotenzialität (»agency«) einer Frau mit visionären Fähigkeiten in der besagten Gesellschaft erweitert war. Ferner hatten die Sinne innerhalb dieser Potenzialität eine zentrale Funktion, da sie den Raum der Visionen mit dem sozialen Raum (im Diesseitigen) verbanden. Vor allem die Verbindung von Geruch, als niederem Sinn, den Emotionen und der Bewertung von Frauen im Weltbild der mittelalterlichen Gesellschaft sind hier aufschlussreich. Vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen theoretischen Lesarten der olfaktorischen Spur und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des sozialhistorischen Kontexts liegt dieser Abhandlung die Annahme zugrunde, dass das Olfaktorische sowie der Geruchssinn, als Sinn des Übergangs im Rahmen der Visionen einer gewissen Jungfrau ermöglicht, Grenzen im Sinne von Handlungsund physischen Schranken zu überschreiten. Es scheint, dass er mehr Möglichkeiten birgt als nur diejenige, Übergänge zu begleiten und zu schaffen. Geruch erlaubt sogar mehr als eine Übertretung von Grenzen oder ein Verlassen bestimmter Einheiten. Übertretung wird von Michel Foucault als eine Gebärde

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beschrieben, die die Grenze betrifft.136 Denn die »Übertretung überschreitet und überschreitet immer wieder eine Linie, die sich hinter ihr sofort wieder schließt«.137 Dabei schiebt die Übertretung »die Grenze bis an die Grenze ihres Seins«.138 Indes bleibt nach der Auslegung von Foucault die Grenze als solche durchaus bestehen. Hier vermag Geruch aber mehr, gerade wegen seines Charakteristikums der Undefinierbarkeit: Durch das Olfaktorische können sich begrenzte Einheiten mitsamt ihrer Grenze auflösen. Weiter als die Übertretung nach Foucault, die eine Grenzüberschreitung darstellt, geht die Entgrenzung, die vorgezeichnete Grenzen physischer Einheiten oder sozialer Rollen nicht hinter sich lässt; vielmehr hebt sie sie auf, entgrenzt mithin die Ontologie dieser Entitäten. So werden, z. B. mit dem Geruch, bestehende Größen – wie der Körper, aber auch soziale Normen oder Zuschreibungen – nicht verlassen, sondern grundsätzlich in Frage gestellt, und es können gleichzeitig neue von anderer Beschaffenheit erspürt werden. Neue Einheiten, Zustände, Rollen und Entitäten verdichten sich dabei in neuen Geruchswelten. Die Deutung olfaktorischer Werturteile, die im Rahmen der Visionen verwendet werden, muss innerhalb des christlichen Normensystems erfolgen. Dabei gilt es außerdem, die gesellschaftliche Position der Riechenden zu beachten. Es bedarf also einer Verschränkung des sozialen und des christlichen Werterahmens, die beide bereits als getrennte Analysekategorien vorgestellt wurden. Doch nur in der komplexen Betrachtung kann der Leitfrage nach den Bedeutungen der Sinne in den Visionen der Agnes Blannbekin nachgegangen werden.

I.3

Zur Sinnesgeschichte

Da die vorliegende Abhandlung einen sinnesgeschichtlichen Ansatz für die Analyse der Visionen verfolgt, darf ein Überblick zur Sinnesgeschichte nicht fehlen. Es wird aufgezeigt, wie die Sinne in die kulturhistorische Forschung kamen und wie sich das Forschungsanliegen von der Rekonstruktion der Alterität vergangener Lebenswelten hin zu einer Frage nach der Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung im gesellschaftlichen Kontext entwickelt hat. Abschließend werden unterschiedliche Definitionsansätze sowie Überlegungen zur methodischen Vorgehensweise vorgestellt.

136 Siehe dazu Michel Foucault, Zum Begriff der Übertretung, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen übersetzt von Karin von Hofer (Sammlung Dialog. Bildung durch Wissenschaft, 67), München 1974, S. 69–89, hier: S. 73. 137 Foucault (wie Anm. 136), S. 73. 138 Foucault (wie Anm. 136), S. 74.

54 I.3.a

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Entstehung eines Forschungsgebietes

Einführungen in ein Forschungsgebiet beginnen meist mit der Genese des Erkenntnisinteresses am vorzustellenden Gegenstandsbereich. Ein wesentliches Element des Entstehungsnarrativs ist dabei der ›starting point‹, der meist retrospektiv als Beginn der jeweiligen Forschung beurteilt wird. Dieser Anfangspunkt scheint in der Entwicklungsgeschichte verschiedener geschichtswissenschaftlicher Subdisziplinen oder Schulen gut benennbar, wie das Beispiel der Frauen- und Geschlechtergeschichte zeigt. Ihr Entstehungsnarrativ nennt als Ausgangspunkt der Disziplin die sozialen Proteste im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung in den USA der 1960er Jahre und zeitlich etwas später auch in einigen westeuropäischen Ländern. Ausgehend von der Idee der gesellschaftlichen Teilhabe, stürmten feministische Forscher/-innen und Historiker/-innen die Archive und Universitäten, um »den Frauen ihre Geschichte und der Geschichte ihre Frauen zurückzugeben«.139 Aus einer klassischen, männerdominierten history sollte nun herstory140 werden, in der Frauen als Handelnde in der Geschichte und ihren Darstellungen sichtbar gemacht werden.141 In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Missständen wuchs ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, das vorherrschende Geschichtsbild zu ändern. Ein ähnliches Narrativ kann auch für die Entstehung der sogenannten Bielefelder Schule in den 1970er Jahren angeführt werden, einer sozialgeschichtlichen Richtung, deren Vertreter/-innen sich in der Nähe zu den Sozialwissen-

139 Hierbei handelt es sich um einen Leitspruch feministischer Forscherinnen in den 1970er Jahren, dessen Ersterwähnung nicht nachgewiesen werden konnte. 140 Diese anglo-amerikanische Wortschöpfung wird, laut »Oxford English Dictionary«, auf eine 1970 gehaltene Rede »Sisterhood is Powerful« der amerikanischen Aktivistin Robin Morgan zurückgeführt; siehe dazu OED: Oxford English Dictionary, s. v. »herstory«, http:// www.oed.com/view/Entry/243412?redirectedFrom=Herstory#eid (zuletzt aufgerufen am 16. 06. 2020). Zur weiteren Erklärung sei hier verwiesen auf Sheila R. Johannson, ›Herstory‹ as History: A New Field or Another Fad?, in: Liberating Women’s History: Theoretical and Critical Essays, hrsg. Berenice A. Carroll, Chicago [u. a.] 1976, S. 400–430. 141 Die Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte wird von unterschiedlichen Autoren/-innen geschildert, u. a. Gisela Bock, Historische Frauenforschung. Fragestellungen und Perspektiven, in: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. Karin Hausen (Beck’sche schwarze Reihe, 276), München 1983, S. 22– 60; Gabriella Hauch, ›Wir, die viele Geschichten haben …‹. Zur Genese der historischen Frauenforschung im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext, in: Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven, hrsg. Johanna Gehmacher und Maria Mesner (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 14), Innsbruck [u. a.] 2003, S. 21–35 oder Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (Historische Einführung, 8), Frankfurt (Main) [u. a.] 2010.

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schaften positionier(t)en.142 Gesellschaftspolitische Veränderungen wie der Demokratisierungsprozess in der alten Bundesrepublik Deutschland ließen neue Sichtweisen entstehen, die sich etablierten und dann geschichtswissenschaftliche Arbeit entscheidend beeinflussten. Gesellschaftlicher Wandel, der Einfluss sozialer Gruppen oder politische Prozesse spiegeln sich seitdem auch in der Geschichtsschreibung wider.143 Bei der Genese der Sinnesgeschichte fehlte dieses eine gesellschaftspolitische Schlüsselereignis oder eine soziale Bewegung, die ihre gesellschaftliche Teilhabe auch in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen vertreten sehen wollte. Die physische Ausstattung des Körpers mit Sinnen implizierte per se noch kein Interesse der historischen Wissenschaft an ebendiesen Sinnen als Forschungsgegenstand. Das musste erst geweckt werden: Als ein Wegbereiter der Sinnesbetrachtung in der historischen Forschung kann Lucien Febvre, Mitbegründer der französischen »Annales«-Schule, angeführt werden.144 In seinem für die »Encyclopédie fran142 An der 1969 gegründeten (Reform-)Universität Bielefeld entstand in den 1970er Jahren, geprägt von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka sowie im Umfeld Reinhart Kosellecks, der sozialgeschichtliche Ansatz der Bielefelder Schule. Im Gegensatz zum Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der sich vor allem einer politischen Ereignisgeschichte verschrieb, wendet sich die Bielefelder Sozialgeschichte gesellschaftlichen Strukturen, Gruppen und Prozessen zu. Dabei bedient sie sich der Theorien und Methoden aus Soziologie, Psychologie und Ökonomie. Dies beschreibt unter anderem Jürgen Kocka, Sozialgeschichte – gestern und heute, in: Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, hrsg. Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin 1994, S. 15–31. Zur Genese der Bielefelder Schule siehe Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, hrsg. Bettina Hitzer und Thomas Welskopp (Histoire, 18), Bielefeld 2010. 143 Die Soziologen Vincent Gengnagel und Julian Hamann kritisieren das Eigennarrativ der Bielefelder Sozialgeschichte, wonach diese eine heterodoxe Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Abgrenzung zum Historismus gewesen sei. Gengnagel und Hamann erklären die Entstehung der Bielefelder Schule dagegen mit dem oben erwähnten Demokratisierungsprozess der 1960er und 1970er Jahre. Sie habe eine gesellschaftskonforme Entwicklung dargestellt und sei im Zusammenhang mit der Öffnung der Universitäten und der Etablierung von Lehrstühlen Teil der »New Orthodoxy« geworden; siehe dazu Vincent Gengnagel und Julian Hamann, The Making and Persisting of Modern German Humanities: Balancing Acts between Autonomy and Social Relevance, in: The Making of the Humanities, 3: The Modern Humanities, hrsg. Rens Bod, Jaap Maat und Thijs Weststeijn, Amsterdam 2014, S. 641–654. 144 Viele Einführungen in die Sinnesgeschichte beginnen mit Lucien Febvre. So nennt Wolfram Aichinger Johan Huizinga und die Schule der »Annales« mit Lucien Febvre »Pioniere in der Erforschung dieser Frage« (Wolfram Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung in der Geschichte. Forschungsfragen und Forschungsansätze, in: Sinne und Erfahrung in der Geschichte, hrsg. Wolfram Aichinger, Franz X. Eder und Claudia Leitner (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 13), Innsbruck [u. a.] 2003, S. 9–28, hier: S. 13). Eine knappe Übersicht bietet ebenfalls Daniel Morat; siehe dazu Daniel Morat, Sinne, in: Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis

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çaise« verfassten Artikel zu »Geschichte und Psychologie« ruft Febvre zur Zusammenarbeit von Historikern/-innen und Psychologen/-innen auf, um eine »ganz individuelle historische Psychologie zu schaffen, die sich in den Gang der Menschheitsgeschichte einfügt«,145 somit eine »Rekonstruktion der Welt, jener ganzen physischen, intellektuellen und moralischen Welt [vorzunehmen], in der jede der vorangegangenen Generationen sich bewegt hat«.146 Daran knüpft Febvre auch in seinem 1941 erschienenen Aufsatz zu »Sensibilität und Geschichte« an, indem er zunächst auf einen Mangel an Untersuchungen zum Thema »Sensibilität« hinweist und daraufhin eine Geschichte der menschlichen Empfindungen zum Forschungsdesiderat erklärt: »Emotionen sind ansteckend [Kursivierung im Original, J. S.]. Sie implizieren zwischenmenschliche Beziehungen und kollektive Verhaltensweisen. Zweifellos gründen sie in organischen Ursachen, die individuell verschieden sind, und entstehen oft anlässlich eines Ereignisses, das nur ein Individuum allein angeht oder zumindest mit besonderer Heftigkeit berührt. Aber ihre Ausdrucksformen sind das Ergebnis einer bestimmten Reihe von Erfahrungen des Zusammenlebens, von vergleichbaren und gleichzeitigen Reaktionen auf den Druck identischer Situationen und gleicher Kontakte«.147

Gleichzeitig betont Febvre die Flüchtigkeit von Emotionen sowie die Differenz von Individuum und normativer Erwartung148. Unter dem Begriff »sensibilité« versteht er das »affektive Leben und seine Ausdrucksformen«.149 Hält er damit nicht eher ein Plädoyer für die Emotionsgeschichte, als dass er als ›starting point‹ der Sinnesgeschichte angeführt werden kann? Beides scheint hier zutreffend, denn für Febvre stehen Gefühle und Sinne in einem engen Zusammenhang. Das Handeln der historischen Akteure/-innen und deren Gefühle, so Febvre, würden stark von ihrer Sinnesumwelt geprägt und seien davon abhängig.150 Ausgehend von diesen Überlegungen, sind die Vorüberlegungen, die Febvre für die Erforschung der Sensibilität anstellt, ebenso für die Geschichte der Sinne richtungsweisend. Die Erforschung der Sinne in historischer Perspektive versteht Febvre nicht nur als notfalls entbehrlichen Zusatz einer historischen Untersuchung, sondern als zentral, weil die Sinne einen elementaren Anteil an der Entwicklung

145 146 147 148 149 150

der Geschichtswissenschaft [für Peter Schöttler zum 60. Geburtstag], hrsg. Anne Kwaschik und Mario Wimmer, Bielefeld 2010, S. 183–186. Lucien Febvre, Geschichte und Psychologie, in: Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers, hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff, Berlin 1988, S. 79–90, hier: S. 90. Febvre, Geschichte und Psychologie (wie Anm. 145), S. 89. Lucien Febvre, Sensibilität und Geschichte, in: Febvre, Das Gewissen des Historikers (wie Anm. 145), S. 91–107, hier: S. 93–94. Siehe dazu Febvre, Sensibilität und Geschichte (wie Anm. 147), S. 92. Febvre, Sensibilität und Geschichte (wie Anm. 147), S. 92. Siehe dazu Febvre, Sensibilität und Geschichte (wie Anm. 147), S. 87.

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kollektiver Muster und Verhaltensweisen hätten und somit als Schlüssel für die Erforschung von Mentalitäten dienten.151 Ein wesentlicher Bezugspunkt für Febvre war die 1919 erschienene Monografie des niederländischen Historikers Johan Huizinga »Herbst des Mittelalters«.152 Huizingas Anliegen darin waren Nachempfinden und Darstellung der Erfahrungsalterität für historische Akteure in der burgundisch-flämisch-niederländischen Welt des 14. und 15. Jahrhunderts. »Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute«;153 damit beginnt Huizinga seine Beschreibung, in der er die Alterität historischen Empfindens betont. Seiner zitierten These folgend, führt Huizinga aus, dass etwa Schmerzen, Farben, das Kälteempfinden oder auch die akustische Wahrnehmung des Glockenschlags anders geprägt gewesen und empfunden worden seien als in modernen Zeiten. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Febvre 1942 in seinem Werk »Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais«, in dessen letzten Kapiteln er nach der Sinneswahrnehmung im untersuchten Zeitraum fragt.154 Zu deren Alterität konstatiert er, dass Gehör- und Geruchssinn im 16. Jahrhundert weitaus höher ausgebildet gewesen seien als die des modernen Menschen. Obgleich Ansatz, Vorgehensweise und Ergebnisse der Febvre’schen Sinnesanalyse selbst von Vertretern der Sinnesgeschichte kritisiert werden,155 sind dies die Anfänge sinnesgeschichtlicher Forschung.

151 So folgert dies auch Jütte; siehe dazu Jütte (wie Anm. 115), S. 20–21. 152 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hrsg. Kurt Köster, mit einem Nachwort von Willem Otterspeer (Reclam-Taschenbuch, 20366), Stuttgart 2015. 153 Huizinga (wie Anm. 152), S. 10. 154 Im Kapitel »IV. Die Stützen des Unglaubens: Der Okkultismus?« verfolgt Febvre besonders die Spur des Geruchs, Geschmacks und Gehörs. In seiner Darstellung kommt er zu dem Schluss, dass der Gesichtssinn im 16. Jahrhundert noch nicht an der Spitze der Sinne gestanden habe, sondern die Ohren und die Nase seien vielmehr als prädestiniert für die Wahrnehmung der Welt betrachtet worden; siehe dazu Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Aus dem Französischen von Gerda Kurz und Siglinde Summerer, Stuttgart 2002, hier: S. 370–396, besonders: S. 382. 155 2014 kritisiert Jan-Friedrich Missfelder in einem Aufsatz die »schwer schwankende[…] Quellengrundlage«, auf der Febvre »eine ganze Sinnesökonomie des 16. Jahrhunderts« entwickelt habe; siehe dazu Jan-Friedrich Missfelder, Ganzkörpergeschichte. Sinne, Sinn und Sinnlichkeit für eine Historische Anthropologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), S. 457–475, hier: S. 462. Alain Corbin macht darauf aufmerksam, dass der von Febvre vorgestellte Ansatz der Sinnesgeschichte stark von der Lektüre Huizingas und Georges Lefebvres geprägt sei; siehe dazu Alain Corbin, Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, hrsg. Martina Kessel und Christoph Conrad (UniversalBibliothek, 9638), Stuttgart 1998, S. 121–140, hier: S. 121.

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Bereits Febvre versteht die Sinneswahrnehmung als kulturell prägend, und sie steht bei ihm neben der individuellen Wahrnehmung allgemein auch in Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld. Die Idee, Sinne, Sinnlichkeiten, Sensibilität und Emotionen, trotz aller methodischen Schwierigkeiten, im historischen Arbeiten zu beachten, ist für Febvre ein Element einer sich entwickelnden Geschichte der Mentalitäten.

I.3.b

Schwerpunkte und Anliegen bisheriger Forschung

Obwohl Febvre bereits in den späten 1930er Jahren Grundsteine für die Sinneswahrnehmung als kulturhistorisches Thema gelegt hat, werden die Sinne von der Geschichtswissenschaft lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Erst die in den 1980er Jahren veröffentlichte Arbeit des französischen Historikers Alain Corbin über Geruch weckt breites populäres Interesse und genießt Ansehen innerhalb der Disziplin. Im Sinne von Febvres mentalitätsgeschichtlichem Ansatz, der die Verbindung von Affektsystem und Sinneskultur berücksichtigt, entwickelt Corbin seinen eigenen sinnesgeschichtlichen Blick. Anders als Febvre und Huizinga ist Corbin nicht an einer bloßen Rekonstruktion der vergangenen Welt und ihres Sinnesgebrauchs interessiert, sondern an einem System von Sinneskulturen, denn die dabei zugrunde gelegte Hierarchie und Ordnung der Welt durch die Sinne verbindet Corbin mit sozialen Kämpfen sowie einer sich verändernden Um-Welt und Veränderungen der vorherrschenden Norm. In seiner Analyse folgt Corbin der Spur eines einzelnen Sinns in einer bestimmten historischen Zeit: Seine 1982 erschienene Monografie »Pesthauch und Blütenduft«156 beschreibt am Beispiel von Paris im 18. und 19. Jahrhundert die Geschichte der Geruchswahrnehmung und des Gestanks. Außer auf die sich etablierenden Parfümeurs und den Gelehrten-Diskurs über Gerüche geht Corbin darin auch auf die gesellschaftliche Vorstellung von und Verbindung zu Geruch ein. In der »Sprache der Glocken« wählt er 1994 den Zugang des Auditiven, um eine Darstellung der »Ländlichen Gefühlskultur und symbolischen Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts« vorzunehmen.157 Corbins Ansatz stellt daher für die hier vorliegende Analyse einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar, vor allem hinsichtlich des Konnexes von Sinnen und herrschenden Normensystemen.

156 Corbin, Pesthauch (wie Anm. 1). 157 Siehe dazu Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach, Frankfurt am Main 1995.

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Andere Disziplinen widmen sich bereits zuvor der Betrachtung der Sinne in historischer Perspektive, weshalb im Folgenden auch Ansätze aus der Medientheorie, Soziologie, Ethnologie sowie der Anthropologie anhand einzelner Repräsentanten/-innen kurz vorgestellt werden. Zwanzig Jahre vor den Forschungsarbeiten von Corbin veröffentlicht der Medientheoretiker Marshall McLuhan »Die Gutenberg-Galaxis«158. Darin vertritt er die These, dass jede historische Epoche durch die Vorherrschaft eines bestimmten Medientyps geprägt und folglich auch ein bestimmter Sinn in dieser Zeit vorherrschend gewesen sei. Medienumbrüche führten demnach zu einem Wandel in der Sinneshierarchie. Den großen Bogen spannt McLuhan von der Hegemonie des Auditiven in oral geprägten Kulturen bis zur Vormacht der visuellen Kultur, die Ergebnis einer zunehmenden Alphabetisierung der Gesellschaft infolge von Buchdruck und sich verbreitender Buchkultur sowie schließlich des elektronischen Zeitalters sei. Mit diesem Forschungsansatz knüpft McLuhan an die Ideen Walter Benjamins an, der zur Beobachtung der Historizität in der Sinneswahrnehmung aufruft. In seinem 1936 – zunächst in einer französischen Übersetzung – erschienenen und bis 1939 noch mehrfach überarbeiteten Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« geht Benjamin auch auf die Sinneswahrnehmung ein: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung [Kursivierung im Original, J. S.]. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in der die spätrömische Kunstindustrie und die Wiener Genesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst als die Antike, sondern auch eine andere Wahrnehmung.«159

Kritik erfährt McLuhans Vorgehen unter anderem von Vertretern einer anthropologischen Sinnesforschung. Einer ihrer bekanntesten ist der zuvor bereits genannte David Howes. Er versucht, das veränderte Zusammenspiel der Sinne im historischen Wandel mit der Methode des Kulturvergleiches herauszuarbeiten. Dabei grundlegend ist auch für die Anthropologie der Sinne die Annahme, es gebe keine von Natur aus festgelegte Sinneswahrnehmung, vielmehr sei diese von der jeweiligen sozialen Umwelt abhängig. Diese Grundannahme bildet auch die Basis für die hier vorgeschlagene kulturgeschichtliche Lesart der Sinne. Diesen Ansatz plausibilisierte Howes mit Kollegen/-innen, wie z. B. Walter Ong oder 158 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Max Nänny, Düsseldorf [u. a.] 1968. 159 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachwort von Detlev Schöttker (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1601), Frankfurt am Main 2002, S. 351–383, hier: S. 356.

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Anthony Synnott, im 1991 erschienenen Sammelband »The Varieties of Sensory Experience. A Sourcebook in the Anthropology of the Senses«160, in dem es um die Erfassung der sensorischen Dimension bei unterschiedlichen Kulturen geht. Darin erstmals vorgestellt wird auch die später häufig vertretene These des »shifting sensorium«, die die Veränderung der Bedeutung von Sinnen und einen Wandel der Sinne in der historischen Repräsentation beschreibt.161 In einem Werk von 2003 überprüft Howes seine These des sich verändernden Sensoriums am Beispiel zweier indigener Völker mit unterschiedlichen Lebensräumen.162 Dabei folgert er, dass der Gebrauch der Sinne mit dem jeweiligen Lebensraum (Landschaft mit geografischen Besonderheiten) korreliere. Besondere Erwähnung verdient auch nochmals der im genannten Band »The Varieties of Sensory Experience« von Howes veröffentlichte Aufsatz »Olfaction and Transition. An Essay on the Ritual Uses of Smell«163, in dem der Autor den Geruchssinn als Sinn der Übergänge vorstellt und dies an verschiedenen Ritualen plausibilisiert. Die Perspektive des Geruchs verfolgt Howes ebenso 1994 gemeinsam mit Anthony Synnoth und Constance Classen in »Aroma. The Cultural History of Smell«.164 Dabei wird Geruch als soziales Phänomen verstanden, dessen unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung in einem Abriss aufgezeigt wird, der chronologisch von der Antike bis ins 19. Jahrhundert sowie geografisch, mittels exemplarischer Einblicke in kulturelle Riten verschiedener Völker, in unterschiedliche Räume reicht. Bereits ein Jahr zuvor dient dieser historisch-chronologische und anthropologisch-kulturelle Zugang Constance Classen in »Worlds of Sense«165 als methodisches Vorgehen. Sie widmet dem Geruch und dem Olfaktorischen ebenfalls einen thematischen Schwerpunkt. Besonders auffällig an den Forschungsarbeiten Classens ist, dass neben sinnesgeschichtlichen Perspektiven auch ›gender‹ als notwendige Analysekategorie beachtet wird.166 Die Berücksichtigung des Geschlechts in der Erforschung von Sinnen in historischer Perspektive ist eine relevante und notwendige Ergänzung. Vielfach wurden in westlichen Kultur160 The Varieties of Sensory Experience (wie Anm. 123). 161 Siehe dazu Walter Ong, The Shifting Sensorium, in: The Varieties of Sensory Experience (wie Anm. 123), S. 25–30. 162 Siehe dazu David Howes, Sensual Relations: Engaging the Senses in Culture and Social Theory, Ann Arbor 2003. 163 Howes, Olfaction and Transition (wie Anm. 123), S. 398–416. 164 Constance Classen, David Howes und Anthony Synnott, Aroma: The Cultural History of Smell, London [u. a.] 1994. 165 Constance Classen, Worlds of Sense: Exploring the Senses in History and across Cultures, London [u. a.] 1993. 166 Dies zeigt sich beispielsweise in Constance Classen, The Color of Angels: Cosmology, Gender and the Aesthetic Imagination, London [u. a.] 1998 oder in Constance Classen, Der duftende Schoß und das zeugende Auge. Gendercodes, Sinne und Verkörperung, in: Sinne und Erfahrung in der Geschichte (wie Anm. 144), S. 75–90.

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vorstellungen seit der Antike die Sinne und das Emotionale Frauen zugeschrieben, wohingegen Männern das Rationale und klares Denken zugeordnet wurden.167 Classen betont, dass ›der Mantel‹, der in der Moderne über die Sinnesgeschichte gebreitet worden sei, auch andere Bereiche der Geschichtswissenschaft, vor allem die Frauengeschichte, verdeckt habe. In westlichen Kulturen seien Frauen traditionell mit den Sinnen, insbesondere mit den sogenannten niederen, assoziiert worden. Frauen seien der verbotene Geschmack, der geheimnisvolle Geruch, die gefährliche Berührung zugeordnet worden. Männer hingegen seien mit der Vernunft als Gegensatz zu den Sinnen oder anderenfalls mit dem Gesichts- und Hörsinn als den Sinnen, die für die vernünftigsten gehalten wurden, in Verbindung gebracht worden.168 Classens Verknüpfung der beiden Analysekategorien ›Geschlecht‹ und ›Sinne‹ ist ein Ansatz, der in der vorliegenden Forschungsarbeit berücksichtigt wird. Als Gesamtherausgeberin veröffentlicht Classen gemeinsam mit anderen Vertretern/-innen der Sinnesgeschichte (u. a. Howes und Newhauser) 2014/5 eine sechsbändige, chronologisch aufgebaute »Cultural History of the Senses«. Der Anspruch des Werkes sei, wie Classen selbst formuliert, eine Untersuchung der sinnlichen Werte und Erfahrungen in der Geschichte der westlichen Welt zu leisten, um damit einen grundlegenden (»vital«) neuen Zugang zum Verständnis der Vergangenheit zu präsentieren.169 Die Einzelbände zeigen einen gleichen Aufbau aus einem Einführungskapitel, an das sich, stets nach demselben thematischen Prinzip angeordnet, Aufsätze namhafter Vertreter/-innen der Disziplin anschließen.170 Die von Richard G. Newhauser verfasste Einleitung für den Band zur mittelalterlichen Geschichte betont zwar die gegenwärtige Aktualität 167 Wie beispielsweise im 1. Jahrhundert beim jüdischen Philosophen Philo(n) von Alexandrien, der in Auseinandersetzung mit der biblischen Schöpfungsgeschichte zur Frage Why does the woman first touch the tree and eat of its fruit, and afterwards the man also take of it? erörtert: In the allegorical sense, […] woman is a symbol of sense, and men of mind (Philo [Alexandrinus], [Works,] Supplement 1: Questions and Answers on Genesis: Translated from the Ancient Armenian Version of the Original Greek by Ralph Marcus (Loeb Classical Library, 380), Cambridge, Massachusetts 1953, I c. 37, hier: S. 22). 168 »The cloak spread over the history of the senses in modernity has also obscured other domains of history, notably, women’s history. Women have traditionally been associated with the senses in Western culture, and in particular, with the ›lower‹ senses. Women are the forbidden taste, the mysterious smell, the dangerous touch. Men, by contrast, have been associated with reason, as opposed to the senses, or else with sight and hearing as the most ›rational‹ of the senses« (Classen, The Color (wie Anm. 166), S. 1–2). 169 Siehe dazu beispielsweise Constance Classen, Series Preface [by the] General Editor, in: A Cultural History of the Senses, 5: In the Age of Empire, hrsg. Constance Classen, London [u. a.] 2014, S. X. 170 Die Kapitel der Einzelbände sind immer nach folgenden thematischen Schwerpunkten gegliedert: »The Social Life of the Senses«, »Urban Sensations«, »The Senses in the Marketplace«, »The Senses in Religion«, »The Senses in Philosophy and Science«, »Medicine and the Senses«, »The Senses in Literature«, »Art and the Senses« sowie »Sensory Media«.

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des Themas, denn der »›sensory turn‹ is one of the most ongoing projects of medieval studies in the twenty-first century«171, ist aber im Folgenden weniger ein programmatischer Überblick über Forschungsfragen der mediävistischen Sinnesgeschichte als vielmehr ein ideengeschichtlicher zur Betrachtung der Sinne aus theologischer Perspektive (Sinne, Moral und Sünden), zur Untersuchung der Sinneserbauung sowie abschließend zur Verbindung von sozialer Ordnung und Sinnen im Mittelalter. Positiv äußert sich Mark M. Smith über das Erscheinen von »A Cultural History of the Senses«, denn das Projekt rufe ins Bewusstsein zurück, dass Geschichtsforschung zu Geruch, Klang, Geschmack und Berührung – ebenso wie zum Sehen – bemerkenswert nützlich sei, um uns bei der Erinnerung daran zu unterstützen, dass die Wirklichkeit komplexer sei, als es auf den ersten Blick scheinen möge.172 In diesem Lob verbirgt sich auch Smiths eigener Forschungsansatz und zugleich seine Kritik an früheren Ansätzen. Smith spricht sich in seinem Aufsatz »Sensing the Past« gegen Ansätze von Medientheoretikern wie Benjamin oder McLuhan aus, die vor allem eine Vormachtstellung des Visuellen in wechselseitiger Abhängigkeit von der Medienentwicklung konstatiert hätten. Die Kritik Smiths an dieser Feststellung einer visuellen Hegemonie, der »great divide theory«173, zielt nicht darauf ab, die Dominanz des Sehens zu nivellieren.174 Vielmehr ist Smith daran gelegen, die anderen Sinne deshalb nicht automatisch zu vergessen und abzuwerten, sondern in die Analyse einzubeziehen und ihren Wandel nachzuvollziehen. In einem anderen Aufsatz stellt Smith die Frage, auf welche Weise Sinnesgeschichte am besten von Forschern/-innen dargestellt werden könne.175 Dabei erteilt er dem »re-enactment« als Methode der Geschichtsvermittlung im Fall der Sinnesgeschichte eine Absage,176 denn Ziel der 171 Richard G. Newhauser, Introduction: The Sensual Middle Ages, in: A Cultural History of the Senses, 2: In the Middle Ages, hrsg. Richard G. Newhauser, London [u. a.] 2014, S. 1–22, hier: S. 2. 172 »›A Cultural History of the Senses‹ reminds us that histories of smell, sound, taste and touch – as well as of sight – are remarkably useful in helping us remember that the truth is more complex than it might first appear« (Mark M. Smith, Renaissance Ruffs and Roman Aromas: In an Age of Mountebanks, Salt Was Tested by Touch, Perfumes by Smell and Glass by the Sound It made [Rezension zu A Cultural History of the Senses, 1–6, [General Editor: Constance Classen,] London [u. a.] 2014], in: The Wall Street Journal, January 30, 2015, https://www.wsj.com/articles/book-review-a-cultural-history-of-the-senses-edited-by-cons tance-classen-1422653950 (zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2020)). 173 Mark M. Smith, Sensing the Past: Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History, Berkeley 2007, S. 33. 174 Siehe dazu Smith, Sensing the Past (wie Anm. 173), S. 2. 175 »[H]ow sensory history is best presented by scholars« (Mark M. Smith, Producing Sense, Consuming Sense, Making Sense: Perils and Prospects for Sensory History, in: Journal of Social History 40,4 (Summer 2007), S. 841–858, hier: S. 842). 176 Dabei geht es vor allem um den durch Peter Charles Hoffer etablierten Ansatz einer kompletten Rekonstruktion der Sinneswelt Amerikas im 18. Jahrhundert, besonders zur Zeit der

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Sinnesgeschichte sei weniger die bloße Rekonstruktion als vielmehr die Erforschung der Bedeutung der einzelnen Sinne im zeitgenössischen sozialen Kontext. Von der Rekonstruktion historischen Empfindens zur Darstellung der Alterität historischer Lebenswelten über die Suche nach einem Leit-Sinn oder die Bestimmung von Sinneshierarchie hat die Sinnesgeschichte einen Ansatz der »intersensoriality«177 entwickelt, die eben auch Geruch, Geschmack und das Tasten berücksichtigt und dabei nach Bedeutung und Deutung der Sinne im sozialen Gefüge einer bestimmten Zeit fragt. Im Jahr 2007 proklamiert Smith: »It is a good moment to be a sensory historian«178, und in der Tat öffnet sich zu jener Zeit auch die deutschsprachige Geschichtswissenschaft dem Thema der Sinne. In seiner gelungenen Einführung und Materialsammlung zur »Geschichte der Sinne«179 verweist Robert Jütte auf ein plötzlich gestiegenes Interesse an den Sinnen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, wie Museen oder Marketing, und folgert: »Angesichts eines so reichen und sinnfälligen Angebots an Vergnügen und Freizeitgestaltung muss ein Kulturhistoriker schon mit Blindheit geschlagen sein, um ein solches Thema, auf das er ständig mit der Nase gestoßen wird, nicht aufzugreifen und zum Gegenstand eines geschichtlichen Überblicks zu machen […]«.180

Ganz allmählich mehren sich entsprechende Einführungen,181 häufiger sind allerdings noch Einzelstudien182 aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen.

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Amerikanischen Revolution, damit das Handeln und Empfinden historischer Akteure besser nachempfunden werden könne; siehe dazu Smith, Producing Sense (wie Anm. 175), S. 844. Der Begriff wird hier in Anlehnung an Smith im Kapitel »On Intersensoriality« gewählt; siehe dazu Smith, Sensing the Past (wie Anm. 173), S. 125–128. Smith, Producing Sense (wie Anm. 175), S. 841. Jütte (wie Anm. 115). Jütte (wie Anm. 115), S. 16. Im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Wien gaben Wolfram Aichinger, Franz Eder und Claudia Leitner eine Einführung in die Sinnesgeschichte, wobei sie sie als Teil der historischen Anthropologie verorteten; siehe dazu Sinne und Erfahrung in der Geschichte (wie Anm. 144). Ebenso bilden die Sinne einen Eintrag in einem als Wörterbuch angelegten Instrumentarium des Historikers; siehe dazu Morat (wie Anm. 144), S. 183–186. Beispielsweise beleuchtet 2014/15 eine Ausstellung im Haus für Geschichte Baden-Württemberg den Ersten Weltkrieg aus einer sinnesgeschichtlichen Perspektive; siehe dazu Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Fastnacht der Hölle – der Erste Weltkrieg und die Sinne [Katalog zur Großen Landesausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, 4. April 2014 bis 1. März 2015], Redaktion: Franziska Dunkel, Stuttgart 2014.

64 I.3.c

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Definitionsversuche und methodische Besonderheiten der Sinneserforschung

Was sind die Sinne und wie viele gibt es? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, befindet man sich bereits tief in der ideengeschichtlichen Erforschung der Sinne. Was zu welcher Zeit als Sinn definiert wurde, wie die Anzahl der Sinne variieren konnte und welcher Sinn an der Spitze der Rangordnung stand, war und ist von der jeweiligen religiösen Überzeugung und philosophischen Geisteshaltung sowie auch den Körpervorstellungen der betrachteten Gesellschaft abhängig.183 Trotz der Variationsmöglichkeiten können gesellschafts- und epochenübergreifende Konstanten herausgearbeitet werden. Dazu zählt unter anderem die Fünfzahl der Sinne, die sowohl in der christlich-westlichen Kultur als auch im Islam, in Indien und in China vor allem wegen ihrer Symbolkraft vorherrschend ist.184 Zu den Sinnen stellt Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele fest, [D]ass es außer den fünf Sinnen (ich meine damit Sehen, Hören, Riechen Schmecken, Tasten) keinen weiteren gibt […].185 Damit limitiert er die Anzahl nicht nur auf fünf, sondern legt mit seiner Aufzählung auch eine Rangordnung fest, deren Autorität nachhaltig wirken sollte. Aristoteles präzisiert überdies die Auffassung von der Sinneswahrnehmung dahingehend, dass jeder Wahrnehmungssinn auf ein bestimmtes wahrnehmbares Objekt gerichtet sei. So ziele der Gesichtssinn auf das Sichtbare oder auf die Farbe, die wiederum das Licht benötige, um sichtbar zu werden.186 Beim Hören sei der Ton das Wahrnehmungsobjekt, der dabei als bewegte Luft (Schall) definiert sei. Im Gegensatz zum Sehen gelte es hier zu beachten, dass sich das Objekt des Hörsinns bewegen müsse, denn allein durch Bewegung sei die Wahrnehmung möglich.187 Schwieriger sei es beim Geruchssinn, da dieser beim Menschen weniger scharf ausgebildet sei. Analog zum Geschmackssinn lasse sich das Riechende (Wahrnehmbare) nur in Auseinandersetzung mit dem/der Riechenden bestimmen: 183 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Vorstellungen bietet Jütte mit seiner ideengeschichtlichen Abhandlung; siehe dazu Jütte (wie Anm. 115). Ein knapper Abriss findet sich auch bei Constance Classen; siehe dazu Classen, Worlds of Sense (wie Anm. 165), S. 1–11. 184 Die Fünfzahl ist in unterschiedlichen Religionen oder Weltanschauungen zentral und symbolgewaltig: So kennt der Hinduismus die Idee der fünf Feuer, in China zählt man fünf Himmelsrichtungen, der Islam hat die fünf Säulen der Frömmigkeit, und die fünf Wunden Christi sind für das Christentum verehrungswürdig. Auf diese und weitere theologische Allegoresen verweist Jütte; siehe dazu Jütte (wie Anm. 115), ab S. 65–69. 185 Aristoteles, Über die Seele. Griechisch/Deutsch, hrsg. und übersetzt von Gernot Krapinger (Reclams Universal-Bibliothek, 18602), Stuttgart 2011, III c. 1, hier: S. 127. 186 Siehe dazu Aristoteles, Über die Seele (wie Anm. 185), II c. 7, hier: S. 91–97. 187 Siehe dazu Aristoteles, Über die Seele (wie Anm. 185), II c. 8, hier: S. 99.

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Denn der Mensch hat eine schlechte Geruchswahrnehmung, und bei der Wahrnehmung dessen, was er riechen kann, stellt sich stets ein Gefühl des Unangenehmen oder Angenehmen ein, weil eben dieses Sinnesorgan nicht ausgeprägt ist.188

Obwohl er dem Geruchssinn in seiner Beziehung zum Wahrnehmbaren ähnelt, wird der Geschmackssinn von Aristoteles als präziser beschrieben sowie als ein tastender – und folglich beim Menschen gut ausgeprägter – Sinn klassifiziert: Was man schmecken kann, kann man in gewissem Sinn auch tasten. Und das ist der Grund, warum Geschmack nicht durch ein Medium, also durch einen fremden Körper hindurch, wahrgenommen wird. Denn das ist auch beim Tasten nicht der Fall.189

Das heißt, der Geschmack benötige kein äußeres Medium, sondern die Wahrnehmung erfolge direkt. Bei der Charakterisierung des Tastsinns stellt Aristoteles die Frage nach dem Organ des Tastens und, daran anknüpfend, nach dessen Medium, wobei er den Körper als das angewachsene Medium für das Tastbare190 benennt. Die Bedeutung des menschlichen Tastsinns wird von Aristoteles als besonders groß eingeschätzt und seine Wahrnehmung als präzise beschrieben. Diese Betonung gilt es zu beachten, da das Tasten in der Abfolge der Sinne an letzter Stelle genannt wird. Das von Aristoteles formulierte Modell dominiert im europäischen Mittelalter die wissenschaftliche Rezeption im Hinblick auf die Anzahl und Rangordnung der Sinne – Letztere aufgrund der vom antiken Philosophen gewählten Abfolge und Gruppierung (Sehen und Hören, Riechen, Schmecken und Tasten). Sowohl frühchristliche Denker wie Johannes Chrysostomos und Kirchenväter wie Augustinus als auch Kirchenlehrer wie Hrabanus Maurus – in seiner Enzyklopädie De universo – oder Vertreter der Scholastik wie Albertus Magnus – in seinen Aristoteleskommentaren – beziehen sich auf und bestätigen das aristotelische Modell. In dieser Tradition steht auch Thomas von Aquin, der mit Bezug auf Aristoteles die Hierarchie der Sinne fortschreibt, indem er die Hegemonie des Sehens unterstreicht. Ebenso betont er eine Überlegenheit des Intellekts gegenüber den Sinnen. Gleichwohl haben christliche Denker ein ambivalentes Verhältnis zu den Sinnen. Auf der einen Seite sind die Sinne natürlich, denn sie sind Teil der körperlichen Natur, und auf der anderen Seite liegt genau darin das Problem: Als Teil der körperlichen Natur stehen sie im Gegensatz zum Geist. So legt es auch schon Augustinus in seinen Bekenntnissen dar, in denen er die Sinne zwar als wichtiges Medium benennt, um Gott zu erfahren, sie aber gleichzeitig zum Ausgangspunkt für Sünden stilisiert.191 188 189 190 191

Aristoteles, Über die Seele (wie Anm. 185), II c. 9, hier: S. 107. Aristoteles, Über die Seele (wie Anm. 185), II c. 10, hier: S. 111. Aristoteles, Über die Seele (wie Anm. 185), II c. 11, hier: S. 117. Einen guten Überblick zu den Positionen christlicher Denker liefert Anthony Synnott, der anhand einzelner Repräsentanten die Konstanten aristotelischen Denkens im Mittelalter

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Allerdings verändert sich die Lesart der Sinne mit dem Ende des Mittelalters. Jütte beschreibt, wie das ambivalente Verhältnis zu ihnen verschwunden bzw. praktischer geworden sei und die Sinne in der frühen Neuzeit schließlich, wie beispielsweise bei René Descartes, unter dem Aspekt ihrer rein körperlichen Funktionen zum Gegenstand des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses avanciert seien.192 John Locke schreibt in »An Essay Concerning Humane Understanding« von 1690, dass die Sinneswahrnehmung eine bedeutende Quelle für die meisten Ideen sei, die wir hätten.193 Außerdem verändert er die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Intellekt und Sinnen, indem er konstatiert, die Gedanken entstünden zwar im Geist, träten jedoch durch die Sinne ein.194 Auch das Zeitalter der Empfindsamkeit wandelt die Sicht auf die Sinne hin zu einer Wertschätzung der Sinne und des Sinnlichen.195 Bis heute werden die Sinne im Alltag genutzt und nutzbar gemacht. Wir benötigen sie zur Wahrnehmung unserer Umwelt, doch können wir auch – speziell für unsere Sinne und nach unserer Prägung – manipulierte Reize unserer Außenwelt erhalten, wie Marketingstrategien zeigen. Gleichwohl ermöglichen die Sinne eine Wahrnehmung der Außenwelt, die nicht nur passiv verläuft. Vielmehr gestaltet sie sich als Interaktion, bei der die Sinne als Kommunikationsorgane zwischen Individuum und Außenwelt dienen. Jeder Wahrnehmung obliegt dabei auch eine Interpretation, die sich auf eine individuelle Erfahrung bezieht, die in einem bestimmten kulturellen Umfeld geprägt wurde. Obgleich das aristotelische Modell bis in die Gegenwart seine

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herausarbeitet; siehe dazu Anthony Synnott, Puzzling over the Senses: From Plato to Marx, in: The Varieties of Sensory Experience (wie Anm. 123), S. 61–78, hier: S. 64–69. Jütte bietet eine Übersicht zur Sinnesbetrachtung nach der Scholastik; siehe dazu Jütte (wie Anm. 115), hier besonders: das Kapitel »Frühneuzeitliche Naturphilosophie«, S. 63–64. This great Source, of most of the Ideas we have, depending wholly upon our Senses, and derived by them to the Understanding, I call SENSATION [Großschreibung im Original, Unterstreichung dort Kursivierung, J. S.] (John Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1690), hrsg. mit einer Einleitung, kritischem Apparat und Glossar von Peter H. Nidditch (The Clarendon Edition of the Works of John Locke), Oxford 1975, II c. 1,3, hier: S. 105). Though the Qualities that affect our Sense, are, in the things themselves, so united and blended, that there is no separation, no distance between them: yet’ tis plain, the Ideas they produce in the Mind, enter by the Senses simple and unmixed [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (Locke (wie Anm. 193), II c. 2,1, hier: S. 119). Hierbei knüpft Locke an den von Thomas von Aquin formulierten Gedanken an, dass nichts im Geist sei, was nicht zuvor in den Sinnen sei: Praeterea, nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu (Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, quaestio 2 articulus 3 argumentum 19, in: Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici opera omnia. iussu impensaque Leonis XIII. P.M. edita. (Edition Leonia) 22, 1: Quaestiones disputatae de veritate, Praefatio – QQ. 1–7, Rom 1975, hier: S. 49). Eine Zusammenfassung zur Sensualphilosophie im Zeitalter der Empfindsamkeit bietet Jütte (wie Anm. 115), S. 140–156.

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Gültigkeit und wiederkehrende wissenschaftliche Bestätigung erhalten hat, betont beispielsweise Karl Marx die Veränderbarkeit der Sinne in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Umfeld: »Die Bildung [Kursivierung im Original, J. S.] der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte«.196 Dabei impliziert der Autor, dass der Versuch, die Sinne sowie ihre Anzahl und Rangordnung zu definieren, nur unter Berücksichtigung ihrer Abhängigkeit von einer Gesellschaft und des Wechselspiels mit individueller Wahrnehmung unternommen werden kann. Anknüpfend daran, soll auch hier keine abschließende Definition der Sinne erfolgen, sondern eine generelle Reflexion darüber geboten werden, wie die Sinne sich als Möglichkeit eines Individuums betrachten lassen, die Umwelt wahrzunehmen. Als essenzielle Kommunikationsmittel befähigen sie den Menschen, mit Anderen oder mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Von den Kommunizierenden sind dabei Anzahl, Rangordnung und Einteilung der Sinne in deren wechselseitiger Abhängigkeit von normativen Vorstellungen einer Gesellschaft zu bestimmen und auszuhandeln. Körperliche und geistige Sinne oder: Die Parabel von den zehn Jungfrauen Abgesehen von einer Hierarchisierung ordnen erstmals Origenes und Avicenna, aufbauend auf dem aristotelischen Modell, den fünf physischen Sinnen jeweils einen korrespondierenden geistigen/spirituellen Sinn zu.197 Laut den beiden 196 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Drittes Manuskript, in: Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, hrsg. Barbara Zehnpfennig (Philosophische Bibliothek, 559), Hamburg 2005, S. 79–150, hier: S. 93. 197 sensus autem dico et eos, qui et communiter intelleguntur, visio, auditio, odoratio, gustatio, palpatio, et eos, qui in Proverbiis appelantur divini, hoc modo dicentibus: »sensum divinum invenies«. iterum autem quoniam verbum dei causa est, ut rectus fiat sensuum usus, et non est possibile eum, cum sit in sensibus, […] ut in quibusdam quidem sensibus operetur et diligenter tribuat, quae prudentiae suae sunt, in aliis autem neglegat, ideo si unum de sensibus fecerit sapientem, ut virgo constituatur, necesse est ut et in aliis sensibus sapientiam suam effundat. propterea non est videre de quinque sensibus in aliquando quosdam quidem fatuos, quosdam autem prudentes; sed necesse est aut omnes quinque sint prudentes, aut omnes fatui [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (Origenes, Werke, 11: Matthäuserklärung, 2: Die lateinische Übersetzung der Commentariorum series, hrsg. Erich Klostermann unter Mitwirkung von Ernst Benz (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, 38), Leipzig 1933, Nr. 63 (zu Mt 25,1–5), hier: S. 146. Sinne nenne ich aber auch die, die auch allgemein als solche verstanden werden, nämlich Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und diejenigen, die in den Sprichwörtern göttlich genannt werden, wenn es dort heißt: »Du wirst den göttlichen Sinn finden« [Spr 2,5]. Da aber wiederum das Wort Gottes die Ursache dafür ist, dass es (d. h. das Wort Gottes), welches ja in den Sinnen ist, in einigen Sinnen wirkt und (ihnen) achtsam zuteilt, was von seiner Klugheit herkommt, in anderen (Sinnen) aber Nachlässigkeit walten ließe, deshalb ist es notwendig, dass es, wenn es einen der Sinne weise gemacht hat, so daß er als Jungfrau hingestellt wurde, auch in die anderen Sinne seine Weisheit ausgießt. Deshalb kann man nicht erleben, daß bei irgend jemandem von den fünf Sinnen einige dumm, andere klug wären; vielmehr sind notwendigerweise entweder alle fünf klug oder alle fünf dumm [Hervorhebung im Original

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Olfaktorik und Entgrenzung: zur religiösen Handlungspotenzialität

Gelehrten ermöglichten die spirituellen Sinne den Menschen die Wahrnehmung übernatürlicher bzw. transzendenter Phänomene, vor allem in Bezug auf die Begegnung mit Gott. Neben Origenes’ sind sicherlich Augustinus’ Aussagen über die fünf Sinne und ihre Aufteilung in körperliche und geistige eine wichtige Quelle für die christliche Rezeption der aristotelischen Theorie, etwa bei Gregor dem Großen oder Beda Venerabilis. Augustinus erläutert die Sinne in seiner Interpretation der Parabel von den zehn klugen und törichten Jungfrauen.198 Im Matthäusevangelium wird diesbezüglich folgendes Gleichnis erzählt: Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit. Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein. Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht. Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die Klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht lieber zu den Händlern und kauft, es euch! Während sie noch unterwegs waren, um es zu kaufen, kam der Bräutigam. Die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal und die Tür wurde zugeschlossen. Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen und sprach: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. (Mt 25,1–13)199

Die Parabel beginnt kontextlos, ein Zusammenhang zu vorausgehenden oder nachfolgenden Textstellen ist nicht erkennbar. Versuche, die in der Parabel beschriebene Handlung durch den Vergleich mit Hochzeitsriten in einem zeitgenössischen Kontext zu verorten, wurden unternommen, jedoch konnte kein historisches Umfeld bestätigt werden.200 Nach der klassisch-christlichen Lesart durch Kursivierung, J. S.] (Origenes, Der Kommentar zum Evangelium nach Mattäus, 3: Die Commentariorum series, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Hermann J. Vogt (Bibliothek der Griechischen Literatur, 38), Stuttgart 1993, Nr. 63, hier: S. 197–198). Eine Auflistung findet sich auch bei Jütte (wie Anm. 115), S. 57–60 und S. 70. 198 Siehe dazu Augustinus, LIX. De decem virginibus/59. Die zehn Jungfrauen, in: Aurelius Augustinus’ Werke in deutscher Sprache [2,3]: Dreiundachtzig verschiedene Fragen/De diversis quæstionibus octoginta tribus, zum erstenmal in deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Paderborn 1972, S. 106–117. 199 Alle deutschen Bibelstellen sind zitiert nach Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe [Lizenzausgabe der Katholischen Bibelanstalt], Stuttgart 2016, online unter: https://www.bibleserver.com/start (zuletzt aufgerufen am 08. 07. 2021). 200 Moisés Mayordomo, Kluge Mädchen kommen überall hin … (Von den zehn Jungfrauen) Mt 23,1–13, in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, hrsg. Ruben Zimmermann, Darmstadt 2007, S. 488–503, hier: S. 490–491.

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symbolisiert der Bräutigam hier Christus, zu dessen Ankunft zehn Jungfrauen, wartend mit Lampen, bereitstehen. Ob es sich dabei um Jungfrauen im Sinne von keusch lebenden oder jungen, unverheirateten Frauen handelt, klärt die Parabel nicht. Aufgrund der Tatsache, dass einige der Jungfrauen Öl für die Lampen mitnehmen, scheidet sich ihre Gruppe in zwei Teile, die aufgrund dieser vorbereitenden Handlung als klug bzw. töricht bezeichnet werden. Da sich die Ankunft des Bräutigams – aus nicht genannten Gründen – verzögert, schlafen die Jungfrauen ein. Die letzten Worte und die Mahnung unterstützen mit der Akklamationsformel Amen die Annahme von Jesus als Bräutigam. Zunächst stellt Augustinus fest, dass die Teilung der Gruppe in fünf und fünf gleichsam eine Teilung in Gut und Böse widerspiegele (Decem utique virginum quod quinque admittuntur, quinque excluduntur, bonorum et malorum discretionem significat201). Dann fragt er, was die Zahl fünf bei den beiden Gruppen bedeute (Deinde quid sibi vult numerus in utraque parte quinarius?202), worauf er selbst antwortet: Mir erscheinen also die fünf Jungfrauen als Sinnbilder einer fünffachen Verzichtleistung auf fleischliche Verführung. Zu enthalten hat sich das Begehren der Seele vor Augenlust, Ohrenlust, Geruchslust, Gaumenlust und Berührlust.203

Die fünf Jungfrauen werden bei Augustinus als Sinnbild gelesen für fünf Verzichtleistungen auf fleischliche Verlockungen. Durch die vorherige dichotomische Einteilung in fünf Gute und fünf Böse werden von Augustinus zwei einander entgegenstehende Möglichkeiten aufgezeigt: jene, sich zu enthalten, und jene, sich nicht zu enthalten. Zu enthalten habe sich das Begehren der Seele nämlich fleischlicher Gelüste. Dabei reiche es nicht, diesen fleischlichen Verführungen (carnis illecebris) ein einziges Mal zu widerstehen, sondern es bedürfe der Anstrengung eines mehrfachen Verzichts, nämlich eines fünffachen (quinque partitam continentiam). Die fleischlichen Verführungen werden dann korrespondierend zu den Sinnen aufgezählt, die Sinne jedoch nicht genannt, sondern ein jeder sogleich mit einem Laster verbunden (a voluptate oculorum, a voluptate aurium, a voluptate olfaciendi, gustandi, tangendi). Hierbei gilt es festzuhalten, dass die Reihenfolge in aristotelischer Tradition erfolgt: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Auch scheint eine innere Wertung bei der Aufzählung zu erfolgen: Die Lust der Augen und die Lust der Ohren werden einzeln unter Bezeichnung der entsprechenden Organe genannt, wohingegen die anderen 201 Augustinus, LIX. De decem virginibus (wie Anm. 198), S. 108. 202 Augustinus, LIX. De decem virginibus (wie Anm. 198), S. 108. 203 Videntur itaque mihi quinque virgines significare quinque partitam continentiam a carnis illecebris. Continendus est enim animi appetitus a voluptate oculorum, a voluptate aurium, a voluptate olfaciendi, gustandi, tangendi (Augustinus, LIX. De decem virginibus (wie Anm. 198), S. 108 bzw. 109 (deutsche Übersetzung)).

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Sinneswahrnehmungen sich als attributive Verbalsubstantive ein Bezugswort teilen (Lust des Riechens, Schmeckens und Berührens). Diese Gruppierung spiegelt eine Einteilung in höhere Sinne wider, wozu Gesichtssinn und Hörsinn zählen, die sich mehr auf geistige Dinge verlegen; daneben stehen die niederen Sinne, die mit Geruch, Geschmack und Tasten mehr auf Materielles gerichtet sind. Augustinus erläutert, dass sich die Einteilung in diametral einander entgegengesetzte Kategorien von gut und böse oder, wie in der Parabel, klug und töricht aus unterschiedlichen Motiven der Jungfrauen speise: Bei den guten liege der Antrieb für ihre Enthaltsamkeit darin, Gott damit Freude zu bereiten. Bei den törichten handele es sich zwar noch immer um Jungfrauen, aber die Motive für ihr Festhalten an der Jungfräulichkeit bewertet Augustinus als töricht. Denn sie hätten lediglich die Absicht, vor den Menschen ein gutes Bild abzugeben, indem sie allen zeigten, dass sie jungfräulich seien. Ihre Beweggründe seien nicht auf Gott gerichtet, sondern zielten lediglich auf eine Außenwirkung und Anerkennung in ihrer sozialen Lebenswelt.204 Augustinus’ Deutung der zehn Jungfrauen sowie die Parabel über die Jungfrauen selbst aus der Perspektive der Sinne weiter zu verfolgen, ist ein reizvolles Anliegen, das bisher in der Forschung wenig verfolgt wurde.205 Gleichwohl reicht an dieser Stelle Augustinus’ Auslegung aus, um exemplarisch aufzuzeigen, wie das von Aristoteles formulierte Modell der fünf Sinne und ihrer von ihm vorgestellten Reihenfolge in die christliche Bildsprache eingefügt und als Interpretationsrahmen herangezogen wurde, um die Fünfzahl der Sinne zu bestätigen. 204 Sed quia ista continentia partim coram Deo fit, ut illi placeatur in interiori gaudio conscientiæ; partim coram hominibus tantum, ut gloria humana capiatur; quinque dicuntur sapientes, et quinque stultæ: utræque tamen virgines, quia utraque continentia est, quamvis diverso fomite gaudeat/Weil aber diese Enthaltsamkeit nur zum Teil vor Gott geübt wird, um ihm zu gefallen in der inneren Freude des Gewissens, zum andern Teil bloß vor Menschen, damit menschlicher Ruhm erlangt wird, deshalb ist von fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen die Rede; beide trotzdem Jungfrauen, weil bei beiden Enthaltsamkeit vorhanden ist, die allerdings auf verschiedenen Antrieben beruht (Augustinus, LIX. De decem virginibus (wie Anm. 198), S. 108 und S. 110 bzw. S. 109 und S. 111). 205 Die Parabel von den zehn Jungfrauen war häufig Gegenstand von Interpretationen, bereits bei den Kirchenvätern. In den letzten Jahrzehnten nahmen vor allem feministische Theologen/-innen die Verhaltensweise der klugen Jungfrauen sowie das Warten und Verhalten des Bräutigams in den Blick. Es fehlt jedoch eine Lesart, die die frühe Interpretation der Fünfzahl als Sinne in einen neuen sinnesgeschichtlichen Kontext bringt. Veröffentlichungen der letzten Jahre: Regine Körkel-Hinkfoth, Die Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt. 25,1–13) in der bildenden Kunst und im geistlichen Schauspiel (Europäische Hochschulschriften. Reihe 28, 190), Frankfurt am Main 1994; Vicky Balabanski, Opening the Closed Door: A Feminist Reading of the ›Wise and Foolish Virgins‹ (Mt. 25.1– 13), in: The Lost Coin: Parabels of Women, Work and Wisdom, hrsg. Mary Ann Beavis, London [u. a.] 2002, S. 71–97 sowie auch Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, 4. Auflage, Gütersloh 2015, S. 44–54 und Mayordomo (wie Anm. 200), S. 488–503.

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Außerdem wird mit der Verbindung zwischen Sinnen und fleischlichen Verlockungen ein Konnex vorgestellt, der die Sinne an zwei Polen verortet: fleischlichen und geistigen. Diese bipolare Einteilung greifen auch spätere Interpretatoren der Parabel auf, wie z. B. Honorius Augustodunensis. Sie belegen die Verbindung von Sinnen und Körper oder Körperlichkeit mit einer negativen Konnotation, die dann vor allem im christlichen Deutungsrahmen Gebrauch findet. In dieser Studie ist bisher aufgezeigt worden, dass sowohl eine hierarchische Anordnung der Sinne als auch deren Einteilung in körperliche und geistige nur in Verbindung mit und wechselseitiger Abhängigkeit von einer Kontextanalyse fruchtbar sein kann. Anknüpfend daran, stellt sich die Frage: Wie kann man Sinneswahrnehmungen in der historischen Forschung betrachten? Methodische Besonderheiten teilt sich die Sinnesgeschichte mit der Emotionsgeschichte. So vergisst Febvre bei der Erforschung der Sensibilität nicht zu betonen, dass »die Aufgabe […] schwer, die Arbeitsgeräte rar und schwierig zu handhaben«206 seien. Und auch Corbin nennt ein wesentliches Problem der Erforschung der Sinne, nämlich »die Flüchtigkeit der Spur«.207 Sicherlich würde, so Corbin, eine genaue Kenntnis der Arbeitswelt, des Lebensalltags und der Lebensumwelt mit ihren geografischen Besonderheiten helfen, das sinnliche Umfeld der Menschen zu rekonstruieren. Den »Gebrauch der Sinne, ihrer erlebten Rangordnung und wahrgenommenen Bedeutung«208 zu verstehen, vermöge die Rekonstruktion allein jedoch nicht. Deshalb plädiert Corbin für die Berücksichtigung des Normativen und der Ordnung des Sozialen, um den Gebrauch der Sinne erklärbar zu machen. Die normative Ordnung einer bestimmen Zeit zu kennen, helfe bei der Deutung der Sinne, ihrer Rangordnung und ihres Gebrauchs. An die gesellschaftliche Normierung knüpft Corbin an, wenn er ein weiteres Problem der Sinnesgeschichte benennt. Um Auskunft über den Gebrauch der Sinne zu erhalten, bleibt für die historische Erforschung lediglich die Sprache: »Da nun der Historiker in einem noch stärkeren Maße als der Anthropologe ein Gefangener der Sprache ist, muss er sich wenigstens darum bemühen, das aufzuweisen, was die Grenze zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten absteckt«.209 In dieser Mahnung liegen zwei Hinweise verborgen: erstens der auf die bereits angesprochene gesellschaftliche Rückkopplung an Normen, an gesellschaftlich vorherrschende Diskurse und Leitideen, zweitens der auf die Sprache, die zum Problem wird. Sie ist zwar nicht das einzige Wahrnehmungsmedium der 206 207 208 209

Febvre, Sensibilität und Geschichte (wie Anm. 147), S. 99. Corbin, Geschichte und Anthropologie (wie Anm. 155), S. 126. Corbin, Geschichte und Anthropologie (wie Anm. 155), S. 126. Corbin, Geschichte und Anthropologie (wie Anm. 155), S. 133.

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Sinne, ist aber für den Historiker/die Historikerin einer der wenigen verbliebenen Zugänge zu vergangenen Sinneswelten. Sicherlich ermöglichen einige sogenannte Überrestquellen, Artefakte wie Bisamäpfel (kleine apfelförmige Kugeln, die mit ausgewählten Kräutern oder Aromen gefüllt waren), oder auch bildliche Darstellungen einen Einblick in die Sinneswahrnehmung, doch scheint diese Zugangsmöglichkeit nur relativ selten gegeben. Denn laut Medientheoretikern wie McLuhan oder auch Ong würden im sozialen Miteinander visuelle und auditive Fähigkeiten am meisten frequentiert und seien gleichzeitig hoch entwickelt. Aufgrund vielfacher sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten kann ein visuell oder auditiv gefälltes Urteil klar formuliert und intersubjektiv nachvollziehbar gestaltet werden. Das bedeutet freilich nicht, dass die Wahrnehmung mit Augen und Ohren bei jedem Menschen gleich verläuft; jedes Individuum sieht und hört anders, lediglich der Austausch über visuelle und auditive Wahrnehmungskanäle ist geschulter. Aufgrund dieses elaborierten Entwicklungsstandes im sozialen Miteinander werden Sehen und Hören häufig als menschliche Hauptsinne betrachtet, ihrer Wahrnehmung und folglich auch ihrer Bewertung wird das Klare, Rationale und Kognitive zugeschrieben. Auch der Zugang zu vergangenen Gesellschaftsformen verläuft scheinbar nach der Hierarchie der Sinne: Neben Textquellen stellen Bildquellen das meistkonsultierte Quellenkorpus in der Geschichtswissenschaft dar und spiegeln damit die Dominanz der visuellen Wahrnehmung. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist es möglich, Gesprochenes nicht nur in geschriebener Weise zu konservieren, sondern auch als Audio-Dokument zu bewahren und dessen Inhalt wiederzugeben.210 Welche Möglichkeiten stehen zur Verfügung, um geruchliche, geschmackliche und taktile Erfahrung für die Nachwelt zu konservieren? Um dies zu beantworten, kann erneut Corbin angeführt werden, der auf die Beschränkungen der Sprache verweist, denen der Historiker/die Historikerin unterliege: Auch das Olfaktorische, Gustatorische und Taktile seien der Nachwelt zugänglich, jedoch mithilfe eines anderen als des ursprünglichen Mediums. Die eigentlichen sinnlichen Erfahrungen würden transformiert und könnten nur über den Umweg der Sprache konserviert werden. Somit sei Sprache einerseits

210 Im Jahre 2008 gelingt es amerikanischen Forschern des Berkeley National Laboratory in Kalifornien, die älteste heute noch zur Verfügung stehende Tonaufzeichnung, eine Phonautograph-Aufnahme des französischen Kinderlieds »Au clair de la lune« aus den 1860er Jahren, wieder hörbar zu machen. Diese Entdeckung wird daraufhin auch in populären Leitmedien verkündet; siehe dazu beispielsweise Christoph Seidler, Sensationsfund. Forscher präsentieren älteste Tonaufnahme der Welt, in: Spiegel online, 27. 03. 2008, http://www. spiegel.de/wissenschaft/mensch/sensationsfund-forscher-praesentieren-aelteste-tonaufna hme-der-welt-a-543754.html (zuletzt aufgerufen am 12. 07. 2021).

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ein Filter bei der Erforschung der Sinne in historischen Kontexten, andererseits biete sie die beste Zugangsmöglichkeit. Die dargelegten, methodisch relevanten Besonderheiten, wie veränderte Rangordnungen innerhalb des Untersuchungsgegenstandes, Schwierigkeiten der Überlieferung sowie Dominanz der Sprache als Zugang, beschreiben den Rahmen für eine sinnesgeschichtliche Forschung, deren Ziel es ist, die Sinne zu historisieren. Damit einhergehen muss das Nachzeichnen eines sensuellen Erfahrungswandels in Abhängigkeit von veränderten Lebenswelten. Dieser kann sowohl im Kulturals auch im diachronen Vergleich herausgearbeitet werden. Ziel des jeweiligen Vergleiches ist es zu zeigen, wie Sinne Produkte ihrer Zeit, gesellschaftlichen Normierung und örtlichen Umgebung sind. Neben dem methodischen Zugriff durch einen Vergleich kann daher auch die Analyse eines Einzelfalls Einblick in den Gebrauch der Sinne, deren Zusammenspiel und die sinnliche Rangordnung zu einer bestimmten Zeit liefern. Ein wesentliches Element dabei ist die historische Kontextualisierung. So kann sowohl in diachron vergleichender Perspektive als auch bei der Analyse eines Einzelfalls die Verknüpfung der Bedeutung und Wertordnung, die den einzelnen Sinnen und Sinneseindrücken attribuiert wurden, herangezogen werden, um zu erklären, wie die Sinne als soziale Produkte einer Gesellschaft im Miteinander wirkten.211

211 Aichinger nennt als Kernbereiche einer historischen Anthropologie der Sinne: erstens die Erörterung des Wandels menschlicher Sensibilität in Wechselwirkung mit geänderten Umwelten und Gesellschaften, zweitens die Untersuchung des Gebrauchs und Zusammenspiels der Sinne in unterschiedlichen Kulturen und Epochen und drittens die Erforschung der wechselnden Bedeutungen, Werte und Normen, mit denen die Sinne und einzelnen Sinneseindrücke verknüpft waren bzw. sind; siehe dazu Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung (wie Anm. 144), S. 10–11. Gleichfalls einen Überblick über Fragen der Sinnesgeschichte legt Jan-Friedrich Missfelder vor, der dabei mehrere Generationen sinnesgeschichtlicher Forschungsarbeiten benennt und eine ältere Sinnesgeschichte konstatiert, die nach diskursiven Ordnungsmustern und Hierarchisierungen im Sensorium fragt. Die nächste Generation, die unter anderem von Alain Corbin vertreten worden sei, habe ihr Interesse auf konkrete sensuelle Praktiken in einem bestimmten kulturellen Bezugsrahmen gerichtet. Für die Ansätze der neueren Sinnesgeschichte, die Missfelder als post-Corbin’sche bezeichnet, verweist er auf Vertreter/-innen wie M. M. Smith. Als zentrales Anliegen formuliert er, historische sensorische Erfahrung als einen Prozess der Bedeutungsstiftung und der Erzeugung sozialen Sinns durch intersubjektiv kommunizierte Dramatisierung zu verstehen; siehe dazu Missfelder (wie Anm. 155), S. 463–464.

II.

Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Die Überlieferungssituation und der Forschungsstand zu den Visionen einer gewissen Jungfrau sind unübersichtlich, weshalb nachfolgend zunächst alle gegenwärtig bekannten und verfügbaren Textzeugen benannt und beschrieben werden sollen. Daran knüpft eine ordnende Darstellung der bisher erschienenen (Teil-)Editionen und Übersetzungen an.

II.1

Handschriften

Zur Überlieferungssituation benennt Kurt Ruh in der zweiten, neu überarbeiteten Auflage des »Verfasserlexikons« von 1978 (Nachdruck 2010) zunächst die 1731 von Bernhard Pez angefertigte Editio princeps, die auf der heute verschollenen Neresheimer Handschrift (Ne) basiert. Außer auf die gleichfalls verschwundene Straßburger Abschrift (St) weist er zudem auf das einzige für ihn 1978 auffindbare Manuskript aus der Stiftsbibliothek Zwettl (Zw) hin.212 In seiner Edition nennt Peter Dinzelbacher (1994), zusätzlich zu den bei Ruh erwähnten verschollenen bzw. noch einsehbaren Handschriften, zwei weitere aus der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz (M1 und M2).213 Obgleich 1982 im Handschriftenkatalog der Universitätsbibliothek Basel von einer weiteren Handschrift (Ba) berichtet wird,214 nennt Dinzelbacher sie in seiner Einleitung zur gemeinsam mit Vogeler erstellten Edition von 1994 nicht. 2010 erstellt Franz Lackner einen Überblick über die Textzeugen, in dem er das aus Magdeburg stammende Manuskript (Ma), das heute in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wird, sowie die von ihm detailliert beschriebene Lilienfelder Handschrift

212 Siehe dazu Ruh, Blannbekin, Agnes (wie Anm. 14), Sp. 887–890. 213 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 19–22. 214 Siehe dazu Martin Steinmann, Die Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Register zu den Abteilungen AI – AXI und O (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel, 4), Basel 1982, S. 75 und 349.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

(Li) ergänzt.215 Nach der Recherche in weiteren Katalogen kann die Verfasserin dieser Liste noch eine weitere Abschrift hinzufügen, die in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz aufbewahrt wird (M3). Um die vorhandenen Textzeugen zu gruppieren, sollen nachfolgend neben ihrer jeweils kurzen Beschreibung vor allem Fragen nach Strukturierung, Gebrauchsspuren, Entstehungszeit und -ort sowie der Erwähnung des Namens Agnes Blannbekin im Fokus stehen (II.1.a bis II.1.g). Daran schließt sich eine zusammenfassende Bewertung der Handschriften an (II.1.h). Anknüpfend daran wird als Neubezeichnung des gesamten Werkes der Titel Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis) aus den Handschriften abgeleitet (II.1.i). Dem folgt eine synoptische Tabelle der Handschriften, sodass Abhängigkeiten und Verwandtschaften auch über inhaltliche Einteilungen nachvollzogen werden können (II.1.j). Zunächst wird mit der folgenden Tabelle jedoch eine schematische Übersicht über die gegenwärtig bekannten Textzeugen geboten. In ihr erscheinen die verschollenen Handschriften, die nur noch als (Teil-)Abschriften zugänglich sind, sowie die verfügbaren Manuskripte unter Angabe ihres letzten bzw. aktuellen Aufbewahrungsortes sowie ihrer Provenienz und Entstehungszeit in chronologischer Folge. Verschollene Handschriften Ne Neresheim, Bibliothek der Benediktinerabtei, verschollen (überliefert durch Pez) St Straßburg, Stadtbibliothek, verschollen (Teilüberlieferung durch Görres) Li Zw M1 M2 M3 Ma

Noch vorhandene Handschriften Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145, fol. 45ra-70rb Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384, fol. 29r–76v Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a, fol. 268r–274v Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 117, fol. 188r–195v Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 160, fol. 51r–55r Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Magdeburg 174, fol. 79v–89r

k. A./frühes 14. Jh. Johanniterkloster Straßburg/ 14. Jh.(?) Lilienfeld/erstes Viertel 14. Jh. Privatbesitz eines Wiener Priesters/erste Hälfte 14. Jh. Kartause Mainz/Mitte, zweite Hälfte 14. Jh. Kartause Mainz/nach 1348 Kartause Mainz/1376 Dominikanerkloster Magdeburg/15. Jh.

215 Siehe dazu Franz Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger der Visionen der Agnes Blannbekin, Lilienfeld, Stiftsbibliothek, Cod. 145, 45ra-70rb, in: Code(x). Festgabe zum 65. Geburtstag von Alois Haidinger, hrsg. Martin Haltrich (Codices manuscripti/ Supplementum, 2), Purkersdorf 2010, S. 68–76.

Handschriften

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(Fortsetzung) Ba Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v–158Ar Kartause Basel/ drittes Viertel 15. Jh. Tabelle 1: Übersicht über bekannte Textzeugen

II.1.a Neresheim, Bibliothek der Benediktinerabtei, verschollen (Ne) Die Grundlage für die 1731 vom Melker Benediktinermönch Bernhard Pez herausgegebene Editio princeps bildete die heute verschollene Handschrift aus der schwäbischen Benediktinerabtei Neresheim. In seiner Einleitung datiert Pez die Handschrift in das 14. Jahrhundert.216 Bei seiner Editionsarbeit wurde er unterstützt von »Leopoldus Wydemannus«,217 Leopold Wydemann, einem Kartäuser aus Gaming in Niederösterreich, der für ihn die Transkription übernahm. Einleitend gewährt Pez Einblick in seine Arbeitsweise und erwähnt, dass die Mönche der Abtei Neresheim ihm erlaubt hätten, nicht nur vor Ort zu arbeiten, sondern die Handschrift auch mit nach Hause zu nehmen: »non solum amplissimam codicis exscribendi facultatem mihi in loco indulserunt, verùm etiam, ut eundem domum mecum deportarem, benignissimi auctores extiterunt«.218 Vermutlich fand das Manuskript daraufhin nicht mehr seinen Weg zurück in die Abtei Neresheim; zumindest ist es dort gegenwärtig nicht mehr auffindbar. Seine Nachforschungen, so Dinzelbacher, hätten ergeben, dass die Handschrift auch nicht im Regensburger Zentralarchiv der Familie Thurn und Taxis aufbewahrt werde, wohin im Jahr 1803 ein kleiner Teil der Neresheimer Bestände gelangt sei.219 Auch der beinahe vollständig digitalisierte Nachlass der Brüder Bernhard und Hieronymus Pez verzeichnet die gesuchte Handschrift nicht.220 Ob diese dennoch unverzeichnet im Heimatkloster der Brüder, dem niederösterreichischen Benediktinerstift Melk, liegt, könnte nur ein Zufallsfund klären. 216 Siehe dazu Bernhard Pez, Praefatio, in: Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), Abschnitt I–VII, hier: II. 217 Pez, Praefatio (wie Anm. 216), II. 218 Pez, Praefatio (wie Anm. 216), II. 219 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 17, hier: Fußnote 37. 220 Der Nachlass der Brüder, beide Benediktiner im Stift Melk, wurde von 2008 bis 2014 im Zuge des Projekts »Monastische Aufklärung und die Benediktinische Gelehrtenrepublik« – das zuvor einen START-Preis des österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung erhalten hatte – gemeinsam mit dem Stift Melk und dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung bearbeitet. Mehrere im Druck erschienene Editionsbände ermöglichen nun Einblick in die Korrespondenz und Arbeit der Gebrüder Pez, so u. a. Thomas Stockinger und Thomas Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentare, 1: 1709–1715 (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 2,1), Wien 2010.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Anhand der Edition Bernhard Pez’ können daher nur vorsichtige Aussagen über die Neresheimer Handschrift getroffen werden. Aufgrund zahlreicher Korrekturen und Anmerkungen, die der frühere Herausgeber vornahm, urteilt Dinzelbacher wohlwollend über die Editionsarbeit von Pez, der eine »durchaus akkurate Edition veranstaltet«,221 auf die für seine Zeit üblichen »stillschweigenden Konjekturen«222 verzichtet und stattdessen den »Textbestand der Handschrift«223 wiedergegeben habe. Allein Orthografie und Interpunktion seien den Gewohnheiten des 18. Jahrhunderts angepasst worden.224 Des Weiteren habe Pez die verwendeten Kapitelüberschriften bereits in der Neresheimer Handschrift vorgefunden, weil er diese »gelegentlich verbessert«.225 Gleichwohl könnte die Neresheimer Einteilung dem ursprünglichen Text später hinzugefügt worden sein, da ein etwas längerer inhaltlich zusammengehöriger Bericht in mehrere Kapitel unterteilt worden sei. Eine mögliche Erklärung für diese Einteilung sieht Dinzelbacher in der praktischen Verwendung des Textes; denn sollte dieser vorgelesen worden sein, habe man geeignete Textabschnitte benötigt.226 Ob dies zutrifft, bleibt fraglich, da es ebenso zusammengefügte Kapitel (193 und 194) oder längere Einzelkapitel (wie 181) gibt. Was jedoch auffällt, ist die von Dinzelbacher angemerkte Zusammenführung mehrerer Kapitel (z. B. 147, 148 und 149); anscheinend seien die Kapitelanfänge an einigen Stellen für Pez nicht deutlich erkennbar gewesen.227 In seiner »Praefatio« verweist Pez auf drei Besonderheiten, die die Neresheimer Handschrift von den heute noch erhaltenen Handschriften unterscheidet.228 Enthalten sind diese in einem Nachtrag, der dem Haupttext der Neresheimer Abschrift hinzugefügt wurde. Hoc qui scribebat, Ermenricus nomen habebat. Anno Domini MCCCXVIII. minùs tribus annis obiit hæc Virgo in X. Kal. Maji […] Agnes Blannbekin, filia cujusdam rustici, [et] morabatur Wiennæ, [et] erat de confessione Minoris cujusdam sancti Fratris.229

221 222 223 224 225

226 227 228 229

Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 28. Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 28. Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 28. Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 28. Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 29. Eine solche Verbesserung zeigt sich beispielsweise in der Überschrift zu Kapitel 33, in der Pez zu De dignè * celebrantibus ändert und am Rand die Variante der Hs. mit »* Cod. dignis.« angibt; siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 32. Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 29. Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 29. Siehe dazu Pez, Praefatio (wie Anm. 216), III. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 302.

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Erstens wird hier der Name eines Schreibers erwähnt: Ermenricus. Ob es sich dabei um den Schreiber der Neresheimer Abschrift oder den ersten Aufzeichner, also den Beichtvater der Protagonistin, handelt, ist nicht eindeutig zu klären. Da der Name Ermenricus im Haupttext jedoch nicht auftritt, obgleich der Beichtvater häufig die Ich-Form verwendet, über seine seelischen Notlagen und Bedürfnisse schreibt sowie andere seiner Minderbrüder beim Namen nennt, liegt es nahe anzunehmen, dass Ermenricus eher den Schreiber der Neresheimer Abschrift als den Beichtiger der Jungfrau benennt. Zweitens ist eine Notiz zum Todesdatum angefügt: Anno Domini MCCCXVIII. minùs tribus annis obiit hæc Virgo in X. Kal. Maji. In ihrer 1994 erschienenen Edition übersetzen Dinzelbacher und Vogeler diese Angaben mit Im Jahre des Herrn 1318 weniger drei Jahre am 10. Mai verschied diese Jungfrau.230 Diese Übertragung des Todesdatums auf den 10. Mai 1315 findet sich vor der Edition Dinzelbachers und Vogelers sowohl bei Joseph von Görres als auch bei Kurt Ruh sowie später bei Ulrike Wiethaus und anderen.231 Ebenfalls unter Heranziehung der durch Pez überlieferten Nachtragsnotiz datiert Anneliese Stoklaska das Todesdatum sogar auf den 15. Mai 1315.232 Hieran schließen jedoch zwei Schwierigkeiten an: Obgleich die im Haupttext erwähnten Datumsangaben das geschilderte Geschehen im späten 13. Jahrhundert verorten, ist das Todesjahr 1315 im Haupttext selbst nicht erwähnt. Die Visionen wurden zu einem überwiegenden Teil nach dem liturgischen Kalender angeordnet. Ab dem 129. Kapitel finden sich vereinzelt Jahreszahlen, die bis ins vorletzte Kapitel (234) angeführt werden, das dann mit Anno domini MCCLXXXXIIII […] die letzte Datierung aufweist. Zwischen dem Ende der niedergeschriebenen Visionen und dem im Nachtrag angegebenen Todesjahr lägen demnach 21 Jahre, für die keinerlei Informationen zur Verfügung stehen. Was ist in dieser Zeit passiert – warum endet die Aufzeichnung so unvermittelt? Mögliche Antworten hierauf lassen sich nur durch einen Handschriftenvergleich finden und werden nachfolgend erörtert. Neben der schwierigen Verifizierung des Todesjahres ist auch die Übertragung des Todesdatums nicht eindeutig. Die Formulierung in X. Kal. Maji wird in der Edition von Dinzelbacher und Vogeler auf den 10. bzw. 15. Mai übersetzt. Dieser Datierung kann nicht zugestimmt werden; in X. Kal. Maji beschreibt vielmehr den 22. April, hier des Jahres 1315, als Todesdatum.233 230 Leben und Offenbarungen, hrsg. Dinzelbacher und Vogeler (wie Anm. 15), S. 483. 231 Siehe dazu Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 242–245 und Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 2 (wie Anm. 2), S. 132–136 sowie Wiethaus, Agnes Blannbekin (wie Anm. 54), S. 5–6 und Classen, Taste, Sound and Smell (wie Anm. 34), S. 76. 232 Siehe dazu Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 10 und Stoklaska, Weibliche Religiosität (wie Anm. 30), S. 166. 233 In X. Kal. Maij steht für den 10. Tag vor den Kalenden des Monates Mai (dem 1. Mai), bei inklusiver Zählung des ersten Kalendertages des Maies also für den 22. April; siehe dazu

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Drittens ist erwähnenswert, dass im besagten Nachtrag – angehängt an das Datum – eine knappe, doch aufschlussreiche biografische Anmerkung folgt, die sich auf die Person der Jungfrau bezieht: * Agnes Blannbekin, filia cujusdam rustici, [et] morabatur Wiennæ, [et] erat de confessione Minoris cujusdam sancti Fratris.234 Mittels einer Randnotiz verweist Pez darauf, dass die Passage ab dem Namen Agnes Blannbekin, von einer anderen Hand aus dem 14. Jahrhundert niedergeschrieben worden sei: »* Sequentia addita sunt ab alia manu, seculi tamen XIV«.235 Alle genannten Angaben finden in dem von Pez herausgegebenen Haupttext keine Erwähnung oder eindeutige Verifizierung. Da der Nachtrag jedoch scheinbar die grundlegendsten biografischen Angaben (Name, Sterbedatum, soziale und geografische Herkunft) zur Jungfrau liefert, wird diese Notiz im Kapitel III.1 eingehender erörtert werden.

II.1.b Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384, fol. 29r–76v (Zw) Eine weitere, jedoch unvollständige Überlieferung des Textes befindet sich in der Bibliothek des niederösterreichischen Zisterzienserstiftes Zwettl. Der Cod. 384, eine Pergamenthandschrift mit den Maßen 200 mm x 145 mm und auf 76 Blatt,236 beinhaltet von fol. 29r–76v die Visiones cuiusdam virginis Beginne conscripte per confessarium ipsius ex ord[ine] Fratrum minorum; der Name Agnes Blannbekin wird im Manuskript an keiner Stelle erwähnt. Von einer Hand vermutlich um/nach 1320237 geschrieben, findet sich auf fol. 2v folgende Inhaltsangabe: Primus tractatus continet distinctiones sive illucitaciones sacre scripture. Secundus loquitur de quadam visione cuiusdam virginis weginne quam eius confessor quidam minor ordinare scripsit.238

Der Inhalt ist wie folgt aufgeteilt:

234 235 236 237 238

Hermann Grotefend, Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 14. Auflage, Hannover 2007, Römischer Kalender, S. 222. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 302. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 302. Siehe dazu Charlotte Ziegler, Zisterzienserstift Zwettl. Katalog der Handschriften des Mittelalters, 4: Codex 301–424 (Scriptorium Ordinis Cisterciensium Monasterii Beatae Mariae Virginis in Zwettl), Wien 1997, S. 275. Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 275–276. Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384 (Zw), fol. 2v.

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fol. 3r–24v. Distinctiones siue illucidationes sacre scripture.239 Inc.: Converte nos domine ad te et convertemur. Expl.: locis congruentibus disponamur. fol. 24v–28v. (Exempla varia).240 Inc.: Legitur de sancta Iuliana. Expl.: et sic feliciter vitam suam. fol. 29r–76v. (Visiones cuiusdam virginis Weginne conscripte per confessarium ipsius ex ord. fratrum minorum.)241 Inc.: Confiteor tibi pater domine quia abscondisti hec. Expl.: ipsa autem stabat a sinistris sacerdotis et ter[rita].

Der Haupttext beginnt auf fol. 29r direkt mit dem Prolog Confiteor tibi pater domine […], wobei das C sich als Initiale über zwei Zeilen erstreckt, von denen die obere ansonsten leer bleibt. Hier wurde vermutlich Platz für eine Überschrift oder einen Titel gelassen, der eigentlich später hinzugefügt werden sollte, was jedoch nicht geschah. Der Text bricht im Kapitel 189 inmitten einer Vision anlässlich des Allerheiligenfestes von 1291 ab und lässt den Satz Ipsa autem stabat a sinistris sacerdotis et ter[rita] unvollständig, mit dem fol. 76v endet. Aufgrund von Verunreinigungen und Verfärbungen auf fol. 76v kann sich der bereits im diesbezüglichen Handschriftenkatalog von 1891 geäußerten Vermutung angeschlossen werden, an der Stelle liege ein Blattverlust und somit ein unvollständiger Text vor.242 Im Gegensatz zu der durch Pez überlieferten Neresheimer Handschrift finden sich im Zwettler Manuskript keine Kapitelüberschriften, hingegen wurde die Rubrizierung der Initialbuchstaben zur Einteilung verwendet – die sich allerdings von der Neresheimer unterscheidet. Da die rubrizierten Initialen meist bei einem mit Zeitangabe beginnenden Abschnitt auftreten, vermutet Dinzelbacher, dass sie für die ursprüngliche, auf den Inhalt bezogene Einteilung stünden.243 Der Text ist auf den noch vorhandenen Seiten gut strukturiert, es gibt keinerlei Einschübe oder Nachträge am Rand. Dies spricht für eine Abschrift nach Vorlage oder eine im Voraus wohlüberlegte Komposition des Textes. In seiner 1994 erschienenen Edition charakterisiert Dinzelbacher die im Zwettler Kodex auf fol. 29r–76v verwendete Schrift als gotische Buchschrift, die mit zahlreichen Abkürzungen auf 33 Zeilen pro Seite durchgängig von einer 239 Titelzuordnung und -ansetzung wurden übernommen vom Zwettler Abt Stephan Rößler, Verzeichniß der Handschriften der Bibliothek des Stiftes Zwettl, in: Die HandschriftenVerzeichnisse der Cistercienserstifte Reun in Steiermark, Heiligenkreuz-Neukloster, Zwettl, Lilienfeld in Nieder-, Wilhering und Schlierbach in Ober-Oesterreich, Osegg und Hohenfurt in Boehmen, Stams in Tirol, 1: Reun, Heiligenkreuz Neukloster, Zwettl, Lilienfeld (Xenia Bernardina, 2: Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienserstifte der österreichisch-ungarischen Ordensprovinz, 1), Wien 1891, S. 293–479, hier: S. 433. 240 Dito; siehe dazu Rößler (wie Anm. 239), S. 433. 241 Dito; siehe dazu Rößler (wie Anm. 239), S. 433. 242 Siehe dazu Rößler (wie Anm. 239), S. 433. 243 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 29.

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Hand aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben worden sei.244 Des Weiteren merkt er an, dass die oben erwähnten ersten beiden Teile auf fol. 3r–28v von anderen, jedoch zeitgleichen Händen stammten.245 Gegen diese Einschätzung spricht sich 1997 Charlotte Ziegler in der Neuauflage des Handschriftenkatalogs des Stiftes Zwettl aus, denn sie vermutet, dass alle Teile des Kodexes und die Randbemerkungen von einer Hand um 1300 niedergeschrieben worden seien.246 Die entsprechende Schrift ordnet sie als »[g]otische Littera textualis« ein, bei deren Erscheinungsbild sie »Beziehungen zum böhmischen Raum«247 erkennen will. Mit einer Entstehung um das Jahr 1300 setzt Ziegler die Abfassung des Kodexes wesentlich früher an als Dinzelbacher und spricht sich zugleich für eine Niederschrift noch zu Lebzeiten der Agnes Blannbekin aus.248 Zwar wird der Band seit dem 14. Jahrhundert im Zisterzienserstift Zwettl aufbewahrt, doch gibt es eindeutige Hinweise auf seine Herkunft aus dem Privatbesitz des Wiener Pfarrers Otto Gnemhertl. Ein auf fol. 3r erhaltenes Monogramm legt nahe, dass die Handschrift aus dem Besitz dieses Wiener Pfarrers nach Zwettl gekommen ist.249 Das ca. 200 bis 300 mm große Monogramm (siehe Abb. 1) zeigt an den Konturen einer Majuskel N die Buchstaben A C E G H I L M N O P R S Tund V. In ein anderes Manuskript mit ebendiesem Monogramm schrieb eine Zwettler Hand um 1350 die Auflösung: Otto Gnemhertlinus plebanus sancte Marie virginis in Litore in Wienna. Hoc continetur in signo hoc250 (Otto Gnemhertl, Pfarrer [an der Kirche] der heiligen Jungfrau Maria am Gestade in Wien. In diesem Zeichen ist dies enthalten). Für eine gemeinsame Provenienz der vorerwähnten drei Manuskriptteile spricht ferner, dass sie in einen Originaleinband aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts eingebunden sind.251 Im Jahr 1349 erhielt das Zisterzienserstift 244 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 18. 245 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 18. 246 »[…] mit der Tendenz zu stärker gebrochenen Lettern zu bereits spitzen Ecken und der Betonung von Haar und Schattenseite des Buchstabens. Kennzeichnend sind auch die langgezogenen Schäfte der Lettern h, q, p, b, l, kennzeichnend für die Schrift der Buchkursive und der späteren Cursiva currens. Das doppelstöckige a überwiegt, ist aber nicht streng kastenförmig gebildet; daneben gibt es aber noch zahlreiche Beispiele, wo die 2. Obere Schleife des a noch geöffnet ist, was eher für den Zeitraum von 1300 kennzeichnend ist« (Ziegler (wie Anm. 236), S. 275). 247 Ziegler (wie Anm. 236), S. 275. 248 Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 275. 249 Siehe dazu Rößler (wie Anm. 239), S. 433. 250 Den entsprechenden Vergleich mit dem Zwettler Kodex 172, fol. 2r stellt Benedikt Hammerl an; siehe dazu Benedikt Hammerl, Die Bibliothek des Wiener Klerikers Otto Gnemhertl um 1300, heute in der Stiftsbibliothek zu Zwettl, in: Mitteilungen des K. K. Archivrates 1 (1914), S. 201–220, hier: S. 204. 251 Ein solcher Einband des Otto Gnemhertl (Holzdeckel mit weißem Pergament und vertikalen roten Lederstreifen) umgibt heute noch 18 Zwettler Kodizes, nämlich Codd. 50, 63, 86, 88, 97,

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Abb. 1: Zisterzienserstift Zwettl, Bibliothek, Cod. 384, fol. 3r (Ausschnitt)

Zwettl zahlreiche Bücher aus dem Privatbesitz des in Wien tätigen Weltgeistlichen Otto Gnemhertl.252 In heute 28 Konvoluten sind noch 32 der vermachten Volumina erhalten.253 Aufgrund häufiger Erwähnungen in Quellen zur Geschichte der Stadt Wien kann die Familie Gnemhertl als eine wohlhabende Wiener Bürgerfamilie gelten. Die genauen Lebensdaten Otto Gnemhertls sind nicht rekonstruierbar, aber ab 1313 taucht er in Quellen auf, wobei er ab 1321 als Kaplan und ab 1348 als »pharrer und chaplan« der Kirche Maria am Gestade bezeichnet wird.254 Die meisten Informationen über sein Leben trägt Benedikt Hammerl 1913/14 in einem kurzen Aufsatz zusammen.255 Die Angaben dazu entnahm er einem fragmentarischen Testament des Otto Gnemhertl, das Hammerl aus dem Einband eines Kodexes herauslösen konnte.256 Aus dem Text geht hervor, dass Otto Gnemhertl wohl einen Sohn gleichen Namens sowie einen Bruder und einen Neffen hatte; die beiden Letzteren lebten in Zwettl als Mönche. Der Wohlstand des älteren Ottos ermöglichte es ihm, sowohl ältere als auch neue Bücher zu erwerben oder sie von Zeitgenossen in Wien abschreiben zu lassen.257 Die An-

252

253 254 255 256 257

168, 172, 275, 264, 267, 275, 278, 309, 310, 319, 321, 343 und den hier relevanten Cod. 384; siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 203–204. Dazu findet sich ein Eintrag im Cod. 84, fol. 1r. Das Manuskript enthält auf fol. 1r–9r das Kalendarium Zwetlense; siehe dazu Kalendarium Zwetlense [a. 1243–1458, in: Chronica et annales aevi Salici], hrsg. Georg Heinrich Pertz (MGH SS, 9), Hannover 1851, S. 689–698, hier: S. 692 (der Stifter Otto de Gnemhertl genannt). Siehe dazu auch Hammerl (wie Anm. 250), S. 201. Siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 201. Siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 201. Siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 201–220. Siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 202. Ob auch der Cod. 384 in Wien geschrieben wurde, kann allerdings nicht mit Gewissheit bestätigt werden; siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 202–203.

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schaffung zahlreicher Bücher, so auch des hier betrachteten Kodexes, fiel in die Zeit der theologischen Ausbildung oder der seelsorgerischen Tätigkeit Gnemhertls.258 Seine Privatbibliothek umfasste neben Werken zur Bibelexegese, solche zur Dogmatik, Moral, Ästhetik und Liturgie, kirchen- und ereignisgeschichtliche Darstellungen, juristische Abhandlungen und einzelne Traktate zur Pädagogik, Linguistik, Philosophie und den Naturwissenschaften.259 Hinsichtlich der Provenienz gibt Ziegler in ihrer Beschreibung des Zwettler Kodexes 384 noch zwei Überlegungen mit auf den Weg: Obgleich der Handschriftenband aus dem Privatbesitz eines Wiener Stadtpfarrers stamme, solle bedacht werden, dass das Stift Zwettl auch in enger Verbindung zu Trägerinnen des Namens Agnes gestanden habe.260 Ziegler spielt damit auf Agnes von Kuenring (†1348) an, die Gemahlin Leutholds III. von Kuenring-Feldsberg. Die Eheleute waren Gönner/-in der Zisterziensergemeinschaft, der sie unter anderem das bekannte Agnes-Kreuz schenkten.261 Ziegler vermutet, dass Gnemhertl als Verwandter von Mitgliedern des Zwettler Konvents ebenso Kontakte zu Agnes von Kuenring unterhalten haben oder zumindest mit ihr bekannt gewesen sein müsse.262 Daraus synthetisiert Ziegler ihre Überlegung, dass auch Agnes Blannbekin bis 1315 im Stift Zwettl bekannt gewesen sein dürfte.263 Eine zweite Annahme Zieglers betrifft die 1282 verstorbene Königstochter Agnes von Böhmen, die in Prag das Klarissenkloster gründete.264 Ziegler deutet auch in ihrem Fall einen möglichen, bisher nicht untersuchten Kontakt zu Agnes Blannbekin an. Diese Hypothese wird im Kapitel III.1.d erörtert werden. Des Weiteren verdient die Tatsache Beachtung, dass mit Otto Gnemhertl ein Weltgeistlicher Texte franziskanischer Herkunft rezipierte, in denen besonders das Seelsorgeverhältnis zwischen einem Minoritenbruder und einer nichtklausurierten, sondern in der Welt lebenden Frau positiv thematisiert wird. Dies ist vor allem im Hinblick auf den Streit um Seelsorgetätigkeit und Bußprivilegien zwischen Weltgeistlichen und Mendikanten bemerkenswert, der Ende des 258 Siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 202–203. 259 Eine detaillierte Auflistung der in Zwettl aufbewahrten Werke aus dem Besitz des Otto Gnemhertl fügt Hammerl (wie Anm. 250), S. 207–220 an. Unter »XXVIII« findet sich de quadam visione cuiusdam sacre viginis; siehe dazu Hammerl (wie Anm. 250), S. 220. 260 Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 276. 261 Vermutlich stifteten Agnes von Kuenring († um 1341) oder ihre Tochter Agnes das AgnesKreuz der Abtei zu Zwettl; siehe dazu Agnes-Kreuz in Zwettl. Objektbeschreibung 214, in: Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich. Niederösterreichische Landesausstellung im Stift Zwettl, 16. Mai bis 26. Oktober 1981, hrsg. Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung III/2 – Kulturabteilung, Schriftleitung: Wolfram Herwig (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums. Neue Folge, 110), Wien 1981, S. 207–208. 262 Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 276. 263 Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 276. 264 Siehe dazu Ziegler (wie Anm. 236), S. 276.

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12. Jahrhunderts im Umfeld der Pariser Universität entfacht wurde. Im 14. Jahrhundert war dieser Konflikt auch in Wien spürbar, obgleich die Wiener Universität keine Rolle darin spielte.265 Der zeitgleiche Besitz und die Rezeption eines Textes über ein minoritisches Seelsorgeverhältnis bedarf bei einem Weltgeistlichen daher erhöhter Aufmerksamkeit.

II.1.c Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145, fol. 45ra-70rb (Li) Im entsprechenden Handschriftenkatalog von 1891 noch als unbekannter Text erwähnt266 und daher 1994 für die Edition Dinzelbachers und Vogelers unbeachtet, konnte der Text 2010 aufgrund einer vergleichenden Analyse über eine Online-Datenbank als weitere Abschrift identifiziert werden.267 In der Bibliothek des niederösterreichischen Zisterzienserstiftes Lilienfeld befindet sich diese Abschrift, die den einzigen heute verfügbaren beinahe vollständig erhaltenen Textzeugen der Visionen einer gewissen Jungfrau darstellt – lediglich ein einziges Kapitel fehlt.268 Kunsthistorische Analysen datieren die Handschrift in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts, nach »inhaltliche[n] Kriterien« scheint der Zeitrahmen noch genauer auf die Jahre »1319 bis 1323«269 festgelegt werden zu können. Damit wäre die Lilienfelder Handschrift neben der Zwettler nicht nur einer der ältesten Textzeugen, sondern auch, wenn man der durch Pez überlieferten Nachtragsnotiz zum Sterbedatum 1315 vertraut, eine Abschrift, die ebenfalls sehr zeitnah am Ableben der Agnes Blannbekin entstanden sein könnte. 265 Siehe dazu Ludwig Hödl, Zum Streit um die Bußprivilegien der Mendikantenorden in Wien im 14. und beginnenden 15. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichte der alten Passauer Diözese, in: Zeitschrift für katholische Theologie 79,2 (1957), S. 170–189, hier: S. 172. 266 Siehe dazu Conrad Schimek, Verzeichniß der Handschriften des Stiftes Lilienfeld, in: Die Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienserstifte Reun in Steiermark, HeiligenkreuzNeukloster, Zwettl, Lilienfeld […], 1 (wie Anm. 239), S. 481–561, hier: S. 531. 267 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 69. Der Vergleich wurde über eine Vorgängerdatenbank derjenigen durchgeführt, die derzeit am Webportal »Manuscripta Mediaevalia« verfügbar ist. 268 Es fehlt das nur aus einem Satz bzw. einer Überschrift bestehende Cap. 231 nach der Kapiteleinteilung von Pez sowie Dinzelbacher und Vogeler. Die Lilienfelder Handschrift weist jedoch eine andere Kapitelgliederung und somit andere Kapitelüberschriften auf. Bei Pez sowie Dinzelbacher und Vogeler lautet Cap. 231: Quadam die in ecclesia facta in spiritu vidit unum sacerdotem secularem accedere ad altare/Eines Tages in der Kirche in den Geist genommen, sah sie einen Weltpriester zum Altar schreiten (Vis. c. virg., Cap. 231, S. 476 bzw. 477). 269 Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 71. Hier führt Lackner eine Folgerung Walter Zechmeisters an, der sich 1992 mit dem Kodex 145 und dem poetischen Werk des Christan von Lilienfeld beschäftigte, ohne jedoch die Abschrift der Visionen der Agnes Blannbekin zuzuordnen. Zur Erläuterung siehe ferner Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 69.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Die in einen typischen Lilienfelder Bibliothekseinband des 17. Jahrhunderts gebundene Pergamenthandschrift (mit den Maßen 311 mm x 243 mm) ist aus sechs Teilen zusammengesetzt, und zwar I: fol. 1–19, II: fol. 20–44, III: fol. 45–70, IV: fol. 71–161, V: fol. 162–173 und VI: fol. 174–213. Gemeinsam mit den zwei vorangestellten Teilen im Lilienfelder Kodex 145 wurden die ersten drei Teile des Manuskriptes 145 von einer Hand, identifiziert als diejenige des Christian von Lilienfeld, eines Lilienfelder Priors, in einer Textualis in zwei Spalten geschrieben.270 In den mit den Visionen einer gewissen Jungfrau zusammengefassten Textteilen IV bis VI der Handschrift 145, finden sich keine weiteren frauenmystischen Texte, vielmehr liegt darin ein Konglomerat von Texten vor, von denen einige (wie die Sermones de sanctissima eucharistia auf fol. 129rb-157rb) mit inhaltlichem Schwerpunkt auf der Corpus Christi-Verehrung271 und andere (wie die Reimoffizien auf fol. 162ra-173vb) vom Prior Christian selbst272 verfasst sind. Eine Übersicht über die Texte der Handschrift bietet Franz Lackner.273 In dessen Beschreibung findet sich folgender Eintrag: »fol. 45ra-70rb. Visiones Agnetis Blannbekin. Tit.: Incipit prologus in liberum [sic] visionum cuiusdam virginis«,274 wobei das Explicit fehlt. Ein Blick in die Handschrift ergibt, dass ab fol. 45ra-70rb im Freiraum am oberen Rand der rubrizierte Titel Visiones cuiusdam virginis – jeweils mit Visiones auf der Verso- und cuiusdam virginis auf der Recto-Seite – notiert ist. In roter Tinte beginnt fol. 45ra mit Incipit prologus in librum visionum cuiusdam virginis. Die horizontale und vertikale Linierung der Seite sind deutlich sichtbar. Mit einer blauen Initiale schließt sich an das Incipit in der nächsten Zeile der Prolog mit Confiteor tibi pater domine […] an. Somit erwähnt auch die Lilienfelder Abschrift weder den Namen der Jungfrau noch den des Schreibers. Der 270 Für die anderen Teile können drei weitere Hände ausgemacht werden, nämlich B: fol. 71ra157rb, C: fol. 174ra-189vb und D: fol. 190ra-196vb. Der Schriftspiegel der übrigen Hände misst 250/255 mm x 180/185 mm, mit zwei Spalten zu 47/48 Zeilen. Alle Hände verwenden die Textualis; siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 70. 271 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 70, der auf die Diskussion über den Verfasser der besagten Sermones verweist. 272 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 70. Zur Person und zum Werk des Christan von Lilienfeld sei hier verwiesen auf Christan von Lilienfeld, Hymnen, Officien, Sequenzen und Reimgebete, hrsg. Guido Maria Dreves (Analecta hymnica medii aevi, 41, a), Leipzig 1903 (Nachdruck: Frankfurt am Main 1961). 273 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 70– 71. Weiterhin findet sich eine Beschreibung in der Online-Datenbank »manuscripta.at«, die noch Verweise auf Editionen, andere Datenbanken sowie Sekundärliteratur enthält; siehe dazu Franz Lackner, Lilienfeld, Zisterzienserstift, Cod. 145, auf der österreichischen Datenbank manuscripta. 2010 http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=31317 (zuletzt aufgerufen am 08. 07. 2020). 274 Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 70.

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Text endet auf fol. 70rb in der vierten Zeile mit den letzten Sätzen des letzten Kapitels (235). In der fünften Zeile beginnt die Visio Esdrae. Daher könnte der Eintrag zu den Visionen und dem Leben der Jungfrau Agnes Blannbekin in Schimeks Handschriftenkatalog von 1891 wie folgt korrigiert werden: fol. 45ra70rb. Visiones cuiusdam virginis (Agnetis Blannbekin). Inc.: Incipit prologus in librum visionum cuiusdam virginis … Expl.: … inestimabili delectatione spiritus replebatur. Exest. Dem Prolog folgt eine mit roter Tinte rubrizierte Überschrift Quomodo in prima visione vidit omnium creaturarum differenciam.275 Da die roten Rubriken immer in die letzte, unvollständig beschriebene Zeile des vorangehenden Kapitels und auch zum Teil in den Freiraum am Seitenrand eingetragen werden mussten, besteht Grund zur Annahme, die Kapitelrubriken seien zwar von derselben Hand, jedoch nachträglich hinzugefügt worden. Für diese spätere Einfügung spricht auch die Gestaltung des Haupttextes, der bei jedem neuen Kapitel entweder mit einer ausgeschmückten Initiale in roter bzw. blauer Tinte oder einem Paragrafenzeichen beginnt. Es folgt dann mit schwarzer Tinte der Haupttext, im ersten Kapitel etwa Facta manu domini super unam sanctam personam […].276 Insgesamt weist der Lilienfelder Text 106 Kapitel auf. Dabei weichen sowohl die Kapitelüberschriften als auch die Kapiteleinteilungen von den bei Pez überlieferten ab. Die Lilienfelder Kapitelgliederung von 106 Kapiteln gleicht vielmehr bis auf wenige Ausnahmen der in der Zwettler Handschrift verwendeten Gliederung. Lackner stimmt deshalb der These Dinzelbachers zu, dass die der Pez’schen Edition zugrundeliegende Gliederung aus der Neresheimer Handschrift eher für den Vorlesegebrauch angelegt worden sei.277 Die in Zwettl oder auch Lilienfeld vorkommende Gliederung scheine hingegen die ursprüngliche zu sein.278 Andererseits verweist Lackner auf gemeinsame Lesarten der Neresheimer und Lilienfelder Handschriften, sodass folglich keine gesicherten Aussagen über die gegenseitigen Abhängigkeiten der Texte möglich seien.279 Am Rand des Haupttextes finden sich einzelne Einschübe, Anmerkungen und kleine Zeichnungen, auf fol. 50rb etwa an der Textstelle Addidit quoque amor dicens: Quare hoc est, quod haec devota, non vidit in illa celesti visione iustorum minorum animas in patria, sicut sororem Gedrudem, sed solum maiores sanctos vidit? […],280 zu der bei Gedrudem eine Randnotiz von einer späteren Hand NB Quae sit virg[o] anmerkt (Abb. 2). 275 276 277 278

Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145 (Li), fol. 45ra. Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145 (Li), fol. 45ra. Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 71. Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 71 und S. 73. 279 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 74. 280 Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145 (Li), fol. 50r.

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Abb. 2: Stift Lilienefeld, Cod. 145, fol. 50r (Ausschnitt)

Auf fol. 57r befinden sich zwei Randzeichnungen im oberen und rechten Freiraum. Der nebenstehende Text berichtet von einer Schau des menschlichen Befindens bei Laien und Geistlichen. Darin wird vor allem das Aussehen böser, sündiger Priester geschildert, die – im Gegensatz zu guten Priestern in hellen Gewändern mit leuchtend geschmücktem Haupt und Schuhwerk aus Blumen (als Zeichen für eine milde Berührung) – schrecklich, dunkel sowie kot- und blutbeschmiert erscheinen. Am oberen Rand findet sich eine kleine Zeichnung (Abb. 3), die einen menschlichen Kopf und Rumpf in Kleid- bzw. Kuttenform darstellt. Nicht zu entscheiden ist, was aus dem Kopf der Darstellung herausragt: Eine erste Assoziation lässt an ein nach unten gebogenes Haarbüschel denken. Wegen der fehlenden Extremitäten liegt die Annahme nahe, dass es sich um eine unvollständige Zeichnung handelt. Im Gegensatz zur Zeichnung im rechten Freiraum ist diese eher schlicht und naiv gehalten, was den Eindruck der Unvollständigkeit unterstreicht.

Abb. 3: Stift Lilienefeld, Cod. 145, fol. 57r (Ausschnitt)

Die Darstellung am rechten Rand zeigt einen Mann in einem langen Gewand mit Kapuze (Abb. 4). In seiner rechten Hand hält er ein aufgeschlagenes Buch, dessen Schriftspiegel für den Betrachter/die Betrachterin sichtbar ist und den Text Deus meus et omnia aufweist. In der linken Hand hält er ein Kreuz an einem Stab, der bis zum Boden herabreicht. Aufgrund der Kleidung, eines Habits, kann die Person als Ordensmitglied und, da die Handschrift im Lilienfelder Zisterzien-

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serstift entstand, wohl des Weiteren als Zisterzienser gedeutet werden. Dafür sprechen das über der Tunika sichtbare dunklere Schulterkleid (Skapulier, in der Miniatur mit leichten Streifen dargestellt) sowie die geknöpfte Kapuze.

Abb. 4: Stift Lilienefeld, Cod. 145, fol. 57r (Ausschnitt)

Eine andere mögliche Einordnung aufgrund des Habits wäre die als Minorit; dagegen spricht jedoch, dass die Figur Schuhe zu tragen scheint und sich die Minoriten gerade durch ihre Barfüßigkeit auszeichneten. Die im dargestellten Buch niedergeschriebene Wendung Deus meus et omnia ist hingegen ein Ausspruch, der als wiederholtes Gebet des Franz von Assisi bekannt wurde. Überliefert ist es für die Begegnung zwischen Franz und Bernhard von Quintavalle im ersten Kapitel der Actus beati Francisci et sociorum ejus (nach 1327/37).281 Dort wird berichtet, dass Franz, bereits bekehrt, aber noch in ein weltliches Gewand 281 Siehe dazu Actus beati Francisci et sociorum ejus, hrsg. Paul Sabatier (Collection d’études et de documents sur l’histoire religieuse et littéraire du Moyen âge, 4), Paris 1902, c. 1,21 und c. 1,22, hier: S. 5. Auch im zweiten Kapitel der Fioretti, einer Zusammenstellung von Erzählungen über Wunder und fromme Beispiele des Franz, die vermutlich am Ende des 14. Jahrhunderts zusammengestellt wurden, findet sich diese Geschichte. Allerdings wird das nächtliche Gebet Franz’ hier mit den Worten Mein Gott! Mein Gott! wiedergegeben. In diesem Zusammenhang verweist der Übersetzer Johannes Schneider (OFM) auf die Worte Jesu am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? aus Mt 27,46 und das Bekenntnis des Thomas: Mein Herr und mein Gott aus Joh 20,28, lässt aber nicht unerwähnt, dass es in den Actus beati Francisci dann anders laute; siehe dazu Die Blümlein des hl. Franziskus (Fioretti), eingeleitet und in der Übersetzung bearbeitet von Johannes Schneider, in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des Heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, hrsg. Dieter Berg und Leonhard Lehmann (Die Zeugnisse des 13. und 14. Jahrhunderts zur Franziskanischen Bewegung, 1), Kevelaer 2009, S. 1333–1438, hier: S. 1347.

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gekleidet, von vielen Einwohnern Assisis wegen seines Lebenswandels verspottet wurde. Als der wohlhabende Bernhard aus Assisi dies hörte, wollte er sich selbst ein Bild von Franz’ Heiligkeit machen, weshalb er ihn in sein Haus zum Abendessen und Übernachten einlud. In der Nacht beobachtete Bernhard heimlich seinen Gast, der sich zum Gebet von seinem Lager erhoben hatte und unter Tränen bis zum Morgen die Worte Deus meus et omnia! wiederholte. Am nächsten Morgen entschied sich Bernhard zur Nachfolge Christi und wurde der erste Gefährte Franz’. Die von Paul Sabatier edierten Actus beati Francisci et sociorum ejus werden auf eine Entstehungszeit nach 1327 bzw. um 1337 datiert. Vertraut man dieser Datierung und bringt sie in Verbindung mit dem Erstellen der Lilienfelder Handschrift, dann wäre es möglich, dass die beschriebenen Miniaturen nachträglich hinzugefügt wurden. In der 1882 von Gottfried Frieß veröffentlichten Geschichte zur österreichischen Minoritenprovinz findet sich der Hinweis, dass die Augustiner-Eremiten in Österreich, Böhmen und Mähren seit 1256 einen Stock zum Einsammeln der Almosen verwendet sowie ihre Tunika seitdem nicht mehr geschürzt getragen und deshalb den Minoriten von ihrer äußerlichen Erscheinung her geähnelt hätten.282 Zieht man jedoch die zisterziensische Herkunft der hier diskutierten Handschrift in Betracht, erscheint die Deutung der Miniatur als Zisterziensermönch, der einen Text franziskanischer Herkunft (vor)liest, durchaus schlüssig. Eine eindeutige Zuordnung zu einem Orden lässt sich allerdings nicht vornehmen. Weiterhin finden sich, am seitlichen, oberen und unteren Rand, vereinzelt Ergänzungen zum Haupttext.283 Dennoch scheint es sich auf fol. 29r–76v des Lilienfelder Kodexes 145 eher um eine vorab wohlkonzipierte Abschrift zu handeln.

II.1.d Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a, fol. 268r–272v, Hs. I 117, fol. 188r–195v und Hs. I 160, fol. 51r–55r Die wissenschaftliche Stadtbibliothek zu Mainz führt in ihrem 1990 erschienenen Katalog zwei weitere Handschriften mit hier untersuchten Visionstexten an, die beide aus dem Mainzer Kartäuserkloster St. Michael stammen. Eine dritte Abschrift aus dem Besitz eines Kartäusers wird 1998 im zweiten Band des Kataloges

282 Siehe dazu Gottfried E. Frieß, Geschichte der österreichischen Minoritenprovinz, in: Archiv für Österreichische Geschichte 64 (1882), S. 79–245, hier: S. 122. 283 Siehe dazu beispielsweise Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145 (Li), fol. 48v, fol. 50r, fol. 577r und v, fol. 60v oder fol. 66r.

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verzeichnet, aber sie wird selbst im 2010 von Franz Lackner zusammengestellten Überblick nicht erwähnt und ist bisher unbeachtet geblieben. II.1.d.1 Mainz Hs. I 115a (M1) Das Manuskript Mainz Hs I 115a ist eine auf Papier verfasste theologische Sammelhandschrift (215–220 mm x 150 mm, I + 417 Blatt), die sich in sieben Teile gliedert, die meist von jeweils einer (Haupt-)Hand in einer Buchkursive verfasst wurden. Einen großen Teil nehmen dabei die »Sermones de tempore« von Jacobus de Voragine ein, wobei auch die anderen Teile Predigten »Sermones« oder »Materiae Praedicabiles« unterschiedlicher Autoren zu Themen wie Festtagen, Heiligen und Maria umfassen.284 Im Handschriftenkatalog von 1990 werden fol. 268r–272v als »Revelationes Agnetis Blannbekin« identifiziert,285 obgleich der Name Agnes Blannbekin im eigentlichen Text nicht erwähnt wird. Er beginnt auf fol. 268r ohne Überschrift mit Confiteor tibi pater domine […], wobei in der ersten Zeile ein Freiraum für die Initiale von Confiteor gelassen wurde; darauf lässt das kleine c am linken Seitenrand schließen. Die Kapitel folgen im Fließtext ohne Überschriften. Vereinzelt finden sich Absätze, wie auf fol. 268r zwischen Kapitel 3 und 4, ansonsten werden inhaltlich zusammengehörige Textabschnitte mit Paragrafenzeichen gekennzeichnet. Dinzelbacher vermutet, dieser sei der »wohl älteste Teil«286 der Sammelhandschrift, die aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stamme.287 Da dieser Teil von einer Hand geschrieben wurde, könnte es ursprünglich ein selbstständiges Buch gewesen sein. Sechs Blätter dahinter, auf fol. 278r steht der Besitzvermerk Iste liber est Carthusiensium prope Moguntiam zu lesen, der auf das Mainzer Kartäuserkloster St. Michael verweist. Gemäß dem Handschriftenkatalog stammt der heutige Einband der Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert,288 was die Vermutung nahelegt, dass sie zu dieser Zeit erstmals zusammengebunden wurde.289 Die Abschrift beinhaltet folgende (Teil-)Kapitel: 1–15, 21–23, 32–36, 46–47, 55–57, 60, 71, 74–77, 84 teilweise, 92 teilweise, 93, 95 teilweise, 99–100, 106 teil284 Die Einteilung der Texte in der Handschrift findet sich bei Gerhard List und Gerhardt Powitz, Die Handschriften der Stadtbibliothek Mainz, 1: Hs I 1 – Hs I 150, Wiesbaden 1990, S. 198–200. 285 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 200. 286 Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 19. 287 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 19: »[D]ie Datierung in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts könnte auf Grund der vorhandenen frühen Formen der gotischen Kursive auch auf die Mitte des Jahrhunderts heruntergerückt werden.« 288 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 198. 289 Darüber spekuliert auch Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 19.

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weise, 109–113, 120 teilweise sowie122 teilweise. Der Text bricht auf fol. 272v auf der oberen Hälfte der Seite inmitten des Kapitels 122 innerhalb des Satzes Natura humani cordis de terra sumpta est ad serviendum deo290 ab. Im Handschriftenkatalog der Stadtbibliothek wird das Manuskript als Exzerpt bezeichnet.291 Für diese Charakterisierung spricht die Auslassung zahlreicher Kapitel. Die fehlenden Kapitel thematisieren sowohl Lebensbeschreibungen, wie etwa das Kapitel 39, als auch kirchenkritische Äußerungen.292 Aufgrund dieser Auslassungen vermutet Dinzelbacher systematische inhaltliche Tilgungen als anstößig empfundener Textstellen und meint daher, dass es sich nicht um ein zufälliges Exzerpt handele. Vielmehr will er darin den bewussten Versuch einer nicht-franziskanischen Textrezeption erkennen, weil Erwähnungen des Minoritenordens oder seines Begründers an vielen Stellen nicht übernommen worden seien.293 Dies gilt allerdings nicht für den Prolog, in dem sich der Beichtvater ausdrücklich als Minderbruder bezeichnet. In diesem Zusammenhang sei eine vergleichende Analyse Dinzelbachers angeführt: Unter Heranziehung von Kodex I 330 der Mainzer Wissenschaftlichen Stadtbibliothek, der ebenfalls aus der Mainzer Kartause stammt, finden sich, neben Gebeten, Auszüge aus Werken Mechthilds von Magdeburg, Gertruds von Hackeborn und Hildegards von Bingen, die »vielleicht für den eigenen liturgischen Gebrauch« zusammengestellt worden seien.294 II.1.d.2 Mainz Hs. I 117 (M2) Mainz Hs I 117 ist ebenfalls eine papierene theologische Sammelhandschrift (210 mm x 150 mm, 195 Blatt),295 die unter anderen Texte Anselms von Canterbury und des Johannes Chrysostomos umfasst, darüber hinaus zahlreiche Auszüge aus Werken Bernhards von Clairvaux oder solchen, die ihm zugeschrieben

290 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a (M1), fol. 272v. 291 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 200. 292 Es fehlen Cap. 16–18, 20 teilweise, 23 teilweise, 24–31, 34 teilweise, 35 teilweise, 37–45, 46 teilweise, 47, 50, 61–70, 72–73, 75 teilweise, 76 teilweise, 78–83, 84 teilweise, 85–87, 88 teilweise, 89, 90/91teilweise, 95 teilweise, 96–98, 101–105, 106 teilweise, 107–108, 114–119, 120 teilweise, 121, 122 teilweise und 123–235. 293 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 20. 294 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 21. Die von Dinzelbacher aufgestellte Theorie beruht auf einem erstmals 1927 erschienenen Aufsatz Heinrich Schreibers, der die Bibliothek der Mainzer Kartause vorstellt; siehe dazu Heinrich Schreiber, Die Bibliothek der ehemaligen Mainzer Kartause. Die Handschriften und ihre Geschichte (Beihefte zum Zentralblatt für Bibliothekswesen, 60), Leipzig 1927 (Nachdruck: Nendeln 1968). 295 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 202.

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werden, sowie Werke des Augustinus und Pseudo-Augustinus.296 Als vorletzter Text der Handschrift finden sich auf fol. 188r–195v die »Revelationes Agnetis Blannbekin«297, die im entsprechenden Katalog als Exzerpt klassifiziert werden.298 Dort wird die Handschrift ferner auf das Jahr 1343 datiert,299 was sich allerdings auf den ersten Eintrag im Manuskript bezieht. Nach dem Textbild zu urteilen, scheint die Abschrift deutlich später, vermutlich erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts, entstanden zu sein.300 Der Text ist im Freiraum des oberen Randes auf fol. 188r mit Visiones cuiusdam sancte monialis betitelt und beginnt mit der Linierung in der ersten Zeile des Blattes: Confiteor tibi pater domine […]. Gekennzeichnet durch Paragrafenzeichen, schließen sich die anderen (Teil-)Kapitel an; es sind Cap. 1–15, 19, 21, 23, 32–36, 46–47, 55, 57, 60, 71, 74–77, 84, 92–93, 95, 100, 106, 109–113, 120 und 122. Auch in diesem Manuskript bricht der Text in der Mitte des Kapitels 122 innerhalb des Satzes Natura humani cordis de terra assumpta est ad serviendum deo301 ab. Aufgrund derselben inhaltlichen Auslassungen und kodikologischen Besonderheiten – ähnlich wie bei M1 werden zu Beginn eines neuen Kapitels zuerst der am Ende des vorangegangenen Kapitels entstandene Freiraum und dann erst die nächste Zeile gefüllt – scheint es sich hier um eine Abschrift von M1 zu handeln.302 Folglich findet man auch hier weder eine Erwähnung des Namens noch eine Personenbeschreibung der Jungfrau. In den oberen Freiräumen und an den Seitenrändern finden sich zahlreiche Glossen, die Einschübe in den Haupttext darstellen (vor allem auf fol. 189v, 191r und v sowie 192r). Aufgrund einer Marginalglosse auf fol. 188v applica ad festum assumptionis, die sich auf den darüberstehenden Text (Virgo beata) prae omnibus et super omnes in deum assumpta est et de plenitudine sui amoris omnes electi participant aus Kapitel 9 bezieht, folgert Dinzelbacher, dass der Text im Gottesdienst verwendet worden sei;303 allerdings könnte auch das Verlesen bei Tisch eine Verwendungsmöglichkeit darstellen. Wie erwähnt, fehlen in M2 ebenso wie in M1 auf Agnes Blannbekin bezogene Angaben; Bezugnahmen auf den Orden der Minderbrüder wurden (außer im Prolog) gleichermaßen getilgt. Hinzu kommt, dass Randglossen eine Verwen296 Die Einteilung der Texte in der Handschrift findet sich bei List und Powitz (wie Anm. 284), S. 202–206. 297 List und Powitz (wie Anm. 284), S. 206. 298 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 206. 299 Siehe dazu List und Powitz (wie Anm. 284), S. 202. 300 Dies vermutet auch Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 21. 301 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 107 (M2), fol. 195v. 302 Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 21 nimmt dies ebenfalls an. 303 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 22.

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dung im Gottesdienst oder bei der Tischlektüre und somit eine zeitgenössische Verwendung erkennen lassen. II.1.d.3 Mainz Hs. I 160 (M3) Das Manuskript Mainz Hs. I 160 ist aus Papier (210 mm x 155 mm, 163 Blatt) und ist in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Es wurde von mindestens 15 Händen in gotischer Minuskel, gotischer Kursive und Buchkursive geschrieben.304 Auch in diesem Falle handelt es sich um eine theologische Schriftensammlung (Collectanea). Sie vereint auf 162 Blättern mehr als 40 kurze, unterschiedliche Texte.305 Als Vorbesitzer der Handschrift kann Gotfriedus, ein Kartäusermönch, ausgemacht werden, denn auf der Innenseite des hinteren, aus dem 15. Jahrhundert stammenden Einbanddeckels findet sich eine dementsprechende Notiz: Iste liber pertinet ad fratrem Gotfridum monachum Cartusiensem [Es folgt eine Rasur.], post obitum ad domum montis sancti Michaelis prope Maguntiam ordinis Cartusiensis reversurus.306

Einzelne Teile, wie das Versgedicht des Bertoldus (fol. 135r–155v), schrieb Gotfriedus selbst und versah sie mit einem Datum (hier: 1376 auf fol. 155r und 162v). Auf fol. 15r findet sich ein anderer Besitzvermerk vom Ende des 14. Jahrhunderts: Iste liber pertinet ad fratres Cartusienses domus [gestrichen: Rubi beate Marie prope Luthomusche(l)] Carthusiensis Maguncie.307 Eine weitere solche Angabe aus dem 15. Jahrhundert ist auf fol. 63v zu finden: Iste liber est fratrum Cartusiensium prope Maguntiam. Für fol. 51r–55r verzeichnet der Handschriftenkatalog zwar »Revelationes Agnetis Blannbekin«;308 der Text selbst beginnt auf fol. 51r oben jedoch mit der Überschrift Revelationes cuiusdam devote persone in roter Tinte. Eine rote C-Initiale ziert den Prolog, an den sich die Kapitel anschließen. Auch darin kommen der Name Agnes Blannbekin sowie andere personenbezogene Angaben nicht vor. Es werden Auszüge aus den Visionen der Agnes Blannbekin wiedergegeben, die der Handschriftenkatalog von 1998 als »Exzerpte« einstuft und darauf verweist, dass diese mit den anderen in Mainz aufbewahrten Exzerpten

304 Siehe dazu Gerhard List, Die Handschriften der Stadtbibliothek Mainz, 2: Hs I 151 – Hs I 250, Wiesbaden 1998, S. 57. 305 Die Einteilung der Texte in der Handschrift ist zu finden bei List (wie Anm. 304), S. 57–67. 306 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 160 (M3), innerer hinterer Einbanddeckel; siehe dazu List (wie Anm. 304), S. 58. 307 Zur Erklärung wird im Handschriftenkatalog angeführt: »Kartause Marienbus bei Leitomischl in Ostböhmen, gegr. 1376, aufgelöst 1394« (List (wie Anm. 304), S. 58). 308 List (wie Anm. 304), S. 61.

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übereinstimmten.309 Obgleich Dinzelbacher die beiden anderen Mainzer Abschriften beachtet, fehlt diese Abschrift sowohl in seinem als auch in Lackners späterem Überblick. Nach vergleichender Lesung kann die Verfasserin konstatieren, dass M3 in weiten Teilen M1 und M2 entspricht, jedoch etwas kürzer ist, da einzelne Kapitel fehlen, die die beiden anderen Manuskripte bieten. Folgende Kapitel werden – gegebenenfalls ebenso auszugsweise wie bei M1 und M2 – wiedergegeben: Prolog, Cap. 1–15, 20–23, 32–36, 46–47, 51–55, 94, 99, 100, 106, 109–113, 120 und 122. Aufgrund der gleichen inhaltlichen Kürzungen und Veränderungen bei einzelnen Kapitelanfängen ist M3 den Textzeugen M1 und M2 ähnlich. Da M3 jedoch mehr Kapitel ausspart, scheint das Manuskript eine Abschrift von M1 zu sein oder auf dieselbe Vorlage zurückzugehen wie M1. Alle drei in Mainz aufbewahrten Handschriften beginnen im Kapitel 99 mit den Worten: In ascensione domini apparuit ei dominus sicut ascenderat videlicet cum multitudine angelorum […],310 während der entsprechende Passus in N, Zw und Li anders lautet: Sicut iam in parte dictum est, quod dominus velut ascensurus ei apparuit apertis oculis sed immutatis luminibus, apparuit etiam ibi multitudo angelorum innumerabilis. M3 endet, wie auch M1 und M2, inmitten des Kapitels 122 mit Natura humani cordis de terra sumpta est ad serviendum deo,311 wobei die Seite zur Hälfte leer bleibt. Ein Strich beendet den Eintrag. Nicht immer ist ausreichend Platz für den Haupttext, sodass einzelne Wörter auf den durch eine Linie deutlich abgegrenzten Seitenrand geschrieben werden mussten. Ferner hat sich der Schreiber gelegentlich verschrieben und diese Falschschreibungen lediglich durchgestrichen (so auf fol. 53r). Neben einzelnen Korrekturen zum Haupttext finden sich am Rand auch häufig arabische Zahlen, die den im Haupttext verwendeten römischen Zahlen oder lateinischen Zahlwörtern entsprechen (zum Beispiel auf fol. 52r oder fol. 53v). Es scheint, dass diese marginale Bezifferung als Lesehilfe zur besseren und schnelleren Orientierung gedacht war.

309 Bei dem Eintrag zu fol. 51r–55r heißt es im Handschriftenkatalog: »Die gleichen Exzerpte auch bei Hs I 115a, 268r–272v, Hs I 117, 188r–195v (1, 200, 206)« (List (wie Anm. 304), S. 61). 310 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a (M1), fol. 271v; Hs. I 117 (M2), fol. 193v und Hs. I 160 (M3), fol. 54r. 311 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 160 (M3), fol. 55r. Anstelle von cordis, wie es in den Mainzer Handschriften zu lesen ist, findet sich im Haupttext sowie der Übersetzung von Dinzelbacher und Vogeler das Substantiv corporis. Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 122, S. 272–273.

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II.1.d.4 Resümee zu den in Mainz verwahrten Handschriften Aufgrund der vergleichbaren Kapitelauswahl, Textredaktion und -anordnung ist es aus kodikologischer Perspektive wahrscheinlich, dass zumindest M1 und M2, wenn nicht gar alle drei in Mainz verwahrten Handschriften von ein und derselben Vorlage stammen. Das Ziel der Redaktion war nicht, das Leben einer gewissen Frau namens Agnes Blannbekin und ihre Visionen möglichst detailliert wiederzugeben, sondern Visionen vor- oder vielmehr zusammenzustellen, deren Nutzen in ihrer Verwendung als Folie für Predigttexte oder exemplarische Visionen lag.

II.1.e Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Magdeburg 174, fol. 79v–89r (Ma) In einer laut Lackner ehemals im Magdeburger Domstift bzw. Domgymnasium aufbewahrten312 theologischen Sammelhandschrift aus Papier und Pergament (210 mm x 145 mm, 168 Blatt) finden sich auf fol. 79v–89r Kapitel der Lebensgeschichte und der Visionen von Agnes Blannbekin. Der Kodex lässt sich in fünf Teile gliedern, und zwar I. fol. 1–60: vier einzelne Teile von der Hand eines Schreibers aus dem 15. Jahrhundert in Bastarda mit Rubrizierung; II. fol. 61–105: 15. Jahrhundert in Bastarda mit Rubrizierung; III. fol. 106–122: 15. Jahrhundert in Bastarda von zwei Händen (fol. 106r–119v bzw. 120r–121r); IV. fol. 123–132: 15. Jahrhundert in Bastarda mit Rubrizierung sowie V. fol. 133–167: ebenfalls 15. Jahrhundert in Bastarda mit Rubrizierung. Für fol. 79v–89r verzeichnet der Handschriftenkatalog »Agnes Blannbekin: Revelationes (Exzerpte)«.313 Der Text selbst beginnt auf dem unteren Drittel von fol. 79v, anknüpfend an den vorangehenden, mit Confitebor [sic] tibi pater domine,314 wobei das C als Initiale ausgeführt ist. In derselben Zeile erfolgt mit roter Tinte der Hinweis Sequitur alius liber. Auf fol. 80r folgt nach dem Ende des Prologs ein Absatz. Kapitel 1 beginnt in einer neuen Textzeile mit einer Initiale; Kapitel 2 und 3 knüpfen dagegen ohne Absatz an. Wegen der Kapitelauszüge wird der Text im Handschriftenkatalog als »Exzerpte«315 klassifiziert. Die Handschrift enthält folgende Kapitel: Prolog, Cap. 15, 21–23, 32, 36, 38, 51–57, 60, 71 (teil312 Siehe dazu Lackner, Ein bisher unbeachteter Überlieferungsträger (wie Anm. 215), S. 69. Die Herkunft wird an anderer Stelle genauer thematisiert werden. 313 Ursula Winter und Kurt Heydeck, Die Manuscripta Magdeburgica der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 3: Ms. Magdeb. 170–286 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Reihe 1: Handschriften, 4,3), Wiesbaden 2008, S. 56. 314 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Magdeburg 174 (Ma), fol. 79v. 315 Winter und Heydeck (wie Anm. 313), S. 56.

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weise), 75, 77, 84 (teilweise), 90 (teilweise), 92 (teilweise), 93–95 (teilweise), 99– 100, 106 (teilweise), 109, 110–113, 116 (teilweise), 119–120 und 122.316 Der Text endet auf fol. 89r. Auch im Falle von Ma fehlen die Kapitel, die die detaillierten Lebensbeschreibungen der Jungfrau beinhalten; ebenso fehlt eine Namensnennung. Außerdem weichen die einzelnen Kapitel stark von der Pez’schen Abschrift ab. Zwischen einzelnen Kapiteln finden sich paraphrasierende Sätze, die keine wörtlichen Entsprechungen zu dem von Pez tradierten Text darstellen. Vielmehr weisen die wiedergegebenen Kapitel Parallelen zu den in Mainz verwahrten Handschriften auf. Alle diese beginnen in Kapitel 99 mit den Worten: In ascensione domini apparuit ei dominus sicut ascenderat videlicet cum multitudine angelorum; auch bei Ma verhält es sich auf fol. 87r so. Der Handschriftenkatalog bestätigt die Herkunft aus dem Domstift nur insofern, als erwähnt wird, dass Anfang des 20. Jahrhunderts große Teile der Bibliothek des Magdeburger Domgymnasiums an die Königliche Bibliothek zu Berlin übergegangen seien.317 Gleichwohl sei das Magdeburger Domstift vermutlich nicht der ursprüngliche Besitzer des hier diskutierten Kodexes gewesen. Die seit 1224 in Magdeburg, seit 1225 im dortigen Paulinerkloster gegenüber dem Dom ansässigen Dominikaner hätten die Stadt im Zuge der Reformation im Jahre 1561 endgültig verlassen, woraufhin die Bestände aus ihrer Bibliothek in die Magdeburger Dombibliothek gelangt seien, auch Teile des hier erwähnten Kodex 174 scheinen aus diesen Beständen zu stammen.318 Dabei muss selbstverständlich die Rolle der Dominikaner in Magdeburg berücksichtigt werden, die in enger Verbindung zum Beginenwesen und zur Frauenmystik standen. Verstärkend kommt hinzu, dass der Kodex 174 nicht nur eine Abschrift der Visionen der Agnes Blannbekin beinhaltet, sondern auch eine Kopie des 1256 von Papst Alexander IV. ausgestellten Schutzbriefs zur Stärkung der Mendikantenrechte

316 Der Handschriftenkatalog von 2008 verzeichnet andere Kapitel, die sich jedoch nicht alle in der Handschrift finden lassen: Cap. 1–23, 32–36, 38, 51–60, 71, 74–77, 84, 88, 90–95, 99, 100, 106, 109–113, 116, 119–120 und 122; siehe dazu Winter und Heydeck (wie Anm. 313), S. 56. 317 Bezüglich der Übernahme der Magdeburger Dombibliothek nach Berlin finden sich unterschiedliche Angaben dazu, ob es sich um eine unfreiwillige Herausgabe oder einen Verkauf gehandelt habe; siehe dazu einerseits Winter und Heydeck (wie Anm. 313), S. 8, die von einem Kaufangebot schreiben, und andererseits Paula Väth, Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. 1200–1350, 1: Text (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Reihe 3: Illuminierte Handschriften, 3,1), Wiesbaden 2001, S. 90, die über die Ansprüche der Königlichen Bibliothek berichtet. 318 Leider ist der Handschriftenkatalog Winters und Heydecks an dieser Stelle nicht eindeutig. Er erwähnt zwar die Kapitel aus den Visionen der Agnes Blannbekin im Zusammenhang mit dem Paulinerkloster, jedoch wird die Herkunft aus diesem für die entsprechende Abschrift nicht direkt bestätigt. Siehe dazu Winter und Heydeck (wie Anm. 313), S. 14–15.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

im Streit an der Pariser Universität (fol. 120r–121v).319 Außerdem finden sich in dem betreffenden Band neben frühchristlichen Autoren auch Franz von Assisi (mit einem Brief und dem Testament) und (Pseudo-)Bernhard von Clairvaux sowie Heiligenviten.320 Die fehlenden personen-identifizierenden Angaben zur Jungfrau, die häufigen Paraphrasen, die Textzusammenstellung im Kodex sowie die Möglichkeit, dass die Magdeburger Dominikaner selbst ihn besaßen, sprechen dafür, dass sie den Text mit den Visionen einer gewissen Jungfrau als Beispiel für die Seelsorgetätigkeit von Ordensmitgliedern gegenüber nichtklausurierten, in der Welt lebenden Frauen aufbewahrten und ihn, quasi als Folie, für Predigten und andere Unterweisungen verwendeten.

II.1.f

Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v–158Ar (Ba)

Die theologische Sammelhandschrift A VIII 6 enthält von fol. 154v–158Ar die ersten 23 Kapitel der Visionen der Agnes Blannbekin. Der Inhalt ist aufgeteilt in 1r: Inhaltsverzeichnis; 1v: leer; 2r-49r: Pseudo-Eusebius Cremonensis, »Epistula de morte Hieronymi ad Damasum episcopum Portuensem«; 49r-57v: PseudoAugustinus, »Epistula in laudem Hieronymi ad Cyrillum episcopum«; 57v-92r: Pseudo-Cyrillus episcopus Hierosolymitanus, »Epistula in laudem Hieronymi ad Augustinum episcop[um]«; 92r-97r: Pseudo-Gennadius, »Vita Hieronymi«; 97v98v: leer; 99r-101r: Inhaltsverzeichnis zu den Auszügen aus der »Lux divinitatis« auf fol. 101v-154v; 154v–158Ar: »Vita et revelationes der Agnes Blannbekin«; 158va: leer; 159r-195v und 209v: Mechthild von Magdeburg, »Lux divinitatis«; 196r-209v: »Stimulus amoris« Pe I 4. 3. 2. II 3. 5. 6. III 1–5 (Ba3); 210r-215r: Thomas von Cantimpré, »De S. Christina Mirabili Virgine vita«; 215r-219r: Traktat über die Sünden; 219v: leer.321 Laut der Beschreibung aus der »e-codices«-Datenbank stammt die Sammelhandschrift aus der Kartause St. Margarethental in Basel. In dieser Beschreibung 319 Zum Inhalt des Briefes findet sich bei August Potthast, Regesta pontificum Romanorum inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV, 2[: 1243–1304], Berlin 1875, S. 1361 (Alexander IV. 1256. Nov. 15. Nr. 16613): »Universos magistros et scholares Parisienses, praemissis studii Parisiensis laudibus, hortatur, ut animos a dolosis persuasionibus avertant, fratres Praedicatores et Minores, nullis vexent aut inquietent molestiis, studium alias non transferant«. 320 Eine Übersicht über die Einteilung der Texte in der Handschrift mit Autor und Titelangabe/ -ansetzung ist bei Winter und Heydeck (wie Anm. 313), S. 52–58 zu finden. 321 Die Zuweisung der Texte zu Namen und Titeln ist der zusätzlichen Handschriftenbeschreibung für die e-codices-Datenbank entnommen; siehe dazu Balázs J. Nemes, Basel, Universitätsbibliothek, A VIII 6 […] für e-codices, 2013, http://www.e-codices.unifr.ch/de /description/ubb/A-VIII-0006/Nemes (zuletzt aufgerufen am 09. 07. 2020).

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nennt Balázs J. Nemes auf der Grundlage einer Wasserzeichenanalyse das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts als Entstehungszeit und widerspricht damit vorangegangenen Datierungen auf einen früheren Zeitraum. Nemes zählt zwei Hände für die gesamte Sammelhandschrift, wobei der Teil zu Agnes Blannbekin von der zweiten Hand geschrieben worden sei.322 Die sonst übliche Kapiteleinteilung ist nicht übernommen, sondern eine Dreiteilung des Textes eingeführt.323 Es finden sich rote und blaue Initialen zu Beginn eines jeden der drei neuen Textabschnitte. Fol. 154v beginnt nach einer blauen C–Initiale in der zweiten Zeile mit Confiteor tibi domine pater […]. Im Vergleich zu den oben angeführten Handschriften ist hier demnach die Abfolge von domine und pater geändert worden. Fol. 158Ar ist nur zu einem Drittel erhalten und bricht im 23. Kapitel mit Respondit quod nullius sit ibi motus et dixit se nescire utrum in hoc raptu fuerit in corpore an extra corpus324 ab; der Rest des Blattes scheint abgeschnitten zu sein. Eine Transkription der Kapitel zu Agnes Blannbekin legen 2019 Balázs J. Nemes und Elke Senne im Anhang ihrer Neuedition von Mechthilds von Magdeburg »Lux divinitatis – Das liecht der gotheit« vor.325 Diese ersten 23 Kapitel zu Agnes Blannbekin in Ba enthalten keinerlei persönliche Angaben zur Jungfrau, sondern eine Art Himmelsschau. Darin wird über Erwählte, Märtyrer, Jungfrauen, die zu erwartenden Gnaden im Jenseits, die Behausungen im Himmelreich, die Wunden Christi und die damit verbundenen Gnadenwirkungen berichtet. Der Prolog des Beichtvaters ist ebenfalls vorhanden, jedoch an entscheidender Stelle verändert: Die sonst übliche Selbstbeschreibung des Beichtigers ego pauperculus et indignus frater ordinis fratrum minorum ea lautet hier ego pauperculus et indignus ea.326 Die Auslassung der Ordenszugehörigkeit deutet auf eine bewusste Tilgung der einzigen personenbezogenen Angabe in den wiedergegebenen Kapiteln hin und rückt die Frage nach dem Zweck der Abschrift im Basler Kontext ins Zentrum. Obgleich es heute nur noch schwer zu entscheiden ist, ob der Textabbruch nach den ersten 23 Kapiteln einen bewussten Schnitt oder zufälligen Verlust spiegelt, scheint die Basler Abschrift das minoritische Seelsorgeverhältnis zwischen der Protagonistin und ihrem Beichtvater auf keinen Fall thematisieren zu wollen. Vor dem Hintergrund der späten Anfertigung von Ba liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch hier eher um eine bewusste Abschrift bestimmter Visionen einer (unbe322 323 324 325

Siehe dazu Nemes, Basel, Universitätsbibliothek, A VIII 6 (wie Anm. 321). Zusammengefügt wurden Kapitel 2 und 3, Kapitel 10 bis 12 sowie Kapitel 13 bis 23. Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6 (Ba), fol. 158Ar. Siehe dazu Mechthild von Magdeburg, ›Lux divinitatis‹ – ›Das liecht der gothheit‹. Der lateinisch-frühneuhochdeutsche Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹. Synoptische Ausgabe, hrsg. Balázs J. Nemes und Elke Senne unter Leitung von Ernst Hellgardt, Berlin [u. a.] 2019, hier: Anhang 13, S. 503–508. 326 Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6 (Ba), fol. 154v.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

kannten) Frau handelt als um die Darstellung des Lebens und der Offenbarungen einer Frau namens Agnes Blannbekin. Vertritt man jedoch die These des ungewollten Textabbruchs und beachtet, dass der Teil zu Agnes Blannbekin unter anderem von Auszügen aus der Lux divinae Mechthilds von Magdeburg sowie einer Abschrift der Vita Christinae Mirabilis des Thomas von Cantimpré umgeben ist und die genannten drei Frauen ein weiblicher nichtklausurierter Lebensentwurf eint, könnte der Textzusammenstellung für den Kodex auch ein bewusstes Interesse an Visionen genau dieser Art von Frauen zugrunde liegen. Offen bleibt dann jedoch die Frage nach dem Auswahlkriterium für die anderen im Manuskript vorhandenen Texte, die sich nicht über einen gemeinsamen weiblichen Lebensentwurfes fassen lassen.

II.1.g Straßburg, Stadtbibliothek, verschollen (St) Eine heute verlorene Pergamenthandschrift mit den hier betrachteten Visionen, die aus dem Straßburger Johanniterkloster stammte, befand sich zeitweilig wohl in der dortigen Stadtbibliothek. Joseph von Görres hat in seinem Werk »Die christliche Mystik« die gesamte ihm damals vorliegende Handschrift oder Auszüge daraus publiziert: In deutscher Sprache veröffentlichte er die Kapitel 213 bis 215, die eine Pfingstvision der Agnes Blannbekin aus dem Jahr 1293 beinhalten.327 Der Literaturhistoriker Hans Rupprich erwähnt das von Görres genutzte Manuskript, das er als »wertvollere deutsche Pergamenthandschrift, […] aus dem 14. Jahrhundert«328, leider ohne die Angabe von Belegstellen, charakterisiert. Kurt Ruh hingegen bezweifelt in seinem Artikel für das »Verfasserlexikon«, dass Görres tatsächlich ein deutschsprachiger Text vorlag, und fragt, ob Görres nicht vielleicht einen ursprünglich lateinischen Text in ein altertümliches Deutsch übersetzt habe.329 Dem entgegnend, stellt Dinzelbacher in der Einleitung seiner Edition (1994) die Frage, warum Görres das Vorhandensein eines deutschen Textes hätte behaupten sollen, wenn ihm eine lateinische Version zugänglich gewesen wäre.330 Als Reaktion auf Dinzelbacher revidiert Ruh (1995) seine Argumente gegen Görres’ deutschsprachige Textvorlage, betont jedoch weiterhin seine Annahme, dass die vom Beichtvater veröffentlichte Urversion ein lateinischer Text gewesen sei. Zur Plausibilisierung verweist Ruh auf den ebenfalls von

327 328 329 330

Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 242–245. Rupprich (wie Anm. 23), S. 42. Siehe dazu Ruh, Blannbekin, Agnes (wie Anm. 14), Sp. 888. Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 26–27.

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Dinzelbacher bearbeiteten Fall der Angela von Foligno und des Bruders Arnaldo.331 Görres nennt in den veröffentlichten Kapiteln die Jungfrau nicht beim Vornamen, sondern bezeichnet sie lediglich als »die Beguine Blambeck«332 aus Wien. Diese Einführung ist ein Hinweis auf Görres’ genauere Kenntnis des Sujets, weil in den Kapiteln 213 bis 215 weder der Beginenstatus noch Wien erwähnt werden. Möglich scheint, dass Görres entweder die Pez’sche Edition vorlag oder die Abschrift in der Straßburger Stadtbibliothek wesentlich mehr als die genannten zwei Kapitel umfasste und zusätzlich mit einem Verweis auf die Pfarre Palmbach versehen war, wie er nur aus der durch Pez herausgegebenen Neresheimer Handschrift bekannt ist. In einer erläuternden Fußnote zur Herkunft dieses Textabschnittes erwähnt Görres zusätzlich den Tod Agnes’ im Jahre 1315: »des Jahrs nach Gottes Geburt 1315 starb diese Maged decimo May«. Dies sei, so Görres, in einer Fußnote auf der Rückseite der Straßburger Pergamenthandschrift vermerkt.333 Eine solche Notiz befindet sich heute nachweisbar in keiner noch vorhandenen Handschrift; ausschließlich für das Neresheimer Manuskript ist sie bekannt. Der explizite Verweis Görres’ auf dieses Datum lässt spekulieren, ob die Straßburger Handschrift eine Abschrift der Neresheimer oder ähnlicher Herkunft wie diese war und Görres sie vielleicht doch übersetzte. Da das Straßburger Manuskript heute nicht mehr auffindbar ist, können diese Annahmen nicht überprüft werden. Über den Verlust der Straßburger Handschrift vermutet Ruh, diese könne wohl 1870 einem Brand in Straßburg zum Opfer gefallen sein; andererseits sei sie in alten Katalogen nicht nachweisbar.334

II.1.h Resümee und Bewertung der Handschriften Resümierend kann festgestellt werden, dass gegenwärtig lediglich die Lilienfelder Handschrift den von Pez, Dinzelbacher und Vogeler edierten Inhalt handschriftlich bezeugen kann. Die anderen vorhandenen Textzeugen sind entweder unvollständig (wie Zw) oder bieten nur ausgewählte Kapitel (Ma, M1, 2 und 3 sowie Ba), die bewusst zusammengestellt erscheinen, denn sowohl die Mainzer Textbestände als auch der Magdeburger Kodex zeichnen die Jungfrau eher undeutlich nach und deren Redakteure bemühten sich, den Ordensbezug teilweise oder sogar vollständig aufzuheben. Besonders deutlich wird dies außerdem in 331 Siehe dazu Kurt Ruh, Rezension zu Peter Dinzelbacher/Renate Vogeler (Hgg.), Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) […], in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 124,3 (1995), S. 355–360, hier: S. 357. 332 Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 242. 333 Siehe dazu Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 245, Fußnote 1. 334 Siehe dazu Ruh, Blannbekin, Agnes (wie Anm. 14), Sp. 888.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

der Basler Abschrift, die keinerlei Informationen zu Personen oder Ordenszugehörigkeiten liefert. Selbstverständlich muss hier wegen der durch einen Schnitt verkürzten letzten Seite die Möglichkeit eines Textverlustes mitbedacht werden. Gleichwohl scheint in den Mainzer, Magdeburger und Basler Abschriften eine bewusste Kapitelauswahl vorzuliegen, vermutlich sogar eine gezielte Tilgung personenbezogener Angaben zur Jungfrau und dem Beichtvater. Weitere Aussagen über die Intention der Redakteure oder den Gebrauch der vorhandenen Textzeugen können mithilfe der Kapiteleinteilungen oder Randnotizen sowie der Zusammenstellungen im Kodex getroffen werden. Die Zwettler Handschrift stammt aus dem Privatbesitz eines Wiener Weltklerikers und enthält außerdem Heiligenbeispiele. Der in Lilienfeld entstandene Sammelkodex umfasst vor allem Texte, die unter dem Begriff der Corpus Christi-Verehrung zusammengefasst werden können. Werke weiblicher Mystikerinnen oder Referenztexte der Frauenmystik fehlen im Lilienfelder Kodex. Die drei aus der Mainzer Kartause stammenden Manuskripte enthalten andere theologische Schriften, insbesondere Texte von Kirchenvätern, -lehrern und -autoren, wie Augustinus, Bernhard von Clairvaux oder Jacobus de Voragine. Randbemerkungen und Texteinteilung lassen auf eine Verwendung im Gottesdienst bzw. bei Tischlesungen schließen. Wie die älteren Mainzer Versionen ist auch die Magdeburger mit Auszügen aus Werken Bernhards von Clairvaux und Franz’ von Assisi sowie Texten zur Marienverehrung in einem Band vereint. Die in Basel zusammengestellten Kapitel werden von anderen frauenmystischen Texten, Auszügen aus der Lux divinitatis Mechthilds von Magdeburg sowie einer Abschrift der Vita Christinae Mirabilis des Thomas von Cantimpré, flankiert. Die gegenwärtig bekannten Handschriften werden weiträumig verteilt aufbewahrt, was die Spekulation erlaubt, der Text der Visionen sei geografisch weit verbreitet gewesen. Auch die Tatsache, dass die bekannten handschriftlichen Textzeugen sich heute an keinen franziskanisch geprägten Orten oder Institutionen befinden und aus unterschiedlichen monastischen Traditionen (Zisterzienserstiften, Kartausen und einem Dominikanerkloster) oder klerikalem Privatbesitz stammen, spricht für eine breite Rezeption. Des Weiteren scheint die Handschriftenanalyse ein nötiger Schritt bei der De-/ Rekonstruktion der Person der Agnes Blannbekin zu sein. Resümierend kann danach konstatiert werden, dass keiner der gegenwärtig bekannten handschriftlichen Textzeugen den Namen Agnes Blannbekin bestätigt – weder im Haupttext noch in Randnotizen, Nachsätzen oder Überschriften. Somit ist die geografische Herkunft der Protagonistin in den Visionen weiterhin ungeklärt, die bisher aus einer nur gedruckt überlieferten Bei-/Nachnamensnennung in einem Nachsatz abgeleitet wurde. Ebenso wenig gibt es verlässliche Angaben zum sozialen Stand der Herkunftsfamilie in der handschriftlichen Überlieferung. Die textinternen Aussagen über den Bildungsstand der Jungfrau oder ihre Herkunft

Handschriften

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aus einer dörflichen Bauernfamilie erscheinen eher unglaubwürdig. Allerdings können die im Text genannten Orte und historischen Personen Wien als Lebensort der Jungfrau plausibilisieren.335 Obgleich ihr Sterbedatum weder im eigentlichen Visionstext noch durch Zusätze in den vorhandenen Handschriften eine eindeutige Verifizierung findet, scheint es mit dem Inhalt der Erzählung kohärent zu sein. Die Visionen wurden zu einem überwiegenden Teil nach dem liturgischen Kalender angeordnet. Vom 129. Kapitel an finden sich in einzelnen Kapiteln auch Jahreszahlen, die bis ins vorletzte Kapitel (234) angeführt werden, das dann mit Anno domini MCCLXXXXIIII336 die letzte Zeitangabe aufweist. Zwischen dem Ende der Offenbarungen und dem angegebenen Todesdatum liegen demnach 21 Jahre, für die keinerlei Informationen zur Verfügung stehen. Was ist in dieser Zeit passiert – warum enden die Aufzeichnungen unvermittelt? Mutmaßungen über den Tod des Beichtvaters und Schreibers oder einen Textverlust bieten in diesem Kontext keine belastbaren Antworten; aufgrund des abrupten Textabbruchs hat bereits Dinzelbacher über die Nicht-Vollendung oder Unvollständigkeit spekuliert.337 Dass sich der Textabbruch auch in der Lilienfelder Handschrift findet, die als einzige den Text bis zum letzten bekannten Kapitel (235) wiedergibt, sollte bei Überlegungen zur Abhängigkeit der Handschriften voneinander mitbedacht werden. Bewertung der Handschriften Die ausgeführte Analyse macht zunächst deutlich, dass nicht alle Handschriften gleich bewertet werden können. Vielmehr scheint es zweckdienlicher, die Handschriften zu gruppieren und dann getrennte Betrachtungen und Einordnungen vorzunehmen. Die erste Gruppe (A) bilden dabei die Textzeugen aus Zwettl und Lilienfeld. Mit ihrer baldigen Entstehung nach dem geschilderten Geschehen sind sie heute die ältesten überlieferten Textzeugen und lassen außerdem auf eine ordensübergreifende Rezeption schließen. Beide werden heute in Zisterzienserstiften aufbewahrt; die Lilienfelder Version entstand auch dort, während die Zwettler aus dem Besitz eines Weltklerikers stammt, obgleich ihr Inhalt deutlich auf ein minoritisches Seelsorgeverhältnis verweist. Mit ihrer umfassenden Überlieferung lassen die beiden Textzeugen nicht nur den minoritischen Beichtvater deutlich hervortreten, sondern auch die Jungfrau. Wir erhalten von ihrem Beichtiger über die Schilderung ihrer zahlreichen Visionen hinaus auch Angaben zu ihrem Leben und ihrer Frömmigkeitspraxis. Angesichts der zeitnahen und umfassenden 335 Hierzu zählt beispielsweise die Nennung zahlreicher Kirchen, wie ecclesia sancti Jacobi (Vis. c. virg., Cap. 135, S. 302), ecclesia […] fratrum (Vis. c. virg., Cap. 166, S. 346) oder ecclesia […] Sancti Stephani (Vis. c. virg., Cap. 168, S. 350 und Cap. 177, S. 366). 336 Vis. c. virg., Cap. 234, S. 478. 337 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 14.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Textzeugen aus Gruppe A stellen sich Fragen zum Entstehungskontext: Wie stark war die Gemeinschaft der Minderbrüder im sozialen Gefüge der Stadt etabliert? Wie war die Seelsorgetätigkeit innerhalb der Ordensgemeinschaften, vor allem innerhalb der Bettelorden, aufgeteilt, und war die Seelsorge für Frauen aufgrund der Vorstellung vom Beginenstand lukrativ? In dieser Hinsicht könnte man sich erneut auf die Suche nach Spuren der historischen Realität der Agnes Blannbekin begeben, in deren Zusammenhang möglicherweise auch Kontakte, wie etwa zum Wiener Weltkleriker Otto Gnemhertl, zum Tragen kämen. Außerdem stellt sich die Frage nach den Angaben zur Person Agnes Blannbekin. Neben diesen Fragen ist deutlich, dass die beiden Handschriften der Textgruppe A ein klares Portrait einer visionär begnadeten Frau aus Wien am Ende des 13. Jahrhunderts zeichnen, die in seelsorgerischem Verhältnis zu den dortigen Minoriten stand. Die Handschriften aus Mainz, Magdeburg und Basel sind zwar hinsichtlich ihres Textbestandes und ihrer Herkunft keineswegs identisch, doch zeigen sie mehrere Gemeinsamkeiten. Obwohl die in Mainz verwahrten Handschriften kürzer als die Magdeburger sind, geben sie eine ähnliche Auswahl an Kapiteln wieder. Ferner sind die Kapitelveränderungen identisch. Auffällig ist außerdem die gemeinsame kartausische Herkunft der Mainzer und Basler Abschriften. Daher ist es schlüssig, sie in der Bewertung als Mitglieder einer Textgruppe (B) zu betrachten. Zu dieser zählt ferner das Magdeburger Manuskript. Denn allen fünf genannten Abschriften eigen ist die Tatsache, dass sich in ihnen eine gezielte, inhaltlich bedingte Textauswahl spiegelt; keiner dieser Textzeugen überliefert die Visionen im kompletten Umfang. Auch wenn nur die in Basel verwahrte Handschrift konsequent die ersten zwanzig Kapitel wiedergibt, finden wir auch hier typische inhaltliche Merkmale der Textgruppe B: die Unkenntlichkeit von Personen und Ordenszugehörigkeit. Randglossen und die Einteilung der Kapitel legen einen Vorlesegebrauch der Textversionen in Gruppe B nahe. Betrachtet man sie in ihrem engeren Überlieferungszusammenhang, das heißt mit anderen im selben Kodex befindlichen Texten, fällt auf, dass die Visionen der Jungfrau häufig mit Werken zur (Frauen-)Mystik – einerseits von anderen visionär Begnadeten, andererseits von Autoren wie Bernhard von Clairvaux – oder auch hagiografischen Texten zusammengestellt wurden, die beim Verfassen von Predigten herangezogen worden sein dürften. Daran anknüpfend, muss überlegt werden, ob die Abschriften hier ein Muster vorstellen, das gleichsam wie eine Folie von unterschiedlichen Orden als seelsorgerischen ›Dienstleistern‹ übernommen werden konnte.

Handschriften

II.1.i

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Zur Betitelung: Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis)

Die Visionen der Agnes Blannbekin sind unter verschiedenen Titeln bekannt geworden. Vorherrschend war zuletzt der 1994 von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler für die Neuedition verwendete: Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315). Einerseits überzeugt die Titelwahl, da sie sowohl Schlagworte wie »Offenbarungen«, »Wiener Begine« und »Agnes Blannbekin« bietet, als auch Kontinuität beweist, da die Werkbezeichnung eine freie Übersetzung des lateinischen Titels darstellt, für den sich Bernhard Pez bei seiner Editio princeps aus dem Jahr 1731 entschied. Er überschrieb seine Ausgabe im klassisch-sperrigen Stil des 18. Jahrhunderts mit Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, Quae sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Imp[eratoribus] Wiennae floruit, Vita Et Revelationes. Andererseits wirken die beiden Titel – und darin liegt das Unbehagen der Verfasserin ihnen gegenüber begründet – kategorial, weil sowohl Pez als auch Dinzelbacher und Vogeler mit ihrer Titelwahl Zuschreibungen vornehmen: Die Protagonistin des Werkes wird bereits im Titel als Agnes Blannbekin eingeführt und bei Dinzelbacher und Vogeler auch in den Status einer Begine gerückt. Nach modernen Recherchekriterien kann mit dem Wiedererkennungseffekt und der Notwendigkeit zur Titelansetzung für diese Art der Zuordnung argumentiert werden; in den mittelalterlichen Handschriften ist zumindest der Effekt jedoch nicht nachweisbar. Folgt man auf der Suche nach einem Titel den gegenwärtig verfügbaren Handschriften, wäre eine Möglichkeit, die Anfangsworte der Handschriftentexte, das sogenannte Incipit, zu verwenden. Dies wäre eine durchaus konsequente Lösung, zumal alle verfügbaren Handschriften mit den Worten Confiteor tibi pater domine […]338 beginnen, einem Bekenntnis zu Gott, das den Worten Jesu im Matthäus- bzw. Lukasevangelium entlehnt wurde.339 Doch im vorliegenden Falle handelt es sich dabei um einen Passus aus dem Prolog des Schreibers und zugleich Beichtvaters, der sein eigenes Bekenntnis der Geschichte und den Visionen der Jungfrau voranstellt. Die Wirkmächtigkeit dieses Prologs und die gezielte Wortwahl Confiteor tibi pater werden in einem folgenden Kapitel erör338 Eine Abweichung von dieser Wortstellung findet sich lediglich im Fall der Basler Handschrift; siehe dazu Kapitel II.1.f. 339 Der Anfang dieses Prologs entspricht den Bibelversen Mt 11,25–26: In illo tempore respondens Iesus dixit: Confiteor tibi, Pater, Domine caeli et terrae, quia abscondisti haec a sapientibus et prudentibus, et revelasti ea parvulis. Ita Pater: quoniam sic fuit placitum ante te./ In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Ähnlich: Lk 10,21–23. Alle lateinischen Bibelstellen sind zitiert nach Biblia sacra: iuxta Vulgatam versionem hrsg. Robert Weber, adiuvantibus Bonifatio Fischer, 5., verbesserte Auflage, praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 2017, online unter: https://www.bibleserver.com/start (zuletzt aufgerufen am 08. 07. 2021).

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

tert werden; hier sei zunächst nur festgehalten, dass die Verfasserin das Incipit wegen seiner erzählperspektivischen Eigenart nicht titelgebend verwenden wird. Zudem soll ein Titel, so seine Bestimmung, mit möglichst wenigen Worten einen Werkinhalt angemessen beschreiben und zusammenfassen. Dies leistet Confiteor tibi pater nicht. Es wird vielmehr vorgeschlagen, zur Bezeichnung der Untersuchungsgegenstände in dieser Studie den Titel Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis) zu verwenden, der den Textinhalt knapp zusammenfasst und gleichzeitig die Jungfrau und ihre Visionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Gleichwohl handelt es sich um keine Neuschöpfung, sondern um einen Titel, der aus der Lilienfelder Handschrift stammt, die das umfangreichste Textkorpus aufweist und zugleich einen der ältesten Überlieferungsträger darstellt. Als Lauftitel erscheint in dem besagten Manuskript oberhalb des Haupttextes Visiones jeweils auf den Verso- und cuiusdam virginis auf den Recto-Seiten in roter Tinte. Sogar ins Incipit der Lilienfelder Abschrift wurde der Titel von der Hand des Haupttextes übernommen: Incipit prologus in librum visionum cuiusdam virginis. Ein weiteres Argument für den vorgeschlagenen Titel liefert die Kohärenz der Handschriften bei seinem Gebrauch. Obgleich einige Textzeugen überhaupt keinen Titel verwenden – dazu zählen diejenigen aus den Kartausen in Basel und Mainz (M1) sowie aus dem Magdeburger Dominikanerkloster –, wurde die Betitelung bei anderen in ähnlicher Weise übernommen. Die Abschrift in Zwettl führt im Inhaltsverzeichnis, das zeitgleich zur Handschrift entstand, Folgendes auf: Secundus loquitur de quadam visione cuiusdam virginis weginne quam eius confessor quidam minor ordinare scripsit.340 Dies bedeutet: Der zweite – womit der zweite Traktat im Handschriftenband gemeint ist – erzählt von einer gewissen Vision einer gewissen Jungfrau, einer Begine, die [die Vision] der Beichtvater der Jungfrau, ein gewisser Bruder der Minderen [Brüder], geschrieben hat. Hier wird also die Ordenszugehörigkeit des Beichtvaters und Schreibers angegeben. In der später entstandenen Handschrift aus der Mainzer Kartause (M2) findet sich als Lauftitel Visiones cuiusdam sancte monialis341. Das gewählte Genitivattribut einer gewissen Sanctimoniale, einer frommen Schwester, ist nicht in der ähnlichen Handschrift M3, ebenfalls in Mainz verwahrt, zu finden, sondern diese ist überschrieben mit Offenbarungen einer gewissen frommen Person/Revelationes cuiusdam devote persone342 und rückt damit ebenso eine fromme Person in den Mittelpunkt.

340 Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384 (Zw), fol. 2v. 341 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 117 (M2), fol. 188r–195v. 342 Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 160 (M3), fol. 51r.

107

Handschriften

Zum Zwecke der Titelfindung kann nun resümiert werden, dass es zentral für den Titel ist, die Wörter Jungfrau und Visionen samt einer Zugehörigkeitsangabe der Letzteren zur Ersteren zu beinhalten. Dafür wurden sowohl inhaltliche Gesichtspunkte als auch die Tradition der Handschriften als Argumente angeführt. Gleichzeitig muss der zu wählende Titel einen Minimal-Konsens zwischen den in den Handschriften vertretenen Titeln darstellen; demnach sollte weder ein Verweis auf ein Seelsorgeverhältnis noch die Ordenszugehörigkeit des Beichtvaters oder der Beginenstand der Jungfrau Erwähnung finden. Ebenfalls leitet sich der gewählte Titel Visionen einer gewissen Jungfrau (Visiones cuiusdam virginis) direkt aus der Lilienfelder Handschrift ab, die gegenwärtig die älteste erhaltene und umfassendste Handschrift darstellt.

II.1.j

Tabellarische Übersicht zu den Kapiteln in den Handschriften

Legende: X = Kapitelbeginn mit einer Initiale X = Kapitelbeginn in einer neuen Zeile, mit Paragrafenzeichen gekennzeichnet (nur bei M1) +X = Kapitel an vorangehendes angeschlossen +X = Kapitel ist an das Vorangehende/den Prolog angeschlossen, beginnt aber mit einem Paragrafenzeichen teilw. = Kapitel wurde nur teilweise überliefert +Einschub = Textteile, die die Edition von Dinzelbacher/Vogeler ergänzen XX/XX = Kapitel, die bereits in der Dinzelbacher/Vogeler Edition verbunden sind Ne Prolog 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Zw Prolog 1 +2 +3 4 +5 6 +7 +8 9 10 +11 +12 13 +14 +15 16 +17 +18

Li Prolog 1 +2 +3 4 +5 6 +7 +8 9 10 +11 +12 13 +14 +15 16 +17 +18

M1 Prolog 1 +2 +3 4 +5 +6 +7 +8 +9 +10 +11 +12 +13 +14 +15

M2 Prolog +1 +2 +3 +4 +5 +6 +7 +8 +9 +10 +11 +12 +13 +14 +15

M3 Prolog 1 +2 +3 +4 +5 +6 +7 +8 +9 +10 +11 +12 +13 +14 +15

Ma Prolog 1 +2 +3 +4 +5 +6 +7 +8 +9 +10 +11 +12 +13 +14 +15

Ba Prolog 1 +2 +3 +4 +5 6 7 8 9 10 +11 +12 13 +14 +15 +16 +17 +18

108

Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

(Fortsetzung) Ne 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47/48/ 49/50 51 52 53 54 55 56 57/58/ 59 60 61 62 63 64 65 66

Zw +19 +20 21 +22 +23(1) 23(2) 24 25 +26 +27 +28 +29 30 +31 +32 +33 34 +35 +36 +37(1) 37(2) +38 +39 +40 +41 +42 +43 +44 +45 +46 47/48/ 49/50 51 +52 +53 54 +55 +56 +57/ 58/59 +60 +61 62 +63 +64 65 +66

Li +19 +20 21 +22 +23(1) 23(2) 24 25 +26 +27 +28 +29 30 +31 +32 +33 34 +35 +36 +37(1) 37(2) +38 +39 +40 +41 +42 +43 +44 +45 +46 47/48/ 49/50 51 +52 +53 54 +55 +56 +57/58/ 59 +60 61 62 +63 +64 65 +66

M1 +19 +20teilw. +21 +22 +23teilw.

M2 +19 +20teilw. +21teilw. +22 +23teilw.

M3 +19 +20teilw. +21teilw. +22 +23teilw.

Ma

+32 +33 +34teilw. +35teilw. +36 +Einschub

+32 +33 +34teilw. +35teilw. +36

+32 +33 34teilw. +35teilw. +36 +Einschub

+32 +33 +34teilw. +35 +36

+21 +22 +23

+38teilw. +Einschub

+46teilw.

+46teilw.

46teilw.

51 +52 +53 54 +55 +56 +57/58/59

+51 +52 +53 54 +55 +56 +57/58/59

51 +52 +53 54 +55

+60

+60

+51 +52 +53 +54 +55 +56 +57/58/59 +60

Ba +19 +20 +21 +22 +23

109

Handschriften

(Fortsetzung) Ne 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81/82 83 84 85 86 87 88 89 90/91

Zw 67 +68 +69 +70 71 72 +73 74 75 +76 77 78 +79 80 81/82 +83 +84 85 +86 +87 +88 89 90/91

Li 67 +68 +69 +70 71 72 +73 74 75 +76 77 78 +79 +80 81/82 +83 +84 85 +86 +87 +88 89 90/91

92 93 94 95 96 97 98 99 100

92 +93 94 +95 96 +97 +98 +99 +100

92 +93 94 +95 96 +97 +98 +99 +100

101 102 103 104 105 106 107 108

101 +102 +103 +104 +105 106 107 108(1) 108(2) +109 +110/ 111/ 112

101 +102 +103 +104 +105 106 107 108(1) 108(2) +109 +110/ 111/112

109 110/ 111/ 112

M1

M2

M3

Ma

71

+71

+71

74 75teilw. +76teilw. 77

74 +75teilw. +76teilw. +77

+74 +75

+84teilw.

+84teilw.

+84teilw. +Einschub

+88teilw.

+88teilw.

+90/ 91teilw.

+90/ 91teilw.

+93 94 +95teilw.

+93teilw. +94teilw.

99 +100

+99 +100

+77

+94teilw. +95teilw.

99 +100(1) 100(2)

+90/ 91teilw. 92teilw. +93 +94 +95teilw.

+99 +100

+106teilw. +106teilw.

+106teilw. +106

+109 +110/111/ 112

109 +110/111/ 112

+109 +110+111 +112

+109 +110/111/ 112

Ba

110

Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

(Fortsetzung) Ne 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142/ 143 144 145 146 147/ 148/ 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159

Zw 113 114 +115 +116 +117 118 119 120 121 122 123 124 +125 126 127 128 129 130 +131 132 +133 +134 135 136 +137 +138 +139 140 141 142/ 143 +144 145 +146 +147/ 148/ 149 +150 151 +152 153 +154 +155 +156 157 +158 +159

Li 113 114 +115 +116 +117 118 119 120 121 122 123 124 +125 126 127 128 129 130 +131 132 +133 +134 135 136 +137 +138 +139 140 141 142/143 +144 145 +146 +147/ 148/149 +150 151 +152 153 +154 +155 +156 157 +158 +159

M1 M2 M3 Ma +113 +113 113 +113 +Einschub +Einschub +Einschub

+120teilw. +120teilw.

+120teilw.

122teilw.

122teilw.

+122teilw.

+119 +122teilw. +Einschub

Ba

111

Handschriften

(Fortsetzung) Ne 160 161/ 162/ 163/ 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193/ 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205

Zw +160 161/ 162/ 163/ 164 165 166 +167 +168 169 +170 171 172 +173 174 175 +176 177 178 +179 +180 181 182 +183 184 185 186 +187 +188 189 teilw.

Li +160 +161/ 162/ 163/164 165 166 +167 +168 169 +170 171 172 +173 174 175 +176 177 178 +179 +180 +181 182 +183 184 185 186 +187 +188 189 190 191 192 +193/ 194 195 +196 +197 +198 +199 +200 201 202 +203 204 205

M1

M2

M3

Ma

Ba

112

Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

(Fortsetzung) Ne Zw Li M1 M2 M3 206 206 207 207 208/ 208/209 209 210 210 211 211 212 212 213 213 214/ 214 215 +215 216 216 217 +217 218 +218 219 219 220 +220 221/ 221/222 222 223 223 224 +224 225 225 226 226 227/ 227 228 +228 229 229 230 230 231 232 232 233 +233 234 234 235 235 Tabelle 2: Übersicht der Kapitel in den Handschriften

II.2

Ma

Ba

Editionen und Teilübersetzungen

II.2.a Die Editio princeps von Bernhard Pez (1731) und ihr Verbot 1731 veröffentlichte der Melker Benediktiner Bernhard Pez in einer Doppelausgabe sowohl die Visionen der Agnes Blannbekin, die er im Titel Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin […] Vita Et Revelationes als verehrungswürdig bezeichnet, als auch die Potho/Bodo von Prüfening (im Folgenden: Potho [lateinische Schreibung, im Deutschen:] Boto von Prüfening) zugeschriebenen Legenden

Editionen und Teilübersetzungen

113

über die Wunder der Jungfrau Maria.343 Für beide Texte stellte seine Ausgabe die erste Veröffentlichung, die Editio princeps, dar. Der 1683 im niederösterreichischen Ybbs geborene Bernhard Pez war einer der aktivsten Erforscher der Geschichte des österreichischen Mittelalters und Herausgeber von umfangreichem Quellenmaterial zur österreichischen Landesgeschichte sowie zur benediktinischen Ordensgeschichte. Eine biografische Beschäftigung mit ihm und seinen Forschungsanliegen ist unerlässlich, um das Verbot der Editio princeps zu erklären. II.2.a.1 Biografie und Forschungsanliegen des Bernhard Pez Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Hieronymus (1685–1762) besuchte Bernhard Pez zunächst das Jesuitengymnasium Krems in Niederösterreich, wo beide eine (neu)scholastische Ausbildung erfuhren. Nach dem Ablegen der Profess (Bernhard im Jahr 1700 und 1703 dann Hieronymus) folgten Studienzeiten in Wien und Melk, wo Bernhard Pez schließlich 1709 im Benediktinerkloster als Bibliothekar eingesetzt wurde.344 Bereits im Jahr seiner Einsetzung begann er, eine »Bibliotheca Benedictina«, ein umfassendes Lexikon benediktinischer Schriftsteller, anzulegen. Mit Genehmigung der Ordensoberen versandte er Gesuche an zahlreiche Klöster mit der Bitte um Zusendung relevanter Schriften und Verzeichnisse.345 Movens Pez’ war das Bestreben, die wissenschaftlichen und literarischen Verdienste der Benediktiner zu verdeutlichen. Dies sollte vor allem zur Demonstration benediktinischer Leistungen gegenüber denjenigen der seinerzeit im Bildungswesen dominierenden Jesuiten geschehen. Mit der Sammlung und Bereitstellung theologisch-spiritueller Schriften benediktinischer Provenienz sollte ein theologisches Gegengewicht zur vorherrschenden, vor allem von Jesuiten vertretenen, (neu)scholastischen Lehre etabliert werden. Obgleich die Brüder Pez selbst eine (neu)scholastische Ausbildung erfahren hatten, kehrten sie sich mit ihren eigenen Arbeiten und Forschungsanliegen von dieser ab. Pez’ Widerstand gegen die (Neu-)Scholastik zielte auf die Etablierung einer positiven Theologie in der katholischen Denkweise ab. Die Idee seiner positiven Theologie ist es, die Glaubensgrundsätze nicht aus abstrakten Überlegungen zu deduzieren, sondern vielmehr aus der Beschäftigung mit Quellen zu ergründen; »positive Theologie« ist allerdings kein eindeutiger Begriff, sondern hat verschiedene Definitionen erfahren. Grundlegend im Unterschied zur (neu)scholastischen Theologie, die eine dialektische Methode der 343 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16). 344 Siehe dazu Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 1. 345 Litterae encyclicae versandte Bernhard Pez noch im September 1709; siehe dazu Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 2.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Glaubensbegründung praktiziert, ist jedoch die Methode der positiven Theologie, die in der Darstellung positiver Offenbarungsquellen (Beispiele aus der Schrift, der Väterliteratur, der Heiligenlegenden oder Wundergeschichten) besteht. Die Behauptungen der positiven Theologie stützen sich somit auf diese positiven Prinzipien und deren Erzählungen.346 Mit diesen Anliegen knüpfte Pez auch an die erst wenige Jahre zurückliegenden Bestrebungen des französischen Benediktiners Jean Mabillon an.347 Die Wunsch nach Stärkung der positiven Theologie entsprang nicht nur einer Debatte theologischer Richtungen, sondern zugleich einem Konflikt zwischen Benediktinern und Jesuiten. Im Sinne der positiven Theologie und des Anliegens, die kirchengeschichtliche Forschung zu stärken, veröffentlichte Hieronymus Pez 1713 eine historischkritische Ausgabe der Kolomansvita gemeinsam mit Thesen von Melker Absolventen, die den benediktinischen Standpunkt bekräftigten.348 Auch die 1715 von Bernhard Pez herausgegebene Vita der österreichischen Reklusin Wilbirg aus St. Florian (†1289) sollte die historisch-kritische Methode verdeutlichen und Pez’ Überzeugungen demonstrieren.349 Darüber hinaus veranschaulicht die Ausgabe der Vita auch das landes- und frömmigkeitsgeschichtliche Interesse Pez’: Die Reklusin Wilbirg ist bis heute neben Agnes Blannbekin die einzige 346 Zur Erörterung des Begriffs »positive Theologie« sei hier einerseits auf den entsprechenden Artikel im »Lexikon für Theologie und Kirche« hingewiesen und andererseits auf eine umfassendere Darstellung von Hubert Filser; siehe dazu Hubert Filser, Dogma, Dogmen, Dogmatik. Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin von der Reformation bis zur Spätaufklärung (Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 28), Münster in Westfalen [u. a.] 2001, hier besonders: S. 628–647 bzw. Fernando Dominguez, Positive Theologie, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 8: Pearson bis Samuel, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, hrsg. Walter Kasper, Freiburg im Breisgau [u. a.] 1999, Sp. 447. 347 Zur Sichtung von Handschriften reiste Jean Mabillon (1632–1707) in viele Archive und Bibliotheken in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz. Neben der Herausgabe zahlreicher Viten wie auch der Schriften des Bernhard von Clairvaux klassifizierte er erstmals mittelalterliche Urkunden. Mit seinem 1681 veröffentlichten Werk »De re diplomatica libri sex« gilt er heute als Begründer der Paläographie und der Diplomatik; siehe dazu Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI, 2., durchgesehene, verbesserte und vermehrte Auflage, Paris 1709. Ein Überblick über die Entstehung der historischen Grundwissenschaften findet sich bei Christian Rohr, Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung, Wien [u. a.] 2015, vor allem in den jeweiligen Kapiteln »Allgemeines und historische Entwicklung« zu 4.1. (»Diplomatik«) und 5.1 (»Paläographie«), S. 37–40 bzw. S. 128–130, hier: S. 128–129. Zu den Reisen Mabillons entstanden vor allem im letzten Jahrhundert geografische Einzelstudien, die auch einen Einblick in das Leben und den akademischen Werdegang des Wissenschaftlers bieten; siehe dazu Arthur Bauckner, Mabillons Reise durch Bayern im Jahre 1683, München 1910 oder Gall Heer, Johannes Mabillon und die Schweizer Benediktiner. Ein Beitrag zur Geschichte der historischen Quellenforschung im 17. und 18. Jahrhundert, St. Gallen 1938. 348 Siehe dazu Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 12. 349 Siehe dazu Stockinger, und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 12.

Editionen und Teilübersetzungen

115

bekannte Religiose außerhalb einer weiblichen Klostergemeinschaft im österreichischen Raum. Pez’ Forschungsvorhaben der »Bibliotheca Benedictina« erwies sich schon wenige Jahre nach der Versendung der ersten Gesuche als ein zu umfassendes und nur schwerlich realisierbares Unterfangen für einen einzigen Herausgeber.350 Obgleich Hieronymus Pez – der ab 1714 die Stelle des zweiten Bibliothekars in Melk innehatte – kirchenhistorisch forschte und seinen Bruder Bernhard auf Reisen zur Sichtung von Archiv- und Bibliotheksbeständen anderer Klöster im österreichischen und süddeutschen Raum unterstützte, erschwerte der relativ frühe Tod Bernhards (1735) die Realisierung der »Bibliotheca Benedictina« zusätzlich. Der heute zum Teil veröffentlichte Briefwechsel zwischen Bernhard bzw. Hieronymus Pez und Zeitgenossen, auch aus dem außerbenediktinischen Umfeld, gewährt Einblicke in die seinerzeitige Gelehrtenkommunikation,351 Arbeitsweise und Arbeitsorte der Gebrüder sowie weitere ihrer Projekte wie die »Bibliotheca Mellicensis« oder die »Scriptores rerum Austriacarum«.352 Die Korrespondenz lässt auch erkennen, dass das wissenschaftliche Anliegen Bernhard Pez’ nicht von allen Zeitgenossen wohlwollend betrachtet wurde. Dies ist einerseits an den zunehmenden Konflikten im Kloster Melk selbst und mit dem Melker Abt Berthold Dietmayr ablesbar. Andererseits spiegelt es sich in den wachsenden Auseinandersetzungen mit dem Wiener Hofbibliothekspräfekten Johann Benedikt Gentilotti von Engelsbrunn.353 Einordnend ist zu Letzterem anzumerken, dass Gentilotti zahlreiche Editionsprojekte unterstützte, die die

350 Neben dem unermesslichen Umfang des Projektes waren sowohl die Qualität der Einsendungen als auch Schwierigkeiten bei der Kommunikation und Vorbehalte der Briefpartner für das Gelingen des Vorhabens hinderlich; siehe dazu Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 6–7. 351 An dieser Stelle sei auf den Begriff bzw. die Vorstellung der »res publica lit(t)eraria« verwiesen. Zur Frage, ob die Brüder Pez Teil einer solchen Gemeinschaft waren und wer noch dazugehört haben könnte, siehe Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), u. a. S. 17. 352 Siehe dazu Stockinger und Wallnig, Die gelehrte Korrespondenz (wie Anm. 220), S. 12. 353 Siehe dazu Thomas Stockinger, Thomas Wallnig, Patrick Fiska, Ines Peper und Manuela Mayer, Die gelehrte Korrespondenz der Bruder Pez. Text, Regesten, Kommentare, 2: 1716–1718, 1. Halbband (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 2,2,1), Wien 2015, S. 1. Ebenso verweist Stefan Benz auf Konflikte zwischen Pez und Gentilotti, die sich vor allem um das Erstrecht auf Veröffentlichung wichtiger Quellen, insbesondere des Codex Udalrici im Jahre 1717, drehten; siehe dazu Stefan Benz, Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich (Historische Studien, 473), Husum 2003, S. 98–99. In der Neuedition des Codex Udalrici ist dieser Streit jedoch nur angedeutet; siehe dazu Codex Udalrici, 1, hrsg. Klaus Naß (MGH Epistolae 2: Die Briefe der deutschen Kaiserzeit, 10,1), Wiesbaden 2017, S. LIX.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Vertreter der Societas Jesu betrieben; er kann gleichsam als Anhänger der wissenschaftlichen Ausrichtung der Jesuiten gelten.354 Trotz des sich verstärkenden Gegenwinds und des schier nicht zu bewältigenden Umfangs der geplanten »Scriptores rerum Austriacarum«-Edition waren die Brüder Pez hochmotiviert und bereisten zur Vorbereitung des Unternehmens verschiedene Stifte in Niederösterreich. In ihrem diesbezüglichen »Itinerar« hielten sie u. a. Besuche in den Orten »Klosterneuburg, Mauerbach, Heiligenkreuz, Kleinmariazell, Lilienfeld, St. Pölten, Göttweig, Zwettl, Altenburg und Pernegg«355 fest. Wie heute bekannt, ist an zwei dieser Orte (nämlich Zwettl und Lilienfeld) jeweils eine (Teil-)Abschrift der Visionen einer gewissen Jungfrau vorhanden. Ob Bernhard Pez auf der erwähnten Reise Kenntnis von den Abschriften erhielt, geht aus seiner (bisher edierten) Korrespondenz nicht hervor. Da die Lilienfelder und Zwettler Abschriften in der Editio princeps von Pez jedoch nicht erwähnt werden, ist davon auszugehen, dass sie für Pez vor Ort nicht zugänglich oder damals unbekannt waren. Als Vorlage für seine Edition benutzte er lediglich die seinerzeit in Neresheim vorhandene Abschrift. Diese fand er wohl, während er den Hofkanzler Philipp Ludwig von Sinzendorf begleitete, der als Botschafter nach Neresheim reiste.356 II.2.a.2 Editio princeps von 1731 Mit dem Werk legte Pez eine zweifache Erstausgabe vor, die sich aus mehreren Textelementen zusammensetzt: Nach einer 18-seitigen »Praefatio« und einer »Approbatio« des damaligen Melker Abtes Berthold beginnt der erste Teil mit den Visionen der Agnes Blannbekin unter dem Titel Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, Quae sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Imp[eratoribus] Wiennæ floruit, Vita Et Revelationes. Diesen Abschnitt hatte Pez gemeinsam mit dem Kartäuser Leopold Wydemann bearbeitet. Auf 302 Seiten werden hier der Prolog und – in 235 Kapiteln – die Visionen wiedergegeben. Ihnen fügt Pez die Potho von Prüfening zugeschriebenen Legenden über die Wunder der Jungfrau Maria unter dem Titel Pothonis Presbyteri et Monachi celeberr[imi] Monast[erii] Prunveningensis, nunc Priflingensis, prope Ratisbonam, Ord[inis] S[ancti] B[enedicti] qui seculo Christi XII. claruit, Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ hinzu. Mit etwas mehr als 150 Seiten ist 354 Zu Gentilotti als Förderer von Projekten der Societas Jesu siehe Benz (wie Anm. 353), S. 423. Eine Vorstellung von der personellen ›Besetzung‹ der hofnahen jesuitischen Historiographie entwickelt Benz ebenso; siehe dazu Benz (wie Anm. 353), S. 432–438. 355 Stockinger, Wallnig, Fiska, Peper und Mayer (wie Anm. 353), S. 12. Für eine Übersicht über die gesamte Reise sei hingewiesen auf Stockinger, Wallnig, Fiska, Peper und Mayer (wie Anm. 353), S. 11–18. 356 Siehe dazu Benz (wie Anm. 353), S. 425.

Editionen und Teilübersetzungen

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dieser Teil wesentlich kleiner und umfasst ein Vorwort sowie 44 Berichte über Wunder der Gottesmutter Maria. An den Schluss der Ausgabe stellt Pez eine Kapitelübersicht zu beiden Teilen. II.2.a.2.1 Leben und Offenbarungen der verehrungswürdigen Agnes Blannbekin: Ven. Agnetis Blannbekin, Quae sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Impp. Wiennae floruit, Vita Et Revelationes Besonderheiten der Pez’schen Edition sind in dieser Studie größtenteils bei der Charakterisierung der Neresheimer Handschrift (II.1.a) genannt. Dies erklärt sich daraus, dass die heute verschollene Neresheimer Handschrift für Pez die Grundlage der Editio princeps darstellte. Von anderen Abschriften berichtet Pez nicht. Dies legt die Annahmen nahe, dass ihm – trotz seiner vielen Reisen – keine weitere Abschrift der Visionen der Agnes Blannbekin bekannt war. Außer auf die bereits thematisierte Kapiteleinteilung, die Pez vermutlich aus dem Neresheimer Manuskript übernahm, ist noch auf die von ihm (und Wydemann) vorgenommenen textkritischen Anmerkungen hinzuweisen. Als Marginalien werden Textkorrekturen sowie im Text auftretende Auslassungen vermerkt und gegebenenfalls nachgetragen.357 Ferner übernimmt Pez die volkssprachlichen Ausdrücke als solche und übersetzt sie in Randnotizen.358 Der Wunsch der Jungfrau aus dem 39. Kapitel, schnell Begine zu werden, ist mit einer Worterläuterung zum Begriff der Beginen kommentiert.359 Außerdem leistet Pez an vielen Stellen eine Identifizierung der angesprochenen Kirchengebäude oder erwähnten Personen.360 Zusätzlich zu diesen Annotationen finden sich in den Marginalien Kommentare, die auf intratextuellem Vergleich beruhen. Dazu zählen Versuche der Datierung geschilderter Visionen oder Begebenheiten. So wird beispielsweise die Vision zum Beschneidungsfest des Herrn, ab Kapitel 34, auf das Jahr 1291 datiert, 357 Beispiele für Textkorrekturen, u. a. mit dem Verweis »Cod.«: Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 11 (Cap. XIV), 46, 47, 66, 76, 86, 92, 98 u. a. m. Beispiel für Ergänzungen zum bzw. vermerkte Auslassungen im Text: Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 11 (u. a. Cap. XIII). 358 So beispielsweise in Cap. XXXI: Zu […] Alium vocavit ›contentionem‹, id est, einen Chriek, * ›in qua me seriosè servo‹. […] notiert Pez am Rand: »* Verba Germanica, bellum significantia« (Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 31). Vergleichbar: Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 55, 72, 233, 269 und 289. 359 Siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 41. 360 Beispielsweise ist die im Kapitel 104 erwähnte Ecclesia[…] S. Stephani * mit der Randnotiz »* Nunc Cathedralis [et] Archiepiscopalis« erläutert; siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 121). Die in Kapitel 142 und 143 angesprochene »Domina[…] Ducissa[…] *« wird von Pez als »F. Elisabetha«, die Herzogin Elisabeth, Ehefrau des Herzogs Albrecht I., identifiziert; siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 175.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

obgleich diese zeitliche Einordung nicht direkt aus dem Inhalt der Vision hervorgeht. An dieser Stelle scheint Pez – anhand der in späteren Kapiteln enthaltenen Jahreszahlen und mit kalendarischen Hilfsmitteln – eine Datierungsrekonstruktion vorgenommen und daraufhin im Text vorhandene Jahreszahlen teilweise sogar noch verbessert zu haben, worauf mehrere Marginalien hinweisen.361 Ebenso verdient Pez’ Entscheidung Beachtung, als Autor der Visionen einen unbekannten Wiener Minoritenbruder, der der Beichtvater der Agnes Blannbekin gewesen sei, auf dem Titelblatt anzuführen. Dort heißt es: Auctore Anonymo Ord[inis] F[ratrum] Min[orum] è Celebri Conv[entu] S[anctæ] Crucis Wiennensis, ejusdem Virg[inis] Cofess[ario]. Damit interpretiert Pez eine Notiz, die er, so Pez in seiner Einleitung, am Ende der Neresheimer Abschrift gefunden habe: Hoc qui scribebat, Ermenricus nomen habebat.362 Wie bereits thematisiert, ist daraus nicht ersichtlich, ob es sich bei dem genannten Ermenricus um den Schreiber des Manuskriptes oder um den Beichtvater und somit den Aufzeichner der Visionen handelt. Gleichwohl könnte vermutet werden, dass Pez’ Entscheidung, den Beichtvater auf dem Titel als anonym[us] zu bezeichnen, nachfolgenden Forschungen eine Tendenz bei der Bewertung der Namensfrage vorgab. Dem ist jedoch nicht so. Viele nachfolgende Teil- und Neu-Editionen missachten Pez’ Vorsicht bei der Identifizierung des Beichtvaters als Bruder Ermenricus.363 Da auch die Marienwunder Pothos von Prüfening gemeinsam mit den Visionen der Agnes Blannbekin 1731 veröffentlicht und dann verboten wurden, sollen Inhalt sowie der Forschungsstand dazu kurz dargestellt werden. II.2.a.2.2 Das Buch über die heiligen Wunder der Mutter Gottes Maria: Liber de Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ des Potho von Prüfening Bei Potho von Prüfening verwirrt zunächst die Namensnennung. Die »Gemeinsame Normdatei« (GND) der Deutschen Nationalbibliothek nennt in ihrem Personendatensatz derzeit insgesamt elf Schreibweisen, mit denen Potho von Prüfening identifiziert werden kann.364 Pez selbst nennt Potho von Prüfening in 361 Siehe dazu u. a. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 201, 255 oder 257. 362 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 302. 363 Die Annahme, dass Ermenricus der Beichtvater sei, findet sich u. a. bei Oskar Panizza, Agnes Blannbekin eine östreichische Schwärmerin aus dem 13. Jahrhundert nach den Quellen, in: Zürcher Diskuszjonen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens 10–11 (1898), S. 1–16, hier: S. 8 oder auch Rupprich (wie Anm. 23), S. 41. Derselben Ansicht ist Classen in seinem 2009 erschienenen Aufsatz – leider nennt auch er keine nachvollziehbaren Gründe für seine Annahme; siehe dazu Classen, Taste, Sound and Smell (wie Anm. 34), S. 76. 364 »Boto, Pruveningensis [Hauptansetzung]«; »Boto, de Prüfening«; »Pothon, de Prüfening«; »Potho, de Prüm«; »Potho, Pruveningensis«; »Boto, von Prüfening«; »Boto, von Prüm«;

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seiner Einleitung »Potho[…] seu Botho[…]«, Priester und Mönch des Klosters »Prunveningensis, hodie Primflingensis O. S. B.«,365 nahe Regensburg, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gelebt habe. Auf die Autorschaft Pothos von Prüfening wurde Pez im 37. Kapitel, einem der letzten Kapitel der Legendensammlung, aufmerksam. Nach dem Bericht zahlreicher Visionen und Wunder, die im Zusammenhang mit der Mutter Gottes stehen und alle aus einer Erzählperspektive unter Betrachtung einer dritten Person Singular wiedergegeben werden, wechselt die Perspektive des Erzählers im 37. Kapitel. Dort heißt es: Ego scilicet Boto, qui hanc visionem jam senex de S. MARIA vidi, [et] quasi de alieno scripsi, plura de ipsa Matre Misericordiæ, [et] de ejus beneficiis, quæ ante annos quadraginta circa me gerebantur, referre dignum duxi. [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.]366

An dieser Stelle bekennt Potho in der Ich-Form (Ego/me), die geschilderten Visionen vierzig Jahre zuvor selbst gehabt zu haben. Mit dieser Selbsterwähnung begründet Pez in seiner Einführung seine Autorzuschreibung, die später angezweifelt wurde. Denn wie bei der namentlichen Erwähnung der Agnes Blannbekin befand sich der Zusatz mit dem Namen Boto nur in der von Pez als Grundlage verwendeten Handschrift – in diesem Falle aus dem Zisterzienserstift Heiligenkreuz im Wienerwald aus dem 13. Jahrhundert. Im Jahr 1887 bezweifelt erstmals der Romanist Adolfo Mussafia Pez’ Zuordnung und stellt dieser die These entgegen, dass es sich bei der Heiligenkreuzer Handschrift lediglich um eine Sammlung anderweitig bekannter Marienlegenden handele.367 Die Besonderheit des Heiligenkreuzer Manuskripts bestehe darin, dass Potho von Prüfening im 37. Kapitel seinen Namen mit den Visionen und Legenden verbunden und auf diese Weise die Autorschaft für die gesamten Wunderberichte und Visionen beansprucht habe. Dieser Spur, so Mussafia, sei Pez fälschlicherweise gefolgt. Da er nur eine Handschrift für die Editio princeps gesichtet habe, habe Pez Potho als Autor aller Marienwunder und -visionen in der Sammlung dargestellt. Mussafia weist darauf hin, dass die anderen Textzeugen der betreffenden Wunderberichte Potho weder im 37. Kapitel noch an anderer Stelle anführen:

»Potho, Prumiensis«; »Potho, von Prüfening«; »Potho« und »Pothon«; siehe dazu http://d -nb.info/gnd/102425582 (zuletzt aufgerufen am 16. 07. 2020). 365 Pez, Praefatio (wie Anm. 216), VI. 366 Pothonis […] Prunveningensis Liber De Miraculis SanctÆ Dei Genitricis MariÆ, in: Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 303–456, hier: S. 405. 367 Siehe dazu Adolfo Mussafia, Studien zu den mittelalterlichen Marienlegenden, 1–5, in: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften Wien. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 113,2; 115,1; 119,9; 123,8 und 139,8 (1886–1898), hier: 3, 119,9 (1889), S. 54.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

»Die Einreihung der Visionen blieb indessen ein individueller Zugang der Heiligenkreuzer Handschrift, denn kein anderes der überaus zahlreichen Exemplare der selben Sammlung, welche wir aus deutschen Bibliotheken kennen gelernt haben, enthält dieses Stück, welches Pez auf eine falsche Fährte führte.«368

Vielmehr handele es sich bei der von Pez edierten Version um eine Kompilation von Marienlegenden unterschiedlicher Herkunft, was Mussafia mit einem umfassenden Handschriftenvergleich nachweisen kann.369 Noch einen Schritt weiter geht Anton Weis, der im entsprechenden Band der »Allgemeinen Deutschen Biographie« von 1888 nicht nur die Autorschaft, sondern die gesamte Existenz Pothos von Prüfening infrage stellt. Laut Weis könnten zahlreiche Schriften, die früher Potho von Prüfening zugeschrieben worden seien, nun einem gewissen Potho von Prüm zugeordnet werden. Weis folgert: »Da endlich P. [Potho von Prüfening, J. S.] vielfach nur die Schriften des Mönches Potho von Prüm unterschoben wurden und somit für seine Autorschaft eigentlich nichts mehr erübrigt, so bleibt die Existenz des Prieflinger P. [Potho von Prüfening, J. S.] überhaupt ziemlich zweifelhaft.«370

1905 weist allerdings Josef A. Endres die These der Nicht-Existenz Pothos von Prüfening in seinem Aufsatz »Boto von Prüfening und seine schriftstellerische Tätigkeit«371 vehement zurück. Endres argumentiert auf der Grundlage einer erneuten Handschriftenüberprüfung, dass es stichhaltige Belege für die Existenz und schriftstellerische Tätigkeit eines Mönchs namens Potho aus der Benediktinerabtei Prüfening nahe Regensburg gebe.372 Aufgrund der engen Verflechtung der Lebensgeschichte Pothos mit dem Schicksal der Bibliothek des Klosters Prüfening, deren Bestände seit dem 15. Jahrhundert zu einem großen Teil in Regensburg lägen, sei es schwierig gewesen, sich ein umfassendes Bild von Potho

368 Mussafia (wie Anm. 367), hier: 3, 119,9 (1889), S. 54–55. 369 In seiner Arbeit zu den Marienlegenden liefert Mussafia zunächst einen inhaltlichen Überblick über die bei Pez aufgenommenen Legenden, dann vergleicht er mehrere Manuskripte, kann aber abschließend nicht jede Marienlegende einer bestimmten Sammlung zuweisen; siehe dazu Mussafia (wie Anm. 367), hier: 1, 113,2 (1887), S. 38 und 3, 119,9 (1889), S. 54–55. 370 P. Anton Weis, Potho, in: ADB (wie Anm. 16), 26: Philipp (III.) von Hessen – Pyrker, Leipzig 1888, S. 478, online unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd102425582.html (zuletzt aufgerufen am 16. 07. 2020). 371 Josef A. Endres, Boto von Prüfening und seine schriftstellerische Tätigkeit, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde zur Beförderung einer Gesammtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters 30 (1905), S. 603–646. 372 Endres führt dazu eine Liste mit Handschiften an, die Pothos von Prüfening Namen verzeichnen. Weiterhin verweist er auf einen Bibliothekskatalog des Regensburger St. Emmeram-Klosters von 1347, der den Bestand des benachbarten Prüfenings nennt. Für eine genaue Überprüfung siehe dazu Endres (wie Anm. 371), S. 607–612.

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von Prüfening zu machen.373 Die schriftstellerische Tätigkeit Pothos von Prüfening begründet Endres mit mehreren Werken, die er Potho zuordnet. Dazu zählen De domo Dei, De magna domo sapientiae, Homiliae in Ezechielem prophetam und Sermones. Wichtig an der Einschätzung Endres’ ist jedoch, dass er sich hinsichtlich des bei Pez veröffentlichten Werkes über Marienwunder der Meinung Mussafias anschließt. Er bekräftigt die These einer Legendensammlung, in der Potho von Prüfening lediglich im Kapitel 37 mit dem in der Ich-Form verfassten Zusatz als Autor tätig gewesen sei.374 Zur Begründung seiner These gegen die gesamte Autorschaft Pothos von Prüfening am Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ bedient Endres sich auch inhaltlicher Argumente. So finde das Fest Mariä Empfängnis in den Wunderberichten einen starken Zuspruch, in De domo Dei begegne hingegen eine deutliche Ablehnung dieses Festes. In einem Nachdruck der Pez-Edition des Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ375 bestätigt 1925 Thomas Frederick Crane, Emeritus für romanische Sprachen und Literaturen an der Cornell Universität, dass es sich bei den Marienlegenden um eine Wiedergabe bekannter Sammlungen handele. Wie bereits Mussafia für einen Großteil der Kapitel nachweist, geht auch Crane davon aus, dass Potho von Prüfening lediglich den Ich-Zusatz vornahm.376 Auch Crane kann etliche Kapitel der Marienwunder unterschiedlichen anderen Sammlungen zuordnen.377 Dennoch bleiben auch für ihn offene Fragen bezüglich der Kompilation der Marienwunder in der Edition von Pez. In den vergangenen Jahrzehnten gab es keine weiteren Forschungen zu Potho von Prüfening oder seiner möglichen Autorschaft hinsichtlich des Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ, sodass bis heute eine neue Untersuchung dieser Fragen – auch auf Basis einer erneuten Handschriftensichtung – fehlt.

373 Die Benediktinerabtei St. Georg zu Prüfening nahe Regensburg wurde 1109 von Bischof Otto von Bamberg gegründet und im Zuge der Säkularisation 1803 aufgelöst. Aus erhaltenen Bibliothekskatalogen ist ersichtlich, dass der Bestand der Klosterbibliothek zeitweilig so weit anwuchs, dass er denjenigen der weit älteren Bibliothek des Klosters St. Emmeram in Regensburg übertraf. Endres führt aus, dass Prüfening bereits im 15. Jahrhundert einen beachtlichen Teil seiner Bücher zum Teil an die Stadt Regensburg verloren habe; siehe dazu Endres (wie Anm. 371), S. 606. Die Ursachen sind bis heute unklar. 374 Siehe dazu Endres (wie Anm. 371), S. 644. 375 Liber de miraculis Sanctae Dei genitricis Mariae: Published at Vienna, in 1731 by Bernhard Pez, O. S. B: Reprinted for the First Time by Thomas Frederick Crane with an Introduction and Notes and a Bibliography of the Writings of T. F. Crane (Cornell University Studies in Romance Languages and Literature, 1), Ithaca [u. a.] 1925. 376 Siehe dazu Thomas Frederick Crane, Introduction, in: Liber de miraculis (wie Anm. 375), S. xi–xxvi, hier: S. xiv. 377 Siehe dazu Crane, Introduction (wie Anm. 375), S. xv–xx.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

II.2.a.3 Das Verbot der Editio princeps Bei dem Versuch, das Verbot der Editio princeps zu erklären, können nicht nur inhaltliche Bedenken der damaligen Zeitgenossen gegenüber einzelnen Kapiteln angeführt werden, sondern es muss ebenfalls der oben angesprochene theologiegeschichtliche Richtungsstreit mitbedacht werden, um eine plausible Erklärung zu gewinnen. Nach dem Tod des Hofbibliothekars Gentilotti im Jahr 1725 wurde Pius Nikolaus Garelli (1675–1739) neuer Leiter der Wiener Hofbibliothek. Der Historiker Stefan Benz urteilt über die Nachfolge Garellis in seiner Dissertation zur Katholischen Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich, die Wiener Hofbibliothek habe sich mit dem Wechsel an der Spitze »endgültig als verkappte historische Institution«378 etabliert. Benz resümiert, dass Garelli nicht nur personell die Nachfolge Gentilottis angetreten habe, sondern diesem auch im dauerhaften Streit mit Pez nachgefolgt sei, in dem es um Veröffentlichungen von Handschriften ging.379 Die Briefe zwischen Pez und Garelli lassen zunächst jedoch ein wertschätzendes bis freundschaftliches Verhältnis erkennen, das sich allerdings durch die Veröffentlichung von Vita Et Revelationes der Agnes Blannbekin 1731 veränderte.380 Mit der Genehmigung seines Ordensoberen publizierte Pez gemeinsam mit den Visionen auch das Potho von Prüfening zugeschriebene Buch über die Wunder der Gottesmutter Maria. Vor allem das 37. Kapitel der Visionen mit den darin beschriebenen zur Vorhaut Christi und papst- bzw. kleruskritische Passagen sowie das 36. Kapitel aus dem Potho zugeschriebenen Buch über eine schwangere Äbtissin, die von Maria gerettet und deren Kind von zwei Engeln getragen wurde, erregten bei Garelli Abscheu und Ablehnung. Aus dem Briefwechsel mit Pez ist erkennbar, dass Garelli in den Visionen der Agnes Blannbekin das Bild eines dunklen Mittelalters voll des Aberglaubens erkennen wollte, das so nicht der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte. Garelli schrieb an Pez:

378 Benz (wie Anm. 353), S. 424. 379 Siehe dazu Benz (wie Anm. 353), S. 424. 380 Im Juni 1731 schreibt Pez einen vorsichtigen Brief an Garelli, in dem er wegen längerer Unterbrechung des Kontakts die Sorge äußert, Garelli beleidigt zu haben. Als möglichen Grund führt Pez selbst die Konfiskation seiner Doppeledition der Agnes Blannbekin und Potho von Prüfening zugeschriebenen Werke an. Auszüge dieses Briefes sind in deutscher Übersetzung zu finden bei Gustav von Suttner, Die Garelli. Ein Beitrag zur Culturgeschichte des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, Wien 1885, S. 50–51. Der originale Brief liegt vollständig gedruckt vor bei Hadrianus Pontius, Epistola ad amicum, qua ei felicia natalitia gratilatur et historiam libri rarioris exponit, qui inscribitur: Ven[erabilis] Agnetis Blannbeckin vita et revelationes […]. Adiectæ sunt in calce R. P. Pezii & Illustris Garellii Bibliothecar[ii] Cæs[arei] de hoc libro epistolæ lectu dignissimæ, Frankfurt [u. a.] 1735, S. 14–19.

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»Wie sehr wünschte ich, mein lieber Bernhard! daß Deine Argumente stark genug wären, mich zu überzeugen; … aber ich kann nicht gegen meine Ueberzeugung sprechen! … Die berühmten Bollandisten anzuführen, nützt dir gar nichts, denn sie, als treue Historiker, hatten Alles ans Licht zu ziehen, was sie in alten Lebensbeschreibungen der Heiligen fanden … Welche Nothwendigkeit hat aber dich gezwungen, ein durch vierhundert Jahre unbekanntes, von der göttlichen Vorsehung den Motten und dem Staube bestimmtes Werkchen dem öffentlichen Urtheile so offen auszusetzen, da Du doch, fast ohne es zu wollen, in der Vorrede selbst gestehst, daß Deine gute (um kein herbes Wort zu gebrauchen) Agnes, die Du plötzlich zu einer Ehrwürdigen machst, eine ganz unbekannte Frau gewesen ist … Woher willst du also diesem Werkchen auch nur eine mäßige Glaubwürdigkeit verschaffen? … Du hast ein altes Pergament gefunden: gut; aber wie wenig das ohne kritisches Urtheil werth ist, sag nicht ich, sondern der bedeutendste Theologe, der scharfsinnige Kritiker seiner Zeit: Melchior Canus, Dominikaner, Bischof, Beisitzer des Tridentinischen Concils, dessen Werk ›de humanae historiae auctoritate‹ ich ganz ausschreiben müßte, um Alles anzuführen, was hierher gehört.«381

In einem vorangegangenen Brief hatte Pez sich auf das Forschungsanliegen der Bollandisten bezogen und damit vermutlich auf ein Einlenken Garellis gehofft. Die Bollandisten (»Société des Bollandistes«), deren Name auf den Jesuiten und Historiker Jean Bolland (1596–1665) zurückgeführt wird, sind eine Gruppe von geistlichen Historikern, ursprünglich aus dem jesuitisch geprägten Umfeld, die sich der historisch-kritischen Überlieferung von Heiligenviten angenommen haben. Ihr bekanntestes Projekt sind die Acta Sanctorum. Harsch wies Garelli jedoch Pez’ Bezugnahme auf die Bollandisten ebenso zurück wie dessen andere theologische Einwände. Auch Pez’ Bestreben, einen Beitrag zur Geschichte Wiens und der habsburgischen Zeit leisten zu wollen, fand keinen Anklang. Auf Pez’ Ausführungen zur Vorhaut-Vision der Agnes Blannbekin entgegnete Garelli: »Deine Vertheidigung des Präputiums hätte ich lieber ganz übergangen, als mit Worten zu spielen oder gar das erhabenste Sacrament zu mißbrauchen«.382 Theologische Bedenken gegenüber der Möglichkeit, die Vorhaut Christi zu spüren, bestanden, obgleich dieses Häutchen infolge einer Vision Birgittas von Schweden als Reliquie verwahrt wurde. Pez versucht, den Vorbehalten in seiner Einleitung zur Edition von Agnes’ Visionen zu begegnen.383 Interessant an den 381 Deutschsprachige Paraphrase des Schreibens vom 13. Juni 1731 durch von Suttner (wie Anm. 380), S. 54; das lateinische Original findet sich bei Pontius (wie Anm. 380), S. 19–32. 382 Hierbei handelt es sich ebenso um eine deutschsprachige Paraphrase durch von Suttner (wie Anm. 380), S. 55; der lateinische Originaltext ist wieder zu finden bei Pontius (wie Anm. 380), S. 19–32. 383 Siehe dazu Pez, Praefatio (wie Anm. 216), V. Auch in der Vorrede zur Edition des Visionsbuchs (Liber revelationum) Richalms von Schöntal, das Pez 1717 bei einer Reise zum Tegernsee entdeckte und 1721 in Zusammenarbeit mit dem Konventualen Romanus Kinner veröffentlichte, ahnt Pez, dass die Offenbarungen des Richalmus nicht bei allen Lesern gut aufgenommen werden würden, vor allem

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

diesbezüglichen Streitigkeiten zwischen Garelli und Pez ist die weitere Verteidigung, die Pez wählt. Zur Unterstützung seiner Position und zur Anerkennung der Visionen der Agnes Blannbekin als eines wichtigen historischen Beitrags führt Pez auch Stimmen einer protestantischen Leserschaft an: »propter historiam von eruditis Lutheranis gelesen und niemand findet darin etwas Scandalöses«.384 Die Zahl der in der weiteren Auseinandersetzung vorgebrachten Argumente und in den Konflikt verwickelten Personen nahm in den folgenden Jahren zu. Darüber hinaus erstarkte die Rolle der Öffentlichkeit in der Diskussion, da das Medium der Zeitung sich zunehmend etablierte.385 Obgleich oftmals theologische Bedenken gegen die Visionen der Agnes Blannbekin am Beschneidungstag Christi laut wurden und die im Werk geäußerte Kritik an Klerikern und Papst Unmut erzeugte, war die Diskussion um Agnes Blannbekin auch ein zeitgenössischer Richtungsstreit, eine Debatte zwischen den Anhängern der (Neu-)Scholastik und den Verfechtern einer positiven Theologie, die ein historisch-kritisches Wissenschaftsanliegen verfolgten. Am Ende setzten sich die Argumente gegen die Veröffentlichung durch, und die 1731 von Pez publizierten Visionen der Agnes Blannbekin sowie die Potho von Prüfening zugeschriebenen Marienwunder wurden auf Betreiben Garellis und Erlass Kaiser Karls VI. konfisziert; die bereits erschienenen Exemplare sollten verwahrt bleiben.386

nicht bei jenen, die weltlicher dächten; siehe dazu Paul Gerhard Schmidt, Einleitung, in: Richalm von Schöntal, Liber revelationum, hrsg. Paul Gerhard Schmidt (MGH. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 24), Hannover 2009, S. IX–LXXIV, hier: S. LXI. 384 Brief von Pez (Melk, 26. 4. 1731), hier zitiert nach: Eduard Ernst Katschthaler: Über Bernhard Pez und dessen Briefnachlass, in: Jahresbericht des k. k. Obergymnasiums der Benedictiner zu Melk 39 (1889), S. 1–106, hier S. 95. 385 Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Benz (wie Anm. 353), S. 425–428. 386 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 33. Einige Arbeiten zu Agnes Blannbekin, vor allem populärwissenschaftliche Darstellungen und Kurzbeschreibungen, führen an, dass ihre Visionen auf den Index librorum prohibitorum gesetzt worden seien, das Verzeichnis verbotener Bücher, das die römische Kurie bis 1965/66 veröffentlichte. Eine Nachprüfung ergab, dass in zeitgenössischen Ausgaben des Indexes die Pez-Edition jedoch nicht verzeichnet ist. Dies bestätigt auch Heinrich Reusch in seiner 1883/5 erschienenen Monografie zum Index der verbotenen Bücher. Reusch erläutert, dass bereits erschienene Exemplare der Pez-Ausgabe auf Veranlassung Kaisers Karl VI. konfisziert worden seien, der auf Druck seines Kanzlers Graf Sinzendorf und des Hofbibliothekars Garelli das Buch wegen der Vorhaut-Stellen in den Visionen auf den Wiener Index von 1756 habe setzen lassen; siehe dazu Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, 2: Erste Abtheilung, Bonn 1885, S. 259. Zur Abschaffung des Indexes siehe Heilige Kongregation für die Glaubenslehre, Notifikation über die Abschaffung des Bücherindexes vom 14. Juni 1966, http://www.vatican.va/roman_curia/congregati ons/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19660614_de-indicis-libr-prohib_ge.html (zuletzt aufgerufen am 14. 07. 2020).

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II.2.b Teilübersetzungen von Karl Güntherode (1790) Im zweiten Teil seines 1790 erschienenen Werkes »Komische Merkwürdigkeiten aus alten theologischen Makulaturen« veröffentlichte Karl von Güntherode mehrere Visionen der Agnes Blannbekin, die er sowohl nach Pez’ Editio princeps wiedergab als auch mit deutschen Übersetzungen versah. Der 1740 geborene Karl Freiherr von Güntherode trat zunächst in den Serviten-Orden in Innsbruck ein, wo er als Lehrer für Rhetorik, Logik und Metaphysik anfänglich im Kloster und nach der Ordensauflösung 1773 an der Hochschule in Innsbruck lehrte.387 Der weitere Lebensweg Güntherodes zeigt eine fortschreitende Distanzierung von der Gemeinschaft der Serviten sowie Entfremdung von römisch-katholischen Glaubensgrundsätzen (wie denen der unbefleckten Empfängnis Mariens, des Ablasses oder des Fegefeuers). So wurde Güntherode 1777 zunächst wegen seiner Publikation »Candidus et Nigrellus«388 von seinen Ordensoberen seines Lehramts enthoben und im Kloster Maria Waldrast gefangen gehalten. Es folgten mehrere Auseinandersetzungen mit dem Serviten-Orden über dessen spezifische inhaltliche Ausrichtung. Auf Intervention des Fürsten Nikolaus II. Esterházy wurde Güntherode dann Bibliothekar in Wien und floh auf Grund weiterer Verfolgungen durch den Orden schließlich in das ungarische Eisenstadt, wo er im Alter von 55 Jahren starb.389 Auch die Veröffentlichung der übersetzten Agnes Blannbekin-Visionen fällt in die Zeit seiner zunehmenden Entfremdung von christlichen Glaubensinhalten. Bereits in der Überschrift wird Agnes Blannbekin eingeführt als »gottselige […] Jungfrau Agnes Blannbek, welche die Vorhaut Christi hundertmal nacheinander verschlungen hat.«390 Im Anschluss daran stellt Güntherode Agnes 387 Für biografische Informationen siehe Constant[in] von Wurzbach, Güntherode, Karl Freiherr von, in: Constant[in] von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, enthaltend die Lebensskizzen derjenigen Personen, welche seit 1750 in den österreichischen Kronländern gelebt und gewirkt haben, 6: Guadagni – Habsburg (Agnes – Ludwig), Wien 1860, S. 15–16, online verfügbar über das Projekt »Austrian Literature Online« der Universitätsbibliothek Graz unter http://www.literature.at/viewer.alo?objid=1180 4&page=23&viewmode=overview (zuletzt aufgerufen am 13. 07. 2020). 388 [Karl von Güntherode,] Candidus et Nigrellus pridie Kal. Majas […], Innsbruck 1777. 389 Über Leben und Werk des Karl Freiherrn von Güntherode informieren, außer dem in Anm. 389 genannten Lexikonartikel, ältere Darstellungen, wie Johann Georg Meusel, Freyherr von Güntherode (Karl), in: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, 4, Leipzig 1804, S. 467–469 oder auch Heinrich Döring, Carl von Guentherode, in: Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt, 1: A–H, Neustadt an der Orla 1831, S. 560–561. Zur Person des Fürsten Nikolaus II. Esterházy und seiner Verbindung zu Karl von Güntherode, siehe dazu Stefan Körner, Nikolaus II. Esterházy und die Kunst. Biografie eines manischen Sammlers. Wien [u. a.] 2013, S. 106. 390 [Karl von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten aus alten theologischen Makulaturen. Mit erbaulichen Kupfern, 2, Rom [u. a. – i. e. Wien] 1790, S. 36–101, hier: S. 36.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Blannbekin und ihre Visionen in zahlreichen ausgewählten und übersetzten Kapiteln vor. Neben dem Gesamttitel »Komische Merkwürdigkeiten aus alten theologischen Makulaturen« sowie der Kapitelüberschrift mit der Erwähnung der Vorhaut verschlingenden Agnes Blannbekin verraten auch die Anordnung der Kapitel und gelegentliche Kommentierung die polemische Haltung Güntherodes dem Inhalt gegenüber.391 Im Anschluss an die Übersetzung erwähnt er die Auffindung des Originaltextes im Kloster Neresheim durch Bernhard Pez.392 Auch Auszüge aus Pez’ Vorrede zur Editio princeps gibt Güntherode in deutscher Zusammenfassung wieder, wobei der Schwerpunkt auf der Thematisierung der Vorhaut Christi liegt.393 Trotz der Einseitigkeit seiner inhaltlichen Auswahl erwecken einige Äußerungen Güntherodes Interesse, so etwa wenn er am Ende der übersetzten Visionen über Agnes Blannbekin folgert: »Nun war sie des Willens Gottes versichert. Ihr Beichtvater war ein Minorit, und vermuthlich Novizenmeister. – Sie starb zu Wien im Rufe der Heiligkeit im J. 1315, am 23ten May und ist, wie sich muthmaßen läßt, in dem Minoritenkloster begraben, wenigstens hat sie ihr meistes Leben all da zugebracht«.394

Leider führt der Autor dies ohne argumentative Begründung oder Quellennachweis an, und auch die Untersuchungen zur hier vorgelegten Darstellung konnten weder die Funktion eines Novizenmeisters für den Beichtvater noch das Sterbedatum 23. Mai 1315 oder das Minoritenkloster als Ort der Grablegung bestätigen. An den Teil zu Agnes Blannbekin hat Güntherode die Wiedergabe und Übersetzung einzelner Kapitel aus dem, wie er titelt, »Mirakel der Gebaehrerin Gottes aus den Schriften des gottsel. Moenchs Potho« angefügt,395 also den Wunderberichten, die auch Pez zusammen mit den Visionen der Agnes Blannbekin herausgab. Sicherlich liegt in Güntherodes Veröffentlichung keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Visionen oder dem Leben der Agnes Blannbekin vor, doch immerhin handelt es sich vermutlich um die erste Teilübersetzung der Pez’schen Editio princeps aus dem Jahr 1731. Gleichzeitig zeigt Güntherodes Werk, dass es auch gut drei Jahrzehnte nach der Konfiskation der Editio princeps verfügbare Exemplare gab und eine erkennbare, wenn auch 391 Der abschließende Kommentar Güntherodes lässt seine Einstellung deutlich sichtbar werden: »Unsre gottselige Blannbeck, wenn sie itzt in Wien lebte, kaem gewiß mit sammt ihrem Beichtvater in das Tollhaus« ([von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten (wie Anm. 390), S. 101). 392 Siehe dazu [von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten (wie Anm. 390), S. 97–98. 393 Siehe dazu [von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten (wie Anm. 390), S. 99–101. 394 [von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten (wie Anm. 390), S. 98. 395 Siehe dazu [von Güntherode,] Komische Merkwuerdigkeiten (wie Anm. 390), S. 102–142.

Editionen und Teilübersetzungen

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polemische Wahrnehmung und eine Auseinandersetzung mit den Visionen einer gewissen Jungfrau stattfand.

II.2.c Teilveröffentlichung von Auszügen aus Pez’ Editio princeps durch Joseph Chmel (1849) 1849, knapp sechzig Jahre nach Güntherode, machte der österreichische Augustiner-Chorherr und Archivar Joseph Chmel in seinen »kleineren historischen Mittheilungen« auf die Edition von Pez aufmerksam.396 Chmel weist darin eingangs auf die Differenzen zwischen Pez und den Jesuiten sowie das damit einhergehende Verbot der Edition hin, um dann zu erklären, er sehe es als seine Aufgabe an, seinen Zeitgenossen die Visionen der Agnes Blannbekin, eine rar gewordene Quelle und eine der »größten Seltenheiten«,397 vorzustellen. Sein Ziel dabei sei es, »die vollständige Kenntniss des politischen, sittlichen und religiösen Zustandes Deutschlands und insbesonders Oesterreichs im 13. Jahrhundert zu fördern«.398 Chmel listet anschließend alle Kapitel der Visionen auf, indem er jeweils den lateinischen Titel nennt. In einem Rhythmus, der sich dem Leser/der Leserin nicht vollends erschließt, fügt er entweder kurze Auszüge oder ganze Kapitel des bei Pez veröffentlichten Textes an.399 Meist folgt dann eine wenige Sätze umfassende deutschsprachige Paraphrase des jeweiligen Kapitelinhalts. An vielen 396 Zur Person und dem wissenschaftlichen Opus Joseph Chmels sei verwiesen auf Constant[in] von Wurzbach, Chmel, Joseph, in: von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich (wie Anm. 387), 2: Bninski – Cordova, Wien 1857, S. 351–353. 397 Joseph Chmel, Kleinere historische Mittheilungen, 3, in: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften Wien. Philosophisch-historische Classe. Sitzungsberichte 1849,1 (1849), S. 46– 102, hier: S. 46. 398 Chmel (wie Anm. 397), S. 48. 399 Exemplarisch sei hier das 39. Kapitel angeführt. Darin werden große Textteile auf Latein wiedergegeben, wobei zwischen diese immer wieder deutsche Paraphrasen eingestreut sind: »Cap. XXXIX. ›De sanctitate vitae suae, scilicet hujus puellae, de qua iste Libellus tractat.‹ – Spielte nie als Kind, gab ihre Esswaaren den Armen. ›Spiritu sancto eam docente, coepit se abstinentia mirabili affligere, ita ut, quaecunque ponebantur, commedere se simulans, pio furto subtraheret, et devotis pauperibus erogaret. Sicque vim naturae faciendo, tanta fame cruciabatur, ut frequenter seorsum amarissimè fleret.‹– Vom 7ten Jahre ihres Alters, durch 10 Jahre litt sie Hunger. ›Carnes per tringinta annos vix ad unum comedit pastum. Omni die jejunavit praeter Dominicum diem. Dixit, quod nunquam cum delectatione gustûs cibum sumeret, et quod saepe flevit pro eo, quod oportuit eam manducare corporalem cibum.‹ Desshalb geistige Ergötzlichkeit! – ›cum enim esset annorum undecim, devotione magna flagrabat ad Corpus Domini. […]‹« [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (Chmel (wie Anm. 397), S. 57–58). Andere Kapitel, wie etwa das folgende (40), sind hingegen vollständig lateinisch wiedergeben und nicht mit deutschsprachiger Kommentierung versehen.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Stellen ist sie so unglücklich gestaltet, dass auf der von Chmel bereitgestellten Textgrundlage nicht eindeutig nachvollzogen werden kann, ob es sich um eine Zusammenfassung des Textes oder bereits um eine Textauslegung Chmels handelt.400

II.2.d Teilübersetzung von Oskar Panizza (1898) Es ist fraglich, ob die 1898 von Oskar Panizza unter dem Titel »Agnes Blannbekin eine östreichische Schwärmerin aus dem 13. Jahrhundert«401 veröffentlichten deutschsprachigen Kapitel der Visionen als wissenschaftliche Teilübersetzung der Pez’schen Edition gelten können.402 Denn Panizzas Arbeitsweise und Anliegen sind mit werturteilsfreien Kriterien nur schwer vereinbar. Stellenauslassungen werden von ihm bewertend kommentiert, etwa mit: »Es kommt jetzt das ganze Leiden und Sterben Christi, […] Wirklich zu langweilig!«403 Es fehlt eine auf wissenschaftliche Objektivität ausgerichtete Absicht – wie etwa diejenige Leopold von Rankes, wenn dieser als Forscher nach der Auslöschung des »Selbst« strebt.404 Vielmehr spiegelt die Übersetzung und Interpretation die biografische Entwicklung und Geisteshaltung der Person Panizzas – und soll dies nach dessen Willen wohl auch. Der 1853 geborene Schriftsteller und Publizist Oskar Panizza ist vor allem für seine kirchenkritische und blasphemische Polemik bekannt, die sowohl zum 400 Stellvertretend sei hier auf das 230. Kapitel verwiesen: »Cap. CCXXX. ›De displicentia Dei in hominibus.‹ Am Lichtmesstage Communion, nach der feierlichen Messe (bei den Minoriten) wollte sie die Ablässe gewinnen durch Kirchenbesuch. Weniger Trost, zurückkehrend, beim Küssen der Altäre hatte sie keinen süssen Geruch. Vielmehr brandigen Geruch, und zwar bis zum Sonntag Quinquagesima, dann kam er wieder (der süsse Geruch) nach der Communion; sie hätte nicht herumgehen sollen« [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (Chmel (wie Anm. 397), S. 99). Chmel paraphrasiert den Inhalt so knapp, dass aus der Zusammenfassung – vor allem im letzten Satz hinter dem Semikolon – nicht mehr klar hervorgeht, wer spricht und ob eventuell bereits eine Interpretation Chmels vorliegt. Nur durch einen Blick in den Ursprungstext kann geklärt werden, dass die Aussage »sie hätte nicht herumgehen sollen« eine Mahnung ist, die Agnes Blannbekin von Gott erhielt. 401 Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 1–16. 402 Als »Teilübersetzung« führt Dinzelbacher Panizzas Aufsatz in seinem Literaturverzeichnis an; siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 39. Folgende Kapitel wurden von Panizza (teil)übersetzt: 1–3, 9–12, 15, 25–34, 37, 40–41, 65, 71, 81–82, 92–94, 124–125, 140, 153–154, 160, 167, 181, 184, 200, 208–211 und 227–228. 403 Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 6. 404 Siehe dazu Leopold von Ranke, Englische Geschichte, vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, 2, 4. Auflage (Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke, 15), Leipzig 1877, S. 103: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen«.

Editionen und Teilübersetzungen

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Veröffentlichungsverbot als auch zu Gefängnisaufenthalten führte. In Panizzas Arbeit flossen seine streng christliche Erziehung, sein Studium zum Nervenarzt sowie seine wiederkehrenden und zunehmenden Depressionen erkennbar ein. Nach einem 16-jährigen stationären Aufenthalt in einer Heilanstalt starb Panizza im Jahr 1921.405 Neben seinem 1894 veröffentlichten Hauptwerk »Das Liebeskonzil« gab Panizza ab 1897 die im Schweizer Exil gegründeten und im französischen weitergeführten »Zürcher Diskuszjonen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens« heraus. Da es für ihn zunehmend schwieriger wurde, einen Verlag zu finden, der bereit war, seine Texte zu veröffentlichen, publizierte Panizza diese schließlich im Selbstverlag.406 Die scheinbare Vielzahl der in dem Periodikum vertretenen Autoren/-innen lässt auf den ersten Blick eine rege Beteiligung unterschiedlicher Wissenschaftler/-innen vermuten, doch die meisten Autoren-/Autorinnennamen waren Pseudonyme für Panizza selbst.407 Artikel wie »Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung«408 spiegeln bereits im Titel eines von Panizzas biografisch motivierten Anliegen, das auch bei seiner Betrachtung von Agnes Blannbekin wiederkehrt: »Was uns an dieser Agnes Blannbekin intereßirt, sind ihre Nerven; ist der naive Zustand ihrer Seele; ist die psychische Einrichtung der Seele des 13ten Jahrhunderts«.409 Panizza übersetzt ausgewählte Kapitel aus Agnes’ Visionen, die er aus einer pathologisierenden Perspektive kommentiert. So kündigt er beispielsweise an, dass ein nachfolgendes Kapitel »[…] ein[en] weitere[n] Schritt in dieser zunehmenden Spaltung der eigenen Persönlichkeit [Agnes’, J. S.]« aufzeigen werde.410 Agnes’ raptus deutet er als »histero-epileptischen Anfall«411 und fügt seiner Diagnose ferner einen Befund auf Paranoia hinzu, die er vor allem in der Vision des 41. Kapitels erkannt haben will, bei der die Jungfrau die Hostie ohne vorangegangenes Kommunizieren im Mund gespürt habe. Vor allem im Zusammenhang mit der angeblich erkennbaren Paranoia betont Panizza den Wert der Visionen: »Auch diese Selbstsugestion mit drauf folgender entsprechender Halluzination ist von großem Beobachtungswert. Es darf nicht vergessen werden, daß es sich hier nicht um eine sog. Legende, sondern um das ganz aufrichtig erzählte Erlebnis einer in der Paranoia stark vorgeschrittenen Nonne, und um die ebenso aufrichtige Wiedergabe ihres 405 Siehe dazu Michael Bauer, Panizza, Leopold Hermann Oskar, in: NDB (wie Anm. 15), 20: Pagenstecher – Püterich, Berlin 2001, S. 30–32, hier: S. 31. 406 Siehe dazu Peter D. G. Brown, Oskar Panizza: His Life and Works (American University Studies: Series 1: Germanic Languages and Literature, 27), New York [u. a.] 1983, S. 54. 407 Siehe dazu Brown (wie Anm. 406), S. 54. 408 Oskar Panizza, Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung, in: Zürcher Diskuszjonen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens 5 (1898), S. 1–8. 409 Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 2. 410 Siehe dazu Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 4. 411 Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 10.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

Beichtvaters handelt. Hier liegt der Wert des Buches, deßen psichologische [sic] Treue es für uns hoch über eine Legenda aurea, oder die 64 Bände der Acta Sanctorum stelt [sic]«.412

Neben einem Mangel an wissenschaftlichem Vorgehen, etwa bei einseitig pathologisierenden Interpretationen, findet sich in Panizzas Veröffentlichung historische Unkenntnis, so in der unkritischen Bezeichnung der Protagonistin als »Nonne«413 und der Benennung des Beichtvaters mit »Emmerich«.414 Was jedoch erstaunt, ist die Einpflegung der Pez’schen Kommentare, die später nicht einmal Dinzelbacher und Vogeler in ihre Edition und Übersetzung aufnahmen. Ebenso ist bemerkenswert, dass sowohl Güntherode als auch Chmel und Panizza Exemplare der Pez-Edition nach deren Veröffentlichungsverbot zugänglich waren und die Ausgabe von allen dreien in Auszügen publiziert werden konnte.

II.2.e Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) – die Neuedition und Übersetzung von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler (1994) Es sollten nahezu hundert Jahre seit ihrer letzten Teilübersetzung vergehen, bis man sich den Visionen erneut intensiv widmete. Im Jahr 1994 legt Peter Dinzelbacher unter Mitarbeit von Renate Vogeler mit Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) eine Neuedition und Übersetzung der Visionen einer gewissen Jungfrau vor.415 Seit der 1731 von Pez herausgegebenen ist dies erst die zweite vollständige Veröffentlichung und die erste deutschsprachige Übersetzung des gesamten Textes. Die Edition basiert auf der von Dinzelbacher kollationierten Zwettler Handschrift, die im Vergleich zur – nur noch über Pez’ Ausgabe zugänglichen – Neresheimer Version gelesen wurde. Da das Zwettler Manuskript im 189. Kapitel abbricht, folgt in der Neuausgabe der Visionen von diesem Kapitel an der Text, den Pez’ Edition des Neresheimer Textes bietet. Zusätzlich kollationierte Renate Vogeler für die Ausgabe von 1994 zwei der – inzwischen – drei bekannten Mainzer Handschriften (bei Dinzelbacher/Vogeler M und M1, hier M1 und M2) und verglich sie mit den anderen Handschriften (bei Dinzelbacher/Vogeler N und Z, hier Ne und Zw). Die festgestellten Abweichungen sind im kritischen Apparat der Edition vermerkt. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass Mainz Hs. I 117 (M1/M2) für Dinzelbacher und Vogeler wohl ganz eindeutig eine Abschrift von Mainz Hs. I 115a (M/M1) dar412 413 414 415

Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 5. Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), u. a. S. 11. Panizza, Agnes Blannbekin (wie Anm. 363), S. 8. Siehe dazu Leben und Offenbarungen, hrsg. Dinzelbacher und Vogeler (wie Anm. 15).

Editionen und Teilübersetzungen

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stellt, weshalb im Apparat nur Hs. I 115a mit der Kennung »M« berücksichtigt ist. Zur Textgestalt merkt Dinzelbacher an, dass in der Grafie den von Pez gewählten Lösungen für die Wiedergabe des Neresheimer Manuskripts gefolgt werde. Die Interpunktion hingegen sei, wie üblich, heutigen Gepflogenheiten angepasst.416 Über die Editionsarbeit Dinzelbachers und Vogelers urteilt Kurt Ruh in seiner 1995 erschienenen Rezension wohlwollend und spricht der »mit großer Sorgfalt« erstellten Textausgabe sein »uneingeschränktes Lob« aus.417 Vor allem die damit geschaffene Möglichkeit des Zugangs zu einem bis dahin schwer erhältlichen Text hebt Ruh hervor. Die Übersetzung ist eine lange ausstehende »Lesehilfe«,418 die gleichwohl an vielen Stellen hinterfragt und überprüft werden muss. Zu bemängeln ist aus Sicht der Verfasserin zudem das Fehlen von Kommentaren, die inhaltliche Zusammenhänge, etwa politische Ereignisse, sowie erwähnte Personen und Orte erläutern. Dinzelbacher kündigt zwar einen entsprechenden Kommentarband in seinem Vorwort zur Edition und Übersetzung an, aber dieser liegt bis dato nicht vor.419 Leider haben Dinzelbacher und Vogeler, wie erwähnt, auch die von Pez bereitgestellten Kommentare nicht berücksichtigt. Ebenso fehlen Verweise auf Bibelstellen sowie auf andere in den Text eingearbeitete Zitate und Referenzen. Bezug nehmend auf die allein von Dinzelbacher verfasste Einleitung, betont Ruh dessen »intime Kennerschaft«420 der Beginen- und Frauenmystik allgemein sowie der Visionen der Agnes Blannbekin im Besonderen. Dennoch kritisiert Ruh, dass in der Einleitung sowohl Ausführungen zum Beginenstand als auch eine Einschätzung zum Bildungsstand der Agnes Blannbekin fehlten; die daraus resultierenden Unklarheiten wirkten sich auch auf den eigentlichen Text von Edition und Übersetzung aus.421 Zahlreiche in der Forschungsliteratur vorhandene und fortgeschriebene Irrtümer über das Leben der Jungfrau listet Dinzelbacher in seiner Einleitung auf und leistet damit eine erste elementare Korrektur, schreibt aber auch manche Fehler, wie die falsche Umrechnung des Todesdatums, selbst fort.422 Die von Dinzelbacher und Vogeler bereitgestellte Textedition, die auf der vergleichenden Analyse dreier wesentlicher Textzeugen beruht, macht ein Zeugnis österreichischer Geschichte und mittelalterlicher Frauengeschichte zu416 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 35. 417 Siehe dazu Ruh, Rezension zu Leben und Offenbarungen (wie Anm. 331), S. 358. 418 Dinzelbacher beschreibt in seiner Einleitung, dass »[d]ie Übersetzung […] nur als Lesehilfe zum Original gedacht« war, Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 35. 419 Siehe dazu Peter Dinzelbacher, Vorwort, in: Leben und Offenbarungen, hrsg. Dinzelbacher und Vogeler (wie Anm. 15), S. 1–2, hier: S. 2. 420 Ruh, Rezension zu Leben und Offenbarungen (wie Anm. 331), S. 355. 421 Siehe dazu Ruh, Rezension zu Leben und Offenbarungen (wie Anm. 331), S. 356. 422 Siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 37–38.

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Die Überlieferungssituation: Handschriften und Editionen

gänglich. Die mitgelieferte deutschsprachige Übersetzung hat einen gewissen Gebrauchswert, auf dessen Basis weitere Forschung entstehen sollte.

II.2.f

Englische Übersetzung von Ulrike Wiethaus »Agnes Blannbekin, Viennese Beguine: Life and Revelations« (2002)

Im Jahre 2002 legt die amerikanische Religionswissenschaftlerin Ulrike Wiethaus eine englische Übersetzung der Visionen einer gewissen Jungfrau vor.423 Bei der Voranstellung ausgewählter Kapitel aus dem lateinischen Text bedient sich Wiethaus der Edition Dinzelbachers und Vogelers, die auch die Textgrundlage für Wiethaus’ Übersetzung bildet. Aufgrund von »space limitations«424 fehlten, so die Autorin, in der Übersetzung achtzehn Kapitel aus dem ursprünglichen Textkorpus.425 In ihrer Einleitung erläutert Wiethaus zunächst das Beginentum als Lebensentwurf allgemein, wobei sie auf Repräsentantinnen wie Mechthild von Magdeburg und Maria von Oignies eingeht. Ob Agnes Blannbekin dem betreffenden Lebensstand angehört habe, erörtert Wiethaus nicht, sondern nimmt dies von vornherein als gegeben an. Nach einer kurzen sonstigen Charakterisierung der Agnes Blannbekin beleuchtet sie unter der Überschrift »Scholary Interpretation« in der Forschung herrschende Beurteilungen der Visionen einer gewissen Jungfrau als Quelle, d. h. hinsichtlich ihrer Möglichkeit, Zugang zum Verständnis des Mittelalters zu gewähren. In ihren Ausführungen zur Textgrundlage gliedert Wiethaus die Quellen in drei Gruppen. Neben den an erster Stelle erwähnten mittelalterlichen Handschriften führt sie zweitens die von Dinzelbacher und Vogeler erneut zugänglich gemachte und übersetzte Editio princeps Pez’ und als Drittes eine mittelhochdeutsche Fassung an, »a now lost Middle High German fragment which might have been a translation from the Latin.«426 Die stets umstrittene und lediglich durch Görres indirekt nahegelegte Existenz dieser mittelhochdeutschen Fassung wird von Wiethaus leider ohne nachvollziehbare Belege übernommen. Es ist zu hoffen, dass das Fehlen von Ausführungen hierzu einer Simplifizierung geschuldet ist, die wiederum allein in der bereits genannten Begrenzung des Textumfangs ihren Grund hat. Im interpretierenden Essay »Spatiality and the Sacred in Agnes Blannbekin’s Life and Revelations«,427der sich an die Textwiedergabe anschließt, plausibilisiert Wiethaus die These, dass Frömmigkeitspraktik, mehr als literarische Aktivität, 423 424 425 426 427

Siehe dazu Wiethaus, Agnes Blannbekin (wie Anm. 54). Wiethaus, Agnes Blannbekin (wie Anm. 54), S. 13. Es fehlen Kapitel 32–33, 35–36, 43, 46, 51–53, 65, 94 und 145–152. Wiethaus, Agnes Blannbekin (wie Anm. 54), S. 12. Ulrike Wiethaus, Spatiality and the Sacred in Agnes Blannbekin’s ›Life and Revelations‹, in: Wiethaus, Agnes Blannbekin (wie Anm. 54), S. 163–176.

Editionen und Teilübersetzungen

133

konstitutiv für eine lokale weiblich-religiöse Subkultur gewesen sei. Dafür betrachtet sie – ähnlich wie in ihrem ebenfalls 2002 erschienenen Aufsatz »Street Mysticism: An Introduction to the ›Life and Revelations‹ of Agnes Blannbekin«428 – die Räume, in denen sich Agnes bewegte und bezieht auch das Geschlecht als Kategorie in ihre Analyse mit ein.

428 Wiethaus, Street Mysticism (wie Anm. 55), S. 281–307.

III.

Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Wie die Handschriftenbetrachtung zeigte, treten die Jungfrau und ihr Beichtvater der Leserschaft namenlos entgegen. Gleichwohl ist der Name Agnes Blannbekin für die Visionärin anerkannt, die Benennung des Schreibers ihrer Geschichte als Ermenricus hingegen weitgehend verworfen. Die folgenden Kapitel charakterisieren Agnes Blannbekin (III.1) und ihren Beichtvater (III.2) in zwei Schritten. Einerseits soll zunächst textimmanent ein Bild der Personen entstehen, andererseits wird dieses dann durch Kontextualisierung überprüft. Bezugsrahmen sind sowohl Hagiografien zu weiblichen Heiligen als auch die religiöse Vielfalt in der Stadt Wien und die dortige Etablierung der Minoriten. Anschließend (III.3) wird der Arbeitsprozess, der sich bei der Schilderung der Visionen vollzog, als verwobene Kommunikation zwischen Jungfrau und Beichtvater erörtert.

III.1 Agnes Blannbekin: Versuch einer Charakteristik Mit einem Verweis auf die Quellensituation beginnt Dinzelbacher seine Vorstellung der Agnes Blannbekin. Dabei betont er, dass »[a]lles, was wir über Blannbekin wissen, […] wir nur einer einzigen Quelle entnehmen [können], nämlich der von ihrem Beichtvater verfassten ›Vita et Revelationes‹«.429 Dieser Aussage kann einstweilen zugestimmt werden, da bislang keine zusätzlichen Belege das Leben der Agnes Blannbekin bezeugen. Eine einzige Quelle bedeutet jedoch keine grundsätzliche Quellenarmut, sondern kann im Falle von Gattungen wie der hier untersuchten durchaus Einblick in ein dargestelltes Leben, hier das der Agnes Blannbekin genannten Person, gewähren. Gleichwohl ist die Überlieferungssituation des betrachteten Textes ebenso aufschlussreich wie diskussionsbedürftig. Im Folgenden wird versucht, die Person der Agnes Blannbekin zu skizzieren. Dabei bilden biografische Daten, wie Alter und soziale Herkunft, einen Rahmen. Darüber hinaus soll anhand entsprechender Erwäh429 Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 4.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

nungen im Text ein Profil ihrer charakteristischen Eigenschaften entstehen. Besonders ihre Lebensweise und Frömmigkeitspraktiken werden dabei herausgearbeitet.

III.1.a cuiusdam virginis: Name, geografische und soziale Herkunft sowie Sterbedatum Der Name Agnes Blannbekin wird zur Identifizierung von Handschriften und zu deren Zuordnung verwendet, obgleich es gegenwärtig keine handschriftlich erhaltenen Belege für diesen Namen gibt. In den heute bekannten noch erhaltenen Handschriften wird die Protagonistin der geschilderten Visionen mit eine heilige Person (una[…] sancta[…] persona[…])430, jenes Mädchen (illa puella)431 oder diese Jungfrau (haec virgo)432 bezeichnet. Keine dieser Benennungen überwiegt deutlich oder lässt sich für einen bestimmten Zeitraum bzw. eine Lebensphase der Jungfrau als bevorzugt verwendet feststellen. Der wichtigste Nachweis des Namens Agnes Blannbekin ist durch Pez überliefert, der in seiner »Praefatio« auf folgende am Ende der heute verschollenen Neresheimer Handschrift vorgenommene biografische Notiz von einer Hand aus dem 14. Jahrhundert verweist, die nicht der des Haupttextes entspreche: Anno domini MCCCXVIII. minùs tribus annis obiit hæc Virgo in X. Kal. Maji, […] Agnes Blannbekin, filia cujusdam rustici, [et] morabatur Wiennæ, [et] erat de confessione Minoris cujusdam sancti Fratris.433

Nach der Nennung ihres Todesdatums wird die Jungfrau darin als Agnes Blannbekin vorgestellt, die die Tochter eines Bauern gewesen sei. Als ihr Lebensmittelpunkt wird Wien angegeben, wo sie, wie es im Prolog heißt, das Beichtkind eines Minderbruders (Minoris cujusdam sancti fratris) gewesen sei. Die Namensnennung scheint Pez in der Überschrift zum Prolog bestätigt gefunden zu haben, denn sie beinhaltet den Namen ebenfalls: Prologus auctoris in vitam et revelationes venerabilis Agnetis Blannbekin.434 Da einige Überschriften von Pez mit korrigierenden Marginalien versehen wurden, ist davon auszugehen, dass die Überschriften nicht von ihm stammen, sondern von ihm übernommen wurden. Im Haupttext der von Pez überlieferten Neresheimer Handschrift findet sich 430 431 432 433

Vis. c. virg., Cap. 1, S. 68. Vis. c. virg., Cap. 40, S. 126. Vis. c. virg., Cap. 89, S. 206. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 302; siehe dazu auch Kapitel 1.3.1 sowie Leben und Offenbarungen, hrsg. Dinzelbacher und Vogeler (wie Anm. 15), Nachtragsnotiz, S. 482. 434 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), Prologus, S. 1.

Agnes Blannbekin: Versuch einer Charakteristik

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keine Erwähnung des Namens, sodass eine nachträgliche Namenszuordnung vorstellbar bleibt. Eine weitere, jedoch unsichere Bestätigung des Namens, zumindest des Namensteils Blannbekin, findet sich im kurzen Textausschnitt, den Görres wiedergibt. Er nennt die Protagonistin in seiner »Christlichen Mystik« »die Beguine Blambeck«435 aus Wien. Wie bereits ausgeführt, geben die von Görres veröffentlichten Kapitel keine Hinweise auf den Stand, die Herkunft oder den Namen der Protagonistin. In einer erläuternden Fußnote zur Herkunft des Textabschnitts gibt Görres an, dass auf der Rückseite der Straßburger Pergamenthandschrift, die ihm vorgelegen habe, ein Todesdatum vermerkt gewesen sei. Der von ihm angegebene 10. Mai 1315436 deckt sich nicht mit der entsprechenden Angabe bei Pez in X. Kal. Maji oder eben nur, insofern man dazu, wie auch bei Dinzelbacher und Vogeler, Stoklaska und anderen, von einem Umrechnungsfehler ausgeht. Außer dem Todestag ist auch das Todesjahr unsicher: Pez überliefert es gemäß der Nachtragsnotiz als Anno domini MCCCXVIII. minùs tribus annis […]. Die Nennung der Jahreszahl über die Subtraktion von drei Jahren ist keine für das 14. Jahrhundert gängige Angabe.437 Der angegebene 22. April des Jahres 1315 findet weder im Text noch in einer Randnotiz der vorhandenen Handschriften eine Verifizierung. Gleichwohl liegt zumindest die Jahreszahl in zeitlicher Nähe zu den datierten Visionen. Sie wurden zu einem überwiegenden Teil nach dem liturgischen Kalender angeordnet. Es finden sich neben Bezügen zum Heiligenkalender, wie Quarta decima igitur die erat beati Johannis Baptistae solemnitas,438 [i]n festo apostolorum Petri et Pauli439 oder [i]n die beati Antonii,440 bzw. Datierungen nach sonstigen Festen des Kirchenjahres, etwa [i]n circumcisione domini,441 quarta die ante epiphaniam domini442 oder [i]n festo palmarum,443 auch explizite Nennungen von Jahreszahlen. Die erste derartige Erwähnung begegnet zu Beginn des 129. Kapitels, dessen Ereignisse auf das Jahr 1281 datiert werden: Anno domini MCCLXXXI in festo sancti Michaelis facta in spiritu […].444 Eine gewisse Bestätigung und Fortsetzung erfährt die Datierung im weiter hinten in der Abfolge angeordneten 189. Kapitel, in dem das Allerheiligenfest des Jahres 435 Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 242. 436 Siehe dazu Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), hier: S. 245, Fußnote 1. 437 Angaben, die eine Subtraktion oder Addition erfordern, beziehen sich meist auf ein Pontifikatsjahr oder Regierungsjahr eines Herrschers. 438 Vis. c. virg., Cap. 103, S. 236. 439 Vis. c. virg., Cap. 108, S. 246. 440 Vis. c. virg., Cap. 166, S. 346. 441 Vis. c. virg., Cap. 34, S. 112. 442 Vis. c. virg., Cap. 38, S. 120. 443 Vis. c. virg., Cap. 74, S. 180. 444 Vis. c. virg., Cap. 129, S. 288.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

1291 erwähnt wird: Anno Domini MCCLXXXXI in die omnium sanctorum.445 Darauf folgen chronologisch datierte Visionen oder Erlebnisse aus den Jahren 1292, 1293 und 1294.446 Das vorletzte Kapitel (234) enthält mit Anno domini MCCLXXXXIIII (1294) die letzte Jahresangabe.447 Neben dem konsequenten Erzählgeschehen bestätigen Erwähnungen zeitgenössischer Personen, wie etwa des Papstes Nikolaus IV. im Kapitel 85, die Chronologie.448 Da dessen Amtszeit von 1288 bis 1292 dauerte und die Erwähnung des Jahres 1291 erst im Kapitel 129 zu finden ist, muss die Vision aus dem 85. Kapitel in der Zeit zwischen 1288 und 1291 angesetzt werden. Forschungsbemühungen des österreichischen Literaturhistorikers Hans Rupprich in den 1950er Jahren sowie der Historikerin Anneliese Stoklaska in den 1980er Jahren führten zur Ableitung einer geografischen Herkunft aus dem Beioder Nachnamen Blannbekin. Die Namensendung -bek, hier verwendet in der weiblichen Form -bekin, lässt auf einen Herkunftsort der so Bezeichneten schließen, dessen Name heute hochdeutsch auf das Suffix -bach endet. Stoklaska folgert daraus, dass die Namensträgerin vermutlich aus Plambach gestammt habe, das in der Pfarre Grünau liegt und zum Gerichtsbezirk Kirchberg an der Pielach in der Nähe des niederösterreichischen St. Pölten gehört habe, das wiederum damals Teil der Diözese Passau war.449 Zusätzlich zur Herkunftsregion gibt der angeführte Nachtrag im nicht mehr zugänglichen Neresheimer Manuskript auch Auskunft über die soziale Herkunft der Agnes Blannbekin, indem er sie als Tochter eines Bauern (filia cujusdam rustici) bezeichnet. Im Text finden sich keine Hinweise, die eine solche bäuerliche Herkunft belegen können – generell gibt es keine konkreten Angaben zum Herkommen der Jungfrau, allerdings wird die bevorstehende Begegnung mit 445 Vis. c. virg., Cap. 189, S. 394. 446 Eine Datierung auf 1292 findet sich in Vis. c. virg., Cap. 204, S. 420 und Vis. c. virg., Cap. 205, S. 422. Das Jahr 1293 wird in Vis. c. virg., Cap. 207, S. 426 und Vis. c. virg., Cap. 213, S. 438 erwähnt. Die Ostervision aus dem 232. Kapitel ist in das Jahr 1294 datiert. In Vis. c. virg., Cap. 223, S. 458 findet sich, entgegen der gerade erläuterten chronologischen Abfolge, eine Datierung auf 1292: Anno domini MCCLXXXXII. In festo sancti Michaelis. Dinzelbacher verweist hier auf Pez’ Kommentar, der diese Zeitangabe verbessert und sie zu 1293 ändert. Da es keine inhaltlichen Indizien für eine Rückschau auf Ereignisse gibt, kann sich der von Pez vorgeschlagenen Korrektur angeschlossen werden; siehe dazu Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 283. 447 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 234, S. 478. 448 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 85, S. 201. 449 Bei der Identifizierung des Herkunftsortes folgt die Verfasserin dieser Studie der etymologischen Begründung Stoklaskas, die dazu folgende Ortsnamensvarianten mit Datierungen aus Quellen anführt: 1309 Planpach, 1317 Plonpach, 1319 Plonbach; siehe dazu Stoklaska, Weibliche Religiosität (wie Anm. 30), S. 166. Mit der Zuordnung von Blannbekin zu Plambach widerspricht Stoklaska Rupprichs zuvor aufgestellter These, dass Blannbekin auf Plambacheck bei Plambach verweise; siehe dazu Rupprich (wie Anm. 23), S. 40.

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Verwandten und Bekannten einmal thematisiert. Diese scheint nicht in Wien, sondern an einem anderen Ort (ad locum alium) stattgefunden zu haben, der namentlich nicht näher benannt wird.450 Auf der Basis der Quellen kann resümiert werden: Den Namen Agnes Blannbekin bestätigt kein heute noch vorhandener Textzeuge. Dies gilt ebenso für die geografische Herkunft, weil sie lediglich über den Namen Blannbekin ableitbar wäre. Auch die Annahme zur sozialen Abstammung aus einer Bauernfamilie bleibt eine Vermutung, die auf eine ausschließlich von Pez bezeugte Überlieferung zurückgeht. Pez und Görres geben übereinstimmend den Namensteil Blannbekin an, dennoch fehlt in beiden Fällen eine belastbare Quellengrundlage in Form einer Handschrift. Gleichwohl wurde der Name Agnes Blannbekin zur Bezeichnung von Versionen des hier diskutierten Werkes übernommen, die andere Textzeugen bieten. Ob dabei die Aussagekraft der Darlegungen Pez’ bzw. Görres’ oder vielmehr die praktischen Vorteile einer Textidentifikation im Vordergrund standen, bleibt offen.

III.1.b Frühe Frömmigkeit und Frömmigkeitspraktiken In den heute bekannten Handschriften und Textteilen wird die Protagonistin unter anderem als haec virgo451 bezeichnet und damit gleichzeitig ein Lebensstand angezeigt. Weitere Angaben zu Leben, Frömmigkeit und Frömmigkeitspraktiken der Jungfrau liefert vor allem das 39. Kapitel. Darin wird beschrieben, wie sie schon von früher Kindheit an die Andacht dem Spielen mit anderen Kindern vorzog: Als sie noch ein kleines Mädchen war, mischte sie sich nie unter die Spielenden, sondern, während die anderen Mädchen zu ihrem kindlichen Vergnügen zusammenkamen, blieb sie selbst zu Hause und betete Gottvater im Verborgenen an.452

Dieser früh gelebte Verzicht auf weltliche Kontakte und Freuden zeigte sich auch im Umgang mit Nahrung: Auf Anraten des Heiligen Geistes täuschte sie häufig den Verzehr von Speisen vor und verschenkte diese daraufhin an Arme. Dass es sich dabei um keine sündige Tat handelte, wird mit Formulierungen wie der des

450 Timuit enim, quod non posset quieto spiritu communicare in die pentecostes, qui tunc erat in januis, quia ad locum alium ob aliquam causam erat meatura, ubi in die solemni familiarium et notorum frequentiam sibi timuit fore nimis infestam (Vis. c. virg., Cap. 95, S. 222). 451 Unter anderem in Vis. c. virg., Cap. 89, S. 206. 452 Cum adhuc juvencula esset, nunquam cum ludentibus se conmiscuit, sed, aliis puellis ad solatia puerilia convenientibus, ipsa domi remanens patrem deum exorabat in abscondito (Vis. c. virg., Cap 39, S. 122–123).

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frommen Diebstahls (pio furto) und der Charakterisierung der andächtigen Armen (devotis pauperibus) als Empfänger des Diebesgutes verdeutlicht.453 Weiterhin berichtet das 39. Kapitel, wie die Jungfrau bereits im Alter von sieben Jahren mit dem freiwilligen Verzicht auf Speisen und dem damit einhergehenden Hunger begann, womit sie sich gut zehn Jahre lang quälte. Ferner ernährte sie sich über dreißig Jahre hinweg fast ausschließlich fleischlos, nur sonntags machte sie eine Ausnahme und brach ihr Fasten.454 Obgleich der Hunger sie gequält haben muss, bereitete ihr der Genuss materieller Speisen keine große Freude. Vielmehr weinte sie häufig, sobald sie sie essen musste, und lediglich die Kommunion mit dem Leib Christi konnte ihr durch eine unaussprechliche Süße körperlichen Genuss verschaffen.455 Um den Leib Christi häufiger zu empfangen, artikulierte das Mädchen schließlich den Wunsch, Begine zu werden: Sie beeilte sich auch umso schneller, Begine zu werden, um öfter kommunizieren zu können.456 Andere Kapitel ergänzen die Charakteristik, wie das 41., das den häufigen Kommunionempfang einmal in der Woche (omni septimana)457 erwähnt. Aus der Lektüre anderer Berichte über das Kommunizieren von Laien kann die hier angegebene Frequenz des Hostienempfangs als sehr ungewöhnlich und den damaligen Gewohnheiten entgegenstehend eingeordnet werden.458 Das Kommunizieren sollte (und soll auch heute noch) nur nach geeigneter seelischer Vorbereitung – etwa durch das Sündenbekenntnis in der Beichte und die damit verbundene Bitte um Sündenerlass – erfolgen und wurde, vermutlich aus Angst, 453 Siehe dazu Vis. C. virg., Cap. 39, S. 122–123. 454 Auszug aus Cap. 39: Hoc cruciatu famis voluntariae propter deum bene per decem annos vitam actitabat, incipiens, cum septem foret annorum. Carnes per triginta annos vix ad unum comedit pastum. Omni die jejunavit praeter dominicum diem (Vis. c. virg., Cap. 39, S. 122). 455 Dixit, quod nunquam cum delectatione gustus cibum sumeret et quod saepe flevit pro eo, quod oportuit eam manducare corporalem cibum. Et quoniam sibi tanta austeritate carnis delitias subtraxit a juventute sua, dominus ei spirituales delitias liberalissime ministravit, sicut per plura exempla infra posita patebit. Cum enim esset annorum undecim, devotione magna flagrabat ad corpus domini. Quod cum accepisset, sensit corporaliter in ore dulcidinem inenarrabilem, et sicut retulit, quod omnis dulcedo creata in comparatione illius dulcedinis esset sicut acetum in comparatione mellis (Vis. c. virg., Cap. 39, S. 122). 456 Festinabat quoque eo citus fieri begina, ut posset saepius communicare (Vis. c. virg., Cap. 39, S. 122). 457 Magna devotione fervebat ad corpus domini – omni septimana communicabat. (Vis. c. virg., Cap. 41, S. 41) und ebenso Communicavit quidem omni septimana semel […] (Vis. c. virg., Cap. 219, S. 450). 458 Zum Eucharistieempfang der Laien im Mittelalter gibt Peter Browe eine gute chronologische Übersicht; siehe dazu Peter Browe, Die Pflichtkommunion der Laien im Mittelalter, in: Peter Browe, Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einführung hrsg. Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer (Vergessene Theologen, 1), Münster in Westfalen [u. a.] 2003, S. 39–49.

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immer seltener praktiziert. Diese Zurückhaltung erlebte vor allem im Spätmittelalter einen Höhepunkt. Das Vierte Laterankonzil hatte schließlich das rare Kommunizieren der Gläubigen thematisiert und führte eine Pflicht zur jährlichen Beichte und somit die Möglichkeit eines alljährlichen Kommunionempfangs ein.459 Vor diesem Hintergrund scheint das wöchentliche Kommunizieren für eine Laiin exzeptionell. Neben der wöchentlichen Kommunion pflegte die Jungfrau täglich sechs Vaterunser und die gleiche Anzahl an Ave-Maria zu beten (dicere omni die sex pater noster et totidem ave maria460). In der Fastenzeit erhöhte sie diese Anzahl bisweilen sogar deutlich: Es war diese Jungfrau gewohnt, durch die ganze Fastenzeit fünftausend Vaterunser und ebensoviele Ave Maria mit ebensovielen Kniebeugen, bei denen sie aufs Gesicht fiel, zu sagen, so daß sie am Ostertage die Zahl jenes Gebets erfüllte.461

Nur für die Fastenzeit, besonders die Karwoche, sind Körperpraktiken der Selbstgeißelung bekannt. Das 76. Kapitel schildert Bußleistungen der Agnes 459 Siehe dazu: Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno, proprio sacerdoti, et iniunctam sibi poenitentiam studeat pro viribus adimplere, suscipiens reverenter ad minus in pascha eucharistiae sacramentum, nisi forte de consilio proprii sacerdotis ob aliquam rationabilem causam ad tempus ad eius perceptione duxerit abstinendum; alioquin et vivens ab ingressu ecclesiae arceatur et moriens christiana careat sepultura. Unde hoc salutare statutum frequenter in ecclesiis publicetur, ne quisquam ignorantiae caecitate velamen excusationis assumat. Si quis autem alieno sacerdoti voluerit iusta de causa sua confiteri peccata, licentiam prius postulet et obtineat a proprio sacerdote, cum aliter ille ipsum non possit solvere vel ligare/Alle Gläubigen beiderlei Geschlechts beichten nach Erreichen der Jahre der Unterscheidung wenigsten einmal im Jahr persönlich all ihre Sünden gewissenhaft ihrem eigenen Priester und sind bemüht, die ihnen auferlegte Buße nach Kräften zu erfüllen. Sie empfangen wenigstens an Ostern mit Ehrfurcht das Sakrament der Eucharistie, es sei denn, jemand sei auf Anraten seines eigenen Priesters aus einem vernünftigen Grund der Meinung, sich eine Zeitlang ihres Empfangs enthalten zu müssen. Andernfalls wird ihnen zu Lebzeiten das Betreten der Kirche und nach ihrem Tode das christliche Begräbnis verwehrt werden. Daher wird diese heilsame Bestimmung in den Kirchen häufig verkündet, damit niemand infolge blinder Unwissenheit seine Hände in Unschuld wasche. Möchte jemand aus gerechtem Grund einem fremden Priester seine Sünden beichten, erbittet und empfängt er zuerst die Erlaubnis des eigenen Priesters. Andernfalls ist der fremde Priester nicht dazu ihn der Lage, ihn zu lösen oder zu binden (Auszug aus dem 21. Kanon: De confessione facienda et non revelanda a sacerdote et saltem in pasca communicando/Notwendigkeit der Beichte, Schweigepflicht des Priesters und Empfang der Kommunion wenigstens an Ostern. Viertes Laterankonzil 1215, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), 3. Auflage, hrsg. Guiseppe Alberigo und Josef Wohlmuth, Paderborn [u. a.] 2000, S. 245/246). 460 Vis. c. virg., Cap. 124, S. 278. 461 Consuevit haec virgo per omnem quadragesimam dicere quinque millia pater noster et totidem ave maria cum totidem veniis in faciem procidendo, ita quod in die parasceve complevit numerum illius orationis (Vis. c. virg., Cap. 208/209, S. 428–429).

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Blannbekin in einer Karwoche, besonders am Karfreitag. Zunächst betete sie zu Gott um die Möglichkeit, körperliches Leiden zu erfahren und für Gott auszuhalten. Daraufhin wurde ihr die Gnade der Tränen gewährt (gratiam lachrymarum), sie verbrachte zwei Tage nahezu schlaflos (quasi insomnes), geißelte sich mit einem Wacholderzweig (cum quodam ramo juniperi se flagellans) so stark, bis Blut floss, und aß bis Ostern nur zwei Bissen Brot (et jejunans in parasceve vix duos morsellos comedit panis tantum462). Außerhalb der Fastenzeit gab es solche körperbezogenen Frömmigkeitspraktiken nur als Ausnahme.463 Hinzu kam die Gewohnheit, mehrere Kirchen täglich zu besuchen: Deinde, sicut solita erat, visitavit limina diversarum ecclesiarum quotidie,464 was die geografische Mobilität der Jungfrau widerspiegelt.465 Die lokale Reichweite scheint dabei groß gewesen zu sein und sich nicht auf das Gebiet innerhalb der Stadtgrenze beschränkt zu haben, denn die in diesem Kontext erwähnte Kirche der Minderbrüder, die Heiligkreuzkirche, lag außerhalb der Stadtmauern. Ebenso wird in einem Kapitel geschildert, dass die Protagonistin für ein Geschäft in eine andere, nicht näher bezeichnete Stadt466 oder auch an einen anderen Ort wanderte, wo sie ihre Verwandten oder Bekannten traf.467 Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass die Jungfrau nicht als Mitglied einer klausurierten Gemeinschaft gelebt haben kann, sondern in der Lage war, den Gang durch die Stadt und an andere Orte frei und selbstbestimmt zu unternehmen. Über ihren Wohnort gibt es nur spärliche Angaben. Häufig wird erwähnt, dass sie allein in ihrer Gebetszelle zu Hause für sich betete.468 Ob sie sich ein Wohn462 Vis. c. virg., Cap. 76, S. 184–185. 463 So laut Kapitel 109, in dem explizit erwähnt wird, dass sie sich nach Krankheit und vor dem Messbesuch Gewalt antat: Cumque aliquot diebus domi decubuisset, una die dominica mane vim sibi faciens ivit cum labore ad ecclesiam, ibique cruciata dolore capitis coepit cogitare de beato Petro – festum beati Petri nuper fuerat […] (Vis. c. virg., Cap. 109, S. 248). 464 Vis. c. virg., Cap. 135, S. 302. Ebenso im Cap. 156: Inde dicta misa, ivit ad aliam ecclesiam; haec enim erat ejus consuetudo, ut visitaret ecclesias, quamdiu missam aliquam alicubi speraret celebrari (Vis. c. virg., Cap. 156, S. 334). 465 Unter anderem werden dabei folgende Kirchen namentlich genannt: ecclesia sancti Jacobi (Cap. 135, S. 302), in monasterio sancti Jacobi (Cap. 166, S. 346), ecclesia […] fratrum (Cap. 166, S. 346), ecclesia […] Sancti Stephani (Cap. 104, S. 238, Cap. 168, S. 350 und Cap. 177, S. 366) und ad sanctum Michaelem (Cap. 208/9, S. 430). Pez vermutet, dass mit der Kirche des heiligen Michael wohl die Parochialkirche Wiens gemeint sei: »Est Ecclesia Parochialis in Urbe Wiennensi« (Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 262). Die Pfarrkirche St. Michael war im 13. Jahrhundert neben St. Stephan und dem Schottenstift eine der drei Pfarrkirchen Wiens. Außerdem gilt es, zu berücksichtigen, dass die Kirche der Minderbrüder, die Heiligkreuzkirche, außerhalb der Stadtmauern lag. 466 Contigit hanc puellam pro aliquo negotio migrare ad unam civitatem […] (Vis. c. virg., Cap. 102, S. 234). 467 Siehe dazu oben bzw. Vis. c. virg., Cap. 95, S. 222. 468 So unter anderem in Vis. c. virg., Cap. 30, S. 106 und Cap. 154, S. 330.

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haus mit anderen frommen Frauen teilte oder allein lebte, kann daraus nicht eindeutig abgeleitet werden. Ihr Wohnort scheint jedoch in unmittelbarer Nähe zur Kirche der Brüder gelegen zu haben, denn im Kapitel 192 wird geschildert, dass Gott sie kurz vor dem Einschlafen heimsuchte; danach hörte sie, wie zur Matutin (dem nächtlichen Stundengebet) geläutet wurde. Zudem wird erwähnt, dass sie auf den Ruf der Glocken hin bis zur Kirche der Brüder ging.469 Auch wenn der Klang des Glockenschlages, getragen vom Schall, eine weite Entfernung zurücklegen kann, muss sich der Wohnort der Visionärin in Laufnähe zur Kirche der Brüder befunden haben. Dafür spricht auch ein räumliches Indiz im 30. Kapitel, in dem berichtet wird, dass Agnes Blannbekin allein in ihrer Gebetszelle Stundengebete las und dabei eine Vision erlebte; in Hinsicht auf die Dauer der Offenbarung wird angegeben, dass diese solange währte, wie die Brüder die Mette sangen.470 Daraus lässt sich deduzieren, dass es von der privaten Gebetszelle aus möglich war, den Gesang der Brüder zu hören. Ob daraus gefolgert werden kann, dass es sich bei dem Aufenthaltsort der Jungfrau um ein angeschlossenes Drittordenshaus oder eine andere fromme Wohngemeinschaft handelte, soll nachfolgend diskutiert werden. Ferner scheinen ihr Beten, ihre Frömmigkeitsübungen und ihr Kommunionempfang keiner direkten (Ordens-) Regel unterworfen gewesen zu sein, sondern sie wählte und praktizierte diese offenbar selbstbestimmt. All dies wirft die Frage nach dem Lebensstand der Agnes Blannbekin auf.

III.1.c Lebensstand zwischen Begine und Franziskanertertiarin Um den Lebensstand der Agnes Blannbekin zu beleuchten, verdient zunächst ihr im 39. Kapitel geäußerter Wunsch, Begine zu werden, Beachtung. Es heißt: Sie beeilte sich auch umso schneller, Begine zu werden, um öfter kommunizieren zu können.471

In seiner Edition sieht sich Pez veranlasst, eine kurze Erklärung zum Wort Begina hinzuzufügen:

469 Ex tunc pulsabatur ad matutinum, et ipsa pervenit ad ecclesiam fratrum (Vis. c. virg., Cap. 192, S. 402). 470 Et durabat illa revelatio, qua sic angustiabatur, bene tam diu, quamdiu matutinum a fratribus cantaretur (Vis. c. virg., Cap. 30, S. 108). 471 Festinabat quoque eo citius fieri begina, ut posset saepius communicare (Vis. c. virg., Cap. 39. S. 122–123).

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»Begina seu Beghina erant Virgines DEO verè ac sanctè famulantes, colebant q[uam] genus vitæ inter Monasticum et seculare medium. Vide de his plura apud Carol[um] Cangium in Glossar[io] med[iæ] et infim[æ] Latin[itatis] verbo: Beghina«.472

Darin bezeichnet Pez Beginen zunächst als Gott dienende Jungfrauen. Ihren Stand charakterisiert Pez als zwischen dem monastischen Leben und demjenigen in der Welt platziert und thematisiert damit zugleich die große Herausforderung und den wiederkehrenden Konfliktpunkt beginaler Lebensweise. Für Weiterführendes empfiehlt er, unter dem Begriff »Beghina« in dem von Charles du Fresne, sieur du Cange (1610–1688) 1678 herausgegebenen dreibändigen »Glossarium ad scriptores mediae et infimae latinitatis« nachzulesen.473 Das von Pez angesprochene »genus vitæ inter Monasticum et seculare medium« bezeichnet den Lebensstand der Beginen in einem Dazwischen. Er ist gerade nicht mehr in der Welt der Laien angesiedelt, aber auch noch nicht mit dem Stand einer Nonne oder Ordensschwester gleichzusetzen, die, durch ein Gelübde dauerhaft gebunden und deutlich sichtbar, den Laienstand verlassen hat und in den Stand eines (meist klausurierten) Ordensmitgliedes aufgenommen wurde.474 Für eine Begine gab es kein offizielles Aufnahmeprozedere mit festgelegtem Ritual oder Gelübde.475 Dem Stand der Beginen konnten Jungfrauen, 472 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 41. 473 Der Haupteintrag ist dort unter einer Bezeichnung für die männliche Version der Beginen, »BEGHARDI«, vorgenommen und erklärt diese bereits im ersten Satz zu Häretikern: »Begehardi, Beguini, Beguinæ, Haeretici exorti primum in Alemannia, […]« (Charles du Fresne Du Cange, Glossarium ad scriptores mediæ et infimæ latinitatis. Editio nova locupletior et auctior, opera et studio monachorum Ordinis S[ancti] Benedicti è Congregatione S[ancti] Mauri, 1: A – B, Paris 1733, Sp. 1091–1093, hier: Sp. 1091). Auch der Nebeneintrag »Beghinæ« geht sofort auf das Verbot des Konzils von Vienne ein (Kursivierungen im Original): »Mulieres ejusdem sectæ ac instituti, quo Begardi & Beguini, quæ una cum iis pariter damnatæ sunt in Viennensi Concilio, præsertim eæ quæ in Alemannia degebant […]« (Du Cange (wie Anm. 473), Sp. 1093–1094, hier: Sp. 1093). Dann folgen Ausführungen und Textstellennachweise zu Beginen genannten Frauen in Deutschland, Belgien und Frankreich mit Erwähnung ihrer Lebensweise. 474 Eine ähnliche Formulierung wie Pez findet auch Herbert Grundmann in seiner 1935 veröffentlichten Studie über religiöse Bewegungen im Mittelalter, wenn er von einer »Zwitterstellung des Beginentums zwischen den kirchlichen Ordnungen« schreibt; siehe dazu Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Berlin 1935 (reprografischer Nachdruck: 3. Auflage, Darmstadt 1970), S. 321. 475 Unterschiedliche Erklärungen zum Ursprung des Begriffs »Begine« aus sprachwissenschaftlicher Sicht sowie Nachweise für seine historische Verbreitung liefern 2015 Jörg Voigt und Jürgen Udolph. Dabei erteilen sie der weit verbreiteten und auch von Grundmann vertretenen These, der Begriff sei von der Bezeichnung für die südfranzösische häretische Bewegung der Albigenser abgeleitet oder mit dieser assoziiert worden, eine klare Absage.

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Witwen und auch Ehefrauen angehören, die sich, allein oder in Gemeinschaft lebend, zu einem gottgefälligen Dasein in Armut, aber ohne den vollständigen Verzicht auf weltlichen Besitz entweder für eine bestimmte Zeit oder für eine gewisse Lebensphase (häufig im Witwenstand) entschieden. Kirchenrechtlich wurden sie zum Stand der Büßerinnen gezählt. Da es für Beginen keine Regel gab, an die sie sich binden mussten, und sie sich dennoch einer bestimmten Lebensweise verpflichtet fühlten, konnte sich eine – nur schwer greifbare – heterogene Organisationsstruktur bilden. Diese differenzierte sich nach städtischen, regionalen und zeitlichen Gegebenheiten vom 13. Jahrhundert bis in die Neuzeit aus. So wurde beispielsweise in Mainz per Provinzialsynode bereits 1233 festgelegt, dass die Beginen nicht herumziehen, sondern in ihren Häusern leben und ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften sollten; die Zuständigkeit für ihre seelsorgerische Betreuung fiel an den örtlichen Pfarrklerus.476 Gerade das Umherziehen scheint aber in den meisten anderen Städten ein entscheidendes Merkmal von Beginen gewesen zu sein und letztlich auch ein Grund, weshalb sie immer wieder ins Blickfeld der Amtskirche und in den Verdacht der Ketzerei gerieten. Verfolgungen blieben nicht aus. In einem Kapitel zu Semireligiosen, zu Beginen und Begarden, zeichnet Eberhart Isenmann in seiner Monografie zu deutschen Städten zwischen 1150 und 1550 die ambivalente Einstellung gegenüber der beginalen Lebensweise anhand von kirchlichen Verordnungen nach.477 Obgleich es lokale Anerkennung und Förderung vor allem im 13. Jahrhundert gab,478 verurteilte das Konzil von Vienne Vielmehr sprechen Udolph und Voigt sich vorsichtig für den Ursprung aus dem lateinischen Wort »beccus« aus. Durch dialektale Variation und Suffixbildungen habe sich, so ihre These, die zunächst abwertende Fremdbezeichnung der Begine als »Schwätzerin, Plapperin, Schwaflerin« entwickelt; siehe dazu Jürgen Udolph und Jörg Voigt, Ursprung und Verbreitung des Begriffs Begine aus sprachwissenschaftlicher und historischer Sicht, in: Beginenwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. Jörg Voigt, Bernward Schmidt und Marco A. Sorace (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, 20), Fribourg [u. a.] 2015, S. 15–40. 476 Diese Regelungen der Mainzer Provinzialsynode von 1233 paraphrasiert Jörg Voigt, Der ›status Beginarum‹. Überlegungen zur rechtlichen Stellung des Beginenwesens im 13. Jahrhundert, in: Beginenwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (wie Anm. 475), S. 41–67, hier: S. 46. 477 Siehe dazu Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2. Auflage, Köln [u. a.] 2014, S. 641–643. 478 Eine erste Förderung erfuhr das Beginenwesen mit der von Papst Gregor IX. ausgestellten Bulle Gloriam virginalem vom 30. Mai 1233, worin er die in Deutschland lebenden Jungfrauen, die vor Gott ein Keuschheitsgelübde abgelegt hätten, unter päpstlichen Schutz stellt. Darauf verweist sowohl Martina Wehrli-Johns, Einleitung: Fromme Frauen oder Ketzerinnen?, in: Fromme Frauen oder Ketzerinnen? Leben und Verfolgung der Beginen im Mittelalter, hrsg. Martina Wehrli-Johns und Claudia Opitz (Herder-Spektrum, 4692), Freiburg im Breisgau [u. a.] 1998, S. 11–24, hier: S. 15 als auch Voigt (wie Anm. 476), S. 44.

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1311/12 im 16. Kanon Cum de quibus mulieribus unter Androhung der Exkommunikation die beginale Lebensform.479 Der letzte Satz des Kanons schränkt das Verbot jedoch ein, indem gläubigen Frauen weiterhin erlaubt ist, mit oder ohne Enthaltsamkeitsgelübde als Bußschwestern beispielsweise in ihrer Behausung zu leben und Gott zu dienen.480 Dies bewirkte folglich kein sofortiges Verschwinden der Beginen aus den Städten des Mittelalters, auch wenn lokal starke Interessen an der Auflösung der Gemeinschaften bestanden, die zu entsprechenden Interventionen und Verfolgungen führten.481 Vielmehr entwickelte sich eine Teilung in Beginen, die unter Häresieverdacht gestellt wurden, und als ehrbar erachtete Beginen (und Begarden), die hingegen ab Mitte des 14. Jahrhunderts päpstlichen Schutz erfahren sollten.482 479 Auch den Religiösen, die die Beginen betreuten, drohte die Exkommunikation. Grund dafür war das Fehlen einer approbierten Regel, nach der sich die Beginen zusammenschlossen, sowie ihre unter Häresieverdacht stehende Glaubenslehre; siehe dazu 16. Kanon: Cum de quibus mulieribus/Dekret über die Beginen. Konzil von Vienne 1311–1312, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2 (wie Anm. 459), S. 374. 480 Sane per praedicta prohibere nequaquam intendimus quin, si fuerint fideles aliquae mulieres, quae promissa continentia vel etiam non promissa, honeste in suis conversantes hospitiis, poenitentiam agere voluerint et virtutum Domino in humilitatis spiritu deservire, hoc eisdem liceat, prout Dominus ipsis inspirabit/Freilich möchten wir durch das Gesagte keineswegs verbieten, daß gläubige Frauen, die mit oder ohne Gelübde der Enthaltsamkeit ehrenhaft in ihren Hospizen leben, zur Buße bereit sind und dem Herrn der Tugenden im Geist der Demut dienen wollen, dies erlaubterweise tun können, wie es der Herr ihnen gibt (aus dem 16. Kanon: Cum de quibus mulieribus/Dekret über die Beginen, Konzil von Vienne 1311–1312, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2 (wie Anm. 459), S. 374–375). 481 Von zahlreichen Beispielen lokaler Inquisitionen am Mittel- und Oberrhein ist sicherlich der Fall des Basler Beginenstreits am bekanntesten und exemplarisch für die entstandene Abwehrhaltung; siehe dazu Alexander Patschovsky, Beginen, Begarden und Terziaren im 14. und 15. Jahrhundert. Das Beispiel des Basler Beginenstreits (1400/04–1411), in: Fromme Frauen oder Ketzerinnen? (wie Anm. 478), S. 195–209. Eine neuere und auf den Straßburger Fall Bezug nehmende Darstellung bietet Martina Wehrli-Johns, Die Straßburger Beginenverfolgungen (1317–1319) und ihre Nachwirkungen im Basler Beginenstreit (1405– 1411): Neue Texte von Johannes Mulberg OP zum Basler Inquisitionsprozess, in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hrsg. Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer (MeisterEckhart-Jahrbuch, 2), Stuttgart 2008, S. 141–170. 482 Für das 14. Jahrhundert existieren zahlreiche Bullen der Päpste Clemens VI., Innocenz VI., Urban V. und Gregor XI., in denen Beginen unter Häresieverdacht gestellt werden, was durch die jeweils zuständigen Diözesanbischöfe unter Hinzuziehung dominikanischer Inquisitoren geklärt werden sollte. So setzte Clemens VI. im Jahr 1348 den Dominikaner Johannes Schadeland zum Inquisitor gegen häretische Strömungen in deutschen Gebieten, inquisitor heretice pravitatis per Allemanniam, ein. Gregor XI. beförderte 1374 in seiner Bulle Ex iniuncto nobis gleichzeitig die Inquisition und den Schutz der von ihm als ehrbar betrachteten Beginen und Begarden; des Weiteren erlaubte er Letzteren, neue Gemeinschaften zu gründen; […] sunt nunnullae personae pauperes utriusque sexus, quae humiliter et honeste in paupertate et castitate vivunt, ecclesias devote frequentant, Romanae ecclesiae eorunque praelatis et curatis reverenter obediunt, nullis erroribus se involvendo, sed intimae caritatis amore sibi invicem serviendo (Corpus documentorum inquisitionis haereti-

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Ebenso diffizil wie das Unterfangen, die rechtlichen Grundlagen des Beginenstatus zu umreißen, ist es, die Tätigkeiten der Beginen anhand von Repräsentantinnen wie Elisabeth von Thüringen charakterisieren zu wollen. Es muss daher mit Vorsicht angegangen werden. Dies beginnt bereits mit der Frage, ob Elisabeth von Thüringen als Repräsentantin der Beginen betrachtet werden darf. Von ihr gibt es keine überlieferte entsprechende Selbstbezeichnung. Gegenüber ihren Dienerinnen nannte sie sich lediglich soror[…] in seculo,483 eine Schwester in der Welt. Ein anderes Problem thematisiert Letha Böhringer am Beispiel des lange unhinterfragten Konnexes zwischen Beginen und Krankenpflege oder Hospitalwesen. Infolge kritischer Nachforschung konstatiert Böhringer, dass Krankenpflege, die lange als ›das‹ grundlegende Kennzeichen der beginalen Lebensweise gegolten habe, wegen unterschiedlicher regionaler und zeitlicher Ausprägungen als konstitutives Merkmal nicht durch ausreichende Quellen belegt werden könne. Vielmehr habe diese Verbindung dem Erwartungshorizont früherer Historiker/-innen entsprochen.484 Gerade diese Dekonstruktion des Charakteristikums des Beginenwesens scheint im Zusammenhang mit den vorliegenden Visionen bedeutsam zu sein. Auch das dargestellte Leben der Agnes Blannbekin weist keinerlei Aspekte tätiger Krankenpflege auf. Hingegen findet sich das fürsorgende Gebet als eine ihrer cae pravitatis Neerlandicae. Verzameling van stukken betreffende de pauselijke en bisschoppelijke inquisitie in de Nederlanden, 1: Tot aan de herinrichting der inquisitie onder Keizer Karel V (1025–1520), hrsg. Paul Fredericq (Werken van den practischen leergang van vaderlandsche geschiedenis, 1), Gent [u. a.] 1889, Nr. 220, S. 230). Die sich stetig verändernden Einstellungen zu Beginen und Begarden erläutert unter Anführung der Quellen Brigitte Hotz, Beginen und willige Arme im spätmittelalterlichen Hildesheim (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim, 17), Hildesheim 1988, S. 26–32. Eine ähnliche Schilderung liegt vor mit Alexander Patschovsky, Straßburger Beginenverfolgungen im 14. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 30 (1974), S. 56–125. Einen guten Überblick bietet außerdem die Darstellung von Hedwig Röckelein, Hamburger Beginen im Spätmittelalter – ›autonome‹ oder ›fremdbestimmte‹ Frauengemeinschaft?, in: Fromme Frauen oder Ketzerinnen? (wie Anm. 478), S. 119–138, hier: S. 122. 483 Die Dienerin Irmgard zitiert im Libellus die Worte Elisabeths von Thüringen, die das Leben der Schwestern in der Welt gewählt habe, weil dieses verachtet sei. Wenn es jedoch noch ein verachteteres Leben(smodel) gäbe, hätte Elisabeth dieses gewählt: Item IRMENGARDIS dixit, quod audivit a beata Elysabeth: ›Vita sororum in seculo despectissima est et, si esset vita despectior, illam elegissem. […]‹ (Der sog. Libellus de dictis quattuor ancillarum S. Elisabeth confectus. Mit Benutzung aller bekannten Handschriften zum 1. Male vollständig und mit kritischer Einführung hrsg. und eingeleitet von Albert Huyskens, Kempten [u. a.] 1911, 1873–1878, S. 69). 484 Siehe dazu Letha Böhringer, Beginen und Schwestern in der Sorge für Kranke, Sterbende oder Verstorbene. Eine Problemskizze, in: Organisierte Barmherzigkeit. Armenfürsorge und Hospitalwesen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, hrsg. Artur Dirmeier (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens, 1), Regensburg 2010, S. 127– 156.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Haupttätigkeiten. Ebenfalls ist die Verpflichtung des Beichtvater, cura monialium, deutlich festzustellen. Beides sind Elemente, die sich auch im Dasein anderer Beginen wiederfinden.485 Als ein weiteres wesentliches Merkmal kann der Entschluss zur Keuschheit während der Beginenzeit konstatiert werden. Mittels eines Keuschheitsgelübdes konnte die Jungfräulichkeit bekannt werden.486 Im untersuchten Text ist die Erwähnung des Wunsches, Begine zu werden, der einzige Beleg für einen diesbezüglichen Stand der Jungfrau Agnes. Obgleich die Äußerung, dass sie sich beeile, rasch Begine zu werden (Festinabat quoque eo citius fieri begina), für ein gewisses standardisiertes Verfahren spricht, da sie sich wohl bemühte, etwas zu durchlaufen, an dessen Ende sie in den Stand der Beginen aufgenommen werden sollte, finden sich im Text keine weiteren Hinweise auf ein solches Verfahren. Falls Agnes ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben sollte, ist dies nicht überliefert. Allerdings wird sie im Text häufig als Jungfrau (virgo) bezeichnet. Des Weiteren scheint ihr, wie bereits oben erläutert, eine gewisse Mobilität möglich gewesen zu sein. Ebenso entsprechen ihr Fasten, ihre Frömmigkeitsübungen und ihr Kommunionempfang keiner bekannten Regel, sondern wirken vielmehr selbstgewählt oder scheinen nach Rücksprache mit einer unbekannten Person oder gemäß einem bekannten Vorbild entschieden worden zu sein. Außerdem erweckt die Möglichkeit des häufigen Kommunionempfangs den Eindruck, aufgrund des Beginenstandes eine etablierte und für die Jungfrau bekannte Option gewesen zu sein, um ein frommes Leben zu führen. Agnes Blannbekin scheint Kenntnis von der Lebensweise der Beginen gehabt zu haben, denn im Kapitel 41 wird über die devotas beginas berichtet. Die Ereignisse dieses Kapitels sind auf das 16. Lebensjahr der Agnes Blannbekin datiert – eine Zeit, zu der sie (noch) nicht in Wien lebte – und betreffen eine schreckliche Vergewaltigung einer Jungfrau durch einen Priester: Als sie nämlich noch ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren war, ereignete sich dieses frommen Ohren Erschreckliche, daß, als ein gewisser Priester in der Nacht eine Jungfrau in der Stadt geschändet hatte, wo auch dieses Mädchen weilte, er am folgenden

485 Siehe dazu u. a. Amalie Fößel und Anette Hettinger, Klosterfrauen, Beginen, Ketzerinnen. Religiöse Lebensformen von Frauen im Mittelalter (Historisches Seminar. Neue Folge, 12), Idstein 2000. 486 Wie Lars-Arne Dannenberg nachweist, kann dabei zwischen zwei Formen von Gelübden unterschieden werden. Das votum simplex verpflichtete zur Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit, jedoch waren damit keine weitergehenden Auswirkungen, beispielsweise auf Vermögensverhältnisse, verbunden. Mit dem votum solemne hingegen erfolgte die Aufnahme in einen neuen Rechtsverbund (wie einen Orden), unter dessen Regeln man sich stellte; siehe dazu Lars-Arne Dannenberg, Das Recht der Religiosen in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter, 39), Berlin [u. a.] 2008, hier besonders: S. 154–170.

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Tag die Messe zelebrierte wegen eines Begräbnisses, das er hatte. Und da es Markttag war, waren außer den frommen Beginen wenige Menschen anwesend.487

An dieser Stelle soll nicht das moralische Vergehen des Priesters thematisiert werden – der, wie Agnes Blannbekin später berichtete, aufgrund seiner schweren Vergehen mit der Epilepsie, hier wörtlich: Fallsucht (morbo caduco), gestraft wurde488 –, sondern die Erwähnung von Beginen im Zentrum stehen. Es zeigt sich deutlich, dass Agnes Blannbekin nicht nur das Konzept der Beginenschaft als ideale Lebensweise, sondern auch Beginen in persona bekannt waren. Darüber hinaus charakterisiert sie diese sogar als devotas, also als fromm. Mehr als diese Eigenschaft ist über sie jedoch nicht bekannt, da ihre Anzahl und ihr Lebensort im Text ungewiss bleiben. Vielleicht haben die genannten Hinweise auf die beginale Lebensweise und die Erwähnung anderer Beginen Dinzelbacher und Vogeler veranlasst, ihre Edition unter dem Titel Leben und Offenbarung der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315) zu publizieren, denn externe Anhaltspunkte für das Beginentum im Untersuchungsgebiet und -zeitraum liegen nicht vor. Weitere Belege für die Existenz von Beginen in Wien, ja vielmehr in ganz Österreich, gibt es für die betreffende Zeit nicht. Als einzige Religiose außerhalb einer weiblichen Klostergemeinschaft ist für den österreichischen Raum – abgesehen von Agnes Blannbekin – die Reklusin Wilbirg aus St. Florian bekannt.489 Stoklaska erörtert in einem 1988 erschienenen Aufsatz die Frage nach möglichen Beginengemeinschaften in Wien.490 Obgleich die Quellen wenig Einblick geben, führt Stoklaska zwei Belege für die Kenntnis von bzw. das Vorhandensein der alternativen, religiösen Lebensform des Beginentums an. In einem 1242 verfassten Brief an den Erzbischof von Bordeaux berichtet der als Ketzer verdächtigte und aus Frankreich über Norditalien nach Wien geflohene Kleriker Ivo von Narbonne

487 Cum enim esset adhuc juvencula forsan sexdecim annorum, accidit hoc horrendum piis auribus, quod cum quidam sacerdos in nocte unam virginem deflorasset in villa, ubi et ista puella manebat, in die sequenti missam celebraret propter funus, quod habebat. Et cum esset dies fori, pauci homines aderant praeter devotas beginas (Vis. c. virg., Cap. 41, S. 126–127). 488 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 41, S. 128–129. 489 Auch ihre Vita wurde von dem Melker Benediktiner Bernhard Pez herausgegeben; siehe dazu Triumphus Castitatis Seu Acta, Et Mirabilis Vita Venerabilis Wilburgis Virginis, In Inclyta D. Floriani Ord. Can. Reg. S. Aug. Canonia Professae, ac quadraginta & uno annis Reclusae/Quadringentis abhinc annis ab Eynvvico, Virginis Confessario, & demum Florianensi Praeposito conscripta, Nunc primum […] Ex coaevo Bibliothecae Mellicensis codice eruta, dissertatione, notis, & observantionibus historico-criticis illustrata, & in lucem educta. A. R. P. Bernardo Pez, Exempti Monasterij Mellicensis Ord. S. Bened. Professo, SS. Theologiae Baccalaureo formato, & Bibliothecario, Augsburg 1715. Eine vergleichende Untersuchung der Lebensbeschreibungen der Wilbirg und der Agnes Blannbekin legt Walter Tschulik 1925 vor; siehe dazu Tschulik (wie Anm. 19). 490 Siehe dazu Stoklaska, Weibliche Religiosität (wie Anm. 30), S. 165–184.

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über eine Gemeinschaft von Religiosen in der Wiener Neustadt.491 Die von ihm erwähnte Gemeinschaft der novos religiosos qui Beguini vocantur wird – nach der Wahl durchgängig maskuliner Flexionsformen in der Formulierung zu urteilen – jedoch eine Gemeinschaft männlicher Begarden gewesen sein. Auch hinsichtlich dieser müsste geprüft werden, ob sie noch in anderen Zusammenhängen Erwähnung findet, sodass Aussagen über ihre Größe und Lebensweise getroffen werden können. Als weiteren Beleg für die Existenz einer weiblichen Begine bezieht sich Stoklaska auf einen Eintrag aus dem Wiener Schottenurbar von 1314: In der Neunluchen … Begine de area holtzhowerinne. xxiiij. dl.492 Das 1155 gegründete Schottenkloster ist das älteste Wiener Männerkloster der Benediktiner. Der Eintrag bleibt zunächst ungenau, folgt man jedoch der durch Pez überlieferten Sterbenotiz und der in den Visionen der Agnes Blannbekin angegebenen Datierungen, so ist der Eintrag aus dem Schottenurbar zeitlich kongruent und könnte Auskunft über die Existenz einer Begine geben. Die Benediktiner aus dem Schottenkloster in Wien finden in den Visionen der Agnes Blannbekin jedoch keinerlei Erwähnung. Ein anderer möglicher Lebensstand der Agnes Blannbekin ist diejenige als Mitglied eines Drittordens oder einer Laiengemeinschaft, insbesondere der einer Franziskanertertiarin. In den 1950er Jahren veröffentlicht der österreichische Literaturhistoriker Hans Rupprich einen Aufsatz über das Wiener Schrifttum im ausgehenden Mittelalter, worin er auch Agnes Blannbekin thematisiert.493 Rupprich behauptet: »Um 1275 wurde Agnes Franziskaner-Tertiarschwester in Wien und wohnte wahrscheinlich im Haus der Schwestern vom dritten Orden, das allerdings erst 1302 zum ersten Mal erwähnt wird«.494

Zum Beleg verweist Rupprich dann lediglich auf das genannte Drittordenshaus, das jedoch offiziell erst ab 1354 als Drittordenshaus der Minoriten diente.495 Vor 491 Als Nachweis führt Stoklaska hierzu das Zitat religiosi, qui beguini vocantur und die Belegstelle MG SS XXVIII, S. 230 an. Nach Überprüfung muss diese Angabe allerdings korrigiert werden: Sed ab eodem fratre postero mane solus relictus, Carinthiam pertransivi solivagus, ac deinde in quodam oppido Austrie quod Theutonice Neustadt dicitur, id est nova civitas, inter quosdam novos religiosos qui Beguini vocantur hospitabar (Ex Mathei Parisienisis Cronicis Maioribus, in: Ex rerum Anglicarum scriptoribus saec. XIII (MGH SS, 28), S. 107–389, hier: S. 231). 492 Gültenbuch des Schottenklosters in Wien vom Jahre MCCCXIV, hrsg. Franz Goldhann, Wien 1849, in: Quellen und Forschungen zur vaterländischen Geschichte, Literatur und Kunst (1849), S. 163–208, hier S. 172–172, ebenso genannt bei Stoklaska, Weibliche Religiosität (wie Anm. 30), S. 184. 493 Siehe dazu Rupprich (wie Anm. 23), S. 40–45. 494 Rupprich (wie Anm. 23), S. 40. 495 Dies führt Stoklaska ohne Beachtung der These Rupprichs aus; siehe dazu Stoklaska, Weibliche Religiosität (wie Anm. 30), S. 180–181.

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diesem Hintergrund ist allerdings unbedingt zu fragen, warum der vermutlich mehr als stolze Beichtvater die Zugehörigkeit seines Beichtkindes zu seinem Orden und das Vorhandensein einer Tertiarinnengemeinschaft in seinen Aufzeichnungen hätte verschweigen sollen. Vielmehr scheint es aufgrund der zahlreichen seelsorgerischen (päpstlichen) Privilegien den Mendikanten möglich gewesen zu sein, ein Beichtverhältnis mit Männern und Frauen zu pflegen, die nicht ihrer jeweiligen mendikantischen Gemeinschaft angehörten. Es bestand insofern keine Notwendigkeit, Laien-Mitglied in einer Drittordensgemeinschaft zu sein. Auch wenn heute nur wenig belastbare schriftliche Belege und lediglich Fremdbezeichnungen vorliegen, so spricht doch mehr für als gegen die Existenz einer Begine im Wien der fraglichen Zeit. Gleichwohl ist anzunehmen, dass für die Rezipienten der Visionen der Agnes Blannbekin weder die Bezeichnung noch der Titel Begine von hervorgehobener Bedeutung, sondern vielmehr ein geläufiger Ausdruck zur unspezifischen Bezeichnung eines gewissen Lebensstandes und Frömmigkeitsmodells keusch lebender Frauen gewesen sein dürfte, der kaum Aussagen über eine Standeszugehörigkeit vermittelte. Die Sterbenotiz in der Pez’schen Ausgabe könnte dies mit ihrer expliziten Bezugnahme auf den niederen Stand der Jungfrau spiegeln, auch wenn der dortige Hinweis auf das Beginentum eine gewisse institutionalisierende Sicht andeutet.

III.1.d ›imitatio sanctorum‹ oder ›role model‹? Die bisher gebotene Biografie der Agnes Blannbekin ähnelt, was frühe Frömmigkeit, Verzicht auf weltliche Freuden sowie Fastengewohnheiten angeht, denjenigen populärer weiblicher Heiliger. Deren ganzer Lebenslauf oder zumindest einzelne biografische Elemente daraus scheinen sich in der Lebensbeschreibung der Jungfrau zu spiegeln. Daher birgt die im Zwettler Handschriftenkatalog angestellte Überlegung hinsichtlich der Parallelen oder Kontakten zu Agnes von Böhmen (1211–1282)496 einen durchaus berechtigten Hinweis. Die wenigen gegenwärtig bekannten Quellen geben keine Auskunft über Kontakte; doch inhaltliche Parallelen zwischen den Lebensbeschreibungen der beiden Frauen sind deutlich sichtbar. An dieser Stelle ist es deshalb angebracht, die Vita der Agnes von Böhmen, die unter dem Titel Candor Lucis Eterne erschien, knapp vorzustellen. Als Tochter des böhmischen Königs Prˇemysl Ottokar I. und seiner ungarischen Frau Konstanze – der Schwester des Königs Andreas II. von Ungarn und Tante der späteren heiligen Elisabeth von Thüringen – wuchs Agnes zunächst am böhmischen 496 Die Überlegung Charlotte Zieglers wurde im Kapitel II.1.b dieser Abhandlung thematisiert.

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Königshof auf, lebte aber nach gescheiterten Eheplänen im Prager Klarissenkloster, das sie selbst gestiftet hatte.497 Mit Klara von Assisi (1193/4–1253) pflegte sie direkten Kontakt, wie vier Briefe der umbrischen Heiligen an die böhmische Königstochter aus der Zeit zwischen 1234 und 1253 dokumentieren.498 Die Lebensbeschreibung der Agnes von Böhmen repräsentiert in starkem Maße das franziskanische Frömmigkeitsideal, das Klara von Assisi mit ihrer Klostergemeinschaft in San Damiano für Frauen praktizierbar gemacht hatte. Direkte Parallelen zeigen sich beispielsweise darin, dass Agnes von Böhmen das gleiche aus Rosshaaren und Knoten geflochtene Büßerinnengewand trug wie Klara von Assisi und einen Bußgürtel aus ebendiesem Material benutzte.499 Ebenso finden sich in der Vita Agnes’ zahlreiche Analogien zur Lebensbeschreibung ihrer Cousine, Elisabeths von Thüringen (1207–1231). Neben der explizit erwähnten Nachahmung beim Bau eines allgemeinen Hospitals referiert auch der Bruch mit Konventionen bei etlichen für eine Königstochter nonkonformen Verhaltensweisen, wie dem Verrichten niedrigster Dienste, auf die Lebensbeschreibung Elisabeths.500 Zieglers Anregung, eine vergleichende Untersuchung zu Agnes von Böhmen vorzunehmen, eröffnet demnach einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Gleichwohl scheint es unabdingbar, die Viten Klaras von Assisi und Elisabeths von Thüringen, die beide Grundsätze franziskanischer Frömmigkeit auf unterschiedliche Weise lebten, zum einen in der Klostergemeinschaft und zum an-

497 Zur Biografie der Agnes von Böhmen sei verwiesen auf die umfangreiche Untersuchung von Christian-Frederik Felskau, Agnes von Böhmen und die Klosteranlage der Klarissen und Franziskaner in Prag. Leben und Institution, Legende und Verehrung, 1, Nordhausen 2008. 498 Diese vier Briefe liegen ediert und übersetzt vor in der Ausgabe: Leben und Schriften der heiligen Klara von Assisi, hrsg. Marianne Schlosser und Engelbert Grau, 8. Auflage (Edition T. Coelde), Kevelaer 2001, S. 184–221. 499 In der Vita der Agnes von Böhmen findet sich die Beschreibung im c. 6 über die schweren Kasteiungen ihres Fleisches: Sie trug ein Bußhemd, das aus Rosshaaren mit Knoten gemacht war und das sie überdies mit einem Strick aus ebensolchen Haaren fest um den Leib schnürte (›Candor lucis eterne – Glanz des ewigen Lichtes‹. Die Legende der heiligen Agnes von Böhmen. Übersetzt von Johannes Schneider (OFM) mit einer Einleitung von Christian-Frederik Felskau (Veröffentlichungen der Johannes-Duns-Skotus-Akademie für franziskanische Geistesgeschichte und Spiritualität, 25), Mönchengladbach 2007, S. 40). Im Falle Klaras von Assisi ist die Angabe zum Bußgewand den Kanonisationsprotokollen entnommen, in denen mehrere Zeuginnen von einem Bußgürtel aus Rossschwanzhaaren berichten, der vor allem den jungfräulichen Körper habe züchtigen sollen; siehe dazu Il processo di canonizzazione di S. Chiara d’Assisi, hrsg. Zeffirino Lazzeri, in: Archivum Franciscanum Historicum 13 (1920), S. 403–493 (im Folgenden »ProCan«), ProCan 2,5, S. 448 oder 3,4, S. 453. 500 Elisabeths von Thüringen selbstständiges Abspülen von Tellern und Schüsseln sowie ihre Bitte an ihre Dienerinnen, sie mit Du anzusprechen, war für die Dienerinnen Grund zur Irritation, weil Elisabeth damit standesübliche Konventionen bewusst brach; siehe dazu Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 1963–1970, S. 72 oder 1982–1987, S. 69.

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deren als soror[…] in seculo,501 für diese Studie vergleichend hinzuzuziehen. An ausgewählten Textstellen soll dies nun deutlich werden. Das Kapitel mit den meisten biografischen Informationen zu Agnes Blannbekin, Kapitel 39, ist in der Edition Pez’ mit De sanctitate vitae suae, scilicet hujus puellae, de qua iste libellus tractat502 betitelt, was von Dinzelbacher und Vogeler mit Über die Heiligkeit ihres Lebens, nämlich des Mädchens, von dem dieses Büchlein handelt503 ins Deutsche übertragen wurde. Die Grundlage für die Lebensbeschreibung Elisabeths von Thüringen bilden die Aussagen ihrer vier Dienerinnen, die in einem Büchlein namens Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus504 festgehalten wurden.505 In diesem Libellus beschreibt die Dienerin Guda, dass Elisabeth von Thüringen von Kindheit an nach Gott [strebte] und lenkte ihre Wünsche und Handlungen zu Gott hin, sowohl im Spiel als auch im Ernst.506 Guda nannte hierfür Situationen, in denen Elisabeth Gelegenheiten erhascht habe, um Kniebeugen machen zu können oder sich in die Nähe der Kapelle zu begeben. Diese Versuche habe sie meist im Geheimen oder beiläufig beim Spielen mit ihren Dienerinnen und anderen Mädchen unternommen und außerdem zumeist nach einer Runde oder einmaligem Gewinn das weitere Spielen unterlassen, um Gott zuliebe aufzuhören.507 Das gleiche Verhalten, also die Andacht dem Spiel vorzuziehen, findet sich in der vorliegenden Lebensgeschichte der Agnes Blannbekin geschildert. Auch Agnes’ Umgang mit Nahrung erinnert an Elisabeth von Thüringen, die oftmals, am gedeckten Tisch des thüringischen Fürstenhofs sitzend, dem servierten Essen entsagte, sofern es eine unrechtmäßige508 Herkunft aufwies, und 501 502 503 504 505

Wie oben zitiert, Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 1875. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 39. Vis. c. virg., Cap. 39, S. 123. Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483). Der Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus ist bezüglich seiner Quellengattung in eine »Grauzone zwischen Kanonisationsakten und Hagiographie« (Ingrid Würth, Die Aussagen der vier Dienerinnen im Kanonisationsprozess und ihre Überlieferung im sog. ›Libellus‹, in: Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, hrsg. Dieter Blume, Petersberg 2007, S. 187–192, hier: S. 187) einzuordnen, denn die darin wiedergegebenen Zeugenaussagen liegen nicht mehr in ursprünglicher Fassung vor, sondern in einer literarischen Bearbeitung. 506 Bericht der päpstlichen Kommission über die Aussagen der vier Dienerinnen Elisabeths, übersetzt von Sylvia Weigelt, in: Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts, hrsg. Sylvia Weigelt (Quellen zur Geschichte Thüringens, 30), Erfurt 2008, S. 41– 69, hier S. 42. Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 256–260, S. 10–11: ad adolescentia religioni studuit, votum suum et actiones in deum dirigens, tam in rebus ludicris quam etiam seriosis. 507 Siehe dazu Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 338–339, S. 13–14: Modo in optimo successu pro deo desistam. 508 Rechtmäßiger Herkunft war nach der Bewertung Elisabeths von Thüringen und ihres Beichtvaters Konrad von Marburg solche Nahrung, die von den Gütern des thüringischen

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dies tat, obwohl sie von großem Hunger gequält wurde. Gleichwohl ist die Lebensbeschreibung Elisabeths von Thüringen nicht die einzige, die sich mit der Erzählung über das Leben der Agnes Blannbekin überschneidet. Aus den Protokollen zur Kanonisation Klaras von Assisi kann ebenfalls Vergleichbares zur Lebensführung zitiert werden.509 Dort erzählt ein Zeuge, der über Klaras frühe Jugend aussagen soll: Obwohl ihr [= Klaras, J. S.] Wohngebäude eines der größten der Stadt war und in ihrem Haus viel Geld ausgegeben wurde, hob sie nichtsdestoweniger die Speisen auf, die ihr, wie es in einem reichen Haus üblich ist, zum Essen gereicht wurden, und versteckte sie, und später schickte sie diese den Armen.510

Obgleich Fasten, Demut, Bußleistungen sowie Körperumgang der Agnes Blannbekin um ein Vielfaches moderater waren, als es für Klara von Assisi oder Elisabeth von Thüringen beschrieben wird, und zugleich der fürsorgliche Umgang mit Kranken in Agnes’ Falle keine Erwähnung findet, könnten der Vergleich und das Aufzeigen von Parallelen, auch zu anderen weiblichen Heiligen, mit zahlreichen Beispielen, wie dem Nachtwachen oder der Gnade der Tränen, fortgesetzt werden. Es scheint, dass im 39. Kapitel der Visionen einer gewissen Jungfrau ganz bewusst eine Assoziation mit bekannten weiblichen Heiligenviten angestrebt wurde. Dinzelbacher deutet die dort aufgezeigte Parallele als ein Nachleben, als ›imitatio sanctorum‹. Gemäß Dinzelbacher könne durch das Vorlesen bzw. Hören von Heiligenviten bereits im frühkindlichen Alter ein Bewusstsein für Ideale eines geheiligten Lebens entstehen, die dann mit dem eigenen Handeln – durchaus schon im kindlichen Alter – in die soziale Lebenswelt übernommen würden.511 Dass bei Agnes Blannbekin eine Nachahmung von Heiligenleben vorliegt, ist unbestreitbar. Ob diese einer kindlichen Lebenswelt oder einer sozialen Realität entsprang oder vielmehr literarische Fiktion ist, ist retrospektiv auf der hier vorliegenden sehr dünnen Quellenbasis kaum zu klären. Zentraler ist die Frage: Was sollte mit der Aufzählung hagiografischer Topoi bzw. deutlichen Anlehnung an sie im vorliegenden Text erreicht werden? Die Hofes stammte, im Gegensatz zu den Speisen aus unrechtmäßiger Herkunft, die Beamte von Bauern eingetrieben hatten; siehe dazu Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 458–477, S. 18. 509 Die Protokolle der Heiligsprechung beginnen mit der am 18. Oktober 1253 von Papst Innozenz IV. verfassten Bulle Gloriosus Deus; siehe dazu Il processo di canonizzazione di S. Chiara d’Assisi (wie Anm. 499), S. 439–442. 510 Bene che la corte de casa sua fusse de le magiure de la cità, et in casa sua se facessero grande spese, nondimeno lei li cibi che li erano dati ad manginare come in casa grande, li reservava et reponeva, et poi li mandava a li poveri (ProCan 20,3, S. 492). 511 Diese These plausibilisiert Dinzelbacher 1985 bereits vor der Neuedition in einem Aufsatz; siehe dazu Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 158.

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überdeutliche Referenz zu repräsentativen weiblichen Hagiografien zertifiziert gleichsam die Tugendhaftigkeit der Agnes Blannbekin. Zwar gibt es keine Hinweise darauf, dass die Lebensbeschreibung und Visionen der Agnes Blannbekin als Grundlage für eine Kanonisation angefertigt wurden, aber es scheint sinnvoll oder sogar nötig gewesen zu sein, die Jungfrau deutlich genug als fromme, gar heilige Frau mit begnadetem Leben zu beschreiben, was in einer Zeit voller Verbote und kritischer Überwachung nichtklausurierter Lebensweisen für fromme Frauen essenziell war. Ob die Jungfrau einer Person entspricht, die tatsächlich existiert hat, oder literarische Fiktion eines Schreibers ist, lässt sich wegen fehlender Belege jenseits des Textes schwer beantworten. Gleichzeitig ist diese Frage jedoch zweitrangig, denn in der Realität der Rezeption ist sie eine Jungfrau, später benannt mit dem Namen Agnes Blannbekin, die dem Leser oder der Leserin als fromme Frau mit positiven Bezügen zum Beginentum entgegentritt.

III.2 Beichtvater und Aufzeichner: Versuch einer Charakteristik Da Agnes Blannbekin nur durch die Hand ihres Beichtvaters Gestalt gewinnt, der ihre Visionen und Lebensgeschichte niederschrieb, ist es essenziell, sich mit der Person dieses Beichtvaters eingehend zu beschäftigen. Ein Kernelement dabei bildet seine Darstellung der ersten franziskanischen Brüder in Wien und der Etablierung der (Franziskaner-)Minoriten im geistlich-sozialen Gefüge der Stadt Wien.

III.2.a ego pauperculus et indignus: Annäherung an den Schreiber Die erste, in der Ich-Form angeführte Aussage im Werk ist eine Selbstbeschreibung, die sich im Prolog findet. Nahezu alle Texte heute noch vorhandener Abschriften beginnen mit folgendem Bekenntnis:512

512 In der Basler Handschrift ist domine mit pater vertauscht, sodass es dort heißt: Confiteor tibi domine pater (Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6 (Ba), fol. 154v). In der Zwettler Handschrift beginnt der Prolog zwar mit Contiteor tibi pater domini, lässt dann jedoch das coeli et terrae aus und fügt ohne Leerraum quia abscondisti an (Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384 (Zw), fol. 29r).

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor den Weisen und Klugen verborgen hast und es den Kleinen offenbartest, ja Vater, denn so freilich war es wohlgefällig vor dir.513

Wie gleich zu erkennen ist, hebt dieser Prolog mit einem Bibelzitat aus dem Matthäusevangelium an. Dort heißt es: In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen (Mt 11,25–26).

Obgleich die Ich-Form verwendet wird, handelt es sich weniger um eine direkte Selbstaussage des Schreibers als vielmehr um die Wiedergabe von Worten Christi aus den Matthäusversen: Christus dankt Gott für die Offenbarung, die jener nicht den Weisen und Klugen, sondern den scheinbar Unmündigen zuteil werden ließ. Diese direkte Referenz auf Christus als Einstieg in die Niederschrift der Lebensgeschichte und Visionen zu übernehmen, ist eine bewusste Schriftanlehnung um Autorität zu begründen. Doch stellt sich sogleich die Frage, ob sich der Schreiber damit selbst als Unmündigen bezeichnet oder nicht vielmehr die Visionärin damit gemeint ist. Ein weiterer Satz im Prolog knüpft an die Idee der Auserwähltheit an, wenn es heißt: Denn du geruhst, deinen Kleinen und Demütigen Geheimnisse zu offenbaren (Nam tu parvulis et humilibus tuis arcana revelare dignaris),514 wobei der Plural sich vielleicht auf beide, den Schreiber und die Visionärin, bezieht. In diesem Satz geht es nicht um Tugendhaftes, sondern um Begnadung. Dass der Schreiber selbst meint, begnadet zu sein – ob er dies auch für die Visionärin annimmt, gilt es noch zu prüfen –, zeigt seine identifizierende Charakteristik im Prolog der Lilienfelder, Zwettler, Magdeburger sowie der drei Mainzer Abschriften: So, deiner verehrungswürdigen, anbetenswerten und liebenswürdigen Majestät, Wahrheit und Güte Dank darbringend, oh, selige Dreifaltigkeit, will ich ganz geringer und unwürdiger Bruder aus dem Orden der Minderbrüder zu deinem Lob, Ruhm und Ehre und zur Erbauung des Glaubens und zur Speisung der Andacht und als Anreiz zur Liebe zu Gott das, was ich von heiligen und glaubwürdigen Personen, denen du, Herr, dich geoffenbart hast, erfahren habe oder erfahren werde, aufschreiben, wobei ich dich, Vater des Lichtes, anrufe, von dem jede Gabe das Beste und jedes Geschenk vollkommen ist, daß du mir die hilfreiche Wahrheit deines Reiches schenken wolltest, daß sie mit mir sei, mit

513 Confiteor tibi pater, domine coeli et terrae, quia abscondisti haec a sapientibus et prudentibus et revelasti ea parvulis, ita pater, quoniam sic fuit placitum ante te (Vis. c. virg., Prolog, S. 66–67). 514 Vis. c. virg. Prolog, S. 66–67.

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mir arbeite, mit mir schreibe, was von Bestand ist vor dir, und die Grenzen der Wahrheit nicht überschreite. Amen.515

Neben dem tugendhaften Bekenntnis zur Wahrheit und zur Stärkung des Glaubens wird ausdrücklich auf die Gnade der seligen Trinität (o beata trinitas) verwiesen. Nachdem diese Gnade zur Erbauung und zur Anstachelung der göttlichen Liebe dient, die der Schreiber der Handschrift ausdrücklich auf sich selbst bezog, ego pauperculus et indignus, scheint er sich selbst in die Tradition der von ihm beschriebenen Visionärin mit ihren Visionen zu stellen. Mit der Verwendung des Diminutivs zum Adjektiv pauper, das bereits in seiner Grundform eine Schmälerung ausdrückt, charakterisiert der Aufzeichner sich in seiner ersten Selbstbeschreibung ganz bewusst verstärkt erniedrigt als ganz geringer und unwürdiger Bruder. Nun lässt sich fragen, gegenüber wem das Diminutiv ihn absetzt. Bevor der Bezug deutlich wird, folgt jedoch zunächst eine Personenbeschreibung, in der der Schreiber sich als frater ordinis fratrum minorum zu erkennen gibt. Die Angabe dieser Ordenszugehörigkeit zu den Minderbrüdern und die mendikantische Betitelung mit frater fehlt in der zeitlich etwas später entstandenen Basler Abschrift, in der sich der Schreiber nur als sehr gering und unwürdig bezeichnet: ego pauperculus et indignus ea, quae a sanctis et fide dignis personis […] didici vel didicero, conscribere cupio.516 Auch in der durch Pez überlieferten Neresheimer Abschrift, die er in das 14. Jahrhundert datiert, findet sich diese Selbstbeschreibung ohne einen Hinweis auf die Zugehörigkeit zu den Minderbrüdern. Lediglich mit den Worten ego pauperculus et indignus …* ea, quae […] didici vel didicero, conscribere cupio517 stellt sich der Schreiber darin vor. Allerdings ist die bei Pez zu findende Leerstelle …* mit der Randbemerkung »* Hæc penitus e codice rasa sunt«518 versehen, die erläutert, dass die Stelle vollständig ausradiert worden sei. Leider verrät Pez in dieser Randbemerkung nicht, ob er die Rasur als zeitgenössisch oder nachträglich – und damit vorsätzlich – einstuft. Da er an anderen Stellen durchaus vermerkt, wenn eine andere oder spätere Hand Anmerkungen hinzufügte oder Veränderungen vornahm, liegen die Vermutungen nahe, dass Pez die Veränderung entweder für eine des Schreibers hält oder sie zeitlich nicht einordnen kann. Gleichwohl ver515 Igitur venerandae, adorandae et amandae majestati, veritati et bonitati tuae gratias referens, o beata trinitas, ad laudem tuam, gloriam et honorem et ad aedificationem fidei et ad nutrimentum devotionis et ad divini amoris incitamentum, ego pauperculus et indignus frater ordinis fratrum minorum ea, quae a sanctis et fide dignis personis, te, domine, eis revelante, didici vel didicero, conscribere cupio, te patrem luminum invocans, a quo omne datum optimum, et omne donum perfectum est, ut mihi dare velis sedium tuarum assistricem sapientiam, ut mecum sit, mecum laboret, mecum scribat, ut scribam, quod acceptum sit coram te, et veritatis limites non excedam. Amen (Vis. c. virg., Prolog, S. 66–67). 516 Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v. 517 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 2. 518 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 2.

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weist seine Kennzeichnung mit Punkten in der Edition darauf, dass ihm eine Auslassung im Text vorgelegen haben muss. Entscheidend für die Selbsteinschätzung des Schreibers ist auch, dass er sich nicht nur als gänzlich Geringer und Unwürdiger mit Blick auf seine Zugehörigkeit zu den Minoriten beschreibt, sondern das genannte Diminutiv, das er dabei verwendet, ihn auch von zwei weiteren Personengruppen absetzt, nämlich erstens den Heiligen (sanctis) und zweitens glaubwürdigen bzw. aufgrund ihres Glaubens für würdig erachteten Personen (fide dignis personis). Dieser Bezug ist auch in keiner Handschrift weggelassen worden. Die erstere Personengruppe umfasst kirchliche Autoritäten. Die zweite ist jedoch auffällig, weil mit ihrer Benennung sehr wahrscheinlich Visionäre/-innen bezeichnet sind, zu denen der Schreiber offenkundig auch die Protagonistin seines Berichtes zählt, die er aufgrund ihrer Glaubensvisionen für würdig befindet, der er sich nachordnet und von deren visionärer Glaubensbegnadung er seine eigene abhängig macht. Beachtet man die in den Prologen anderer Handschriften vorhandene Erwähnung einer Ordenszugehörigkeit des Schreibers, so ist es in einem nächsten Schritt nötig, sich mit der Geschichte der Minoriten in Wien, insbesondere ihrer dortigen Niederlassung und Etablierung, zu beschäftigen.

III.2.b Ankunft und Etablierung der Minoriten in Wien im 13. und 14. Jahrhundert Bis in die Gegenwart hinein verweist die Gemeinschaft der Franziskaner-Minoriten hinsichtlich der Ankunft der ersten Minderbrüder in Wien auf das Jahr 1224.519 Als Nachweis hierfür kann lediglich die 1767 verfasste Provinzchronik des Minoritenbruders Barnabas Strasser angeführt werden.520 In dieser stellt er 519 Als aktuellster dieser Verweise sei hier der auf den Internetseiten der Franziskaner-Minoriten der Provinzkustodie Österreich-Schweiz genannt. Bei der Vorstellung der Wiener Brüder heißt es dort: »Noch zu Lebzeiten des heiligen Franziskus wurden die Minoriten im Jahre 1224 von Markgraf Leopold VI. dem Glorreichen nach Wien berufen, wo sie 1247 Kloster und Kirche zum heiligen Kreuz gründeten. Es ist die Minoritenkirche in der Nähe der Wiener Hofburg auf dem Minoritenplatz« (https://www.cordeliers.ch/kloster/osterreich /wien/ (zuletzt aufgerufen am 21. 09. 2020)). 520 Bei der von Strasser vorgelegten Chronik handelt es sich um zwei ungedruckte Handschriften, die bis heute im Archiv des Minoritenkonvents verwahrt werden – die erste: Breve Manuale Chronicon Provinciae Austriae Fratrum Minorum. Ab eiusdem origine de anno 1224 usque ad annum 1732 ex antiquis mss. et probatis auctoribus […] collectum. Anno domini 1764 (Wien, Archiv des Minoritenkonvents, Abt. Handschriften II/7); die zweite, aus dem Jahr 1767: Opera quinque. 1. Brevis chronicon antiquae provinciae Austriae ord. min.; 2. Diplomatarium sacrum eiusdem provinciae; 3. Series ministrorum provincialium guardianorum Viennensium generalis studii regentium; 4. Vita accademica seu series professarum; 5. Inscriptiones et epitaphia in ecclesia, capellis et ambitu ad S. Crucem Viennae

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dar, dass der babenbergische Herzog521 Leopold VI. (1176–1230) im Jahr 1224 auf seinem Rückweg vom Damietter Kreuzzug522 zur Rückeroberung Jerusalems durch Italien reiste und dabei bei Franz im umbrischen Assisi Station gemacht habe, um diesen um die Aussendung seiner Brüder in die babenbergischen Gebiete zu bitten.523 Schon 1882 erhebt der Landeshistoriker und Benediktinermönch Gottfried E. Frieß »schwerste […] Bedenken«524 gegen die von Strasser vorgelegte Erzählung. Die Überlegungen Frieß’ beruhen vor allem auf Untersuchungen im Archiv des Minoritenklosters zu Wien, dessen wichtigste Urkunden er im Anhang seiner »Geschichte der österreichischen Minoritenprovinz«525 veröffentlicht. Bei der Einschätzung einer möglichen Minoritenanwerbung im Jahre 1224 gibt Frieß zu bedenken, dass Herzog Leopold VI. bereits ab 1219 wieder von Wien aus Urkunden habe erstellen lassen und die zweite Missionsreise der Minoriten bereits nach dem ersten Mattenkapitel an Pfingsten 1221 begonnen habe, weshalb das Jahr 1224 zu spät für das erste Ankommen der Brüder in Wien und zu früh für ihre feste Ansiedlung sei.526 Eine weitere Möglichkeit, in einer zeitgenössischen Quelle nachzuvollziehen, wann die ersten Brüder des Franz Österreich erreichten, bietet die Chronik des Jordan von Giano (Jordanus de Yano), der darin Einblick in die Anfänge der

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(Wien, Archiv des Minoritenkonvents, Abt. Handschriften II/83). Als Grundlage seiner Arbeit verwendete Strasser sowohl Urkunden, die er im Hausarchiv vorfand, als auch eine ältere, ungedruckte Chronik des Paters Andreas Schwellengriebel (Descriptio totius provinciae Austriae); siehe dazu Werner Maleczek, Zu den ersten Jahren des Wiener Minoritenklosters, in: ›Una strana gioia di vivere‹ a Grado Giovanni Merlo, hrsg. Marina Benedetti und Maria Luisa Betri, Mailand 2010, S. 283–296, hier: S. 285. Die Babenberger waren ein Herrschergeschlecht fränkisch-bayrischer Herkunft, das von 976 bis 1246 regierte, als es in männlicher Linie ausstarb. Ihr Herzogtum umfasste zur Zeit seiner größten Ausdehnung das Gebiet der Donau zwischen Linz und Wien und grenzte an Böhmen, Bayern, Ungarn, das Herzogtum Steiermark und das Erzbistum Salzburg. Eine Einführung in die Geschichte der Babenberger-Dynastie bietet Georg Scheibelreiter, Die Babenberger. Reichsfürsten und Landesherren, Wien 2010. Der betreffende Kreuzzug fand von 1217 bis 1221 statt, wobei sich das Geschehen ab April 1218, vor allem auf die Belagerung der ägyptischen Hafenstadt Damiette konzentrierte; siehe dazu Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, 10. Auflage (Kohlhammer-UrbanTaschenbücher, 86), Stuttgart 2005, S. 252–267. Eintrag aus der Provinzchronik (1767) zum Jahr 1224: Leopoldus dux Austriae expeditione facta in Palaestina rediens per Italiam petiit a sancto patre nostro Francisco quosdam patres eiusdem socios et obtinuit secumque Viennam adduxit assignans illis locum in suburbio pro habitatione. Ex his adductis patribus erat quidem Joannes de Plano, Albertus Pisanus, Martinus de Mediolano et Jacobus de Tarvisio (Strasser, Opera quinque. 1. Brevis Chronicon antiquae Provinciae Austriae Ord. Min., S. 3, zitiert nach Frieß (wie Anm. 282), S. 82, Fußnote 1). Frieß (wie Anm. 282), S. 82. Frieß (wie Anm. 282). Die von Frieß vorgebrachten Bedenken finden sich gleich zu Beginn seiner Darstellung über die Geschichte der österreichischen Minoritenprovinz; siehe dazu Frieß (wie Anm. 282), S. 82–83.

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franziskanischen Bewegung, die Missionsreisen und den Aufbau der verschiedenen franziskanischen Provinzen gewährt. Der um das Jahr 1195 geborene Jordan aus dem Spoleto-Tal in Umbrien war ein Weggefährte Franz’ und schrieb auf Drängen seiner Mitbrüder um das Jahr 1260 seine Kenntnisse und Erlebnisse der Jahre 1207 bis etwa 1262 nieder.527 Mit Recht weisen Editoren der Chronik Jordans darauf hin, dass dessen Werk »ganz die Züge der Alterserzählung«528 trage; gleichwohl ist es ein einzigartiges Dokument. So erzählt Jordan aus der Retrospektive und mit zahlreichen Anekdoten, wie er selbst von Franz in die Gemeinschaft der Brüder aufgenommen und – eigentlich gegen seinen Wunsch – nach dem Mattenkapitel an Pfingsten 1221 zur zweiten Mission nach Deutschland geschickt worden sei (c. 17). Er berichtete auch von den Sprachschwierigkeiten, die die ersten Missionsbemühungen der Brüder in Deutschland und in anderen Ländern wie Frankreich scheitern ließen (c. 5). Obwohl Jordan nicht selbst an der ersten Mission beteiligt war, scheint sich dieses Scheitern der ersten Brüder fest in das kollektive Gedächtnis der Gemeinschaft und damit auch in seines eingeprägt zu haben. Jordans Erzählung zu den Vorgängen nach seiner Ankunft in Deutschland konzentriert sich stark auf den Aufbau der sächsischen Ordensprovinz, bei deren Etablierung er selbst eine zentrale Rolle einnahm. Bevor Jordan seine Ausführungen auf die sächsische Provinz ausrichtet, schildert er im 22. Kapitel die Ankunft der ersten Minderbrüder in Augsburg im Jahr 1221. Nachdem sie dort gemeinsam das Gallusfest im Oktober 1221 gefeiert hatten, sandte Caesarius von Speyer, der wegen seiner Kenntnis der deutschen Sprache zum ersten Minister der deutschen Provinz ernannt worden war, die mit ihm gekommenen Brüder in unterschiedliche Richtungen und Städte aus. Außer nach Regensburg wurden auch Brüder nach Salzburg gesandt: [23.] Im Jahre des Herrn 1221, etwa um das Fest des hl. Gallus, berief Bruder Cäsar, der erste Minister der Teutonia, seine Brüder – 31 an der Zahl – zusammen zum Kapitel in

527 Ein kurzer biografischer Abriss zum Autor der Chronica Fratris Jordani findet sich einleitend zu der 2012 erschienenen Neuausgabe und Übersetzung Jordan von Giano, Chronik vom Anfang der Minderbrüder besonders in Deutschland (Chronica Fratris Jordani), eingeführt, nach den bisher bekannten Handschriften kritisch ediert sowie mit einem Anhang ihrer Weiterführungen ins Deutsche übertragen und hrsg. Johannes Schlageter (Quellen zur franziskanischen Geschichte, 1), Norderstedt 2012, S. 18–26. 528 So Lothar Hardick, Einführung, in: Nach Deutschland und England. Die Chroniken der Minderbrüder Jordan von Giano und Thomas von Eccleston, hrsg. Lothar Hardick, übersetzt von Kietus Kohorst und Philipp Seidensticker (Franziskanische Quellenschriften, 6), Werl in Westfalen 1957, S. 17–35, hier: S. 24. Ebenso beurteilt auch Dieter Berg das Werk in seiner 2009 erschienenen Übersetzung, wenn er schreibt, dass »die Chronik deutliche Züge eines Alterswerkes« trage (Jordan von Giano, Chronik, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Dieter Berg, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 955–1011, hier: S. 960).

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Augsburg, dem ersten nach dem Betreten Deutschlands. Von dort schickte er die Brüder in die verschiedenen Provinzen Deutschlands. […] [24.] Vom selben Kapitel aus schickte Bruder Cäsar den Bruder Jordan von Giano mit den zwei Gefährten Abraham und Konstantin nach Salzburg. Der dortige Ortsbischof nahm sie freundlich auf. Drei andere Brüder schickte er mit Bruder Josef nach Regensburg. Bruder Cäsar aber folgte den Spuren der vorausgegangenen Brüder und bestärkte sie mit Wort und Beispiel im Guten.529

Salzburg ist der einzige Ort im Gebiet des heutigen Österreichs, den Jordan als Ziel der Missionsreise von 1221 anführt. Von diesem Datum ausgehend, kann man also zunächst nur vorsichtig deduzieren, dass sich in den folgenden Wochen, Monaten oder gar Jahren Brüder auch auf den Weg nach Wien machten. Das Jahr 1224 lässt sich für die Anfänge der Minoriten in Wien demnach durch die Chronik des Jordan von Giano ebenfalls weder verifizieren noch falsifizieren. Die erste urkundliche Erwähnung der Minoriten in Wien stammt aus dem Jahr 1234, in dem Papst Gregor IX. den babenbergischen Herzog Friedrich II., genannt ›der Streitbare‹, Sohn Leopolds VI., aufforderte, für den verstärkten Schutz der Prediger- und Minoritenbrüder einzutreten, die des Bruchs des Beichtgeheimnisses beschuldigt worden waren.530 Ein Jahr später bestätigen Urkunden, dass Papst Gregor IX. den Wiener Provinzial beauftragte, geeignete Brüder auszuwählen, die den Kreuzzug predigen sollten, und diese daraufhin mit geistlichen Vollmachten ausgestattet wurden.531 Da die Minderbrüder 1234 bereits als fester Bestandteil der sozialen Gemeinschaft in der Stadt Wien Erwähnung finden, scheint ihre Ansiedlung und Etablierung deutlich vor 1234 stattgefunden zu haben. Aufgrund der heute dürftigen Quellenlage gestaltet es sich mühsam, die genaue Ankunft der ersten Minoritenbrüder in Wien auf ein bestimmtes Jahr festzulegen. Ferner mangelt es an Quellen zur Ausbreitung der franziskanischen Ordensfamilie im Gebiet des heutigen Österreichs. Neue wissenschaftliche Abhandlungen, die die Etablierung der Minoriten in Österreich untersuchen, sind 529 [23.] Anno domini 1221 circa festum sancti Galli frater Cesarius minister Theutonie primus convocatis fratribus suis numero 31us in Augusta factoque ingressu Theutonie capitulo primo misit inde fratres ad diversas provincias Theutonie. […] [24.] Et de eodem capitulo frater Cesarius misit fratrem Jordanem de Jane cum duobus sociis, Abraham et Constantino in Saltzburch. Qui ab eiusdem loci episcopo benigne recepti sunt. Et alios tres fratres cum fratre Joseph misit ad Ratisponam. Frater vero Cesarius precedentium vestigia subsecutus fratres verbo et exemplo in bono confirmabat (Jordan von Giano, Chronik vom Anfang der Minderbrüder besonders in Deutschland (wie Anm. 527), S. 76 und 78 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 77 und 79). 530 Die bei den Minoriten in Wien verwahrte Urkunde findet sich im Anhang von Frieß’ Geschichte der Minoriten wiedergegeben; siehe dazu Frieß (wie Anm. 282), Anhang I, S. 175– 176. 531 Siehe dazu Frieß (wie Anm. 282), Anhang II und III, S. 176–178.

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gegenwärtig nur spärlich vorhanden. 2003 erörtert Herta Hageneder die Etablierung der Minoriten im mittelalterlichen Österreich,532 2010 widmet Werner Maleczek einen Aufsatz »den ersten Jahren des Wiener Minoritenklosers«533 und 2015 legt Manfred Zips den Aufsatz »Das frühe Wirken der Minoriten in Österreich. Vom Wanderapostolat zur Stadtmission«534 vor. Alle drei Autoren/-innen müssen bei ihren Ausführungen zumeist auf Darstellungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert oder auf ungedruckte Dissertationen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Ähnlich wie Hageneder, Maleczek und Zips tendierte zuvor auch schon Frieß in seiner Darstellung vom Ende des 19. Jahrhunderts dazu, die Zeit um 1230 als Zeitraum für die Wiener Etablierung der Minoritenbrüder anzunehmen.535 Ein Grund hierfür ist sicherlich die Teilung der deutschen Ordensprovinz in eine rheinische und eine sächsische,536 die neben Saxonia auch Dacia, Bohemia, Hungaria und eben Austria umfasste.537 Erst ab dem Jahr 1235 ist jedoch ein zuständiger Minister für die Provinz Austria bekannt.538 Schließlich kann also nicht ausgeschlossen werden, dass die Minderbrüder bereits 1221 in Wien Station machten, und sie scheinen sich bald darauf 532 Siehe dazu Herta Hageneder, Die Minoriten im mittelalterlichen Österreich, in: Festschrift: 50 Jahre Musealverein Wels. 1953–2003, Wels 2004, S. 39–46. 533 Maleczek (wie Anm. 520). 534 Der Germanist Zips ist zugleich Vizepräfekt und Archivar der Italienischen Kongregation Maria im Schnee (Wien), der Nachfolgeorganisation der ersten Minoritenkirche Wiens; zu Zips oben genannter Veröffentlichung siehe Manfred Zips, Das frühe Wirken der Minoriten in Österreich. Vom Wanderapostolat zur Stadtmission, in: Historische Räume. Erzählte Räume. Gestaltete Räume. Festschrift für Leopold Hellmuth zum 65. Geburtstag, hrsg. Georg Hofer, Robert Schöller und Gabriel Viehhauser, Wien 2015, S. 167–187. 535 Siehe dazu Frieß (wie Anm. 282), S. 86: »Da also die Erzählung über die Gründung der österreichischen Minoritenprovinz dem weiten Reiche der Dichtung angehört, so lässt sich auch die Zeit, wann die ersten Barfüsser in den Landen der Babenberger sich bleibend niederliessen, nicht näher mehr angeben, doch dürfte die Annahme, dass dies um das Jahr 1230, nicht aller Wahrscheinlichkeit entbehren.« 536 Über die Teilung der großen Teutonia-Provinz berichtet Jordan von Giano im 57. Kapitel seiner Chronik. Die Provinz Austria wird jedoch erst im Kapitel 78 erwähnt. 537 Eine andere Möglichkeit zur Nachprüfung bietet das später als Jordans Chronik entstandene Provinciale ordinis fratrum minorum, das Paulinus Venetus, dem Bischof von Pozzuoli, zugeschrieben wird. Das auf ca. 1334 datierte Provinciale stellt das älteste bekannte Gesamtverzeichnis franziskanischer Provinzen, Kustodien und Konvente dar. Es ist nicht nach Diözesen, sondern nach den Provinzen des Franziskanerordens gegliedert, deren Zahl Papst Nikolaus IV. im Jahr 1288 auf 34 festgelegt hatte. In der Edition des Provinciale von Konrad Eubel (1892) findet sich unter XI. Austria, das wiederum in sechs Kustodien, u. a. Wien, aufgeteilt ist. Leider fehlt auch hier ein Datum; siehe dazu Provinciale Ordinis Fratrum Minorum vetustissimum secundum Codicem Vaticanum nr. 1960, hrsg. Konrad Eubel, Quaracchi 1892, S. 30–31. 538 In der von Papst Gregor IX. am 20. Juli 1235 in Perugia ausgestellten Vollmacht für die Kreuzzugspredigt durch Minderbrüder heißt es: Gregorius episcopus, servus servorum dei, dilecto filio […] ministro provinciali fratrum Minorum in Austria (Frieß (wie Anm. 282), Anhang II, S. 176).

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dauerhaft dort niedergelassen zu haben, wenn sie bereits im Jahr 1234 als fest etabliert erscheinen. Gleichwohl bleibt die Frage, weshalb es für die Minoriten bis heute so bedeutend ist, innerhalb ihrer Erinnerungskultur 1224 als Ankunftsjahr und Gründungsdatum für ihre Bewegung in Wien festzulegen. Eine mögliche Erklärung findet sich in der 2012 erschienenen Dissertation des Dresdner Historikers Achim Wesjohann, der die Konstruktion institutioneller Eigengeschichte am Beispiel dreier Bettelorden, der Dominikaner, der Franziskaner und der Augustiner-Emeriten untersucht.539 Wesjohann kann aufzeigen, dass die Gründungsgeschichten der einzelnen Orden stark an die Geschichte ihrer Gründergestalten rückgekoppelt wurden. Konstruiertes Erzählen von institutioneller Eigengeschichte kennzeichnet Wesjohann unter Rückgriff auf Überlegungen Jan Assmanns als das Herstellen einer »normativen Vergangenheit«.540 Mit einer komponierten Eigengeschichte sollte sowohl die Legitimation nach innen hin gestärkt werden als auch die Orientierung und Vermittlung von Normen und Werten nach außen erfolgen.541 Überträgt man Wesjohanns Überlegungen auf den Fall der Wiener Minoriten und bringt ihn in Zusammenhang mit der Gründerfigur des Franz von Assisi, fällt das Jahr 1224 als zentrales Datum in dessen Biografie auf. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1226 zog sich Franz nach La Verna in die Einsiedelei zurück, wo ihm in einer Vision ein Mann in der Gestalt eines gekreuzten, sechsflügligen Seraphs erschien. Nach dieser Begegnung von 1224 war Franz mit den fünf Wundmalen Christi gezeichnet.542 Die Rückkopplung des Beginns der Wiener Minoritengemeinschaft an die Stigmatisierung Franz’ wird Jahrzehnte später noch mit dem Patrozinium des ›heiligen Kreuzes‹ für die erste minoritische Kirche Wiens untermauert. 1995 zeichnet Maria Parucki unter kunst- und baugeschichtlichen Aspekten die Geschichte der Wiener Minoritenkirche nach.543 Dabei vermutet Parucki, dass die erste Kirche der Minoriten in Wien – wie in anderen Städten auch – außerhalb 539 Die von Gert Melville betreute Dissertation Wesjohanns entstand in der Projektgruppe »Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter« des Dresdner Sonderforschungsbereichs »Institutionalität und Geschichtlichkeit«; siehe dazu Achim Wesjohann, Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter, 49), Berlin 2012. 540 Wesjohann (wie Anm. 539), S. 4. 541 Siehe dazu Wesjohann (wie Anm. 539), S. 3–5. 542 Diese Erzählung findet sich unter anderem in der Ersten Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus von Thomas von Celano, c. 3,94 und 95; siehe dazu Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des hl. Franziskus, überarbeitet und kommentiert von Johannes Baptist Freyer, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 195–288, hier: S. 256–257. 543 Siehe dazu Maria Parucki, Die Wiener Minoritenkirche, Wien [u. a] 1995.

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der Stadtmauern gelegen habe.544 Unklar bleibt auch das Jahr, in dem der Bau der ersten Minoritenkirche begann; er könnte sowohl ab 1224 als auch um 1247 aufgenommen worden sein. Trotz Uneinigkeit hierüber scheint 1251 als Jahr der Weihe der ersten Minoritenkirche mit dem Patrozinium des ›heiligen Kreuzes‹ gesichert zu sein.545 In den folgenden Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts suchten Wien häufig Feuersbrünste heim. Nach den Brandschäden des Jahres 1276 wurde das Minoritenkloster mit finanzieller Hilfe von König Ottokar II. Prˇemysl neu und an anderer Stelle, dem heutigen Minoritenplatz, errichtet. Der Abschluss dieser Bautätigkeit lag im Jahr 1298, einem Jahr, in dem sich auch Visionen und Geschehen aus der hier betrachteten Erzählung zutrugen.546 Neben der heute noch sichtbaren materiellen Einrichtung der Minoriten im Stadtbild Wiens geben zahlreiche Quellen wie Nekrologe, Testamente und Beichtverhältnisse Auskunft über die Etablierung der Minoritenbrüder als Anbieter des fürbittenden Gebets und seelsorgerischer Tätigkeiten.547 Zum Nachweis für diese Rolle im sozialen Gefüge der Stadt heben sowohl Strasser als auch Parucki und zuletzt Zips zwei Wohltäterinnen besonders hervorn: Die erste ist die (vermutlich) letzte Repräsentantin des Babenberger Geschlechts und Enkelin Herzog Leopolds VI., Agnes von Baden-Österreich (1249–1295), die auf eigenen Wunsch hin 1295 im Chor der Minoritenkirche begraben wurde.548 Die andere Wohltäterin ist Blanche/Blanka von Frankreich (um 1282–1305), Gemahlin des Habsburgers Rudolf III. und Herzogin von Österreich. In ihrem 1304 niedergeschriebenen Testament stiftete sie ihr eigenes Grab und den Bau einer Kirche bei den Wiener Minoriten zu Ehren ihres verstorbenen und 1297 heiliggesprochenen Großvaters, König Ludwigs IX. von Frankreich. An dieser Stelle kann nicht übersehen werden, dass sich die Namen der beiden Hauptstifterinnen der frühen Wiener Minoriten und derjenige der Jungfrau ähneln, deren Visionen hier zur Analyse vorliegen. Auf diese Ähnlichkeit soll deshalb knapp eingegangen werden. Bereits in der Handschriftenbetrachtung zum Stift Zwettl merkte die Verfasserin, vor allem in Verbindung mit Agnes von Kuenring, an, dass der Name Agnes ein für den Habsburger Raum weit ver544 Mit Verweis auf die räumliche Entwicklung Wiens hält bereits Frieß die Ansiedlung der Minoriten vor den Toren Wiens für wahrscheinlich; siehe dazu Frieß (wie Anm. 282), S. 92. Zips nimmt an, dass es sich dabei um ein Grundstück mit kleiner Kapelle zwischen dem herzoglichen Sitz und dem Schottenkloster gehandelt habe; siehe dazu Zips (wie Anm. 534), S. 171. 545 Siehe dazu Parucki (wie Anm. 543), S. 56. 546 Siehe dazu Parucki (wie Anm. 543), S. 60. 547 Dazu zählt unter anderem das Nekrologium der Wiener Minoriten, das 1725 von Hieronymus Pez herausgegeben wurde; siehe dazu: Necrologium sepultorum apud Patres Minores Viennae. Saec. XVI., 2, hrsg. Hieronymus Pez (Scriptores rerum Austriacarum), Leipzig 1725. 548 Siehe dazu zuletzt Zips (wie Anm. 534), S. 174.

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breiteter war. Das Fehlen des Namens Agnes Blannbekin im Fließtext aller heute vorliegenden Handschriften der hier thematisierten Visionen lässt die Annahme zu, dass der Name nachträglich mit dem Text in Verbindung gebracht wurde und auf eine Gönnerin oder Gönnerinnen der Wiener Minoriten referieren könnte.549 Zudem verdienen die Lebensdaten der Stifterinnen Agnes von Baden-Österreich und Blanche von Frankreich in diesem Kontext Aufmerksamkeit, da sie in zeitlicher Nähe zu den Ereignissen in den Visionen bzw. deren Niederschrift liegen. Würde es sich bei der Verwendung des Namens Agnes Blannbekin um eine Referenz auf die beiden Stifterinnen handeln, knüpft sich daran die Frage, was die Wiener Minoriten oder ein späterer Schreiber mit dieser Anlehnung bestenfalls zu erreichen vermochte/-n, da dieses Vorgehen von der Praxis gewöhnlichen Memorialgedenkens abweicht. Mit diesen Überlegungen soll allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Jungfrau aus den Visionsschilderungen einer realen Person entspricht und vielleicht sogar den Namen Agnes trug. Doch es könnte sich bei ihrer Benennung mit dem Namen Agnes Blannbekin ebenso gut um eine literar-historische Konstruktion, eine Referenz im Sinne eines besonderen Memorialgedenkens handeln. Dass die Minoriten im 14. Jahrhundert seelsorgerischen Tätigkeiten wie dem Beichthören nachgingen, Predigten hielten und auch das Begräbnisrecht ausübten, war zwar nach ordenseigenem Verständnis genuin, wurde aber erst nach langen Streitigkeiten mit dem Pfarrklerus und zahlreicher päpstlicher Privilegien möglich. Bekannt sind diese Auseinandersetzungen zwischen Mendikanten und Weltklerus vor allem aus dem Umfeld der Pariser Universität im 13. Jahrhundert.550 Auf der Grundlage der Beschlüsse des Vierten Laterankonzils (1215) 549 Andere Thesen zur Herkunft des Namens Agnes Blannbekin wurden bereits in anderen Kapiteln diskutiert. Dazu zählte u. a. die Vermutung, dass Blannbekin ein Beiname sei, der auf eine weibliche Person (-in) verweise, die aus dem Ort Plambach in Niederösterreich stamme. 550 Die klassische Besetzung theologischer Lehrstühle durch Angehörige des Weltklerus erzeugte aufgrund der wachsenden Studentenzahl aus dem Regularklerus ein Ungleichgewicht. Die daraufhin zunehmende Vergabe von theologischen Lehrstühlen an Mitglieder des Regularklerus, vor allem an Dominikaner und Franziskaner, stieß wiederum auf das Missfallen von Professoren aus dem Weltklerus. Der Streit wurde im Frühjahr 1252 zum offenen Konflikt und verschärfte sich in den folgenden Jahren. Vor allem Dominikaner und Franziskaner wurden dabei immer wieder beschuldigt, unrechtmäßig seelsorgerische Aufgaben des Weltklerus, insbesondere Beichte und Begräbnis, übernommen zu haben. Einen Überblick dazu bieten u. a. Jacques LeGoff, Die Intellektuellen im Mittelalter. Aus dem Französischen von Christiane Kayser, 4., durchgesehene und um ein Nachwort von Johannes Fried erweiterte Auflage, überarbeitet von Gabriele Bonhoeffer, Stuttgart 2001, hier besonders: das Kapitel »Der Streit zwischen Ordensgeistlichkeit und Weltklerus«, S. 102–108 sowie Sita Steckel, ›Gravis et clamosa querela‹. Synodale Konfliktführung und Öffentlichkeit im französischen Bettelordensstreit 1254–1290, in: Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik, hrsg. Christoph Dartmann, Andreas Pietsch und Sita Steckel (Historische Zeitschrift. Beihefte, 67),

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oblag dem sacerdos proprius die Seelsorge für einen gewissen Sprengel.551 Bereits Papst Alexander IV. war den Mendikanten sehr zugetan und stärkte deren Position vor allem während des Mendikantenstreits in Paris. Auch für Wien sind entsprechende Auseinandersetzungen nachweisbar, wie Ludwig Hödl in seinem 1957 erschienenen Aufsatz deutlich macht.552 Der Zulauf zu Predigten und Beichtgelegenheiten bei den Mendikanten war groß, viele Pfarrkleriker fürchteten um ihre Aufgaben und Einkünfte.553 In diesen Kontext fügt sich die erste urkundliche Erwähnung der Wiener Minoriten aus dem Jahr 1234, die, wie oben ausgeführt, wegen des Verdachts erfolgte, sie hätten das Beichtgeheimnis gebrochen. Im diesbezüglichen Konflikt wurden die Minoriten von Papst Gregor IX. verteidigt, dem ehemaligen Kardinal Ugolino (Hugo) aus dem Geschlecht der Grafen von Segni, einem Förderer der Franziskaner und Dominikaner. Auch Papst Martin IV. stärkte 1281 die Stellung der Bettelorden, indem er den Brüdern die Verkündigung des Evangeliums erlaubte und eine Bußvollmacht ohne Genehmigungspflicht durch den lokalen Pfarrklerus erteilte.554 Trotz weiterhin schwelender Auseinandersetzungen wurden in der Konstitution Super Cathedram von Papst Bonifaz VIII. im Februar 1300 Regelungen für ein wechselseitiges Genehmigungs- und Abhängigkeitsverhältnis festgeschrieben, die den Dominikanern und Franziskanern das Beichthören innerhalb eines bestimmten Umkreises ihrer Niederlassungen ermöglichte – in Rücksprache mit den lokalen Pfarrvertretern.555 Nach verschiedenen zwischenzeitlichen Änderungen wurde

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Berlin [u. a.] 2015, S. 159–202. Eine ältere Darstellung, in der vor allem die Rolle Papst Alexanders IV. und die Vielzahl seiner Privilegien thematisiert wird, findet sich bei Franz Tenckhoff, Papst Alexander IV., Paderborn 1907, hier: Zwölftes Kapitel »Papst Alexander IV. und der Pariser Universitätsstreit«, S. 294–305. Zur Rolle der Franziskaner in diesem Konflikt siehe Lodovico Pellegrini, Alessandro IV e i Francescani (1254–1261), Rom 1966 oder Luigi Pellegrini, L’incontro tra due ›invenzioni‹ medievali: Università e Ordini Mendicanti (Scienze storiche, 13), Neapel 2003, hier besonders: »5. Mendicanti e Università«, S. 129–154. Im 21. Kanon des Vierten Laterankonzils ist von einem sacerdos proprius die Rede, bei dem das Beichthören zu präferieren sei. Nur in begründeten Ausnahmen sollte ein fremder Priester aufgesucht werden; siehe dazu oben Anm. 459. Siehe dazu Hödl, Zum Streit um die Bußprivilegien (wie Anm. 265). Siehe dazu Herta Hageneder, Die Minoriten im heutigen Österreich bis zum Auftreten von Capestrano, in: Atti del Convegno storico internazionale, Capestrano-L’Aquila 8–12 Ottobre 1986, hrsg. Edith und Lajos Pasztor, L’Aquila 1989, S. 301–314, hier: S. 308. Die Verleihung der Pastoralprivilegien durch Martin IV. fand am 13.12 1281 mit der Bulle Ad fructus uberes statt. Zu den zeitgenössischen Reaktionen, besonders mit Blick auf Heinrich von Gent und die Pariser Universität siehe dazu Ludwig Hödl: Die Disputation des Heinrich von Gent mit Prälaten und Professoren in Paris im Früh- und Spätjahr 1282 über das Pastoralprivileg der Mendikantenbrüder, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung (2012), S. 174–206, hier S. 175. Siehe dazu Hödl, Zum Streit um die Bußprivilegien (wie Anm. 265), S. 172–173.

Beichtvater und Aufzeichner: Versuch einer Charakteristik

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diese Bestimmung so erneut in den Beschlüssen des Konzils von Vienne festgeschrieben.556 Zusammenfassend lässt sich folgern: In einer Zeit, in der die seelsorgerischen Tätigkeiten der Minoriten (und Mendikanten allgemein) in Wien, wie auch in anderen Städten, immer wieder durch Weltkleriker zur Diskussion gestellt wurden und letztlich nur mit Hilfe päpstlicher Privilegien schrittweise allgemein gültig geregelt werden konnten, erlaubten die Wiener Minoriten die Niederschrift und Veröffentlichung von Visionen einer Jungfrau, die sich just in dieser konfliktreichen Zeit, also Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in einem Beichtverhältnis zu einem Wiener Minoritenbruder befand. Gleichzeitig lässt der Name dieser visionär begnadeten Jungfrau eine Referenz auf bekannte Stifterinnen (sowohl Agnes von Kuenring als auch Agnes von Baden-Österreich und Blanche/Blanka von Frankreich) annehmen, denen gemeinsam ist, dass sie die Sorge für das Memorialgedenken an sie in die Obhut des Wiener Minoritenklosters legten. Dass es sich lediglich um eine zufällige Namensgleichheit handelt, kann allerdings nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden.

III.2.c Die Wiener Minoriten und ›ihre‹ Visionärin In der 1925 in Wien erschienenen Dissertation Walter Tschuliks konstatiert dieser über das Verhältnis zwischen den Wiener Minoriten und Agnes Blannbekin Folgendes: »Die Minoriten wurden um das Jahr 1221 von Leopold VI. nach Wien berufen, der ihnen nach Inhalt einer päpstlichen Bulle vom Jahre 1224 gestattete, nahe seiner neuen Burg, am heutigen Minoritenplatz, ein Haus mit einer Kapelle zu bauen. […] Der Wiener Konvent, der in seinem Siegel das Kreuz führte, wird in einer Bulle Gregor IX., im Jahre 1234 urkundlich zum ersten Mal erwähnt. […] Zu diesem Kloster stand die Begine Agnes Blannbekin in einem freundschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse, hat in seiner Nähe gewohnt und sich der geistlichen Führung dieses Hauses anvertraut.«557

Die vorangehenden Untersuchungen in dieser Studie konnten das Gründungsdatum der Wiener Minoritengemeinschaft zwar nicht neu bestimmen, jedoch die dahinterliegende Intention institutioneller Eigengeschichtsschreibung sichtbar machen. Auch der neueste Forschungsstand der baugeschichtlichen Forschung wurde knapp nachgezeichnet. Des Weiteren wurde die Behauptung eines freundschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses auf der Grundlage vorhandener 556 Siehe dazu 10. Kanon: Bestimmungen für die Seelsorge der Bettelorden, Konzil von Vienne 1311–1312, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2 (wie Anm. 459), S. 365–369. 557 Tschulik (wie Anm. 19), S. 47.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Quellen kritisch erörtert. Dabei zeigte sich, dass die Kirche der Brüder den geistlichen Mittelpunkt der Jungfrau bildete. Dies ist zum einen räumlich zu verstehen, da sie das Gotteshaus der Minderbrüder regelmäßig aufsuchte, und zum anderen im Sinne des Seelsorgeverhältnisses, über das sie durch ihren Beichtvater aus dem betreffenden Orden und durch regelmäßigen Messbesuch in die Buß- und Gebetsgemeinschaft der Minoriten spirituell und rituell integriert war. Doch es scheint, dass die Gemeinschaft zwischen der Jungfrau und den Brüdern weit über jede gelungene Integration und selbst über ein reziprokes Verhältnis hinausging: Einzelne Ordensbrüder, darunter vor allem ihr Beichtvater und Aufzeichner ihrer Visionen, ersuchten die Jungfrau um Fürbitte, und sie schloss deren Anliegen in ihre Gebete ein. Zudem kam ihr eine herausgehobene Stellung innerhalb der Kommunikation mit Gott zu: In ihren Visionen sah sie, wie einzelnen Brüdern sündige Handlungen vergeben oder andere für ihre guten irdischen Taten oder ihr Verhalten ausgezeichnet wurden. Aus dieser exponierten Position heraus war es der Visionärin überdies möglich, Kritik über bestehende Zustände zu artikulieren. Durch das narrative Element des visionären Erlebens trat die Jungfrau als Mahnerin auf, zugleich wurde die Kritik mit göttlicher Autorität versehen und erhielt größere Wirkmächtigkeit. Gleich, ob die Visionärin eine historische Persönlichkeit war oder nicht, die Tatsache, dass der minoritische Aufzeichner ihrer Geschichte mit dem Medium eines ihm und seinen Brüdern übergeordneten weiblichen Individuums seinem eigenen Konvent und sich selbst einen kritischen, göttlichen Spiegel entgegenhielt, ist bemerkenswert. Diese Jungfrau wird nicht nur als von Gott begnadet dargestellt, sondern in einer späteren Handschrift auch mit Namen bezeichnet, die Anlehnungen an Stifterinnen herstellen, die für die Minoriten wirkten. Gleichzeitig kann der Anklang von -bekin in Agnes Blannbekin an das mittelhochdeutsche bekîne als Keim interpretiert werden und unterstreicht zusätzlich, dass die so benannte Frau nicht nur in ihrer vermittelnden Funktion, sondern gar aufgrund ihres Beginenstandes zur Quelle gnadenbringenden und tugendlichen Lebens, eben zur Verwirklichung eines guten Daseins nach minoritischem Verständnis befördert wurde. Ob es sich bei der Handlungspotenzialität (agency) der Jungfrau um eine literarisch geschaffene oder eine tatsächliche handelte, die mit einer real existierenden Person korrespondierte, ändert wenig an dem Befund, dass es den Wiener Minoriten, allen voran dem Beichtvater, wichtig schien zu betonen, dass der Kontakt zu dieser Figur bzw. Person auf einem gegenseitigen Seelsorgeverhältnis gründe, Agnes/Agnes also als ›ihre‹ Visionärin zu gelten habe. Stoklaska stellt die These auf, die Visionen einer gewissen Jungfrau könnten als eine »Rechtfertigungs- oder auch ›Propaganda‹-Schrift«558 der Wiener Minoriten 558 Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 33.

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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gedient haben, die im Streit um das Seelsorgeangebot eine wichtige Rolle gespielt habe. Ob dem so war, kann erst nach einer inhaltlichen Analyse der Visionen geklärt werden. Im nächsten Schritt sollen jedoch zuvor die Kommunikation und der Prozess der Texterarbeitung zwischen Jungfrau und Beichtvater beleuchtet werden.

III.3 Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau Der Theologe Bardo Weiß erwähnt in seinem 2000 erschienenen Aufsatz »Die franziskanische Bewegung und die frühe deutsche Frauenmystik«559 auch Agnes Blannbekin. Die temporale Einschränkung »früh« im Titel bezieht Weiß auf einen Zeitraum von der Geburt bzw. Wirkungszeit des Franz von Assisi (*1181/ 1182, †1226) bis etwa zum Jahr 1300. Die Spezifikation »deutsch« umfasst nicht nur volkssprachliche Texte, sondern all jene von visionär begnadeten Frauen, die zur fraglichen Zeit im deutschen Sprachgebiet – einschließlich des Herzogtums Brabant – lebten. Am Ende der Suche nach franziskanischen Werten oder Spezifika in der frühen deutschen Frauenmystik konstatiert Weiß: »Sieht man wieder vom Sonderfall der Agnes Blannbekin ab, ist uns kein Franziskaner als Beichtvater, Berater oder Vitenschreiber bekannt«.560 Als einen Grund dafür nennt er die Dominanz der Dominikaner, die seit Papst Clemens IV. (1195–1268) mit der Seelsorge für die mulieres religiosae beauftragt waren. Nach einer stereotypen Schilderung der Agnes Blannbekin führt Weiß franziskanische Ideale in Agnes’ Visionen an, wozu er die der Brüderlichkeit sowie der Sorge um die eigene kontemplative Vollkommenheit zählt. Gleichzeitig meint er bei Agnes Blannbekin eine mangelnde Sensibilität und ein fehlendes Verständnis für Seelsorgeaufgaben zu erkennen. In seinem Resümee betont er deshalb zwar die Stellung des Franz von Assisi in ihren Visionen und die darin ausgedrückte Verehrung von dessen Wundmalen, kommt aber zu dem Ergebnis, dass Agnes Blannbekin 559 Bardo Weiß, Die franziskanische Bewegung und die frühe deutsche Frauenmystik, in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 63 (2000), S. 236–258. 560 Weiß, Die franziskanische Bewegung (wie Anm. 559), S. 242. Es sei an dieser Stelle nochmals auf Weiß’ Eingrenzung seines geografischen Untersuchungsgebietes hingewiesen, das den deutschen Sprachraum bis etwa 1300 einbezieht. Anderenfalls zählten sicherlich Angela von Foligno oder auch schon Klara von Assisi zu bedeutenden frühen Vertreterinnen weiblicher Mystik, die nicht nur durch franziskanische Spiritualität beeinflusst wurden, sondern ebenfalls in einem Seelsorgeverhältnis zu einem Mitglied des Minoritenordens oder gar Franz von Assisi selbst standen; siehe dazu beispielsweise Ulrich Köpf, Angela von Foligno. Ein Beitrag zur franziskanischen Frauenbewegung um 1300, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit (wie Anm. 30), S. 225–250.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

die franziskanische Spiritualität nur teilweise rezipiert habe, sodass selektiv einzelne Ideale, wie etwa Brüderlichkeit, Erwähnung fänden.561 Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis und der Interaktion zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater, oder vielmehr, nach der Prägung der Visionsdarstellungen und des Bildes von Agnes durch den Beichtvater. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie sich das Interaktionsverhältnis gestaltete, das zum einen ein Beicht- und zum anderen – hinsichtlich der Niederschrift – ein Arbeitsverhältnis war. Eine Beschäftigung mit den Erwähnungen der Vorhaut Christi ist in diese Erörterung eingefügt, da sie für ein Verständnis von Agnes’ religiösem Äußern gegenüber ihrem Beichtvater unabdingbar ist. Dem übergeordnet bleibt die Frage, ob die Grenzen zwischen der Person des Beichtvaters und derjenigen seines Beichtkindes in der Niederschrift noch klar gezogen werden.

III.3.a Sprechen und Schreiben: die göttliche Legitimation Als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Interaktion zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater bietet sich zunächst das 38. Kapitel ihrer Visionen an. Obgleich es sich dabei nicht um das erste Kapitel des hier betrachteten Werkes handelt, befindet es sich in Anbetracht eines Gesamtumfanges von 235 Kapiteln durchaus im ersten Drittel der Niederschrift und trägt zudem deutliche Züge einer Einführung. Die Position im Text ist wohlüberlegt komponiert, denn die vorangehenden Kapitel thematisieren Visionen, ohne diese räumlich oder zeitlich genau zu kontextualisieren, wohingegen spätere Visionen zum Teil auf ein bestimmtes Jahr und einen konkreten Ort (meist eine Kirche innerhalb von Wien) festgelegt werden. Inhaltlich handelt es sich bei den ersten 33 Kapiteln um Visionen mit allgemeineren Themen, wie der Erschaffung der Welt, der Gottesmutter Maria, den Vorzügen des Jungfrauenstandes, den Engeln, guten Taten von Heiligen, normativen Äußerungen über das Verhalten einzelner Menschen bzw. Kommunizierender sowie wertenden Ansichten über gute und schlechte Priester.562 Der von Kapitel 34 bis 37 reichende Textabschnitt beinhaltet im 37. Kapitel die viel umstrittene Vorhaut-Vision, auf die dann das 38. Kapitel, wie

561 Siehe dazu Weiß, Die franziskanische Bewegung (wie Anm. 559), S. 257–258. 562 Dabei umfassen die Kapitel 1 bis einschließlich 23 eine einzige Vision, Kapitel 24 stellt eine eigene Vision vor sowie 25 und 26 eine weitere, die auf den 6.12. (ohne Jahr) datiert wird. Die Kapitel 27 bis einschließlich 29 sind Detailschilderungen, die sich auf diese Vision am Nikolaustag beziehen. Das 30. Kapitel führt eine neue Vision am 29. 12. an, die sich bis in das 33. Kapitel erstreckt. Im 34. Kapitel beginnt eine neue Vision, über die im 35., 36. und 37. Kapitel weiter berichtet wird und die auf den 1. Januar datiert ist. Kurz gesagt, begegnet folgende Kapitelgruppierung: 1–23, 24, 25–29, 30–33, 34–37.

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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unten zitiert, Bezug nimmt.563 Daran schließt im 39. Kapitel die Lebensbeschreibung der Jungfrau an (, die allerdings auch im zweiten Teil des I. Kapitels bereits Thema ist). Sieht man vom Prolog ab, zeichnet sich zwischen dem Text bis einschließlich des 33. Kapitels und dem Folgenden ein Bruch ab. Es scheint eine neue Art der Interaktion zwischen Beichtkind und -vater zu beginnen, die das 38. Kapitel beschreibt: 38. Kapitel. Über drei dem Schreiber des Büchleins versprochene Geschenke. Und dort kam alsbald über sie die Hand des Herrn, und unter anderem empfing sie es in der Offenbarung, daß der Herr mir, dem Schreiber dessen, was ich von ihr selbst hatte, dreierlei versprach: Erstens, daß niemals irgendeine Versuchung für mich überhandnähme, zweitens, daß der Herr mir eine Vermehrung seiner Gnade geben wolle, drittens, daß der Herr sich selbst mir zum Lohn geben wolle. Ebenso am vierten Tag vor der Erscheinung des Herrn, als sie sich noch fürchtete, mir die Heimsuchungen des Herrn zu eröffnen, fragte sie unter der Messe den Herrn, indem sie sagte: ›Herr, wenn es dir gefällt, daß ich meinem Beichtiger das eröffne, was du mir zu zeigen geruhst, dann gib mir dies zum Zeichen und Beweis, nämlich, daß ich jene Tröstung spüre, die ich am Tag der Beschneidung vom Häutchen deiner Vorhaut spürte. Wenn du mir dies nicht geben wirst, was du mir damals gegeben hast, wird dies ein Zeichen sein, daß es dir nicht gefällt, und ich will eher aus der Stadt weggehen, als daß ich ihm etwas mehr mitteile.‹ Und siehe, wie groß (sind) Gottes Güte und seine unaussprechlichen Wunder! Bald nämlich spürte sie auf der Zunge das Häutchen mit so großer Süße, daß sie eine Veränderung des Körpers und des Geistes spürte, so wie es ihr geschehen war am Tag der Beschneidung. Und wiewohl durch solche Beweise von Gott gestärkt, berichtete sie mir fast immer mit Furcht und Scham und von mir häufig mit Bitten bestürmt. Sie hielt sich nämlich für gänzlich unwürdig so großer Geschenke des Herrn und erniedrigte sich mit Demut, weil ich sehr von den ihr geschehenen Offenbarungen getröstet und gestärkt wurde, wobei ich mich an jenes (Wort) des sel. Gregor erinnerte: ›Der menschliche Geist usw.‹.564 563 In der Zwettler Hs. wird diese Vision in einem zusammenhängenden Abschnitt erzählt, der außerdem den Text der Kapitel 38 und 39 umfasst. Diese Einteilung spiegelt die innere Struktur der Erzählung wider, in der die einleitenden Kapitel zusammengefasst wurden. In der Lilienfelder Hs. sind Kapitel 34–37 (Teil 1) zusammengefasst worden. Das 37. Kapitel (Teil 2) beginnt mit einem neuen Abschnitt, der nach dem 46. Kapitel endet. Bei allen anderen Abschriften aus Mainz (M1, M2, M3) sowie Magdeburg und Basel fehlt das 37. Kapitel. Magdeburg gibt dann bereits das 38. Kapitel wieder, die Mainzer Abschriften erst ab Kapitel 46. Basel endet bereits mit dem 23. Kapitel. 564 Cap. XXXVIII. De tribus donativis repromissis scribenti libellum. Et tibi mox facta est super eam manus domini, et inter cetera habuit in revelatione, quod dominus mihi scribenti ea, quae ab ipsa habui, repromisit tria: Primum, quod nunquam tentatio aliqua mihi praevaleret, secundum, quod dominus vellet mihi augmentum suae gratiae dare, tertium, quod dominus vellet se ipsum mihi dare in praemium. Item quarta die ante epiphaniam domini,

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Hier eröffnet sich ein Einblick in eine Vorstellung von den beiden handelnden Personen, wonach sie sich zueinander positionieren. Der Schreiber des Büchleins (scribenti libellum) definiert sich dabei in Bezug auf die Jungfrau als ihr Aufzeichner, weil seiner Niederschrift ausschließlich ihre Berichte (quae ab ipsa habui) zugrunde lägen, die er in der Funktion als ihr Beichtiger (im zitierten Text aus der Perspektive der Jungfrau gesehen: confessor[…] me[us]) erfahren habe. Die Jungfrau erfuhr ebenfalls in einer Vision, dass dem Beichtvater – und alsbald auch Aufzeichner – für das Niederschreiben drei Geschenke gegeben würden. Bei ihnen handelt es sich um die Gewährung frommer Wünsche und Gesuche des Beichtvaters selbst, die dieser – anders als in der noch unpersönlichen Kapitelüberschrift De tribus donativis repromissis scribenti libellum – durch die Verwendung des Personalpronomens für die erste Person Singular gleich zu Beginn des eigentlichen Kapiteltextes auf sich selbst bezieht (quod dominus mihi […] repromisit tria). Aus sowohl redaktioneller als auch seelsorgerischer Perspektive scheint diese Wortwahl nötig zu sein, bevor die Niederschrift der Visionen fortgesetzt wird; schließlich unterliegt ein Beichtvater dem Gebot des Schweigens über das Gehörte. Die drei gewährten Gaben sind daher eine implizit formulierte Schreiberlaubnis, die sich durch göttliche Autorität legitimiert. Abschließend bezieht sich der Beichtvater auf Worte Gregors des Großen, die ihm ins Gedächtnis kommen: mens humana. Es scheint, dass der Beichtvater nach dem Zitat von lediglich zwei Worten bereits davon ausgehen konnte, dass die Leser/-innen oder die Hörer/-innen seiner Niederschrift den Verweis richtig zu deuten und inhaltlich zu ergänzen vermochten. Der Kirchenvater findet außerdem noch an zwei weiteren Textstellen der Visionen Erwähnung: In einer Aufzählung seliger und heiliger Personen wird neben Bernhard, Dominikus, Nikolaus, Johannes dem Täufer, Augustinus, Stephan, Ambrosius, Berthold von Regensburg und Hieronymus auch Gregor mit einem Superlativ als geliebtester Heiliger (dilectissimus sanctus565) angeführt. Weiterhin werden in vielen späteren

cum adhuc timeret mihi revelare visitationes domini, sub missa rogavit dominum dicens: ›Domine, si tibi placet, ut revelem confessori meo ea, quae mihi ostendere dignaris, tunc da mihi hoc pro signo et testimonio, scilicet ut sentiam illam consolationem, quam in die circumcisionis de pellicula tui praeputii sensi. Si non dederis mihi hoc, quod tunc dedisti, hoc erit signum, quod tibi non placeat; et ego volo potius recedere de civitate, quam ut aliquid sibi amplius communicem.‹ Et ecce, quanta bonitas dei et inenarrabilia mirabilia ejus! Mox enim sensit super linguam pelliculam cum tanta dulcedine, ut sentiret corporis et spiritus immutationem, sicut acciderat sibi in die circumcisionis. Et quamvis tot indiciis confortata a domino, tamen quasi semper cum timore et verecundia mihi referebat et exacta a me precibus frequenter. Reputabat enim omnino se indignam tantis donis domini et cum humilitate se dejiciebat, quod ego multum consolabar et confortabar super revelationibus sibi factis memorans illud beati Gregorii: ›Mens humana‹ etc. (Vis. c. virg., Cap. 38, S. 120 und (deutsche Übersetzung:) S. 121). 565 Vis. c. virg., Cap. 20, S. 88.

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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Kapiteln Gregor sowie seine Autoren- und Exegetentätigkeit erwähnt, bei der er von Gott allein Unterstützung erfahren haben soll.566 Die zwei hier angeführten Worte entstammen einer Deutung aus Gregors Moralia in Iob, Mare quippe est mens humana (Denn das Meer ist der menschliche Geist), die häufig in mystischen Traktaten anklingt.567 Die Moralia in Iob sind das erste und mit 35 Büchern umfangreichste Werk des Kirchenlehrers und Papstes Gregor I. (ca. 540–604), der in dieser exegetischen Schrift eine historische, allegorische oder moralische Auslegung des Buches Hiob vorlegt.568 Das hier angeführte Beispiel bezieht sich auf einen Vers aus Hiob 38, in dem Gott, an Hiob gewandt, fragt: Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen, hast du des Urgrunds Tiefe durchwandert?569 Gregor interpretiert das Meer als den menschlichen Geist. Wie er weiter ausführt, dringe Gott in dessen Tiefe ein und halte dem früheren Leben des Menschen einen Spiegel vor. Damit verwirre er den menschlichen Geist, der von seinen innersten Gedanken aus zu Wehklagen der Buße komme und die frühere Nichtsnutzigkeit seines Lebens erkenne. Aber Gott dringe in die Tiefe ein wie in einen Ozean, wenn er die Herzen verändere, die verzweifelt seien und bei denen es hoffnungslos erscheine. Dann kommt Gregor auf eine Meerestiefe zu sprechen, womit der Abgrund des menschlichen Verstandes gemeint ist. Für den Menschen sei es unmöglich, in den Abgrund seines Verstandes einzutauchen. Er lobe die Kraft der göttlichen Natur, die unmöglich mit sich selbst zu vergleichen sei.570 566 Tunc vox ad eam: ›Non habet,‹ inquit, ›angelus locum in anima, ut in ea loquatur, sed deus solus, qui olim loquebatur per beatum Gregorium, cum scriberet et sacram scripturam exponeret: »Ego sum, qui loquor in te.«‹/Dann sagte die Stimme zu ihr: ›Ein Engel hat nicht Platz in der Seele, daß er darin spricht, sondern Gott allein, der einst durch den sel. Gregor sprach, als er schrieb und die Heilige Schrift auslegte: »Ich bin es, der in dir spricht.«‹ (Vis. c. virg., Cap. 86, S. 202 und (deutsche Übersetzung:) S. 203). 567 So beispielsweise auch in einer Predigt von Johannes Tauler, der zwar Gregor als Ursprung anführt, aber frei paraphrasiert: Saepe nanque [sic], (vt Diuus Gregorius ait) mens humana adeò perturbator, vt seipsam eruere nesciat, sed in præsenti dolore & angusta constituta, ipsa pro eadem ante Dei oculos aduersitas deuotissimè interpellat (Ioannis Thauleri […] Sermones De Tempore & de Sanctis totius anni […], Köln 1615, Domenica III, Adventus, Sermo I, VI, hier: S. 25). Es fällt auf, dass zu Beginn dieses Bandes auf der Rückseite des Titelblattes auch das Matthäus-Zitat Confiteor tibi pater […] angeführt wird. 568 Eine Einführung in die Moralia sive expositio in Iob bietet die Theologin Katharina Greschat, Die Moralia in Job Gregors des Großen ein christologisch-ekklesiologischer Kommentar (Studien und Texte zu Antike und Christentum, 31), Tübingen 2005, hier: S. 9–21. 569 Hiob 38,16. 570 Numquid ingressus es profundum maris? Mare quippe est mens humana, cuius profunda Deus ingreditur quando per cognitionem suam ad lamenta poenitentiae ab intimis cogitationibus perturbatur, quando prioris vitae nequitias ad memoriam reducit, et fluctuantem in confusione sua animum concutit. Profundum maris Deus penetrat, quando etiam desperata corda permutat. Si enim mare intrat quando cor saeculare humiliat, profundum maris ingreditur quando visitare mentes etiam pressas sceleribus non dedignatur. Unde et recte percunctando subiungitur: Et in novissimis abyssi deambulasti? Quid enim est abyssus, nisi

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Mit dem Verweis auf Gregor suchte Agnes’ Beichtvater, einen Bezug zu einer anerkannten Autorität herzustellen und das Unvermögen des menschlichen Geistes zu relativieren. Die Beschreibung seines Beichtkindes sollte nicht isoliert als naive Schilderung dastehen, sondern sich in das wiederkehrende Narrativ über die Kraft des Eindringens göttlicher Natur in den menschlichen Geist fügen. Denn bereits Gregor hatte diese Kraft als unvergleichlich und für den menschlichen Geist unverständlich beschrieben. Wenn sie in den Menschen eindringe und dort wirke, müsse sich jeder dem göttlichen Willen fügen.571 Den Einfluss der Moralia in Iob oder der Lektüre gregorianischer Werke auf die franziskanische Spiritualität und Mystik zu erörtern, scheint ein lohnendes Projekt, das hier jedoch nur angedeutet werden kann. Am Beispiel des Zitates zur mens humana lässt sich bereits erkennen, wie wichtig es war, Agnes’ Äußerungen durch Autoritäten zu legitimieren. Dies hing sowohl mit ihrer Stellung als Religiose außerhalb einer Ordensgemeinschaft und der skeptischen Einstellung vieler Zeitgenossen gegenüber ebensolchen Frauen zusammen als auch mit der Skepsis gegenüber ihren Äußerungen an sich. Dass Agnes Blannbekin sich religiös äußern durfte, legitimierte jedoch auch eine visionäre Erfahrung, die nun erörtert werden soll.

III.3.b Zeichen und Beweis: die Erfahrung der Vorhaut Christi Bereits von der ersten geschilderten Vision im Kapitel 1 an wird der Moment des Visionsempfangs mit der Wendung gekennzeichnet, die Hand des Herrn sei über eine heilige Person gekommen: facta manu Domini super unam sanctam personam.572 Mit Hilfe dieser Formulierung ist ein bewusstes Signum der Urheberschaft gesetzt: Der niedergeschriebene Text stamme zwar aus dem Mund der Jungfrau, sei jedoch Wissen, das sie selbst in einer Vision direkt von Gott erhalten habe. Damit stilisiert der Beichtvater sowohl die Jungfrau als auch sich zum mens humana, quae dum semetipsam comprehendere non valet, sese in omne quod est, velut obscura abyssus, latet? Unde bene per prophetam dicitur: Dedit abyssus vocem suam, ab altitudine phantasiae suae, quia dum semetipsam mens humana non penetrat, ex comparatione sui, divinae naturae potentiam quam comprehendere non sufficit humilius laudat (Sancti Gregorii Magni Opera, 3: […] Moralia in Iob XXIII–XXXV, hrsg. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina, 143 B), Turnhout 1985, XXIX 15,27, S. 1452). 571 In seiner Praefatio zu den Moralia in Iob schreibt Gregor über das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen und betont, dass der Mensch sich für nichts erachten und dem Willen des Schöpfers unterwerfen müsse; siehe dazu (Sancti Gregorii Magni Opera, 3: […] Moralia in Iob I–X, hrsg. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina, 143), Turnhout 1979, Praefatio 2,4, S. 10: Omnis homo eo ipso quo homo est, suum intellegere debet auctorem cuius voluntati tanto magis serviat, quanto se quia de se ipso nihil sit, pensat.) Zu weiteren Erläuterungen siehe Greschat (wie Anm. 569), S. 68. 572 Vis. c. virg., Cap. 1, S. 68.

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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Medium der göttlichen Botschaft. Dass die Jungfrau ihrem Beichtiger das in ihren Visionen Erfahrene anvertraute, sei ebenfalls durch göttlichen Zuspruch bekräftigt worden. Im 38. Kapitel bittet sie um Erlaubnis – in Form eines göttlichen Zeichens und Beweises (pro signo et testimonio) –, sich ihrem Beichtvater anzuvertrauen. Die gewünschte göttliche Bestärkung erfährt sie, indem sie (erneut) die Vorhaut des Herrn auf ihrer Zunge bemerkt, wobei sie eine große Süße verspürt. Ob das Spüren von Süße für sie wirklich »lustbringend« war, wie Anneliese Stoklaska vermutet,573 muss jedoch breiter erörtert werden. Gleichwohl ist es eine Bestätigung durch ein höchst unkonventionelles Zeichen, das an eine Vision aus dem vorangehenden Kapitel 37 anknüpft: Bereits am Tag zuvor, am Hochfest der Beschneidung des Herrn, hatte Agnes Blannbekin ein Häutchen auf der Zunge gespürt, wodurch sie große Tröstung und Stärkung erfahren hatte. Kapitel 37 beinhaltet den letzten Teil einer Vision, deren Inhalt bereits die drei vorangehenden Kapitel (ab Kapitel 34) erfüllt und die theologische Streitfrage berührt, ob die Vorhaut Christi mit ihm nach seiner Auferstehung in den Himmel aufgefahren oder auf Erden zurückgeblieben sei, wo sie fortan als (mehrfach vorhandene) Reliquie verehrt werden könne. Das vor allem in unmittelbarer Folge der Pez-Edition,574 aber auch bis heute diskutierte und häufig als Beispiel für sexuelles Begehren von Mystikerinnen angeführte Kapitel 37 enthält eine Begebenheit, die für die Visionen einer gewissen Jungfrau zentral ist, weshalb nun die gesamte betreffende Vision (Kapitel 34–37) erörtert wird. Dass die Vision am ersten Januar stattfand, wird gleich im ersten Satz des 34. Kapitels mit In circumcisione domini (Anlässlich der Beschneidung des Herrn) festgestellt. Das an diesem Tag gefeierte Hochfest, das am achten Tag nach der Geburt Christi gefeiert wurde (und sich damit am jüdischen Beschneidungsritus orientierte), wurde im Jahr 1969 in »Hochfest der Gottesmutter Maria und das Gedächtnis des Tages, an dem der Erlöser den Namen Jesus erhielt«,575 umbenannt. Diese Änderung der Bezeichnung fand im Zuge der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils statt, das die Erarbeitung einer Grundordnung

573 Siehe dazu Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 25. 574 Wie bereits angemerkt, war Pez das Problem der Vorhaut-Erfahrung bewusst, weshalb er, um Kritik zuvorzukommen, in seiner Einleitung unter Punkt V. darauf eingeht, was aber besonders den Hofbibliothekar Garelli nicht überzeugte; siehe dazu die Ausführungen im Kapitel II.2.a.3. 575 Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963– 1973, hrsg. Heinrich Rennings unter Mitarbeit von Martin Klöckener, Kevelaer 1983, Nr. 93 Calendarium Romanum/Der Römische Kalender (21. 03. 1969), Abschnitt IV. Weihnachtszeit, 35, 1306, hier: S. 625.

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

des Kirchenjahres und des neuen Römischen Generalkalenders beschloss.576 Zur Erklärung der Umbenennung muss der Zeitgeist der 1960er Jahre mitbedacht werden, in denen man sich die Betrachtung von Genitalien nicht anders als sexuell konnotiert vorstellen konnte und damit dem heiligen Akt der Beschneidung die Grundlage entzog.577 Mit der Umbenennung wurde auch der inhaltliche Schwerpunkt neu ausgerichtet: Nicht mehr die Beschneidung, son576 Die Ergebnisse dieser Neuordungung sind zu finden in: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie (wie Anm. 575). 577 Dass diese sexuelle Lesart eine des 20. Jahrhunderts sei, betont der Kunsthistoriker Leo Steinberg. 1983 veröffentlicht er unter dem Titel »The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion« eine Abhandlung, in der er anhand von Gemälden seit der Renaissance aufzeigt, wie Künstler die Nacktheit Christi als Zeichen seiner Menschlichkeit, genauer gesagt seiner Fleischwerdung, verstanden und dargestellt hätten; siehe dazu Leo Steinberg, The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983. Als einen wichtigen Grund führt Steinberg den franziskanischen Einfluss der 1260er Jahre an, unter dem Christus nicht mehr länger nur als Sohn Gottes, sondern auch als irdischer Christus und Mensch sowie seine Nacktheit (gemäß dem franziskanischen Motto: nudus sequi nudum Christum) in den Mittelpunkt der Nachfolge Christi gestellt worden seien. Ab etwa dem 16. Jahrhundert stellt Steinberg eine Zunahme des Motivs der Nacktheit Christi fest, wobei der Autor vor allem auf die ostentatio genitalium, das Zeigen und die Zurschaustellung der Genitalien, verweist, bei der der Penis Christi und dessen sexuelle Erregung als verstärkt sichtbare Zeichen der Menschlichkeit gegolten hätten. Weiterhin geht Steinberg auf die außergewöhnliche Verehrung der Vorhaut Christi und die Bedeutung der Beschneidung ein, die Thomas von Aquin in Anlehnung an Bernhard von Clairvaux als »ersten Beweis der wahrhaft menschlichen Natur Christi«, »first proof of Christ’s true human nature« (Steinberg (wie Anm. 577), S. 56), verstanden habe. Heftige Kritik begegnet Steinberg daraufhin u. a. von feministischer Seite, vertreten durch die amerikanische Historikerin Caroline Walker Bynum, die seine Fokussierung auf die Genitalien Christi als zu eng bewertet. Dagegen schlägt sie vor, Christus nicht als männliches Geschlechtswesen, sondern »Jesus als Mutter« zu betrachten; siehe dazu Caroline Walker Bynum, Der Leib Christi im Spätmittelalter – Eine Erwiderung auf Leo Steinberg, in: Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Große (Edition Suhrkamp, 1731 = Neue Folge, 731. Gender Studies. Vom Unterschied der Geschlechter), Frankfurt am Main 1996, S. 61–108. Anhand zahlreicher Beispiele versucht Bynum aufzuzeigen, dass der Körper Christi sowohl in theologischen Texten als auch in Gemälden als weiblicher, nährender und/oder mütterlicher Körper wahrgenommen worden sei. Der These von der Vorhaut oder dem erigierten Penis Christi als Zeichen für die Menschwerdung stellt sie die Seitenwunden Christi als Beleg entgegen, der weg von einer Genitalfokussierung führt. Gleichzeitig versucht Bynum, die Alterität der Wahrnehmung mittelalterlicher Rezipienten zu ergründen, wenn diese eine Darstellung von Brüsten oder Genitalien sahen. Die Kritik und Anmerkungen Bynums und anderer Rezensenten/-innen wahrnehmend, veröffentlicht Steinberg 1996 eine überarbeitete Auflage seines Buches, die er mit weiteren Beispielen für Texte und Gemälde versieht, die seine These von der Sexualität Christi als Zeichen seiner Menschlichkeit stützen; siehe dazu Leo Steinberg, The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, 2., revidierte und erweiterte Auflage, Chicago [u. a.] 1996. Der darin enthaltene Excursus XXII (ab S. 163) beschäftigt sich ausführlich mit dem achten Tag nach Christi Geburt, dem Beschneidungstag, sowie mit dem Widerstand gegen die physische Evidenz der Beschneidung in der Kunst (ab S. 165).

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dern die Gottesmutter Maria sollte fortan im Zentrum des Festes stehen, ebenso wie die Verleihung des Namens Jesus, was, hier im christlichen Sinne verstanden, bereits auf die Taufe Bezug nimmt.578 Somit sind zwei Spuren verwischt, die die frühere Betitelung des Hochfests als Tag der Beschneidung Christi zeigte. Die erste verwies auf die Zeitrechnung nach dem Circumcisionsstil. Gemäß diesem heute allgemein bekannten und verbreiteten Kalenderstil beginnt ein neues Jahr mit dem 1. Januar. Obgleich andere Jahresanfänge, wie Weihnachten (25. Dezember), Mariä Verkündigung (25. März) oder Ostern, deutlich mehr Gewicht im christlichen Mittelalter hatten und der 1. Januar eine Kontinuität zur heidnischrömischen Zeitrechnung, besonders dem Julianischen Kalender, aufwies, fand der Circumcisionsstil auch im christlichen Mittelalter Anwendung.579 Durch einen Beschluss auf dem Konzil von Tours im 6. Jahrhundert legten kirchliche Autoritäten die Beschneidung Christi auf den Oktavtag nach Weihnachten fest und ehrten diese fortan mit einem Hochfest.580 Zweitens barg das Hochfest der Beschneidung Christi eine unverkennbare Spur der jüdischen Vergangenheit des Christentums. Der jüdische Ritus aus den Büchern Moses schreibt vor, dass ein Junge am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten werden soll.581 Das Christentum lehnt diese Vorschrift ab und ver578 Für die Taufe Christi nennt der Römische Kalender ein gesondertes, jedoch zeitnahes Hochfest, nämlich den Sonntag nach dem 6. Januar; siehe dazu Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, 1 (wie Anm. 575), Nr. 93 Calendarium Romanum/Der Römische Kalender (21. 03. 1969), 1303–1309, Abschnitt IV. Weihnachtszeit, 38, hier: S. 625. 579 Im Jahr 46 v. Chr. erließ Julius Caesar ein Kalenderdekret, in dem er u. a. den 1. Januar als Jahresbeginn festlegte. Erst im Zuge der Gregorianischen Kalenderreform Papst Gregors XIII. von 1582 fand der 1. Januar als Jahresbeginn im christlichen Geltungsbereich Wirkung. Einen Überblick über den Julianischen Kalender und die Gregorianische Kalenderreform leistet Thomas Vogtherr; siehe dazu Thomas Vogtherr, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 3., durchgesehene Auflage (Beck’sche Reihe Wissen, 2163), München 2012, S. 42–47 und S. 97–103. 580 Auf dem Konzil von Tours (567) wurde im 17. Kanon beschlossen, dass die Beschneidung des Herrn am achten Tage nach seiner Geburt gefeiert werden solle: Excipitur triduum illud, quo ad calcandam gentilium consuetudinem, patres nostri statuerunt privatas in kalendis Januarii fieri litanias, ut in ecclesiis psallatur, et hora octava in ipsis kalendis circumcisionis missa Deo propitio celebretur (Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 9[: Anni 536–590], hrsg. Giovanni Domenico Mansi, Paris 1901 (unveränderter Nachdruck: Graz 1960), hier: Concilium Turonense II, Canon XVII, S. 796. 581 Die Beschneidung von Jungen findet in den Büchern Moses zweimal Erwähnung: zunächst in 1 Mose 17,9–14, als Gott den Bund mit Abraham festigt und zur Fortdauer dieses Bundes Abraham und allen seinen männlichen Nachfahren die Beschneidung der Vorhaut auferlegt: Und Gott sprach zu Abraham: Du aber sollst meinen Bund bewahren, du und deine Nachkommen nach dir, Generation um Generation. Dies ist mein Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen nach dir, den ihr bewahren sollt: Alles, was männlich ist, muss bei euch beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld erworben von irgendeinem Fremden, der nicht von

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zichtet auf die Beschneidung von Jungen, kann aber die jüdische Herkunft Jesu nicht negieren, da dieser – gemäß den jüdischen Vorschriften – beschnitten war. Für seine Beschneidung gibt es in den Evangelien nur einen narrativen Beleg in Lk 2,21, nicht ohne den Schwerpunkt dabei auf die zeitgleich durchgeführte Namensgebung zu legen – wie es seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit dem Hochfest am 1. Januar geschieht.582 Mit dem Bericht über die Beschneidung Christi ist auch die Frage nach der Vorhaut Christi verbunden. In seinem Aufsatz »The Holy Foreskin; or Money, Relics and Judeo-Christianity« formuliert der Literaturwissenschaftler Marc Shell das grundlegende Problem pointiert in einem Satz: »Christen haben einen materiellen Gott«.583 Damit deutet Shell direkt auf ein Thema hin, das nicht nur die jüdischen Wurzeln Jesu betrifft, sondern auch die Körperlichkeit der Jesus- und Gottesvorstellung.584 Es geht nicht nur um die Frage der Existenz, des Verbleibs und der heilbringenden Funktion der Vorhaut Christi, sondern auch um die Repräsentanz eines körperlichen und gleichzeitig göttlichen Heilsbringers in einer Primärreliquie, die eine hohe virtus aufweist.585

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dir abstammt. Beschnitten werden muss der in deinem Haus Geborene und der um Geld Erworbene. So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein. Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen. Damit im Zusammenhang steht auch die Reinheit/Unreinheit einer Frau nach der Geburt, wie sie in Lev 12,1–4 erwähnt wird: Der HERR sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Wenn eine Frau empfängt und einen Knaben gebiert, ist sie sieben Tage unrein, wie sie in der Zeit ihrer Regel unrein ist. Am achten Tag soll man die Vorhaut des Kindes beschneiden und dreiunddreißig Tage soll die Frau wegen des vergossenen Blutes im Zustand der Reinigung bleiben. Sie darf nichts Geweihtes berühren und nicht zum Heiligtum kommen, bis die Tage ihres Reinigungszustands vorüber sind. Lk 2,21: Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutterleib empfangen war. »Christians have a material God« (Marc Shell, The Holy Foreskin; or, Money, Relics, and Judeo-Christianity, in: Jews and Other Differences: The New Jewish Cultural Studies, hrsg. Jonathan Boyarin und Daniel Boyarin, Minneapolis [u. a.] 1996, S. 345–359, hier: S. 345). In seiner 2016 erschienenen Monografie betrachtet der Theologe Christoph Markschies den Körper Gottes in der Gedankenwelt der Antike. Dabei thematisiert er beispielsweise die bereits im spätantiken Christentum für diskussionswürdig erachtete Frage, ob der Gottessohn einen menschlichen Körper besessen habe, wenn Gott zugleich körperlos sei; siehe dazu Christoph Markschies, Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München 2016. Reliquien können in zwei Gruppen unterschieden werden: zum einen in »Primärreliquien«, was die körperlichen Überreste (Knochen, aber auch Blut, Haare, Fingernägel oder Hautteile) einer heiligen Person bezeichnet, und zum anderen in »Sekundärreliquien«. Als solche gelten Besitztümer der Heiligen sowie ihre Gräber (ebenfalls die Erde und der Staub darauf bzw. darin) oder die für sie genutzten Folterwerkzeuge. Des Weiteren zählen auch Gegenstände, die von den Heiligen berührt wurden (wie Kleidungsstücke), zu dieser Reliquienkategorie. In beiden Reliquienarten blieb, nach der christlichen Vorstellung seit der Spätantike, die Kraft des Heiligen (virtus) gegenwärtig. Für eine Übersicht dazu siehe Arnold

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Die Beschäftigung mit der Reliquie der Vorhaut Christi war darum nicht nur eine Suche nach Materialität, sondern förderte zudem eine theologische Debatte, die sich über Jahrhunderte erstrecken sollte.586 In einem der wenigen neueren und wissenschaftlich fundierten Aufsätze zum Thema stellt der Mediävist Ralf Lützelschwab verschiedene, auch kontrastierende, theologische Positionen vor.587 Ausgangspunkt der Präputium Christi-Debatte sei stets die Frage gewesen, ob nach der Auferstehung Jesu überhaupt etwas Körperliches von ihm auf Erden zurückgeblieben sein könne. Schließlich heißt es in der Ankündigung des Jenseits bei Lk 21,18: und kein Haar von eurem Haupt soll verloren gehen. Lützelschwab zeigt auf, dass kirchliche Autoritäten, wie Bernhard von Clairvaux oder Papst Gregor IX., versuchten, die Diskussion um die Existenz der Vorhaut Christi auf eine theologische Debatte über den Vorrang der Taufe vor der Beschneidung zu verlegen.588 Expliziter als die beiden Genannten positioniert sich im 12. Jahrhundert Guibert von Nogent, der im dritten Buch seines Traktats De pignoribus sanctorum allen Primärreliquien Christi (dazu zählen neben der Vorhaut auch die Nabelschnur und die Milchzähne) eine deutliche Absage erteilt und gleichsam allen, die eine Verehrung dieser Primärreliquien beförderten oder anböten, den Vorwurf der Blasphemie entgegenhält.589

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Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, Kapitel XI. Reliquien, S. 149–166, zur Unterscheidung in Primär- und Sekundärreliquien und dem Mantel des heiligen Martin als bekanntes Beispiel für die letzteren: S. 156. Zur Kategorisierung siehe ebenfalls Arnold Angenendt, Reliquien. I. Allgemeiner Begriff. Abendland, in: Lexikon des Mittelalters, 7: Planudes bis Stadt (Rus’), hrsg. von Norbert Angermann et al., Redaktion: Gloria Avella-Widhalm et al., München [u. a.] 1995, Sp. 702–703. Um den dürftigen Forschungsstand zur Diskussion um die Vorhaut Christi zu erklären, wird vor allem in populärwissenschaftlicher Literatur ein Beschluss angeführt, der im Februar 1900 von der Obersten Heiligen Kongregation erlassen worden sei und unter Androhung von Exkommunikation verbiete, weiter über die Reliquien der Vorhaut Christi zu schreiben, forschen und sprechen. So berichtet es beispielsweise Ludwig A. Minelli in einem 2012 in den Potsdamer Nachrichten erschienenen Artikel zur Beschneidung des Herrn; siehe dazu Ludwig A. Minelli, Beschneidung, die des Herrn, in: Tagesspiegel. Potsdamer Neueste Nachrichten, 11. 08. 2012, http://www.pnn.de/kultur/671155/ (zuletzt aufgerufen am 19. 10. 2020). Minelli nennt sogar ein Dekret (Nr. 37 A vom 3. Februar 1900), das den besagten Beschluss enthalten soll, doch leider lässt sich diese Angabe nach einer genauen Überprüfung des entsprechenden Dokumentes der Obersten Heiligen Kongregation (seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Kongregation für die Glaubenslehre) nicht bestätigen. Siehe dazu Ralf Lützelschwab, Zwischen Heilsvermittlung und Ärgernis – das preputium Domini im Mittelalter, in: Reliques et sainteté dans l’espace médiéval, hrsg. Jean-Luc Deuffic mit einem Vorwort von André Vauchez, Saint-Denis 2006 [= Pecia. Ressources en médiévistique 8–11 (2005)], S. 601-628. Siehe dazu Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 606–609. Dabei geht es Guibert von Nogent nicht nur um einen rein theoretischen Austausch von Argumenten, sondern sein Traktat ist vielmehr eine Streitschrift gegen die Bemühungen der Mönche von St. Medard, die behaupteten, einen Milchzahn Christi zu besitzen, und mittels dessen einen ökonomisch-profitablen Kult etablierten. Die Argumentation Guiberts von

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Den theologischen Auseinandersetzungen und der deutlichen Missbilligung stand die Frömmigkeitspraxis der Gläubigen und ganzer Klöster entgegen. Lützelschwab setzt seinen Aufsatz zwar mit einer Aufzählung der im Mittelalter bekannten Aufbewahrungsorte der Vorhaut Christi fort; diese Liste muss aber durch Ausführungen der wesentlich älteren und teilweise kritisch zu bewertenden Abhandlung des Historikers Alphons Müller zur »hochheilige[n] Vorhaut Christi« aus dem Jahr 1907 ergänzt werden.590 Müller weist darauf hin, dass das Interesse an dem irdischen Aufbewahrungsort der Vorhaut Christi zur Zeit der Kreuzzüge und der damit einhergehenden »Reliquiensucht«591 aufgeflammt sei. Nicht selten sei es dabei darum gegangen, sich in der Anzahl und der Eigentümlichkeit von Reliquienexemplaren zu überbieten, weshalb neben Rom (Lateran) »allmählich Charroux bei Poitiers, Antwerpen, Paris, Brügge, Boulogne, Besançon, Nancy, Metz, Le Puy, Conques, Hildesheim, Calcata und wohl noch andere Orte ihr Praeputium«592 bekommen hätten. Wie sowohl Müller am Beispiel von vier Aufbewahrungsorten des Präputiums (Lateran, Charroux, Antwerpen und Calcata) als auch Lützelschwab (am Beispiel der französischen Abtei Notre-Dame de Coulombs) detailliert ausführen, sei an allen Orten die Echtheit der Reliquie mehr als ungesichert gewesen, was jedoch die Verehrung in bestimmten Hochphasen nicht gemindert habe.593 An vielen Aufbewahrungsorten der Präputia etablierte sich im Hoch- und Spätmittelalter ein großer Frömmigkeitskult; es wurde von Wundern berichtet und zahlreiche Pilger sorgten für ökonomischen Profit. Heute sind die meisten Vorhäute Christi, bedingt durch einen Bedeutungsverlust, in Vergessenheit geraten, durch Kriegswirren verschollen oder werden als Kuriositäten verwahrt.594

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Nogent fasst Lützelschwab zusammen; siehe dazu Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 611– 614. Siehe dazu Alphons Victor Müller, Die ›hochheilige Vorhaut Christi‹ im Kult und in der Theologie der Papstkirche, Berlin 1907. Müller (wie Anm. 590), S. 23. Müller (wie Anm. 590), S. 24–25. Wie vielschichtig die Legenden und Veränderungen von Deutungen der Vorhaut Christi sein konnten, ist am Beispiel des französischen Benediktinerklosters Charroux in der Diözese Poitiers gut ersichtlich: Auf einer (fiktiven) Pilgerfahrt soll Karl der Große ein Geschenk aus Christi Fleisch und Blut, die Sancta Virtus, erhalten haben. Diese habe er dann dem Abteistifter Graf Rotgerius zur Klostergründung geschenkt. Im 14. Jahrhundert wurde die Sancta Virtus – deren ursprüngliche Bedeutung bis heute diskutiert wird – zur Reliquie der Vorhaut Christi umgedeutet und als diese verehrt; siehe dazu Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 617–618. Auch Angenendt verweist auf diese Legende, gibt aber an, Karl der Große habe die Vorhaut Christi bei seiner Verlobung mit der Kaiserin Irene erhalten; siehe dazu Arnold Angenendt, Praeputium Domini, in: LThK, 8 (wie Anm. 346), Sp. 485. Am Beispiel der Vorhaut, die in der französischen Abtei Notre-Dame de Coulombs aufbewahrt wurde, ist der Wandel der Bedeutsamkeit gut nachzuvollziehen: Sie unterschied sich von anderen dadurch, dass sie in dem Rufe stand, besonders Geburtswehen zu lindern. Wegen dieser Funktion forderte im Jahr 1422 der englische König Heinrich V. sie für seine

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Neben Nachweisen in chronikaler, theologischer und sachkultureller Überlieferung existieren zu Aufbewahrungsorten und Bedeutung der Vorhaut Christi auch Aussagen mittelalterlicher Mystikerinnen. Über den Verbleib einer entsprechenden Reliquie gibt beispielsweise Birgitta von Schweden (1302/3–1373) in ihren Offenbarungen Auskunft. Die Adlige lebte Anfang des 14. Jahrhunderts zunächst als Mutter und Ehefrau in Schweden, wo ihr schon als Mädchen Visionen über die Gottesmutter Maria und Jesus zuteilgeworden waren. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1344 zog sie als Witwe nach Rom, wo sie weiterhin Visionen empfing, die sie mit Hilfe ihres Beichtvaters und später auch selbst aufschrieb.595 Im sechsten Buch ihrer Offenbarungen erzählt Birgitta von einer Begegnung mit der Gottesmutter Maria, die sie informiert habe, dass es Maria selbst gewesen sei, die die Vorhaut Christi aufbewahrt und dann mit dem Blut aus den Wunden Christi an Johannes den Täufer übergeben habe. Nach dessen Tod sei die Vorhaut in Sicherheit unter der Erde aufbewahrt worden; erst Engel hätten den Aufbewahrungsort den Freunden Gottes (amicis Dei) mitgeteilt. Seither befinde sich die Vorhaut Christi in Rom, wo sie – so beklagt es Maria in der Vision – nur unangemessene Verehrung erfahre.596 Auch Müller führt diese OffenbaFrau zur Geburt des gemeinsamen Sohnes an. Die Mönche kamen der Bitte nach und sandten ihre Reliquie nach England, woraufhin sie, mit Verweis auf die Sicherheit, zunächst nicht zurückkam, sondern erst in der Sainte-Chapelle in Paris und später im dortigen Benediktinerkloster Saint-Magloire aufbewahrt wurde. Nach langen Streitigkeiten sicherten sich die Mönche von Coulombs jedoch den monetären Ertrag, der mit der Reliquie in SaintMagloire erwirtschaftet wurde. Erst 1447 konnte die Reliquie nach Coulombs zurückgeführt werden, wo sie im 19. Jahrhundert wohl in einem Schrank zunächst in der Sakristei, dann im Pfarrhaus für die Verehrung durch fromme Schwangere aufbewahrt wurde; siehe dazu Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 615–617. Zur Verwendung der Formulierung »Kuriositäten« sei auf Müllers Schilderung vom Wiederauffinden des päpstlichen Reliquienschatzes 1903 in der Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran verwiesen. Müller führt aus, wie aus einer 1905 erstellten Beschreibung hervorgehe, dass sich dort neben der Vorhaut Christi auch die Nabelschnur, ein Brot und 13 Linsen vom Letzen Abendmahl sowie weitere Überreste aus der Lebenszeit Jesu befunden hätten; siehe dazu Müller (wie Anm. 590), S. 1– 18. 595 Einen Überblick über die Lebensgeschichte der als Birgitta Birgersdotter (1302/3–1373) geborenen schwedischen Heiligen bietet u. a. Tore Nyberg, Birgitta von Schweden – die aktive Gottesschau, in: Frauenmystik im Mittelalter (wie Anm. 26), S. 275–289. 596 Maria certificat sponsam de prepucio Christi, quod diligenter seruabat et seruandum Iohanni euangeliste tradidit cum sanguine Christi, qui remansit in vulneribus Christi. Cap. CXII. Maria ait: ›Cum filius meus circumcideretur, ego membranam illam in maximo honore serubam, vbi ibam. Quomodo enim ego illam traderem terre, que de me sine peccato fuerat generata? Cumque tempus vocacionis mee de hoc mundo instaret, ego ipsam commendaui sancto Iohanni, custodi meo, cum sanguine illo benedicto, qui remansit in vulneribus eius, quando deposuimus eum de cruce. Post hoc sancto Iohanne et successoribus eius sublatis de mundo, crescente malicia et perfidia, fideles, qui tunc erant, absconderunt illa in loco mundissimo sub terra, et diu fuerunt incognita, donec angelus Dei illa amicis Dei reuelauit. O Roma, o Roma, si scires, gauderes vtique, ymmo si scires flere, fleres incessanter, quia habes thesaurum michi carissimum et non honoras illum.‹ (Sancta Birgitta, Revelaciones VI,

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rung der Birgitta von Schweden an und folgert in seinem wiederkehrend polemischen Duktus: »Ein solcher, der Gottesmutter in den Mund gelegter Vorwurf, der von einer so angesehenen Heiligen unter Gutheissung der kirchlichen Autorität der Welt übermittelt wurde, konnte natürlich seine Wirkung nicht verfehlen. Für jeden frommen Menschen stand jetzt die Echtheit wenigstens des Lateran-Praeputiums bombenfest«.597

Auch wenn Müllers Kommentar jenseits des akademischen Vokabulars liegt, fasst seine Äußerung das Resultat von Birgittas Offenbarung zusammen: Sie bestätigte durch eine von Maria erhaltene Aussage die Echtheit der in Rom aufbewahrten Vorhaut und mahnte gleichzeitig zu deren Verehrung. Im Gegensatz zu zeitgleichen theologischen Debatten über die Existenz der Vorhaut ist die Aussage in der Offenbarung wegen der exponierten Position der Sprecherin einer irdisch-rationalen Gegenargumentation entzogen. Auch die 1347 in Siena geborene Caterina (di Iacopo di) Benincasa (1347– 1380), heute als Kirchenlehrerin Katharina von Siena bekannt, erwähnt die Vorhaut Christi. Doch anders als im Falle Birgittas von Schweden handelt es sich dabei nicht um eine Vision oder Offenbarung, sondern um eine philosophischtheologische Interpretation der Vorhaut Christi, die Katharina in ihren Briefen darlegt. Die circa 380 erhaltenen Briefe, die Katharina von Siena an verschiedene Zeitgenossen/-innen richtete, widmen sich politischen sowie theologischen Themen, diskutieren sie ausführlich oder sollen der persönlichen Glaubenserbauung Einzelner dienen.598 In vier Briefen an Frauen erwähnt Katharina die Beschneidung Christi, wobei der inhaltliche Rahmen ähnlich ist:599 In allen vier hrsg. Birger Bergh (Svenska fornskriftsällskapet. Samlingar. Serie 2: Latinska skrifter, 7,6), Stockholm 1991, S. 272). 597 Müller (wie Anm. 590), S. 29. 598 Die Dominikanerin und Germanistin Roswitha Schneider betrachtet Katharina von Siena in deren Eigenschaft als Mystikerin. Dabei erwähnt Schneider zwar auch eine Verbindung mit Christi Fleisch durch einen Ring, kommt aber nicht auf die Vorhaut Christi zu sprechen; siehe dazu Roswitha Schneider, Katharina von Siena als Mystikerin, in: Frauenmystik im Mittelalter (wie Anm. 26), S. 290-313. 599 Die Briefe der Katharina von Siena liegen auch auf Deutsch vor, wobei der Herausgeber Werner Schmidt sie thematisch nach ihren Empfängern/-innen geordnet hat und lediglich paraphrasierende deutschsprachige Versionen bietet. Der vierte Band seiner Gesamtausgabe enthält die Briefe an Ordensfrauen, sortiert nach deren Ordenszugehörigkeit, darunter auch drei der vier hier angeführten Briefe; siehe dazu Caterina von Siena, Sämtliche Briefe, 4: An die Ordensfrauen [aus dem Italienischen von Rita Manlik de Cesaris], hrsg. Werner Schmid, Kleinhain 2007, Brief 221, S. 49–55; Brief 262, S. 98–102 und Brief 50, S. 255–258. Der in dieser Untersuchung außerdem erörterte Brief an die Königin von Neapel findet sich in Caterina von Siena, Sämtliche Briefe, 8: An die Frauen in der Welt [aus dem Italienischen von Claudia Reimüller], hrsg. Werner Schmid, Kleinhain 2013, Brief 143, S. 185–188. Hilfreich sind die vorangestellten kurzen Personenbeschreibungen der jeweiligen Briefempfängerinnen.

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Fällen bemüht sich Katharina von Siena, die jeweilige Empfängerin von einem Leben mit Christus, einem Leben im Kloster, zu überzeugen oder weiterhin auf diesem bereits gewählten Weg zu bestärken. Für sie steht das Weltliche mit seinen irdischen Genüssen der Suche nach Gott entgegen, an deren Ende Christus und seine Liebe zu gewinnen sind. Die Liebe Christi zu den Menschen vergleicht Katharina mit der Hingabe in einer Liebesheirat. So erklärt sie in einem Brief von 1377 an Caterina di Scetto (Catherina di Ghetto) – die sich wohl auf das Leben als Mantellata600 des heiligen Dominikus vorbereitete –, dass die Adressatin sich den Klostereintritt wie eine Heirat vorstellen müsse. Katharina von Siena fährt fort, Caterina di Scetto werde heiraten ([t]u se’sposa), denn der Sohn Gottes habe uns alle mit der Beschneidung geheiratet, als er sein Fleisch geschnitten und aus einem Teil (una stremità) so viele Ringe gegeben habe, als wollte er die ganze Menschheit (l’umana generazione, wörtlich: die [ganze] menschliche Generation) heiraten.601 In einem Brief an Schwester Bartolomea im Kloster Santo Stefano zu Pisa betont sie erneut, dass der Ring, den Christus den Menschen und allen Kreaturen gebe, nicht aus Silber sei, sondern ein Ring, der aus Christi Fleisch gemacht worden sei. Es sei genau so viel Fleisch genommen worden, dass es einen Ring ergebe.602 An die frisch verwitwete pisanische Adlige Monna Tora gewandt, fügt Katharina hinzu, dass es ein Ring des heiligsten Glaubens sei (anello della san-

600 ›Mantellate‹, zu Deutsch ›Mantellatinnen‹, sind eine dominikanische Drittordensgemeinschaft, die erst aufgrund des Beispiels der Katharina von Siena bestätigt wurde. Der Name »Mantellatinnen« leitet sich von dem typischen (schwarzen) Mantel ab, den die Terziaren (außer bei den Dominikanern auch bei den Augustiner-Emeriten und Serviten) trugen. Neben dem Drittorden der Mantellatinnen gibt es noch den weiblichen Zweig der Dominikaner (seit 1267) und die Schwestern des Bußordens (mit Regel seit 1285), deren Gemeinschaften bereits vor der Approbation der Mantellatinnen Frauen eine Möglichkeit boten, als Nonnen oder Laiinnen nach dominikanischen Leitbildern zu leben. Die Entwicklung der Mantellatinnen beschreibt Werner Schmidt in der Einleitung zum vierten Band seiner Briefedition; siehe dazu Caterina von Siena, Briefe, 4: An Ordensfrauen, hrsg. Schmid (wie Anm. 599), S. 20. Um Verwirrung vorzubeugen, gilt es zu beachten, dass die Gemeinschaft der Mantellatinnen nicht identisch ist mit dem Konvent für Frauen Santa Maria degli Angeli, den Katharina von Siena 1376 in Belcaro in der Provinz Siena gründete. 601 Tu se’sposa. Vedi bene, che il Figliuolo di Dio tutti ci sposò nella circoncisione, quando si tagliò la carne sua, dandoci quanto una stremità d’anello, in segno che voleva spesare l’umana generazione (Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 1, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860, Lettera L. – A una Mantellata di Santo Domenico chiamata Caterina di Scetto, S. 225–228, hier: S. 227–228). 602 Ben vedi tu che tu sei sposa, e che egli t’ha sposata, e te e ogni creatura; e non con anello d’argento, ma con anello della carne sua. Vedi quello dolce Parvolo, che in otto dì nella circoncisione, quando è circonciso, si leva tanta carne, quanta è una estremità d’anello (Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 3, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860, Lettera CCXXI. – A Suor Bartolomea della Seta, Monaca nel Monasterio di Santo Stefano in Pisa, S. 242–248, hier: S. 247).

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tissima fede603). Weiterhin erklärt sie im Brief an die Königin von Neapel, Giovanna d’Angiò (Johanna I. von Anjou), der Ring, mit dem Christus die menschliche Generation heirate, sei nur der Anfang, in der Art eines Versprechens oder im Sinne einer Ankündigung, um Hoffnung zu geben, die sich dann im Kreuz ganz erfüllen werde.604 Eben dies – dass die Beschneidung eine erste Hingabe Christi und der Ring aus seinem Fleisch, der daraus entstanden sei, ein erstes Zeichen zur Ankündigung dessen sei, was Christus durch seine komplette Hingabe in der Kreuzigung für die Vergebung der Sünden und zur Erlösung aller Menschen später tun sollte – unterstreicht sie auch in einem Brief an den Dominikaner Raimund von Capua, ihren späteren Beichtvater. Darin weist sie zudem auf die Kontinuität der Opferbereitschaft Christi von der Beschneidung bis in ihre Zeit hin.605 In der Legenda maior der Katharina von Siena, die ihr Beichtvater Raimund von Capua nach ihren Berichten in der Zeit von 1385 bis 1395 niederschrieb,606 wird erzählt, wie ihr in der Karnevalsnacht des Jahres 1367 Christus in Begleitung vieler Heiliger und einer Jungfrau erschienen sei. Bei dieser Begegnung habe Christus ihr einen Ring gegeben, der nur für sie sichtbar gewesen sei.607 Im 603 E spòsati a esso Cristo crocifisso coll’anello della santissima fede (Le lettere di S. Caterina da Siena, 3, hrsg. Tommaseo (wie Anm. 602), Lettera CCLXII. – A Monna Tora Figliuola di Misser Pietro Gambacorti da Pisa, S. 416–421, hier: S. 418). 604 E cominciò a pagarci l’arra, per darci pienamente speranza del pagamento, il quale ricevemmo in su ’l legno della santissima croce, quando questo sposo, Agnello immacolato fu svenato, e da ogni parte versò abbondanzia di sangue, col quale lavò le immondizie e peccati della sposa, cioè l’umana generazione (Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 2, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860, Lettera CXLIII. – Alla Reina di Napoli, S. 371–375, hier: S. 372). Die deutsche Übersetzung dieses Briefes sowie eine kurze Vorstellung und Schilderung der politischen Verflechtungen Johannas von Anjou finden sich in Caterina von Siena, Briefe, 8: An Frauen in der Welt, hrsg. Schmid (wie Anm. 599), S. 172 und S. 185–188. 605 Padre, padre e figliuolo dolcissimo, ammirabili misteri ha Dio adoperati dal dì della Circoncisione in qua (Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 4, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860, Lettera CCCLXXIII. – A Maestro Raimondo da Capua dell’ Ordine de’ Predicatori, S. 482–491, hier: S. 483). 606 Eine Einführung in die Legenda maior bietet die Edition von Jörg Jungmayr; siehe dazu Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift Cent. IV, 75, Übersetzung und Kommentar, 1: Einleitung und Text, hrsg. Jörg Jungmayr, Berlin 2004, v–xcix. 607 [3] Cui Dominus: ›Quia vanitates omnes propter me a te abiciendo fugisti et, contemptis delectationibus carnis, in me solo tui cordis delectationem fixisti, hoc in tempore, quo ceteri de domo tua in suis gaudent conviviis et festivitates faciunt corporales, ego festum desponsationis anime tue solempniter tecum celebrare decrevi et, sicut promisi, mihi te desponsare in fide.‹ […] [4] […] Virgo Dei genitrix virginis dexteram sua sacratissima cepit manu, digitosque illius extendens ad filium postulabat, ut eam sibi desponsare dignaretur in fide. Quod Dei unigenitus gratantissime annuens, anulum protulit aureum habentem in suo circulo quattuor margaritas ac adamantinam gemmam superpulcram in summitate inclu-

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nächsten Abschnitt spricht Raimund von Capua seine Leser/-innen direkt an und erinnert sie an die Vermählung der Märtyrerin Katharina (von Alexandrien) mit Christus.608 Die Ringübergabe an Katharina von Siena wird in der bildenden Kunst später oft als mystische Hochzeit zwischen Jesus und Katharina dargestellt, wobei Jesus als Kind oder erwachsener Mann ihr einen Ring aus seiner Vorhaut an den Finger steckt. In etlichen Darstellungen sind die beiden Katharinengestalten miteinander verschmolzen.609 In der Legenda maior ist allerdings nicht direkt beschrieben, dass der Ring aus Christi Fleisch bestanden habe. Es liegt die Vermutung nahe, dass Raimund von Capua bei der Schilderung des Ringempfangs die Briefe der Katharina von Siena als Vorlage nutzte. Dafür spricht auch die Deutung des Ringes als Zeichen der Bestätigung göttlicher Gnade, eine Auslegung, die Raimund im übernächsten Abschnitt der Legenda selbst vorschlägt: Ich aber glaube, dass diese Vermählung eine Bestätigung göttlicher Gnade war und ein Zeichen der Bestätigung jener Ring war, der deshalb für sie und niemanden anders sichtbar war.610 Wie erwähnt, verwendet Katharina eine ganz ähnliche Deutung im Brief an die Königin von Neapel, in dem sie den Ring als Anzahlung für das beschreibt, was mit dem Kreuzestod Jesu kommen werde; ebenso formuliert sie es dann im besagten Brief an Raimund von Capua. Ob nun in ihrer Vision oder ihren Briefen, Katharina von Siena fügt im Vergleich zu Birgitta von Schweden der Deutung der Vorhaut Jesu mit dem Motiv des Rings zur Vermählung mit Christus einen anderen Aspekt hinzu. Katharina interpretiert die Beschneidung Christi als seine erste Hingabe an die Menschen. In der Kreuzigung erfülle sie sich dann, nämlich als vollständige Befreiung der Menschen, die Christus mit dem Blutvergießen bei der Beschneidung bereits angedeutet habe. Der Ring, genauer die Ringe, die Christus aus einem Teil seiner sam. Quem anulari digito dextere virginis dextera sua supersacra imponens: ›Ecce‹ inquit ›desponso te michi, creatori et salvatori tuo, in fide que, usque quo in celis tuas mecum nuptias perpetuas celebrabis, semper conservabitur illibata. […]‹ (Raimondo da Capua, Legenda maior, sive, Legenda admirabilis virginis Catherine de Senis. Edizione Critica, hrsg. Silvia Nocentini (Edizione nazionale dei testi mediolatini d’Italia, 31, Serie 1, 19), Florenz 2013, pars prima c. 12,3–4, hier: S. 198–199). 608 Perpendisne, lector, si meministi alterius Caterine martiris et regine post baptismum, ut legitur, a Domino desponsate (Raimondo da Capua, Legenda maior, hrsg. Nocentini (wie Anm. 607), pars prima c. 12,5, hier: S. 199). 609 Als Beispiele können angeführt werden: Giovanni di Paolo, Die mystische Hochzeit der heiligen Katharina von Siena mit Christus (um 1460) oder Girolamo di Benvenuto, Die mystische Hochzeit der heiligen Katharina im Kreis von Heiligen (1515–1520). Das gleiche Motiv verwendete auch der Niederländer Hans Memling in der Mitteltafel seines Triptychons von 1479, der dabei jedoch die mystische Hochzeit der heiligen Katharina von Alexandrien darstellte. 610 Ego autem puto quod hec desponsatio divine gratie fuerit confirmatio et signum confirmationis fuerit anulus ille, qui sibi et non aliis idcirco patebat (Raimondo da Capua, Legenda maior, hrsg. Nocentini (wie Anm. 607), pars prima c. 12,6, hier: S. 199).

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Vorhaut gemacht habe und die den Menschen und anderen Kreaturen als Zeichen der Hochzeit im Sinne ewiger Verbindung gegeben würden, stünden für diesen Bund. Katharinas theologisch fundierte Auslegung ist auf einer anderen Ebene einzuordnen als die Erwähnung der Vorhaut Christi bei Birgitta von Schweden. Die Schwedin hat mit ihrer Vision vom rechtmäßigen Aufenthaltsort der Vorhaut Christi vielmehr im Blick, die Bedeutung einer Reliquie zu heben und in diesem Kontext diesseitige Angelegenheiten zu klären. Katharina von Siena hingegen entwirft eine Bildsymbolik, die die Beschneidung jeglichem jüdischen Ritus entzieht, schließlich christologisch deutet und die Vorhaut als ein erstes Zeichen für Christi Opferbereitschaft und den Bund zwischen Gott und den Menschen versteht. In Studien zur Mystik in Verbindung mit der Vorhaut Christi werden zumeist Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und nur gelegentlich Agnes Blannbekin betrachtet.611 Eine Vision eines Mannes zur Vorhaut Christi ist nicht bekannt. Es scheint, dass bei der Nennung der Visionärinnen und der Bewertung ihrer Visionen der Grad der Bekanntheit und der Heiligenstatus der Frauen eine Rolle spielt. So folgert Lützelschwab, mit dem Bericht von Birgitta von Schweden sei gleichsam eine »Informationslücke«612 geschlossen und der bis dahin unklare Verbleib der Vorhaut – von der Geburt Christi bis zur Verwahrung in Rom zu Birgittas Lebzeiten – geklärt worden. Obwohl die beiden erstgenannten Mystikerinnen die Vorhaut Christi mit unterschiedlichen Absichten erwähnen, gibt es Parallelen zwischen den Ausführungen Katharinas von Siena und Birgittas von Schweden. So führt Dinzelbacher beide Mystikerinnen im Vergleich zu Hildegard von Bingen an, um das politische Wirken der Mystikerinnen in Kirche und Staat zu demonstrieren.613 Sowohl Katharina als auch Birgitta gründete außerdem einen neuen Konvent bzw. sogar Orden.614 Zudem überschneiden sich die Le-

611 Die Visionärinnen mit Gesichten zur Vorhaut-Thematik werden, so scheint es, überwiegend nach dem Grad ihrer Bekanntheit angeführt und nicht chronologisch, so etwa bei Lützelschwab: Katharina von Siena, dann Birgitta von Schweden und schließlich Agnes Blannbekin; siehe dazu Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 621–625. Ebenso wenig findet sich eine Beachtung der Chronologie bei Müller (wie Anm. 590), S. 26–35 sowie Johan J. Mattelaer, Robert A. Schipper, und Sakti Das, The circumcision of Jesus Christ, in: The Journal of Urology 178,1 (2007), S. 31-34. 612 Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 623. 613 Siehe dazu Peter Dinzelbacher, Das politische Wirken der Mystikerinnen in Kirche und Staat. Hildegard, Birgitta, Katharina, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit (wie Anm. 30), S. 265-302. 614 Birgitta gründete den Ordo Sanctissimi Salvatoris, und auf Katharinas Gründung des Klosters Santa Maria degli Angeli in Belcaro wurde bereits oben hingewiesen. Zum Birgittenorden siehe Tore Nyberg, Der Birgittenorden als Beispiel einer Neugründung im Zeitalter der Ordensreformen, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hrsg. Kaspar Elm (Berliner Historische Studien, 14, Or-

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bensdaten der beiden. Obgleich kein Kontakt zwischen ihnen bekannt ist, gilt es, dies zu beachten. In ihren Lebzeiten besteht auch ein wichtiger Unterschied Katharinas und Birgittas zu Agnes Blannbekin: Beide waren nahezu eine Generation jünger als die in Wien lebende Jungfrau, deren Visionen ebenfalls die Vorhaut Christi zum Thema haben. Aufgrund dieser Chronologie hätte zur Zeit Birgittas eigentlich keine »Informationslücke« mehr vorliegen sollen, wie Lützelschwab sie annimmt, denn in den zeitlich früheren Visionen der Agnes Blannbekin finden sich bereits Elemente, die Birgitta von Schweden und Katharina von Siena später jeweils einzeln ausführten. Die Jungfrau beschäftigte sich zum einen, wie Birgitta, mit der Suche nach dem Aufenthaltsort der Vorhaut und zum anderen, wie Katharina, mit der Interpretation der Vorhaut und der Geste, die hinter der Beschneidung Christi steht. Dazu sei das 37. Kapitel aus den Visionen der Agnes Blannbekin zitiert: 37. Kapitel. Über die Vorhaut des Herrn. Diese Person war es fast von Jugend an gewohnt, immer am Tag der Beschneidung ängstlich aus großem Herzensleid das vergossene Blut Jesu Christi zu beweinen, das so zeitig am Anfang seiner Kindheit zu vergießen er geruht hat. Und dies tat sie auch dann, als ihr die schon genannte Offenbarung geschah, als sie am Tag der Beschneidung kommuniziert hatte. Und so mitleidend und weinend begann sie über die Vorhaut des Herrn nachzudenken, wo sie denn sei. Und siehe, alsbald spürte sie auf der Zunge ein kleines Häutchen nach Art eines Eihäutchens mit allergrößter Süße, das sie verschluckte. Nachdem sie es verschluckt hatte, spürte sie wiederum das Häutchen auf der Zunge mit Süße, wie vorher, und verschluckte es wiederum. Und dies geschah ihr wohl hundert Mal. Und als sie es so oft spürte, wurde sie versucht, es mit dem Finger anzurühren. Als sie das machen wollte, rutschte jenes Häutchen von sich aus in die Kehle hinab. Und es wurde ihr gesagt, daß die Vorhaut mit dem Herrn am Tag der Auferstehung auferstand. So groß war die Süße beim Kosten dieses Häutchens, daß sie in allen Gliedern und Teilen der Glieder eine süße Veränderung spürte. In dieser Offenbarung war sie innen ganz voll von Licht, so daß sie sich selbst ganz betrachtete. Und da es ja gut ist, das Sakrament Gottes zu verbergen, fürchtete diese Person sich, die ihr vom Herrn geschehenen Offenbarungen mir, der ich ihr, wenn auch unwürdiger Beichtvater war, zu eröffnen, und sie nahm sich oft im Geiste vor, mir nichts weiter zu sagen. Und so oft sie sich dieses fest vornahm, dann begann sie krank zu werden, so daß sie nicht schweigen konnte, da der Herr dies wollte. Ich freilich wurde sehr davon getröstet, daß der Herr geruht hat, sich einem Menschen so zu zeigen und brannte sehr danach zu hören. Und sie selbst erzählte mir, daß eines Tages, als sie kommunizieren wollte und schon die Zeit vorbeigegangen war, daß sie nicht hoffte, noch irgendwo die Kommunion bekommen zu können, sie selbst den Herrn in ihrem Herzen fragte, indem densstudien, 6), Berlin 1989, S. 373-396. Zu den Gründungen beider Frauen siehe außerdem Dinzelbacher, Das politische Wirken der Mystikerinnen (wie Anm. 613), S. 283.

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sie sagte: ›Herr, wenn es deinem Willen entspricht, daß ich das, was du mir zu offenbaren geruhst, dem Bruder, meinem Beichtiger, mitteile, dann versorge mich heute mit der heiligen Kommunion von deinem Leib, und dies sei mir zum Zeichen!‹ Und so kam sie zu einem bestimmten Kloster, und nach der öffentlichen Messe kam der Kaplan jener Gemeinschaft, der aus irgendeinem Grunde die Messe zu sagen aufgeschoben hatte und über das Gewohnte hinaus sehr spät zelebrierte, und er gab ihr die Kommunion des Herrenleibes.615

Die Hinweise auf Agnes’ Jugend, ihr Mitleiden mit Christus sowie ihre Tränen mögen zwar wie Topoi der Heiligkeit aus bekannten Hagiografien wirken, aber sie sind hier Schlüsselworte für den Beleg ihrer aufrichtigen Frömmigkeit. Das ergibt eine Überprüfung dessen, worauf in diesem Fall das Mitleiden und die vergossenen Tränen der Jungfrau referieren. Das Mitleid bezieht sich auf das Vergießen des Blutes (effusionem sanguinis) Jesu Christi und veranlasst auch das Nachdenken der Agnes Blannbekin über den Aufenthaltsort seines Präputiums. Die Vorhaut Christi wird in Agnes’ Vision nicht kontextlos angeführt, sondern im Zusammenhang mit einem ersten Blutvergießen Christi und als erster Beleg für Christi Hingabe und Opferbereitschaft. Mit dieser Sichtweise ist der Bezug zum jüdischen Ritual der Beschneidung als Zeichen für den Bund zwischen Menschen

615 Cap. XXXVII. De praeputio domini. Ista persona solita erat quasi a juventute semper in die circumcisionis anxie deflere ex magna cordis compassione effusionem sanguinis Jesu Christi, quem sic tempestive initio suae infantiae effundere dignatus est. Quod et fecit modo, quando facta est ei revelatio jam dicta, quando communicaverat in die circumcisionis. Sic quoque compatiens et flens coepit cogitare de praeputio domini, ubinam esset. Et ecce, mox sensit super linguam suam parvam pelliculam ad modum pelliculae ovi cum praemaxima dulcedine, quam deglutivit. Quam cum deglutisset, iterum pelliculam sensit in lingua cum dulcedine ut prius, quam iterum deglutivit. Et hoc accidit ei bene centum vicibus. Et cum totiens sentiret, tentata est digito eam attingere. Quod cum vellet facere, illa pellicula de se in gutture descendit. Et dictum est ei, quod praeputium cum domino surrexit in die resurrectionis. Tanta fuit dulcedo in degustatione huius pelliculae, quod in omnibus membris et membrorum articulis sensit dulcem immutationem. In ista revelatione fuit tota interius plena lumine, ita ut se ipsam totam conspiceret. Et quoniam sacramentum dei abscondere bonum est, ista persona revelationes sibi a domino factas mihi, qui eram suus confessor, licet indignus, timuit revelare et saepe proposuit in animo nihil mihi amplius dicere. Et quotiens hoc firmiter proponeret, tunc incepit infirmari, ita quod non potuit tacere, domino hoc volente. Ego quidem nimium consolabar super eo, quod dominus dignatus est sic se homini manifestare, et multum ardebam audire. Et ipsa retulit mihi, quod quadam die volens communicare, et jam tempus praeterisset, quod non seperabat alicubi communionem se posse habere, ipsa rogabat dominum in corde suo dicens: ›Domine, si est tuae voluntatis, quod ea, quae tu mihi dignaris revelare, ego communicem fratri confessori meo, provideas mihi hodie de corporis tui sacra communione, et hoc sit mihi pro signo.‹ Et sic venit ad quoddam monasterium, et post publicam missam venit capellanus illius coenobii, qui ob aliquam causam neglexerat dicere missam et valde tarde praeter solitum celebravit, et dedit ei communionem dominici corporis (Vis. c. virg., S. 116 und 118 bzw. (deutsche Übersetzung:) S. 117 und 119).

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und Gott (wie in 1 Mose 17,10–14) aufgehoben und christologisch als das Blutvergießen Christi für die Erlösung der Menschen ausgelegt.616 In diesem Sinne ist auch die Vorhaut zu bewerten, die Agnes Blannbekin mit allergrößter Süße auf ihrer Zunge spürte und die sie an etwas Ähnliches wie die Haut eines Eies erinnerte (sensit […] ad modum pelliculae ovi cum praemaxima dulcedine): Die Vorhaut ist hier ein Teil des geopferten Leibes Christi. Die davon erhaltene starke Süße (tanta […] dulcedo in degustatione), die in ihr eine süße Veränderung (dulcem immutationem) auslöste, unterstreicht dies und ist Zeichen für ein erhaltenes Opfer. Denn wenngleich an der betreffenden Stelle nicht das Kommunizieren mit einer Hostie beschrieben wird, so entspricht die Süße bei der Vorhaut-Erfahrung doch der oftmals empfundenen Süße nach dem Erhalt der Hostie, von der im Kapitel 41 berichtet wird. Ein weiteres Indiz für die Interpretation der Vorhaut als erstes Opfer Christi ist die Erwähnung der Möglichkeit, sie wohl an die hundert Mal (bene centum vicibus) zu kosten. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass das Opfer Jesu Christi kein zeitliches Ende kenne und ewig sei.617 Daran anknüpfend, lässt sich ferner erklären, warum Agnes Blannbekin die Vorhaut nicht mit ihren Fingern berühren konnte: Zu ihren Lebzeiten und noch weit darüber hinaus war die Kommunion mit Christi Leib für Gläubige, die keine Priesterweihen erhalten hatten, nur durch das direkte Auflegen der Hostie auf die Zunge zulässig. Ein Berühren oder Entgegennehmen der Hostie mit Fingern war Laien/-innen streng verboten, um die göttliche Substanz vor Unreinheit zu bewahren.618 Gleichzeitig wurde Agnes Blannbekin gesagt, dass die Vorhaut Christi mit dem Herrn auferstanden sei. Diese Aussage über die irdische Abwesenheit der Vorhaut Christi ist mit der Wendung dictum est ei als nicht-kategoriales externes Wissen ausgewiesen, zugleich aber auch eine Kritik am Kult der mancherorts verehrten Vorhautreliquien. Die Formulierung es wurde ihr gesagt könnte sich auf anerkanntes theologisches Wissen zu Lebzeiten der Agnes Blannbekin beziehen, doch Belege hierfür, wie der Verweis auf eine kirchliche Autorität, fehlen. Die Kenntnis von der irdischen Absenz der Vorhaut Christi wurde Agnes Blannbekin zudem in einer Vision geoffenbart. Sie steht im deutlichen Widerspruch zur späteren Vision Birgittas von Schweden, die die Existenz der Vorhaut in Rom und deren Echtheit bestätigt. Außerdem schließt sich an Agnes’ Aussage eine Frage an, die auch Lützelschwab stellt: »Wenn das, was Agnes zu schlucken vermeint, keine irdische Existenz mehr besitzt, was ist es 616 Diese Deutung lässt sich an zahlreichen Textstellen des Neuen Testaments ablesen, wie etwa Eph 1,6–7 oder auch Kol 1,14. 617 Siehe dazu zum Beispiel Heb 10,12. 618 Die Handkommunion wurde erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschlossen; siehe dazu Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, 1 (wie Anm. 575), Nr. 102 Memoriale Domini/Über das Gedächtnis des Herren (29. 05. 1969), Instruktion der Kongregation für den Gottesdienst »über die Art und Weise der Kommunionspendung«, S. 811–818.

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dann, das sie konsumiert?«619 In seiner anschließenden Erklärung verweist er auf die irdische Unerreichbarkeit der Vorhaut, weil diese nach der Auferstehung Christi wieder ein Teil von diesem sei.620 Um die berechtigte Frage Lützelschwabs nach dem klären zu können, »was« Agnes konsumiert, muss zunächst gesichert werden, dass es sich bei dem Spüren der Vorhaut um eine Vision handelt. Dafür sprechen erstens Wendungen wie in ista revelatione sowie zweitens der Hinweis auf ihr geoffenbartes Wissen über die nicht-irdische Existenz der Vorhaut, wodurch das Spüren des Präputiums zusätzlich deutlich als transzendente Erfahrung gekennzeichnet wird. Das irdische Vergleichsobjekt eines Eihäutchens (ad modum pelliculae ovi) dient zwar der Beschreibung mit Worten, die aber ungenügend bleiben muss, da die auf der Zunge liegende Haut von maximaler Süße war (cum praemaxima dulcedine). Ein weiterer Schlüssel zum Verständnis dieser Vision liegt im Zeitpunkt ihres Erhalts. Die Vision wird nicht nur auf das Fest der Beschneidung Christi datiert, sondern durch die Verwendung des Plusquamperfekts auch innerhalb des Tages auf eine Zeit nach der Kommunion festgelegt: quando communicaverat in die circumcisionis. Mit dem deutlichen Hinweis auf die bereits erfolgte Kommunion soll dem Eindruck entgegengewirkt werden, dass Agnes Blannbekin bei ihrer Vision durch den Entzug der Hostie gedrängt gewesen sein könnte. Die Vorhaut Christi als Zeichen von Jesu Hingabe an die Menschen und seiner Bereitschaft zum Opfer für sie unterscheidet sich vom entsprechenden Symbol des Altarsakraments. Beim Erspüren des Präputiums gab es keine Wandlung und keinen Priester oder Zelebranten, der es der Jungfrau zugänglich machte. Im Gegenteil: Agnes Blannbekin erhielt das Zeichen der Hingabe Christi direkt, ohne Mittler und ohne Verwandlung. Das Zeichen besaß jedoch keine irdische Substanz, weshalb es sich dem Versuch entzog, seiner haptisch habhaft zu werden. Gleichwohl ermöglichte es der Jungfrau, in allen Gliedern und Gliedteilen (in omnibus membris et membrorum articulis), also im ganzen irdischen Körper eine süße Veränderung (dulcem immutationem) wahrzunehmen. Der letzte Abschnitt des 37. Kapitels schildert die später – es mochten mehrere Stunden oder auch Tage vergangen sein – erfolgte Erlaubnis, über die VorhautErfahrung zu sprechen, eine Zustimmung, die mit dem Zeichen eines verspäteten und unerwarteten Hostienerhalts erteilt wurde. Diese Kommunion führt in das klassische Spektrum der Sakramentenlehre und Opferung Christi zurück, indem sie den tugendhaften und frommen Zustand der Agnes Blannbekin unterstreicht, 619 Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 625. 620 »Die Vorhaut entzieht sich der Berührung, sie ist weder greif- noch verfügbar. Sie läßt alle taktilen Avancen ins Leere laufen und wirkt so im Sinne der innerhalb der Beschreibung getätigten Aussage bezüglich ihrer irdischen Nicht-Existenz autoreferentiell. Sie dokumentiert ihre eigene Abwesenheit, entzieht sich dem Zugriff der Menschen, weil mit Christus nach dessen Auferstehung vereint« (Lützelschwab (wie Anm. 587), S. 625).

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ohne den sie nicht gewährt worden wäre. Der nachgestellte Absatz mit der Erwähnung der Kommunion gibt Einblick in die zeitgenössische Bewertung der Vorhaut-Vision: Die Erfahrung des Präputiums Christi wurde selbst von Agnes Blannbekin als unkonventionell empfunden, weshalb sie für ihr Vorhaben, sich darüber zu äußern, um göttliche Absegnung durch ein konventionelles Zeichen, das Altarsakrament, bat und dieses auch, wie gewohnt, aus der Hand eines Priesters erhielt (capellanus […] dedit ei communionem dominici corporis). An dieser Stelle zeigt sich, wie verwoben die Kommunikation und Interaktion zwischen der Visionärin und ihrem Beichtvater war. Sie öffnete sich und berichtete ihm von ihren Visionen, nicht ohne dies zuvor durch göttliche Erlaubnis autorisieren zu lassen. Eine solche Erlaubnis holte Agnes Blannbekin im 38. Kapitel erneut ein, indem sie Gott bat, wie am Tag zuvor die Vorhaut Christi spüren zu können. Dies wollte sie als Zeichen und Beweis dafür lesen, dass es Gott gefalle, wenn sie sich ihrem Beichtiger öffne.621 Auffällig ist, dass die Erfahrung der Vorhaut Christi für die Jungfrau nicht nur am 1. Januar möglich war, sondern auch am 2. Januar (item quarta die ante epiphaniam domini). Was sich Agnes Blannbekin von der Vorhaut Christi erhoffte, nannte sie selbst in diesem Abschnitt illam consolationem, also jene Tröstung oder Ermutigung, die ihr bereits am 1. Januar zuteilwurde. Die Vision dürfte tatsächlich etwas »[L]ustbringend[es]« gehabt haben, wie Stoklaska über das Erleben der Vorhaut im Mund urteilt, jedoch nur, wenn »lustbringend« hier nicht im sexuellen Sinne verstanden wird, sondern in der Bedeutung von ›ein inneres Bedürfnis befriedigend‹ – folglich als tröstend.

III.3.c Mit Angst und Scham: zum weiblich religiösen Äußern Trotz der durch Gott mehrfach erteilten Legitimation schien es nötig, noch zusätzlich zu betonen, dass die Jungfrau nur auf wiederholtes Drängen ihres Beichtvaters (exacta a me precibus frequenter), ängstlich und schamhaft (cum timore et verecundia) sowie sich selbst als eines solch großen Geschenkes unwürdig (indignam) erachtend, ihre Visionen ihrem Beichtvater mitteilte. Damit treten wiederkehrende Elemente aus Berichten von sich religiös äußernden Frauen auf. Das erste ist das des Schreibbefehls oder einer vergleichbaren Aufforderung an eine visionär Begnadete, sich gegenüber ihrem Beichtvater nach 621 Herr, wenn es dir gefällt, dass ich meinem Beichtiger das eröffne, was du mir zu zeigen geruhst, dann gib mir dies zum Zeichen und Beweis, nämlich, daß ich jene Tröstung spüre, die ich am Tag der Beschneidung vom Häutchen deiner Vorhaut spürte/Domine, si tibi placet, ut revelem confessori meo ea, quae mihi ostendere dignaris, tunc da mihi hoc pro signo et testimonio, scilicet ut sentiam illam consolationem, quam in die circumcisionis de pellicula tui praeputii sensi (Vis. c. virg., Cap. 38, S. 121 bzw. 120).

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einer langen Phase des Schweigens und der Geheimhaltung zu einer religiösen Erfahrung zu äußern. Meist war es – wie auch in Agnes’ Fall – der Beichtvater selbst, der die Visionärin zum Berichten ihrer Erlebnisse drängte.622 Der Verweis auf einen Schreibbefehl, der hier ein Drängen zur Berichterstattung ist, ist ein notwendiges Element für die Niederschrift, da dadurch die Demut der Visionärin widergespiegelt wird, die nur aus Pflichterfüllung handelte.623 Die Demonstration von Demut könnte auch Movens eines Unwissenheitstopos sein, durch den die Visionärin, trotz erhaltener Bildung, vor Selbstüberschätzung bewahrt wurde. Dem vorgelagert ist auch die Wirkmächtigkeit des biblischen Lehrverbots für Frauen, das von Paulus im ersten Korintherbrief und im ersten Brief an Timotheus formuliert wird: Wie es in allen Gemeinden der Heiligen üblich ist, sollen die Frauen in den Versammlungen schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden: Sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt (1 Kor 14,33–34) bzw. sie soll sich still verhalten (1 Tim 2,12). Dieses Verbot bildete die Norm, an die sich gläubige Frauen zu halten hatten. Es ist davon auszugehen, dass auch Agnes Blannbekin ein Frauen- und Gesellschaftsbild hatte, das sie als Kind ihrer Zeit charakterisierte. Darauf lässt das 80. Kapitel schließen, in dem sie über die Kräftigung der Priester und des andächtigen Menschen belehrt wird, der ›[…] mehr als andere Menschen ertragen [kann], weil er vom Geist auch körperlich gestärkt wird. Ebenso weil das männliche Herz von Natur aus kräftiger ist als das der Frauen, daher kommt es auch, daß andächtige Frauen leichter im Überschwang der Andacht schwach werden als Männer‹.624

Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater akzeptierten die patriarchale Gesellschaftsordnung als natur- und somit gottgegeben. Es wäre »Modernismus«,625 in 622 Auf die generelle Gültigkeit dieses Verhältnisses macht Ringler in seiner umfassenden Studie zu Viten- und Offenbarungsliteratur aufmerksam; siehe dazu Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 72), Zürich [u. a.] 1980, S. 175–177. 623 Ursula Peters zeigt dies am Beispiel der Mechthild von Magdeburg und ihres Beichtvaters Heinrich von Halle auf; siehe dazu Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge, 56), Tübingen 1988, S. 116–121. 624 […] potest super alios homines pati, cum a spiritu etiam corporaliter vigoratur. Item quia cor virile natura robustius est quam mulierum, inde est etiam, quod mulieres devotae facilius debilitantur in excessus devotionis quam viri (Vis. c. virg., Cap. 80, S. 192 und (deutsche Übersetzung:) S. 193). 625 Der Begriff »Modernismus« wird hier in Anlehnung an Claudia Opitz verwendet, die in ihrem Aufsatz über die gesellschaftliche Rolle von Witwen in der Gesellschaft des späten Mittelalters die Frage nach Emanzipation oder Marginalisierung dieser Witwen stellt. Einleitend weist sie auf das (generelle) Problem hin, moderne Begriffe wie »Emanzipation« als Analysekategorien für eine mittelalterliche Gesellschaftsordnung zu verwenden. Für mehr

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den religiösen Äußerungen von Agnes Blannbekin eine Form der Rebellion gegen die vorherrschende Geschlechterordnung sehen zu wollen. Sie jedoch als Mahnerin angesichts zeitgenössischer Entwicklungen und Machtstrukturen im kirchlichen Bereich, besonders innerhalb der Minoritengemeinschaft, zu verstehen, ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar geboten. Gerade topische Elemente wie der Schreib-/Äußerungsbefehl und der Verweis auf die Herkunft des erhaltenen Wissens sind klassisch und nötig, um ihr religiöses Äußern als Frau innerhalb der vorherrschenden Normen zu verorten. Die meisten visionär begnadeten Frauen beanspruchten keine Urheberinnenschaft hinsichtlich ihrer Aussagen, im Gegenteil, sie wiesen diese von sich und verstanden sich als Sprachrohr Gottes. Sie behaupteten zumeist, nur über Visionen oder andere Erfahrungen zu berichten, die ihnen von Gott eingegeben worden seien. Ganz explizit zeigt Elisabeth von Schönau (1129–1164) auf, dass nicht sie die Urheberin ihrer Texte, sondern ihr Körper ein Vehikel sei, um die göttliche Botschaft zu artikulieren: Wiederum am Mittwoch, als ich allein im Kapitelsaal war, fiel ich in Ekstase. […] Und ich sagte: ›Herr, ich weiß nicht zu sprechen und bin zögerlich beim Sprechen.‹ Und er sagte: ›Öffne deinen Mund, und ich werde sprechen, wer dich hört, hört auch mich.‹626

Gleichzeitig ist die Betonung der eigenen Unzulänglichkeit – im Fall der Agnes Blannbekin und ihres Beichtigers: der Unwürdigkeit – ein wiederkehrendes Motiv. Obgleich viele visionär begabte Frauen aus Bildungszentren kamen oder Zugang zu Bildung besaßen, unterstreichen sie in ihren Schriften ihre Ungebildetheit und Unwürdigkeit. Schreib-/Äußerungsbefehl, Bescheidenheitstopos oder die Ablehnung der Texturheberinnenschaft sind zumeist unabdingbare Elemente mit vielschichtigem Zweck: Die Verwendung dieser klassischen Erzählbausteine stellte den einzigen sozial anerkannten Weg dar, das Äußern von Frauen in religiösen Kontexten zu ermöglichen. Zugleich waren sie nötig, um das von Frauen geäußerte Wissen innerhalb des anerkannten religiösen Bereichs zu verorten. Es sei dazu siehe Claudia Opitz, Emanzipiert oder marginalisiert? Witwen in der Gesellschaft des späten Mittelalters, in: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, hrsg. Bea Lundt, München 1991, S. 25-48, hier: S. 25. 626 Elisabeth von Schönau, Visionsbuch, in: Elisabeth von Schönau, Die Werke, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Peter Dinzelbacher, hrsg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Florin, Kloster Schönau, Paderborn [u. a.] 2006, I c. 70, hier: S. 41. Lateinisches Original: Item in quarta feria, cum sola essem in capitolio cecidi in extasim. […] Et dixi: Domine, nescio loqui, et tarda sum ad loquendum. Et dixit: Aperi os tuum, et ego dicam, et qui audit te, audit et me (Elisabeth von Schönau, Visionen, in: Die Visionen und Briefe der heiligen Elisabeth sowie die Schriften der Aebte Ekbert und Emecho von Schönau. Nach den Original-Handschriften, 2., durch einen Nachtrag vermehrte und verbesserte Ausgabe, hrsg. Ferdinand Wilhelm Emil Roth, Brünn 1886, Visionen, I c. 70, hier: S. 33).

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

daran erinnert, dass vor allem Visionsberichte von Frauen, aber auch von Männern, kirchlicherseits kritisch geprüft wurden, da die Grenze zur Unterscheidung zwischen Heiligkeit und Häresie, zwischen göttlicher Eingebung und einem Besessen-Sein, auf einem schmalen Grat verlief.627 Des Weiteren minderten die Betonung der eigenen Unzulänglichkeit und der Hinweis auf die Urheberschaft Gottes nicht die Aussagekraft, sondern erhöhten vielmehr die Glaubwürdigkeit der Aussagen.628 Dies zeigt sich im Falle der Agnes Blannbekin besonders deutlich, wenn im Prolog betont wird, dass Gott sich besonders den Kleinen und Demütigen629 offenbare und diese dadurch besonders auszeichne. Zum Bescheidenheitstopos, der Selbstbezeichnung als Sprachrohr Gottes, der expliziten Betonung eigener Unwissenheit und dem Schreib-/Äußerungsbefehl treten auch hagiografische Elemente als unverzichtbare Bausteine einer Offenbarungsniederschrift. Eng verbunden mit dem Schreib-/Äußerungsbefehl ist die eigentliche Niederschrift, der Prozess des Schreibens, das häufig durch den Beichtvater, einen anderen Aufzeichner oder eine andere Aufzeichnerin (wie im Zisterzienserinnenkloster Helfta) geschah. Bei der Analyse des Prozesses tritt eine weitere Schwierigkeit der Einordnung weiblich-religiöser Äußerungen im Untersuchungszeitraum zu Tage: das »Beichtvater-Problem«.630 Beim Niederschreiben des visionären Erlebens von Frauen durch Andere verschmelzen unweigerlich die Grenzen des Gesagten und Geschauten mit dem Wissenshorizont des Aufzeichners oder der Aufzeichnerin. Dem intransparenten Verhältnis zwischen visionär begabter Frau und ihrem Beichtvater als Aufzeichner oder einer anderen Frau als Aufzeichnerin geht 1988 Ursula Peters nach. In ihrem kontrovers diskutierten Werk mit dem provokanten Titel »Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum« stellt sie in einem Kapitel die Frage nach der Entstehung frauenmystischer Texte und versucht, anhand ausgewählter Fälle Auskunft über Abfassungsprozesse zu erhalten. Zumeist sind textimmanente Informationen die einzigen, die weiterführende Auskünfte über den Verlauf der Niederschrift geben können. Peters fordert allerdings, textimmanente Angaben 627 Zahlreiche Beispiele von Frauen, deren Handeln unterschiedlich bewertet werden konnte, hat Peter Dinzelbacher zusammengestellt und beleuchtet; siehe dazu Peter Dinzelbacher, Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit, München [u. a.] 1995. 628 Siehe dazu Danielle Régnier-Bohler, Literarische Stimmen, mystische Stimmen, in: Geschichte der Frauen, 2: Mittelalter, hrsg. Christiane Klapisch-Zuber, editorische Betreuung der deutschen Ausgabe: Claudia Opitz, Frankfurt am Main [u. a.] 1993 (Lizenzausgabe: Berlin 2012; Original: Histoire des femmes en occident, 2: Le Moyen Âge, Paris 1991), S. 435-494, hier: S. 455. 629 Vis. c. virg., Prolog, S. 67; siehe dazu auch oben im Kapitel III.2.a. 630 Die Formulierung »Beichtvater-Problem« ist einem Aufsatz Anneliese Stoklaskas entnommen, die damit das Verhältnis zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater thematisiert; siehe dazu Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 14– 17.

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als Informationsquelle kritisch zu hinterfragen, da sie zumeist stereotype Vorstellungen über das Leben einer Visionärin rezitierten.631 Der Prozess der Entstehung frauenmystischer Texte und das dabei vorhandene Verhältnis zwischen Beichtvater oder Aufzeichner/-in und Visionärin könne nicht generell geklärt werden, sondern müsse von Fall zu Fall neu ergründet werden. Den Fall der Agnes Blannbekin und ihres Beichtvaters berücksichtigt Peters nicht.

III.3.d Einblick in den Interaktionsprozess In Kapitel 23 der Visionen einer gewissen Jungfrau gibt der Beichtvater ein Gespräch mit Agnes Blannbekin wieder, in dem sie versuchte, ihm zu erläutern, wie sie den Moment des Visionsempfangs wahrgenommen hatte. Diesen besonderen Moment Anderen jedoch mit Worten zu beschreiben, gestaltete sich für den Aufzeichner schwierig. So wusste Agnes Blannbekin auf die Frage, ob sie während der Vision innerhalb oder außerhalb ihres Körpers war, keine Antwort zu geben. Zugleich spielten Furcht und das Gefühl, der Visionserlebnisse unwürdig zu sein, eine Rolle. Die Furcht bezog sich nicht auf das Äußern, auf die Wiedergabe des Geschauten, sondern war vielmehr eine Furcht davor, von Gott wegen Mangels an Würdigkeit und Dankbarkeit verlassen oder schwer bestraft zu werden (ne eam dominus desereret vel graviter puniret632). Doch dann heißt es im selben Kapitel weiter: Nach dieser wunderbaren Offenbarung aber ist diese Furcht von ihr genommen worden, daß, wenn jene Furcht sie auch nur leicht anrühre, sie bald in der Seele eine geistliche Berührung spüre, die sie bestärke, als ob sie sagte: ›Fürchte nichts!‹ Und sie sagte, daß durch diese Stärkung die Güte Gottes mit solcher Süße sich in ihrer Seele forme, daß sie in die äußeren Sinne fließe und sich durch den ganzen Körper ausweite und sie um die Herzgegend Wärme spüre – ich jedenfalls glaube, dass sich der Heilige Geist dann in ihrem Herzen ausbreitet.633 631 Mehrere Leitfragen kennzeichnen Peters Analyse: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Visionärin und Beichtvater oder Aufzeichner/Aufzeichnerin? Gab es dabei ein erkennbares, vielleicht sogar wiederkehrendes Muster? Welche Rolle hatte der Beichtvater oder Aufzeichner/die Aufzeichnerin? War der Aufzeichner der Beichtvater der Visionärin und hatte sie schon davor über einen längeren Zeitraum hinweg seelsorgerisch begleitet? War der/die Aufzeichnende Übersetzer/-in vermutlich volkssprachlicher Aussagen ins Lateinische? Oder gab er/sie das Werk der Visionärin bearbeitet heraus? Daran anknüpfend, fragt Peters: Bestand ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Visionärin und Beichtvater oder Aufzeichner/Aufzeichnerin? Ihre Haltung zur Frage nach der Authentizität der aufgezeichneten religiösen Erfahrungen bringt Peters bereits mit der Wahl des Titels für ihre Untersuchung zum Ausdruck; siehe dazu auch Peters (wie Anm. 623), S. 194. 632 Vis. c. virg., Cap 23, S. 92. 633 Post hanc autem revelationem mirificam iste metus ita est ablatus ab ea, ut, cum ille metus vel leviter eam titillet, mox sentiat in anima spiritualem quendam tactum, ipsam confortantem,

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Die abschließende bekräftigende Kommentierung des Beichtvaters, die mit ich bzw. ego eingeleitet wird, bestärkt zum einen die von Agnes Blannbekin getroffenen Aussagen und legitimiert zugleich die Tätigkeit des Beichtvaters als geistlicher Beistand. Anhand des 23. Kapitels lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie der Beichtvater allgemein Dialoge mit Agnes wiedergibt. Sobald er etwas von ihr Geschautes berichtet, leitet er dies zumeist mit dixit ein, wobei sich die Verbform der dritten Person Singular auf die Jungfrau bezieht. Soll der Text eine Kommunikation zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater widerspiegeln, verwendet Letzterer verbale Ich-Formen, hier quaesivi, um seine eigenen Fragen oder Aussagen zu kennzeichnen. Die Antworten seines Beichtkindes werden darauffolgend mit respondit angeführt, sodass das dialogische Verhältnis transparent gemacht ist. An anderen Stellen fehlt allerdings eine einleitende Verbform der Äußerung, womit unklar bleibt, ob nun Agnes Blannbekin sprach oder der Beichtvater nachträglich ihre Emotionen formuliert oder sogar einen eigenen Kommentar abgibt. Diese Frage stellt sich besonders im letzten Textteil des Kapitels 23: Post hanc autem revelationem mirifica iste metus ita est ablatus ab ea, […]./Nach dieser wunderbaren Offenbarung aber ist diese Furcht von ihr genommen worden, […]. Erst ab et dixit ist wieder deutlich, dass nun eine Wiedergabe dessen folgt, was Agnes Blannbekin sagt. Eine eindeutige Kommentierung ihres Beichtvaters ist jedoch im letzten Satz erkennbar: ego utique credo, spiritum sanctum tunc diffundi in corde suo/ich jedenfalls glaube, dass sich der Heilige Geist dann in ihrem Herzen ausbreitet. Unklarheit darüber, ob ein Kommentar oder eine bloße Wiedergabe vorliegt, herrscht auch im 40. Kapitel. Die Sätze Est et aliud mirabile non minus isto. Consuevit illa puella […] deosculari altaria, […]. Et tunc tantam sensit odoris fragrantiam, […], sed incomparabiliter suavius.634 sind – bis auf den ersten – eine Beschreibung der Handlungen Agnes’, die ihr Beichtvater vornimmt. Darauf folgt die Wiedergabe einer ihrer Äußerungen, die mit Et dixit, […] eingeleitet wird. Die dann, leicht abgewandelt, wiederkehrende Bewertung als wunderbar (Et quod est valde mirabile, […]) scheint eine erneute Anmerkung des Beichtvaters zu sein, mit der er das nachfolgend Gesagte kommentiert, was wiederum mit […] dixit, […] eingeleitet wird. Damit die sprachlichen Äußerungen der Agnes quasi dicat: ›Nil timeas!‹ Et dixit, quod ista confortatione Dei bonitas tanta suavitate se format in anima sua, ut redundet in sensus exteriores et per totum corpus se dilatet, et circa praecordia sentiat calorem – ego utique credo, spiritum sanctum tunc diffundi in corde suo (Vis. c. virg., Cap. 23, S. 92 und 94 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 93). 634 Es gibt auch etwas anderes Wunderbares, nicht geringer als dieses. Es war jenes Mädchen gewohnt, […] die Altäre zu küssen, […]. Und dann spürte sie einen so großen Wohlgeruch, […], aber unvergleichlich süßer (Vis. c. virg., Cap. 40, S. 127 und (lateinisches Original:) S. 126).

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Blannbekin im Deutschen deutlicher von der Kommentierung des Beichtvaters zu unterscheiden sind, wäre eine Übersetzung von Et quod est valde mirabile, […] mit Und, was sehr erstaunlich ist, […] besser. Dies würde die Sprechebenen des kommentierenden Beichtvaters und der berichtenden Agnes Blannbekin präziser trennen. Es bleibt nicht nur hier, sondern generell zu fragen, ob diese Sprechebenen immer getrennt werden können. Waren die Personen nicht aufgrund ihres intensiven und stetigen Kontakts einerseits infolge ihres seelsorgerischen Verhältnisses und andererseits ihres partnerschaftlichen bei der Arbeit an der Aufzeichnung der Visionen miteinander verbunden? Und liegt die Überblendung der Sprechebenen deshalb vielleicht gerade im Interesse des Aufzeichners, im Interesse der Agnes Blannbekin oder im Interesse beider? Für den Interaktionsprozess aus Berichten, Hören und Niederschreiben der Visionen muss neben der protokollierten Kommunikation, die bereits erörtert wurde, die tatsächlich mündlich erfolgte in die Überlegungen miteinbezogen werden. Eine wesentliche Komponente bildet dabei die gesprochene Sprache. Im Fall der Agnes Blannbekin und ihres Beichtvaters kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Kommunikation volkssprachlich verlief, denn an einzelnen Stellen finden sich volkssprachliche Wortgruppen im Latein der Niederschrift. Im Kapitel 210 wird die Anweisung zur Anrufung des Blutes Christi mit folgendem vulgärsprachlichen Einschub wiedergegeben: ›Dic: Domine Jesu Christe, propter tuum amorem, fervidum sanguinem, id est, min heize bluet, adjuva me!‹635 Im Gegensatz zu den anderen Textteilen ist min heize bluet definitiv eine mittelhochdeutsche Wendung. An anderer Stelle kennzeichnet der Beichtvater die Verwendung eines volkssprachlichen Ausdrucks explizit. So im 52. Kapitel, wo er mit dem Wort Eisendach eine feste (Ton-)Masse benennt, aus der das zweite Herz (in einer Aufzählung von Herzen) gemacht sei: Secundum cor quasi de solida materia figulorum, quod dicitur in vulgari ›eysendach‹ […].636 Warum in Kapitel 210 die Variante min heize bluet ohne Kennzeichnung als volkssprachlich erscheint, ob eine Referenz auf einen geläufigen Ausdruck oder ein Zitat vorliegt, ist nicht erkennbar. Der Text der Visionen weist noch mehr volkssprachliche Ausdrücke ohne entsprechende Kennzeichnung auf.637 Es scheint so, als betrachtete der Beichtvater seine jeweils vorangestellten lateinischen Übersetzungen bzw. Umschreibungen für diese Ausdrücke nicht als adäquat. Darüber hinaus gibt es in

635 Vis. c. virg., Cap. 210, S. 434. 636 Vis. c. virg., Cap. 52, S. 142. 637 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap 31, S. 110: einen chriek; Vis. c. virg., Cap. 67, S. 168: ein seniger hunger; Vis. c. virg., Cap. 110/111/112, S. 252: Grizwertil; Vis. c. virg., Cap. 113, S. 254: gelust und Vis. c. virg., Cap. 188, S. 392: Zotocht sowie Eigennamen, etwa in Vis. c. virg., Cap. 227/ 228, S. 468: Erlolfus, sed Erenvol.

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der Niederschrift auch latinisierte volkssprachliche Begriffe, wie etwa stubae.638 Damit wird deutlich, dass die Kommunikation zwar in der Volkssprache verlief, die Niederschrift jedoch lateinisch erfolgte. Obgleich es bereits im 13. Jahrhundert volkssprachliche Berichte von Visionen gab (wie die der Mechthild von Magdeburg 1207–1282),639 stellte die Anfertigung derartiger Texte in lateinischer Sprache keine Seltenheit dar.640 Dass es allerdings zusätzlich eine volkssprachliche Version der Visionen Agnes’ gab, wie der erwähnte kurze Abschnitt in Joseph von Görres’ »Christliche[r] Mystik« nahelegt, kann nicht bestätigt werden.641 Dem Beichtvater oblag nicht nur die Aufgabe, die Visionsberichte niederzuschreiben, sondern auch, das in der Volkssprache Gehörte in Latein zu übersetzen. Es eröffnete sich ihm, wie jedem/-r Übersetzer/-in, damit auch ein Interpretationsspielraum, da keine Übersetzung eine vollends wortgetreue Übertragung zu bieten vermag. Inwieweit der Beichtvater diesen Spielraum nutzte, kann an einzelnen Stellen nur vermutet werden. Der Übersetzungsprozess förderte gewiss die Annäherung, wenn nicht gar Überblendung der Wissenshorizonte von Beichtvater und Jungfrau. Denn neben dem Seelsorge- und Arbeitsverhältnis kam im Fall der Agnes Blannbekin und ihres namenlosen Beichtvaters noch hinzu, dass er ihr auch als intellektueller Austauschpartner zur Verfügung stand: Er berichtet davon, wie er ihr Texte vorgelesen habe, etwa die Predigten Bernhards von Clairvaux zum Hohen Lied,642 oder wie sie über den katholischen Glauben diskutiert 638 Stubae bezieht sich in Vis. c. virg., Cap. 127, S. 284 zweimal als Genitivattribut auf fenestram: Et sic anxia aperuit fenestram stubae respicientem versus terram sive stratam, […]. Et aperta fenestra apparuit stella […], de qua porrigebatur quasi una candela ardens, […] quae per fenestram stubae dabat ei lumen […]. Das Stubenfenster befand sich dabei in einem Raum, der als privater Raum der Agnes Blannbekin verstanden werden kann, da sie sich dort nachts allein aufhielt. 639 Die Entstehung des religiösen Schrifttums in der Volkssprache charakterisiert der Historiker Klaus Schreiner als eine der nachhaltigeren Veränderungen der Literaturlandschaft des späten Mittelalters, die vor allem auf das Interesse von Frauen zurückzuführen sei. Schreiner vertritt die These, dass volkssprachlich-religiöse Schriften vor allem ab dem 13. Jahrhundert dort entstanden seien, wo sich eine weibliche Leserschaft herausgebildet habe, deren Interesse es gewesen sei, auch selbst zu schreiben und zu lesen; siehe dazu Klaus Schreiner, Die lesende und schreibende Maria als Symbolgestalt religiöser Frauenbildung, in: Die lesende Frau, hrsg. Gabriela Signori (Wolfenbütteler Forschungen, 121), Wiesbaden 2009, S. 113–154, hier: S. 139. 640 Das zeigt auch der Fall Angelas von Foligno, einer Zeitgenossin der Agnes Blannbekin, deren franziskanischer Beichtvater Frater Arnaldo die von Angela in italienischer Sprache erzählten Gnadenerlebnisse direkt in Latein übertrug. Ulrich Köpf weist darauf hin, dass sich darin dennoch zahlreiche latinisierte volkssprachliche Ausdrücke finden ließen; siehe dazu Köpf, Angela von Foligno (wie Anm. 560), S. 241. 641 Joseph von Görres erwähnt sie in seiner »Christliche[n] Mystik« und mag zwei Kapitel aus einer solchen Version präsentieren; siehe dazu Görres, Die christliche Mystik, 2 (wie Anm. 14), S. 242–245 und Abschnitt II.1.g dieser Studie. 642 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 118, S. 262–265.

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hätten.643 Bereits 1995 gibt Kurt Ruh im Zuge der Neuedition der Visionen durch Dinzelbacher und Vogeler zu bedenken, dass der Bildungsstand der Agnes Blannbekin nicht geklärt worden sei, sodass offen bleibe, ob sie des Lesens und Schreibens mächtig gewesen sei oder eine Ausbildung erfahren habe.644 In der Niederschrift gibt es neben Erwähnungen der Diskussionen und des Vorlesens auch Textpassagen, die etwas über Agnes’ Lesekompetenz aussagen könnten. Im 61. Kapitel wird beispielsweise eine Vision geschildert, der folgende Begebenheit vorgelagert ist: Nocte vero sequenti, cum matutinas legisset et quiescere vellet, facta est super eam manus domini […].645 Bevor also die Hand des Herrn über die Jungfrau kam, hatte diese noch die Matutin, das Nachtgebet, gelesen. Mehrere Kapitel wiederholen die Aussage, dass Agnes Blannbekin für sich zu dieser oder anderen Horen (Zeiten des Stundengebetes) gelesen habe.646 Der Beichtvater weist sogar in einem Kapitel explizit auf den erst kurz zurückliegenden Erwerb der Lesefähigkeit hin, was sich auch an der betreffenden Stelle auf das Lesen der Matutin bezieht: et medio tempore ipsa matutinum legebat.647 Bei der Interpretation ist aber Vorsicht geboten: Dass in der Quelle von Agnes’ Lektüre nächtlicher oder anderer Gebete die Rede ist, bedeutet nicht zwingend, dass sie die Fähigkeit besaß, Buchstaben zu identifizieren bzw. einzelne Wörter oder ganze Sätze tatsächlich abzulesen und dabei deren Sinn zu verstehen. In den angeführten Beispielen sind Einheiten des Stundengebetes erwähnt, die sie sicherlich aufgrund vielfacher Wiederholung gut memoriert hatte. Das Öffnen eines Buches ließe sich vor einem solchen Hintergrund auch als Gedächtnisstütze verstehen. In diesem Fall läge keine Lesekompetenz der Visionärin vor. Geht man von der Nachtragsnotiz in der Pez’schen Edition aus, wonach Agnes Blannbekin als Tochter eines Bauern in der Nähe von St. Pölten sozialisiert worden sei, so ist zu bedenken, dass die Bildungswege für junge Mädchen nicht-adliger Herkunft und vor allem in der ländlichen Peripherie sehr begrenzt gewesen sein dürften. Generelle und gesicherte Aussagen über ihre Bildungsmöglichkeiten zu treffen, ist schwierig.648 Je nach sozialer Schicht der Herkunftsfamilie standen den Mädchen 643 Post aliquot dies accidit, ut mecum sermocinaret de fide catholica (Vis. c. virg., Cap. 211, S. 434). 644 Siehe dazu Ruh, Rezension zu Leben und Offenbarungen (wie Anm. 331), S. 356–357. 645 Vis. c. virg., Cap. 61, S. 158–159. 646 Im Kapitel 76 las sie zur Matutin und auch zu anderen Horen: Ad matutinas quoque et ad alias horas, cum illas legeret […] (Vis. c. virg., Cap. 76, S. 184). Auch das schon zitierte Kapitel 127 berichtet, wie sie versuchte, die Matutin zu lesen. Da aber das Feuer im Haus schon erloschen war, gab es nicht genug Licht zum Lesen. Als sie aber das Fenster öffnete, leuchtete ihr ein Stern gerade so hell, dass sie das geöffnete Buch lesen konnte, obwohl die Buchstaben darin sehr klein waren; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 127, S. 282–285. 647 Vis. c. virg., Cap. 30, S. 108. 648 Ähnliches merkt auch Ulrich Köpf bei seiner Beschäftigung mit Angela von Foligno 1988 an: »Die Bildung der Frau im Mittelalter ist eines der wichtigsten Probleme jeder Beschäftigung

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

unterschiedliche Bildungswege offen. Ruh hält es für unzulässig, Agnes Blannbekin mit bekannten Visionärinnen aus Lüttich (wie Marie von Oignies, Ida von Gorsleeuw oder Juliane von Cornillon) zu vergleichen, da diese Frauen aus wohlhabenden familiären Verhältnissen gestammt sowie schon im frühesten Alter im Elternhaus und später in Beginengemeinschaften eine gute Bildung genossen hätten.649 Solche Aussagen sind jedoch mit Vorsicht zu treffen, weil, wie in Kapitel III.3.a ausgeführt, die soziale Herkunft und der Bildungsweg der Agnes Blannbekin völlig ungesichert sind. Ferner müssen Veränderungen im (Aus-)Bildungswesen von Domschulen bis zu Universitäten oder späteren Kaufmannsschulen und der Umstand berücksichtigt werden, dass Mädchen von diesen ausgeschlossen waren. Einen bedeutenden und nahezu kontinuierlichen Beitrag zur außerhäuslichen Erziehung und Bildung der Mädchen leisteten jedoch Frauenklöster. Dennoch stand auch der Zugang zu diesen Mädchen nicht unabhängig von ihrer sozialen Schicht offen und war zumeist an eine einmalige, ausreichend große ökonomische Spende gebunden.650 Über den Bildungsweg der Agnes Blannbekin weiter zu forschen, wie Ruh in der Bewertung von Dinzelbachers und Vogelers Edition anmahnt, ist nicht unbedingt zielführend. Vielmehr scheint es nötig zu bilanzieren, welches Bild der Beichtvater im fraglichen Kontext von seinem Beichtkind vermittelt. Einen Bildungsprozess vor seinem – oben genannten – Wirken schließt er gänzlich aus, und es ist ihm wichtig zu betonen, dass die Jungfrau, auch ohne diesen zu durchschreiten oder durchschritten zu haben, eine gewisse Lernfähigkeit und Wissbegierde besitze. Er zeigt ihr Bemühen, allein in der Nacht dem Beten nachzukommen – ob durch eigenes Lesen oder Wiederholung von vorher Memoriertem, sei dahingestellt. Weiterhin lässt der Beichtvater ein wechselseitiges Fürsorge-Verhältnis erkennen, denn laut dem 171. Kapitel berichtete er seinem Beichtkind, ihm sei die Gottesgnade entzogen worden, und bat die Jungfrau, für ihn Fürsprache einzulegen, was sie auch tat. Diese Passage soll im Folgenden noch erörtert werden. Hier sei die Bitte um Fürsprache lediglich angeführt, um aufzuzeigen, dass Agnes Blannbekin als Frau geschildert wird, die zwar nicht belesen und gebildet im schulischen Sinne, aber durchaus fähig und bereit sei, geistliche Literatur zu rezipieren und zu durchdenken. Diese Art der mit den religiösen Frauen und ihrer Literatur – ein Problem, das noch nicht umfassend untersucht worden ist und für dessen Erforschung die Quellenlage auch ziemlich ungünstig ist« (Köpf, Angela von Foligno (wie Anm. 560), S. 233). 649 Siehe dazu Ruh, Rezension zu Leben und Offenbarungen (wie Anm. 331), S. 356–357 und Ruh, Geschichte der Abendländischen Mystik, 2 (wie Anm. 2), S. 81–110. 650 Siehe dazu: Claudia Opitz: Erziehung und Bildung in Frauenklöstern des hohen und späten Mittelalters (12.–15. Jahrhundert) in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hrsg. Elke Kleinau und Claudia Opitz, Frankfurt am Main [u. a.] 1996, S. 63–77, hier: S. 66–67.

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Bildungsaffinität ist eine unerlässliche Voraussetzung für den Erhalt ihrer Visionen. Nicht selten weist der Beichtvater nach der Schilderung einer Vision darauf hin, dass die Jungfrau deren Sinn von sich aus verstanden habe.651 Obwohl der Beichtvater bemüht ist, das Bild einer Frau mit Bildungspotenzial zu skizzieren, entsteht dieses in seiner Niederschrift nur schemenhaft. Vielmehr verschwimmen im Text die Grenzen zwischen dem Wissen von Beichtvater und Beichttochter, obgleich selbst textimmanent unstrittig ist, dass er und sie eine unterschiedliche Bildung besaßen. Was sich allerdings zeigt, ist ein gemeinsamer Wissenshorizont, der sich aufgrund des Interaktionsprozesses und der Translation ins Lateinische formte.

III.3.e Das Beichtverhältnis: eine wechselseitige Beziehung Obgleich die Jungfrau bei ihren Besuchen zahlreicher Gotteshäuser Wiens652 größte Mobilität zeigte, bildete die ecclesia fratrum, die Kirche der (Minder-) Brüder, ihren spirituellen Mittelpunkt. Dies bestätigen Erwähnungen ihrer dortigen Anwesenheit zu unterschiedlichen Feiertagen und Gebetszeiten sowie das häufig verwendete reversa, mit dem ihr Zurückkehren zur Kirche der Brüder beschrieben wird.653 Darüber hinaus scheint die Jungfrau auch in die Gebetsgemeinschaft der Brüder eingebunden gewesen zu sein. Ohne Zweifel kam dem Beichtvater dabei aufgrund seines besonderen Vertrauens- und Bezugsverhältnisses zur Visionärin eine exponierte Rolle zu. Im Kapitel 166 beteuert Agnes Blannbekin ihre Nachlässigkeit darüber, in der falschen Kirche den Gottesdienst gefeiert zu haben und nicht wie ursprünglich vereinbart, ihrem Beichtvater in eine andere Kirche gefolgt zu sein.654 Die Beziehung zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater hatte sich intensiviert; ebenfalls im 166. Kapitel wird berichtet, in welchem Maße: 651 So beispielsweise im Kapitel 26, wo es abschließend heißt: Hujus visionis intellectum ipsa, quae vidit, intellexit (Vis. c. virg., Cap. 26, S. 100). An anderer Stelle heißt es hingegen: Hujus visionis intellectus datus est ei, und es folgt dann eine Erklärung der Vision; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 24, S. 96. 652 Zu den besuchten Gotteshäusern siehe Anm. 465. 653 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 72, S. 176: Ante festum palmarum, cum audiret missam privatam in ecclesia fratrum […]; Vis. c. virg., Cap. 86, S. 202: Sequenti die veniens mane ad ecclesiam ante primam fratrum […] und Vis. c. virg., Cap. 230, S. 474: In purificatione communicavit se, et percepta consueta consolatione spiritus, post missam publicam fratrum desiderabat ire et visitare ecclesias per civitatem propter indulgentiam, propter quam semper fuit sollicita. Unde accidit, ut sic eundo corporaliter fatigata minus spiritualem sentiret consolationem, quam abundanter ei dominus dabat in die, quando communicavit. Reversa tandem ad ecclesiam fratrum visitavit altaria singula more solito ea deosculando […]. 654 In die beati Antonii, cum vellet communicare credens, quod ejus confessor, qui solitus erat eam communicare, vellet missam dicere in monasterio sancti Jacobi – nam ibi promiserat se

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

Ihr Beichtiger war nämlich gut acht Tage lang weggewesen, und sie versäumte es mittlerweile, einem anderen zu beichten, kommunizierte auch nicht, obwohl es doch ein Fest war, an dem die übrigen andächtigen Personen kommunizierten.655

Gegenüber der Selbstbezeichnung des Beichtvaters mit ego im Prolog und an anderen Stellen bildet die oben angeführte Passage eine Ausnahme, da hier die Formulierung ihr Beichtiger anstatt der Ich-Form verwendet wird. Es ist davon auszugehen, dass der Beichtvater so versucht, eine Distanz zwischen sich als Schreiber und als Beichtvater zu erzeugen. Wie zu sehen sein wird, verwendet er einige Kapitel später jedoch erneut Formen der ersten Person Singular. Dinzelbacher und Vogeler übersetzten in ihrer Neuedition diesen Abschnitt folglich so, dass Agnes Blannbekin in der Zeit der Abwesenheit des Beichtigers nicht gebeichtet und auch nicht kommuniziert hatte, weil sie es mittlerweile gewohnt war, dies ausschließlich bei ihrem Beichtiger zu tun. Dieser Interpretation von medio tempore als mittlerweile kann nicht ganz zugestimmt werden, da mit medio tempore wohl eher die Zeit der Abwesenheit gemeint ist. Was jedoch an dieser Stelle zweifellos deutlich wird, ist die enge Bindung, die zwischen Beichtkind und -vater bestand. Dass dieses intime Beichtverhältnis nicht nur einseitig, sondern reziprok war, zeigt das Kapitel 171: Zu einer bestimmten Zeit ging ich traurig einher wegen des Entzugs der Gottesgnade. Denn gleichsam im Geiste erschlaffend vermochte ich nicht, mein Herz zu himmlischem Sehen zu erheben noch zu andächtigen Gefühlen zu drängen. Doch, als ich dies annahm, als ob ich eine Zurückweisung duldete, verblieb ich mir selbst wie ein trockenes Holz. Ich legte auch dieser Jungfrau meine Bedrängnisse dar. Sie nämlich kam mir öfter mit der Unterstützung ihrer Gebete in ähnlichen Nöten zu Hilfe. Und es wurde ihr vom Herrn gesagt, daß diese Verzweiflung mir wegen meiner Sünden geschehen sei, […].656

Dabei wird das Seelsorgeverhältnis umgekehrt, in dem traditionellerweise das Beichtkind vom Beichtvater in geistlichen Nöten begleitet wird sowie Trost und Ratschläge erhält. In dem hier beschriebenen, wiederkehrend auftretenden Fall wandte sich der Beichtvater Hilfe suchend an sein Beichtkind, das ihn dann mit in mane praedicaturum – ipsa ivit ad dictum monasterium. Hoc autem nescivit ejus confessor credens eam esse in ecclesia fratrum. Ibi legit missam et volens eam communicare, illa non comparuit. Et sic, communione neglecta, nimis tristis efficitur (Vis. c. virg., Cap. 166, S. 346). 655 Confessor enim ejus defuerat bene per octo dies, et ipsa medio tempore neglexit alteri confiteri nec communicavit, cum tamen esset festum, quo caeterae devotae personae communicaverunt (Vis. c. virg., Cap. 166, S. 348). 656 Quodam tempore ego tristis incedebam propter subtractionem dei gratiae. Nam quasi languens spiritu non valebam cor meum elevare ad desideria coelestia nec applicare ad devotas affectiones. Sed quoniam haec acceptabam quasi repulsam patiens, relinquebar mihi ipsi quasi lignum aridum. Ego quoque huic virgini meas miserias exposui. Ipsa enim saepius subveniebat mihi suarum orationum suffragiis in similibus necessitatibus. Dictumque est ei a domino, quod haec mihi accidisset desolatio propter peccata mea, […] (Vis. c. virg., Cap. 171, S. 356 und (deutsche Übersetzung:) S. 357).

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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Gebeten unterstützte (subveniebat […] suarum orationum suffragiis). Gleichwohl handelte es sich keineswegs um einen Kompetenzverlust eines Beichtvaters, vielmehr wurde hier die gnadenreiche Stellung der Visionärin in den Vordergrund gerückt. Die Jungfrau konnte, wie jede/r andere Gläubige auch, fürbittendes Gebet leisten; was sie jedoch zu einer begnadeten Person machte und als solche auszeichnete, war das Erhalten einer göttlichen Antwort auf ihr Anliegen (Dictumque est ei a domino). Der Beichtvater berichtet, dass ihr direkt von Gott gesagt worden sei, was der Grund für seine (des Beichtvaters) Notlage sei, nämlich seine Sünden (propter peccata mea) – eine Begründung, die ausdrücklich das Beichtverhältnis umkehrte sowie die Jungfrau zur Mediatrix zwischen Gott und ihrem sündigen und geständigen Beichtvater machte. Allerdings wurde das Geständnis nicht nur der Jungfrau anvertraut, sondern die Beichte mittels der niedergeschriebenen Visionen geradezu demokratisiert und öffentlich, indem zeitgenössische wie zukünftige Lesern/-innen erfuhren und erfahren, warum den Beichvater Verzweiflung heimgesucht habe, nämlich, weil ich mich allzu sehr aus Herz und Zuneigung zur Versöhnung der Frau Herzogin hingegeben hatte wegen einer gewissen Betrübnis, aufgrund derer sie sich gegen die Brüder wandte, und weil ich darum allzu sehr zerstreut gewesen war wegen der Herrlichkeit und Würde ihrer … Es gab auch eine andere Sünde, nämlich als ich im Chor sang und hätte innen mit Gott sein müssen, ich zurückblickend manches sah, worüber ich zu großes Mißfallen und Verdruß hatte. Die erste Sünde, vermutete ich selbst sehr wohl, sei der Grund meiner Verzweiflung, die zweite hatte ich nicht bemerkt, aber als sie mir dies gesagt, da erkannte ich wohl, daß ich unter den Horen Verdruß gehabt und ungeduldig einen gewissen Novizen getadelt hatte. Und als sie mir dies berichtete hatte, bat ich sie, da ich meine Armut und Armseligkeit sah, daß sie für mich den Herrn wegen meiner Armseligkeit bäte und daß er sich meiner erbarme und mich zu einem guten Bruder mache.657

Die Sünden und alltäglichen Verfehlungen des Beichtvaters, die für den Entzug der Gottesgnade verantwortlich waren, wurden der Jungfrau gezeigt, woraufhin sie diese dem Beichtvater mitteilte. Auf Ersuchen des sich dann seiner Sünden bewusstwerdenden Beichtvaters legte sie für ihn Fürbitte ein, damit Gott ihn zu 657 […], videlicet quod me nimis ex corde et affectu dedissem ad placandam dominam ducissam super quadam turbatione, qua ducebatur contra fratres. Et circa hoc nimis distractus fuissem propter solemnitatem suae … + et dignitatem. Aliud quoque fuit peccatum, videlicet quod, cum cantarem in choro et debuissem fuisse intus cum deo, respiciens aliqua vidi, de quibus nimiam displicentiam et indignationem habui. Primum peccatum ego ipse bene opinabar esse causam desolationis meae. Secundum non adverteram; sed postquam ipsa mihi hoc dixit, tunc bene adverti me infra horas habuisse indignationem et impatienter quendam novitium reprehendisse. Cumque mihi haec retulisset, ego videns paupertatem et miseriam meam, rogavi eam, ut rogaret pro me dominum super miseriis meis, et ut misereretur mei et ut faceret me bonum fratrem (Vis. c. virg., Cap. 171, S. 356 und 358 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 357 und 359).

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

einem guten Bruder machen möge (ut faceret me bonum fratrem). Daraufhin erhielt sie betend folgende Antwort, was erneut ihre Stellung als Mittlerin in der Kommunikation mit Gott unterstreicht: ›Was forderst du? Wenn er will, daß ihm nichts schade, dann ist es nötig, daß er selbst nichts werde.‹ Dieses Wort aber verstand sie nicht und wunderte sich, was es denn sei, oder auf welche Weise er nichts werden sollte. Und als sie dies schweigend in ihrem Herzen überlegte, hörte sie die Stimme in ihr sagen: ›So soll er zu Nichts sich machen, daß er, vor allem um sich selbst Sorge tragend, über seine Besserung wache. Und was immer seinen Fortschritt und seine Besserung hindert, möge er zurückweisen und sich (davor) hüten, d. h. es nicht lieben.‹ Ich meine, daß dieser Sinn mit den Worten des Heilands im Evangelium übereinstimmt: ›Wer seine Seele heil machen will, soll sie verlieren, und wer sie meinetwegen verlor, wird sie heil machen‹.658

Die erste Antwort, nach der der Beichtvater selbst Nichts werden solle (ut ipse nihilum fiat), verstand sie nicht (Hoc autem verbum ipsa non intellexit). Daraufhin sprach die göttliche Stimme ein zweites Mal in ihr. Dass die Unfähigkeit der Jungfrau geschildert wird, die göttliche Botschaft selbständig zu verstehen, ist hier kein versteckter Verweis auf den Bildungsstand der Mittlerin. Vielmehr stellt es ein deutliches Zeichen dafür dar, dass der Mensch von sich aus generell nicht in der Lage ist, die göttliche Botschaft zu hören – soll heißen: sie zu begreifen, ja intellektuell zu verstehen –, und es des göttlichen Zutuns bedarf. Von göttlicher Seite wurde deshalb erläutert, wie man selbst zum Nichts werde, um keinen Schaden zu nehmen, nämlich indem man, um sich selbst besorgt, auf die eigene Besserung bedacht sei und alles, was sie behindere, zurückweise bzw. es nicht liebe (ut prae omnibus sui ipsius curam gerens, invigilet super emendatione sui et, quidquid profectum vel emendationem ipsius impedit, recuset et caveat, id est, non amet). Diese von Gott erhaltene Anweisung vergleicht der Beichtvater mit einer ähnlichen Stelle aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 16,25), an der Jesus zu denjenigen spricht, die ihm nachfolgen wollen: Qui enim voluerit animam suam salvam facere, perdet eam: qui autem perdiderit animam suam propter me, inveniet eam./Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.

658 Ipsa autem orans accepit responsum tale: ›Quid postulas? Si vult, ut nihil sibi noceat, tunc necesse est, ut ipse nihilum fiat.‹ Hoc autem verbum ipsa non intellexit et mirabatur, quidnam esset, vel quomodo deberet nihilum fieri. Cumque haec tacita in corde revolveret, audivit vocem dicentem sibi: ›Sic debet redigi in nihilum, ut prae omnibus sui ipsius curam gerens, invigilet super emendatione sui et, quidquid profectum vel emendationem ipsius impedit, recuset et caveat, id est, non amet.‹ Ego hunc sensum convenire puto cum verbis salvatoris in evangelio: ›Qui voluerit animam suam salvam facere, perdet eam, et qui perdiderit eam propter me, salvam eam faciet‹ (Vis. c. virg., Cap. 171, S. 358 und (deutsche Übersetzung:) S. 359).

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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Gott fügte, an die Jungfrau gewandt, auch Folgendes hinzu, was der Beichtvater gleichfalls kommentiert: ›Jene Seele hat Freuden, die traurig wird über ihrem Schaden, d. h. über dem Schaden der Seele.‹ Dies, glaube ich, ist auch ihretwegen gesagt worden, denn sie selbst war damals auch traurig, deshalb weil sie weniger als gewöhnlich vom Herrn heimgesucht wurde. Auch wegen ihrer Fehler, wie klein auch immer (sie waren), wurde sie häufig äußerst verwirrt.659

Hier vermischen sich wieder der Bericht der Jungfrau über den Ablauf der göttlichen Botschaft und die Kommentierung des Beichtvaters, der vermutet, Gott habe die Anmerkung über die Seelen, die ihren Schaden bedauern, auch wegen der Jungfrau hinzugefügt. Der Beichtvater erzählt weiter, auch die Jungfrau sei – wohl impliziert: wie er selbst – damals traurig gewesen, und zwar weil sie weniger Visionen empfangen habe; sogar wegen kleiner Verfehlungen ihrerseits sei sie oft innerlich zutiefst aufgewühlt worden (Super suis etiam defectibus quantumlibet parvis ipsa frequenter plurimum turbabatur). Deutungsoffen bleibt, ob er mithilfe des Beispiels der Jungfrau versucht, seinen eigenen Zustand während des zeitweisen Entzugs der Gnade zu relativieren oder seinem Publikum weitere – tröstliche – Informationen über das Gnadenleben seines Beichtkindes zukommen zu lassen und zu diesem Zweck erwähnt, dass selbst sie von zeitweiligem Gnadenentzug betroffen gewesen sei.

III.3.f Verwobene Kommunikation Die vorangegangenen Kapitel hatten das Ziel zu klären, wie sich der Interaktionsprozess zwischen Agnes Blannbekin und ihrem Beichtvater gestaltete. Eine erste Überlegung veranschaulichte die Einflussnahme franziskanischer Werte, die sich in den Visionen der Jungfrau spiegeln. Wie gezeigt wurde, muss der Interaktionsprozess als vielschichtiges Gebilde betrachtet werden, das mehrere Beziehungsebenen beinhaltet: zum einen diejenige des Arbeitsverhältnisses, das für das Entstehen des Werkes, also das Niederschreiben bzw. Verfassen der Visionen, grundlegend war. Die Prozessualität der Abfassung mystischer Texte betont der Mediävist Freimut Löser, der entgegen früheren Studien den Prozesscharakter der Entstehung eines mittelalterlichen Werkes nicht erst von der (handschriftlichen) Überlieferung an ergründet, 659 Adjecit quoque dominus dicens: ›Illa anima habet delitias, quae tristatur super damno suo, id est animae damno.‹ Hoc quoque credo propter eam dictum. Nam ipsa tunc tristis etiam fuerat, eo quod minus solito a domino visitaretur. Super suis etiam defectibus quantumlibet parvis ipsa frequenter plurimum turbabatur (Vis. c. virg., Cap. 171, S. 358 und (deutsche Übersetzung:) S. 359).

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Charakteristiken: Agnes Blannbekin und ihr Beichtvater

sondern bereits hinsichtlich der eigentlichen Textproduktion.660 Der Textentstehung von »Schriftmystik«661 vorgelagert und gleichzeitig eingeschrieben sind die Bedingungen weiblich-religiösen Sich-Äußerns. Wie gezeigt wurde, bedurfte es dazu im Falle der Visionen einer gewissen Jungfrau eines doppelten göttlichen Schreib- bzw. Sprechbefehls: Einerseits erhielt die Jungfrau auf sehr individuelle Weise – durch die einzigartige Erfahrung der Vorhaut Christi auf ihrer Zunge – die Bestätigung, über ihre Visionen sprechen zu dürfen, und andererseits erhielt ihr Beichtvater die Erlaubnis, über das ihm Anvertraute zu berichten, obgleich er sich selbst als dessen unwürdig erachtete. Lediglich in der Kooperation der beiden, der Jungfrau und ihres Beichtvaters, der dann als Aufzeichner fungierte, konnte sich der göttliche Auftrag erfüllen, die Visionserfahrungen weiterzugeben. Damit verbunden waren weitere Prozesse: so etwa Versuche, mystische Erfahrung, die sich dem sprachlich Rationalen entzieht, sag- und schreibbar zu machen. Mit der daran anschließenden schriftlichen Fixierung vollbrachten die beiden Beteiligten eine doppelte Übertragungsleistung: eine Transformation von einer mündlichen auf eine schriftliche Ebene und von Vernakular- in lateinische Schriftsprache. Bei der Analyse des entsprechenden Arbeitsprozesses wurde deutlich, dass der Text lediglich an einigen Stellen, wie beispielsweise bei der Wiedergabe von Gesprächssituationen anhand von Fragen, bei der Verwendung volkssprachlichen Vokabulars oder bei bewussten Kommentierungen, Einblick in die Interaktion zwischen den Textproduzierenden gewährt. Deutlich wurde hingegen die Überblendung der beiden im Text. Gründe dafür lassen sich in ihrer parallel zum Arbeitsprozess existierenden Seelsorgebeziehung finden, die mehr war als ein einseitiges Beichtverhältnis mit klarer Rollenverteilung zwischen Beichtvater und -kind. Die Praxis gegenseitiger Seelsorge überdeckt, wer Träger oder Trägerin eines bestimmten Wissens war, sodass nicht von einer einseitigen Prägung durch den Beichtvater und dessen redaktionellen Eingriffen zum Nutzen franziskanischer Spiritualität und Werte gesprochen

660 Lösers Ansatz fragt nach den Vorstellungen und Konzepten, die sich im Text erkennen lassen, nach den Positionen von Autor und Medium bis hin zum Rezipienten; siehe dazu Freimut Löser, ›Schriftmystik‹. Schreibprozesse in Texten der deutschen Mystik, in: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010, hrsg. Eckart Conrad Lutz, Susanne Köbele und Klaus Ridder (Wolfram-Studien. Veröffentlichungen der Wolfram von EschenbachGesellschaft, 22), Berlin 2012, S. 155-201, hier: S. 158–159 und S. 198–199. 661 Auch in diesem Kontext ist es aufschlussreich, sich dem Forschungsanliegen Lösers anzuschließen, der unter »Schriftmystik«, anders als Alois Haas, die für nachfolgende Generationen greifbare Mystik versteht, die schriftlich verfasst und überliefert ist sowie dabei, bewusst oder unbewusst, Bedingungen der Schriftlichkeit widerspiegelt; siehe dazu Löser (wie Anm. 660), S. 158–159.

Verwobene Kommunikation zwischen Beichtvater und Jungfrau

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werden kann.662 Vielmehr gestaltete sich die geistliche Betreuung mutuell, ohne dass der Beichtvater einen Autoritätsverlust erlitt oder die Jungfrau über alle Selbstzweifel erhaben war. In der Niederschrift verschwimmt die Grenze zwischen dem Eigenanteil des Beichtvaters und den Berichten der Jungfrau, was entgrenzte Äußerungen jenseits sozialer Normen und Rollen sowie bestehender Räume ermöglichte. Gleichzeitig waren diese, Sprechen und Schreiben, die nötigen Bedingungen für die Begegnung des Beichtvaters mit der Jungfrau Agnes Blannbekin sowie ihrer Persönlichkeit, ihren Visionen und ihrer religiösen Individualität, die sich im Äußerungsprozess manifestierten.663

662 Der Frage der männlichen Einflussnahme auf die Produktion von Texten weiblicher Urheberschaft geht auch Coakley nach; siehe dazu John Coakley, Women’s Textual Authority and the Collaboration of Clerics, in: Medieval Holy Women in the Christian Tradition, c. 1100–c. 1500, hrsg. Alastair J. Minnis und Rosalynn Voaden (Brepols Collected Essays in European Culture, 1), Turnhout 2010, S. 83-104. 663 Löser ist der Auffassung, dass erst durch den Schreibprozess der Moment der Offenbarung Wirklichkeit werde; siehe dazu Löser (wie Anm. 660), S. 199.

IV.

Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

›Olfaktorik‹ und ›Entgrenzung‹ sind die Leitkategorien für die nachfolgende Analyse der Visionen einer gewissen Jungfrau, die sich in drei Abschnitte gliedert. Ausgehend von der Betrachtung aller Sinne, wird im ersten Kapitel aufgezeigt, welche Möglichkeiten die Bedeutung des Geruchs bzw. Geruchssinns in Kommunikation und Begegnung eröffnet. Das zweite Kapitel widmet sich dem aktiven Riechen als Frömmigkeitspraktik und Gotteserfahrung. Auf olfaktorischen Spuren bewegt sich dann das dritte Kapitel, das sich dem sozialen Geruch und dessen Bedeutung zuwendet. In allen drei Kapiteln wird diskutiert, wie sich Entgrenzung im Olfaktorischen äußert.

IV.1 Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott Auf der Suche nach den Sinnen in den Visionen der Agnes Blannbekin trifft man zunächst auf zwei Verbildlichungen: die Spielleute und den Spiegel. Aus dem Kontext gerissen, verwirren beide, doch in der Analyse wird deutlich, dass diese Sprachbilder die Kommunikationsrichtung bei der Sinneswahrnehmung deutlich erfassen. Die nachfolgenden zwei Unterkapitel (IV.1.a und IV.1.b) greifen diesen Aspekt auf und betrachten dabei außerdem die Bewertung der Sinne sowie deren Hierarchisierung in den Visionen einer gewissen Jungfrau. Das dritte Unterkapitel (IV.1.c) wendet sich dem Geruchssinn bzw. Geruch zu und diskutiert die inhärenten Möglichkeiten der Entgrenzung im Olfaktorischen und durch das Olfaktorische.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

IV.1.a Die Spielleute und die Sinne Eine erste Erwähnung und Beschreibung der Sinne findet sich in den Visionen der Agnes Blannbekin eingebettet in eine Erzählung, die eine süße und liebliche Stimme (vocem dulcem et suavem) zum Gegenstand hat. Es handelt sich um eine Vision, die sich über mehrere Kapitel erstreckt und damit beginnt, dass die Jungfrau sich der Kontemplation widmen wollte, wobei sie im Körper und wohl besonders der Brust einen wunderbaren Andachtsbrand (mirum incendium devotionis) verspürte.664 Die süße Stimme fragte die Jungfrau zunächst: ›Willst du wissen, was Gott in der Seele ist?‹ (›Vis nosse, quid deus sit in anima?‹)665 Darauf wusste die Jungfrau aber nichts zu antworten, woraufhin die Stimme erklärte: ›Deus est in anima esuries languens, id est, ein seniger hunger, cum laeto corde‹.666 Auf zweifache Weise ist Gott in der Seele als eine sehnsuchtsvolle Begierde ausgedrückt, und zwar sowohl als verlangender Hunger auf Latein als auch durch eine der mehrfach eingestreuten volkssprachlichen Formulierungen, seniger Hunger. Die Paarung von Hunger und Sehnsucht drückt Begehren und Bedürftigkeit doppelt aus, die beide nur durch Gott gestillt werden können. Die süße Stimme fragte die Jungfrau dann: ›Willst du wissen, was der in der Seele befindliche Gott bewirkt?‹ (›Vis nosse, quid deus existens in anima operetur?‹)667 Als die Jungfrau auch diesmal schwieg, führte die Stimme ein Bild aus, das den in der Seele wirkenden Gott als König (Deus rex) darstellt, der in seinem Reich richtet. Gott wird dabei als ein Operator, ein Akteur in der Seele, angesehen. Als ein solcher, so die süße Stimme weiter, habe er wie ein weltlicher Herrscher Pflichten zu erfüllen: Er halte Rat, richte über Vergehen und könne Gnadengeschenke verteilen. Gleichzeitig zeige er sich der Seele so vertraut wie der Bräutigam der Braut. Anschließend werden drei Menschen(gruppen) besonders hervorgehoben, denen Gott als König Geschenke spendet. Es sind die Ritter, die Spielleute und schließlich die Braut. Die Ritter werden als jene beschrieben, die den Gott König dreifach ehrten: durch ihre Würde oder Vornehmheit (dignitate […] sive nobilitate), ihre Stärke (strenuitate) und ihre Treue (fidelitate). Deshalb schenke Gott seinen Rittern eben diese drei Tugenden für ihre Seele in der Beziehung zu Gott.668 664 In der Edition Dinzelbachers und Vogelers beginnt die Vision im Kapitel 67 und erstreckt sich bis einschließlich Kapitel 70. In der Lilienfelder sowie der Zwettler Handschrift sind die Kapitel ab 67 bis einschließlich 70 zu einem zusammengefügt. 665 Vis. c. virg., Cap. 67, (deutsche Übersetzung:) S. 169 bzw. (lateinisches Original:) 168. 666 Vis. c. virg., Cap. 67, S. 168. 667 Vis. c. virg., Cap. 67, (deutsche Übersetzung:) S. 169 bzw. (lateinisches Original:) 168. 668 ›Rex etiam largitur dona tribus generibus hominum: militibus, mimis, et sponsae suae. Deus rex tripliciter honoratur in suis militibus, scilicet in dignitate eorum sive nobilitate, in eorum

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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Als nächste Gruppe nannte die süße Stimme die Spielleute: ›[…] Die Spielleute sind die fünf Sinne, die loben, tadeln, mit neuen Liedern aufheitern. Sie tadeln, indem sie von der Seele Laster bezeugen, die ihr durch die fünf Sinne bekannt werden. Sie loben, indem sie der Seele nachahmbare Tugenden anbieten, die sie an guten Menschen wahrnehmen und sehen. Ergötzliche Lieder singen sie, indem sie die Seele zu andächtigen Seufzern treiben durch das, was sie außen aufnehmen. […]‹.669

Anders als bei den Rittern handelte es sich bei den Spielleuten um keine sozial anerkannte Gruppe. Vielmehr zählten sie zu den sozial Marginalisierten, die innerhalb der mittelalterlichen Gemeinschaft als unehrlich galten. Die Gruppe der Unehrlichen umfasste Menschen, die bestimmte Tätigkeiten ausübten und in Gewerbezweigen tätig waren, denen die Anerkennung als ehrliche Beschäftigung und ebenso die zünftische Vereinigung versagt blieb. Auf der Grundlage zeitlich, konjunkturell und regional divergierender Richtlinien erwähnt die Sekundärliteratur ein wechselhaftes Konglomerat unehrlicher Berufe. Zumeist zählten dazu aber Henker, Totengräber, Abdecker, Hundefänger, Schäfer, Gassenkehrer, Prostituierte und eben auch Spielleute.670 Die Zuweisung der Unehrlichkeit bezog sich dabei nicht nur auf die Dauer der Tätigkeitsausübung, sondern war familiär übertragbar. Denn bereits durch die Geburt als Sohn oder Tochter unehrlicher Leute galten auch deren Kinder als unehrlich, weshalb sie, wie ihre Eltern, schmutzige und auch unehrenhafte Arbeiten verrichten mussten.671 Diese zugrundeliegende Auffassung erzeugte eine nachhaltige soziale Abgrenzung und Immobilität. Gleichzeitig handelte es sich bei den oben genannten unehrlichen Tätigkeiten um unabdingbare Dienstleistungen in einer funktionierenden Gesellschaft. Dies änderte jedoch nichts an der Bewertung der Tätigkeiten und der sie ausübenden Menschen als schandbar sowie am gesellschaftlichen Zwang zur strenuitate, in eorum fidelitate. Unde haec tria donat deus suis militibus: Dignitas seu nobilitas animae, quam deus dat et qua ipse in anima honoratur, est puritas et munditia. […]‹ (Vis. c. virg., Cap. 68, S. 170 und (deutsche Übersetzung:) S. 171). 669 ›[…] Mimi sunt quinque sensus, qui laudant, vituperant, novis cantilenis exhilarant. Vituperant, cum de anima testantur vitia, quae ei innotescunt per quinque sensus. Laudant, cum animae offerunt virtutes imitabiles, quas percipiunt et vident in bonis hominibus. Delectabiles cantationes cantant, cum animam ad devota suspiria exercent per haec, quae foris percipiunt. […]‹ (Vis. c. virg., Cap. 68, S. 170 und (deutsche Übersetzung:) S. 171). 670 Auf die Schwierigkeiten einer typologischen Erfassung aufgrund widersprüchlicher Quellenaussagen und sich wandelnder Richtlinien macht unter anderem Hartung aufmerksam; siehe dazu Wolfgang Hartung, Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff, in: Städtische Randgruppen und Minderheiten. 23. Arbeitstagung in Worms, 16. – 18. November 1984, hrsg. Bernhard Kirchgässner (Stadt in der Geschichte, 13), Sigmaringen 1986, S. 49–114, hier: S. 51. 671 Mit Bezug auf die Überlegungen Danckerts zeigt dies deutlich Hergemöller auf; siehe dazu Bernd-Ulrich Hergemöller, Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft – Einheit und Vielfalt, in: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, hrsg. Bernd-Ulrich Hergemöller, Warendorf 1990, S. 1–51, hier: S. 25.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Ehrlosigkeit oder am Ausschluss aus Zünften. Prototypisch für diese Ambivalenz zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit und gleichzeitiger Stigmatisierung waren die Spielleute. Bei den mimi, histriones oder iocatores handelte es sich um eine Gruppe von Personen, die heterogene Tätigkeiten im unterhaltenden Gewerbe ausübten.672 Die dafür gewählten lateinischen Bezeichnungen und deren deutschsprachige Übersetzungen mit Spielleute, Gaukler, Schauspieler, Tänzer oder fahrendes Volk können aber nicht das ganze Repertoire der von den Betreffenden ausgeübten Tätigkeiten erfassen. Gemeinsam war den Spielleuten neben der Einstufung als unehrlich auch die ablehnende Haltung, mit der ihnen in theologischen Traktaten begegnet wurde. Die negative Einstellung zu Spielleuten lässt sich in unterschiedlichen Texten christlicher Autoren erkennen. Für Augustinus stehen Schauspieler und Spielleute auf einer Stufe mit Prostituierten. In seinem Traktat De fide et operibus heißt es: […] Dirnen und Schauspieler und alle, die erwerbsmäßig ein schändliches Gewerbe öffentlich ausüben, [werden] nur nach Auflösung oder Zerreißung solcher Bande zu den christlichen Sakramenten zugelassen.673

Nicht nur Augustinus erwähnte den Ausschluss der Spielleute aus der christlichen Gemeinschaft durch Versagung der Sakramente. Wie Wolfgang Hartung aufzeigt, lässt sich die »Tradition der Verdammung«674 von den Texten der Kirchenväter bis ins Hochmittelalter verfolgen. Die Lebensweise der horizontalen Mobilität, die die Spielleute auszeichnete, widersprach mit dem Fehlen eines sicheren Wohnsitzes (non habentes certum domicilium675) sowie schauspielerischen und künstlerischen Tätigkeiten den kirchlich propagierten Lebensidealen,

672 Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen siehe Antonie Schreiner-Hornung, Spielleute, Fahrende, Außenseiter. Künstler der mittelalterlichen Welt (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 328), Göppingen 1981, S. 27. 673 Aurelius Augustinus, Vom Glauben und von den Werken (De fide et operibus) in: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Sigisbert Mitterer, 8 (Bibliothek der Kirchenväter, 1, 49) Kempten, München 1925, S. 311–385, hier S. 363 – der lateinische Originaltext: […] meretrices et histriones, et quilibet alii publicæ turpitudinis professores, nisi solutis aut disruptis talibus vinculis, ad christiana sacramenta non permittuntur accedere (Augustinus, De fide et operibus, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 6 (Migne PL, 40), Sp. 197–230, hier: c. 18, Sp. 219). 674 Wolfgang Hartung, Die Spielleute, eine Randgruppe in der Gesellschaft des Mittelalters (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 72), Wiesbaden 1982, S. 37. 675 So der Theologe Thomas (von) Chobham (auch Chabham) in seinem um 1200 entstandenen Pönitentialbuch, zitiert nach: Hartung, Die Spielleute (wie Anm. 674), S. 38.

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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insbesondere dem der Demut.676 Schließlich wurde von der mangelnden Sesshaftigkeit unmittelbar auf die Unstetigkeit und Anfälligkeit des Charakters für das Schlechte geschlossen.677 Diese Ansicht spiegelt auch ein Lehrdialog des Benediktiners Honorius von Autun aus dem 12. Jahrhundert wider: S[chüler]: Gibt es eine Hoffnung für die Spielleute? M[agister]: Keine: ihr gesamtes Tun und Wollen macht sie zu Dienern des Teufels.678

Viele mittelalterliche Autoren wie Johannes von Salisbury oder Berthold von Regensburg griffen diese Tendenz zur Verdammung der Lebensform und der Verteuflung derer, die sie praktizierten, in ihren Schriften auf.679 Für Petrus Cantor ist die Gattung der Spielleute keine menschliche, sondern ein Ungeheuer: [n]ullum genus hominum […], quod est monstrum.680 Eine weitere Schmähung zeigt auch ein Vers eines altfranzösischen Moralgedichts aus dem 13. Jahrhundert: Erzürnt euch nicht über etwas, was ich sagen möchte: Sie [= die Spielleute, J. S.] gleichen einer Sau, die von Schmutz beladen ist; wenn sie unter die Leute kommt, entweder freiwillig oder getrieben, haben alle Schmutz an der Stelle, wo sie [= die Sau, J. S.] sich gerieben hat.681

Die Gleichsetzung mit einer beschmutzten Sau bzw. die Analogie zum Schwein scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. Die Beziehung der Spielleute zum Teufel sowie ihre Diffamierung durch das Absprechen der Menschlichkeit und die

676 Aus kirchlicher Sicht verführten Spielleute ihr Publikum zu luxuria (Genusssucht) und superbia (Hochmut), wodurch es sich von dem Ideal der humilitas (Demut) entferne; siehe dazu Schreiner-Hornung (wie Anm. 672), S. 74–75. 677 Siehe dazu Hartung, Die Spielleute (wie Anm. 674), S. 40. 678 D[iscipulus:] Habent spem joculatores? – M[agister:] Nullam: tota namque intentione sunt ministri Satanae (Honorius von Autun, Elucidarium, in: Honorii Augustodunensis opera omnia […] (Migne PL, 172), Sp. 1109–1176 D, hier: II c. 18, Sp. 1148 C). Deutsche Übersetzung von Jürgen Brandhorst, Spielleute – Vaganten und Künstler, in: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch (wie Anm. 671), S. 115–133, hier: S. 118. 679 Viele zeitgenössische Beispiele, die diese Einstellung zu Spielleuten als Teufelsdienern kennzeichnet, führt Schubert an; siehe dazu Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 115–116. Zu Beispielen aus Pönitentialbüchern siehe SchreinerHornung (wie Anm. 672), S. 77–81. 680 Petrus Cantor, Verbum abbreviatum […] (Migne PL, 205), Sp. 21–554, hier: c. 49, Sp. 155. 681 D’un mot ke je dirai ne vos correciez mie: Il resemblent la truie ki de boe est cargie; S’ele vient entre gent, de son greit u cacie, Tuit ont del tai lor part a cui ele est fröie (Poème Moral. Altfranzösisches Gedicht aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts, hrsg. Wilhelm Cloetta, Erlangen 1886, XI (XII & XIII) Strophe 520, S. 231). Für die deutsche Übersetzung sei Herrn PD Dr. Philipp Burdy gedankt.

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anschließende Deklaration zum (Un-)Tier waren beliebte Motive normativer Texte. Die Diffamierung ihrer Lebensform war jedoch nur ein Ausdruck eines ambivalenten Verhältnisses zu Spielleuten, das sich zwischen der Haltung in Moralliteratur und der Duldung in der sozialen Lebenswelt bewegte. Während die Prostitution als kleineres Übel akzeptiert wurde, fanden Spielleute häufig mehr als Duldung, nämlich Unterkunft und Wirkungsmöglichkeiten an weltlichen und geistlichen Höfen. Weder bei Festen an großen Adelshöfen, wie etwa dem des französischen Königs Ludwig IX., des späteren Heiligen, oder des Stauferkaisers Friedrich II., noch bei städtischen Festen oder zu festlichen Anlässen in Bürgerhäusern wurde auf die Unterhaltung durch Spielleute verzichtet.682 Thomas von Aquin äußert sich um ein Vielfaches moderater über die Tätigkeit der Spielleute: Der Stand der Schauspieler also, welcher dazu dient, den Menschen eine Erholung zu bieten, ist an sich kein unerlaubter.683 Doch schon vor Thomas von Aquin war es Franz von Assisi, der dazu aufrief, wie […] Spielleute des Herrn das ›Loblied des Herrn‹ [zu] singen, denn, so fragt er: ›Was sind denn die Diener Gottes, wenn nicht gewissermaßen seine Spielleute, welche die Herzen der Leute rühmen und zu geistiger Freude erwecken müssen?‹684 Bei Franz’ Äußerung darf 682 Siehe dazu Hartung, Die Spielleute (wie Anm. 674), S. 59–65. Ebenso weist SchreierHornung darauf hin, dass beispielsweise die Erzbischöfe von Köln und Mainz oder der Bischof von Würzburg großzügige Unterstützer von Spielleuten waren; siehe dazu Schreiner-Hornung (wie Anm. 672), S. 82–83. 683 Et ideo etiam officium histrionum, quod ordinatur ad solatium hominibus exhibendum, non est secundum se illicitum, nec sunt in statu peccati: dummodo moderate ludo utantur, idest, non utendo aliquibus illicitis verbis vel factis ad ludum, et non adhibendo ludum negotiis et temporibus indebitis (Thomas von Aquin, Summa theologiae II 2 quaestio 168 articulus 3, in: Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici opera omnia. iussu impensaque Leonis XIII. P.M. edita. (Edition Leonia) 10: Secunda Secundae Summae Theologiae, A Quaestione CXXIII ad Questionem CLXXXIX, cum commentariis Thomae de Vio Caietanis, Rom 1899, hier: S. 352). Der Stand der Schauspieler also, welcher dazu dient, den Menschen eine Erholung zu bieten, ist an sich kein unerlaubter. Solche Personen sind somit auch nicht im Stande der Sünde, insofern sie mit nichts Schmutzigem in Worten und Werken sich beim Spiele befassen und die Umstände des Ortes, der Zeit etc. gebührend einhalten (Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des heiligen Thomas von Aquin, 7: Zweiter Hauptteil. Zweite Abteilung. […] Zweite Abhandlung. Die Kardinaltugenden und die Standesvorschriften, deutsch wiedergegeben von Ceslaus Maria Schneider, Regensburg 1888, 168. Kapitel 3. Artikel, S. 974), ebenso erwähnt bei Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 679), S. 117. 684 Die Zitate stammten aus der viel diskutierten Sammlung von Perugia, einer Quellensammlung, die unter sieben verschiedenen Namen bekannt ist und bisher nicht einheitlich ediert wurde. Der Kontext des Zitats beschreibt den Moment, bevor Franziskus seinen bekannten Sonnengesang verfasste: (26) Denn er bekundete seinen Willen, dass zuerst einer von ihnen, der sich aufs Predigen verstand, dem Volk predigte, und dann, nach der Predigt, sollten sie gleichsam als Spielleute des Herrn das ›Loblied des Herrn‹ singen. (27) Er wollte, dass der Prediger nach Beendigung des Lobliedes zum Volk sagte: ›Wir sind die Spielleute des Herrn und wollen dafür von euch damit belohnt werden, dass ihr in wahrer Buße verharrt.‹

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nicht vergessen werden, dass die Solidarisierung mit den gesellschaftlich Ausgegrenzten ein zentrales Element franziskanischer Frömmigkeit darstellte. Zurückkommend zur Vision der Agnes Blannbekin, fällt dem Leser/der Leserin auf, dass eine positive Einstellung zu Spielleuten, ähnlich der franziskanischen Haltung, auch darin zu Tage tritt, denn in der betreffenden Vision vermögen die Spielleute zu loben, zu tadeln und mit neuen Liedern aufzuheitern. In der nachfolgenden Untersuchung wird der Bezug der Berufsgruppe zu den fünf Sinnen deutlich, der hergestellt werden kann, da sowohl Spielleute als auch die Sinne mittels von außen kommender Einflüsse wirken. Durch die fünf Sinne erhält die Seele bei Agnes Blannbekin nachahmbare Tugenden angeboten, die bei bzw. an guten Menschen wahrgenommen wurden. Erfreuliche Lieder bringen die Seele zu andächtigen Seufzern. Auch diese Andacht befördernden Lieder werden nach ihrem Eintritt von außen (foris) rezipiert. Die Wahrnehmung des von außen Vermittelten erfreut die Seele, doch gleichzeitig werden beim Blick auf das Außen, den die fünf Sinne respektive die Spielleute gewähren, über die Seele auch Tadel geäußert und Laster bezeugt. Diese Laster offenbaren sich der Seele durch die fünf Sinne, was ein ambivalentes Verhältnis zu den Sinnen und der Wahrnehmung des Externen andeutet. Abschließend nennt die süße Stimme bei ihrer Reihung der Empfänger/-innen von Gnadengeschenken nach Rittern und Spielleuten – die aufgrund der Pluralverwendung beide soziale Gruppen repräsentieren – die Braut im Singular. Im Gegensatz zu den Erwartungen an die Vorerwähnten werden hinsichtlich der Braut keine Gegenleistungen, wie Vornehmheit oder neue Lieder, angeführt, sondern der Braut drei Geschenke gespendet, erstens göttliche Offenbarungen,

(28) Und er sprach: ›Was sind denn die Diener Gottes, wenn nicht gewissermaßen seine Spielleute, welche die Herzen der Leute rühren und zur geistigen Freude erwecken müssen?‹ (29) Dies pflegte er besonders von den Minderbrüdern zu sagen, die dem Volk zu seiner Rettung gegeben worden sind (Sammlung von Perugia, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernhard Holter und Johannes Schneider, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 1083–1206, hier: 83, 26–29, S. 1160. Nam volebat et dicebat, quod prius aliquis illorum predicaret populo, qui sciret predicare, et post predicationem cantarent Laudas Domini tamquam ioculatores Domini. Finitis Laudibus, volebat ut predicator populo diceret: «Nos sumus ioculatores Domini et in hiis volumus a vobis remunerari, scilicet ut stetis in vera penitentia.» Et dicebat: «Quid enim sunt servi Dei nisi quodammodo quidam ioculatores eius, qui corda hominum movere debent et erigere ad letitiam spiritualem?». Et specialiter de Fratribus Minoribus dicebat, qui populo pro ipsius salvatione dati fuerunt [Hervorhebungen im Original durch Kursivierung, J. S.] (›Compilatio Assisiensis‹ dagli Scritti di Fr. Leone e Compagni su S. Francesco d’Assisi. L’edizione integrale dal Ms. 1046 di Perugia con versione italiana a fronte introduzione e note, hrsg. Marino Bigaroni (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana. Chiesa Nuova – Assisi, 2), Assisi 1975, hier: 83, S. 236). Der Selbstbezeichnung des Franz und seiner Anhänger als Spielleute Gottes widmete Felder das Kapitel »Der Troubadour und Spielmann Gottes« siehe dazu Hilarin Felder, Der Christusritter aus Assisi, Zürich-Altstetten 1941, S. 136–165.

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zweitens geistliche Tröstungen und drittens die von Gott, dem König, gegebene Fähigkeit der Seele, nach Gott zu hungern.685

IV.1.b Die Sinne: Kommunikation nach außen und innen Es zeigt sich demnach, dass die Sinne eine Kommunikationsfunktion nach außen erfüllen, die durch die Spielleute symbolisiert wird. Über die sinnliche Wahrnehmung gibt der Text noch an anderer Stelle Auskunft: Den Kontext der Erwähnung bildet ein Gespräch zwischen dem Beichtvater und der Jungfrau, das im 23. Kapitel wiedergegeben wird. Das Gespräch schließt sich einer zusammenhängenden Visionsschilderung an – wobei aus dem Text nicht klar hervorgeht, ob es sich dabei um eine oder mehrere Visionen handelt –, bei der die Jungfrau Einblick in die Heimat (in patria[m]) erhielt. Dinzelbacher und Vogeler übersetzen patria dabei abwechselnd mit Heimat oder Vaterland. Die Variation stört nicht, da die Verwendung synonym ist und beide Begriffe auf einen Ursprung Bezug nehmen, der – im Gegensatz zur alltäglichen Bedeutung des Wortes Heimat oder Vaterland – nicht irdischer Art ist. Vielmehr benennt patria hier einen transzendenten Herkunftsort, an dem Lobstimmen oder verschiedene Singstimmen zu hören sind und eine Gottesschau stattfindet.686 Der im 23. Kapitel wiedergegebene Dialog bestätigt die Loslösung vom Diesseitigen, denn der Beichtvater versuchte darin, gemeinsam mit der Jungfrau zu klären, in welchem körperlichen Zustand sie ihre Eindrücke (Singstimmen, Lobstimmen und Engel) gewonnen hatte. Der Jungfrau war dabei selbst nicht klar, ob sie sich bei der Vision in ihrem Körper oder außerhalb davon befunden hatte. (Ipsa nescit, utrum in hoc raptu fuerit in corpore an extra corpus.687) Die Jungfrau berichtete danach von ihrem körperlichen und seelischen Zustand, wobei sie sich sehr gestärkt durch die göttliche Berührung fühlte: Und sie sagte, daß durch diese Stärkung die Güte Gottes mit solcher Süße sich in ihrer Seele forme, daß sie in die äußeren Sinne fließe und sich durch den ganzen Körper ausweite und sie um die Herzgegend Wärme spüre – ich jedenfalls glaube, daß sich der Heilige Geist dann in ihrem Herzen ausbreitet.688 685 ›[…] Sponsae deus largitur tria dona: Primo revelationes arcanorum divinas, quantum animae expedit. Secundo infundit spirituales consolationes et dulcedines gustui animae. Tertio facit animam ardenter esurire deum‹ (Vis. c. virg., Cap. 68, S. 170). 686 So beispielsweise in Cap. 21: Dixit, quod esset in patria laus vocalis dulcissima, […]; oder im Cap. 22: Item dixit, quod non omnes una voce cantabant in patria, […]; und ebenso in Cap. 63: Audivit quoque voces laudantium in patria dulcissimas […] (Vis. c. virg., Cap. 21 und 22, S. 90 sowie Cap. 63, S. 162). 687 Vis. c. virg., Cap. 23, S. 92. 688 Et dixit, quod ista confortatione Dei bonitas tanta suavitate se format in anima sua, ut redundet in sensus exteriores et per totum corpus se dilatet, et circa praecordia sentiat

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Wenig später griff sie den gleichen Gedanken erneut auf und fügte laut ihrem Beichtvater hinzu: Und sehr oft geschieht es, daß sie dort in die Ekstase entrafft wird und bei Betäubung der äußeren Sinne das Herz innen wacht und ihr eine Vision über jene Dinge verkündet wird, denen sie sich am Anfang der Betrachtung zuwandte.689

Diese Beschreibungen versuchen den Moment des Visionsempfangs und die körperliche Empfindung dabei zu verbalisieren, was ein schwieriges Unterfangen darstellt. Für die Analyse interessiert besonders die Rolle der Sinne: Es wird geschildert, wie im Augenblick der Entraffung die äußeren Sinne betäubt sind (exterioribus sensibus sopitis) und dass gleichzeitig das Herz innen wacht (ut […] cor intus vigilet), folglich in Aufnahmebereitschaft für die Vision versetzt ist. Die Stärkung, die die Jungfrau durch die Güte Gottes erhält, formt mit einer solchen Süße ihren Körper, dass diese auch in die äußeren Sinne und durch den ganzen Körper fließt. Was genau diese Süße ist, wird dabei offengelassen. Weiterhin wird geschildert, wie die Visionärin in ihrer Herzgegend eine Wärme verspürte. Ausgehend von der soeben dargestellten Analogie zwischen Spielleuten und Sinnen, bei der beide für eine nach außen gerichtete Kommunikation stehen, sind die Sinne an der Kommunikation mit Gott zunächst nicht aktiv beteiligt, sondern betäubt. Zentrales Kommunikationsorgan hingegen ist das Herz. Doch obgleich den Äußeres wahrnehmenden Sinnen keine wesentliche Rolle zugesprochen wird, können sie durch die göttliche Güte, die mit Süße fließt, aktiviert werden. Die Erwähnung von Sinnen äußerer Wahrnehmung lässt auch auf ihre nach innen gerichteten Pendants und deren Beziehung zu Gott schließen. Im 187. Kapitel sprach die Jungfrau, in der Aufzeichnung ihres Beichtvaters, über ihre Sehnsucht nach Gott. Dabei erläuterte sie, dass geeignete seelische Dispositionen notwendig seien, um göttliche Offenbarungen zu empfangen, die sie als Süßigkeit Gottes (suavitatem dei) beschrieb: 187. Kapitel. Über einen sehr polierten und geputzten Spiegel. Zu einer anderen Zeit auch kam die Hand des Herrn über sie; es erschien vor ihr ein sehr polierter und geputzter Spiegel, in dem sie viele und große Wunder Gottes sah. Davon erzählte sie kaum einen Tropfen des Geschauten, und, so sagte sie, weil es unerzählbar wäre. Beim Anschauen dieses Spiegels wurde ihr Geist und ihre Seele von unaussprechlicher Tröstung erfüllt, und sie erkannte dort, daß, so wie die Seele in allen Körpergliedern ist und den Körper fühlen läßt und die fünf körperlichen Sinne im Körper calorem – ego utique credo, spiritum sanctum tunc diffundi in corde suo (Vis. c. virg., Cap. 23, S. 92 und 94 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 93). 689 Et persaepius accidit, ut ibi rapiatur in extasim, et exterioribus sensibus sopitis, cor intus vigilet, et visio ei pandatur de illis, ad quae se in principio contemplationis convertit (Vis. c. virg., Cap. 23, S. 94 und (deutsche Übersetzung:) S. 95).

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bestimmt, so die in Gott entraffte Seele mit den fünf geistlichen Sinnen schlürft, wovon sie in Gott ruhe und zum Fühlen und Blühen gebracht werde. Der Gesichtssinn der Seele ist die Betrachtung, womit sie Gott anschaut und ihr Ungewisses und Verborgenes gezeigt wird. Das Gehör der Seele ist der Verstand, womit die Seele innen göttliche Offenbarungen aufnimmt und sie ohne Vermittler versteht. Daniel sah etwas, was er nicht verstand, aber Gabriel legte es ihm aus. Dieser hatte ein Gesicht, aber kein Gehör, als er die schreibende Hand sah. Und als er verstand, hatte er Gehör. Der Mund der Seele oder der Geschmack ist, die Süßigkeit Gottes zu kosten und seine Süße aufzunehmen, und dieser Sinn verleiht am meisten der Seele Kräfte. Das Tasten ist die Erneuerung und Verwandlung der Seele von Gnade in Gnade. Der Geruch ist die Gottessehnsucht und Gottesbegierde. Und dieser blüht am meisten in der geistlichen Seele und ist andauernder als die übrigen. Denn die Seele schaut Gott nicht immer an, nicht immer empfängt sie göttliche Offenbarungen, nicht immer kostet sie die Süßigkeit Gottes, solange sie in diesem sterblichen Körper ist, aber immer kann sie in Gottessehnsucht sein. Und das ist in Jakob bezeichnet, in dem der Geruchssinn mehr als die übrigen blühte. Daher: ›Siehe, der Duft meines Sohnes‹ usw.690

Der Textausschnitt aus dem betreffenden Kapitel mit der Überschrift Über einen sehr polierten und geputzten Spiegel weist, wie schnell zu erkennen ist, die Seele als Aufnahme- und Weiterleitungsorgan des Menschen nicht ausschließlich visuell aus, auch wenn in der Offenbarung zunächst der Spiegel erscheint, in dem sie [= Agnes Blannbekin, J. S.] viele und große Wunder Gottes sah (in quo vidit mirabilia dei magna et multa). Das Wort speculum ist in der Literatur des Mittelalters häufig metaphorisch im Sinne eines Instrumentes zur (Selbst-)Reflexion zu verstehen. Die Spiegelmetapher fand etwa in der mittelalterlichen Theologie Verwendung, um auf das 690 Cap. CLXXXVII. De speculo polito valde et terso. Alio quoque tempore facta super eam manu domini, apparuit coram ea speculum politum valde et tersum, in quo vidit mirabilia dei magna et multa, de quibus vix stillam visorum enarravit, et sic ait, quia inenarrabilia forent. In intuitu hujus speculi spiritus et anima ejus ineffabili consolatione est repleta; et cognovit ibi, quod, sicut anima est in omnibus membris corporis et corpus sensificat et quinque sensus corporales exercet in corpore, sic anima rapta in deum haurit quinque sensibus spiritualibus, unde in deo quiescat et sensificetur et vigoretur. Visus animae est contemplatio, qua deum speculatur et ei incerta et occulta manifestantur. Auditus animae est intelligentia, qua anima intus recipit revelationes divinas et eas absque interprete intelligit. Daniel vidit quaedam, quae non intellexit, sed Gabriel ei exposuit. Hic visum et non auditum habuit, quando vidit manum scribentem, et quando intellexit, auditum habuit. Os animae sive gustus est gustare suavitatem dei et ejus dulcedinem percipere, et hic sensus maxime confert vires animae. Tactus est innovatio et transmutatio animae de gratia in gratiam. Odoratus est desiderium dei et concupiscentia dei. Et hic maxime viget in anima spirituali et diuturnior est caeteris. Nam anima non semper speculatur deum, non semper revelationes percipit divinas, non semper gustat suavitatem dei, quamdiu est in hoc corpore mortali, sed semper potest esse in desiderio dei. Et hoc significatum est in Jacob, in quo sensus odoratus magis viguit caeteris. Unde: ›Ecce, odor filii mei‹, etc. (Vis. c. virg., Cap. 187, S. 388 und 390 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 389 und 391).

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Problem der Gottes- und Selbsterkenntnis hinzuweisen. Dieses Reflexionsstreben zeigte sich in der im Mittelalter weit verbreiteten Gattung der Spiegelliteratur, in der meist mittels eines Lehrgespräches ein Idealbild entwickelt wurde, dem dann ein Abbild gegenüberstand.691 In den Visionen einer gewissen Jungfrau ist speculum als Metapher bei der Darstellung von Gottesrezeption und Seelenzustand eingesetzt, wie Kapitel zeigen, die dem oben zitierten vorangehen.692 Es lohnt sich, in diesem Kontext den Blick zu intensivieren, da sich hinsichtlich der Verwendung der Spiegelmetapher Parallelen zwischen Agnes Blannbekin und theologischen Texten ergeben. In einem Aufsatz vergleicht Andreas Speer die Verwendung des Weisheitsbegriffs bei Augustinus und Meister Eckhart.693 Sowohl Augustinus in seiner Schrift über die Trinität694 als auch Eckhart in einer Predigt zum Augustinustag695 verwenden die im Ersten Korintherbrief erwähnte Spiegelmetapher: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich 691 Siehe dazu Ekkehard Borries (wie Anm. 2), S. 390–391 und ebenso Gunhild Roth, Zur mittelniederdeutschen Spiegelliteratur, in: Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 121 (1998), S. 133–148. Auch das »Lexikon des Mittelalters« bietet einen Überblick über die mittelalterliche Spiegelliteratur mit all ihren Variationen, wie Speculum Christiani, Speculum Ecclesiae, Speculum Salvationis oder Speculum Virginum; siehe dazu Gunhild Roth, Spiegelliteratur, I. Mittellateinische Literatur, in: LexMa, 7 (wie Anm. 585), Sp. 2101–2102. 692 Siehe dazu die Kapitel 9 und 15: Cap. IX. De praerogativis beatae virginis. Virgo beata habet tres praerogativas prae omnibus electis. […] Secunda est, quod ipsa est speculum Christi dei, et ipse se in ipsa speculatur sicut in speculo, cognoscens se carnem ab ea sumpsisse. Et quanquam omnes sancti in patria suum gaudium habeant a deo Christo, ipse tamen singulare gaudium habet a matre virgine ex eo, quod se in ipsa speculatur, ut dictum est. (Vis. c. virg., Cap. 9, S. 74–76) und: Cap. XV. De angelis. De beatis angelis dixit, quod sunt immateriales et in deo. Sicut rosa apposita speculo, rosa apparet in speculo, sic ipsi in speculo divino sunt. Verum esse et veram vitam habentes ardent in divino amore, et alii plus aliis et laudant deum et intuentur deum; in hoc habent maximum gaudium (Vis. c. virg., Cap. 15, S. 84). Auch im Kapitel 188 geht es um einen Spiegel, hier allerdings um den des Teufels, der die Form eines Dreiecks hatte. In ihm sah Agnes Blannbekin den Grund ihrer häufigen Traurigkeit, besonders über körperliche Ermüdung, die sie daran hinderte, Gott stets uneingeschränkt zu dienen; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 188, S. 390–395. 693 Andreas Speer, Weisheit bei Augustinus und Meister Eckhart, in: Meister Eckhart und Augustinus [Konferenzschrift, Würzburg 2007], hrsg. Rudolf Kilian Weigand und Regina D. Schiewer (Meister-Eckhart-Jahrbuch, 3), Stuttgart 2011, S. 1–10. 694 Augustinus, De Trinitate, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 8 (Migne PL, 42), Sp. 819–1097, hier: XIV c. 2,4, Sp. 1038 oder auch I c. 8,16, Sp. 829. 695 Meister Eckhart verwendet die Spiegelmetapher in seiner Predigt Vas auri solidum, die er während seiner Zeit in Paris zum Augustinusfest im Jahre 1302 oder 1303 hielt; siehe dazu Magistri Echardi, Sermo die b. Augustini Parisius habitus, hrsg. und übersetzt von Bernhard Geyer, in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke, 5: […] Opera Parisiensia […], Stuttgart 1936–2006, S. 86–99, hier: n. 4–5, S. 92–94 (Sermo die b. Augustini Parisius habitus, LW V, n. 4–5, S. 92–94).

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin (1 Kor 13,12).

Wie Speer ausführt, habe die Spiegelmetapher Meister Eckhart dazu gedient, die doppelte Erkenntnis des Theologen im irdischen Leben zu beschreiben: einerseits durch den Spiegel und im Rätsel und andererseits durch den Spiegel und im Licht. Die erstere Erkenntnis erfolge dabei dreifach, nämlich durch Verneinung, Heraushebung und Ursächlichkeit.696 Bei der zweiten Erkenntnis durch den Spiegel und im Licht werde der Intellekt zu dem erhoben, was er von Natur aus nicht vermöge,697 um schließlich in der Ekstase des Geistes das quasi schmackhafte Wissen (quasi sapida scientia) aufzunehmen.698 Zur Erklärung fügt Speer mit Verweis auf zwei weitere Predigten Eckharts hinzu, dass »eine entschieden praktische Dimension« der Weisheit bei dem Autor »sich gerade in der Überschreitung der natürlichen Erkenntnis [zeige], die im Vorgriff auf die vollkommene Gotteserkenntnis in patria, worin der Mensch – vollkommen gottförmig gemacht und zum Sohn Gottes geworden – seine eigentliche Vollendung findet, und die im Hinzutreten der aus Gnade verliehenen Habitus und den daraus folgenden Früchten besteht«.699 Speers Bezugnahme auf die vollkommene Gotteserkenntnis in patria ist auch im vorliegenden Kontext der Visionen der Agnes Blannbekin erhellend. Denn in den ersten Kapiteln wird beschrieben, wie die Protagonistin ebenfalls Einblick in die Geschehnisse in der Heimat (patria) erhielt. Kommen wir zurück zur Verwendung der Spiegelmetapher im Kapitel 187, in dem trotz einer anfänglichen Betonung des Sehens mit Blick auf den offenbarten Spiegel jedem der fünf Sinne eine eigene Fähigkeit in Beziehung zu Gott zugeschrieben wird. Der Geruch bzw. Geruchssinn wird dabei als letzter nach denjenigen des Sehens, Hörens, Schmeckens und Tastens genannt. Entgegen aristotelischer Sinneshierarchisierung scheint hier in der Reihung der Sinne eine Klimax beabsichtigt zu sein. Diese soll nachfolgend analysiert werden, dazu 696 Et sic contingit theologum duplici ditari cognitione in via: una est ›per speculum et in aenigmate‹, alia est per speculum et in lumine. Prima fit tripliciter, scilicet ablatione, eminentia et causa (Magistri Echardi Sermo (wie Anm. 695), n. 4, S. 92 (Sermo die b. Augustini Parisius habitus, LW V, n. 4, S. 92, 3–5). 697 Secundo cognoscitur in via per speculum et in lumine, quando scilicet lux divina per effectum suum aliquem specialem irradiat super potentias cognoscentes et super medium in cognitione, elevans intellectum ipsum ad id quod naturaliter non potest (Magistri Echardi Sermo (wie Anm. 695), 5, S. 93–94 (Sermo die b. Augustini Parisius habitus, LW V, n. 5, 93, 5– 6 und 94, 1–2)). 698 Haec cognitio scientia vel sapientia, quasi sapida scientia, quae aliquando intromittit hominem in affectum multum (Magistri Echardi Sermo (wie Anm. 695), 6, S. 94–95, hier: S. 95 (Sermo die b. Augustini Parisius habitus, LW V, n. 6, S. 95, 1–2)). 699 Speer (wie Anm. 693), S. 9. Dabei verweist Speer auf Eckhart Sermo XI,2, LW IV, n. 117, S. 110,7–111,2 und Predigt 21, DW I, n. 5, S. 366, 5–6).

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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werden die Sinne nach einem Schema aufgelistet, in dem der/die Erbringer/-in ihrer jeweiligen Leistungen benannt wird. Das betrachtete Vokabular bietet dabei einmal den Menschen und einmal Gott als Akteur/-in an. Sinn oder Sinnesleistung visus animae/Gesichtssinn der Seele

Akteur/-in Mensch speculari

auditus animae/Gehör der Seele

recipere

os animae sive gustus/Mund oder Geschmack der Seele tactus/Tastsinn

percipere

Akteur Gott manifestare interprete intelligit (percipere)

de gratia in gratiam odoratus/Geruch bzw. Geruchssinn desiderium dei et concupiscentia dei Tabelle 3: Sinn/Sinnesleistung – Mensch und Gott

Durch den Gesichtssinn, das Sehen, der Seele ist es für den Menschen möglich, Gott zu schauen (speculari). Der Mensch kann damit jedoch Ungewisses und Verborgenes erst wahrhaftig sehen, im Sinne von verstehen, wenn Gott es ihm ermöglicht und sich dem Menschen offenbart (manifestari). Wie dies geschieht, zeigt sich im Hören. Dabei befähigt Gott die Ohren, Offenbarungen (revelationes) zu hören, die der Mensch ohne Sehen nicht verstehen kann, wie der Text anhand von Daniel und Gabriel darlegt. Obwohl Daniel etwas sah (und wohl auch hörte), verstand er es nicht, während Gabriel auch ohne Gehör aufgrund seines Sehens und seines dadurch geprägten Intellekts ohne Vermittler/-in verstand (absque interprete intelligit) und infolge des Verstehens auch hörte. Das Hören war demnach die unmittelbare Folge verstehenden Sehens. Das Gehörte setzt deshalb Gott als offenbarenden Akteur voraus, dessen Botschaft durch den Menschen zu rezipieren ist (recipere). Die Rezeption erfolgt durch ein spezifisches intellektuelles Verstehen, das auch mittelbares Hören ermöglicht (im Beispiel ist es Gabriel, der Daniel das Gehörte erschließt). Beim Sehen und Hören der Seele sind folglich sowohl der Mensch als auch Gott Akteure/-innen der jeweiligen Sinnesleistung. Wie deren Zusammenwirken sich gestaltet – zur Entfaltung der vollkommenen Sinnesleistung des Menschen ist nämlich das Einwirken Gottes unabdingbar – zeigt die Bezugnahme auf eine Vision Daniels aus dem Alten Testament.700 Darin erhält Daniel Einblick in die Zukunft, die gleichsam das Ende der Zeit darstellt, an dem er einen Kampf zwischen einem Widder und einem Ziegenbock sieht. Allerdings ist es Daniel unmöglich, diese Vision selbstständig 700 (15) Während ich, Daniel, noch diese Vision hatte und sie zu verstehen suchte, da stand vor mir einer, der aussah wie ein Mann. (16) Und über dem Ulai-Kanal hörte ich eine Menschenstimme, die rief: Gabriel, erkläre ihm die Vision! (17) Da kam er auf mich zu. Als er nähertrat, erschrak ich und fiel mit dem Gesicht zu Boden. Er sagte zu mir: Mensch, versteh: Die Vision betrifft die Zeit des Endes (Dan 8,15–17).

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

zu verstehen. Nur mit der Hilfe Gabriels, der sie ihm auslegt, kann er sie begreifen. Die Referenz auf diese Bibelstelle in den Visionen der Agnes Blannbekin ist keineswegs ein abwegiger Exkurs, sondern verdeutlicht mit Gabriel als gottgesandter Interpretationshilfe, dass vollkommenes Verstehen nur mit göttlicher Befähigung erfolgen kann. Die nachfolgende Beschreibung des Geschmackssinns bricht das verwendete Schema beidseitiger Beteiligung der Akteure/-innen auf den ersten Blick auf. In Kapitel 187 des untersuchten Werkes erfahren wir, dass der Mensch mit dem Geschmackssinn der Seele die Süßigkeit Gottes kosten kann. Der Mensch wird dabei als einziger Akteur/einzige Akteurin benannt, wobei kein Zusatz über eine göttliche Unterstützung folgt. Bedarf es hier keines göttlichen Zutuns? Vermutlich doch, allerdings scheint das entworfene Schema in seiner lexikalischen bzw. semantischen Zweigliedrigkeit nicht zu greifen. Doch das in Kapitel 187 verwendete lateinische Verb percipere beinhaltet einen Verweis auf beide Akteure/ Akteurinnen. Vordergründig bezieht percipere sich zwar auf eine Aktion des Menschen, die mit wahrnehmen/in Empfang nehmen/bekommen ins Deutsche übertragen werden kann. Das Wahrnehmen/In-Empfang-Nehmen/Bekommen impliziert allerdings, dass es eine Quelle des Wahrzunehmenden gibt, die es auszusenden bzw. zu verbreiten (emittere oder diffundere) vermag. (In Kapitel 23 der Visionen einer gewissen Jungrau ist, wie erwähnt, in ähnlichem Zusammenhang gar von einem Überströmen, Sich-Ergießen und Ausbreiten – redundare und dilatare – die Rede.) Daher ist auch bezüglich des Mundes/Geschmacks der Seele das Doppelwirken der genannten Akteure/-innen gegeben, wenngleich das göttliche Einwirken lediglich angedeutet und nicht in der Wortwahl expliziert wird. Ähnlich impliziert das Kosten des menschlichen Seelenmundes (gustare) ein Schmecken der göttlichen Süße im Sinne des Geschmack-Habens (sapere). Beim nächsten Sinn bzw. der nächsten Sinnesleistung, dem Tastsinn oder Tasten, verlagert sich das Agieren ganz auf die göttliche Seite. In der Formulierung innovatio et transmutatio animae de gratia in gratiam wird Gott als der Urheber des Erneuerns und Verwandelns (innovare, transmutare) angezeigt, denn ohne göttliche Ermöglichung – hier: der Gnade – ist eine Erneuerung und Verwandlung der Seele nicht möglich. Der Mensch als Akteur/-in findet hierbei keine Erwähnung, er/sie ist bestenfalls mitgemeint, weil im untersuchten Kontext von einem passivischen Erneuert- und Verwandelt-Werden (innovari, transmutari) auszugehen ist. Folglich kann resümiert werden, dass das Zusammenwirken der Akteure/innen Gott und Mensch zwar die vollkommene Sinnesleistung möglich macht, aber das Verhältnis von Gott und Mensch sich bei jedem Sinn anders nuanciert bestimmen lässt. Gerade beim Tastsinn wurde deutlich, dass das göttliche Agieren letztlich den Sinn zu seiner vollkommenen Leistung führt. Ob dies beim

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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Geruchssinn ebenso zutrifft, soll nun analysiert werden, wobei sich die Analyse diffiziler gestalten wird.

IV.1.c Der Geruch(ssinn): Gottessehnsucht und Gottesbegierde In der zugrundegelegten Übersetzung Dinzelbachers und Vogelers wurde odoratus mit Geruch übertragen. Möglich wäre allerdings auch eine Übersetzung mit Geruchssinn. Damit würde man odoratus zunächst auf körperliche Fähigkeiten beziehen. Eine solche Übertragung erscheint aus zwei Gründen eher plausibel: Erstens sprach die Jungfrau im oben behandelten Textauszug in Anlehnung an die fünf körperlichen Sinne, quinque sensus corporales, von fünf geistlichen Sinnen, quinque sensibus spiritualibus,701 mit denen die Seele Gott erfahren könne. Weshalb diese fünf Sinne als geistlich bezeichnet werden, wird weiter unten noch näher erläutert werden. Die Aufzählung, die der Erwähnung des Begriffes odoratus vorausgeht, benennt zumeist eindeutig Sinne, Sinnesorgane oder Sinnesleistungen (visus, auditus, os […] sive gustus, tactus). Dies legt trotz der Mehrdeutigkeit von odoratus eine Übertragung mit Geruchssinn nahe. Der zweite Grund liegt im Abschnitt, der auf odoratus Bezug nimmt: Darin geht es um die geeigneten körperlichen, schließlich seelischen Voraussetzungen einer Person, hier der Jungfrau, die für das Empfangen einer Vision unabdingbar sind. Der Geruchssinn ist für diese überirdische Kommunikation gleichsam eine Empfangsbedingung bzw. ein Empfänger. So heißt es, dass er desiderium dei et concupiscentia dei sei. Dies übersetzen Dinzelbacher und Vogeler mit Gottessehnsucht und Gottesbegierde, was ebenso viel Interpretationsspielraum lässt wie das lateinische Original. Denn der lateinische Genitiv könnte objektiv, aber auch subjektiv gemeint sein, die Wendung also sowohl Sehnsucht und Begierde nach Gott als auch Sehnsucht und Begierde Gottes bedeuten. Zum einen wäre Gott als Ziel (und Objekt), zum anderen als Ursprung (und Subjekt) der Sehnsucht und Begierde denkbar. Folgt man der Übersetzung odoratus mit Geruchssinn, so stellt dieser für die Jungfrau eine Möglichkeit dar, Gott oder göttliche Offenbarung auch auf olfaktorischem Weg zu empfangen. Demzufolge scheint es schlüssig, desiderium dei et concupiscentia dei mit Gottessehnsucht und Gottesbegierde im Sinne einer Sehnsucht und Begierde nach Gott zu interpretieren. Der Geruchssinn der Jungfrau steht dann als Empfänger oder Ausdruck für diese Gottessehnsucht und Gottesbegierde. Würde man odoratus allerdings mit Geruch übertragen, wäre eine andere Lesart plausibel. Odoratus könnte in diesem Falle als materieller Trägerstoff oder olfaktorisches Medium verstanden werden. Der Geruch würde somit von einer 701 Vis. c. virg., Cap. 187, S. 388.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Quelle ausströmen und nachfolgend von jemandem, hier der Jungfrau, wahrgenommen werden. Geruch wäre dann materieller und olfaktorischer Ausdruck der Sehnsucht und Begierde Gottes. Die Ambiguität der Formulierung mit Verbalsubstantiven und Genitivattributen, die sich objektiv wie subjektiv auslegen lassen, ist vermutlich beabsichtigt und fügt sich zum auszulegenden Motiv des Spiegels. Gottessehnsucht und -begierde sind als Elemente einer Brautmystik und eines irdischen Wartens auf den himmlischen Bräutigam einerseits sowie als sehnsüchtige Zuwendung Gottes durch den liebevollen Christus in der Vision andererseits zu verstehen. Die Erfahrung von Duft und Wohlgeruch kann folglich als Ausdruck einer unio mystica gedeutet werden. Dieses in der mittelalterlichen Mystik häufig verwendete Motiv beschreibt den Höhepunkt mystischer Erfahrung als eine (Ver-)Einigung des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen.702 Damit wird keine physische Auflösung des Menschen und Neuzusammensetzung des Körperlichen assoziiert, sondern eine Vereinigung der Seele mit Gott, die hier als kontinuierlich neubestimmte und umgewandelte Sehnsucht und Begierde olfaktorisch ausgedrückt wird.703 Im Geruchssinn und Geruch fließen laut dem 187. Kapitel der Visionen einer gewissen Jungfrau beide Akteure/-innen, Gott und Mensch, zusammen und vereinen sich in einem neuen Seelenzustand. Das stellt daher nicht nur einen Übergang von einem zum/zur anderen dar, sondern eine Entgrenzung der Akteure/Akteurinnen. Denn in der Satzkonstruktion ist deren Trennung an entsprechender Stelle absichtlich nicht ausgedrückt. Da es sich bei der Vereinigung (= Entgrenzung) um einen Höhepunkt mystischer Erfahrung handelt, ist es wahrscheinlich, dass in der Reihung der fünf Sinne eine klimaktische Aufzählung vorliegt, die im Geruchssinn bzw. Geruch gipfelt, wobei Letzterer zugleich Ausdruck göttlichen Sich-Verströmens sein mag. Der Geruch bzw. Geruchssinns wird im Weiteren des untersuchten Kapitels noch genauer, als dauerhafter als die übrigen (diuturnior est caeteris) charakterisiert. Diese Fortsetzung kann ebenfalls die Auffassung des Wortes odoratus im Sinne von Geruchssinn nahelegen, denn bei einem Verständnis im Sinne eines Signifiés Geruch = Ausdünstung wäre fraglich, auf wen oder auf was sich caeteris 702 Vor allem die 86 Hoheliedpredigten des Bernhard von Clairvaux waren für das europäische Hochmittelalter wichtige Interpretationen der unio mystica und begründeten die Verbreitung des Motivs; siehe dazu Ulrich Köpf, Bernhard von Clairvaux in der Frauenmystik, in: Frauenmystik im Mittelalter (wie Anm. 26), S. 48–77. 703 Siehe dazu auch Michael Figura, Unio mystica, in: Wörterbuch der Mystik, hrsg. Peter Dinzelbacher (Kröners Taschenausgabe, 456), Stuttgart 1989, S. 503–506 oder Peter Dinzelbacher, Die Psychohistorie der Unio mystica. Eröffnungsvortrag der 15. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychohistorische Forschung, in: Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 2 (2001), S. 45–76.

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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bezöge. So scheinen mit caeteris die anderen Sinne gemeint zu sein. Es folgt eine nähere Beschreibung von odoratus: Erstens wird er als eine Eigenschaft oder ein Teil der geistlichen Seele (anima[e] spiritualis) angesehen. Zweitens erfährt der Geruchssinn mit der Charakterisierung andauernder (diuturnior) eine besondere Klassifikation, die seine Bedeutung in der Hierarchie der Sinne hebt. Im Gegensatz zur aristotelischen Sinneshierarchisierung räumt die Jungfrau dem Geruchssinn im vorliegenden Quellenausschnitt eine bedeutendere Position ein, da er für eine dauerhafte Gottessehnsucht stehe. Um zu erläutern, warum dies so ist, soll zunächst die vorrangige Position und die Klimax bei der Aufzählung der Sinne analysiert werden. Denn die Seele schaut Gott nicht immer an, nicht immer empfängt sie göttliche Offenbarungen, nicht immer kostet sie die Süßigkeit Gottes, solange sie in diesem sterblichen Körper ist, aber immer kann sie in Gottessehnsucht sein.704

Hier greift der Text die oben dargestellten Sinne und deren Leistungen nochmals auf. Es wird beschrieben, dass die Seele nicht zu jeder selbstgewählten Zeit jeden geistlichen Sinn nutzt. Mit dem sterblichen Körper (corpore mortali) ist vermutlich sowohl auf den Tastsinn verwiesen, da dieser über den Körper wahrnimmt, als auch eine Bewertung des Körpers intendiert. Die Einstufung eines sterblichen Körpers als hinderlich ist ein typisches Merkmal der Körperbetrachtung vieler spätmittelalterlicher Frömmigkeiten. Sie hat ihren Ursprung in der radikalen Körperverachtung des Franz von Assisi, der behauptet: [D]er größte Feind des Menschen ist sein Fleisch.705 Andererseits diente der geschundene und gegeißelte Körper als Instrument der Frömmigkeit. Die Verachtung des irdischen und sterblichen Körpers steht im Gegensatz zur Bewunderung der geistlichen Seele, die Gott in der Ekstase begehrt. An dieser Stelle drängt sich die Frage nach der verwobenen Kommunikation, nach dem Ineinandergreifen des Wissenshorizontes der Agnes Blannbekin und des Eigenanteils ihres Beichtvaters am Inhalt ihrer verschriftlichten Visionen erneut auf. Führte der Beichtvater sein Beichtkind durch die Lektüre (oder das Vorlesen) und Gespräche in die franziskanische Spiritualität ein und vermittelte diese, sodass sie ein Teil der Gedankenwelt der Jungfrau wurde? Oder nahm der Beichtvater bei der Niederschrift nicht nur sprachliche, sondern auch inhaltliche Veränderungen vor? Eine eindeutige Antwort hierauf kann nur schwer erfolgen, vielmehr sei an die bereits

704 Nam anima non semper speculatur deum, non semper revelationes percipit divinas, non semper gustat suavitatem dei, quamdiu est in hoc corpore mortali, sed semper potest esse in desiderio dei (Vis. c. virg., Cap. 187, S. 390 und (deutsche Übersetzung:) S. 391). 705 Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung oder Memoriale [2 C], überarbeitet und kommentiert von Johannes-Baptist Freyer, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 289–421, hier: S. 373.

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geschilderte Prozesshaftigkeit der Textproduktion und die Überblendung der beiden Personen dabei erinnert. Gleichzeitig liegt in den Visionen einer gewissen Jungfrau eine vom Schreiber wohldurchdachte Komposition aus Text und Inhalt vor, die besonders die Individualität der Jungfrau unterstreicht. Damit teilt die Verfasserin dieser Studie explizit nicht die Einschätzung anderer Sekundärliteratur, die den Schreiber häufig grammatikalischer Unkenntnis und mangelnder Sprachkunst bezichtigt.706 Nachdem jeder der anderen vier Sinne in Kapitel 187 betrachtet und erläutert worden ist, dass die Seele Gott mit diesen vier Sinnen in ihren jeweiligen Funktionen nicht immer erfahre, wird der Geruch bzw. Geruchssinn nochmals thematisiert. Dank seiner besitze die Seele die außergewöhnliche Fähigkeit, Gott dauerhaft wahrzunehmen, denn es heißt: sed semper potest esse in desiderio dei. Desideriu[m] dei, das Dinzelbacher und Vogeler an der betreffenden Stelle erneut doppeldeutig mit Gottessehnsucht übertragen, sei laut der Jungfrau und/oder ihrem Beichtvater immer gegeben, eine immer-seiende – gewissermaßen ontische – Sehnsucht. Der Weg dieser Gottessehnsucht verläuft über den Geruch bzw. Geruchssinn, der damit selbst zum immer-seienden Sinn wird. Eine Hinwendung zur ideengeschichtlichen Wirkung Bonaventuras kann dabei helfen, die Bedeutung der Sehnsucht zu eruieren. Der siebte Generalminister der Franziskaner (†1274) verfasste im 13. Jahrhundert zahlreiche Werke zur franziskanischen Spiritualität und zur Mystik, in denen es ihm vornehmlich um die Frage geht, wie sich Gott den Menschen zu erkennen gibt. In seinem Werk Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, Itinerarium mentis in Deum, stellt Sehnsucht ein zentrales Motiv für die Suche nach Gott, der Begegnung der Seele mit Gott dar: Keiner ist nämlich auch nur irgendwie disponiert für eine von Gott geschenkte Beschauung, die zur Entrückung des Geistes führt, wenn er nicht wie Daniel ein ›Mann der Sehnsucht‹ ist. Sehnsucht aber lässt sich in uns auf zweifache Weise entflammen: durch das laute Rufen im Gebet, wenn der Mensch das Seufzen seines Herzens nicht zurückhält, sondern ungehemmt ausbrechen lässt, und durch den aufleuchtenden Glanz in der Betrachtung, wodurch der Geist sich den Strahlen des Lichtes direkt und ganz gesammelt zuwendet.707 706 So urteilt beispielsweise Stoklaska: »Das sprachliche Niveau der lateinischen Version ist sicher kein hohes, die Konstruktionen wirken unbeholfen und der Wortschatz ist gering« (Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 9). Dinzelbacher meint in seiner Einleitung zur Neuedition, der Verfasser habe »offensichtlich einen erbaulichen Gebrauchstext zu Pergament bringen [wollen], kein Werk mit literarischem Anspruch. Sein Latein ist freilich nicht nur schlicht, sondern – gemessen am sonst in seiner Zeit Üblichen – einfach schlecht« (Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 16). 707 Non enim dispositus est aliquo modo ad contemplationes divinas, quae ad mentales ducunt excessus, nisi cum Daniele sit vir desideriorum. Desideria autem in nobis inflammantur

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Auch Bonaventura erwähnt Daniel, doch im Unterschied zur Vision der Agnes Blannbekin ist Daniel hier der Inbegriff des Mysten. Nur wer wie Daniel Mann der Sehnsucht sei, wie es in Dan 9,23 heißt, habe die geeignete Disposition zur Gottesschau. Agnes Blannbekin hingegen beschreibt, dass Daniel zwar sah, doch zunächst nicht verstand und Gabriel als Interpreten brauchte, der ihm die Schau erst erschloss. Wie Agnes Blannbekin, so benennt auch Bonaventura die beiden Akteure Mensch und Gott. Zunächst sei es der Mensch, der sich bzw. das Seufzen seines Herzens mit dem Rufen im Gebet zu Gott ausstrecke, dann aber, bei der eigentlichen Betrachtung, sei es das göttliche Licht, das aufleuchte und dem sich der Geist direkt und ganz gesammelt zuwendet (directissime et intensissime se convertit). Auch wenn bei dieser Zuwendung dem göttlichen Licht ein gewisser Vorrang beigemessen wird, ist für Bonaventura der Mensch sowohl in seinem Rufen als auch in seinem Schauen als Akteur doch zentral. Die Sehnsucht stellt bei Bonaventura ein zentrales Motiv für den ersten Schritt zu Gott dar. So formuliert der Autor, dass der Mensch meist unfähig sei, den ersten Ursprung in sich selbst wie in einem Spiegel zu schauen.708 Durch viel Äußeres sei der menschliche Geist vom Eintritt ins Innere abgelenkt und kehre überhaupt nicht mehr durch die Sehnsucht nach innerer Süße und geistlicher Freude zu sich selbst zurück. Deshalb könne er auch nicht wieder zu sich als Abbild Gottes eintreten.709 Mithin wäre die besagte Sehnsucht für Bonaventura ein Instrument zu einer solchen Rückkehr. Wenn wir zurückkehren wollen in die selige Freude an der Wahrheit, also gleichsam ins Paradies, dann gibt es nur Eingang durch Glaube, Hoffnung und Liebe zum Mittler dupliciter, scilicet per clamorem orationis, quae rugire facit a gemitu cordis, et per fulgorem speculationis, qua mens ad radios lucis directissime et intensissime se convertit (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum. Der Pilgerweg des Menschen zu Gott: lateinischdeutsch, übersetzt und erläutert von Marianne Schlosser (Theologie der Spiritualität. Quellentexte, 3), Münster 2004, hier: Prolog 3, S. 6–7). Zwei mögliche Übersetzungsvarianten müssen hier angemerkt werden: Für die Wendung ad contemplationes divinas wäre eine Übersetzung mit für eine göttliche Schau denkbar. Bei Desideria autem in nobis inflammantur scheint es sinnvoll, den von Bonaventura verwendeten Plural bei desideria auch in der Übersetzung wiederzugeben, daher: Sehnsüchte aber, lassen sich in uns auf zweifache Weise entflammen. 708 Wörtlich heißt es bei Bonaventura: Mirum autem videtur, cum ostensum sit, quod Deus sit ita propinquus mentibus nostris, quod tam paucorum est in se ipsis primum principium speculari/Angesichts des eben geführten Aufweises, wie nahe Gott unserem Geist ist, scheint es doch sehr verwunderlich, dass nur so wenige Menschen es verstehen, den ersten Ursprung in sich selbst, wie in einem Spiegel zu schauen (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,1, S. 66–67). 709 […] mens humana, sollicitudinibus distracta, non intrat ad se […]; concupiscentiis illecta, ad se ipsam nequaquam revertitur per desiderium suavitatis internae et laetitiae spiritualis. Ideo […] non potest ad se tanquam ad Dei imaginem reintrare (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,1, S. 66 und (deutsche Übersetzung:) S. 67).

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zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus; er ist gleichsam der Baum des Lebens inmitten des Paradieses.710

Die drei theologischen Tugenden,711 Glaube, Liebe und Hoffnung, werden bei Bonaventura den fünf geistlichen Sinnen zugeordnet, die die Rezeption einer Gotteserfahrung gewährleisten. Dazu müssen die fünf geistlichen Sinne in der Seele (wieder)hergestellt werden.712 Über die geistlichen Sinne gibt Bonaventura Auskunft in einem seiner früheren Werke, dem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus: Als ›geistlichen Sinn‹ bezeichnet man das innerliche Mitwirken mit der Gnade im Hinblick auf Gott selbst, insofern dieses Tätigsein der Seele eine Entsprechung zu den fünf Sinnen des Leibes hat. So verstehen es Origenes und Bernhard; […]. Die einen stehen aber mehr auf der Seite des Erkenntnisvermögens, wie Gesichts- und Gehörsinn, die anderen mehr auf der Seite des affektiven Vermögens, wie Geruch, Geschmack und Tastsinn.713

Mit dieser Auslegung der fünf geistlichen Sinne knüpft Bonaventura einerseits an Origenes an, der die geistlichen Sinne als Fähigkeit zur Wahrnehmung übernatürlicher transzendenter Phänomene, wie der Begegnung mit Gott, definiert. Andererseits beziehen die Ausführungen Bonaventuras das aristotelische Modell der körperlichen Sinne mit ein, das im europäischen Mittelalter nicht nur die Anzahl, sondern auch Rangordnung und Gruppierung der Sinne in Sehen und Hören sowie Riechen, Schmecken und Tasten bestimmte.

710 Necesse est igitur, si reintrare volumus ad fruitionem Veritatis tanquam ad paradisum, quod ingrediamur per fidem, spem et caritatem mediatoris Dei et hominum Jesu Christi, qui est tanquam lignum vitae in medio paradisi (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,2, S. 68 und (deutsche Übersetzung:) S. 69). 711 tribus virtutibus theologicis (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,3, S. 68 und (deutsche Übersetzung:) S. 69). 712 Quibus sensibus recuperatis, dum sponsum suum videt et audit, odoratur, gustat et amplexatur, decantare potest tanquam sponsa Canticum canticorum (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,3, S. 70 und (deutsche Übersetzung:) S. 71). 713 […]; et sic sensus spiritualis dicitur usus gratiae interior respectu ipsius Dei secundum proportionem ad quinque sensus. Et sic accipit Origenes et Bernardus […]. Sed quidam se magis tenent ex parte intellectus, ut visus et auditus; quidam ex parte affectus, ut odoratus, gustus et tactus [Hervorhebungen im Original durch Kursivierung] (S. Bonaventurae Opera omnia, 3: Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, 3: In tertium librum sententiarum, hrsg. Collegium a S. Bonaventura, Quaracchi 1887, III distinctio 13 dubium 1, S. 291 [b]-292 [a]) und (deutsche Übersetzung:) Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), S. 208. Siehe dazu auch Marianne Schlosser, Die geistlichen Sinne bei Bonaventura. Download-Dokumentation zur Tagung ›Die fünf geistlichen Sinne. Ganzheitliche Gotteserfahrung in der christlichen Mystik‹ der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Stuttgart-Hohenheim, 26.–27. Juni 2010), https:// www.akademie-rs.de/fileadmin/user_upload/download_archive/religion-oeffentlichkeit/1 00626_schlosser_bonaventura.pdf, S. 6–7 (zuletzt aufgerufen am 04. 06. 2020).

Entgrenzte Sinne: das Olfaktorische in der Kommunikation mit Gott

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In seinem Itinerarium greift Bonaventura das Bild erneut auf, wonach die geistlichen Sinne in der Betrachtung Gottes nötig und mit den Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung verbunden seien. Der Glaube korrespondiert bei Bonaventura mit dem Wort, das über den geistlichen Gesichts- und Gehörsinn rezipiert werden solle; nur so vermöge die Seele geistlich zu hören und zu sehen.714 Durch die Liebe könne der geistliche Geschmacks- und Tastsinn wiederhergestellt werden.715 Den geistlichen Geruchssinn verbindet Bonaventura mit der Tugend der Hoffnung und der Sehnsucht als Ausdruck derselben: Wenn sie [= die Seele, J. S.] aber in der Hoffnung danach seufzt, das eingehauchte Wort in sich aufzunehmen, erlangt sie durch die Sehnsucht des Herzens den geistlichen Geruchssinn.716

Es kann angenommen werden, dass die Sehnsucht wie eine Motivation wirkt. Auch wenn vom eingehauchte[n] Wort die Rede ist, das Gott als Akteur in die Wahrnehmung bringt, bleiben doch der Mensch oder dessen Seele diejenigen, die seufzen, ersehnen und erlangen. Damit unterscheidet sich Bonaventuras Zuordnung von Geruchssinn, Hoffnung und Sehnsucht deutlich von derjenigen bei Agnes Blannbekin, die unter Hervorhebung des Geruchs sehr viel stärker das Handeln Gottes betont und ganz im Sinne einer Brautmystik deutet. Anders als Agnes Blannbekin geht Bonaventura bei der Beschreibung der Sinne von der herausragenden Bedeutung des Menschen aus, die sich auch in der notwendigen Verbindung aller Sinne mit ihren jeweiligen Tugenden ausdrückt. In der Beschreibung der Agnes Blannbekin hingegen erhält der Geruch eine herausragende Stellung und eine Orientierung.

714 Anima igitur credens, sperans et amans Iesum Christum, qui est Verbum incarnatum, increatum et inspiratum, scilicet via, veritas et vita, dum per fidem credit in Christum tanquam in Verbum increatum, quod est Verbum et splendor Patris, recuperat spiritualem auditum et visum: auditum ad suscipiendum Christi sermones, visum ad considerandum illius lucis splendores (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,3, S. 68 und (deutsche Übersetzung:) S. 69). 715 Dum caritate complectitur Verbum incarnatum, ut suscipiens ab ipos delectationem et ut transiens in illud per ecstaticum amorem, recuperat gustum et tactum (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,3, S. 70 und (deutsche Übersetzung:) S. 71). 716 Dum autem spe suspirat ad suscipiendum Verbum inspiratum, per desiderium et affectum recuperat spiritualem olfactum (Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (wie Anm. 707), c. 4,3, S. 68 und 70 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 69 und 71).

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

IV.2 Entgrenzte Eucharistie: vom Küssen und Riechen Die folgenden Unterkapitel werden von dem Begriff der Eucharistie – als Erfahrung der Gegenwart und Gnade Christi – umrahmt, jedoch fehlt allen angeführten Beispielen aus den Visionen der Agnes Blannbekin eine Darstellung klassischen Kommunizierens, das Zelebranten und Kommunizierende vorsieht, die die geweihte Hostie spenden respektive empfangen. Obgleich aus dem Hochund Spätmittelalter viele Hostienwunder bekannt sind, die den Formenkreis des möglichen Kommunionempfangs erweiterten, lassen sich die hier vorgestellten Handlungen nicht darunter subsumieren. In den nächsten zwei Unterkapiteln sind Küsse und Riechen als fromme Handlungen beschrieben und stellen zugleich zentrale Analysegegenstände dar, anhand derer sich zwei scheinbare olfaktorische Gegensätze herausarbeiten lassen: der Wohlgeruch und der Brandgeruch. Ihre Bipolarität ist jedoch vielschichtig; eine Analyse muss zunächst die individuelle Frömmigkeitspraktik des Altarküssens beleuchten und den dabei wahrgenommenen Geruch bzw. die Beschreibung seiner Qualität und besonders seines Vorkommens näher betrachten. Um ein Verständnis von den dazu verwendeten Metaphern zu entwickeln, bedarf es auch einer theologischen Einbettung des Geruchs in seinen religionsgeschichtlichen Kontext. Die daran anknüpfende Betrachtung des Olfaktorischen leitet die Frage ein, welche Handlungsmöglichkeiten sich im Küssen und im Geruch für die Jungfrau Agnes Blannbekin eröffneten. Das dritte Unterkapitel beschäftigt sich mit der Reinheit der Hostie, denn zahlreiche der betrachteten Visionen schildern, dass unwürdige und sündige Priester zelebriert hätten. Diese Darstellungen gewähren damit einerseits Einblick in die allgemeine zeitgenössische Debatte, in der nach der Würdigkeit des Zelebranten sowie nach der unberührten Reinheit und Gnadenwirkung der Hostie gefragt wurde. Andererseits ermöglichen sie es auch, die Sicht der Jungfrau und ihres Beichtvaters auf ebendiese Streitfragen mit Blick auf die Grundlagen der Visionen einer gewissen Jungfrau zu analysieren.

IV.2.a Etwa in der Art einer warmen, süß duftenden Semmel: Versuch einer übersinnlichen Geruchsbeschreibung Bei dem Nachfolgenden handelt es sich um eine undatierte und nicht lokalisierte Erzählung des Beichtvaters über Gewohnheiten der Jungfrau: 40. Kapitel. Über die Altarküsse dieses Mädchens. Es gibt auch etwas anderes Wunderbares, nicht geringer als dieses [= die vorerwähnten Geschmackserlebnisse der Jungfrau bei der Kommunion, J. S.]. Es war jenes Mädchen

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gewohnt, aus Andächtigkeit die Altäre zu küssen, auf denen an jenem Tag die Messe zelebriert wurde. Und dann spürte sie einen so großen Wohlgeruch, etwa in der Art einer warmen, süß duftenden Semmel, aber unvergleichlich süßer. Und sie sagte, daß sie einmal am Abend wiederum den Altar küßte in dem Wunsche, durch jenen so süßen Geruch erbaut zu werden. Dann spürte sie ihn noch, aber nicht mehr so sehr wie am Morgen, als die Messe eben dort gesagt worden war. Und was sehr wunderbar ist, sie sagte, daß sie einmal am Geruch erkannte, welcher Bruder dort die Messe gelesen.717

Aufgrund der Position im Gesamtwerk – im Anschluss an das biografisch-charakteristische Kapitel 39 und die einführenden, meist ebenso undatierten Erzählungen – kann davon ausgegangen werden, dass es sich auch bei Kapitel 40 um einen Bericht handelt, der bewusst kontextlos angeführt wird, weil darin wiederkehrende Gewohnheiten der Jungfrau vorgestellt werden sollen. Darauf verweist auch die einleitende Kommentierung, die der Beichtvater vornimmt: Est et aliud mirabile non minus isto. Dinzelbacher und Vogeler übersetzen mirabile als Wunderbares, was eine positive Konnotation beinhaltet und damit die Interpretation nahelegt, der Beichtvater halte die Handlungen und Erfahrungen der Jungfrau in einem wohlwollenden Sinne für erstaunlich. Es sei jedoch angemerkt, dass mirabile ebenso mit Sonderbares übersetzt werden kann. Im Hinblick auf den Eingangskommentar des Beichtvaters scheint jede der beiden Übersetzungsvarianten für sich plausibel. Erst eine eingehende Analyse wird allerdings klären, warum mirabile im betreffenden Kontext etwas Sonderbares und zugleich Wunderbares bezeichnen kann. Die Erzählung beginnt mit der Schilderung einer Eigentümlichkeit der Jungfrau: Es war jenes Mädchen gewohnt, aus Andächtigkeit die Altäre zu küssen (Consuevit illa puella devotionis causa deosculari altaria). Obgleich im Anschluss sofort darauf hingewiesen wird, dass Agnes’ Gewohnheit des Altarküssens frommen Beweggründen geschuldet sei (devotionis causa), stellte die Handlung für den/die mittelalterliche/-n Rezipienten/Rezipientin eine Provokation dar. Generell war und ist das Küssen von Altären ein Priestern und anderen Zelebranten einer Messfeier vorbehaltenes Ritual, das zu Beginn einer Messe, vor Berührung der Hostie mit dem Altar, nach der Opferung und nach der Kommunion vollzogen wird.718 Die Bedeutung des Altarkusses zu erläutern, birgt 717 Cap. XL. De osculationibus altarium hujus puellae. Est et aliud mirabile non minus isto. Consuevit illa puella devotionis causa deosculari altaria, in quibus illa die missa est celebrata. Et tunc tantam sensit odoris fragrantiam, quasi ad modum similae calidae suaviter redolentis, sed incomparabiliter suavius. Et dixit, quod aliquando in sero iterum deoscultata est altare, quaerens refici illo suavissimo odore. Tunc adhuc sensit, sed non tantum sicut in mane, quando missa recenter fuit ibi dicta. Et quod est valde mirabile, dixit, quod aliquando in odore cognovit, quis frater ibi missam dixisset (Vis. c. virg., Cap. 40, S. 126 und (deutsche Übersetzung:) S. 127). 718 Eine detaillierte Aufzählung der bis ins 13. Jahrhundert hinein liturgisch vorgesehenen Altarküsse während der Messe leistet Dölger; siehe dazu Franz Joseph Dölger, Zu den

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einige Schwierigkeiten. Zunächst muss der Altarkuss während einer Messfeier (das heißt auch zu deren Beginn oder Ende) von einem Grab- oder Reliquienkuss unterschieden werden. Obwohl die Gebeine Heiliger im Altar aufbewahrt werden und durch Küsse Verehrung erfahren können, gilt der Altarkuss nicht ihnen, sondern Christus selbst.719 Dieser Interpretation vorgelagert ist die Annahme, dass Christus selbst durch den Altar symbolisiert werde.720 Anders als in der jüdischen Tradition oder in polytheistischen Religionen, in denen der Altar der Ort der Opferung ist, stellt der Altar in der christlichen Symbolik das Opfer, Christus selbst, dar. Anknüpfend an seine Ausführungen zum Altarkuss, macht der Theologe und Religionswissenschaftler Franz Joseph Dölger darauf aufmerksam, dass man sich die Begegnung mit Christus seit dem dritten Jahrhundert lediglich mit einem Begrüßungskuss habe vorstellen können. In seinen Briefen erläutert Cyprian, Bischof von Karthago (†258), die Begegnung mit Christus vollziehe sich in Umarmung und Kuss und damit werde die höchste Seligkeit erlangt.721 Dabei hanZeremonien der Meßliturgie: Der Altarkuss, in: Antike und Christentum. Kultur und Religionsgeschichtliche Studien 2,3 (1930) [Autor zugleich Herausgeber und alleiniger Bestreiter der Zeitschrift], S. 190–221, hier: S. 191. 719 Durch die vergleichende Analyse verschiedener Messordines kommt Dölger zu dem Ergebnis, dass der Altarkuss nicht mit dem Reliquienkuss zu verwechseln sei. Der Altarkuss wird vom Priester meist nach der Bekreuzigung des Altars vollzogen, woraus Dölger folgert: »Der Kuß gilt also dem Altar und dem durch das Kreuz gesinnbildeten Christus. Der Altarkuß ist somit Kuß des Herrn« (Dölger (wie Anm. 718), S. 199). 720 Dass die Christussymbolik des Altars bereits seit dem vierten Jahrhundert im christlichen Bewusstsein verankert gewesen sei, legt Dölger dar; siehe dazu Dölger (wie Anm. 718), S. 206. In diesem Zusammenhang sei ferner auf die ausführliche Studie Brauns zur geschichtlichen Entwicklung des christlichen Altars verwiesen, in deren letztem Kapitel der Autor die Symbolik des Altars anhand zahlreicher Quellen nachvollzieht. In typisch dogmatischer Deutung begreift er den Altar dabei als Sinnbild Christi und der vom ihm gestifteten Kirche, als Christi Kreuz, Grab, Abendmahltisch oder gar Krippe; siehe dazu Joseph Braun, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1: Arten/Bestandteile/ Altargrab/Weihe/Symbolik, München 1924, S. 750–755. 721 Zu Zeiten Cyprians stellte Karthago den »kirchliche[n] Mittelpunkt« Afrikas dar. Cyprian verfasste zahlreiche Briefe unter anderem an seine Gemeinde, an die Päpste seiner Zeit sowie an Glaubensgenossen in Rom; siehe dazu Julius Baer, Einleitung, in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, 2: Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer (Bibliothek der Kirchenväter. 1. Reihe, 60), München 1928, S. IX– XX, hier: S. IX. In einem Brief an die römischen Bekenner Moyses und Maximus schildert Cyprian die Begegnung mit Christus als Moment der Umarmung und des Kusses, einen Moment höchster Seligkeit. Dabei ist der Kuss, wie in späteren Beispielen auch, mit der Umarmung kombiniert: Ganz glückselig sind diejenigen unter euch, die, auf dieser Bahn des Ruhmes wandelnd, bereits aus der Welt geschieden und zur Umarmung und zum Kusse des Herrn zu dessen eigener Freude gelangt sind, nachdem sie den Weg des Mutes und des Glaubens glücklich durchmessen hatten (Caecilius Cyprianus, Briefe (wie Anm. 721), 37. Brief, c. 3, S. 121), leider ohne genaue Angaben zur Quelle ebenfalls angeführt von Dölger (wie Anm. 718), S. 207.

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delte es sich nicht um einen direkten Kuss (von Lippe zu Lippe oder Haut zu Haut), sondern um eine Berührung mit der Hand, die das Küssen symbolisieren sollte. Mit Blick auf die Passion der Perpetua (†203), die vermutlich auch für die bei Cyprian von Karthago geschilderte Begegnung beispielhaft wirkte, führt Dölger aus, dass Christus den Menschen (Märtyrer/die Märtyrerin) nicht direkt küsse, sondern ihm/ihr mit seiner Hand über das Gesicht streiche.722 Eine Parallele zu dieser Kussform findet sich bei Agnes Blannbekin, als diese während einer Messe innerhalb einer Vision Christus begegnete: Nach kurzem unter derselben Messe sah sie im Geiste auf eine rechte, von einer länglichen Wunde durchbohrte Hand, sie fühlte freilich, daß der Herr da sei, aber sah nichts als die Hand. Es legte der Herr auch die Handfläche auf ihren Mund und ihr Antlitz; von seiner Berührung fühlte sie einen wunderbaren Wohlgeruch und den Brand der Andacht und Liebe im Herzen, und von solcher Sehnsuchtsglut glühte sie, daß sie es kaum aushalten konnte. Im Antlitz spürte sie den Brand auch körperlich von der Berührung der verwundeten Hand.723

Die Anwesenheit Christi spürte sie nicht nur in der Berührung, sondern die Gegenwart Gottes in Gestalt des Sohnes kündigte sich gemäß der Vorstellung der göttlichen Epiphanie auch olfaktorisch durch wunderbaren Wohlgeruch an. Die geschilderte gleichzeitige Berührung, die eine Kussvariante darstellt, ist allerdings von dem aktiven Küssen der Altäre durch die Jungfrau zu unterscheiden. Auf die Wirkmächtigkeit des Kusses als symbolische Handlung weist 1990 der Bielefelder Mediävist Klaus Schreiner hin, der die metaphorischen, kommunikativen und herrschaftlichen Funktionen des Kusses in der mittelalterlichen Gesellschaft analysiert. Er betont die Vielfalt der Wirkung des Kusses, in dem »soziale Beziehungen, herrschaftliche Abhängigkeiten und kollektive Solidaritäten sinnlich anschaulichen Charakter«724 gewonnen hätten. Neben dem Kuss zwischen Liebenden oder dem Begrüßungskuss zwischen Freunden galt der Kuss im rechtlichen Bereich als abschließender Akt und sichtbares Zeichen einer 722 Wir traten hinein mit Staunen und standen vor dem Thron, und die vier Engel hoben uns in die Höhe, und wir küßten jenen, und mit seiner Hand streichelte er uns über das Gesicht. Und die übrigen Ältesten sagten uns: ›Lasset uns stehen (zum Gebet)‹. Und wir standen und gaben (einander) den Frieden (Passio Perpetuae 12,5,6 in der deutschen Übersetzung bei Dölger (wie Anm. 718), S. 208). 723 Post modicum sub eadem missa in spiritu vidit manum dextram vulnere oblongo perforatam. Sensit quidem adesse dominum, sed non vidit nisi manum. Expandit quoque dominus palmam per os ejus et faciem, ex cujus contactu sensit miram fragrantiam odoris et incendium devotionis et amoris in corde; et tanto ardore desiderii aestuabat, ut vix sustinere posset. In facie quoque sensit corporaliter incendium ex contactu vulneratae manus; […] (Vis. c. virg., Cap. 167, S. 348 und (deutsche Übersetzung:) S. 349). 724 Klaus Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (Osculetur me osculo ori sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hrsg. Hedda Ragotzky und Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 89–132, hier: S. 129.

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personalen Bindung.725 Gleichzeitig konnte der Kuss ein Zeichen der Wertschätzung für bestimmte soziale Gruppen sein, wie Franz von Assisi oder Elisabeth von Thüringen durch das Küssen von Leprösen zu zeigen versuchten.726 Weite Verbreitung erfuhr im christlich geprägten Mittelalter das osculum pacis, der Kuss als Zeichen des Friedens, wie Schreiner erläutert.727 Als theologische Metapher fand der Kuss auch in der Frömmigkeitsliteratur des Mittelalters Gebrauch, in der er nicht mehr nur Zeichen des Friedens, sondern vielmehr Ausdruck einer mit irdischen Mitteln nicht mehr greifbaren Liebe wurde.728 Ausgangspunkt dafür war der Vers des Hoheliedes Mit Küssen seines Mundes küsse er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe (Hld 1,2),729 der von zahlreichen mittelalterlichen Theologen kommentiert und ausgelegt wurde. In seinen Predigten zum Hohelied setzt Bernhard von Clairvaux sich an mehreren Stellen mit dem Kuss auseinander, den er ebenfalls als Zeichen des Friedens versteht. Die sich im Kuss vollziehende Berührung (der Lippen) interpretiert der Zisterzienser als eine tiefe

725 In seinem Aufsatz »Kuss und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände. Zeichen personaler Bindung und ihre Funktion in der symbolischen Kommunikation des Mittelalters« erläutert van Eickels, dass die Bindung zwischen dem Vasallen und dem Herrn nicht nur mit Handgang und Treueid, sondern auch mit einem innigen Kuss auf den Mund besiegelt worden sei. Der Kuss könne auch als Ausgangspunkt für neue rechtliche Beziehungen gesehen werden, wie van Eickels am Beispiel Heinrichs II. von England und seines Sohnes Richard Löwenherz verdeutlicht, die mit einem Kuss einen Neubeginn ihres politischen Verhältnisses besiegelt hätten. Auf die Kombination von Kuss und Umarmung, wie sie sich beispielsweise schon im oben zitierten Brief des Cyprian von Karthago erwähnt findet, weist auch van Eickels hin; siehe dazu Klaus van Eickels, Kuss und Kinngriff, Umarmung und verschränkte Hände. Zeichen personaler Bindung und ihre Funktion in der symbolischen Kommunikation des Mittelalters, in: Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hrsg. Jürgen Martschukat und Steffen Patzold (Norm und Struktur, 19), Köln 2003, S. 133– 160, hier: S. 141–142. 726 Zu Elisabeth von Thüringen siehe Libellus, hrsg. Huyskens (wie Anm. 483), 889–896 und zu Franz von Assisi siehe Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung (wie Anm. 542), c. 17, S. 209–210 oder Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung (wie Anm. 705), c. 9, S. 304–305, aber auch Bonaventura von Bagnoregio, Legenda Maior – das Große Franziskusleben [LM], auf der Grundlage der Übersetzung von Sophronius Clasen, neu bearbeitet von Marianne Schlosser und Paul Zahner, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 686–778, hier: I. Kapitel, 5–6, S. 696–697 sowie II. Kapitel, 6, S. 700–701. Siehe dazu außerdem Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 103. 727 Siehe dazu Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 98– 102. 728 Schreiner sieht die Kraft des Kusses als theologische Metapher darin begründet, »Unbegreifbares vorstellbar und verständlich zu machen« (Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 90). 729 Hier sei darauf verwiesen, dass die Vereinigung im Hohelied mittels eines Kusses dargestellt ist.

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Berührung, ein Umfangen der Seelen.730 Anknüpfend daran, wurde der Kuss als Metapher für die »Beziehung zwischen Gott und Seele«731 verstanden. Laut Schreiner deute Bernhard von Clairvaux selbst den Kuss zudem als Zeichen für Christus.732 Dieser christologischen Deutung folgt der Franziskaner Bonaventura, der im Kuss außerdem ein Zeichen der Liebe und des Friedens sieht.733 Gleichzeitig liege der Ursprung des Küssens (deosculationis origo), so Bonaventura, im fleischgewordenen Wort (in verbo incarnato), in dem eine Einheit (unio) aus äußerster Liebe (summi amoris) und einer Verbindung zweifacher Natur (connexio duplicis naturae) bestehe; aufgrund dieser (per quam) küsse Gott uns, und wir küssten Gott.734 Bevor Parallelen in der Verwendung des Kusses und dessen Deutung in den Visionen der Agnes Blannbekin erörtert werden können, muss der Kuss im zu Beginn dieses Abschnitts wieder gegebenen 40. Kapitel genauer analysiert werden. Das darin verwendete deosculari bezeichnet im Vergleich zum gewöhnlichen Küssen, osculari, eine passionierte Form des Küssens, ein Abküssen. Hinzu kommt, dass Frauen sowohl das Küssen der Altäre als auch das Betreten des Altarraumes untersagt war,735 foglich eine regelwidrige Handlung seitens der 730 Dort zeigt die Berührung der Lippen die Verschmelzung der Herzen an, hier aber verbindet die Vereinigung der Naturen das Menschliche mit dem Göttlichen, sie versöhnt, was auf Erden und was im Himmel ist/Et ibi quidem contactus labiorum complexum significat animorum, hic autem confoederatio naturarum divinis humana componit, quae in terra sunt et quae in caelis pacificans (Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum I–XXXVIII – Predigten über das Hohelied 1–38, in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, 5, hrsg. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1994, S. 53–591, hier: Sermo II, 3, S. 68–69). 731 Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 94. 732 »Christus sei«, so gibt Schreiner das Verständnis Bernhards von Clairvaux wieder, »der von Gott der Welt gewährte Kuß« (Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 95). 733 Osculum enim signum est amoris et pacis (S. Bonaventurae Opera omnia, 7: Commentarius in evangelium S. Lucae, hrsg. Collegium a S. Bonaventura, Quaracchi 1895, c. 15,34, S. 395 [a]). 734 Istius deosculationis origo est in Verbo incarnato, in quo est unio summi amoris et connexionis duplicis naturae, per quam Deus nos osculatur, et nos Deum deosculamur, secundum illud Canticorum octavo: « Quis mihi det te fratrem meum, ut inveniam te foris et deosculer te, et iam me nemo despiciat » etc. (Bonaventura, Commentarius in evangelium S. Lucae (wie Anm. 733), c. 15,34, S. 395 [b]). Siehe dazu Schreiner, »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 724), S. 94. 735 Bereits Bischof Theodulf von Orléans (†821) verbot in einem um 800 entstandenen Kapitular Frauen das Betreten des Altarraums sowie die Benutzung liturgischer Geräte. Im Text der Quelle zeigt sich seine didaktische Absicht, Frauen durch die Untersagung ihre untergeordnete Rolle bewusst zu machen: Feminae, missam sacerdote celebrante, nequaquam ad altare accedant, sed locis suis stent et ibi sacerdos earum oblationes Deo oblaturus accipiat. Memores enim esse debent feminae infirmitatis suae et sexus imbecillitatis: et idcirco sancta quaelibet in ministerio ecclesiae contingere pertimescant. Quae etiam laici viri pertimescere debent, ne Ozae poenam subeant, qui dum arcam Domini extraordinarie contingere voluit,

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Agnes Blannbekin vorlag. Trotz dieser Grenzüberschreitung finden sich im Text mehrere Verweise auf die Wiederholung der Handlung.736 Für diese Untersuchung leitend ist die Frage, was genau Agnes Blannbekin zu welchem Zeitpunkt küsste. In Kapitel 40 wird lediglich allgemein von einem leidenschaftlichen Küssen der Altäre (deosculari altaria) berichtet. Eine detailliertere Beschreibung bietet das Kapitel 175, dessen erster Teil, sinngemäß mit Kapitel 40 übereinstimmend, die Gewohnheit des Altarküssens schildert. 175. Kapitel. Über das Altarküssen und über eine Süße in der Art einer Semmel. An diesen Tagen geschah es, daß sie das Tuch des Altares küßte, auf dem an jenem Tag die Messe gefeiert worden war – dies nämlich war sie aus Andacht gewohnt, jeden Tag zu tun. In diesem Kuß bereitete der Herr ihrer Andacht diese Tröstung, daß sie immer, wenn sie einen Altar küßte, auf dem an jenem Tag die Messe gesagt worden war, eine wunderbare Duftsüße in der Art einer warmen Semmel fühlte. Dennoch übertraf die Süße davon unvergleichlich den Duft einer Semmel. Denn aus der Süße dieses Duftes fühlte sie im Geiste die süßeste Verwandlung. Als sie also den Altar abdeckte, sah sie etwas wie einen Tropfen, und meinend, daß es eine Andachtsträne wäre, vergossen vom Priester, der eben dort die Messe zelebriert hatte (und) zu dem sie besonderer [sic] Gunst hatte, küßte sie froh geworden jenen Tropfen. Aber nichts fühlte sie von der Süße des gewohnten Duftes. Daher wurde sie alsbald traurig und ging zu einem anderen Altar und jenen abküssend empfing sie dort die gewohnte Süße. Sie wunderte sich auch, warum denn dies sei, und die Stimme sagte zu ihr: ›Dies ist daher, dass du wissen mögest, dies ist allein ein Gottesgeschenk. Und erhoffe nicht von woanders diese Tröstung und meine nicht, etwas wegen der Heiligkeit des Zelebrierenden zu fühlen!‹737 Domino percutiente interiit. (Capitulare Theodulfi, Canon 6, in: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 13, hrsg. Joannes Domenicus Mansi, Paris 1901 (unveränderter Nachdruck: Graz 1960), S. 996. 736 Im Doppelkapitel 208/9, das zur Fastenzeit handelt, wird sie von einer Stimme aufgefordert hinter den Altar zu kommen, wo sie von einer körperlichen Lähmung erfüllt wird. Die Kapitel 175 und 230 beschreiben ebenfalls das Küssen der Altäre und werden im Folgenden genauer analysiert. Im Kapitel 154 wird berichtet, dass ein Lamm die Gewänder der zelebrierenden Priester während einer Messfeier küsste und nachfolgend auch die Jungfrau von diesem Lamm geküsst wurde. 737 Cap. CLXXV. De osculationibus altarium et de suavitate ad modum similae calidae. His diebus accidit, ut oscularetur super pallam altaris, in quo illa die missa fuerat celebrata – hoc enim prae devotione solita erat facere omni die – in quo osculo dominus ejus devotioni reddidit hanc consolationem, ut semper, quando altare oscularetur, in quo illa die missa fuisset dicta, ipsa sentiret miram odoris suavitatem ad modum similae calidae. Tamen suavitas istius incomparabiliter odorem vincebat similae. Nam ex hujus odoris suavitate in spiritu sensit immutationem suavissimam. Igitur discooperiens altare vidit quasi stillam et reputans, quod foret lachryma devotionis fusa a sacerdote, qui tunc missam ibi celebraverat, ad quem ipsa habuit gratiam specialem, hilaris facta super illam stillam osculabatur. Sed nihil sensit de suavitate soliti odoris. Unde mox tristis facta ivit ad aliud altare et illud

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Für den nun folgenden Vergleich wird zunächst nur der erste Absatz herangezogen, in dem die Gewohnheit des Altarküssens Erwähnung findet. Ferner wird mit einer gewissen Betonung Andacht als Movens dieser Handlung genannt. Im Gegensatz zum Kapitel 40 – in dem es heißt, die Jungfrau bedenke diejenigen Altäre (altaria) mit Küssen, an denen an jenem Tag die Messe zelebriert worden sei – wird im 175. Kapitel genauer berichtet, dass es das für die bereits stattgefundene Messe genutzte Altartuch gewesen sei, über das (super pallam altaris) die Jungfrau ihre Küsse verteilt habe. Das Altartuch zählt zu den ältesten gebräuchlichen liturgischen Paramenten – textilen Gebrauchs- und Ausstattungsgegenständen, die gottesdienstlichen Zwecken dienen –, das früh Verwendung fand und dessen Nutzung ab dem 4. Jahrhundert belegt werden kann.738 Seine Anzahl sowie Gestaltung variierten im Lauf der Jahrhunderte, wie stoffliche Überreste und bildliche Darstellungen beweisen. Zur Erläuterung der Symbolik des Altartuchs benennt der Kirchenhistoriker Braun in seinem Handbuch zu liturgischen Paramenten mehrere Anknüpfungspunkte: Nach einem Dekret Silvesters I. seien Altartücher Sinnbilder für die Grabtücher Jesu; Wilhelm Durandus von Mende hingegen verstehe die Altartücher als Zeichen der Menschwerdung Christi.739 Des Weiteren könnten deosculans percepit ibi suavitatem solitam. Mirabatur quoque, curnam [= cur nam, J. S.] hoc esset, et vox ad eam: ›Hoc‹, inquit, ›ideo est, ut scias istud solius dei donum esse. Nec speres aliunde hanc consolationem nec puta te aliquid sentire propter celebrantis sanctitatem!‹ (Vis. c. virg., Cap. 175, S. 364 und 366 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 365). 738 Auch mit liturgischen Paramenten setzt sich der Jesuit Braun derart detailkundig fundiert auseinander, dass sein entsprechendes Handbuch noch immer als Grundlage verwendet werden kann; siehe dazu Joseph Braun, Die liturgischen Paramente in Gegenwart und Vergangenheit. Ein Handbuch der Paramentik, 2., verbesserte Auflage, Freiburg im Breisgau 1924, S. 184–185. 739 Leider macht Braun in diesem Zusammenhang keine näheren Angaben zur Textstelle. Er scheint sich jedoch auf das Rationale divinorum officiorum zu beziehen, das Bischof Wilhelm (Guilelmus) Durandus von Mende (1230–1296) im 13. Jahrhundert veröffentlichte und das fortan als das Handbuch für Kleriker galt, das allegorische Erklärungen sämtlicher liturgischer Gegenstände und Zusammenhänge beinhaltet. Im Rationale kommt Durandus im zweiten Kapitel des ersten Buches auf den Altar zu sprechen, wobei er ihn zunächst zum eigenen Herzen in Beziehung setzt. Auf die Altartücher geht er dann im zwölften Paragrafen des besagten zweiten Kapitels ein, in dem er sie als Fleisch oder Demut des Erlösers betrachtet. Das Bekleiden des Altares zeige laut Durandus die Verbindung der Seele mit einem unsterblichen und unvergänglichen Körper, dieser Körper sei der Altar. Werde der Altar mit reinen und weißen Tüchern geschmückt, gleiche dies dem Schmücken des Herzens mit guten Werken. Siehe dazu Wilhelm Durandus, Rationale divinorum officiorum. Übersetzung und Verzeichnisse von Herbert Douteil. Mit einer Einführung hrsg. und bearbeitet von Rudolf Suntrup, 1 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 107), Münster 2016, I (Von der Kirche und den kirchlichen Orten und Ornaten, von den Konsekrationen und Sakramenten) c. 2 (Vom Altar), 6, S. 69–70, c. 2,11, S. 71 sowie I c. 2,12, S. 72. Ergänzend dazu sei hingewiesen auf den Aufsatz von Kirstin Faupel-Drevs, Bildraum als Kultraum? Symbolische und liturgische Raumgestaltung im ›Rationale divinorum officiorum‹ des Durandus von Mende, in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter [30. Kölner Me-

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die Altartücher als Zeichen der Heiligen gelesen werden, die mit ihren Taten und Leben Christus schmückten.740 Mehr als der symbolische Gehalt des Altartuches hilft bei der Interpretation der vorliegenden Textstelle allerdings der praktische Nutzen der Altartücher weiter: Ist der Altar mit Altartüchern gedeckt, ist er für die Darbringung des Opfers bereit und vermittelt einen zeitlichen Hinweis. Gleichzeitig hat das Altartuch den Zweck, im Fall einer unabsichtlichen Verschüttung des heiligen Blutes, dieses nicht bis zum Altar durchdringen zu lassen.741 Die Jungfrau Agnes küsste die Altäre nicht zu einem beliebigen Moment, sondern nachdem darauf die Messe gehalten worden war, was beide Male explizit erwähnt wird. Der Altar war kurz zuvor mit der Hostie in Berührung gekommen, sodass Christus wegen der Verwandlung der Hostie in der Eucharistie noch olfaktorisch anwesend sein konnte. Trotz oder gerade wegen ihres nonkonformen Verhaltens nahm die Jungfrau beim Küssen des (gedeckten) Altars einen Wohlgeruch wahr, in Kapitel 40 mit sensit odoris fragrantiam und in Kapitel 175 mit sentiret miram odoris suavitatem ausgedrückt. Ob es sich bei dem beschriebenen Geruchserlebnis um eine Vision handelte, ist auf den ersten Blick zu verneinen, denn der Beichtvater kennzeichnet meist, wenn er von einem entrückten Zustand der Seele berichtet.742 Solch ein deutlicher Hinweis fehlt sowohl im 40. als auch im 175. Kapitel. Zu beachten ist dennoch die Art und Weise der Perzeption des Wohlgeruchs: In beiden Kapiteln wird seine Aufnahme mit dem Verb sentire beschrieben; Dinzelbacher und Vogeler übertragen im Kapitel 40 sensit mit spürte und im Kapitel 175 sentiret mit fühlte. Eine Übertragung mit nahm […] wahr wäre angebrachter, da sensit/sentiret sich in beiden Fällen durchaus auf die ganzheitliche sinnliche Wahrnehmung bezieht, die durch odoris fragrantiam bzw. miram odoris suavitatem als olfaktorische Erfahrung spezifiziert wird. Um den wahrgenommenen Wohlgeruch in Worte zu fassen, wird beide Male der gleiche Vergleich herangezogen: etwa in der Art einer warmen, süß duftenden diaevistentagung, 10.–13. September 1996], hrsg. Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Miscellanea mediaevalia, 25), Berlin 1998, S. 665–684. 740 Siehe dazu Braun, Die liturgischen Paramente (wie Anm. 738), S. 189–190. 741 Braun führt mehrere Bußverordungen an, die eine Buße für denjenigen festsetzen, der unglücklicherweise konsekrierten und gewandelten Wein verschüttet; siehe dazu Braun, Die liturgischen Paramente (wie Anm. 738), S. 185–186. 742 So heißt es beispielsweise im Kapitel 37: In ista revelatione fuit tota interius plena lumine, ita ut se ipsam totam conspiceret/In dieser Offenbarung war sie innen ganz voll von Licht, so daß sie sich selbst ganz betrachtete (Vis. c. virg., Cap. 37, S. 118 und (deutsche Übersetzung:) S. 119). An anderen Stellen, etwa im Kapitel 38, wird der Visionserhalt mit Worten wie den folgenden (oder ähnlichen) gekennzeichnet: Et ibi mox facta est super eam manus domini, […]/Und dort kam alsbald über sie die Hand des Herrn, […] (Vis. c. virg., Cap. 38, S. 120 und (deutsche Übersetzung:) S. 121).

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Semmel, aber unvergleichlich süßer (quasi ad modum similae calidae suaviter redolentis, sed incomparabiliter suavius) in Kapitel 40 und eine wunderbare Duftsüße in der Art einer warmen Semmel (miram odoris suavitatem ad modum similae calidae) in Kapitel 175. Dass ein süß duftendes Brötchen – übersetzt in der österreichisch-süddeutschen Variante mit Semmel – als Vergleichsobjekt angeführt wird, scheint einerseits inadäquat und lässt andererseits rasch einen Bezug zur Hostie vermuten, da trotz Geruchsorientierung auch die orale Empfindung (süß/Süße) mit einbezogen wird. Verschiedene Erklärungsansätze können beleuchten, warum dieser Vergleich verwendet wurde. Ist er einem Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten geschuldet? In einem 1987 erschienenen Aufsatz zu Agnes Blannbekin thematisiert Stoklaska die Schwierigkeiten der Versprachlichung mystischer Erfahrungen im Allgemeinen und konstatiert, die »Verwendung von ›unpassenden‹ Bezeichnungen und Termini aus dem Bereich von Gefühlsempfindung und sinnlichen Eindrücken« sei unvermeidlich, da die »mystische Erfahrung (außerhalb der realistischen ›natürlichen‹ Erfahrungsmöglichkeiten) auf notgedrungen inadäquate Weise in den menschlichen Erfahrungshorizont eingegliedert wird«.743 Ähnliches beobachtet der Germanist Alois M. Haas in seinem 1974 veröffentlichten Aufsatz »Die Problematik von Sprache und Erfahrung in der deutschen Mystik«, denn, so erläutert Haas, die Darstellung des Verhältnisses von Sprache und Schau stehe vor dem Problem der »Inkommensurabilität«.744 Die Andeutung des Semmelgeschmacks und der explizierte Duft-Vergleich in den untersuchten Kapiteln 40 und 175 scheinen unbeholfene Versuche der Vermittlung mystischer Erfahrung zu sein. Diese Argumentationslinie verfolgend, sei unterstützend hinzugefügt, dass der Aufzeichnende oder eventuell gar die Protagonistin selbst eine Unzulänglichkeit der Formulierung nicht ausschließt, wenn er/sie sich bei der Geschmacks- bzw. Geruchsbeschreibung der Wendung (quasi) ad modum bedient, was nicht nur in den gerade genannten Kapiteln geschieht, sondern auch im 37. Kapitel, in dem das Erfühlen der Vorhaut Christi auf der Zunge mit demjenigen eines Eihäutchens verglichen (ad modum pelliculae ovi) und der provisorische Charakter der Formulierungen unterstrichen wird. Zwei Punkte lassen sich festhalten: Erstens handelt es sich bei den beschriebenen Empfindungen nicht um irdische Wahrnehmungen, sondern um transzendente Erfahrungen, deren sprachliche Wiedergabe eine Herausforderung für die Jungfrau und ihren Beichtvater darstellte. Somit kann für die Fälle der Kapitel 40 und 175 gefolgert werden, dass eine Vision vorliegt, auch wenn sich keine der sonst üblichen 743 Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 13. 744 Alois M. Haas, Die Problematik von Sprache und Erfahrung in der deutschen Mystik, in: Grundfragen der Mystik hrsg. Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar und Alois M. Haas (Kriterien, 33), Einsiedeln 1974, S. 73–104, hier: S. 76.

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Hinweise darauf im Text finden. Die Annahme einer Vision betrifft auch der zweite anzumerkende Punkt: Die Verwendung von ad modum könnte nicht nur auf Hürden für die sprachliche Wiedergabe hindeuten, sondern ebenso einen Einblick in den Kommunikationsprozess zwischen der Jungfrau und ihrem Beichtvater gewähren. Es ist vorstellbar, dass Letzterer die Vergleiche mit der Semmel und dem Eihäutchen einfügte, um die eigentlich unvergleichliche Empfindung der Jungfrau, bei deren Beschreibung diese nach den richtigen Worten gerungen haben mag, schriftlich erfassen zu können – wenn auch nur annäherungsweise. Herausforderungen bei der adäquaten Wiedergabe des Erlebten könnten demnach die erwähnten Vergleiche begründen. Eine weitere Erklärung bietet die Deutung der Beschreibung innerhalb des christlichen Symbolspektrums. Hierbei wäre kritisch zu fragen, ob der Semmelvergleich tatsächlich eine Assoziation mit der Hostie hervorrufen soll. Dieser Vermutung muss zunächst entgegengehalten werden, dass die katholische Kirche seit der Karolingerzeit nur Mehl und Wasser als Zutaten für die Hostie, sogenanntes ungesäuertes Brot, verwendete. Ferner sollte eine Konkretisierung der Opfergabe in Form von Brot oder Rotwein vermieden werden.745 Trotz der theologischen Begründung dafür sollte jedoch wenigstens die Assoziation mit den Opfergaben hergestellt werden, da einer Norm nicht immer eine lebenspraktische Entsprechung gegenüberstand. Die Jungfrau bediente sich einer Geschmacks- und Geruchsbeschreibung, die im Kapitel 40 durch suaviter, suavius, suavissimo – den Positiv und Komparativ eines Adverbs sowie den Superlativ eines Adjektivs – positiv konnotiert und mittels redolentis bzw. odore auf den Geruchssinn ausgerichtet wird. Aufschlussreich ist, was der Beichtvater im vorangestellten Kapitel 39 als Einblick in ihr Essverhalten angibt: Mit dieser Marter freiwilligen Hungers um Gottes willen kasteite sie gut zehn Jahre lang ihr Leben, beginnend, als sie sieben Jahre alt war. Fleisch aß sie in dreißig Jahren kaum bei einem Mahl. Jeden Tag fastete sie, ausgenommen den Sonntag. Sie sagte, daß sie nie mit Genuss am Geschmack Speise zu sich nähme und daß sie oft deswegen weinte, daß sie materielle Speise essen mußte.746

745 Zur Beschaffenheit der Hostie und der damit verbundenen theologischen Auseinandersetzung mittelalterlicher Theologen siehe Miri Rubin, Corpus Christi: The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge [u. a.] 1991, hier besonders: die Kapitel »The theological discussion on the nature of the eucharist«, S. 14–35 und »Matter and performance: bread and wine« S. 35–49. 746 Hoc cruciatu famis voluntariae propter deum bene per decem annos vitam actitabat, incipiens, cum septem foret annorum. Carnes per triginta annos vix ad unum comedit pastum. Omni die jejunavit praeter dominicum diem. Dixit, quod nunquam cum delectatione gustus cibum sumeret et quod saepe flevit pro eo, quod oportuit eam manducare corporalem cibum. (Vis. c. virg., Cap. 39, S. 122 und (deutsche Übersetzung:) S. 123).

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Der Semmelduftvergleich ist nicht zwingend mit einer gustatorischen Komponente gepaart. Meist bedient man sich hilfesuchend gustatorischer Vokabeln zur Umschreibung von Düften, da das sprachliche Repertoire zur Artikulation von Gerüchen sehr gering war und oftmals noch ist.747 Da Agnes Blannbekin weltlichen Speisen wenig abgewinnen konnte, scheint der Semmelvergleich eher auf eine Assoziation mit liturgischen Speisen angelegt zu sein, aber eben nicht als Essbarem, sondern als Ausdruck der Präsenz Christi. Damit dürfte die Verwendung des Vergleichs eine erhöhte Eucharistiefrömmigkeit spiegeln. Weiterhin roch der wahrgenommene Duft laut der Jungfrau/dem Beichtvater zwar ähnlich süß wie eine Semmel, jedoch unvergleichlich süßer (incomparabiliter suavius). Es wird zwar ein irdisches Vergleichsobjekt herangezogen, aber sofort danach hinzugefügt, dass sowohl dieses als auch alle anderen irdischen Objekte dem Vergleich nicht standhalten könnten. Der wahrgenommene Geruch wird deutlich positiv bewertet, soll in der diesseitigen Welt aber ohne Gleichen sein, was ein weiteres Mal die Vermutung stützt, dass eine transzendente Erfahrung vorgelegen habe und die geschilderten Begebenheiten sich innerhalb einer Vision ereignet hätten. Dafür spricht auch der erbauliche Charakter des Duftes, von dem die Rede ist und der in Agnes Blannbekin den Wunsch geweckt habe, ihn erneut zu erleben. Um den süßen Duft und seine religiös erhebende Qualität zu erklären, erweist sich ein Blick in die christliche Dufttheologie als hilfreich. Eine Grundlage zu ihrem Verständnis bilden neu- und alttestamentarische Bibeltexte sowie kultische Traditionen griechischen und römischen Ursprungs. In zwei Paulusepisteln und einem pseudopaulinischen Brief finden sich mögliche Wurzeln der bei Agnes Blannbekin verwendeten Duftsymbolik. Zunächst zu einer Stelle im Philipperbrief: Ich [= Paulus, J. S.] habe alles empfangen und habe Überfluss; ich lebe in Fülle. Mir fehlt nichts mehr, seit ich von Epaphroditus eure Gaben erhielt, einen Wohlgeruch, eine angenehme Opfergabe, die Gott gefällt (Phil 4,18).

Bei der Gemeinde von Philippi handelte es sich um eine der ersten von Paulus selbst gegründeten Gemeinden auf europäischem Boden, zu der der Apostel ein

747 Wie bereits oben erläutert, kann der Mensch im Laufe seines Lebens bis zu einer Billion Gerüche unterscheiden. Gleichwohl ist das sprachliche Repertoire zur Distinktion dieser Vielzahl viel zu gering und zu unbestimmt. Dies zeigt sich zum einen beim Versuch, Wahrnehmungen zeitgleich gerochener oder in der Erinnerung gespeicherter Gerüche individuell zu verbalisieren. Zum anderen wird daran deutlich, dass es an einer wissenschaftlich anerkannten Klassifikation von Gerüchen mangelt; siehe dazu Raab (wie Anm. 1), S. 28, 31–32 und 34.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Verhältnis von »dauerhafte[m] Wohlwollen und Vertrauen«748 unterhielt. Aufgrund dieser besonderen Verbindung sind mit der Wendung alles empfangen vermutlich finanzielle Spenden angesprochen, die Paulus angenommen hatte. Diese Unterstützung betitelt Paulus im Folgenden als einen Wohlgeruch und eine angenehme Opfergabe, die Gott gefällt. Die Verbindung von Opfer und Duft findet sich auch im pseudopaulinischen749 Epheserbrief: Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und führt euer Leben in Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer, das Gott gefällt! (Eph 5,1–2)

Die deutsche Übersetzung verdeckt, dass im Vulgata-Text des Briefes an die Epheser der Wohlgeruch Ausdruck der Gabe und des Opfers ist: Estote ergo imitatores Dei sicut filii carissimi et ambulate in dilectione sicut et Christus dilexit nos et tradidit se ipsum pro nobis oblationem et hostiam Deo in odorem suavitatis. (Eph 5,1–2)

Allerdings handelt es sich nicht um ein Opfer, das die Gläubigen darbringen, sondern um das Opfer der Selbsthingabe Jesu Christi für die Menschen. Die Verbindung von Opfer und Duft findet bereits im Alten Testament Verwendung, mit besonderem Bezug zum Brandopfer. So heißt es in Lev (3. Mose) 1,9 über die Opferung eines Stieres: […]. Ein Brandopfer ist es, ein Feueropfer zum beruhigenden Duft für den HERRN. Auch an weiteren Stellen der Bücher Mose begegnet im Zusammenhang mit Brandopfern die Wendung des beruhigenden Duft[s], mit dem Gottes Zorn beschwichtigt750 und Unheil von den Menschen abgewandt wird.751 Zur Unterstreichung dieser Lesart weist Bechmann auf die gleiche Schreibweise der Worte ›Nase‹ und ›Zorn‹ in der hebräischen Sprache hin.752 748 So bezeichnet Kügler die Beziehung zwischen Paulus und dieser Gemeinde; siehe dazu Joachim Kügler, Duftmetaphorik im Neuen Testament, in: Die Macht der Nase (wie Anm. 126), S. 123–172, hier: S. 123. 749 Kügler merkt an, dass es sich bei dem Epheserbrief nach überwiegender Meinung der modernen Bibelforschung nicht um einen von Paulus verfassten, sondern um ein Schreiben aus der frühchristlichen Paulustradition handele; siehe dazu Kügler, Duftmetaphorik im Neuen Testament (wie Anm. 748), S. 128–129. Trotz der unklaren Autorschaft kann die oben zitierte Stelle als weiterer Beleg für ein Element des christlichen Duftsystems gelesen werden, da nicht die Autorschaft des Textes, sondern seine Wahrnehmung als biblisch ausschlaggebend ist. 750 Siehe dazu Gen (1. Mose) 8,20–21: Dann baute Noach dem HERRN einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Der HERR roch den beruhigenden Duft und der HERR sprach in seinem Herzen: Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 751 In Lev (3. Mose) 26,31 wird auf die beruhigende und Unheil abwendende Wirkung in einem für das Volk Israel nachteiligen Sinne Bezug genommen: Ich mache eure Städte zu Ruinen,

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Überträgt man diese Erkenntnisse auf das christliche Religionsverständnis, symbolisiert Jesus das »vollkommenste Opfer, das Gott je dargebracht wurde«,753 weil er als Sohn Gottes die göttliche und menschliche Natur verbindet. Obgleich Christi Tod am Kreuz kein Brandopfer im alttestamentarischen Sinne war, nahm er, so das christliche Glaubensverständnis, mit seiner Selbsthingabe für die Gläubigen durch den Tod als Lamm Gottes die Sünden der Menschheit hinweg.754 Der Kreuzestod stellt somit einen duftenden Opfertod par excellence dar. Der Verwendung von Weihrauch liegt das alttestamentarische Opferbild zugrunde. Für den Bund zwischen Jahwe und den Menschen konnte das Blut einer zu reinigenden Person zum Altar gebracht werden, das meist durch Tierblut ersetzt wurde. In Lev 17,14 wird Blut als Zeichen des Lebens und Träger der Seele gesehen und habe laut Le Guérer dargebracht werden müssen, »bevor das Opfertier auf dem Altar verbrannte, sonst konnte das Sühneopfer von Gott nicht günstig aufgenommen werden«.755 Als Lebenssymbol solle Blut aber nicht nur beim Menschen und Tier, sondern auch in der Verwendung von Weihrauch verstanden werden. Denn Weihrauch, der aus Harz besteht, sei »wie jeder Pflanzensaft Träger des Lebens, wegen seiner Geruchseigenschaften aber neben dem Blut das vollkommenste Symbol«.756 Weihrauch verbindet zwei Elemente des Opfers: Er symbolisiert Blut- und Brandopfer zugleich. Dennoch hielt Weihrauch erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts Einzug in die christliche Liturgie; davor diente er dem profanen Zweck der Luftverbesserung und kam vor allem als Abwehrmittel gegen den Verwesungsgeruch bei Bestattungen zum Einsatz.757 Erst nach dem Ende der Christenverfolgung etablierte sich Weihrauch vor allem beim Verlesen des Evangeliums und zur Eucharistie als liturgisches Ausdrucksmittel. Dabei sollte der Wohlgeruch des Weihrauchs nicht nur als beru-

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verwüste eure Heiligtümer und will den beruhigenden Duft eurer Opfer nicht mehr riechen. Diese und zahlreiche andere Stellen führt Bechmann zur Erklärung des Dufts im Alten Testament an; siehe dazu Bechmann (wie Anm. 132), S. 62–63. »Das Wort für ›Nase‹ (’ap und der Dual ’appayim) ist im Hebräischen interessanterweise gleichbedeutend mit Zorn. Dieses Zusammenfallen beider Bedeutungen kommt innerhalb der semitischen Sprachen nur im Hebräischen vor« (Bechmann (wie Anm. 132), S. 73). Bernhard Kötting, Wohlgeruch der Heiligkeit, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für Alfred Stuiber [hrsg. Theodor Klauser] (Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband, 9), Münster in Westfalen 1982, S. 168–176, hier: S. 170. Als Lamm Gottes wird Jesus u. a. bezeichnet in Joh 1,29: […] Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt! Le Guérer (wie Anm. 121), S. 177. Siehe dazu ferner den Hinweis auf das 3. Buch Mose bei Le Guérer (wie Anm. 121), S. 189. Le Guérer (wie Anm. 121), S. 199. Siehe dazu Kötting (wie Anm. 753), S. 172. Die oben genannte Weihrauchverwendung führte auch Wünsche an, verweist aber zugleich auf die Schwierigkeiten und negative Verwendung von Weihrauch während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius; siehe dazu Wünsche (wie Anm. 126), S. 176–177.

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higender (Opfer-)Duft, sondern als Zeichen der göttlichen Verkündigung und Epiphanie verstanden werden. Um dies zu erörtern, muss auf eine weitere Stelle der paulinischen Briefe, den Zweiten Korintherbrief, verwiesen werden: Dank sei Gott, der uns stets im Triumphzug Christi mitführt und durch uns den Geruch seiner Erkenntnis an allen Orten verbreitet! Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensgeruch, der Leben bringt. Wer aber ist dazu fähig? (2. Kor 2,14–16)

In dieser Textpassage nutzt Paulus mehrfach Duftbilder. Die Formulierung Triumphzug referiert auf den »römischen Triumphzug als kulturelles Basisbild«,758 wobei der Duft die Epiphanie Gottes ausdrückt. Demzufolge offenbart sich Gott in einem christlichen Sinne durch die Gegenwart seines Sohnes Jesu, in dessen Siegeszug die mitgeführten Gläubigen den Geruch seiner Erkenntnis, Christi Wohlgeruch für Gott, verströmen. Die Verwendung von Weihrauch in der kirchlichen Liturgie, insbesondere bei der Evangelienlesung und der Wandlung der Gaben, unterstreicht diese Lesart. Ebenso existiert das Symbol des göttlichen Duftes in der griechischen Mythologie, in der der »Wohlgeruch diejenige Form der Epiphanie [darstellt], in der sich Gott beim Kommen und Gehen, beim Nahen und Entschwinden offenbart«.759 Nach einer religionswissenschaftlichen Analyse der archaischen, jüdischen und christlichen Religionen folgert Lohmeyer in seiner 1919 erschienenen Dissertation, dass die Vorstellung vom göttlichen Wohlgeruch bei verschiedenen antiken Religionen vorzufinden sei.760 Danach spiele die Duftsymbolik in der griechischen Mythologie sowie in ägyptischer und persischer kultischer Verehrung eine große Rolle. Im Judentum hingegen nehme sie weniger Platz ein, was sich für das Christentum mit der neutestamentlichen Literatur verändert habe, in der die Duftsymbolik deutlich mehr Bedeutung besitze. Denn der Wohlgeruch werde darin zum Ausdruck göttlicher Offenbarung.761 Diese Symbolik greifen Paulus und sein Schüler Timotheus im obigen Brief an die Korinther auf – und erweitern sie sogar noch. Duft ist bei den beiden Autoren nicht mehr nur Zeichen für die Epiphanie Gottes; vielmehr zeugt die Wortwahl durch uns bzw. wir sind Christi Wohlgeruch von einer Übertragung des göttlichen Wohlgeruchs auf die Anhänger/-innen Jesu. Wer der christlichen Botschaft zustimme, dem/der werde

758 Kügler, Duftmetaphorik im Neuen Testament (wie Anm. 748), S. 142. 759 Ernst Lohmeyer, Vom Göttlichen Wohlgeruch (Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stiftung Heinrich Lanz. Sitzungsberichte. Philosophisch – historische Klasse 1919, 9), Heidelberg 1919, S. 5. 760 Siehe dazu Lohmeyer (wie Anm. 759), S. 24. 761 Siehe dazu Lohmeyer (wie Anm. 759), S. 24.

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der Geruch seiner Erkenntnis zuteil. Wer diese jedoch ablehne, versage sich auch dem Duft des Lebens und müsse sich mit Verwesungsgeruch begnügen. Eine Textstelle in den hier untersuchten Visionen der Agnes Blannbekin gibt Einblick darin, dass der Protagonistin und – aus der verwendeten Ich-Form zu schließen – auch ihrem Beichtvater diese Symbolsprache geläufig war. Das Doppelkapitel 193/194 schildert, wie Agnes Blannbekin in einer Vision die Geburt Christi durch die Jungfrau Maria beobachtete. Ein wichtiges Element dieser Erzählung ist die Reaktion unterschiedlicher Menschen auf die Geburt. Josef, der danach als erster nach der Geburt an Maria und das neugeborene Jesuskind herantrat, fiel vor Ehrfurcht auf den Boden. Die Weisen aus dem Morgenland, als aus dem Orient kommende Magier (magos ab Oriente venientes) bezeichnet, gesellten sich ebenso hinzu wie die Hirten, während Engel in der Luft ein Loblied sangen. Der Beichtvater gibt das von der Jungfrau Berichtete folgendermaßen wieder: Sie sagte auch, daß alle Kreatur, d. h. die meisten von allen, die Geburt des Heilands spürten, außer jener Kreatur, deretwegen er Mensch geworden war, die es nicht spürte. – Dies ist von den ungläubigen Juden, die ihn aus dem Schriftzeugnis nicht anerkennen wollten, zu verstehen. – Das Wasser spürte (ihn), das in die Süße von Öl verwandelt wurde, die Erde spürte (ihn), die fruchttragender wurde von dem Strahl des Sternes, der erschien, und dies in jenen Teilen, wo er erschien. Das Feuer erkannte ihn, weil es Licht bot, jene Nacht erleuchtend. Die Luft erkannte ihn, die in jener Stunde der Geburt mit süßem Duft erfüllt wurde. Diese Süße hielten die bösesten Menschen nicht aus, die einst in Sodoma in Schwefelgestank und Feuer zugrundegegangen waren – solche Menschen, sage ich, wurden alle ausgelöscht von der Süße des Duftes. Das war das erste der Wunder Gottes bei der Geburt des Heilands, daß auf der Stelle, wie Christus geboren wurde, jene alle starben, und alle lagen vorne mit ihrem Gesicht auf der Erde, wie im Versuch, das Gesicht vor der Unerträglichkeit der Süße zu verbergen.762

Der im Textausschnitt vorliegende christliche Antijudaismus kann hier lediglich erwähnt und seine zeitgenössische Häufigkeit in der christlichen Mehrheitsgesellschaft des Mittelalters sowohl in Schriften als auch in Stein nur angeführt

762 Dixit quoque, quod omnis creatura, id est plures ex omnibus, senserunt natum salvatorem, praeter illam creaturam, propter quam factus est homo, quae non sensit. Hoc de infidelibus Judaeis, qui eum ex scripturae testimonio agnoscere (noluerunt), intelligendum est. Aqua sensit, quae in olei dulcedinem versa est; terra sensit, quae magis fructifera est facta ex radio stellae, quae apparuit, et hoc in partibus illis, ubi apparuit. Ignis agnovit, quia lucem ministravit, noctem illam illuminando. Aer agnovit, qui in illa hora nativitatis suavi odore respersus est. Cujus suavitatem non ferentes homines pessimi, qui olim in Sodomis perierunt in foetore sulphuris et igne, tales, inquam, homines omnes extincti sunt ex suavitate odoris. Hoc fuit primum mirabilium dei in nativitate salvatoris, quod statim, ut natus est Christus, illi omnes mortui sunt, et omnes jacuerunt proni in facies suas super terram quasi conantes faciem abscondere ab intolerantia suavitatis (Vis. c. virg., Cap. 194, S. 406 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 407).

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werden.763 Für Christen war und ist es kaum möglich, sich von ihrer alttestamentarischen Tradition und somit auch jüdischen Vergangenheit zu lösen. Im christlichen Mittelalter ging man deshalb dazu über, die Juden als diejenigen zu betrachten, die »Zeugnis für die Wahrheit der Schriften des Alten Testaments ablegten«.764 Trotz der anfänglichen, vor allem von Augustinus gemahnten Toleranz gegenüber Juden aufgrund ihrer Zeugenschaft betonte die Kirche im Hochmittelalter ihren universalen Geltungsanspruch und unterstützte mit Hilfe von Predigten und Ablässen Pogrome und Kreuzzüge gegen Andersgläubige. Im Text wird berichtet, dass im Gegensatz zu den Juden, die die Geburt Jesu nicht als die des Sohnes Gottes anerkannten, die vier Elemente (Wasser, Erde, Feuer und Luft) jeweils im Moment der Menschwerdung Gottes eine Veränderung erfuhren. Die Veränderung, die einer Vervollkommnung für den Moment der göttlichen Präsenz auf Erden glich, war nicht nur in Teilbereichen spürbar, sondern allumfassend, was durch die vier Elemente gekennzeichnet wird. In der Luft drückte sich die Veränderung zur Stunde der Geburt (in illa hora nativitatis) durch süßen Duft (suavi odore) aus. Doch nicht für alle war dieser Duft süß und erfreute den Geruchssinn, denn die bösesten Menschen (homines pessimi) ertrugen ihn nicht. Sie waren in Sodom im Schwefelgestank und Feuer untergegangen und wurden nun von dem süßen Duft gänzlich ausgelöscht. Mit Blick auf die alttestamentarische Erzählung von der göttlichen Vernichtung Sodoms und Gommoras wegen der sündhaften Lebensweise ihrer meisten Bewohner765 wird verdeutlicht, dass die Wahrnehmung von süßem Duft mit der moralischen Konstitution, letztlich dem Glauben einer Person oder Gruppe korrespondiert. Gleichzeitig ist der süße Duft in den Kapiteln 193/194 auch als Ausdruck der Präsenz Gottes und der Schwefelgestank und Feuergeruch als Zeichen seiner Abwesenheit zu verstehen. Was sich Agnes Blannbekin von dem Altarküssen erhoffte, war eine Süße, die sie im Kapitel 230 als gewohnte Süße (suavitatem solitam) und als Süße des Geruchs (suavitatem odoris) bezeichnet. Die Wahrnehmung der Süße war jedoch nicht nur eine Folge des Küssens, sondern auch ein Resultat des Kommunizierens, wie das 39. Kapitel verrät:

763 Noch andere Textsstellen in den Visionen einer gewissen Jungfrau spiegeln die vorherrschende Einstellung zu Juden, so heißt es zu Beginn des 190. Kapitels: Alio tempore in spiritu vidit multitudinem hominum, qui erant omnes in statu salutis; nullus haereticus, nullus Judaeus, nullus in mortali existens est ei ostensus/ Zu einer anderen Zeit sah sie im Geiste eine Menge Menschen, die alle im Zustand des Heils waren: Kein Häretiker, kein Jude, keiner der in Todsünden war, ist ihr gezeigt worden (Vis. c. virg., Cap. 190, S. 397/396). 764 Anna Sapir Abulafia, Christen und Juden im hohen Mittelalter. Christliche Judenbilder, in: Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20.– 25. Oktober 2002, hrsg. Christoph Cluse, Trier 2004, S. 33–43, hier: S. 34. 765 Gen 18 und 19.

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Als sie nämlich elf Jahre alt war, glühte sie vor großer Andacht zum Leib des Herrn. Wenn sie diesen empfangen hatte, spürte sie körperlich im Mund eine unaussprechliche Süße, und, so wie sie berichtete, daß alle geschaffene Süße im Vergleich zu jener Süße wie Essig im Vergleich zu Honig sei. Sie meinte damals, daß diese Süße alle Kommunizierenden spürten. Und als sie hörte, daß einige Priester sich der Fleischeslust ergäben, wunderte sie sich, wie sie je eine so große Süße verachten und an solchem Schmutz sich erfreuen könnten. Sie beeilte sich auch umso schneller, Begine zu werden, um öfter kommunizieren zu können. Die Süße und Süßigkeit dieses Geschmacks spürt sie auch, wenn sie kommuniziert, und nicht nur die Süße durch den körperlichen Geschmack spürte und spürt sie, sondern auch in der Seele eine wunderbare geistige Süße.766

Da die Übertragung ins Deutsche nicht konsequent zwischen Süße und Süßigkeit unterscheidet, ist es nötig, das lateinische Original näher zu betrachten: Cum enim esset annorum undecim, devotione magna flagrabat ad corpus domini. Quod cum accepisset, sensit corporaliter in ore dulcidinem [sic] inenarrabilem, et sicut retulit, quod omnis dulcedo creata in comparatione illius dulcedinis esset sicut acetum in comparatione mellis. Putabat tunc, quod hanc dulcedinem sentirent omnes communicantes. Et cum audiret, quod aliqui sacerdotes carnis illecebris se darent, mirabatur, quomodo unquam possent tanta dulcedine contempta talibus delectari sordibus. Festinabat quoque eo citius fieri begina, ut posset saepius communicare. Hujus quoque saporis dulcedinem et suavitatem, quando communicat, non solum dulcedinem gustu corporali sensit et sentit, sed etiam in anima miram spiritualem suavitatem.767

Zunächst werden zur Bezeichnung von Süße verschiedene Kasus (und Schreibungen) des Wortes dulcedo verwendet. Dann tritt das Substantiv suavitas (in der Übersetzung beim ersten Mal: Süßigkeit) – zunächst durch et beigeordnet, dann auch allein (deutsch dieses Mal allerdings: Süße) – auf, wie es sich auch in den soeben angeführten Beispielen unter anderem aus dem Kapitel 230 findet. Anknüpfend daran stellt sich die Frage, ob sich die beiden lateinischen Varianten von Süße, dulcedo und suavitas, in ihrer Bedeutung unterscheiden. Verharrt man für die Analyse zunächst bei den Beispielen aus dem 39. Kapitel, könnte man schnell geneigt sein zu folgern, dass sich Süße, sobald es sich um die substantivische Herleitung dulcedo vom Adjektiv dulcis, dulce handelt, auf eine körperliche Erfahrung, insbesondere eine orale Wahrnehmung, bezieht. Suavitas hingegen umschriebe dann eine Süße der Seele und des Herzens. Dies mag auch

766 Vis. c. virg., Cap. 39, S. 123 und 125. 767 Vis. c. virg., Cap. 39, S. 122 und 124.

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an der betrachteten Stelle zutreffen und in weiteren Kapiteln Bestätigung finden,768 doch widersprechen wiederum einige Beispiele diesem Schema.769 Eine empirische Analyse der Verwendung der Worte süß und Süße als Namen bzw. Zuschreibungen für Christus in den Werken deutscher Mystikerinnen legt Weiß im Jahr 2009 vor.770 Gleich zu Beginn seiner Ausführungen merkt er an, dass zwischen dulcedo und suavitas »kein großer semantischer Unterschied besteht«,771 wobei er auf die Abhandlung(en) Ohlys zur Süße verweist.772 Außerdem fügt er, mit Blick auf die Vulgata, hinzu, dass zwar keine Wortbildung aus dem Stamm dulc in christologischem Kontext hinzukomme, macht aber darauf aufmerksam, dass in Mt 11,30 Jesu Joch als suave bezeichnet werde.773 Weiterhin konstatiert Weiß nach der Betrachtung von Berichten von über 30 Mystikerinnen, dass es sich bei süß oder Süße um eine Art »Modewort der Mystik des Mittelalters«774 handele. Die vermehrte Verwendung des Wortes süß mit Bezug zu Christus lasse sich, so Weiß, bei vielen Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts beobachten, wobei süß und Süße größtenteils christologisch und als Ausdruck einer Brautmystik verwendet worden seien, ganz besonders im Zentrum der deutschen Frauenmystik, dem Zisterzienserinnenkloster in Helfta.775 Bei einzelnen Mystikern/-innen würden Gott Vater und der Heilige Geist ebenfalls als süß charakterisiert.776 Gelegentlich fänden sich süß oder Süße aber auch negativ verwendet, 768 Das Schema wird so beispielsweise in den Kapiteln 61, 65, 66, 79, 89 und 103 fortgesetzt. 769 So beispielsweise das Kapitel 98, wo beide Formen unabhängig von Körperlichkeit und Geistigkeit Gebrauch finden. Ebenso im Kapitel 110/111/112. 770 Siehe dazu Bardo Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen, 1: Die Namen, Paderborn [u. a.] 2009. 771 Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 309. 772 Direkt an der oben zitierten Stelle verweist Weiß auf Friedrich Ohly, Geistige Süße bei Otfried (1969), in: Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 93–127. Bereits vorher führt Weiß auch die andere Studie Ohlys zur Süße an; siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 309 sowie Friedrich Ohly, Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik (Saecula spiritualia, 21), Baden-Baden 1989. Mit dieser umfassenden philologischen Untersuchung knüpft Ohly an seine Einzelstudie »Geistige Süße bei Otfried« an, indem er die theologische Qualität von Süße ins Zentrum stellt. 773 Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 309. 774 Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 309. 775 Weiß führt aus, dass Getrud von Helfta, genannt ›die Große‹, ihre Mitschwester Mechthild in der Verwendung von Süße als Namen für Jesus noch um ein Vielfaches übertroffen habe. Ein Grund dafür möge Gertruds Überzeugung gewesen sein, dass dulcissime zu den drei Anrufungen gehört habe, denen Jesus gern gefolgt sei. Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 331. 776 Mechthild von Magdeburg schreibe die Süße vor allem dem Heiligen Geist zu; David von Augsburg nenne sie als Eigenschaft Gottes. Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 326–328 (zu Mechthild) und S. 325–326 (zu David).

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wenn beispielsweise die sexuelle Verlockung des Fleisches beschrieben werde.777 Obgleich sich süß und Süße meist auf unterschiedliche Sinne beziehen können, ist damit ein irdischer Wunsch nach einer erst im Jenseits eintretenden Erfahrung gemeint. Dabei kann Jesus selbst die Süße sein, als ihre Quelle jene verströmen oder durch das Adjektiv süß typisiert werden. Im Falle der Agnes Blannbekin bemüht sich Weiß auch um eine Erklärung für die Verwendung der Begriffe. Er stellt zuerst heraus, dass süß bei Agnes Blannbekin keine Anrede oder ein Name für Christus sei.778 Bei der Verwendung von suavitas und dulcedo meint Weiß, eine Unterscheidung in der Bedeutung der beiden Wörter zu erkennen, weil an einigen Stellen suavitas minderwertiger als dulcedo erscheine: So sei der Teufel fähig, eine suavitas fallax, einen trügerischen Wohlgeschmack, zu erzeugen, nicht aber eine dulcedo.779 Aber auch dieses Schema ist nicht konsistent ausgeführt, sodass Weiß schließlich resümiert: »Oft aber verwendet Agnes beide Begriffe austauschbar, so daß wir nicht näher auf die Unterscheidung eingehen«.780 Nach einer eingehenden Untersuchung der Verwendung von dulcedo und suavitas in den Visionen einer gewissen Jungfrau muss die Verfasserin dieser Studie sich der von Weiß getroffenen Aussage anschließen. Eine weitere Auffälligkeit und zugleich Gemeinsamkeit visionär begnadeter Personen, vor allem des Spätmittelalters, ist deren Umschreibung der göttlichen Offenbarung als suavitas dei, wie bereits zum 187. Kapitel angeführt, in dem die Jungfrau über die geeigneten seelischen Dispositionen spricht, um die göttliche Offenbarung zu empfangen, die als Süßigkeit Gottes (suavitas dei) beschrieben wird. Bei der Wendung suavitas dei handelt es sich um eine Spielart bzw. Übertragung der christologischen Verwendung von Süße, die auch mit einem trinitarischen Verständnis gelesen werden kann. Die Süßigkeit Gottes oder Gottessüßigkeit, so die textimmanente konsequente Übersetzung, kostet (gustat) Agnes Blannbekin im oben zitierten Kapitel 187. Damit verweist sie auf einen gustatorischen Weg oder eine Möglichkeit der göttlichen Offenbarung. Auch Weiß folgert in seiner Analyse, dass im Falle von Agnes Blannbekin die Erfahrung der Süße Gottes dem geistlichen Geschmackssinn zugeordnet sei.781 Da die suavitas dei jedoch im 187. Kapitel in direkter Folge zu dem davor erwähnten Geruchssinn genannt wird und sich auch sonst zahlreiche Beispiele für die Er777 Hildegard von Bingen verwende den Ausdruck der Süße »bivalent« (Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 318, im Anschluss Hildegard bis S. 320). 778 Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 342. 779 Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 340. 780 Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 340. 781 Siehe dazu Weiß, Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen (wie Anm. 770), S. 340.

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wähnung einer Süße des Geruchs (suavitatem odoris) 782 anführen lassen, stellt sich die Frage, ob Agnes’ olfaktorische und die gustatorische Erfahrung miteinander verwoben sind. Eine These besteht darin, dass ihre olfaktorische Wahrnehmung ihr gustatorisches Vokabular zur Beschreibung ihrer Eindrücke benötigte. Möglich ist auch, dass ihr gustatorisches Erfahren an ihre olfaktorische Wahrnehmung gekoppelt war, um die Grenzen des Sagbaren zu überwinden und vollkommen erfasst werden zu können. Das 39. Kapitel zeigt, dass die Süße für Agnes zwar ein Geschmack war, den sie spürte, sich jedoch ebenfalls in eine wunderbare geistige Süße (miram spiritualem suavitatem) verwandeln konnte.783 Über die »Gottes Süße« erklärt Ohly, sie sei eine »Qualität seines Erfahrenwerdens in der Erfahrung seiner Gnade«.784 Im Psalm 34,9 sieht Ohly die Aufforderung, Gottes Süße zu erfahren: »Schmeckt und sehet, wie süß der Herr ist«.785 Waren es am Ende Geschmacks- und Gesichtssinn, die gemeinsam die göttliche Süße für Agnes erfahrbar machten? Zahlreiche Beispiele und auch Vergleiche ließen sich nun dafür anführen, dass die Zuwendung Gottes zu den Menschen durch Süße über unterschiedliche Sinne im Menschen wahrgenommen werden kann. Zurückkommend zum unvergleichlich süßen Duft, den Agnes Blannbekin am Altar wahrnahm, kann konstatiert werden, dass dieser durchaus als ein Zeichen für die Präsenz Christi zu verstehen ist. Ähnlich wie eine liturgische Speise vermochte dieser süße Duft, die Jungfrau (innerlich) zu stärken. Sie bedurfte also nicht des Verzehrs einer oder der in diesem Zusammenhang genannten (liturgischen) Speise, um erbaut zu werden. Schon der Geruch genügte ihr, um sich zu stärken. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Agnes Blannbekin die physische Kommunion während der Eucharistiefeier gegen den Geruch des in der verwandelten Hostie gegenwärtig gewesenen Christus eintauschte, da ihr zur eigenen Erbauung die spirituelle Nähe zum Leib Christi genügte. Es war eine Nähe, die sich nicht durch visuellen, taktilen und gustatorischen Kontakt oder eine physische Vereinigung auszeichnete, sondern an deren Stelle die spirituelle olfaktorische Verbundenheit aufwies. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Agnes Blannbekin sich beeilen wollte, Begine zu werden, um öfter kommunizieren zu können (ut posset saepius communicare).786 Dieser geäußerte Wunsch steht jedoch nicht im Widerspruch zu dem oben erläuterten sich Begnügen mit dem Geruch, der der Jungfrau Erbau782 Vis. c. virg., Cap. 230, S. 474 und (deutsche Übersetzung:) S. 475). 783 Die Süße und Süßigkeit dieses Geschmacks spürt sie auch, wenn sie kommuniziert, und nicht nur die Süße durch den körperlichen Geschmack spürte und spürt sie, sondern auch in der Seele eine wunderbare geistige Süße (Vis. c. virg., Cap. 39, S. 125). 784 Ohly, Süße Nägel der Passion (wie Anm. 772), S. 7. 785 Zitiert nach Ohly, Süße Nägel der Passion (wie Anm. 772), S. 7. 786 Vis. c. virg., Cap. 39, S. 124–125.

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ung verschaffte. Innerhalb des klassischen Spektrums möglicher Lebensformen war die beginale eine der wenigen Optionen für Frauen, die außerhalb von Klostermauern mit der Hoffnung auf einen häufigeren Kommunionempfang einherging. Der Wunsch nach dem vermehrten Erhalt des Corpus Christi und das Bedürfnis nach der Spendung der von Agnes Blannbekin individuell beschriebenen stärkenden Kraft des Geruchs stehen einander nicht entgegen, sondern ergänzen sich vielmehr bei dem Bestreben, die Nähe Christi so oft wie möglich zu erfahren. Der Kommunionempfang symbolisiert dabei den klassischen, konventionellen Weg, die Geruchswahrnehmung hingegen die selbstgewählte und individuelle Rezeptionsmöglichkeit der Agnes Blannbekin, die Nähe Christi zu erlangen. Außer der unvergleichlichen Süße und dem erbaulichen Charakter wird noch von einem weiteren Merkmal des göttlichen Geruchs berichtet: Obgleich er, wie oben beschrieben, dauerhafter war als alle anderen Sinneswahrnehmungen, war er nicht unvergänglich, denn in Kapitel 40 heißt es: Dann spürte sie ihn noch, aber nicht mehr so sehr wie am Morgen, als die Messe eben dort gesagt worden war (Tunc adhuc sensit, sed non tantum sicut in mane, quando missa recenter fuit ibi dicta). Zur Dauerhaftigkeit gibt Agnes Blannbekin Auskunft, indem sie auf eine stärkere Geruchsintensität unmittelbar nach der Messfeier verweist. Der Zeitpunkt ist allerdings allgemein nicht allein ausschlaggebend für die Wahrnehmung von Geruch. Dazu bedarf es außerdem räumlicher Nähe zur Quelle der Geruchsausströmung. Zwar kann Duft aufgrund seiner Trägheit auch ohne seine Quelle noch kurzfristig vorhanden sein, jedoch verflüchtigt er sich mit fortschreitender Zeit. Die Objektverbundenheit und das zeitlich bedingte Auftreten bei Agnes Blannbekin bestärken die Annahme, wonach die Jungfrau den Wohlgeruch mit der Hostie und somit mit Jesus verband. Diese Folgerung wird auch durch den Hinweis auf Gen 27 im 187. Kapitel der Visionen unterstützt. Und das ist in Jakob bezeichnet, in dem der Geruchssinn mehr als die übrigen blühte. Daher: ›Siehe, der Duft meines Sohnes‹ usw.787

An der betreffenden Bibelstelle wird berichtet, wie Jakob sich von seinem alternden Vater Isaak mit einer List den Segen erschlich, der eigentlich dem erstgeborenen Esau vorbehalten war: Isaak, bei dem mit zunehmendem Alter die Sehkraft erlosch, bat seinen Sohn Esau um die Erfüllung eines Wunsches. Jakob vernahm diesen, bemühte sich dann, dem Vater den Wunsch zu erfüllen, und verkleidete sich als Esau, um vom Vater den Segen zu erlangen.

787 Et hoc significatum est in Jacob, in quo sensus odoratus magis viguit caeteris. Unde: ›Ecce, odor filii mei‹, etc. (Vis. c. virg., Cap. 187, S. 390 und (deutsche Übersetzung:) S. 391).

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Er trat näher und küsste ihn. Isaak roch den Duft seiner Gewänder, er segnete ihn und sagte: Siehe, mein Sohn duftet wie das Feld, das der HERR gesegnet hat. (Gen 27,27)

Auch hier dient der Geruchssinn mehr als die anderen Sinne dem Erkennen einer Person. Der wahrgenommene Geruch bezieht sich bei christologischer Exegese nicht nur auf Jakob, sondern auch auf Jesus als Quelle und Träger des Geruchs. Agnes Blannbekin und/oder ihrem Beichtvater war diese Bibelstelle mit Sicherheit geläufig, und sie verwendete(n) sie wohl in christologischer Absicht. Zusammenfassend lässt sich im Sinne dieser Erklärungsmöglichkeit festhalten, dass der Vergleich mit Semmelduft in den Kapiteln 40 und 175 durchaus auf eine Hostienassoziation abzielen könnte. Allerdings war es für Agnes Blannbekin nicht von vorrangiger Bedeutung, mittels dieser Hostie in der Messe zu kommunizieren, sondern ihr ging es um den Duft der Hostie, der nach der Messfeier am Altar verblieb. Die Dufterfahrung scheint für sie ein höchst intensives Erlebnis gewesen zu sein, denn sie wurde von diesem Duft erbaut und sehnte sich wiederholte Male nach ihm. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Hostie als Leib Christi oder, vielmehr noch, als Christus selbst zu verstehen ist, mit dem Agnes Blannbekin sich in ihrer olfaktorischen Erfahrung vereinte. Der Geruch der Hostie steht dabei für eine Körperlichkeit Christi in Raum und Zeit, die göttlicherseits vorgegeben war und nach der sich Agnes Blannbekin nicht nur sehnte, sondern die sie tatsächlich auch wahrnehmen konnte, fast so alltäglich wie den Duft einer Semmel. Damit deutet sich eine Verbindung der beiden oben angeführten Erklärungsansätze an: Da Agnes Blannbekin den in der Vision wahrgenommenen Geruch nicht mit irdischen Worten beschreiben konnte, bediente sich ihr Beichtvater des scheinbar inadäquaten Semmelduftvergleichs zum Verweis auf Jesu Nähe. Der Hinweis wird aus der Erwähnung der Messfeier deutlich, da in dieser der Leib Christi auf dem Altar präsent geglaubt wurde. Je weiter das Ereignis der Messfeier, insbesondere die Eucharistie, zeitlich zurücklag, desto schwächer wurde der Geruch. Auch hierbei ging es Agnes Blannbekin nicht um das mündliche Kommunizieren, das Gläubige im Normalfall erbauen soll, sondern für sie war der Geruch erbaulich genug. In Kombination mit einer ungewöhnlichen und für Laien heterodoxen Frömmigkeitspraxis des Altarküssens erweiterte Agnes Blannbekin ihre Handlungsspielräume: Das Altarküssen, die damit verbundene Geruchswahrnehmung und die anschließende erbauliche Wirkung verschafften Agnes Blannbekin eine Handlungspotenzialität, die ihr erlaubte, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt, jedoch nach der Messfeier, (noch einmal) durch die Präsenz Christi im Geruch Stärkung und Tröstung zu empfinden. Diese ›agency‹ stand für eine Individualität der mehrfachen Gottesbegegnung im Geruch und eine gewisse Autonomie in der religiösen Praxis über die regelmäßigen Gottesdienstbesuche hinaus.

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IV.2.b Als ob der Altar gebrannt habe: zur olfaktorischen Antithese Das Altarküssen war eine besondere Gewohnheit, die von Agnes Blannbekin gepflegt wurde und meist mit einer Duftempfindung einherging. Dass ihre ›agency‹ im göttlichen Handlungsrahmen bestand, zeigt die nachfolgend geschilderte Vision. Von ihr berichtet das 230. Kapitel gegen Ende des Gesamtwerkes von 235 Kapiteln. Anstelle des starken Wohlgeruchs, der in den Kapiteln 40 und 175 beschrieben wird, tritt hier ein unangenehmer Geruch auf. 230. Kapitel. Über das Mißfallen Gottes an den Menschen. Am Reinigungsfest kommunizierte sie sich, und als sie die gewohnte Geisteströstung empfangen hatte, wollte sie nach der öffentlichen Messe der Brüder gehen und die Kirchen in der Stadt wegen des Ablasses besuchen, um den sie immer sehr besorgt war. Daher geschah es, daß sie so durch das Gehen körperlich ermüdet weniger geistliche Tröstung spürte als die, welche ihr der Herr im Überfluß an dem Tag, wann sie kommunizierte, gab. Endlich zur Kirche der Brüder zurückgekehrt, besuchte sie die einzelnen Altäre und küßte sie nach gewohnter Weise. Doch empfing sie dort nicht die Süße des Duftes, die der Herr immer gewohnt war, ihr von jenen Altären zu geben, wie oben geschrieben steht (c. 175). Sie spürte aber anstelle jenes sehr süßen Duftes einen gewissen Geruch oder Gestank von Brand, als ob der Altar gebrannt habe, worüber sie sehr niedergeschlagen war. Ein solcher Brandgeruch stieg immer wieder in ihre Nase, sooft sie die Altäre küßte, und das dauerte für sie vom Reinigungsfest bis zur Osterfastenzeit. Dann kommunizierte sie wiederum, und dann an jenem Tag wiederum die Altäre besuchend, küßte sie sie wie vorher, und dann bekam sie die vorher verlorene Süße zurück. Sie wunderte sich aber sehr, warum der Herr ihr vorher die gewohnte Süße entzogen habe. Da wurde ihr gesagt: ›So wie der Brandgeruch den Geruchssinn nicht erfreut, sondern eher belästigt, so mißfällt es im Angesicht Gottes bei andächtigen Menschen, wenn der Herr sich ihnen mit geistlicher Tröstung kommuniziert, daß sie sich außerhalb kommunizieren und zerstreuen – was du nämlich getan hast, indem du durch die Stadt und die Kirchen gegangen bist, wenn du auch aus einem frommen Grunde gingst, nämlich wegen des Ablasses.‹788 788 Cap. CCXXX. De displicentia dei in hominibus. In purificatione communicavit se, et percepta consueta consolatione spiritus, post missam publicam fratrum desiderabat ire et visitare ecclesiasa per civitatem propter indulgentiam, propter quam semper fuit sollicita. Unde accidit, ut sic eundo corporaliter fatigata minus spiritualem sentiret consolationem, quam abundanter ei dominus dabat in die, quando communicavit. Reversa tandem ad ecclesiam fratrum visitavit altaria singula more solito ea deosculando, nec percepit ibi suavitatem odoris, quam semper dominus ei solitus erat dare de illis altaribus, in quibus illa die missa fuisset celebrata, sicut superius scriptum est. Sensit vero loco illius suavissimi odoris quendam odorem vel foetorem adustionis, tanquam si altare esset combustum, de quo multum desolata fuit. Talis adustionis odor semper refusus est in naribus suis, quoties oscularetur altaria; et hoc duravit ei a festo purificationis usque ad quinquagesimam. Tunc iterum communicavit et

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Die geschilderte Begebenheit ereignete sich am Reinigungsfest, womit das Fest der Reinigung Mariens (Purificatio Mariae) am 2. Februar gemeint ist.789 Gemäß dem Ritus, den die Vorschriften der Tora determinierten, galt Maria, wie alle jüdischen Frauen, für einen Zeitraum von 40 Tagen nach der Geburt eines Jungen als unrein.790 Inhaltlich berichtet der Text, dass Agnes Blannbekin nach dem Kommunionempfang am Tag des Reinigungsfestes zur Kirche der Brüder ging sowie zum Ablasserwerb verschiedene Kirchen der Stadt besuchte. Als sie sich wieder in der Kirche der Brüder befand, besuchte sie einzelne Altäre, indem sie sie nach gewohnter Weise küsste (more solito ea deosculando). Dabei nahm sie aber nicht, wie gewohnt, den süßen Geruch wahr, sondern den Gestank von Brand (foetorem adustionis). Dieser Brandgeruch hielt sich und begegnete ihr beim Altarküssen bis zur Osterfastenzeit. Erst danach wurde Agnes Blannbekin wieder mit gutem Geruch belohnt. Der Zeitraum der unangenehmen Geruchsempfindung umfasste ein bis maximal zwei Wochen, da die österliche Fastenzeit an Aschermittwoch (vor dem Sonntag Invocavit), 40 Tage vor dem Osterfest, beginnt, das am Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr (d. h. nach dem 21. März) begangen wird. Zunächst interessiert die Geruchswahrnehmung, die hier eine deutliche Veränderung erfährt. Der starke Wohlgeruch oder die wunderbare Duftsüße, wie sie Rezipienten/-innen aus dem 40. und 175. Kapitel bekannt sind,791 sind in Kapitel 230 durch einen gewissen Geruch, genauer gesagt, Gestank von Brand abgelöst, als ob der Altar gebrannt hätte (quendam odorem vel foetorem adustionis, tamquam si altare esset combustum). Dieser Brandgeruch hatte keine erbauliche Wirkung auf Agnes Blannbekin. Ganz im Gegenteil, die Wahrnehmung des Geruchs löste bei ihr ein Gefühl der Niedergeschlagenheit aus (de quo multum desolata fuit). Schnell könnte man hier geneigt sein, den Brandgeruch, dem klassischen christlichen Symbolspektrum folgend, mit dem Teufel und der Hölle zu erklären, denn wie Himmel und Hölle in der mittelalterlichen Jenseitsvorstellung diatunc illa die iterum visitans altaria osculabatur ea sicut prius et tunc recepit suavitatem prius perditam. Ipsa vero multum mirabatur, cur dominus ei prius subtraxisset suavitatem solitam. Tunc dictum est ei: ›Sicut odor adustionis olfactum non delectat, sed potius molestat: sic displicet in conspectu dei in hominibus devotis, quando se eis dominus communicat spirituali consolatione, quod tunc se foras communicant et distrahuntur – quod tu quidem fecisti egrediendo per civitatem et ecclesias, licet pro pia causa ires, scilicet pro indulgentia.‹ (Vis. c. virg., Cap. 230, S. 474 und (deutsche Übersetzung:) S. 475). 789 Bis zur Liturgiereform von 1969 war das Fest auch unter dem Namen Mariä Lichtmess bekannt und besiegelte das offizielle Ende der Weihnachtszeit. Heute ist diesem Tag das Fest der Darstellung des Herrn nach Lk 2,22–40 gewidmet. 790 Siehe dazu Lev 12,1–4. 791 In Cap. 40 nahm sie einen starken Wohlgeruch wahr (sensit odoris fragrantiam) und in Cap. 175 eine wunderbare Duftsüße (miram odoris suavitatem).

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metral zueinander standen, war auch ihr geruchliches Profil gegensätzlich: Der Wohlgeruch, der die göttliche Epiphanie verkündete und für die Nähe Jesu und der Heiligen sowie die Erinnerung an ihre Taten stehen konnte, besaß gängigen Konzepten nach sein Gegenstück in der Hölle. Der Geruch der Hölle und des Teufels bildete die olfaktorische Antithese: Er wurde als Gestank, zumeist als unerträglicher Brandgeruch charakterisiert, was entweder explizit oder mittels der Beschreibung von Feuer geschah. Er galt als Zeichen der Anwesenheit des Teufels oder der Dämonen und als Begleiterscheinung unmoralischer Vorhaben oder Einstellungen – wie ein olfaktorisches Erkennungsmerkmal. In zahlreichen Jenseitsvisionen von Mystikern/-innen wird die Hölle als ein Ort des Feuers und Brandgeruchs beschrieben. Stellvertretend dafür sei hier der Bericht über die Höllenvision Franziskas von Rom wiedergegeben: […] Durch göttlichen Willen wurde sie [= Franziska von Rom, J. S.] in die Ekstase entrafft und in eine Vision geführt, um die Hölle zu schauen. […] Es hatte die genannte Hölle drei Teile […]. Sie schaute auch einen riesigen Drachen, der in der genannten Hölle war und sich über alle drei Orte erstreckte. […] Und er hatte den Rachen aufgesperrt und die Zunge draußen, woraus er riesige Feuermengen spie, nicht aber, daß es leuchtete, sondern es war tiefschwarz und gab eine riesige und grausame Hitze. Er strömte auch aus seinem Rachen so großen Gestank aus, daß er von menschlichem Geist nicht vorgestellt werden kann. Und aus seinen Augen, Ohren und der Nase spie er schwarzes Feuer mit großer Hitze und Gestank.792

Der in der Hölle vorherrschende große Gestank entzog sich Franziskas begrifflichen Umschreibungsmöglichkeiten, vermutlich aufgrund seiner irdischen Unvergleichbarkeit. Lässt sich nun, selbst wenn Agnes Blannbekin Teufel und Hölle im Kapitel 230 ihrer Visionen nicht direkt erwähnt, vermuten, dass der dort angeführte Brandgeruch in seiner Unerträglichkeit auf Unmoralisches und die Anwesenheit des Teufels verweist? Dass eine olfaktorische Antithese zu dem in den Kapiteln 40 und 175 Erwähnten vorliegt, ist in diesem Fall deutlich. Gleichwohl gibt es keine Anzeichen 792 […] per divina volontà fo rapita in extasi, et fo menata in visione ad vedere lo inferno. […] Aveva lo dicto inferno tre parti […]. Vide anche uno draccone grandissimo, lo quale stava nello dicto inferno, et teneva tucti et tre li dicti luochi […], et teneva la boccha aperta colla lengua de fore, della quale gessiva grannissimo fuoco, non però che lucessi, ma era nerissimo, et rendeva grandissimo et crudele calore. Gessiva anche della soa boccha sì granne fetore, che non se porrìa ymaginare per mente humana; et per li suoi occhi et rechie et naso ne gessiva fuoco nero con granne calura et fetore (›Tractati della vita et delli visioni‹ di Santa Francesca Romana. Testo redatto da Ianni Mattiotti, confessore della santa, in volgare romanesco della prima metà del secolo XV, 1: Testo edizione critica, hrsg. Rossella Incarbone Giornetti, Rom 2014, S. 287–288). Die deutsche Übersetzung ist entnommen aus Mittelalterliche Visionsliteratur (wie Anm. 14), S. 219. Franziska lebte zur Zeit des abendländischen Schismas und der Pest von 1384 bis 1440 in Rom, wo sie sich zunächst als Ehefrau und Mutter, später als Nonne karitativen Aufgaben und der Nächstenliebe widmete. Ab 1415 wurden ihr Visionen eröffnet, die von ihrem Beichtvater Giovanni Mattiotti niedergeschrieben wurden.

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für eine Höllenvision oder Begegnung mit dem Teufel bzw. einem Dämon.793 Wenn nicht die infernale Nähe die Quelle für den Brandgeruch war, woraus nährte sich dieser? Um dies zu beantworten, muss, ähnlich wie bei der Interpretation des Wohlgeruchs, die zeitliche Komponente beachtet werden. Agnes Blannbekin nahm den Brandgeruch wahr, als sie kommuniziert hatte sowie, aus frommen Motiven veranlasst, durch die Stadt laufen und die Altäre in der Kirche der Brüder küssen wollte. Hier sei weiterhin angemerkt, dass ihre Motivation, nämlich der Erwerb von Ablässen, zwar als frommer Beweggrund angeführt wird, doch an einer früheren Textstelle deutliche Kritik erfährt. Dem Zeitgeist des Mittelalters, vor allem dem laikalen, entsprechend, war es für Agnes Blannbekin ein essentieller Bestandteil ihrer Frömmigkeitspraxis, regelmäßig einen Ablass gewährt zu erhalten.794 Dennoch wird, wie erwähnt, der Ablasserwerb in den Visionen einer gewissen Jungfrau deutlich verurteilt, nämlich im Kapitel 190, in dem Agnes Blannbekin Einblick in die Modi der Vergebung erhält. Laut der betreffenden Textstelle sah sie im Rahmen einer Vision eine große Menschenmenge, die ohne Sünden war, und Christus, aus dessen fünf Wundmalen Blut in Kelche floss, die von Umstehenden gehalten wurden. Es heißt weiter: Und diese Kelche schienen mit dem Blute alsbald über einzelnen Altären bei den Menschen auf die Erde gestellt zu sein. Und das sehend erkannte sie [= Agnes Blannbekin, J. S.] völlig offen, als ob sie in einer Handschrift läse, daß Sündenverzeihung den Menschen auf Erden durch die Kraft des Blutes des im Altaropfer dargebrachten Heilands geschenkt wird. Und dies ist eine weit größere Verzeihung als die päpstliche.795

Der Begriff der päpstlichen Verzeihung bezeichnet hier die Praxis des Ablasserwerbs durch irdisch-materielle Anstrengungen des Einzelnen in einem von der römischen Kirche etablierten System zum Erlass zeitlicher Sündenstrafen.796 Wie 793 Der Teufel oder Dämonen treten in personis an anderen Stellen in Erscheinung. So erschienen laut dem 66. Kapitel zwei Dämonen hinter dem Rücken des Beichtvaters, auch nach den Ausführungen im 125. Kapitel begegnete der Jungfrau im Verlaufe einer Vision ein Dämon. Deutlich wird im 188. Kapitel die Gestalt des Teufels beschrieben, in dessen Spiegel Agnes Blannbekin schaute und glaubte, den Grund ihrer Traurigkeit erkannt zu haben. Dem 200. Kapitel zufolge sah sie Dämonen, die Religiose umgaben. Und schließlich versuchte der Teufel Agnes Blannbekin während der Fastenzeit zu täuschen (Kapitel 208/209). 794 Ebenso wie das Kapitel 230 schilden auch mehrere andere Textstellen, dass es Agnes Blannbekins Gewohnheit war, durch die Stadt zu laufen, um Ablässe zu erlangen, so beispielsweise Cap. 43, 44 oder auch 91. 795 Et hi calices cum sanguine mox positi videbantur super altaria singula in terra juxta homines. Et haec videns intellexit apertissime, quasi legeret in codice, quod indulgentia peccatorum donatur hominibus super terram virtute sanguinis salvatoris oblati in sacrificio altaris. Et longe illa est major indulgentia quam papalis (Vis. c. virg., Cap. 190, S. 396 und (deutsche Übersetzung:) S. 397). 796 Die 2017 veröffentlichte Dissertation Doubliers untersucht nicht nur die Idee und Etablierung des Ablasswesens im 13. Jahrhundert, sondern konzentriert sich besonders auf die

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Agnes Blannbekin in der Vision gezeigt wurde, tritt dieses System gegenüber der Sündenvergebung aufgrund der Hingabe Christi weit zurück. Wie um jegliche Zweifel an dieser Aussage auszuschließen, ist ihr der Vergleich mit dem Lesen einer Handschrift hinzugefügt worden. So, wie sich in einer Handschrift etwas ausdrücklich niedergeschrieben findet, soll auch die Erkenntnis der Agnes Blannbekin zu Christi Opfer offenkundig sein. Dies ist ein nötiger Zusatz, denn schließlich wurde mit dieser Aussage eine weit verbreitete, wenn auch nicht unhinterfragte Frömmigkeitspraxis der Zeit zwar nicht delegitimiert, doch in ihrem Ansehen weit herabgesetzt und ihr Wirkungsmacht abgesprochen. Auffällig ist, dass das Verb communicare am Anfang des hier betrachteten Textausschnitts in einer reflexiven Form (in purificatione communicavit se) verwendet wird, was Dinzelbacher und Vogeler folgerichtig mit sie kommunizierte sich übersetzen. Denn an anderen Stellen begegnet das Verb kommunizieren – etwa mit communicabat797 oder communicasset798 – nicht-reflexiv. Auch innerhalb des Kapitels 230 ist die nicht-reflexive Form communicavit anschließend zweimal gebraucht, um wiederholten zurückliegenden und einen folgenden Kommunionerhalt zu erwähnen, die alle mit der Wahrnehmung erbaulich süßen Dufts einhergingen. In der abschließenden Mitteilung der vermutlich göttlichen Stimme findet dann die reflexive Form erneut Gebrauch: Sie wunderte sich aber sehr, warum der Herr ihr vorher die gewohnte Süße entzogen habe. Da wurde ihr gesagt: ›So wie der Brandgeruch den Geruchssinn nicht erfreut, sondern eher belästigt, so mißfällt es im Angesicht Gottes bei andächtigen Menschen, wenn der Herr sich ihnen mit geistlicher Tröstung kommuniziert, daß sie sich außerhalb kommunizieren und zerstreuen – was du nämlich getan hast, indem du durch die Stadt und die Kirchen gegangen bist, wenn du auch aus einem frommen Grunde gingst, nämlich wegen des Ablasses.‹799

In dieser abschließenden Erklärung wird die Geruchsveränderung mit dem Kommunionempfang korrespondierend erläutert. Der Brandgeruch wird dabei Verbindung zu den Bettelorden; siehe dazu Etienne Doublier, Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 6), Köln 2017. In einem breiteren zeitlichen wie auch frömmigkeits- und kulturgeschichtlichen Kontext betrachtet Christiane Laudage die Idee des Ablasses und die Praxis des Ablasswesens im Mittelalter; siehe dazu Christiane Laudage, Das Geschäft mit der Sünde. Ablass und Ablasswesen im Mittelalter, Freiburg im Breisgau 2016. 797 Magna devotione fervebat ad corpus domini – omni septimana communicabat (Vis. c. virg., Cap. 41, S. 126). 798 In octava epiphaniae, cum communicasset, […] (Vis. c. virg., Cap. 47/48/49/50, S. 136). 799 Ipsa vero multum mirabatur, cur dominus ei prius subtraxisset suavitatem solitiam. Tunc dictum est ei: ›Sicut odor adustionis olfactum non delectat, sed potius molestat: sic displicet in conspectu dei in hominibus devotis, quando se eis dominus communicat spirituali consolatione, quod tunc se foras communicant et distrahuntur – quod tu quidem fecisti egrediendo per civitatem et ecclesias, licet pro pia causa ires, scilicet pro indulgentia.‹ (Vis. c. virg., Cap. 230, S. 474 und (deutsche Übersetzung:) S. 475).

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als Störung des Geruchssinns gelesen und mit Gottes Missfallen darüber gleichgesetzt, wenn der Mensch sich äußerlich kommuniziert und dabei Zerstreuung sucht, obgleich der Herr sich ihm mit geistlicher Tröstung kommuniziert. Für die Interpretation dieser Aussage ist es hilfreich, das Kommunizieren in reflexiver Form zu beleuchten und seine hier vertretenen unterschiedlichen Bedeutungen zu analysieren. In der Phrase quando se eis dominus communicat spirituali consolatione beschreibt se […] communicat nicht den Herrn, der sich selbst kommuniziert, sondern die Formulierung birgt ein Sich-Ver- oder Mit-Teilen, im Sinne einer Selbsthingabe Gottes für den Menschen (in Christus), die in einer geistlichen Tröstung (spirituali consolatione) ihren Ausdruck finden kann. Diese geistliche Tröstung durch die Hingabe kann aber von dem Menschen nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt und zu jeder sich bietenden Gelegenheit kommuniziert werden, im Sinne von: daran teilgenommen werden. Ein solch beliebiges Kommunizieren, hier als äußerliches Kommunizieren und Zerstreuung beschrieben, gleiche laut der Stimme einem Konsumieren, das nicht mit geistlicher Tröstung einhergehe. Obgleich die Absichten dabei fromm seien, nämlich auf den Ablasserhalt zielten, müsse die innere Disposition zuvor eine gebührende Vorbereitung erfahren haben, nur so könne der Empfang der Kommunion eine geistliche Tröstung bewirken. Was sich hier zeigt, ist erstens eine Mahnung zur Ehrfurcht vor dem Kommunionempfang. Der 21. Kanon des Vierten Laterankonzils von 1215 führte zwar eine jährliche Pflichtkommunion für Laien vor dem Osterfest ein, betont jedoch, dass dieser Kommunionempfang erst nach einer Beichte und angemessenen Zeit der Buße zulässig sei. Andernfalls, so die Bestimmungen des Kanons weiter, solle man lieber auf die Sakramentenspende verzichten, denn ein unwürdiger Empfang könne ein lebenslanges Verbot, Kirchen zu betreten, oder die Verwehrung eines christlichen Begräbnisses nach sich ziehen.800 Sicherlich waren derart drastische Maßnahmen im Fall der Agnes Blannbekin nicht nötig, weil diese eben eine fromme Handlung im Sinn hatte, obgleich ihr Geist abgelenkt war. Einer solchen inneren Zerstreutheit konnte nicht mit dem mehrfachen Kommunionempfang begegnet werden, weil dieser keine göttliche Tröstung brachte. Der Mangel an göttlicher Nähe wird im betrachteten Kapitelausschnitt durch schlechten Geruch, Brandgestank, symbolisiert, was hier auch für Dämonisches stehen kann. Doch liegt dabei keine Vorstellung von personifiziertem Bösen wie dem Teufel oder einem bestimmten Dämon zugrunde, wie es bei Franziska von Rom der Fall war; vielmehr geht es um die unangemessene Disposition innerhalb der eigenen Person, hier vertreten durch Agnes Blannbekins.

800 Siehe dazu 21. Kanon, Viertes Laterankonzil, wie oben zitiert in Anm. 459.

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Gleichzeitig, und darin liegt die zweite Erkenntnis dieser Interpretation, wird im Kapitel 230 durch göttliches Eingreifen die Frömmigkeitspraxis und Handlungsmöglichkeit des Altarküssens, die die Jungfrau sich selbst schuf, mittels einer veränderten Geruchswahrnehmung beschnitten. Agnes Blannbekin konnte zwar die Altäre in der Kirche der Brüder küssen, doch die Handlung, die ihr sonst einen süßen Duft und stärkende Kraft verliehen hatte, blieb nun eine leere Geste, da die göttliche Zustimmung verwehrt wurde.

IV.2.c Wegen der Heiligkeit des Zelebrierenden: zur Reinheit der Hostie Der erste Teil des 175. Kapitels, der eine nahezu wortgetreue Parallele zum ersten Teil des 40. Kapitels aufweist, wurde bereits analysiert. Die jeweils nachfolgenden Teile dieser beiden Kapitel unterscheiden sich jedoch voneinander. Zunächst soll der zweite Teil des 175. Kapitels erläutert werden. Nach dem Altarküssen deckte Agnes Blannbekin den Altar ab und fand darauf einen Tropfen, den sie als Träne der Andacht (lachryma devotionis) desjenigen Priesters deutete, der dort zuvor die Messe gelesen hatte. Als sie also den Altar abdeckte, sah sie etwas wie einen Tropfen, und meinend, daß es eine Andachtsträne wäre, vergossen vom Priester, der eben dort die Messe zelebriert hatte (und) zu dem sie besonderer [sic] Gunst hatte, küßte sie froh geworden jenen Tropfen. Aber nichts fühlte sie von der Süße des gewohnten Duftes. Daher wurde sie alsbald traurig und ging zu einem anderen Altar und jenen abküssend empfing sie dort die gewohnte Süße.801

Die Gewohnheit des Altarküssens wird hier erneut aufgegriffen, wenngleich das Ziel des Kusses nicht der Altar selbst, sondern ein auf den Altar gefallener Tropfen war, der mit dem Kuss aufgenommen werden sollte. Und obgleich zu hoffen stand, dass dieser Tropfen, den Agnes Blannbekin als Träne deutete, die tröstende Wirkung des Altarküssens in Form süßen Duftes noch steigern würde, trat dieser Effekt überhaupt nicht ein. Dass der Tropfen erst als Träne identifiziert werden muss, bringt eine gewisse Unschärfe und Mehrdeutigkeit in seine Nennung. Was anderes als eine Träne hätte es sein können, woran soll die Leserschaft sonst denken, wenn nicht an eine Träne des Priesters? Das Verständnis von Tränen, die oben bereits als Gnadenzeichen und somit als klassischer Topos für die Heiligkeit einer Person ausgelegt wurden, impliziert möglicherweise eine 801 Igitur discooperiens altare vidit quasi stillam et reputans, quod foret lachryma devotionis fusa a sacerdote, qui tunc missam ibi celebraverat, ad quem ipsa habuit gratiam specialem, hilaris facta super illam stillam osculabatur. Sed nihil sensit de suavitate soliti odoris. Unde mox tristis facta ivit ad aliud altare et illud deosculans percepit ibi suavitatem solitam (Vis. c. virg., Cap. 175, S. 364 und (deutsche Übersetzung:) S. 365).

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ähnliche, unausgesprochene Deutung des Tropfens. Die Träne könnte einen Hinweis darauf darstellen, dass der Priester zwar nicht als heilig, im Sinne einer offiziell heiliggesprochenen Person, jedoch als ein frommer Geistlicher angesehen wurde. Trotz der positiven Beurteilung des Priesters durch Agnes Blannbekin blieb beim Küssen die gewohnte tröstende Wirkung eines süßen Duftes allerdings aus. Weshalb dies so war, erläuterte ihr wieder eine Stimme: Sie wunderte sich auch, warum denn dies sei, und die Stimme sagte zu ihr: ›Dies ist daher, daß du wissen mögest, dies ist allein ein Gottesgeschenk. Und erhoffe nicht von woanders diese Tröstung und meine nicht, etwas wegen der Heiligkeit des Zelebrierenden zu fühlen!‹802

Deutlich wies die göttliche Stimme darauf hin, dass die gewohnte Süße des Duftes, die bei Agnes Blannbekin ein Gefühl der Tröstung auslöse, ein göttliches Geschenk sei, das jemandem durch göttliche Gnade zuteilwerden, jedoch nicht von ihm/ihr selbst gewählt und selbstständig erworben werden könne. Diese Folgerung entspricht der Interpretation der im Kapitel 230 geschilderten Begebenheit des Brandgeruchs am Altar und der Folgerung, dass die Tröstung letztlich ein göttlicher Gnadenerweis sei, den nur Gott zu gewähren vermöge. Die Stimme fügt noch etwas Beachtenswertes hinzu: Die Heiligkeit des Zelebrierenden sei nicht ausschlaggebend für ein Gnadenerlebnis. Diese Erkenntnis verdient eine genauere Analyse, da es in den Visionen einer gewissen Jungfrau zahlreiche Schilderungen gibt, die die Würdigkeit oder eben auch die Unwürdigkeit eines Zelebranten und den mit ihm in Zusammenhang stehenden Kommunionempfang thematisieren. Unterschiedliche Arten zelebrierender Priester werden in den Kapiteln 32 und 33 beschrieben, und es wird schließlich erläutert, welchen Einfluss deren moralische Absichten auf die Messfeier im Allgemeinen und die Eucharistie im Besondern hatten. Im 32. Kapitel werden unwürdige Priester als solche charakterisiert, die entweder nur aus Furcht die Messe lasen oder aus Angst davor, verdächtigt zu werden. In ihrer Vision erfuhr Agnes Blannbekin auch, dass diese beiden Motivationen keine von Gott präferierten seien, denn anschließend folgerte sie: Hos in sua oblatione non commendavit, wobei sich die Verbform commendavit in der 3. Person Singular auf Gott selbst bezieht und bedeutet, dass er jene Priester mit ihrer Darbietung nicht empfohlen habe.803 Im 33. Kapitel 802 Mirabatur quoque, curnam [= cur nam, J. S.] hoc esset, et vox ad eam: ›Hoc‹, inquit, ›ideo est, ut scias istud solius dei donum esse. Nec speres aliunde hanc consolationem nec puta te aliquid sentire propter celebrantis sanctitatem!‹ (Vis. c. virg., Cap. 175, S. 364 und 366 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 365). 803 Cap. XXXII. De sacerdotibus celebrantibus diversis intentionibus, scilicet de indignis et devotis. Inter caetera, quae dixit dominus, commendavit oblationem sacramenti altaris comparans elevationem manuum sacerdotis in altari elevationi manuum Moysi in monte, quando Israel pugnabat contra Amalech. Distinxit autem inter sacerdotes offerentes, nam

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finden die würdigen Zelebranten Erwähnung, die sich selbst durch ihren Dienst dreifache Gnade erwarben.804 Beide Kapitel thematisieren die darin verfolgten Absichten eher allgemein, wohingegen andere Kapitel exemplarisch, aber explizit Schwierigkeiten und Folgen des unwürdigen Zelebrierens veranschaulichen. Das erste Mal scheint Agnes Blannbekin im Alter von ungefähr 16 Jahren (forsan sedecim annorum) einem sündigen Priester begegnet zu sein, wie das 41. Kapitel berichtet. Dieser Priester hatte in der Nacht vor dem Lesen einer Messe eine Frau entjungfert, was im Text mit dem wohl spätantik aufgekommenen lateinischen Verb deflorare im metaphorischen Sinne als (ab)pflücken oder einer Blüte berauben umschrieben wird (accidit […], quod cum quidam sacerdos in nocte unam virginem deflorasset in villam, […] in die sequenti missam celebraret). Aufgrund der Wortwahl kann davon ausgegangen werden, dass der Priester damit nicht nur gegen das Gebot der priesterlichen Keuschheit, den Zölibat, verstieß, sondern der Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung der dixit, quod alii missas dicunt causa timoris, quia eis injungitur, et non audent aliud facere, alii vero, ne habeantur suspecti. Hos in sua oblatione non commendavit. Alii offerunt causa devotionis, et isti in sua oblatione merentur in commune ecclesiae triplicem fructum. Primo, quia merito oblationis suae impediunt peccatores et malefactores, ne possint perficere omne malum, quod cogitaverunt facere. Secundo poenitentibus merentur facilitatem veniae, ita quod eis dominus faciliter indulget et satisfactionem modicam acceptat. Tertio promovent bonos in gratia et ad majorem gratiam / 32. Kapitel. Über mit verschiedenen Absichten zelebrierende Priester, also über unwürdige und andächtige. Neben dem Übrigen, was der Herr sagte, empfahl er die Darbringung des Altarsakraments, indem er die Erhebung der Hände des Priesters am Altar mit der Erhebung der Hände Moses’ am Berge verglich, als Israel gegen Amalech kämpfte. Er machte aber Unterschiede unter den opfernden Priestern, denn er sagte, dass die einen Messen lesen aus Furcht, weil es ihnen befohlen wird und sie nicht wagen, etwas anderes zu machen, andere aber, damit sie nicht verdächtigt werden. Diese mit ihrer Darbringung empfahl er nicht. Andere opfern aus Andacht, und diese verdienen in ihrer Darbringung insgemein der Kirche dreifache Frucht. Erstens, weil sie durch das Verdienst ihrer Darbringung Sünder und Übeltäter hindern, daß sie all das Üble vollbringen können, das zu tun sie sich ausdachten. Zweitens verdienen sie den Büßenden die Leichtigkeit der Gnade, so daß der Herr leicht verzeiht und eine mäßige Genugtuung annimmt. Drittens fördern sie die Guten in der Gnade und zu größerer Gnade (Vis. c. virg., Cap. 32, S. 110 und 112 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 111 und 113). 804 Cap. XXXIII. De dignis celebrantibus. Item dixit dominus, quod digne offerentes merentur sibi ipsis triplicem gratiam. Primo, quod diabolus non potest eos praecipitare in aliquod peccatum, nisi se ipsos velint praecipitare; unde magnam virtutem percipiunt contra diabolum et ejus tentationes. Secundo, quidquid sua oblatione merentur aliis, sicut jam supra dictum est, hoc eis ita appropriatur in meritum, quod specialiter de hoc praemiabuntur. Tertio, quod deus ipse erit eorum merces et praemium / 33. Kapitel. Über die würdigen Zelebrierenden. Ebenso sagte der Herr, daß die würdig Opfernden sich selbst dreifache Gnade erwerben. Erstens, weil der Teufel sie nicht in irgendeine Sünde stürzen kann, es sei denn, sie wollen sich selbst hineinstürzen, daher bekommen sie große Kraft gegen den Teufel und seine Versuchungen. Zweitens, was immer sie durch ihre Darbringung für andere verdienen, so wie schon oben gesagt wurde, das wird ihnen so als Verdienst zu eigen, daß sie besonders deshalb belohnt werden. Drittens, dass Gott selbst ihr Lohn und ihre Belohnung sein wird (Vis. c. virg., Cap. 33, S. 112 und (deutsche Übersetzung:) S. 113.)

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Jungfrau geschehen war und damit eine Vergewaltigung darstellte. Dies unterstreicht auch die später verwendete Bezeichnung der Handlung als Verbrechen (crimen). Weiter wird berichtet, dass am Tag nach diesem Verbrechen Markttag war, weshalb außer Beginen nur wenige Gläubige dem Gottesdienst beiwohnten. Die wenigen Anwesenden versuchten, den Kommunionempfang durch den Priester zu umgehen, da dessen sündiges Verbrechen öffentlich und allen bekannt war (quoniam crimen publicum et notum erat omnibus). Die kollektive Zurückhaltung der Anderen bemerkend, sagte Agnes Blannbekin unter Schmerzen: ›Ich will heute Maria Magdalena sein.‹ Und sie bat den Herrn, indem sie sagte: ›Herr, ich bitte dich, daß du, wenn dieser zu der Zahl der zu Rettenden gehört, ihm nicht erlaubst, deinen hochheiligen Leib zu nehmen!‹ Und siehe, nach dem Vaterunser in der Messe spürte sie selbst und hatte sie die Hostie wahrlich im Munde und verschluckte sie mit so großer Süße, mit der sie gewohnt war zu kommunizieren. Der Priester aber, als der den Leib (des Herrn) nehmen sollte, blickte am Altar so hin und her, als wenn er etwas verloren habe.805

Für ihre Opferbereitschaft wurde sie demnach mit dem direkten Erhalt des Leibes Christi belohnt, während der zelebrierende Priester wohl vergeblich die Hostie am Altar suchte. In seiner 1938 erschienenen Abhandlung zu den eucharistischen Wundern des Mittelalters klassifiziert Browe unterschiedliche Wunder, die sich im Zusammenhang mit den eucharistischen Gaben ereigneten.806 Auch die oben angeführte Schilderung aus den Visionen einer gewissen Jungfrau führt der Autor an, und zwar als Beispiel für ein sogenanntes Entziehungswunder. Dieses lag nach der von Browe vorgeschlagenen Klassifikation dann vor, wenn sich die Eucharistie auf wundersame Weise sündigen oder unwürdigen Personen entzog. Dieser Entzug kann den Empfänger/die Empfängerin der Eucharistie oder, so wie im vorliegenden Fall, den Zelebranten betreffen. Browe zeigt auf, dass Erzählungen vom Entzug der Eucharistie gegenüber unwürdig empfangenden Laien/-innen seit dem 4. Jahrhundert nachweisbar sind, jedoch erst seit dem 11. Jahrhundert auch ein wundersames Verschwinden der Hostie bei der Gabenbereitung durch sündige Priester auftauchte. Das Abhandenkommen kann sich dabei unterschiedlich gestalten; der Grund dafür ist jedoch meist ein vorheriges ge805 ›Ego volo hodie esse Maria Magdalena.‹ Et rogavit dominum dicens: ›Domine, rogo te, ut, si iste est de numero salvandorum, non permittas eum tuum sacratissimum corpus sumere!‹ Et ecce, post pater noster in missa ipsa sensit et habuit hostiam veraciter in ore et deglutivit cum tanta dulcedine, quanta consuevit communicare. Sacerdos vero, quando debuit sumere corpus, respexit hinc inde in altari, sicut quasi aliquid amisisset (Vis. c. virg., Cap. 41, S. 126 und 128 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 127 und 129). 806 Siehe dazu Peter Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie. Neue Folge, 4), Breslau 1938.

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schlechtliches Vergehen der Priester.807 Im geschilderten Fall der Agnes Blannbekin aus dem 41. Kapitel blieb die konsekrierte Hostie unberührt von den Sünden des Priesters, außerdem wurde ihre Gnadenwirkung nicht geschmälert. Folgt man Browes Einteilung von Wundern im Zusammenhang mit der Eucharistie, lässt sich die hier betrachtete Erzählung noch in eine weitere Kategorie einordnen. Der direkte Erhalt der Hostie im Mund der Agnes Blannbekin wird zwar von Browe nicht als Beispiel angeführt, greift aber das Narrativ des Spendungswunders auf, das Browe anhand zahlreicher anderer Quellenbeispiele beschreibt. Beim Spendungswunder wird der Leib Christi nicht durch einen Zelebranten an die Empfängerin oder den Empfänger gegeben, sondern kann entweder ohne einen Zelebranten oder durch Christus selbst sowie stellvertretend durch einen Engel, Tauben, Heilige oder auch ganz ohne Mittler/-innen direkt in den Mund der Empfangenden gelangen. Dabei geht es nicht nur darum, die Berührung oder einen andersartigen Kontakt mit dem sündigen bzw. unwürdigen Zelebranten zu vermeiden, sondern darüber hinaus auch darum, die empfangende Person als des Erhalts würdig auszuzeichnen. Browe macht darauf aufmerksam, dass so einerseits die Würdigkeit der Kommunizierenden unterstrichen worden sei, die zudem häufig aus Angst vor ihrer Unwürdigkeit nicht hätten kommunizieren wollen. Andererseits, so Browe, habe auf dem genannten Wege auch die Häufigkeit des Kommunionempfangs oder, anders ausgedrückt, die Zugänglichkeit der Kommunion erhöht werden können. Dies habe beispielsweise der Not Sterbender Abhilfe geschaffen, die nicht mehr in der Lage gewesen seien, Nahrung aufzunehmen oder wegen ihres schnellen Ablebens die Hostie von einem Zelebranten zu empfangen.808 Für beide Typen von Wundern, sowohl den des Entziehungswunders als auch den des Spendungswunders, gibt es unter den Visionsberichten der Agnes Blannbekin weitere Beispiele. So erfahren wir im 43. Kapitel, dass Agnes Blannbekin im visionären Zustand (fuit in spiritu) einen ihr unbekannten zelebrierenden Priester in Gestalt einer faulen Weide voller Schlangen und anderer Kriechtiere (in figura salicis putridae interius plenae serpentibus et aliis reptilibus) sah. Aufgrund dieses vorherigen Einblicks konnte sie am folgenden Tag bei der Messfeier den fraglichen Priester und seine Unwürdigkeit erkennen, die Messe zu lesen. Als Begründung für seine Unwürdigkeit wird angeführt, dass er von leichtem Leben (levis vitae) war, weshalb er in der vorangegangenen Vision die Gestalt der oben beschriebenen faulen Weide angenommen hatte, auf der außer einem kleinen Ast mit drei Zweigen nichts Grünes zu sehen gewesen war – ein Synonym für den Mangel an Gutem. Der grünende Ast und seine Zweige stehen für die drei Weihen (Taufe, Firmung und Priesterweihe), die der Priester 807 Siehe dazu Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (wie Anm. 806), S. 33. 808 Siehe dazu Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (wie Anm. 806), S. 21–27.

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bereits erhaltenen hatte, wobei das fortwährende Grün deren Dauerhaftigkeit und Unverwüstlichkeit angesichts menschlicher Einflüsse symbolisieren soll.809 Weiterhin erwähnte Agnes Blannbekin, dass die Schlechtigkeit des Priesters keinen Einfluss auf die Gnadenwirkung der Kommunion für die Gläubigen besaß, denn sie hatte bereits in der Vision gesehen, daß nach der Kommunion des heiligen Herrenleibes und Blutes aus der Weide, so wie in einem Kanal, eine Flüssigkeit nach der Art gekochten Honigs abgeleitet wurde. Und die ankommenden Menschen kosteten von jener Flüssigkeit, in der Weide aber blieb von dieser Honigflüssigkeit nichts zurück. Dies bezeichnet, gemäß dem, was ihr zu verstehen gegeben wurde, daß der Priester selbst jeder Gnade der Kommunion entbehrte, aber die gläubigen und andächtigen Teilnehmer wurden um jene Frucht und Gnade nicht betrogen.810

Die Andeutung eines leichten Lebens (levis vitae), das der Priester geführt haben soll, ist zwar kein direkter Hinweis auf ein sexuell-freizügiges Verhalten, jedoch eine Anspielung auf ein nicht-regelgetreues Leben. Trotz des priesterlichen Fehlverhaltens wurde den Gläubigen nicht die Gnade der Hostie entzogen, sondern sie wurde ihnen ungemindert zuteil. Das sündige Vergehen eines anderen Zelebranten beschreibt das Doppelkapitel 90/91; darin findet sich unmissverständlich ein Spendungswunder dargestellt: Eines Tages, als sie die Messe hörte, schrak sie vor dem zelebrierenden Priester zurück, ohne zu wissen, aus welchem Grund. Da sagte die göttliche Stimme zu ihr: ›Dieser Priester liest heute die zweite Messe und hat die Gnade des Sakraments nicht empfangen und empfängt sie nicht.‹ Dann stand die Stunde bevor, in welcher der Priester den Leib des Herrn nehmen sollte, und diese Jungfrau empfing in körperlichem Geschmack eine wunderbare Süße, als ob sie sakramental den Leib des Herrn empfangen hätte. Sie spürte nichtsdestoweniger in der Seele eine unsagbare Geistessüße.811 809 Zur Unzerstörbarkeit des Sakramentencharakters sei hier hingewiesen auf die entsprechenden Erläuterungen im »Handbuch der Dogmengeschichte«. Dort heißt es, dass sich mit der Lehre von der Unzerstörbarkeit des Charakters der Sakramente auch die Lehre von ihrer Unwiederholbarkeit verbinde. Taufe, Firmung und Weihe hätten einen unauslöschlichen Charakter (»character indelebilis«) und könnten deshalb nicht wiederholt werden; siehe dazu Josef Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen. Von der Schrift bis zur Scholastik, in: Handbuch der Dogmengeschichte, 4: Sakramente – Eschatologie, Faszikel 1a, Freiburg im Breisgau [u. a.] 1980, S. 224–225. 810 Viderat etiam in eadem visione, quod post communionem sacri corporis et sanguinis dominici de salice quasi in canali derivabatur liquor ad modum mellis cocti; et homines venientes gustabant de illo liquore, in salice autem nihil remanebat de ipso melleo liquore. Hoc significat, secundum quod datum est ei intelligere, quod ipse sacerdos erat expers omnis gratiae sacrae communionis, sed fideles assistentes et devoti illo fructu et gratia non fraudabantur (Vis. c. virg., Cap. 43, S. 132 und (deutsche Übersetzung:) S. 133). 811 Una die audiens missam horruit ipsum sacerdotem celebrantem, nesciens ob quam causam. Tunc vox divina ad eam: ›Iste‹, inquit, ›sacerdos legit hodie secundam missam, nec gratiam percepit nec percipit sacramenti.‹ Ex tunc instabat hora, qua sacerdos sumeret corpus domini, et haec virgo percepit gustu corporali miram dulcedinem, sicut si sacramentaliter corpus

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Wie schon im 32. Kapitel wird auch hier ein niederes Handlungsmotiv des Priesters genannt, nämlich dass er die Messe zur Finanzierung seines Lebensunterhalts gelesen habe (causa victus sui legisset). Zugleich finden sich in der Darstellung Elemente eines Entziehungswunders, da der Priester trotz des doppelten Altardienstes nicht in den Genuss göttlicher Gnade kam.812 Browes Beobachtungen zu eucharistischen Wundern werden durch die Visionen der Agnes Blannbekin bestätigt. Die kategorialen Grenzen sind in den dort geschilderten Fällen nach Browes Systematik allerdings unscharf, sodass in einem Narrativ mehrere der von ihm beschriebenen Wundertypen überlappen können.813 Zu Beginn seiner Klassifikation erwähnt Browe, dass ein großer Teil der Sakramentswunder aus dem Umfeld der Zisterzienser stamme, da diese die Verehrung der Eucharistie als ihr zentrales Anliegen verstanden hätten. Doch infolge der Aufnahme in Mirakelbücher und Heiligenviten, die zur Tischlektüre auch in anderen monastischen Gemeinschaften genutzt worden seien, hätten die Erzählungen große Verbreitung gefunden.814 Es scheint plausibel, dass auch die von Agnes Blannbekin geschilderten Visionen durch solche Mustererzählungen inspiriert wurden. Dabei müsste die Vermittlung zumindest in Teilen auch über die Unterweisungen des Beichtvaters oder seinen originären Eigenanteil an der Textproduktion gelaufen sein. Leider schweigt die Quelle dazu, weshalb diese Annahme eine Spekulation bleiben muss. Was sich jedoch dem Text entnehmen lässt und sich für die Interpretation als hilfreich erweist, sind die Absichten, mit domini percepisset. Sensit nihilominus in anima indicibilem suavitatem spiritus (Vis. c. virg., Cap. 90/91, S. 210 und 212 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 211 und 213). 812 Das zweifache Zelebrieren der Messe war gemäß dem Decretum Gratiani, das um 1140 entstand, kirchenrechtlich verboten: Quot missas in die sacerdotibus celebrare liceat. Item Alexander Papa. XVII. Pars. Sufficit sacerdoti unam in die una celebrare missam, quia Christus semel passus est, et totum mundum redemit. Non modica res est unam missam facere, et ualde felix qui unam digne celebrare potest. Quidam tamen pro defunctis unam faciunt, et alteram de die, si necesse sit. Qui uero pro pecuniis aut adulationibus secularium una die presumunt plures facere missas, non estimo euadere dampnationem (De consacratione, D. 1 c. 53, Decretum magistri Gratiani, 2. Ausgabe nach Emil Ludwig Richter, hrsg. Emil Friedberg, Leipzig 1879 (Corpus iuris canonici, 1), Sp. 1307–1308. 813 Es könnten in den Visionen der Agnes Blannbekin weitere eucharistische Wunder gemäß Browes Kategorisierungen nachgewiesen werden. Exemplarisch sei jedoch lediglich noch auf die Engelwunder hingewiesen, bei denen Engel die zelebrierenden Priester vor allem im Moment der Wandlung umkreisten; siehe dazu Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (wie Anm. 806), S. 6. Mehrfach traten laut Agnes Blannbekin Engel und gelegentlich auch Dämonen an den Altar oder stellten sich hinter den jeweiligen Zelebranten. So ministrierten mehrere Engel dem Beichtvater, der die Messe am Gedenktag des Franz von Assisi zelebrierte; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 65, S. 164–167. In derselben Vision, also während der Messfeier, erschienen bei der Elevation der Eucharistie zwei Dämonen hinter dem Rücken des Beichtigers, die jedoch nach dem Vaterunser wieder verschwanden, während die Engel bis zum Ende der Messfeier zugegen waren; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 66, S. 166–167. 814 Siehe dazu Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (wie Anm. 806), S. 3.

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denen eucharistische Wunder Eingang in die Visionen einer gewissen Jungfrau fanden. Wie zu Beginn bereits betont, war der Gnadenerhalt für Agnes Blannbekin und/oder ihren Beichtvater nicht von der Würdigkeit des Zelebranten abhängig. Gleichzeitig konnte dessen Unwürdigkeit oder Sündhaftigkeit ihrer Ansicht nach die Gnadenwirkung der Hostie nicht schmälern. Auch unterschiedliche Motive der Kommunizierenden hatten darauf keinen Einfluss, solange die betreffenden Personen des Kommunionempfangs würdig waren. So werden im 220. Kapitel von einer Stimme unterschiedliche Arten guter Kommunizierender vorgestellt sowie deren Motivationen erläutert (›In quinquepertita differentia sunt homines boni corpus dominicum sumentes. […]‹). Dabei unterscheidet sie zwischen denjenigen, die gemäß den Beschlüssen des Vierten Laterankonzils einmal jährlich die Kommunion empfingen, denjenigen, die aus Andacht häufiger kommunizierten, denjenigen, die lediglich zur Nachahmung der Frommen kommunizierten, ohne sich auf den Empfang der göttlichen Gnade vorzubereiten, und schließlich denjenigen, die trotz sorgfältiger Vorbereitung den Kommunionempfang wegen der eigenen Unzulänglichkeit fürchteten.815 Es geht der Stimme also nicht um die Würdigkeit der jeweiligen Zelebranten, sondern um die unanfechtbare Reinheit der Hostie und die mit ihr verbundene Gnadenwirkung, die von menschlichen Einflüssen unberührt bleibt. Diese Erkenntnis erhält Agnes Blannbekin auch deutlich im Kapitel 153 anlässlich einer Begebenheit, die sich am Freitag nach Himmelfahrt ereignete.816 Nach dem abendlichen Gebet verweilte die Jungfrau noch in der Kirche, als eine Frau vom Lande (una foemina rurensis),817 später als Bäuerin (rustica) bezeichnet, mit verdecktem Gesicht die Jungfrau ansprach und die Vermutung äußerte, dass der Leib Christi noch auf dem Altar liege, weshalb sie Agnes Blannbekin aufforderte, diesen einem Priester zu zeigen. In der Erzählung wird dann, ohne nähere Ausführungen, vermerkt, dass eben diese Bäuerin verdächtigt werde, den Leib Christi auf den Altar gelegt zu haben. Agnes Blannbekin erschrak, als sie einen Teil der Hostie sah; es war ihr jedoch unklar, ob es sich um eine konsekrierte Hostie handelte oder nicht. Kniete die Jungfrau davor, ging für sie eine Tröstung von der Hostie aus, doch sobald sie sich erhob, erfüllten sie Zweifel am geweihten Zustand der Hostie. Schließlich kam der Sakristan hinzu, der auch ein Bruder war, und entschied wegen der Zweifel, die Hostie für den folgenden Tag aufzubewahren und sie dann mit Verehrung zu nehmen. Unklar bleibt zu815 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 220, S. 452–455. 816 In der Handschrift Li sind die Ereignisse von Freitag nach Himmelfahrt (ab Cap. 153) und nachfolgende Kapitel zusammengefasst; erst am Pfingsttag beginnt ein neues Kapitel (Cap. 157). In der Handschrift Zw sind die Kapitel 153 und 154 zusammengefasst. 817 So in Vis. c. virg., Cap. 153, S. 328 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 329, in der Handschrift Li heißt es: una femina rurensis (Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145, fol. 60rb).

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nächst, ob der Bruder Sakristan selbst unsicher bezüglich des Zustandes der Hostie war oder sich von den Zweifeln der Jungfrau beeinflussen ließ und deshalb die Hostie zur Aufbewahrung zurücklegte. Im nächsten Satz wird Agnes Blannbekin jedoch als haec devota, diese Fromme, Gottergebene oder Andächtige, bezeichnet, was ihre Position und Autorität unterstreicht. Agnes Blannbekin dachte am Ende der Begebenheit, in sich gekehrt, darüber nach, ob der Leib Christi stets der Leib Christi bleibe, selbst wenn er von Zauberern unwürdig behandelt werde sollte.818 Die Antwort darauf erhielt sie durch eine göttliche Eingebung: ›Wenn der Herrenleib mit Füßen getreten wird, kann ihn kein Fuß oder Schuh berühren, noch kann er etwas leiden, auch wenn er in eine Kloake geworfen wird, denn durch die Passion einstmals ist er leidensunfähig geworden.‹819

Um diese Aussage über die unabhängige Reinheit der konsekrierten Hostie zu erklären, ist ein Blick auf die Entwicklung der Sakramente, besonders des Altarsakraments, nötig. Schon vor der Kodifizierung des Grundsatzes, dass Brot und Wein wesenhaft in Leib und Blut verwandelt würden,820 wie er auf dem Vierten Laterankonzil im Jahr 1215 festgeschrieben wurde, war die dauerhafte Wesenswandlung der eucharistischen Gaben, die bleibende Transsubstantiation, seit dem 11. Jahrhundert zur verbreiteten und konsensualen Meinung in normativen theologischen Texten und der religiösen Handlungspraxis geworden.821 818 Das Motiv des Zaubers, genauer des Schadenszaubers gegenüber Hostien, taucht in den Berichten der Agnes Blannbekin bereits im 44. Kapitel auf, wo eine Hexe (malefica) den Leib Christi entwendet und in einem Weinfass in ihrem heimischen Keller versteckt hatte; siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 44, S. 132–135. 819 Si corpus dominicum pedibus conculcetur, non potest ipsum pes vel calceus attingere, nec quidquam pati potest, etiamsi projiciatur in cloacam, quia per passionem semel factum est impassibile (Vis. c. virg., Cap. 153, S. 330 und (deutsche Übersetzung:) S. 331). 820 Siehe dazu Una vero est fidelium universalis ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur, in qua idem ipse sacerdos et sacrificium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus et vino in sanguinem potestate divina, ut ad perficiendum mysterium unitatis accipiamus ipsi deo suo, quod accepit ipse de nostro/Eine ist die universale Kirche der Glaubenden; außerhalb ihrer wird überhaupt niemand gerettet. In ihr ist Jesus Christus selbst Priester und Opfer zugleich: Sein Leib und Blut sind im Sakrament des Altares unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten, sobald durch göttliche Macht das Brot in Leib und der Wein in das Blut transsubstantiiert worden sind, damit zur Vollendung des Mysteriums der Einheit wir selbst von dem Seinigen empfangen, was er selbst von dem Unsrigen angenommen hat [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (1. Kanon: De fide catholica/Der katholische Glaube. Viertes Laterankonzil 1215, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2 (wie Anm. 459), S. 229–230). Auch im Liber Extra bestätigt; siehe dazu X 1, 1, 1, in: Decretalium Collectiones, 2. Ausgabe nach Emil Ludwig Richter, hrsg. Emil Friedberg, Leipzig 1879 (Corpus iuris canonici, 2), Sp. 5–6). 821 Einen Überblick zur Geschichte der Idee von der Wandlung der Materie, die bereits im 9. Jahrhundert von dem Benediktiner Radbertus von Corbie (Paschasius Radbertus) in

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In dieser Zeit entstanden zahlreiche Abhandlungen über die Sakramente – besonders über das Altarsakrament.822 Dabei wurde die Würdigkeit der Sakramentsempfangenden sowie die Stellung der Sakramentenspender wiederholt diskutiert. In ihren Ausführungen über die Beschaffenheit und Darstellung des Corpus Christi betont Rubin, dass es zunehmend notwendig geworden sei, die Messe als Ritual zu bestätigen, das unabhängig von dem Charakter und der Tugendhaftigkeit des Zelebranten wirke.823 Was Rubin nicht direkt anspricht, aber als religionshistorischer Kontext bei ihren Ausführungen mitschwingt, sind die Einflüsse negativer Entwicklungen im Priesteramt, vor allem der Simonie und des Nikolaitismus, an denen verstärkt auftretende religiöse Bewegungen (wie die der Katharer und Waldenser, aber auch der Franziskaner und Dominikaner) heftige Kritik übten und die diese veranlassten die Glaubwürdigkeit Geistlicher zu hinterfragen.824 Der Frühscholastiker Hugo von St. Victor (1096–1141) diskutiert in seiner Abhandlung zur Eucharistielehre De sacramentis christianae fidei die Frage der Unwürdigkeit eines Zelebranten und ob diese die Reinheit und Gnadenwirkung der Hostie beeinträchtigen könne. Zu Beginn seiner Überlegungen räumt Hugo der Eucharistie einen einzigartigen Platz unter den Sakramenten ein und bekennt sich zur wirklichen Gegenwart Christi in der Hostie, die von Zeitgenossen wie Berengar stets abgestritten wurde. Im 12. Kapitel seines Werkes thematisiert seinem Werk Liber de corpore et sanguine Domini vertreten wurde, sowie zur späteren Manifestation (sprich: Bekundung) der Transsubstantiationslehre bietet der Erlanger Theologe Anselm Schubert, der versucht ein klassisches Thema der Theologiegeschichte mit Ansätzen aus der »Food History« zu verbinden; siehe dazu Anselm Schubert, Gott essen. Eine kulinarische Geschichte des Abendmahls, München 2018, S. 81–94. Eine quellenreiche Darstellung zur ideengeschichtlichen Entwicklung der Eucharistie und der Transsubstantiationslehre bietet Burkhard Neunheuser, Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit, in: Handbuch der Dogmengeschichte, 4: Sakramente – Eschatologie, Faszikel 4b, Freiburg im Breisgau [u. a.] 1963, S. 24–44. 822 Von hohem Bekanntheitsgrad und weitem Einfluss war sicherlich das sechsbändige Werk De mysteriis missae Lothars von Segni, des späteren Papstes Innozenz III. Ein auswählender Überblick dazu findet sich bei Neunheuser (wie Anm. 821), S. 33–34. 823 »And it was also increasingly necessary to claim that the mass had effect ex opere operato, as a ritual which was effective independently from the priest’s character and virtue« (Rubin, Corpus Christi (wie Anm. 745), S. 50). 824 Rubin verweist in diesem Kontext auch auf Bildung und ausreichende finanzielle Grundlagen von Priestern, die ihnen ihre Würdigkeit erlaubt und sie dieser auch bewusst gemacht hätten: »By the twelfth century, […] a process of normalisation and application of the Church’s privileges and duties was at work. […]; if priests were to be loyal to the church alone, then their livelihood should be provided sufficiently and regulated; and if claims were to be made about their sacramental efficacy, then they must possess some knowledge which set them apart. So attempts began to try and turn the clergy into an international bureaucracy, […]. The clergy was increasingly set apart in life-style, duties, clothing, training, language, from its ›community‹, and drew its authority from a central source« (Rubin, Corpus Christi (wie Anm. 745), S. 51.

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Hugo dann die Frage unwürdiger Behandlung des Corpus Christi. Seine Schlüsse entbehren noch einer gewissen Klarheit, doch er betont, dass das Unwürdige lediglich die äußere Gestalt treffen könne, niemals den Herrn direkt.825 Dies erkläre sich vor allem aus der Stellung des Priesters, der als Spender des Sakramentes lediglich Diener Gottes sei.826 Die Meinung Hugos von St. Victor findet sich schon bei Anselm von Laon (1050–1117, einem Schüler Anselms von Canterbury), der erläutert, dass das Mysterium des Leibes Christi auch von einem bösen Priester empfangen werden könne, da die Kraft nicht vom Priester ausgehe, sondern von Gott allein.827 Doch diese Annahme war in der Frühscholastik keineswegs konsensual.828 Verschiedene Begründungen dagegen führen sowohl Hugo von Amiens als auch Hildegard von Bingen und Petrus Lombardus an, wobei Letzterer erläutert, dass ein Sünder niemals konsekrieren könne.829 Obgleich schon Augustinus darauf hingewiesen hatte, dass es letztlich Christus sei, der die Sakramente spende,830 scheint die Aussage einer wieder825 Einen Überblick zu Eucharistieauffassungen der Frühscholastik unter besonderer Berücksichtigung Hugos von St. Viktor liefert Neunheuser (wie Anm. 821), S. 30–33. Eine neuere Darstellung zu den Sakramenten der Taufe, Firmung und Eucharistie bei Hugo von St. Viktor bietet Blessing in seiner Dissertation; siehe dazu Claus Blessing, Sacramenta in quibus principaliter salus constat. Taufe, Firmung und Eucharistie bei Hugo von St. Viktor (Österreichische Studien zur Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie, 8), Wien 2017. 826 Sanctitas sacramenti non in merito ministrantium, sed in Dei sanctificantis virtute perficitur (Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianæ fidei, in: Hugonis de s. Victore […] opera omnia […], 2 (Migne PL, 176), Sp. 173–618 B, hier: II, 6 c. 11, Sp. 457 B). 827 Siehe dazu Anselm von Laon (Ps.-Anselm von Canterbury), Epistola CVII De corpore et sanguine Domini, in: S. Anselmi […] Cantuariensis […] opera omnia […], 2 (Migne PL, 159), Sp. 255 A-258 A, hier: Sp. 257 A. Siehe dazu auch Blessing (wie Anm. 825), S. 571. 828 Eine knappe Zusammenfassung der Positionen gegen die Konsekrationsgewalt von der Kirche getrennter Priester findet sich bei Finkenzeller (wie Anm. 809), S. 105–106. Eine ausführliche Darstellung liefert hingegen Landgraf; siehe dazu Arthur Michael Landgraf, Zur Lehre von der Konsekrationsgewalt des von der Kirche getrennten Priesters im 12. Jahrhundert, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie 15 (1940), S. 204–227. 829 Siehe dazu Petrus Lombardus, Sententiarum Libri Quatuor, Sent IV d. 13. c. 1, in: Petri Lombardi […] opera omnia (Migne PL, 192), Sp. 965–1112, hier Sp. 519–964. 830 Quid ergo per columbam didicit, ne mendax postea inveniatur (quod avertat a nobis Deus opinari); nisi quamdam proprietatem in Christo talem futuram, ut quamvis multi ministri baptizaturi essent, sive justi, sive injusti, non tribueretur sanctitas Baptismi, nisi illi super quem descendit columba, de quo dictum est, Hic est qui baptizat in Spiritu sancto? Petrus baptizet, hic est qui baptizat: Paulus baptizet, hic est qui baptizat; Judas baptizet, hic est qui baptizat (Augustinus, In Joannis evangelium tractatus CXXIV, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia […], 3,2 (Migne PL, 35), Sp. 1379–1976, hier: Tractatus VI c. 7, Sp. 1427). Was also lernte er durch die Taube kennen, damit er nicht nachher als Lügner erfunden werde (was zu meinen, Gott von uns abwenden möge), wenn nicht eben dies, daß eine besondere Eigentümlichkeit an Christus darin bestehen werde, daß, obwohl viele Diener

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kehrenden Bestätigung bedurft zu haben. So behandelt Thomas von Aquin diesen Gedanken und weist in Anlehnung an Augustinus darauf hin, dass es Gott allein sei, der konsekriere.831 In Phrasen wie ex opere operato sollte sich zunehmend die Haltung manifestieren, dass die Sakramente durch Vollzug wirksam würden. Ihre Gültigkeit sei dabei unabhängig von der Würdigkeit des Spenders, denn dieser sei nur ein Mittler. Der Hauptspender bleibe Christus, wie es dann 1547 auf dem Konzil von Trient (1545–1563) beschlossen wurde.832 Es zeigt sich folglich, dass das, was Agnes Blannbekin in ihren Visionen erlebte, nämlich die Tröstung durch den Kommunionempfang, nach ihrer Erfahrung und dann auch Überzeugung nicht von der Andacht oder Würdigkeit eines zelebrierenden Priesters, sondern allein von Gott, der Quelle und ausgebenden Kraft der Stärkung, abhängig war. Mit dieser Ansicht stellte/-n sich Agnes Blannbekin und/oder ihr Beichtvater nicht gegen die Haltung der Kirche, da diese zur fraglichen Zeit gegenüber der in Rede stehenden Thematik noch eine gewisse Indifferenz an den Tag legte. Vielmehr ordnete sich die Auffassung von der Reinheit der Hostie, wie sie in den Visionen einer gewissen Jungfrau vertreten wird, in schon bestehende Denkmuster ihrer Zeit ein. Was die Visionen jedoch von theologischen Lehrmeinungen unterschied, ist eben nicht der Inhalt, sontaufen sollten, gerechte und ungerechte, die Heiligkeit der Taufe nur dem zuerteilt würde, auf den die Taube herabstieg, von dem es heißt: ›Dieser ist es, welcher im Heiligen Geiste tauft.‹ Mag Petrus taufen, er ist es, der tauft; mag Paulus taufen, er ist es, der tauft; mag Judas taufen, er ist es, der tauft (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes, 1: Vorträge 1–23, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Thomas Specht (Bibliothek der Kirchenväter, 8: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt, 4), Kempten [u. a.] 1913, 6. Vortrag, 7. Kapitel, S. 93. 831 Siehe dazu Thomas von Aquin, Summa theologiae III 83 quaestio 1 articulus, in: Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici opera omnia. iussu impensaque Leonis XIII. P.M. edita. (Edition Leonia) 12: Tertia Pars Summae Theologiae, A Quaestione LX ad Questionem XC, cum commentariis Thomae de Vio Caietanis, Rom 1906, hier S. 271. 832 Si quis dixerit, per ipsa novae legis sacramenta ex opere operato non conferri gratiam, sed solam fidem divinae promissionis ad gratiam consequendam sufficerer: a. s/Wenn jemand sagt, durch die Sakramente des Neuen Gesetzes werde die Gnade nicht ex opere operato [= aufgrund der vollzogenen sakramentalen Handlung, J. S.] verliehen, sondern allein der Glaube an die göttliche Verheißung genüge zur Erlangung der Gnade, gelte das Anathema [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.] (Canones de sacramentis in genere/ Kanon über die Sakramente im allgemeinen, 8, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekreten der ökumenischen Konzilien, 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545– 1563), Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70), Zweites Vatikanisches Konzil (1962–1965), 3. Auflage, hrsg. Guiseppe Alberigo und Josef Wohlmuth, Paderborn [u. a.] 2002, S. 685– 685. Dieser Kanon nimmt auch Bezug auf Thesen John Wyclifs, die auf dem Konstanzer Konzil im Mai 1415 als Irrtum verurteilt wurden, weil es bei Wyclif u. a. heiße: Si episcopus vel sacerdos est in peccato mortali, non ordinat, non conficit, non consecrat nec baptizat/ Wenn ein Bischof oder Priester in Todsünde lebt, ordiniert er nicht, opfert er nicht, konsekriert er nicht und tauft er nicht (Konzil von Konstanz, 8. Sitzung. 4. Mai, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2 (wie Anm. 459), S. 411).

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dern die Zielsetzung. Theologische Traktate wirken normativ, indem sie einen Orientierungsrahmen für Gläubige und Geistliche bieten möchten. Die Visionen der Agnes Blannbekin hingegen intendierten, von der Umsetzung einer Überzeugung Zeugnis abzulegen, die sich später zum Dogma entwickeln sollte. Dabei kommt Agnes Blannbekin ein Handlungsspielraum zu, denn obwohl ihre Visionen zeitgenössisch nicht gegen orthodoxe Glaubensgrundsätze verstießen, wurde in ihnen doch die Position und Wirkungsmacht Geistlicher deutlich hinterfragt. In allen vorgestellten Textpassagen konnte Agnes Blannbekin aufgrund vorangehender oder gleichzeitiger Visionen erkennen, ob ein Priester des Dienstes am Altar würdig sei. In ihrem Erleben entzog sich die göttliche Gnade dem Priester, wenn er unwürdig oder voller Sünden die Messe gelesen und in dieser die Hostie konsekriert hatte. Agnes Blannbekin und allen anderen anwesenden Gläubigen allerdings wurde diese Gnade trotzdem zuteil. Dass der Priester in diesen Fällen nicht derjenige war, der die Hostien an die Gläubigen spendete, stellt nicht nur das Narrativ eines Spendungs- und Entzugswunders dar, sondern offenbart eine Diskrepanz zwischen Glaubenslehre und Glaubenspraxis. Um der Überzegung von der dauerhaften Wandlung und der Bewahrung der Sündenfreiheit Nachdruck zu verleihen, wurde die Hostie in der Narration der Berührung des Priesters (teils sogar auf Bitten der Jungfrau hin) entzogen. Nur so konnte für Agnes Blannbekin die tröstende Wirkung des Corpus Christi gewahrt bleiben. Was hier vorliegt, sind folglich nicht nur Wiedergaben von Mustererzählungen eucharistischer Wunder, sondern individuelle Versuche einer Jungfrau und ihres Beichtvaters, einer theologischen Richtung zu folgen und die Umsetzung ihrer Inhalte in das eigene Gedankengerüst zu inkorporieren.

IV.3 Entgrenzte Autoritäten: gerochene Verfehlung in der Betrachtung der Minoriten Bereits in der Analyse des Beichtverhältnisses und der dabei erfolgten Kommunikation mit dem Beichtvater zeigte sich eine – nach zeitgenössischem Dafürhalten zu urteilen – Kompetenzüberschreitung der Jungfrau. Eine weitere derartige Normübertretung in gleich mehreren Bereichen stellte außerdem ihr Küssen der Altäre und ihr Riechen in deren Nähe dar. Ob auch ihre Fähigkeit, einen Bruder am Geruch zu erkennen, als Grenzüberschreitung zu betrachten war, soll im Folgenden geklärt werden. Um letztlich ein erklärendes und einordnendes Verständnis dieser Fähigkeit zu erhalten, bedarf es eines vielschichtigen Zugangs.

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Die Analyse beginnt daher im ersten Unterkapitel mit einer textimmanenten Suche nach olfaktorischen Profilen von Geistlichen. Einen erweiterten Blickwinkel bietet demgegenüber das zweite Unterkapitel, in dem vergleichend in anderen Texten von Frauen nach solchen olfaktorischen Spuren gesucht wird. Die Ergebnisse dieses Vergleichs geben noch keine abschließenden Antworten, sondern kreieren neue Ansätze und Analyseinstrumente, mit deren Hilfe die Visionen der Agnes Blannbekin, insbesondere das Verhältnis zwischen der Jungfrau und den Wiener Minoriten, dann erneut in den Blick genommen werden. Ziel ist es, das Rätsel um den Geruch eines Bruders und die Frage nach der Autorität der Jungfrau zu klären.

IV.3.a Auf der olfaktorischen Fährte: Geruch eines Bruders Im Kapitel 40 kennzeichnet der Beichtvater nicht nur die Gewohnheit des Altarküssens als mirabile. In einem Nachsatz nennt er außerdem eine zweite Besonderheit unter Verwendung des gleichen Adjektivs: Und was sehr wunderbar ist, sie sagte, daß sie einmal am Geruch erkannte, welcher Bruder dort die Messe gelesen.833

Unverändert, wie im Eingangssatz zu diesem Kapitel, übersetzen Dinzelbacher und Vogeler auch hier mirabile mit wunderbar, was eine konsequente Fortsetzung ihrer Interpretation widerspiegelt. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Übersetzung und ihre variierenden Bedeutungen sind bereits angesprochen worden und sollen daher nicht wiederholt werden. Interesse erweckt allerdings eine andere Übersetzungsentscheidung, die die Häufigkeit oder den Zeitpunkt der genannten Fähigkeit betrifft, nämlich die Übertragung von aliquando mit einmal. Hinsichtlich des Altarküssens konnte anhand zahlreicher Erwähnungen im Gesamtwerk geklärt werden, dass, obwohl aliquando als zeitlicher Vermerk hinzugefügt worden war, es sich zwar um eine eigenwillige, aber dennoch wiederkehrende Gewohnheit der Jungfrau handelte. Die nun dargestellte Geruchserkennung wird vom Übersetzer und der Übersetzerin als einmalig eingestuft. Die originale, lateinische Wortwahl lässt jedoch offen, ob es sich um etwas Einmaliges im Sinne eines singulär auftretenden Ereignisses oder einen sich in der Vergangenheit wiederholenden Vorgang handelte. Denn aliquando kann sowohl einmal als auch manchmal oder bisweilen bedeuten. Singularität wird im Text hingegen meist mit semel betont,834 weshalb sich vermuten lässt, dass an der 833 Et quod est valde mirabile, dixit, quod aliquando in odore cognovit, quis frater ibi missam dixisset (Vis. c. virg., Cap. 40, S. 126 und (deutsche Übersetzung:) S. 127). 834 So beispielsweise im 116. Kapitel, in dem es heißt, der Minister der Brüder sei von Christus selbst ermahnt worden, zumindest einmal am Tag während des Stundengebetes bei seinen

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untersuchten Stelle erneut von einer gewohnten oder auch wiederkehrenden Fähigkeit der Jungfrau die Rede ist. Diese Fähigkeit, einen Bruder über seinen Geruch zu identifizieren, eröffnet Fragen: Wurden zeitgleich zwei unterschiedliche Gerüche wahrgenommen oder handelte es sich um eine Veränderung eines Geruchs, wie in den Fällen des süßen Semmelduftes oder des Brandgeruchs? Aufgrund der beschriebenen Reinheit der Hostie kann allerdings davon ausgegangen werden, dass es hier nicht um den Geruch der Hostie geht. Vielmehr dürfte der Geruch des Bruders selbst gemeint sein, der als in persona Christi Zelebrierender den Herrn verkörperte. Doch warum konnte Agnes Blannbekin einen Bruder am Geruch erkennen (selbst der Beichtvater findet dies valde mirabile)? Woher kam der Geruch des Bruders und worin bestand seine olfaktorische Qualität – gut, süß, wohlriechend oder gar schlecht und stinkend? Wenn der Geruch ein Unterscheidungsmerkmal gewesen sein sollte, gab er dann Auskunft über den jeweiligen Bruder? Und wenn dem so sein sollte, welche Rückschlüsse würde der Geruch dann zulassen? Eine erste Möglichkeit zur Klärung dieser Fragen bietet eine textimmanente Analyse, bei der zunächst herausgearbeitet werden muss, ob Agnes Blannbekin über Brüder oder Mönche, Zelebrierende oder andere Kleriker sprach und ob sie zu deren Charakterisierung olfaktorische Merkmale verwendete. »In die Betrachtungen der Agnes waren nicht selten die Priester eingeschlossen«,835 lautet die schlichte Feststellung Tschuliks in seiner 1925 erschienenen Dissertation zu Agnes Blannbekin und der Reklusin Wilbirg von St. Florian. Im Anschluss an diese Äußerung bietet Tschulik eine Sammlung von Textstellen aus den Visionen einer gewissen Jungfrau, die Priester thematisieren. Eine weiterführende Analyse oder Deutung dieser Zitate liefert Tschulik nicht. Auch Stoklaska vermerkt in ihrem 1987 publizierten Aufsatz die häufige Erwähnung von Geistlichen und erstellt eine Übersicht der in diesem Kontext relevanten Kapitel, die Tschuliks Aufzählung ergänzt. Aus diesen Listen ist jedoch nicht zu erkennen, ob Agnes Blannbekin über ihren Beichtvater und das Verhältnis der beiden zueinander oder aber andere Kleriker sprach. In den Visionen werden Priester sowohl kollektiv als auch einzeln, aber unspezifisch und schließlich sogar namentlich genannt; dabei geht es meist um ihre Vergehen oder guten Taten. Einige dieser Textstellen geben indirekt Einblick in das olfaktorische Profil von Geistlichen. Dazu zählt das bereits angeführte Kapitel 43, in dem Agnes Brüdern im Chor anwesend zu sein: ›[…] Ubicunque fueris apud fratres, ad minus semel in die coram fratribus exempli causa esse debes in horis et orationibus in choro! Sis communis in cibo, quantum plus poteris, et in aliis!‹ (Vis. c. virg., Cap. 116, S. 258 und 260), oder im Kapitel 219, wenn berichtet wird, dass die Jungfrau (mindestens) einmal wöchentlich die Kommunion erhalten habe: Communicavit quidem omni septimana semel […] (Vis. c. virg., Cap. 219, S. 450). 835 Tschulik (wie Anm. 19), S. 83.

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Blannbekin ein sündiger Priester in Gestalt einer faulen Weide voller Schlangen und Kriechtiere erscheint.836 Bei dieser Beschreibung der faulen Weide könnte man Gestank oder Fäulnisgeruch als Begleiterscheinung vermuten; sie ist jedoch nicht direkt ausformuliert. Diese Textstelle leistet somit nur einen kleinen Beitrag zur olfaktorischen Charakteristik von Geistlichen bei Agnes. Ein anderes Beispiel ist die im 71. Kapitel beschriebene Vision, in der Agnes Blannbekin verschiedene Arten von Beichtigern sah, die sich je nach ihrer Motivation zum Hören der Beichte mit unterschiedlichen Tierköpfen präsentierten. Es begegneten der Visionärin Beichtväter mit Schweinsköpfen und schmutzigen Rüsseln, andere hatten Hundeköpfe, wieder andere waren durch teuflische oder verlarvte Gesichter entstellt, und manche traten ihr mit menschlichem Antlitz entgegen, das jedoch mit Blut bespritzt war.837 Eine detaillierte Analyse des Kapitels würde allerdings von der Suche olfaktorischer Spuren wegführen. Auch wenn man bei den unterschiedlichen Tierarten gewisse Gerüche annehmen kann, fehlt hier doch eine ausdrücklich olfaktorische Charakteristik. Deutlicher begegnet ein Geruchsprofil von Klerikern in einer Vision des 154. Kapitels, die sich an einem Freitagabend nach Christi Himmelfahrt ereignete, während sich die Jungfrau zu Hause in ihrer Gebetszelle befand: Ihr zeigte sich ein etwa einjähriges Lamm mit menschlichem Fleisch und Antlitz sowie einem Diadem auf dem Kopf, das jedoch am Körper ganz nackt war.838 Das Lamm verschwand wieder, allerdings nicht ohne die Jungfrau getröstet zu hinterlassen. Während der Messe am nächsten Tag erschien ihr das Lamm erneut, diesmal in weiße Wolle gekleidet. Es ging um die Altäre herum und küsste die Gewänder der Priester, die dort die Messe zelebrierten, bevor es die Jungfrau auf die Wange küsste, was diese körperlich süß entflammte. Ihr sagte das Lämmchen: ›Den Priestern übergebe ich mich, und sie bringen mich dem Vater dar; und ich habe den Geruch der Süße ihrer Andacht gerochen, als ich zu den einzelnen herumging. Auch andere Personen, die sich der Andacht widmen, ziehen mich zu sich und schließen mich bei sich ein, daß ich nicht hinauszugehen vermag, noch von ihnen weg möchte.‹839

Nachfolgend (im 155. Kapitel, das jedoch inhaltlich zum 154. gehört) bekräftigte das Lamm, sich fortan nicht mehr entziehen zu wollen:

836 837 838 839

Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 43, S. 130–133. Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 71, S. 174–177. Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 154, S. 330–333. Cui agniculus: ›Sacerdotibus‹, inquit, ›me trado, et ipsi me offerunt patri. Odoratusque sum odorem suavitatis devotionis eorum circuiens per singulos. Aliae quoque personae devotioni vacantes me ad se trahunt et includunt apud se, ut exire non valeam nec velim ab eis.‹ (Vis. c. virg., Cap. 154, S. 332 und (deutsche Übersetzung:) S. 333).

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›[…]. Jetzt aber erscheine ich fröhlich wegen des Geruchs der Andacht der Guten.‹840

Der Geruch der priesterlichen Andacht war für das Lamm, das hier zweifelsfrei für Jesus steht,841 Movens seiner Anwesenheit. Dabei sind zwei Elemente kombiniert: Zunächst war die Qualität des Geruchs eine wohltuende, die in enger Beziehung zur Süße stand. Des Weiteren war sie eine moralische, denn der Geruch haftete nicht irgendwelchen Priestern an, sondern lediglich den andächtigen. Obgleich Geruch hier formal das Bezugswort für die Süße der Andacht darstellt, ist inhaltlich ein personenbezogener Geruch gemeint, der bestimmten Priestern oder Zelebranten zugeschrieben wird. Demnach ist er ein Erkennungszeichen für die innere, moralische Einstellung einer Person. In dieser Eigenschaft unterscheidet er sich von Gerüchen, die die Anwesenheit Gottes symbolisieren sollen, wie für andere, der rituellen Kommunikation dienende Duftwahrnehmungen bereits beschrieben. Der Bezug auf einzelne Personen bzw. deren moralische Haltung bedeutet im Umkehrschluss, dass das untersuchte olfaktorische Profil mehr vermag, als die geruchliche Beschreibung einer Person zu fassen. Es gewährt Einblick in ihre nicht sichtbaren, vielmehr innere Einstellungen einer Person, die sich im Geruch materialisieren und ausdrücken können. Es muss davon ausgegangen werden, dass das hier präsentierte olfaktorische Profil nicht mit einer realen Geruchswahrnehmung korrespondiert, sondern die Schilderung eines sozialen Geruchs vorliegt. Ferner gilt es zu betonen, dass Geruchswahrnehmung und -deutung von Einzelpersonen bzw. bestimmten Personengruppen im betrachteten Falle nicht von Agnes Blannbekin ausgingen, sondern ihr in einer Vision gezeigt wurden, in der es der göttliche Akteur (Lamm = Christus) selbst war, der wahrnahm und den empfundenen Geruch als Beweggrund seiner Erscheinung anführte. Das olfaktorische Profil, das eine Kombination aus (Wohl-)Geruch und innerer, moralischer Einstellung darstellte, erfährt in diesem Fall eine zweifache göttliche Legitimation: einerseits durch die Schilderung in einer Vision und andererseits durch den in eben dieser auftretenden göttlichen Akteur. Kapitel 40 erläutert hingegen, dass es auch der Jungfrau möglich war, Brüder am Geruch zu erkennen. Lässt nun das olfaktorische Profil, das Agnes Blannbekin selbst wahrnahm, ebenso Rückschlüsse auf die moralische Einstellung des jeweiligen Bruders zu, obwohl keine anderen Geruchsbeschreibungen helfen, den Geruch des Bruders zu greifen? Darüber hinaus stellen sich weitere Fragen: Sind die Geruchserkennungen von Klerikern in den Visionen einer gewissen Jungfrau eine Singularität oder können andere Beispiele für solche Erkennungen zum Vergleich herangezogen werden? 840 ›[…]. Nunc vero jocundus appareo propter odorem devotionis bonorum.‹ (Vis. c. virg., Cap. 155, S. 334 und (deutsche Übersetzung:) S. 335). 841 In Anlehnung an die u. a. in Joh 1,29 verwendete Bezeichnung Lamm Gottes.

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Ist es möglich, aus dem oben Dargelegten – wonach ein Wohlgeruch für die Guten und die Süße ihrer Andacht steht – zu folgern, dass solch ein diametrales Schema vom Guten und Bösen auch im guten und schlechten Geruch spiegelt?

IV.3.b Zum Vergleich: duftende Mönche und stinkende Domherren Einen anderen Weg zur Annäherung an die Vorstellung vom Geruch einzelner Brüder bietet ein Vergleich mit anderen visionären Berichten, wobei Agnes Blannbekin als Einzelfall das Zentrum der Analyse bleibt. Um die Besonderheiten herauszuarbeiten, ist es nötig, Texte auszuwählen, die zum einen unter ähnlichen Bedingungen entstanden sind und zum anderen ein ähnliches Erleben der mystischen Erfahrung widerspiegeln. Dabei sind folgende Fragen leitend: Finden sich in anderen visionären Berichten ebenfalls Geruchsbeschreibungen zu Religiosen oder Klerikern? Von welcher Qualität sind diese Beschreibungen? Bei der Auswahl von Vergleichstexten gilt es unter anderem zu berücksichtigen, dass die Artikulation visionärer Erfahrungen durch Frauen im christlichen Mittelalter unter anderen Bedingungen verlief als das religiöse Sich-Äußern männlicher Visionäre, weshalb zur besseren Vergleichbarkeit im Folgenden lediglich visionär begnadete Frauen berücksichtigt werden. Als weiteres Auswahlkriterium dient vor allem die Zugehörigkeit zum von Kurt Ruh erstellten »Kanon der Mystik«.842 Danach erweisen sich hinsichtlich der verfolgten Fragestellungen besonders die Werke zweier Frauen als weiterführend:843 842 Die Bezeichnung »Kanon der Mystik« für Ruhs Zusammenstellung ist von Marvin Döbler übernommen, der in seiner religionshistorischen Untersuchung zu Mystik und Sinnen bei Bernhard von Clairvaux ebenfalls mit ihr arbeitet. Döbler begründet seine Entscheidung mit den – in Anlehnung an Wittgenstein formulierten – »Familienähnlichkeiten« der zum Kanon gehörigen Texte: Sie bezögen sich »vielfach untereinander aufeinander« und würden »als Forschungsgegenstand auf der Metaebene zusammengefaßt«. Sie spiegelten kulturelle Strukturen und Handlungen einer gewissen Zeit wider und böten somit einen guten Einblick in deren religiöse, aber auch gesellschaftliche Vorstellungen. Siehe dazu Marvin Döbler, Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux (Beiträge zur europäischen Religionsgeschichte [= BERG], 2), Göttingen 2013, hier vor allem: S. 26 und 102. Kurt Ruh selbst verweist auf die Entstehung des Textkanons im Lauf der (interdisziplinären) Forschungsgeschichte. Er macht einerseits auf die Beachtung von Traditionszusammenhängen und Überlieferungsgeschichte und anderseits auf die definitorischen Ränder des Kanons aufmerksam, aufgrund derer Texte sowohl ein- als auch ausgeschlossen werden könnten. Siehe dazu Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 14. 843 Musikkenner/-innen könnten der hier getroffenen Auswahl sicherlich fragend entgegenhalten, weshalb für den Vergleich nicht Christina die Wunderbare (= Christina mirabilis, um 1224 im heute belgischen Sint-Truiden gestorben) als Bezugsperson herangezogen wird. 1992 veröffentlicht der australische Sänger, Komponist und Dichter Nick Cave in seinem

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Hildegards von Bingen und Mechthilds von Magdeburg. Hildegard (1098– 1178) teilte mit ihrer Zeitgenossin und Korrespondentin Elisabeth von Schönau – stärker als mit nachfolgenden Visionärinnen – das Selbstverständnis, Sprach-

Album »Henry’s Dream« das Lied »Christina the Astonishing«, worin er knapp die Lebensgeschichte Christinas zusammenfasst, den Fokus auf ihre Nahtoderfahrung und ihr anschließendes intensives Erleben menschlicher Unzulänglichkeit legt sowie dabei schildert, wie sie den Gestank menschlicher Sünde habe riechen und ihm nicht entgehen können. So heißt es bei Cave: »Christina the Astonishing/Lived a long time ago/She was stricken with a seizure/At the age of twenty-two/They took her body in a coffin/To a tiny church in Liege/ Where she sprang up from the coffin/Just after the Agnus Dei/She soared up to the rafters/ Perched on a beam up there/Cried ›The stink of human sin/Is more that I can bear‹ […] She fled to remote places/Climbed towers and trees and walls/To escape the stench of human corruption […]« (Nick Cave, Christina the Astonishing: Words and Music, in: The Nick Cave Chord Songbook Collection, London [u. a.] 2012, S. 80–81). Außer aufgrund dieser popkulturellen Erwähnung ist Christina aus der Vorrede Jakobs von Vitry (†1240) zu dessen Vita der Maria von Oignies bekannt, auch wenn der Autor Christina darin nicht namentlich erwähnt. Vermutlich war er ihr während seiner Zeit in der Diözese Liege persönlich begegnet, weshalb er die wundersame Rückkehr ihrer Seele in ihren eigentlich bereits verstorbenen Körper in der Einleitung zur Lebensgeschichte Marias von Oignies exemplarisch anführen mag; siehe dazu Jacob von Vitry, Das Leben der Maria von Oignies, in: Jakob von Vitry und Thomas von Cantimpré, Das Leben der Maria von Oignies und Supplementum. Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Iris Geyer (Corpus Christianorum in Translation, 18), Turnhout 2014, S. 63–171, hier: Prolog, 8, S. 72–73. Eine ausführlichere Darstellung Christinas leistet der Dominikaner Thomas von Cantimpré (†1272) in seiner Vita De S. Christina Mirabili Virgine. Diese Lebensbeschreibung beginnt mit dem scheinbaren Tod Christinas und ihrer anschließenden Rückkehr in ihren Körper, woraufhin die Schilderung zahlreicher Torturen (Wasser, Feuer, Räder, Hunde u. a. m.) folgt. Über ihren ersten Todeszustand wird im 5. Kapitel gesagt, dass es nach Ansicht einiger der Feinheit ihres Geistes möglich gewesen sei, den Gestank menschlicher Körper wahrzunehmen, vor dem sie sich geekelt habe (Some say that the subtlety of her spirit was revolted by the smell of human bodies/horrebat enim, ut quidam autumant, subtilitas ejus spiritus, odorem corporum humanorum). An anderer Stelle (im 21. Kapitel) wird Christinas später gesteigerte Fähigkeit, Gerüche der Menschen zu ertragen und unter Menschen zu leben (melius pati potuit odores hominum et inter homines habitare/was more able to endure the smell of men and to live among them), kurz gestreift, jedoch nichts Weitergehendes zur olfaktorischen Wahrnehmung ausgeführt. Im Gegensatz zu Nick Caves Interpretation findet Geruch zu Lebzeiten Christinas bei Thomas von Cantimpré demnach wenig Erwähnung. Obgleich die genannte Fähigkeit der Protagonistin, den Geruch der Menschen bzw. ihrer Körper wahrzunehmen, eine ausführliche Untersuchung verdient wie überhaupt die ganze Vita der Christina, erschwert die lakonische Ausformulierung olfaktorischer Profile in dem Werk deren Erforschung, weshalb die Lebensgeschichte in dieser Studie nicht für einen Vergleich herangezogen wird. Ein weiterer ausschlaggebender Grund gegen eine Einbeziehung ist ein methodischer, denn bei der Vita handelt es sich nicht um eine Erzählung Christinas, eine eigenhändige Aufzeichnung oder eine Mitschrift ihrer Ausführungen gegenüber einem Schreiber oder Beichtvater wie im Fall Hildegards von Bingen oder Mechthilds von Magdeburg, sondern um eine von Thomas von Cantimpré nachträglich verfasste Lebensgeschichte, was den hier zugrundegelegten Auswahlkriterien entgegensteht. Siehe dazu Vita S. Christinae Mirabilis Virginis auctore Thoma Cantipratano Ordinis Praedicatorum, in: Acta sanctorum [= AA.SS.] Julii […]. Editio novissima, 5, hrsg. Jean Baptiste Carnandet,

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rohr göttlicher Offenbarung zu sein. Über Hildegard ist bekannt, dass sie ihre frühen Visionen einem Mönch namens Volmar diktierte, der im männlichen Teil des benediktinischen Doppel-Klosters auf dem Disibodenberg lebte und ihr mehr als Sekretär assistierte, weniger als Seelsorger beistand. Später schrieb sie selbst den Großteil ihrer Visionen nieder.844 Als Vertreterin einer jüngeren Mystikerinnen-Generation wird Mechthild von Magdeburg (1207/1212–1282/1294) für diese Untersuchung ausgewählt, da sie vermutlich eine lange Zeit als Begine lebte und von ihrem Beichtvater Heinrich von Halle bei der Niederschrift ihrer Visionen unterstützt wurde.845 Nach vielen Jahren außerhalb einer klösterlichen Gemeinschaft verbrachte Mechthild ihren Lebensabend im Zisterzienserinnenkloster in Helfta. Kritisch bezeichnet Trînca diesen Konvent als »Zisterzienserinnen-Nobel-Kloster«.846 Die weitaus bekanntere Bezeichnung Helftas als Zentrum der Frauenmystik steht hingegen für eine Entwicklung, in deren Verlauf sich mittelalterliche mystische Erfahrungen zunehmend auf die Person Christi ausrichteten. Dies lassen eine sich verbreitende Brautmetaphorik, ein starker Körperbezug sowie eine ins Zentrum rückende unio-Thematik erkennen, die spätere Erfahrungen von denen früherer Mystikerinnen wie Elisabeth von Schönau unterscheiden. Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg thematisieren in ihren Berichten häufig den Weltklerus oder ihnen nahestehende Angehörige eines bestimmten Ordens. Dies ist kaum verwunderlich, da sie in der sozialen Lebenswelt der Visionärinnen als Beichtväter oder Zelebranten ständig präsent waren. Die betreffenden Erwähnungen bei Hildegard und Mechthild enthalten Paris [u. a.] 1868, Die vigesima quarta Julii [24. Juli], S. 650–660, hier: caput I, 5, S. 651 und caput II, 21, S. 654. Für eine Übersetzung und Anmerkungen siehe Thomas of Cantimpré, The Life of Christina the Astonishing (c. 1150–1224), in: Thomas of Cantimpré, The Collected Saints’ Lives: Abbot John of Cantimpré, Christina the Astonishing, Margaret of Ypres, and Lutgard of Aywières, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Barbara Newman, übersetzt von Margot H. King und Barbara Newman (Medieval Women: Texts and Contexts, 19), Turnhout 2008, S. 127–157, hier: 5, S. 130 und 21, S. 139. 844 Ein kurzer Überblick zu den Lebensstationen und der Arbeitsweise Hildegards von Bingen ist zu finden bei Peter Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn [u. a.] 1994, S. 144–150. 845 Zu den Ungewissheiten hinsichtlich des Lebenslaufes und -standes Mechthilds von Magdeburg sowie zur Wahrnehmung ihrer Person im Lauf der Geschichte sei verwiesen auf Balázs J. Nemes, »sancta mulier nomine Mechtildis«. Mechthild (von Magdeburg) und ihre Wahrnehmung als Religiose im Laufe der Jahrhunderte, in: Beginenwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (wie Anm. 475), S. 331–351. 846 Diese Einschätzung soll nicht außer Acht gelassen werden, da sie bei der Betrachtung des Einsatzes olfaktorischer Metaphorik entscheidend sein kann, wie Trînca selbst zeigt; siehe dazu Beatrice Trînca, Der Duft des Textes. Zwei Beispiele aus der Frauenmystik, in: Fremde – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne, hrsg. Jutta Eming, Gabi Pailer, Franziska Schößler und Johannes Traulsen (Literaturwissenschaft, 43), Berlin 2015, S. 129–146, hier: S. 137.

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bisweilen auch olfaktorische Beschreibungen, denen an dieser Stelle nun besonderes Interesse zukommen soll. Hildegard von Bingen zählt in der fünften Vision des zweiten Teiles ihres Werkes Scivias unterschiedliche geistliche Stände auf. Auf einen davon geht sie folgendermaßen ein: 13. Von denen, die in leidenschaftlicher Liebe das Leiden Christi nachahmen und als lebendiger Wohlgeruch den Weg der besonderen Wiedergeburt an sich reißen. Daß aber dieser Glanz, wo er wie eine Mischung von Purpur und Hyazinth leuchtet, die erwähnte Frauengestalt sehr beängstigend umlodert [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S.], bezeichnet die Vollkommenheit derer, die in brennender Liebe das Leiden meines Sohnes [Hier spricht Gott durch Hildegard, J. S.] nachahmen und die Kirche durch ihre strenge Zucht verherrlichen. Auf welche Weise? Nach göttlichem Ratschluß erheben sie sich nämlich zu einem hohen kostbaren Bauwerk; denn als die Kirche schon gefestigt und erstarkt war, brachte sie zu ihrer Zierde einen lebendigen Wohlgeruch (die Mönche) [Einschub in der Übersetzung, J. S.] hervor, der den Weg der besonderen Wiedergeburt gelobte. Was bedeutet das? Damals entstand ein bewundernswürdiger Stand, der sich dem Beispiel meines Sohnes eng anschloß; denn wie mein Sohn auf die Welt kam und vom übrigen Volk getrennt war, so lebt auch diese Schar vom restlichen Volk abgesondert auf der Erde. Wie nämlich ein Baum duftenden Balsam ausschwitzt, so entstand auch zuerst in der Verborgenheit der Wüste auf einzigartige Weise dieses Volk, breitete dann wie ein Baum seine Zweige aus und wuchs allmählich zu einer gewaltigen Schar heran. Und dieses Volk habe ich gesegnet und geheiligt, denn sie sind für mich liebliche Rosen- und Lilienblüten, die ohne menschliche Mühen auf dem Feld sprießen. So zwingt auch dieses Volk kein Gesetz, so einen beschwerlichen Weg anzustreben, sondern es betritt ihn auf meine sanfte Anregung hin freiwillig, ohne Gesetzesvorschriften. Es tut mehr, als ihm geboten ist, und erhält deshalb dafür einen hohen Lohn, wie es auch im Evangelium vom Samaritaner geschrieben steht, der jene Verwundeten in die Herberge führte.847 847 Hildegard von Bingen, Scivias – Wisse die Wege. Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit, übersetzt und hrsg. Walburga Storch (Herder-Spektrum, 4115), Freiburg im Breisgau [u. a.] 1992, II. Teil, 5. Vision, Kapitel 13, hier: S. 178–179. 13. De his qui passionem Christi in caritatis ardore imitantes et vivens odor exsistentes iter secretae regenerationis arripiunt. Quod autem ubi idem splendor quasi purpura hyacintho intermixta fulget, fortiter praedictam muliebrem imaginem constringens ardet: hoc designat perfectionem illorum qui passionem Filii mei in caritatis ardore imitantes strenue ecclesiam in constrictione sua exornant. Quomodo? Quoniam ipsi sunt alta aedificatio surgentis thesauri in divino consilio; quia cum ecclesia iam roborata convaluit, egressus est ad decorem illius vivens odor, vovens iter secretae regenerationis. Quid est hoc? Quia tunc surrexit mirabilis odor qui Filium meum in specie exempli sui tetigit; quoniam ut idem Filius meus venit in mundum de communi populo abscisus, ita et haec acies conversatur in saeculo de reliquo populo separata. Nam ut balsamum de arbore suaviter sudat, sic et populus iste primum in eremo et in abscondito singulariter exortus est, et deinde veluti arbor ramos suos expandit, paulatim in multitudinem plenitudinis proficiens. Et istum populum benedixi et sanctificavi, quoniam ipsi mihi sunt amantissimi flores rosarum et liliorum qui sine humano opere in agro germinant, sicut et populum hunc nulla lex ad hoc constringit ut tam artam viam appetat, sed

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Den lebendigen Wohlgeruch, viven[tem] odor[em], führt Hildegard innerhalb des Werkes noch mehrfach an, so etwa später in derselben Vision: 17. Daß die Mönche (vivens odor) [Hier fügt die Übersetzerin die lateinische Originalstelle hinzu, J. S.], die den Weg der besonderen Wiedergeburt geloben, wegen der Bedrängnis und zum Nutzen der Kirche eine kirchliche Würde bekleiden, sich aber nicht mit weltlichen Angelegenheiten abgeben sollen.848

Ebenso im 37. Kapitel dieser Vision: 37. Daß die, welche sich auf dem Weg der besonderen Wiedergeburt als lebendiger Wohlgeruch erweisen, ein nahrhaftes Getreidekorn, die Priester süßschmeckendes Obst und die Laien Fleisch bezeichnen. Denn die Mönche auf dem Weg der besonderen Wiedergeburt sind wie ein Getreidekorn, das dem Menschen eine einfache und kräftige Nahrung bietet. So ist auch mein Volk herb und abgehärtet gegenüber dem Genuß des Geschmacks von weltlichen Dingen. Doch die erwähnten Priester sind wie Obst, das denen die davon kosten, süß schmeckt; so erweisen sich auch diese durch ihr nützliches Amt anziehend für die Menschen. Das gewöhnliche Laienvolk jedoch erachtet man als Fleisch, unter dem sich auch reines Geflügel befindet; denn die in der Welt Lebenden bringen in fleischlicher Lebensweise Kinder hervor, unter denen man gleichwohl Nachahmer der Keuschheit findet, wie z. B. die Witwen und die Enthaltsamen, die durch das Verlangen nach guten Tugenden zur himmlischen Sehnsucht eilen.849

Die Wendung vivens odor wird in der zitierten Übersetzung konsequent mit Mönche wiedergegeben. In der Edition des lateinischen Textes weist die Herausgeberin Adelgundis Führkötter auf die Besonderheit dieser Wortwahl hin und ipse illam me suaviter inspirante sine praecepto legis sua voluntate aggreditur, plus faciens quam sibi iussum sit; unde et plurimam mercedem inde acquirit, sicut et in evangelio, ubi Samaritanus illum vulneratum hominem in stabulum duxit, scriptum est (Hildegardis, Scivias, 1, hrsg. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, 43), Turnhout 1978, Pars II Visio 5 c. 13, S. 186–187). 848 Hildegard von Bingen, Scivias – Wisse die Wege (wie Anm. 847), II. Teil, 5. Vision, Kapitel 17, S. 181. 17. Quod qui sunt vivens odor, vovens iter secretae regenerationis, pro necessitate et utilitate ecclesiae regimen ecclesiasticum suscipiant contagia saecularium rerum abicientes (Hildegardis, Scivias (wie Anm. 847), Pars II Visio 5 c. 17, S. 190). 849 Hildegard von Bingen, Scivias – Wisse die Wege (wie Anm. 847), II. Teil, 5. Vision, Kapitel 37, S. 196. 37. Quod qui sunt vivens odor vovens iter secretae regenerationis granum fortis cibi et pigmentarii poma dulcis saporis et saecularis populus carnem designant. Nam qui vivens odor, vovens iter secretae regenerationis exsistunt, velut granum sunt quod siccus et fortis cibus hominum est, sicut et iste populus meus asper et durus ad gustum suci saecularium rerum est. Sed praediciti pigmentarii sunt quasi poma quae dulcem saporem se gustantibus praebent, ut et isti per utilitatem officii sui se suaves hominibus exhibent. Communis autem saecularis populus velut caro aestimatur, in qua et casta volatilia inveniuntur, quoniam qui in saeculo degunt carnaliter viventes filios procreant, inter quos tamen castitatis imitatores reperiuntur, scilicet viduae et continentes, qui ad superna desideria per appetitum bonarum virtutum volant (Hildegardis, Scivias (wie Anm. 847), Pars II Visio 5 c. 37, S. 206).

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führt zur Erläuterung die oben in Abschnitt IV.2.a zitierte Bibelstelle 2 Kor 2,15 an.850 Gemäß Paulus werde danach durch uns – was sich hier auf die Anhänger/-innen Jesu bezieht – der Geruch seiner [= Christi, J. S.] Erkenntnis allerorts verteilt. Weiterhin stilisiert Paulus sich und die ihm Gleichgesinnten zu Christi Wohlgeruch, der abhängig von den Rezipienten/-innen entweder als todbringender oder als Lebensgeruch wahrgenommen werden könne. Eine ähnliche Wendung mit Blick auf die Opfertradition weist der ebenfalls oben angeführte Epheserbrief 5,1–2 auf, in dem Christi Hingabe als Gabe und Opfer, das Gott gefällt, bzw. oblationem et hostiam Deo in odorem suavitatis bezeichnet wird. Auch wenn es zur Zeit der Niederschrift der paulinischen und pseudopaulinischen Briefe keine Mönche gab, irrt die Scivias-Übersetzerin Storch nicht, wenn sie vivens odor mit Mönche überträgt. In den vorliegenden Textausschnitten schildert Hildegard Mönche als diejenigen, die dem Beispiel Christi nachfolgen, ihr Leben ganz und gar Gott widmen und dadurch selbst zu Trägern des lieblichen Wohlgeruchs werden. Für diese Übersetzung sprechen mehrere Verweise innerhalb der Visionen Hildegards: Gott erläutert durch sie, dass diejenigen als vivens odor bezeichnet werden können, die in brennender Liebe das Leiden meines Sohnes nachahmen, und es sei ein bewundernswürdiger Stand, der sich dem Beispiel meines Sohnes eng anschloss. Auch auf ein zeitlich späteres Entstehen des Mönchtums weist Hildegard in ihrer hier zitierten Vision hin: [D]enn als die Kirche schon gefestigt und erstarkt war, brachte sie zu ihrer Zierde einen lebendigen Wohlgeruch hervor. Diese Erklärungen rechtfertigen die Übertragung von vivens odor mit Mönche. Doch muss mit Blick auf Hildegards Visionen konstatiert werden, dass nicht alle Menschen, die sich einer geistlichen Laufbahn verschrieben hatten, für die Autorin dadurch zu Trägern des guten Geruchs wurden. Obgleich sie den Priesterstand, wie oben angeführt, als süßschmeckendes Obst und durch sein nützliches Amt anziehend für Menschen schildert, kann sich nach Ansicht der Mystikerin die Charakteristik der Priester durch deren Handlungen ins Negative verkehren. In der nachfolgenden 6. Vision des zweiten Werkteils spricht Hildegard über Priester und deren Bosheit: 95. Die Elemente wehklagen vor Gott über die Bosheit der Priester und die Himmel nehmen deren Bosheit auf. 850 Diesen Hinweis schließt Führkötter allerdings mit der Bemerkung: »In Pars II, Visio 5 spricht Hildegard ausführlich über den Mönchsstand, ohne das Wort monachus oder abbas zu verwenden. Es wurde im Quellenapparat […] bei der Formulierung vivens odor (cf. II. Cor. 2, 15. 16b) auf den monachus hingewiesen. Die Eigenart und die Entwicklung der Sprache bzw. der sprachlichen Formulierung bedürfen einer eigenen Untersuchung« [Kursivierung im Original, Anm. J. S.] (Adelgundis Führkötter, Einleitung, in: Hildegardis, Scivias (wie Anm. 847), S. XI–LX, hier: S. XVI).

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Deshalb, ihr Hirten, heult und beklagt eure Vergehen, die in eurer Bosheit eine gräßliche Stimme erschallen lassen. So nehmen die Elemente ihr Geschrei auf und wehklagen mit ihnen laut vor mir. Wie könnt ihr es bei eurem Amt wagen, euern Herrn mit blutigen Händen, widerwärtiger Gemeinheit und boshafter Falschheit zu berühren? Wahrlich, ihr erschüttert mit eurer Unreinheit die Grundfeste der Erde. Wieso? Weil ihr nämlich, mit so großen Vergehen beschmutzt, euch nicht scheut, euren Herrn zu berühren, zermalme ich die Erde in großem Unmut. So räche ich das Fleisch und Blut meines Sohnes, weil ihr mit diesem Entsetzlichen nicht nur grausam die Erde erschüttert, sondern auch den Himmel mit eurer Unreinheit aufs Schlimmste entweiht. Wieso? Wenn ihr mit dem schlechten Geruch eurer Unreinheit euren Herrn berührt, wie ein Schwein im Kot Perlen besudelt, dann nehmen die Himmel eure Bosheit auf und ergießen nach meinem Willen die Rache meines Gerichts über die Erde.851

Bei den in dieser Übersetzung mit Hirten wiedergegebenen pastores kann es sich innerhalb eines christlichen Kontextes nur um Priester handeln, die für eine Gemeinde als Zelebranten einer Messfeier (hierfür spricht das oben erwähnte Berühren des Herrn in Gestalt des Leibes Christi) zuständig sind. Den von Hildegard genannten Priestern hafte aufgrund ihres Verhaltens und ihrer Vergehen eine gewisse Unreinheit an, die sich auch als ein schlechter Geruch wahrnehmen lasse. Mit diesem schlechten Geruch ihrer Unreinheit hätten die Hirten ihren Herrn berührt und ihn dabei besudelt wie ein Schwein im Kot Perlen. Zunächst lässt sich daran erkennen, dass für die Visionärin ebenso, wie das vorbildliche, Jesus-nachahmende Leben der Mönche sich positiv auf deren Geruch auswirkte, ein schlechtes Verhalten negative Folgen für das olfaktorische Auftreten einer Person oder Personengruppe haben konnte. Scheinbar war der schlechte Geruch in der Lage, sich auf den Herrn zu übertragen, was Einblick in Hildegards Verständnis von der Reinheit der Hostie gibt. Die Idee von der Reinheit der Hostie, unabhängig von menschlichen oder umweltlichen Beschmutzungen durch unwürdige Behandlung, scheint Hildegard von Bingen demnach nicht anerkannt zu

851 Hildegard von Bingen, Scivias – Wisse die Wege (wie Anm. 847), II. Teil, 6. Vision, Kapitel 95, S. 281. 95. Quod elementa coram deo ululant super iniquitatem sacerdotum et caeli iniquitatem eorum suscipiunt. Unde vos, o pastores, ululate et plangite crimina vestra, quae in iniquitate vestra diram vocem emittunt, ita quod et elementa clamorem eorum suscipiunt et cum eis coram me ululani. Quomodo enim in officio vestro audetis Dominum vestrum tangere in sanguineis manibus et in contraria spurcitia et in adulterina iniquitate? Vere vos in immunditia vestra fundum terrae commovetis. Quomodo? Videlicet cum in tantis criminibus sordentes Dominum vestrum tangere non timetis, terram in magno dolore opprimo, ita carnem et sanguinem Filii mei ulciscens, quoniam non solum terram in hoc horrore crudeliter commovetis, sed etiam caelum in immunditia vestra pessime contaminatis. Quomodo? Cum in foetore immunditiae vestrae Dominum vestrum tangitis, sicut porcus in stercore margaritas contaminat, tunc caeli iniquitatem vestram suscipientes ultionem iudicii mei in voluntate mea super terram emittunt (Hildegardis, Scivias (wie Anm. 847), Pars II Visio 6 c. 95, S. 301–302).

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haben. Dafür spricht der eingeschobene Vergleich mit den Schweinen, die im Kot Perlen besudeln. Es lässt sich zusammenfassen, dass Hildegard Kleriker nicht generalisierend mit einem gemeinsamen Geruch beschreibt, sondern sie mit Wohl- und schlechtem Geruch assoziiert. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass Hildegard in den untersuchungsrelevanten Visionen keine Einzelpersonen erwähnt, sondern (soziale) Gruppen mit geistlicher Lebensführung, nämlich Mönche und Priester. Sie differenziert dabei deutlich zwischen dem olfaktorischen Profil des Wohlgeruchs infolge einer guten Lebensweise und dem des schlechten Geruchs aufgrund moralisch schlechter Handlungen (Boshaftigkeit, Falschheit, Unreinheit). Wenngleich beide, Hildegard von Bingen und Agnes Blannbekin, Geruch zur Beschreibung von Klerikern nutzen, unterscheiden sich die Verwendungen voneinander: Anders als Agnes Blannbekin führt Hildegard moralische Verfasstheit als Begründung und Bestandteil des olfaktorischen Profils von Ordensmitgliedern und/oder Priestern an. Außerdem scheint es bei Hildegard ein System mit klaren Bewertungen zu geben, nach dem sie deutlich zwischen gutem und schlechtem Geruch unterscheidet. Des Weiteren werden von Hildegard in den hier vorgestellten Textausschnitten keine einzelnen Personen beschrieben oder gar namentlich erwähnt, sondern Gruppen von Angehörigen des geistlichen Standes. Es ist davon auszugehen, dass es Hildegard weniger um einen tatsächlich wahrgenommenen Geruch dieser Personengruppen ging als vielmehr um einen sozialen Geruch, der wie eine positive bzw. negative Gruppenzuschreibung wirkte. In den Ausführungen der Agnes Blannbekin geht es dagegen um einzelne Brüder, die die Messe lasen und über deren moralische Verfasstheit keinerlei Angaben zur Verfügung stehen. Auch ist bei Agnes nicht eindeutig von gutem oder schlechtem Geruch die Rede, sondern lediglich von einem Geruch, weshalb eher auf eine individuelle Bewertung geschlossen werden kann als auf ein klar dualistisch ausgerichtetes Geruchssystem. Es scheint daher sinnvoll, noch in anderen frauenmystischen Texten nach olfaktorischen Beschreibungen von Mönchen und/oder Priestern zu suchen. Wie sind diese geruchlichen Beschreibungen formuliert? Werden dabei Einzelpersonen oder Gruppen benannt? Verwenden andere Visionärinnen Geruchsbeschreibungen, die einem deutlich bipolaren System folgen oder Überlappungen von positiven und negativen geruchlichen Polen aufweisen? Einen solchen anderen Eindruck vermittelt Mechthild von Magdeburg im ersten Kapitel des dritten Buches aus ihrem Werk Das fließende Licht der Gottheit: Vom Himmelreich und den neun Chören und wer den leeren Raum füllen wird. Vom Thron der Apostel und Sankt Marien und Christi. Vom Lohn der Prediger, Märtyrer und Jungfrauen und von den ungetauften Kindern.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

[…] Dann sah ich unverhofft die Herrlichkeit der Prediger, wie sie (ihnen) in der Zukunft erstrahlen wird. Ihre Sitze sind wunderbar, ihr Lohn ist übergroß. Die vordersten Stuhlbeine sind zwei brennende Lichter. Sie bezeichnen die wahre Liebe und das heilige Vorbild und die lautere innere Absicht. Die Lehne der Sitze ist so angenehm frei und in wonnevoller Ruhe so süß in unvergleichlicher Weise, daß man kaum darüber sprechen kann, gegenüber dem strengen Gehorsam, dem (die Prediger) auf Erden untertan waren. […] O ihr Prediger, wie unwillig regt ihr jetzt eure Zungen, und wie schwerfällig neigt ihr euer Ohr zu des Sünders Mund! Er wird sich aus den Chören vor dem Thron erheben und wird den himmlischen Vater für die Weisheit verherrlichen, die er euren Zungen verlieh und den Sohn für seine ehrenvolle Gesellschaft grüßen, da er selbst ein Prediger war, und dem Heiligen Geist für seine Gnade danken, da er der Herr aller Geschenke ist.852

Mechthild erwähnt unterschiedliche Gruppen; besonders positiv fallen dabei die Prediger auf. Dabei charakterisiert sie die Lehne des Stuhls, auf dem die Prediger sitzen, als süß in unvergleichlicher Weise, was unmöglich mit Worten zu beschreiben sei. Gleichzeitig kann nicht eindeutig geklärt werden, ob süß hier auf eine olfaktorische oder gustatorische Ebene oder auf eine Mischung beider anspielt. Bei der Beschreibung einer anderen Gruppe von Klerikern mangelt es Mechthild hingegen nicht an Worten, vielmehr weiß sie genau, wie sie ihrer Abneigung Domherren gegenüber Ausdruck verleihen kann: Gott verleiht Herrschaft. Wie die Böcke zu Lämmern werden. Daß dieser Herr [der vorher genannte Magdeburger Kanoniker [Anmerkung im Text, J. S.]] zum Dekan gewählt wurde, war Gottes Wille, denn dies hat er selbst folgendermaßen gesagt:

852 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, 2., neubearbeitete Übersetzung mit Einführung und Kommentar von Margot Schmidt (Mystik in Geschichte und Gegenwart. Texte und Untersuchungen. Abteilung I: Christliche Mystik, 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, III c. 1, S. 77 und 80. Von dem himelriche und von den nún koͤ ren und wer den bruch soͤ lle erfúllen. Von dem trone der apostelen und Sante Marien und da Christus inne sitzet. Von dem lone der predieren, martyreren und megden und von den ungetoͮ ffeten kinden […] Dan han ich ungegert der predier lon gesehen, als es noch sol geschehen. Ir stuͤ le sint wunderlich, ir lon ist sunderlich. Die vordersten stangen der stuͤ le sint zwoei brinnendú liehter, dú bezeichenent die ware minne und das helige bilde und die getrúwe meinunge binne. Die lene dere stuͤ le ist also sanfte vri und in wunnenklicher ruͦ we also suͤ sse, me dennen man sprechen muͤ sse, wider dem starken gehorsam, dem si hie sint undertan. […] O ir predier, wie regent ir ùwer zungen nu so ungerne und neigent úweri oren so noͤ te vor des súnders munt! Ich han vor gotte gesehen, das in dem himmelriche sol geschehen, das ein adem sol schinen us von úwerme munde, der sol ufgan us den koͤ ren vor dem throne und sol loben den himmelschen vatter umb die wisheit, die er an úwer zungen hat geleit, und gruͤ ssen den sun umbe sin ersam gesellschaft, wan er selber ein predier was, und danken dem heilgen geiste umb sine gnade, wan er ein meister ist aller gaben [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S] (Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift im kritischen Vergleich mit der gesamten Überlieferung, 1: Text, hrsg. Hans Neumann, besorgt von Gisela Vollmann-Profe (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 100), München [u. a.] 1990, III c. 1, S. 72 und 75–76).

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›Darum habe ich ihn von einem Stuhl auf den anderen gesetzt, damit er den Böcken eine Speise sein soll.‹ Erklärung: Daß Gott die Domherren Böcke nennt, tut er darum, weil ihr Fleisch vor Unkeuschheit stinkt in der ewigen Wahrheit vor seiner Heiligen Dreifaltigkeit. Die Haut des Bockes ist edel; ebenso verhält es sich mit ihrer geistlichen Macht und ihrem Besitz. Aber wenn diese Haut im Tod abgelegt wird, hat sie all ihren Adel verloren. Unser Herrgott wurde befragt, wie die Böcke zu Lämmern werden könnten. Da sprach unser Herr: ›Wenn sie das Futter fressen, das ihnen Herr Dietrich[853] in die Krippe legte, nämlich heilige Buße und treuen Rat in der Beichte, dann würden sie Lämmer ein und derselben Art werden, die man Widder nennt, Lämmer mit Hörnern.‹ Das Horn ist die geistliche Gewalt, von der sie, Gott zum Lobe, heiligmäßigen Gebrauch machen. Man soll stark sein und voll und ganz Gott vertrauen, denn er sagt: ›Ich selber will die Lasten dieses Herrn mit Erfolg tragen helfen.‹854

Mechthild führt aus, dass Gott die Domherren Böcke nennt, wobei sie zur Erklärung dieser Betitelung auf deren unkeusches Leben hinweist und anfügt, wie Unkeuschheit ihr Fleisch stinken lasse. Aus dieser argumentativen Verknüpfung lassen sich mehrere Fragen ableiten: Wenn Domherren aufgrund ihrer Unkeuschheit stanken, weshalb waren Prediger frei von Unkeuschheit und geruchlich scheinbar nicht zu fassen? Stinkendes Fleisch wird von Mechthild mit Böcken assoziiert. Wofür stand der Bock in der christlichen Symbolik des Mit853 Bei dem hier erwähnten Herr[n] Dietrich handelt es sich um den Magdeburger Domherrn und -kantor Dietrich oder Theodoricus von Dobien, der um Mechthilds Fürbitte und somit Unterstützung bei der Bestrebung bat, Dekan von Magdeburg zu werden. Dieses Amt bekleidete Dietrich vom 9. Juni 1262 bis zum 11. Dezember 1269. Siehe dazu Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, übersetzt von Schmidt (wie Anm. 852), S. 390–391, Anmerkung 240. 854 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, übersetzt von Schmidt (wie Anm. 852), VI c. 3, hier: S. 219–220. Got gibet herschaft. Wie die boͤ ke lamber werdent. Das dirre selber herre ze techan ist erkorn, das ist gottes wille, wan das hat er selbe gesprochen alsus: ›Darumbe han ich in von einem stuͦ e uf den anderen gesezzet, das er eine spise sol wesen der boͤ ken.‹ Glosa: Das got die tuͦ meherren heisset boͤ ke, das tuͦ t er darumbe, das ir vleisch stinket von der unkúscheit in der ewigen warheit vor siner heligen drivaltekeit. Des bokes hut ist edel, also ist es umb ir herschaft und umb ir phruͦ nde; mer swenne disú hut mit dem tode abegat, so hant si verlorn alle ir edelkeit. Und únser herre got wart gevraget, wa mitte dise boͤ kke lambere moͤ hten werden. Do sprach únser herre alsus: ›Wellent si das vuͦ ter essen, das in her Dietrich in die krippfen leit, das ist die heilige buͦ sse und der getrúwe rat in der bihte, so soͤ nt si einer hande lamber werden, die man heisset wider, lamber mit hornen.‹ Die horn das ist geistliche gewalt, der si heilekliche gebruchen zuͦ gottes lobe. Man sol wesen stark und getúwen volleklichen gotte, wan er sprichet: ›Ich will selber dis herren schulde helfen gelten mit gelúke‹ [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S] (Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hrsg. Neumann und Vollmann-Profe (wie Anm. 852), VI c. 3, S. 208–209).

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telalters? Wie verbreitet war der Konnex von Unkeuschheit und stinkendem Fleisch? Im Gegensatz zu den Domherren beschreibt Mechthild die Prediger (Dominikaner) im ersten Kapitel des dritten Buches wohlwollend, schwärmt von deren Herrlichkeit und berichtet vom Lohn für deren gute Taten. Hierbei fehlt zwar eine olfaktorische Komponente, doch das Kontrastive der Ausführungen im Vergleich zur negativen Bewertung der Domherren ist deutlich erkennbar. Eine mögliche Erklärung für die positive Charakterisierung der Prediger lässt sich aus Mechthilds sozialer Lebenswelt ableiten. Ihr Beichtvater Heinrich von Halle, der ihr während ihrer Zeit in Magdeburg nahestand und die Niederschrift ihres Werkes förderte, war Mitglied der Dominikaner.855 Des Weiteren hatte Balduin, der leibliche Bruder Mechthilds, im Dominikanerkonvent von Halle das Amt des Subpriors inne.856 Neben diesen personellen Verflechtungen, die auf ein positives Verhältnis Mechthilds zu den Dominikanern schließen lassen, lag bei ihr noch eine besondere Begeisterung für die Person des heiligen Dominikus, seine Nachfolger sowie deren Ideen und Frömmigkeitsvorstellungen vor.857 Obgleich Mechthild die Ideen der Dominikaner positiv sah, äußerte sie sich allerdings über deren tatsächliches Verhalten auch negativ, besonders im Zuge der Streitigkeiten mit dem Weltklerus, den sie jedoch ebenfalls zum Ziel ihrer Kritik machte.858 Demzufolge könnte die negative Charakterisierung der Domherren Mechthilds Wahrnehmung ihrer sozialen Lebenswelt spiegeln. Aus der Alltagsrealität entlehnt war vermutlich auch Mechthilds Assoziation der Domherren mit dem stinkenden Fleisch von Böcken. In zahlreichen Kulturkreisen wurde und wird das Fleisch von Ziegen und Schafen gerne verspeist, das Fleisch der entsprechenden männlichen Artgenossen aufgrund seines ei855 Zur Person Heinrichs von Halle siehe Rolf Hünicken, Studien über Heinrich von Halle, in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 23 (1934/35), S. 102–117. Einen Überblick über die Zusammenarbeit und das Vertrauensverhältnis zwischen Mechthild von Magdeburg und Heinrich von Halle bietet auch Peters (wie Anm. 623), Kapitel 3, Punkt 2, S. 116–122. 856 Siehe dazu Peters (wie Anm. 623), S. 120. 857 Dieser Hinweis findet sich u. a. bei Margot Schmidt, Einleitung, in: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, übersetzt von Schmidt (wie Anm. 852), S. IX–XLIV, hier: S. XIV. 858 Einen Einblick in Mechthilds Wahrnehmung und Bewertung von Dominikanern und Weltklerus gibt Andersen, die dabei aufzeigt, wie sich vor allem im Mendikantenstreit die Kritik Mechthilds an moralischer Verkommenheit und mangelnder Pflichterfüllung auf den Weltklerus, aber auch auf die Dominikaner richtete, ohne dass die Mystikerin jedoch ihre tiefe Sympathie und Verehrung für dominikanische Ideen oder ihre persönlichen Verbindungen zu Dominikanern aufgab; siehe dazu Elizabeth A. Andersen, Mechthild von Magdeburg, der Dominikanerorden und der Weltklerus, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, hrsg. Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw (Bristoler Colloquium 1993), Tübingen 1996, S. 264–272.

Entgrenzte Autoritäten: gerochene Verfehlung in der Betrachtung der Minoriten

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genwilligen Geschmacks jedoch eher als ungenießbar angesehen. Dieser lebensweltliche Bezug könnte ein Referenzrahmen für Mechthild gewesen sein. Gleichwohl scheint mit dem Begriff des Bockes noch eine andere Assoziation angestrebt worden zu sein, denn in der christlichen Symbolsprache des Mittelalters wurde der Ziegenbock zumeist mit dem Teufel in Verbindung gebracht. In »The Devil and the Jew« zeigt Joshua Trachtenberg, dass der Bock, besonders der Ziegenbock, im Mittelalter als Lieblingstier des Teufels galt und dessen Lüsternheit und Geilheit symbolisierte.859 Diese, im Mittelalter übliche Assoziation wurde vor allem auf Juden übertragen; besonders Mose wurde in der christlichen Kunst seit dem 12. Jahrhundert als Ziegenbock dargestellt.860 Im Falle Mechthilds von Magdeburg lässt sich allerdings vermuten, dass sie das Motiv des Bockes nur wählte, um auf Unkeuschheit von Domherren hinzuweisen. Für eine intendierte Verbindung mit Juden gibt es hingegen keine Anhaltspunkte. Mechthild fügt dem Symbol des Bockes als Zeichen der Unkeuschheit noch eine weitere Ebene hinzu: Laut ihrer Offenbarung waren Domherren Böcke, weil ihr Fleisch vor Unkeuschheit stank. Hierbei erweitert die Visionärin die Bildsprache hin zur Ebene des Geruchs, genauer gesagt, des Gestanks. Ähnlich wie die Priester bei Hildegard von Bingen sind auch die Domherren bei Mechthild von Magdeburg als eine Gruppe von Klerikern olfaktorisch auszumachen. Zudem sehen beide Mystikerinnen Geruch als einen Hinweis auf die moralische Konstitution und Verhaltensweisen der jeweiligen Gruppen. Anders als Hildegard von Bingen verwendet Mechthild von Magdeburg jedoch nicht nur ein zweipoliges Geruchssystem, das zwischen Wohlgeruch und Gestank unterscheidet; vielmehr verbindet sie Geruchsqualitäten mit bekannten Metaphern (hier der des Bockes), die nicht nur eine olfaktorische Präzisierung ermöglichen, sondern diese mit bestimmten moralischen Qualitäten verbildlichen. Dabei ist aufgrund der verbreiteten Verwendung in unterschiedlichen mittelalterlichen Quellen davon auszugehen, dass die Metaphern für zeitgenössische Rezipienten/-innen deutlich lesbar waren und ihre moralischen Konnotationen somit innerhalb des christlichen Symbolspektrums gedeutet und verstanden werden konnten. Hildegards und Mechthilds Beschreibungen olfaktorischer Profile dürften für die beiden keiner olfaktorischen Realität entsprochen haben. Das olfaktorische Profil diente ihnen zur sozialen Abgrenzung bzw. Auskunft über einen Stand innerhalb einer Gesellschaft. Im Fall Hildegards bewegen sich die vorgestellten 859 Siehe dazu Trachtenberg (wie Anm. 120). 860 Eine solche Darstellung Moses mit Hörnern und einem Nimbus zeigt eine Miniatur aus der Bibel von Bury St. Edmunds (um 1135); siehe dazu Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile (Rowohlts Enzyklopädie, 498: Kulturen und Ideen), Reinbek bei Hamburg 1991, S. 167.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Geruchsprofile in einem dichotomen System, das zwischen gut und schlecht keine Abstufungen vorsieht. Mechthild bewegt sich in einem klassischen christlichen Symbolspektrum, nach dessen Vorgaben sie mittelalterlichen Rezipienten/-innen ein sprachliches Bild vorlegte, das bei diesen sowohl geruchliche als auch moralische Konnotationen hervorrief. Weiterhin gilt es zu beachten, dass beide Autorinnen mithilfe olfaktorischer Profile innerhalb einer Gruppe differenzieren. Geistliche werden von ihnen in Untergruppen wie Domherren, Priester und Ordensmitglieder sowie, nochmals genauer, in Dominikaner eingeteilt. Diese Unterscheidung drückt sich auch in unterschiedlichen olfaktorischen Beschreibungen aus. Auffällig daran ist, dass sich das olfaktorische Profil der einzelnen Gruppen nicht generalisieren und von einer Beschreibung auf eine andere übertragen lässt. Die geruchliche Charakteristik ist eng an die Person geknüpft, die riecht. Vor allem persönliche Verflechtungen oder Einstellungen scheinen eine tragende Rolle bei der Artikulation der jeweiligen olfaktorischen Profile gespielt zu haben und müssen bei deren Interpretation berücksichtigt werden. Gleichzeitig sind diese persönlichen Elemente mit der subjektiven Wahrnehmung und der Bewertung eines Geruchs im Allgemeinen gepaart, weshalb die Beschreibung olfaktorischer Profile eine höchst individuelle Beurteilung darstellt.

IV.3.c Um ein guter Minderbruder zu werden – eine Annäherung an die Ideale der Minderbrüder Wendet man die obigen Ergebnisse des Vergleichs zwischen den Visionen Mechthilds von Magdeburg und denjenigen Hildegards von Bingen auf den Fall der Agnes Blannbekin an, ist zunächst festzustellen, dass letztere nicht Kleriker im Allgemeinen am Geruch erkannte. Aus Kapitel 40 der Visionen einer gewissen Jungfrau wird deutlich, dass sie jeweils einen Bruder (frater) am Geruch erkennen und folglich Minderbrüder geruchlich unterscheiden konnte. Diese Fähigkeit setzt sie von Hildegard und Mechthild ab, denn die beiden Letzteren beschreiben soziale Gruppen, wie Dominikaner oder Mönche allgemein in geruchlicher Hinsicht. Agnes Blannbekin hingegen nimmt individuellen Bezug. An dieser Stelle sei daran erinnert, wie stark die persönliche Verflechtung zwischen Agnes Blannbekin und der Gemeinschaft der Wiener Minoriten war. Im Folgenden werden daher die Verhältnisse zwischen Agnes Blannbekin und einzelnen Brüdern der Wiener Minoriten beleuchtet. Im Rahmen dieser Beziehungen kam Agnes Blannbekin häufig ein großer Handlungsspielraum zu. Der von Tschulik im fraglichen Zusammenhang geprägte Begriff des freundschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses soll hier als ein Ausdruck reziproker Verbindungen und Interdependenzen verstanden und im Folgenden damit gearbeitet werden. Zu-

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nächst ist allerdings, wenn auch ex negativo, zu klären, was einen guten Minderbruder aus der Sicht der Jungfrau kennzeichnete. Ihre Betrachtung der Gemeinschaft der Minderbrüder verläuft auf zwei Ebenen: Zum einen richtet sie ihren Blick allgemein aus und kritisiert zwar einzelne Leitungspositionen innerhalb der Ordensstruktur, benennt aber zunächst keine konkreten Inhaber. Zum anderen schildert sie Einzelfälle, an denen sich vor allem der Erweis von Gnade zeigt. Nach einer Darstellung des besagten Vorgehens der Agnes Blannbekin wird diese Untersuchung der olfaktorischen Fährte eines Ungehorsamen folgen; daran schließt sich eine Fortsetzung der Analyse des Geruchs an, der laut Kapitel 40 von einzelnen Brüdern ausgegangen sein soll. Die Bitte des Beichtvaters an die Jungfrau, für ihn zu beten, und die damit einhergehende Umkehrung des Seelsorgeverhältnisses war kein singulärer Fall. Auch andere Brüder aus der Gemeinschaft der Minderbrüder wandten sich hilfesuchend an Agnes Blannbekin, und so betete sie, wie im Kapitel 177 berichtet, beispielsweise für einen Minderbruder, der sie um Fürsprache bei Gott gebeten hatte, damit aus ihm ein guter Minderbruder würde: Und alsbald kam ihr (der Gedanke) an einen gewissen Bruder ins Herz, der sie gebeten hatte, daß sie für ihn beim Herrn Fürsprache einlege, daß der Herr ihn zu einem guten Minderbruder mache. Alsbald also betete sie aus dem Herzen und im Herzen zum Herrn, daß er selbst nach seinem Gutdünken diesen ihren Freund zu einem guten Minderbruder mache.861

Da die Textstelle nur wenige Kapitel nach einem ähnlichen Wunsch des Beichtvaters – nämlich ein guter Bruder zu werden – folgt, liegt die Vermutung nahe, beim Wünschenden handele es sich hier ebenfalls um den Beichtvater.862 Dieser verwendet jedoch im Prolog wie auch im Haupttext die Ich-Form bzw. deren oblique Kasus, sobald er über sich selbst berichtet. Warum hätte er im genannten Falle davon abweichen sollen, zumal er seinen Wunsch im Textzusammenhang zuvor bereits erwähnt und ihn als seinen eigenen zu erkennen gegeben hat? Eine vergleichende Betrachtung der beiden Wünsche ist aufschlussreich: Der Beichtvater bat laut Kapitel 171 darum, ein guter Bruder zu werden (ut faceret me bonum fratrem). Im Kapitel 177 ist der Wunsch jedoch konkreter, da der Bitt861 Et mox venit sibi in cor de quodam fratre, qui eam rogaverat, ut ipsa intercederet pro se ad dominum, ut dominus eum [faceret bonum Fratrem Minorem. Mox igitur ex corde, ergänzt nach Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 214, J. S.] et in corde oravit dominum, ut ipse juxta ejus beneplacitum faceret hunc amicum suum bonum fratrem minorem (Vis. c. virg., Cap. 177, S. 366 und 668 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 367 und 369). 862 Diese Vermutung äußert Dinzelbacher in seiner Einleitung zur Neuedition und Übersetzung, versieht eine entsprechende Angabe allerdings mit einem Fragezeichen und macht somit auf seine diesbezüglichen Zweifel aufmerksam; siehe dazu Dinzelbacher, Einleitung (wie Anm. 14), S. 17, Anmerkung 36.

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steller diesmal nicht nur einen guten Bruder, sondern einen guten Minderbruder (bonum fratrem minorem) abgeben wollte. Dies spricht dafür, dass hier der Wunsch eines anderen Bruders vorliegt und gefolgert werden kann, dass die Jungfrau auch für andere Wiener Minderbrüder als ihren Beichtvater Fürbitte einlegte. Die Jungfrau unterstütze aber nicht nur einzelne Mitglieder der Gemeinschaft durch ihr Gebet, sondern hatte auch Einblick in bedeutende Ereignisse des Ordens. So vermochte sie laut dem 158. Kapitel in einer Vision ein zeitgleich stattfindendes Kapitel der Minderbrüder in Paris zu verfolgen. Daraufhin konnte sie ihrem Beichtvater detailliert die Einrichtung der Kirche und Altäre am Tagungsort beschreiben, so wie es zuvor Teilnehmer des Pariser Generalkapitels gegenüber Agnes’ Beichtiger getan hatten. Neben den Örtlichkeiten sowie dem Ablauf des Kapitels schaute sie das Wirken göttlicher Gnade und beobachtete, wie sich der Heilige Geist auf alle in Paris anwesenden Brüder ergoss und diese mit Gnade beschenkte, während die Messe des Heiligen Geistes gesungen wurde.863 Darüber hinaus wurden der Jungfrau in ihren Visionen Missstände und Entwicklungen offenbart, wobei vor allem Ordensmitglieder, die mit Führungsaufgaben betraut waren, im Zentrum ihrer Kritik standen.864 Agnes the863 Cap. CLVIII. De spiritu sancto et capitulo Parisiensi fratrum. Post haec rapta est in lucem et quasi claritatem coelestem et elevata est ut aquila in altum, ita ut omnia, quae in mundo sunt, conspiceret. Tunc quoque celebrabatur capitulum generale fratrum minorum Parisius, et ipsa vidit fratres in unum congregatos et multos in choro ad missam; dispositionem etiam ecclesiae et altarium ipsa mihi descripsit, prout alias audivi ab his, qui ibi fuerant. Sub missa igitur, cum cantaretur missa de sancto spiritu, flamma magna descendit inter fratres, et scintillae dispertitae copiose apparuerunt super fratres et omnes, quotquot ibi praesentes erant, acceperunt spiritum sanctum ita abunde, sicut ipsa intellexit, quod omnes sint in gratia confirmati. Sic ergo elevata in lumine vidit orbem terrarum repleri spiritu domini et spiritum sanctum varias virtutes operari in hominibus et alios locupletiores aliis in virtutibus. Aliquas virtutes ipsa mihi enarravit, quas infra dicam. Omnes autem virtutes ipsa cognovit dicens, quod quaelibet virtus suo lumine ab alia distincta cognoscitur (Vis. c. virg., Cap. 158, S. 336 und 338). 864 Die Verteilung von Führungsaufgaben erfolgte in der franziskanischen Gemeinschaft nicht auf unbegrenzte Zeit, sondern nach einem System ständiger Rotation. In anderen Orden übliche Bezeichnungen wie Prior lehnte Franz von Assisi ab. In einer generellen Übersicht zur Geschichte und Entwicklung der Franziskaner versucht Lehmann auch einen Überblick über die Struktur ihres Ordens zu geben. Er vergisst dabei nicht, darauf hinzuweisen, dass sie im Lauf der Zeit Wandlungen erlebte und die bullierte Regel erst mit Hilfe zahlreicher zusätzlicher Dokumente Verwaltungsstrukturen festschrieb. Allen Ordenszweigen steht ein Generalminister vor, der von einem Generalkapitel gewählt wird. Das folgende simplifizierte Schema nennt vorhandene Grundzüge der Zuständigkeitsbereiche und Ämterverteilung: Das gesamte Ordensgebiet ist in Ordensprovinzen unterteilt, die von Provinzialen verwaltet werden. Eine Ordensprovinz setzt sich wiederum aus mehreren Kustodien zusammen, denen jeweils ein Kustos vorsteht. Für jede einzelne Gemeinschaft oder jedes Haus gibt es einen zuständigen Guardian (Hüter), der von der Provinzleitung ernannt wird. Siehe dazu

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matisiert Nachlässigkeit – im Sinne mangelnder Pflichterfüllung und Observanz – sowie das Fehlen einer beispielhaften Lebensführung. Allerdings urteilte die Jungfrau nicht selbst über das Verhalten der Minderbrüder, vielmehr erhielt sie in verschiedenen Visionen zugleich mit dem Einblick in Zustände auch ein Urteil darüber mitgeteilt. In Kapitel 116 werden anlässlich der Begrüßung eines Ministers der Brüder865 dessen Versäumnisse thematisiert: Dann dachte jene über einen bestimmten Freund von ihr: ›Herr, ich weiß, daß er dich liebt; und dennoch würde er es mehr lieben, gesund zu sein, damit er dir besser dienen könnte.‹ Und der Herr: ›Wer immer in festem Dienst mir beständig dient, in dessen Schiffchen bin ich und lenke und führe es, und was jener nicht kann, vollbringe ich.‹ Es erschien ihr auch dort eine Schar von Brüdern, die mit großer Sittsamkeit standen und erwarteten, vom Herrn gegrüßt zu werden. Der Herr aber, zum Minister der Brüder gewandt, sagte: ›Seid gegrüßt, Vater! Ihr seid der Vater meiner Söhne, die ich eurer Treue übergab. Daher: wenn Saumseligkeit und Nachlässigkeit des Regellebens durch eure Unachtsamkeit wachsen sollten, wehe euch!‹ Da fiel der Minister auf die Knie und sagte: ›Herr, du weißt, daß ich alle Sorgfalt, die ich kann, aufwende.‹ Dann sagte der Herr: ›Hüte dich vor jedem Hochmut bei deinem Verbessern und Schelten; für deine Untergebenen sei ein Beispiel, so daß du mehr als deine Brüder im Chor bist! Wo immer du auch bei Brüdern bist, wenigstens einmal am Tag sollst du vor den Brüdern des Beispiels wegen bei den Horen und Gebeten im Chor sein! Sei gemeinsam (mit ihnen) beim Essen, soviel du nur kannst, und bei anderem!‹866 Leonhard Lehmann, Franziskaner (Konventualen, Kapuziner) und Klarissen, in: Kulturgeschichte der christlichen Orden in Einzeldarstellungen, hrsg. Peter Dinzelbacher und James Lester Hogg (Kröners Taschenausgabe, 450), Stuttgart 1997, S. 143–192, hier besonders: 2. Regel, Verfassung, Tracht, S. 152–154. 865 In die hierarchische Struktur der Minderbrüdergemeinschaft gibt außerdem das »Lexikon des Mittelalters« Einblick: Bestimmte territoriale Gebiete, sogenannte Provinciae, wurden von einem Minister geleitet, für kleinere Verwaltungseinheiten, sogenannte Custodiae, innerhalb einer solchen Provinz war ein Kustos zuständig. Den einzelnen Niederlassungen stand ein Guardian vor. Siehe dazu Luigi Pellegrini, Franziskaner, in: Lexikon des Mittelalters, 4: Erzkanzler bis Hiddensee, hrsg. Robert-Henri Bautier et al., Redaktion: Gloria Avella-Widhalm et al., München [u. a.] 1989, Sp. 799–805, hier: A. II. 3. Hierarchische Struktur, Sp. 802. 866 Tunc illa cogitavit de quodam amico suo: ›Domine, scio, quia diligit te; et tamen magis diligeret esse sanus, ut sic tibi servire melius posset.‹ Et dominus: ›Quicunque strenuo servitio mihi continue servit, in illius navicula ego sum et eam guberno et duco, et quod ille non potest, ego perfericio.‹ Apparuit etiam ibi fratrum cum magna maturitate stantium et expectantium salutari a domino (turba). Dominus autem conversus ad ministrum fratrum dixit: ›Avete pater! Vos estis pater filiorum meorum, quos ego fidei vestrae commisi. Quod si incuriae et negligentiae regularis vitae succreverint per vestram desidiam, vae vobis!‹ Tunc minister procidens super genua dixit: ›Domine, tu nostri, quod omnen diligentiam, quam possum, abhibeo.‹ Tunc dominus: ›Cave, inquit, ab omni superbia in correctione et increpatione tua; ad subditos tuos sis exemplaris, ita ut magis sis fratribus tuis in choro! Ubicunque fueris apud fratres, ad minus semel in die coram fratribus exempli causa esse debes in horis et orationibus in choro! Sis communis in cibo, quantum plus poteris, et in aliis!‹ (Vis. c. virg., Cap. 116, S. 258 und 260 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 259 und 261).

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Zunächst betete die Jungfrau für einen Freund und bat um dessen Gesundheit, damit er Gott besser dienen könne. Woraufhin Gott ihr unter Verwendung einer Schiffsallegorie versicherte, bei jenem zu sein, der ihm fest diene, und das zu vollenden, was dieser nicht könne. Hier findet sich erneut ein Beispiel für die herausgehobene Stellung der Jungfrau, die auf ihre Bitten im Gebet hin eine direkte Antwort von Gott erhielt. Dann wurde der Jungfrau in der Vision eine Schar von Brüdern gezeigt, die darauf wartete, vom Herrn begrüßt zu werden. Gott wandte sich jedoch an den Minister der Brüder und ermahnte ihn, streng über die Einhaltung der Ordensregeln des Gemeinschaftslebens zu wachen, sodass die Gemeinschaft blühe und nicht verfalle. Auf die Knie sinkend, beteuerte der Minister seine dahingehenden Bemühungen, woraufhin Gott ihm konkrete Vorgaben für die Leitung des Ordenshauses und ein gutes Vorleben der Regeln mitteilte. So sollte der Minister mindestens einmal am Tag mit seinen Brüdern bei den Horen und im Gebet anwesend sein, um ein Beispiel zu geben. (Ubicunque fueris apud fratres, ad minus semel in die coram fratribus exempli causa esse debes in horis et orationibus in choro!) Ebenso sollte er aktiv an der Gemeinschaft teilhaben: Sowohl beim Essen als auch bei allem anderen sollte er so oft wie möglich bei den Brüdern sein. (Sis communis in cibo, quantum plus poteris, et in aliis!) Dann wandte sich der Herr an die in der Vision anwesenden Prälaten und empfahl ihnen, bei der Durchsetzung der Regeln und Ermahnung zur Gehorsamspflicht die Härte und Strenge nicht Überhand nehmen zu lassen, damit nicht Brüder aus der Gemeinschaft vertrieben würden. Und als er [= der Herr, J. S.] dies sagte, schaute er alle Prälaten an – denn es waren mehrere da – und sagte: ›Wieviel habe ich gegen euch! Hüte dich auch, daß nicht durch deine Härte Brüder als Abtrünnige fortgehen, und andere Brüder wegen deiner Strenge sich vom Herrn trennen! […]‹.867

Den didaktischen Hinweis, dass Strenge und Härte nicht bedingungslos zielführend bei der Durchsetzung von Regeln und zum Aufbau einer Gemeinschaft seien, vergleichend mit anderen Richtlinien zum Führungsstil in hoch- und spätmittelalterlichen Ordensgemeinschaften zu analysieren, wäre sicherlich ein spannendes Projekt, führte hier jedoch vom Thema weg. Im untersuchten Zusammenhang von Interesse ist allerdings die mit der Ermahnung einhergehende Kritik an bestehenden Zuständen. Zum einen scheinen weder der Minister noch die Prälaten in ihrer eigenen Lebensführung beispielhaft im Sinne der Ordensregeln und des Gehorsams vorangegangen zu sein sowie nur selten am ge867 Et cum haec diceret, intuitus est omnes praelatos – quia plures aderant – et ait: ›Quanta habeo contra vos! Cave etiam, ne per duritiam tuam fratres apostatantes evagentur et alii fratres propter austeritatem tuam a domino separentur! […]‹ (Vis. c. virg., Cap. 116, S. 260 und (deutsche Übersetzung:) S. 261).

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meinschaftlichen Stundengebet oder Essen teilgenommen zu haben. Zum anderen wurden ihnen keine besonderen Kompetenzen hinsichtlich der erbaulichen Stärkung einzelner Mitglieder und des barmherzigen Umgangs mit ihnen zugesprochen. Das Kritisieren von Führungspersonen setzt sich im Kapitel 117 in gleicher Weise fort: Der Kustos der Brüder wurde zu mehr Demut ermahnt sowie zu einem milderen Ton im Umgang mit den Brüdern aufgefordert.868 Weiterhin trafen den Lektor Vorwürfe wegen seiner Amtsausübung, die lediglich seine egozentrischen Interessen offenbart habe.869 Anschließend erfuhr der Guardian wegen häufiger Scherze harten Tadel.870 All diese Kritik erfolgt jedoch auf doppelte Weise indirekt: Erstens wird kein Funktionsträger beim Namen genannt und jegliche örtliche und zeitliche Einbindung durch die Vision aufgehoben. Dinzelbachers Anmerkung über den globalen Charakter dieser Kritik, die gerade wegen der fehlenden Nennung von Namen und Lokalitäten zu einer allgemein und überzeitlich gültigen Beanstandung werde, kann sich die Verfasserin dieser Studie nur teilweise anschließen.871 Einerseits blieb die Kritik durch fehlende Bezüge allgemein übertragbar. Andererseits wurde, wie aus dem Folgenden ersichtlich, anhand zahlreicher Einzelfälle Fehlverhalten konkretisiert und auf die Mahnungen gegenüber Ordensoberen erneut Bezug genommen. Zweitens wurde die Kritik, wie häufig in den Visionen, nicht von der Jungfrau selbst geäußert; sie erhielt nur Einblick, den ihr Gott gewährte. Eben aufgrund dieses Weges wiegt die Kritik schwerer, denn sie wurde von der höchsten Autorität geäußert. Gleichzeitig bewahrte dieser Vermittlungsweg die Jungfrau vor irdischen Anfeindungen. Wie zu zeigen sein wird, ist es allerdings eine Kombination aus persönlicher Verflechtung und Verwendung von Olfaktorik, die die Kritik direkt mit der Person der Jungfrau als einer aktiv Handelnden verknüpft.

868 Deinde ait dominus ad custodem satis dure: ›Avete domne! Vos bene deberetis esse magis humilis et recogitare, unde te tulerim et quo extulerim, et magis benigne loqui fratribus et corripere mansuetius nec habere tam contemptibilia verba ad fratres!‹ (Vis. c. virg., Cap. 117, S. 260). 869 Dehinc allocutus est lectorem: ›Avete domne! Nimis estis piger et tepescitis a servitio meo propter infirmitatem vestram. Quam diu enim est, quod non audistis missam? Nimiam sollicitudinem habetis pro sanitate et nimis estis sumptuosus de pauperum eleemosyna!‹ (Vis. c. virg., Cap. 117, S. 260). 870 Post hoc salutavit gardianum inclinando et duriter reprehendendo: ›Cum sis amicus dei, multum offendis truphatoriis et ridiculosis verbis dissolutionem et cachinnum provocantibus. Facis quemadmodum lotrix, quae lavans pannos dealbat eos in sole cum magna diligentia ac postea eosdem pannos in lutum calcat.‹ (Vis. c. virg., Cap. 117, S. 260 und 262). 871 Siehe dazu Dinzelbacher, Die Wiener Minoriten (wie Anm. 31), S. 186.

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IV.3.d Verfehlungen eines Laien und Gnadenerweis Wie angedeutet ist es nicht nur ein allumfassender Blick, den die Jungfrau in ihren Visionen auf den Orden der Minderbrüder warf, auch anhand von Einzelfällen vermittelte sie einen Eindruck von Verhältnissen in diesem. Dabei kamen Verfehlungen einzelner Mitglieder der franziskanischen Gemeinschaft zur Sprache. Im Kapitel 107 wird der Fehltritt eines jungen Bruders geschildert, der, obwohl bei allen sehr angesehen und beliebt, auf Zureden des Teufels (suadente diabolo) eines Nachts, vom Schein des Guten getäuscht (sub specie boni deceptus), vom Orden abfiel. In einem Zusatz wird ausdrücklich betont, dass diese Verfehlung nicht in fleischlichem Begehren begründet gelegen habe (non levitate carnis ductus). Der betreffende Bruder fürchtete nämlich aufgrund der Gunst der Menschen um sein Seelenheil, weshalb er den Konvent verließ. Er kehrte aber nach einiger Zeit voller Reue zurück, woraufhin er die Gemeinschaft um Verzeihung bat. Mittlerweile war aber das Gerücht von Weggang und Rückkehr des Bruders den Nachbarn der Brüder (vicinos fratrum) zu Ohren gekommen. Dabei bleibt unklar, ob diese Nachbarn einer anderen Ordensgemeinschaft angehörten oder mit der Wendung Redseligkeit im Allgemeinen gemeint war. Die Jungfrau erfuhr ebenfalls von den Vorgängen, und sie begann, die Brüder zu bemitleiden, auch den genannten Bruder, obwohl sie nicht wusste, welcher von ihnen es war. Sie bat bei Gott um Vergebung für ihn. In einer Vision wurde ihr anschließend mitgeteilt, dass der Bruder infolge seiner Überwindung durch den Teufel gegen das Gebot seiner Ordensregel Geld an sich genommen und besessen habe (quod pecuniam contra puritatem regulae suae attrectasset et habuisset). Des Weiteren erklärte ihr Gott, dass er ihm vergeben werde, aber erst nach langer Zeit. In einer weiteren Vision wurde die Fürbitte der Jungfrau erhört: Da sagte jene, sich dieses Bruders erbarmend, zum Herrn: ›Eja, lieber Herr, erbarme dich und gib ihm deine Hand!‹ Und als jene betete und der Bruder dem Herrn nachfolgte, streckte der Herr seine Hand aus, und den Bruder bei der Hand packend hob er ihn zu sich in die Höhe, indem er sagte: ›Wisse, daß ich dich nicht von neuem verlassen werde!‹872

Anhand dieser Geschichte zeigt sich, dass nicht die Gemeinschaft der Brüder Vergebung für den sündigen Bruder erwirkte, denn nur auf die nachdrückliche Bitte der Jungfrau hin streckte Gott ihm die Hand entgegen und gelobte, ihn nicht erneut zu verlassen. Mit ihrer Vision erhob sich die Jungfrau über die Gemein872 Tunc illa miserta hujus fratris ait ad dominum: ›Eja, benigne domine, miserere et porrige ei manum tuam.‹ Cumque illa precaretur, et frater dominum insequeretur, extendit dominus manum suam et rapiens fratrem per manum allevavit eum in altum dicens: ›Scito, quia amodo non derelinquam te.‹ (Vis. c. virg., Cap. 107, S. 244 und (deutsche Übersetzung:) S. 245).

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schaft. Ihre Autorität unterstrich sie dabei, indem sie sich erfolgreich für den Sünder verwendete und einen göttlichen Entschluss sowie ein Versprechen Gottes erwirkte. Im oben bereits angeführten Kapitel 116 (siehe Abschnitt IV.3.c) nahm die Jungfrau gleichfalls Bezug auf Regelverletzungen, als sie berichtete, wie die göttliche Stimme Prälaten ermahnte, auf Rigorosität bei der Bestrafung dieser Vergehen zu verzichten. Was die Jungfrau – einmal direkt und einmal vermittelt durch die göttliche Stimme – anmahnte, war ein barmherziges Vergeben, beispielsweise mit der Konsequenz, dass dem sündigen Bruder die Hand entgegengestreckt und dieser wiederaufgerichtet wurde. Mit dem Ersuchen um Barmherzigkeit als Reaktion auf Regelverstöße – anstelle eines hartherzigen Bestrafens – knüpfte Agnes Blannbekin an Ratschläge an, die bereits Franz von Assisi formuliert hatte. In einem Brief an einen Minister,873 den Franz vermutlich in den 1220er Jahren an einen namentlich nicht genannten Adressaten schrieb, der sich über die schwierige Umsetzung seiner Aufgaben beklagt hatte, thematisiert der Ordensgründer den Umgang mit sündigen Brüdern. Franz ermahnt den Minister sowie auch andere Brüder mit Leitungsfunktionen (wie Guardian oder Kustos), mit Erbarmen auf sündige Brüder zu reagieren. Diese Barmherzigkeit solle kein einmaliger Gnadenerweis sein, sondern unbegrenzt und bedingungslos erfolgen.874 Dass diese Aussage nicht dem gelobten Gehorsam entgegenstehe, erklärt Stefan Knobloch in seiner Analyse zum Motiv des Gehorsams bei Franz von Assisi.875 Obgleich die franziskanische Grundhaltung zumeist auf die Armut als generelle Leitidee reduziert 873 Franz von Assisi, Brief an einen Minister, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Leonhard Lehmann, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 109–110. 874 Und daran will ich erkennen, ob du den Herrn und mich, seinen und deinen Knecht liebst, wenn du Folgendes tust, nämlich: Es darf keinen Bruder auf der Welt geben, mag er auch gesündigt haben, soviel er nur sündigen konnte, der deine Augen gesehen hat und dann von dir fortgehen müsste ohne dein Erbarmen, wenn er Erbarmen sucht. Und sollte er nicht Erbarmen suchen, dann frage du ihn, ob er Erbarmen will. Und würde er danach auch noch tausendmal vor deinen Augen sündigen, liebe ihn mehr als mich, damit du ihn zum Herrn ziehst. Und mit solchen habe immer Erbarmen (Franz von Assisi, Brief an einen Minister (wie Anm. 873), S. 109–110). Et in hoc volo cognoscere, si tu diligis Dominum et me servum suum et tuum, si feceris istud, scilicet quod non sit aliquis frater in mundo, qui peccaverit, quantumcumque potuerit peccare, quod, postquam viderit oculos tuos, numquam recedat sine misericordia tua, si quaerit misericordiam. Et si non quaereret misericordiam, tu quaeras ab eo, si vult misericordiam. Et si millies postea coram oculis tuis peccaret, dilige eum plus quam me ad hoc, ut trahas eum ad Dominum; et semper miserearis talibus (Franz von Assisi, Epistola ad ministrum, in: Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition, 2., erweiterte und verbesserte Auflage, besorgt von Engelbert Grau, Vorlage von Kajetan Esser (Spicilegium Bonaventurianum, 13), Grottaferrata 1989, S. 225– 236, hier: S. 232). 875 Siehe dazu Stefan Knobloch, Der von Gott Berührte. Franz von Assisi im Lichte seiner Schriften (Theologie der Spiritualität. Beiträge, 12), Münster 2007.

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wird, betont Knobloch den Gehorsam (obedientia), der dem Armutsideal vorgelagert sei.876 So wird beispielsweise im ersten Satz des ersten Kapitels der nichtbullierten Ordensregel zuerst der Gehorsam genannt, dann erst die Keuschheit und schließlich die Armut: Regel und Leben dieser Brüder ist dieses, nämlich zu leben in Gehorsam, in Keuschheit und ohne Eigentum.877 Der dabei geforderte Gehorsam implizierte für Franz kein blindes Befolgen von Regeln, sondern, wie Knobloch mit Blick auf das Testament des Franz erläutert, einen auf Gott bezogenen Gehorsam, der eine »konsequente Orientierung der Brüder an Gott«878 sei. Dahinter verberge sich im Sinne einer Nachfolge Christi und Orientierung am Evangelium (wie in der bullierten Regel erwähnt) ein Handeln in Barmherzigkeit, die demjenigen zuteilwerde, der seine Sünden erkenne und um Vergebung bitte. Obwohl Agnes Blannbekin Franz von Assisi nicht zitiert oder gar namentlich anführt, liegt bei ihr ein deutlicher Bezug auf seine Überzeugungen vor. Diese Anlehnung an seine Schriften ist umso interessanter, als die Jungfrau die Gemeinschaft der Minderbrüder an deren eigene Grundsätze erinnerte und deutlich eine Rückkehr bzw. verstärkte Hinwendung zu diesen Überzeugungen anmahnte. Obgleich davon auszugehen ist, dass die Jungfrau durch die Unterweisungen ihres Beichtvaters Kenntnis von den Grundlagen franziskanischer Lebensweise erhalten hatte, sind diese Prinzipien in der Niederschrift ihrer Visionen so formuliert, als handelte es sich um Wissen, das der Jungfrau von Gott während ihrer Visionen eingegeben worden wäre. Der Beichtvater, der an anderen Stellen gelegentlich selbst als Interpret in Erscheinung tritt, rückt in den Kapiteln 107 und 116 in den Hintergrund. Die vertraute und profunde Kenntnis der Jungfrau von der franziskanischen Gemeinschaft, ihren Werten, aber auch ihren einzelnen Mitgliedern soll hier im Vordergrund stehen. Auch die nach-

876 Siehe dazu Knobloch (wie Anm. 875), S. 9. 877 Franz von Assisi, Nicht-bullierte Regel, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Leonhard Lehmann, in: Franziskus-Quellen hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 69– 93, hier: c. 1, S. 70. Regula et vita istorum fratrum haec est, scilicet vivere in obedientia, in castitate et sine proprio (Franz von Assisi, Regula non bullata, in: Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, hrsg. Grau und Esser (wie Anm. 874), S. 373–404, hier: S. 377). In der späteren bullierten Regel hat sich zwar die Reihenfolge der Gelübde verändert, jedoch wird auch hier der Gehorsam an erster Stelle genannt: Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesu Christus heiliges Evangelium zu beobachten durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit (Franz von Assisi, Bullierte Regel, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Leonhard Lehmann, in: Franziskus-Quellen, hrsg. Berg und Lehmann (wie Anm. 281), S. 94–102, hier: c. 1, S. 94). Regula et vita Minorum Fratrum haec est, scilicet Domini nostri Jesu Christi sanctum Evangelium observare vivendo in obedientia, sine proprio et in castitate (Franz von Assisi, Regula bullata, in: Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, hrsg. Grau und Esser (wie Anm. 874), S. 363–372, hier: S. 366–367). 878 Knobloch (wie Anm. 875), S. 22.

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folgende Geschichte spiegelt diese Verbindung zwischen Gemeinschaft und Jungfrau wider. Sie begegnet im Doppelkapitel 227/228,879 in dem ein guter Bruder namens Erlolf (unus bonus frater, nomine Erlolfus) und dessen Tod Erwähnung finden. Bruder Erlolf pflegte wohl in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Verhältnis zur heiligen Agnes, vermutlich der als Märtyrerin verehrten, die im 3. Jahrhundert als Jungfrau in Rom gelebt hatte. Die Überschneidungen mehrerer zentraler Lebensdaten zeugen von Erlolfs enger Verbindung, denn er wurde am Agnestag (dem 21. Januar) geboren, trat an ihm in den Orden der Minderbrüder ein und verstarb an eben diesem Tag während der Messe (quod in die Agnetis fuit natus et in ipsius die intravit ordinem fratrum minorum et tandem in ipsius beatae virginis festo mane, cum esset incepta missa publica, migravit ad dominum). Mit einer Marginalie merkt Pez in seiner Edition an, dass sich die Vision des Kapitels 227/228 wohl im Jahr 1294 ereignet haben müsse, was aufgrund anderer, datierter Visionen und eines Handschriftenvergleiches bestätigt werden kann.880 Obgleich die Jungfrau an keiner Stelle der Erzählung beim Namen genannt wird, scheint die Betonung der Agnes-Verehrung im fraglichen Kapitel auch auf den Namen der Wiener Jungfrau zu verweisen; zudem wird das wertschätzende Verhältnis zwischen ihr und Bruder Erlolf herausgestrichen: Diesen Bruder liebte diese Jungfrau, welche die oben erzählten Offenbarungen hatte, wegen dieses genannten Bruders Erlolf Andacht und Heiligkeit sehr im Herrn.881 Nachdem die Jungfrau lange über den Tod des Bruders geweint hatte, erschien ihr dieser in einer nächtlichen Vision. Sie sah ihn nackt neben der heiligen Agnes stehen, die von einer Schar nackter Jungfrauen umgeben war. Offenkundig konnten aus einer solchen Beschreibung falsche Schlussfolgerungen gezogen werden, weshalb der Text – hier vermutlich der Beichtvater – mit einem Kommentar auf die richtige Lesart hinweist:

879 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 466–473. 880 Zu Beginn des Kapitels wird auf folgende Marginalie verwiesen: Hinc videntur incipere visiones A. 1294 (Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 290). Die letztgenannte Jahreszahl vor diesem Kapitel findet sich im 223. Kapitel. Hier heißt es: Anno domini MCCLXXXXII. in festo sancti Michaelis (Vis. c. virg., Cap. 223, S. 458). Aufgrund der vorherigen Nennung des Pfingsttages 1292 korrigiert Pez zum Michaelistag 1294. In der Lilienfelder Handschrift findet sich rechts auf fol. 69 v auch das Jahr 1294 angegeben. 881 Hunc fratrem haec virgo, quae supradictas revelationes habuit, propter ipsius fratris dicti Erlolfi devotionem et sanctitatem multum in domino dilexit (Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 468 und (deutsche Übersetzung:) S. 469).

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Jene Nacktheit nun war nicht nur nicht unkeusch oder brachte für die Augen der Schauenden etwas Unangenehmes, sondern bot dem Herzen dieser Jungfrau große Annehmlichkeit, Schicklichkeit und Freude.882

Die Nacktheit soll hier bewusst und deutlich nicht als sündhaft oder unkeusch verstanden werden, vielmehr als ein Zustand völliger Reinheit nach der Loslösung von aller Materialität und weltlichen Vergehen, die dem Einzelnen im Diesseits anhaften könnten. Es wird hier nicht von einem ursprünglich fehlerfreien Zustand prälapsarischer Zeit berichtet, sondern eine Reinheit geschildert, die (wieder) zu erreichen nach irdischen Verfehlungen und trotz dieser bei Barmherzigkeits- und Gnadenerweis – nach Sündenbekenntnis und Buße – möglich sei. Es scheint allerdings durchaus nötig gewesen zu sein, auf diese bestimmte Lesart mit Nachdruck hinzuweisen, was zugleich eine andere, eben sexuelle Lesart impliziert und diese als möglich plausibilisiert. Dies bestätigt sich im Kapitel 132, das von nackten Religiosen handelt und deren Nacktheit als ein Zeichen leichter Sitten darstellt. Zwar seien die Religiosen keine Verbrecher (non criminosi), aber leichtsinnig im Scherzen (sed sic leves in jocis), wodurch sie untauglicher für Gnade würden (fiunt magis inhabiles ad gratiam).883 Das Vergehen des Scherzens soll später ausführlicher diskutiert werden, es lässt sich jedoch bereits an dieser Stelle konstatieren, dass nackt auch für etwas Negatives, Sexuelles stehen konnte, weshalb es im Falle des Bruders Erlolf wichtig war, dessen Nacktheit letztlich positiv zu verstehen. Es ist auffällig, dass in den Visionen einer gewissen Jungfrau häufig Szenen mit nackten Männern, Jungfrauen oder Priestern und sexuelle Bilder, wie die Vorhaut Christi auf der Zunge oder der Tropfen eines Priesters, begegnen. Dabei ist deren Doppeldeutigkeit nicht nur für moderne Leser/-innen offenkundig – anderenfalls hätte Agnes’ Beichtvater nicht den erwähnten Zusatz vornehmen müssen. Es scheint, dass die häufige Verwendung sexueller Bilder und Erwähnung entsprechender Vergehen zu einem barmherzigen Umgang mit sexuellen Verfehlungen aufrufen soll. Dies wird den Rezipienten/-innen im Kontext des Kapitels 227/228 anhand eines auf sie bezogenen Beispiels vor Augen geführt, in dessen Rahmen sie zunächst selbst eine sexuelle Deutung einer Vision vorneh882 Illa quoque nuditas non solum non erat indecens vel fastidium intulit oculis intuentis, sed magnam placentiam, decentiam et laetitiam cordi ipsius virginis praebuit (Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 468 und (deutsche Übersetzung:) S. 469). 883 Cap. CXXXII. De monachis nudis. Quodam mane post matutinum facta est super eam manus domini, et vidit in visione homines nudos omnino, et erant religiosi. Et datum est ei intelligere, quod essent illi religiosi, qui, cum deberent aedificare suo exemplo proximum, eum suis levibus moribus deaedificant. Et ut ei datum est intelligere, isti erant non criminosi, sed sic leves in jocis et trumphis, quae, licet aliquando fiant absque mortali peccato, tamen in religiosis sunt magis reprehensibilia et expoliant eos gratia et merito, quae talibus subtrahuntur. Ipsi enim eo ipso fiunt magis inhabiles ad gratiam (Vis. c. virg., Cap. 132, S. 298).

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men. Dann werden sie, wie um sie zu überführen, mit Hilfe der Erklärungen des Beichtvaters über die sexuelle Ebene hinaus, auf eine spirituelle Ebene und weitergehendes Verstehen der Vision hinausgehoben. Rezipienten/-innen sollen so aus ihrer eigenen Verwirrung heraus die Verfehlungen anderer barmherzig (zu) beurteilen (lernen). Eine solche didaktische Absicht fügt sich zum oben beschriebenen Appell zur Barmherzigkeit durch Gehorsam. Auch bei der Geschichte des nackten Bruders Erlolf, der von einer Schar nackter Jungfrauen umgeben war, ging es um dessen Reinheit und Verbindung zu den Grundüberzeugungen des Ordens. Erlolf sprach in der Vision mit der Jungfrau und berichtete ihr schließlich von seiner Namensänderung: ›Ich bin der Bruder Ehrenvoll und werde nun nicht mehr Erlolf geheißen, sondern Ehrenvoll.‹/ ›Ego sum frater Erenvol et nunc non dicor Erlolfus, sed Erenvol.‹884 Aus dem Bruder Erlolf (Erlolfus) wurde ein Bruder mit dem volkssprachlichen Namen Ehrenvoll (Erenvol). In seiner Edition merkt Pez in einer Marginalie zum Namen Erenvol an: vox Germanica, significans plenum honoribus.885 Wenn Erenvol in der Volkssprache voll von Ehre bedeutet, wie Pez erläutert, scheint es lohnend auch Erlolfus auf seine volkssprachliche Bedeutung hin zu überprüfen. Erlolfus beinhaltet, wie auch Pez zu Erenvol andeutet, das mittelhochdeutsche Wort êre, für Ehre im Sinne von Ansehen, Stellung oder Gesinnung steht.886 Das mittelhochdeutsche lol bezeichnet einen Laien und in der Verbindung lolbruoder einen Laienbruder oder Begarden.887 Für das Suffix -fus kann kein mittelhochdeutscher Wortbezug hergestellt werden, vielmehr scheint es sich um eine Latinisierung bei der Niederschrift durch den Beichtvater zu handeln. Auch in anderen Kapiteln werden Brüder beim Namen genannt, wie Otto im 39., Nikolaus (Nicolaus) im 172. und, im selben Kapitel wie Erlolfus (227/228), dessen Gefährte (collega) Siegried Coufarius (Syfrid[us] Coufari[us]). In der nur bei Pez überlieferten Nachtragsnotiz wird der Name Ermenrich (Ermenricus) erwähnt. Bereits Dinzelbacher weist darauf hin, dass es sich bei allen diesen Namen, außer Nicolaus, um deutschsprachige handelt.888 Keiner der genannten Brüder änderte jedoch seinen Namen und wies in dem Zusammenhang auf eine variierende Bedeutungsebene hin, wie es Erlolf/Ehrenvoll wohl tat. Was genau hat es nun aber mit dessen Namensänderung auf sich, die auf den ersten Blick verwirrt, weil Erlolf sich selbst als Bruder (frater) apostrophierte, von 884 Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 468 und (deutsche Übersetzung:) S. 469. 885 Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, hrsg. Pez (wie Anm. 16), S. 292. 886 Siehe dazu den Eintrag ÊRE, in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 1: A-L, bearbeitet von Wilhelm Müller. Mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann, Leipzig 1854–1866 (Nachdruck: Stuttgart 1990), Sp. 442 b-444 b. 887 Siehe dazu den Eintrag BRUODER, lolbruoder, in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 1 (wie Anm. 886), Sp. 271 a. 888 Siehe dazu Dinzelbacher, Die Wiener Minoriten (wie Anm. 31), S. 188.

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seinem Ordenseintritt erzählte und -lol- zugleich auf einen Laienstand hinweist? An dieser Stelle könnte man über die Laienbrüder zu Lebzeiten des Franz von Assisi spekulieren, über die Verzweigung der franziskanischen fraternitas nach dessen Ableben sowie über die Klerikalisierung der Bruderschaft. Alle diese Entwicklungen sind wie ein vielschichtiges Gewebe, dessen detailgenaue Erforschung auch die Diskrepanz zwischen päpstlicher Normgebung und lokaler Ordenspraxis zu unterschiedlichen Zeiten beachten müsste.889 Ob man mit einer solchen Erörterung der Geschichte des Bruders Erlolf gerecht würde, bleibt allerdings zu bezweifeln. Vielmehr scheint mit dem Handlungsverlauf genau auf die Unschärfe, bewusst mit der Doppeldeutigkeit der Geschichte des Bruders Erlolf, angespielt zu sein, indem der bereits ehrenhafte Laie und als Bruder angesprochene Erlolf nach dem Tod zum Bruder Ehrenvoll wurde. Es lohnt sich auch, sich mit der Fortsetzung der Geschichte zu beschäftigen, denn ähnlich wie in der zuvor erwähnten Erzählung über die Klosterflucht wurde der Jungfrau auch dieses Mal gezeigt, dass einem Sünder vergeben, er begnadigt und in diesem Fall sogar geehrt wurde. Die Jungfrau fragte ihn, ob er nach seinem Tod lange Schmerzen erduldet habe. Dieser lobte daraufhin die Tränen890 der Jungfrau 889 Eine generelle Übersicht zur geschichtlichen Entwicklung der Franziskaner und ihrer Zweige erstellt Lehmann, Franziskaner (Konventualen, Kapuziner) und Klarissen (wie Anm. 864), S. 143–192. Die schematische Gegenüberstellung der Begriffe »Kleriker« und »Laie« kritisiert Schreiner, der darin die Festschreibung von Wert- und Sozialhierarchien sieht, die die Existenz komplexer Sozial- und Bildungsverhältnisse überdecke. Vor allem mit der Etablierung der Bettelorden und der Verbreitung der Volkssprache im religiösen Bereich habe die Unterscheidung nach Klerikern und Laien nicht länger entlang einer deutlichen Rechtsgrenze erfolgen können, sondern vielmehr gemäß dem Erwerb religiösen Wissens und theologischer Bildung. Siehe dazu Klaus Schreiner, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hrsg. Klaus Schreiner (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 20), München 1992, S. 1–78. Ebenfalls mit einem Fragezeichen versah die im Jahre 1996 in Freiburg (Schweiz) stattfindende Tagung den Antagonismus zwischen Klerikern und Laien; siehe dazu Pfaffen und Laien – ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996, hrsg. Eckhart Conrad Lutz und Ernst Tremp (Scrinium Friburgense, 10), Freiburg (Schweiz) 1999. Eine generelle – 1993 in deutschsprachiger Übersetzung erschienene – Darstellung zu Laien im hier untersuchten Zeitraum legt 1987 der französische Mittelalterhistoriker Vauchez vor; siehe dazu André Vauchez, Gottes vergessenes Volk. Laien im Mittelalter. Aus dem Französischen übersetzt von Petra Maria Schwarz, Freiburg im Breisgau 1993. 890 Es handelt sich um ein ausführliches Lob der Tränen, denen dabei unter Bezug auf Augustinus ein großes Gewicht beim Strafnachlass im Jenseits zukommt. Der folgende Textauszug entstammt der Rede des Erenvol, in der er sich an die Jungfrau wandte: ›[…] Et tu, dilecta mea, tuis lachrymis praestitisti mihi refrigerium contra incendium ignis. Nam una lachryma fusa ex fervida charitate tantam praestat indulgentiam poenarum et amplius quam decem annorum poenarum, testante beato Augustino, qui dicit: »O lachryma, quanta est tua potentia? Vincis invincibilem, ligas omnipotentem, plus vales quam decem anni purgatoriales.«‹ / ›[…] Und du, meine Liebe, hast mit […] deinen Tränen eine Erleichterung

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sowie die Gebete und Messen der Gemeinschaft der Minderbrüder, die ihm im Jenseits Strafnachlass und die Verkürzung seines Aufenthaltes in den Strafregionen verschafft hätten. Die Jungfrau ging auch noch einen Schritt weiter und erkundigte sich bei Bruder Ehrenvoll nach der Stellung des Ordens der Minderbrüder. (Tunc haec virgo interrogavit de statu ordinis et merito, cujus videlicet meriti esset ordo suus, in quo ipse deo servierat.891) Bruder Ehrenvoll antwortete, Gott habe alle Minderbrüder in erhöhte Würde genommen, die im Leben die Ordnung und Regel der Minderbrüder befolgt hätten – besonders wegen der Armut und des Gehorsams dieses Ordens. (›In sublimiori dignitate‹, inquit, ›sunt apud deum et honore omnes fratres minores, qui servant in vivendo ordinem et regulam minorum, praesertim propter paupertatem et obedientiam hujus ordinis.‹892) Dabei beschreibt er die Stellung der Minderbrüder bei Gott unter bestimmten Bedingungen als herausragende: Grundvoraussetzung hierfür bilde zunächst die Einhaltung der Ordensregel durch jeden einzelnen Bruder. Diese Einhaltung sei erstens mit der Wertschätzung des Armutsideals und zweitens der Erfüllung der Gehorsamspflicht gegeben, die, wie gezeigt, bereits in der nicht-bullierten und bullierten Ordensregel sowie anderen Schriften des Franz von Assisi zentrale Elemente der Ordenszugehörigkeit und Grundüberzeugung darstellten. Erstaunlich an der Vision des Kapitels 227/228 ist, dass nicht Gott oder eine Person, die bereits offiziell in den anerkannten und geprüften Kreis der Heiligen aufgenommen worden war, zur Jungfrau sprach. Im Gegenteil, es war ein ehrenhafter Laie, der ihr über die Bewertung des Ordens Auskunft gab. Daraus ist zweierlei abzuleiten: erstens die Hochschätzung der Regeltreue und des Armutsideals sowie zweitens die Achtung gegenüber Laien innerhalb der Gemeinschaft der Minoriten. Die Anerkennung der Laien findet sich noch an weiteren Stellen in den Visionen einer gewissen Jungfrau. Im 123. Kapitel erhält die Jungfrau Einblick in das Befinden unterschiedlicher Menschen. Dabei wurden diese zwar entsprechend ihrem Stand in Kleriker oder Religiose geschieden, doch das war nicht das ausschlaggebende Distinktionsmerkmal. Die Unterscheidung erfolgte auch innerhalb der Statusgruppen aufgrund moralischen Verhaltens. So gab es böse Priester (mali sacerdotes), die nackt und tiefschwarz waren und deren Brust mit

gegen den Feuerbrand geschaffen. Denn eine aus glühender Liebe vergossene Träne schafft so viel und mehr Strafnachlaß, wie zehn Jahre Pein, was der sel. Augustinus bezeugt, der sagt: »Oh Träne, wie groß ist deine Macht! Du besiegst den Unbesiegbaren, bindest den Allmächtigen, vermagst mehr als zehn Jahre im Fegefeuer.«‹ (Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 470 und (deutsche Übersetzung :) S. 471). 891 Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 470. 892 Vis. c. virg., Cap. 227/228, S. 470.

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menschlichem Kot beschmiert war,893 aber auch wahrhaft gute Priester (sacerdotes vero boni), mit Licht und Tugenden versehen. Diese Teilung spiegelte sich bei den Diakonen und Subdiakonen sowie den guten und bösen Eheleuten wider. (Et similiter conjugati boni et mali distincti erant.) Zwar sind Böses und Gutes in der Darstellung deutlich voneinander zu unterscheiden: Die Bösen erschienen nämlich schmutzig und schändlich, die Guten aber hübsch geschmückt, und die einen mehr, die anderen weniger, gemäß ihren Verdiensten.894

Gleichwohl lassen die beiden Pole (böse und gut) verschiedene Abstufungen erkennen, die gemäß den irdischen Verdiensten (secundum merita) ausfielen. Dies bedeutete im Umkehrschluss auch, dass beispielsweise Vergehen aufgrund vorher erfolgter Priesterweihen schwerer wogen: Manche erschienen von schrecklichem Aussehen, und, wie sie sagte, die bösen Priester erschienen furchtbarer als die übrigen Sünder, so daß auch sie selbst erschrak, […].895

In einer anderen Vision wird von Lärmenden und Streitenden auf der Welt berichtet. Dabei sah die Jungfrau Könige (reges), Fürsten (principes) und Mächtige der Welt (potentes seculi) – Laien ebenso (tam laicos) wie Kleriker (quam clericos) – beteiligt, und keiner, ganz egal welchen Status oder Rang er bekleidete, war allein aufgrund seiner weltlichen Position erhaben.896 An dieser Stelle sei kurz ein Resümee gezogen, denn was sich bisher jenseits der olfaktorischen Spurensuche eröffnet hat, ist ein weiterer Blick auf Grenzüberschreitungen durch die Jungfrau. Sie sah in ihren Visionen exklusiv, wie einzelnen – zum Teil namentlich genannten – gefallenen Ordensmitgliedern (Laien- und anderen Brüdern) im Jenseits oder Diesseits wieder Gnade und sogar Ehre zuteilwurde. Die Jungfrau nutzte in diesen Kontexten ihre Handlungspotentialität, die ihr aufgrund ihrer visionären Fähigkeiten gegeben war, und erwirkte oder bezeugte barmherziges Verhalten und das Erteilen von Gnadenerweisen. Auffällig ist, dass sie dabei zur (Rück-)Besinnung auf Überzeugungen mahnte, die Franz von Assisi vorgelebt, in Briefen niedergeschrieben und in Regelwerken für die Gemeinschaft der Brüder festgelegt hatte. Die Handlungspotentialität der Jungfrau erstreckte sich diesbezüglich auf mehrere Bereiche: Erstens zeigte sie sich in der persönlichen Verflechtung mit einzelnen Mitglie893 Erant autem mali sacerdotes toto corpore nudi et nigerrimi. […] Circa pectus eorum erant delibuti stercore humano, quod significat foeditatem concupiscentiae cordis eorum (Vis. c. virg., Cap. 123, S. 276). 894 Mali enim foedi et turpes apparebant; boni vero decenter ornati, et alii magis, alii minus secundum merita eorum (Vis. c. virg., Cap. 123, S. 278 und (deutsche Übersetzung:) S. 279). 895 Quidam autem apparuerunt terribili aspectu, et, ut dixit, sacerdotes mali caeteris peccatoribus horribiliores apparuerunt, ita ut etiam ipsa terreretur; […] (Vis. c. virg., Cap. 123, S. 276 und (deutsche Übersetzung:) S. 277). 896 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 157, S. 336.

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dern der Gemeinschaft der Minderbrüder, von denen sie als Bezugsperson bei Fürbitten oder als Vermittlerin von Einblicken in individuelle Werdegänge angesehen wurde. Zweitens bewies die Jungfrau infolge ihrer fundierten Kenntnis franziskanischer Werte »agency« im Zuge der ihr zuteilwerdenden Visionen, mit deren Hilfe sie die Position einer Mahnerin gegenüber der Ordensgemeinschaft einzunehmen vermochte. In beiden Hinsichten ging ihre Handlungspotentialität mit Grenzüberschreitungen einher, die die Jungfrau jedoch durch göttliche Legitimation untermauerte und damit verstärkte. Auch in den nachfolgenden Beispielen für Visionen der Jungfrau werden ihr Verfehlungen von Ordensmitgliedern gezeigt; was dabei hinzukommt, ist eine olfaktorische Ebene, die nun analysiert werden soll.

IV.3.e Lachen und Blumen: Vergehen eines Bruders Wie sich gezeigt hat, schildert die Jungfrau die Gemeinschaft der Minderbrüder und einzelne ihrer Mitglieder nicht nur positiv, obgleich einigen in ihren Visionen Gnade für ihre Vergehen erwiesen wird. In anderen Fällen ist allerdings nicht einmal die Hoffnung auf Gnadenerhalt gegeben, wie das Kapitel 88 zeigt: Über wortreiche Vergnügungen und Gelächter und anderes dieser Art bei Religiosen. Danach kam sie zu sich zurück, und als der vorgenannte Priester vom Altar wegging, kam ein anderer Bruder statt seiner, willens, die Messe zu lesen. Und unter der Messe wieder in den Geist gekommen, schien es ihr, daß jener die Messe lesende Bruder Kronen von weißen Rosen habe, die derselbe Bruder brach und zerpflückte. Sie aber wunderte sich, was das denn wäre. Und es wurde ihr gesagt: ›Die weißen Rosen bezeichnen die Heiligkeit des Lebens dieses Bruders. Daß er aber die Rosen zerpflückt, bezeichnet wortreiche Vergnügungen, die Gelächter und Lachen erregen, die im Anblick Gottes seiner Heiligkeit sehr schändlich sind.‹ Und die Stimme fügte hinzu, indem sie sagte: ›Es ist sehr tadelnswert, und es missfallen Gott an den Religiosen Leichtfertigkeiten dieser Art, weil darin viele Lügen verbreitet werden, wie sehr auch im Scherz.‹897

897 Post haec ad se reversa est, et recedente fratre praedicto ab altari, supervenit alius frater volens missam legere; et sub missa iterum facta in spiritu, visum est ei, quod ille frater missam legens haberet coronas de albis rosis, quas idem frater fregit et dissipavit. Ipsa autem mirabatur, quidnam hoc esset. Et dictum est ei: ›Rosae albae significant sanctitatem vitae hujus fratris. Quod autem rosas dissipat, significat verbosa solatia, cachinnos et risus excitantia, quae in conspectu dei multum nociva sunt suae sanctitati.‹ Et adjecit vox divina dicens: ›Valde est reprehensibile, et displicent deo in religiosis hujusmodi levitates, quia in talibus multa proferuntur mendacia, quamvis jocosa.‹ (Vis. c. virg., Cap. 88, S. 206- und (deutsche Übersetzung:) S. 207).

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Wiederum in die Vision genommen (iterum facta in spiritu), erfährt die Jungfrau von einer Stimme, dass die Verfehlungen eines Bruders darin bestünden, wortreiche Vergnügungen (verbosa solatia) zu suchen, die Gelächter und Lachen erregen (cachinnos et risus excitantia).898 Diese verbalen Vergnügungen und eine leichtfertige Art seien der göttlichen Heiligkeit sehr abträglich (in conspectu dei multum nociva sunt suae sanctitati), weil sich darin Lügen verbreiteten. Symbolisiert würden die Vergehen des Bruders durch dessen Zerstörung von Kronen aus weißen Rosen, über die der Bruder in der Vision verfügte (haberet coronas de albis rosis […]. Quod autem rosas dissipat, significat verbosa solatia). Bevor das Symbol der Blumen – und der Rosen im Speziellen – analysiert wird, sollen die verbalen Vergnügungen, die Scherze und das Lachen in den Mittelpunkt rücken, denn mehrfach sind sie es, die bei Agnes Blannbekin Verfehlungen darstellen. Neben den im 88. Kapitel geschilderten verbosa solatia, cachinnos et risus excitantia, also wortreichen Trostworten,899 die lautes Gelächter und Lachen hervorriefen, ist von ähnlichen Verfehlungen und zusätzlichen Nachlässigkeiten der Brüder auch im Kapitel 93 die Rede: Es fügte der Herr auch hinzu, indem er sagte: ›Darin wird der Herr reichlich beleidigt und wird ihm Unehrerbietung erweisen, daß, obwohl dieser Orden in so großer Heiligkeit und Vollkommenheit gegründet wurde, die Brüder so nachlässig den Herrn und die Gottesgnade suchen.‹ Da brachte sie überlegend in ihrem Herzen zur Verteidigung der Brüder vor, daß sie in dauerndem Gotteslob seien; wie also suchten sie nicht die Gottesgnade. Und die Stimme antwortete dies: Dieses Wort ziele nicht gegen alle Brüder, sondern gegen die schlaffen, welche die Ordensrechte hüten und zu beachten gezwungen sind, und nichtsdestoweniger für Scherze und Tändeleien Zeit haben und die Gnade vernachlässigen, die der Herr bereit ist, ihnen entgegenzubringen, wenn sie selbst andächtig suchten.900

In die Vision genommen, hörte die Visionärin Gott sagen, dass, obgleich der Orden in großer Heiligkeit und Perfektion gegründet worden sei (ordo iste sit in tanta sanctitate et in perfectione fundatus), die Brüder nachlässig darin seien, den Herrn und seine Gnade zu suchen (quod tam negligenter fratres requirunt 898 Vis. c. virg., Cap. 88. S. 206 und (deutsche Übersetzung:) S. 207. 899 Dinzelbacher und Vogeler übersetzen solatia mit Vergnügungen, was eine durchaus schlüssige Interpretation ist, da solatia vom lateinischen Wort solacium kommt, das Trost(worte), aber auch Zuflucht oder Ersatz, Entschädigung bedeuten kann. 900 Addidit quoque dominus dicens: ›In hoc dominus satis offenditur, et irreverentia ei exhibetur, cum ordo iste sit in tanta sanctitate et in perfectione fundatus, quod tam negligenter fratres requirunt dominum et gratiam dei.‹ Tunc ipsa cogitans allegavit in corde suo pro fratribus, quia ipsi essent in continua laude dei, quomodo ergo non requirerent gratiam dei. Et vox haec respondit verbum hoc intendere contra fratres, non omnes, sed contra remissos, qui jura ordinis custodiunt et coguntur servare, nihilominus jocis et trufis vacant et negligunt gratiam, quam dominus paratus esset offerre eis, si ipsi requirent devote (Vis. c. virg., Cap. 93, S. 218 und (deutsche Übersetzung:) S. 219).

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dominum et gratiam dei). Diese Kritik treffe nicht alle Brüder, sondern war eine gezielte Kritik gegen die Ordensoberen, denn deren eigentliche Aufgabe sei es, die Ordensrechte zu wahren und ihnen zu dienen. Unter Vernachlässigung dieser Pflicht machten sie jedoch Scherze. Bevor auf das Vergehen des Scherzens eingegangen werden soll, muss hier erneut ein franziskanischer Grundsatz betont werden, der bereits oben Thema war und nun nochmals deutlich zum Ausdruck kommt: das Gehorsamsgebot. Den Ordensoberen wird an dieser Stelle vorgeworfen, die Gnade zu vernachlässigen, mit der der Herr ihnen begegne, falls sie ihn andächtig suchten. Damit wird deutlich, dass die Ordensoberen gegen das Gebot des Gehorsams verstießen und deshalb vor allem den Erweis von barmherziger Gnade vernachlässigten. Der Zusatz wenn sie selbst andächtig suchten – eigentlich: suchen werden – (si ipsi requirent devote) impliziert, dass die Ordensoberen eben nicht an einer solchen Suche interessiert waren. Dafür spricht auch, dass diese ihre Zeit nicht mit der Christussuche verbrachten, im Gegenteil ihre Zeit mit Scherzen und Albernheiten füllten. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff jocis benennt – mit der Pluralform des lateinischen iocus – Scherze. Das durch et beigeordnete trufis hingegen leitet sich vom mittellateinischen Verb trufare (bzw. seinen Varianten truffa¯re oder trussa¯re) ab, das betrügen, täsuchen, verlachen oder verspotten bedeuten kann.901 Ähnlichkeiten finden sich zum mittelhochdeutschen Verb trufieren, trofieren, das für täuschen oder betrügen steht.902 Auch im 117. Kapitel findet sich im Adjektiv truphatoriis (spöttische) eine Variante dieses latinisierten mittelhochdeutschen Ausdrucks, wenn die Scherze und das Gelächter des Guardians als Vergehen dargestellt werden, obgleich der Angesprochene als ein Freund Gottes gilt: ›Obwohl du ein Freund Gottes bist, sündigst du viel durch spöttische und lächerliche Worte, die zu Zerstreuung und Gelächter anregen. Du machst es so wie eine Wäscherin, welche die Tücher wäscht und sie in der Sonne mit großer Sorgfalt bleicht und nachher dieselben Tücher in den Schmutz tritt.‹903

Auch hier ist es ein mit einer Führungsaufgabe betrauter Bruder, nämlich der Guardian, der mit Scherzen als Vergehen in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig ist auch hier das Verletzen der Ordensregeln mit dem Bild der Wäscherin symbolisiert, die ihre Tücher zuerst säubert und sorgfältig in der Sonne bleicht, 901 Siehe dazu Gerhard Köbler, Lateinisches Abkunfts- und Wirkungswörterbuch für Altertum und Mittelalter, 2. Auflage, 2009, http://www.koeblergerhard.de/Latein2/latein-t.doc (zuletzt aufgerufen am 20. 10. 2020). 902 Siehe dazu den Eintrag trufieren, trofieren, in: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 2 (N-U), Leipzig 1876 [Nachdruck Stuttgart 1992], Sp. 1537–1538. 903 ›Cum sis amicus dei, multum offendis truphatoriis et ridiculosis verbis dissolutionem et cachinnum provocantibus. Facis quemadmodum lotrix, quae lavans pannos dealbat eos in sole cum magna diligentia ac postea eosdem pannos in lutum calcat.‹ (Vis. c. virg., Cap. 117, S. 260 und 262 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 261).

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sie danach jedoch selbst wieder in den Schmutz tritt. Waren es also die Scherze, die die Bemühungen um Regelbefolgung ins Gegenteil umschlagen ließen? Eine weitere Nennung von jocis et trumphis findet sich im bereits angeführten 132. Kapitel über die nackten Religiosen, in dem diese Scherze und Dummheiten verdammt werden. Obgleich sie, wie es dort heißt, bisweilen ohne Todsünde (aliquando […] absque mortali peccato) geschähen und die Religiosen dadurch keine Verbrecher (non criminosi) würden, seien Scherze und Dummheiten besonders bei Religiosen tadelnswert, da sie diese der Gnade beraubten und ihnen die Verdienste entzögen, die fromme Religiose eigentlich erwürben.904 In allen vier angeführten Beispielen werden Scherze als Vergehen dargestellt, jedoch meist anders beschrieben bzw. benannt. Im Kapitel 88 sind verbosa solatia, cachinnos et risus excitantia wortreiche Trostworte, die lautes Gelächter und Lachen hervorrufen, in den Kapiteln 93 und 132 joc[i] et truf[ae] respektive joc[i] et trumph[ae] Scherze und Tändeleien/Dummheiten sowie im Kapitel 117 truphatori[a] et ridiculos[a] verb[a] schließlich verspottende und lächerliche Worte, die Zerstreuung und lautes Gelächter provozieren (dissolutionem et cacchinnum provocantibus). Als negativ daran galt zeitgenössisch aber zunächst das Erzeugen von lautem oder gar derbem Gelächter, das dann Zerstreuung hervorrief, die sich wiederum als hinderlich für die Konzentration auf die Andacht erwies, die man Gott entgegenbringen sollte; zudem stand die Zerstreuung der Gnade im Wege, die von Gott zu erlangen oder anderen zu erweisen war. Die Verdammung von Gelächter aufgrund von in der Gemeinschaft geteilten Scherzen dürfte bei vielen modernen Lesern/-innen eine belletristische Assoziation mit dem 1980 zunächst auf Italienisch erschienenen Roman Il nome della rosa905 von Umberto Eco wachrufen. Auch wenn das Szenario darin fiktiv ist, vermittelt die Figur des strengen Benediktinermönches Jorge de Burgos, der sich über das Gelächter seiner Mitbrüder beschwert und die Verbreitung einer aristotelischen Schrift über die Bedeutung des Lachens verhindern will, die Alterität mittelalterlicher Einstellungen zum Lachen. In seinem Essay Das Lachen im Mittelalter plädiert der französische Annales-Historiker Jacques Le Goff für eine Beschäftigung mit dem Phänomen des Lachens aus geschichtswissenschaftlicher Sicht.906 Seither erfolgten einzelne historische Betrachtungen oder museale Aufarbeitungen.907 Die meisten Abhandlungen skizzieren dabei zwei konträre 904 Siehe dazu Vis. c. virg., Cap. 32, S. 298–299. 905 Zwei Jahre später erschien die deutsche Ausgabe von Ecos Roman; siehe dazu Umberto Eco, Im Namen der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 1982. 906 Siehe dazu Jacques Le Goff, Das Lachen im Mittelalter. Mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider. Aus dem Französischen von Jochen Grube, Stuttgart 2004 (französische Originalausgabe: 1999). 907 Zuletzt erschien eine umfangreiche phänomenologische Studie über das Lachen, die durchaus versucht, mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen zu beantworten; siehe dazu

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Auffassungen des Lachens in der christlichen Normenwelt. Auf der einen Seite stand eine positive Betrachtung des Lachens, die sich vor allem aus der aristotelischen Tradition speiste. Aristoteles sieht das Lachen als genuin menschlichen Wesenszug an, wie er in seiner Schrift Über die Teile der Tiere erläutert.908 Demgegenüber stand in der christlichen Vorstellungswelt die Ablehnung des Lachens, die von der Frage ausging, ob Jesus zu Lebzeiten gelacht habe.909 Die Fragestellung zeugt vom hohen Stellenwert des Vorbildcharakters, den das irdische Leben Jesu für die Religionspraxis der Gläubigen besaß. Biblische Belege, vor allem aus dem Neuen Testament, die Auskunft über Jesu Lachen auf Erden geben, sind rar bis nicht vorhanden, sodass das Bild Jesu als eines »ausgesprochen ernsten Religionsstifter[s]«910 entstand. Die Folge daraus war nicht ein generelles und durchgängiges Verbot des Lachens, vielmehr können unterschiedliche Perioden des Lachverbotes ausgemacht werden. Die erste Periode eines christlich-monastischen Lachverbots verortet Le Goff vom 4. bis 10. Jahrhundert, in denen das Lachen habe unterdrückt und erstickt werden sollen. Unterschiedliche monastische Regeln, besonders aus dem östlich-byzantinischen Raum, verdammen das zügellose laute Lachen, und auch in der benedik-

Lenz Prütting, Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens, 4. Auflage als erweiterte Neuausgabe (Neue Phänomenologie, 21), Freiburg im Breisgau [u. a.] 2016. Im Jahr 2012 fand im bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum zu Mainz eine Ausstellung zum Thema ›Lachen‹ statt. Der dazugehörige Ausstellungskatalog vereint die museale Aufbereitung mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung; siehe dazu Seliges Lächeln – Höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters [Ausstellungskatalog, anlässlich der Ausstellung im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Mainz vom 27. April 2012 bis 16. September 2012], hrsg. Winfried Wilhelmy, Regensburg 2012. Ebenfalls 2012 erschien die in Bamberg eingereichte Dissertation Bießeneckers, die sich aus einer soziokulturellen und kulturhistorischen Perspektive dem Lachen im Mittelalter zuwendet; siehe dazu Stefan Bießenecker, Das Lachen im Mittelalter. Soziokulturelle Bedingungen und sozial-kommunikative Funktionen einer Expression in den ›finsteren Jahrhunderten‹, Bamberg 2012. 908 In Bezug auf die körperliche Konstitution erläutert Aristoteles, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das lachen könne: Another indication that the midriffs manifestly produce perception when quickly heated up is what occurs in regard to laughter. […] And mankind alone is ticklisch both because of the thinness of his skin and because he is the only one of the animals that laughs. […] Now the claim about laughing when the midriffs are struck is a likely one, since none of the other animals laughs (Aristoteles, On the Parts of Animals, übersetzt und mit Kommentaren von James G. Lennox, Oxford 2001, 3, 10 (673 a), S. 69–70). 909 Le Goff verwies in diesem Kontext 1999 auf den heute umstrittenen Lentulus-Brief, den er als apokryphes Evangelium bezeichnete, das angeblich über die Kirchenväter und das griechische Mönchtum Einfluss auf die christliche Lehre genommen habe. Le Goff führte diesen Verweis als Ergebnis seiner Lektüre des 1948 erschienenen Werkes »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter« von Ernst Robert Curtius an; siehe dazu Le Goff, Das Lachen im Mittelalter (wie Anm. 906), S. 47. 910 Gerd Ueding, Rhetorik des Lachens, in: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur, hrsg. Thomas Vogel, Tübingen 1992, S. 24–44, hier: S. 37.

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tinischen Regel zeigt sich eine kritische Haltung dem Lachen gegenüber.911 Danach zu urteilen, wurde das Lachen als etwas zu Vermeidendes betrachtet, dem man allenfalls mit Mäßigung nachgeben solle. Das Lachen, erzeugt durch Scherze oder Witze, sei meist Ausdruck einer sündhaften Geisteshaltung – maßlos und töricht. Mit der Verbreitung volkssprachlicher Literatur begann allerdings eine andere Periode, in der das Lachen vor allem in weltlichen Kreisen befreit und kontrolliert stattfinden konnte. Le Goff benennt noch mehrere Entwicklungsphasen, und auch wenn seine Periodisierung dabei eher vage ist und auf einer dünnen Quellengrundlage fußt, zeigt sich deutlich, welche unterschiedlichen Schattierungen des Lachens im Untersuchungszeitraum wahrgenommen wurden. Es sei in dieser Hinsicht vor allem auf den grundlegenden Unterschied zwischen Lächeln und Lachen in der mittelalterlichen Kommunikation hingewiesen: Dem maßlosen, törichten und zügellosen Lachen, stand das maßvolle Lächeln gegenüber, das niemanden verletzte und ein Kennzeichen der Seligen und Heiligen sein konnte.912 In den oben angeführten Beispielen aus den Visionen einer gewissen Jungfrau spiegelt sich die monastische Tradition der Verdammung des Lachens, das als 911 Genauer als bei Le Goff erfolgt die Aufzählung von Textstellen zum Lachen aus monastischen Regeln bei Winfried Wilhelmy, Das leise Lachen des Mittelalters. Lächeln, Lachen und Gelächter in den Schriften christlicher Gelehrter (300–1500), in: Seliges Lächeln – Höllisches Gelächter (wie Anm. 907), S. 38–55, hier: S. 40–44. 912 Diese elementare Unterscheidung von Lachen und Lächeln fand auch in steinernen Bildnissen ihren Ausdruck, wie sich beispielsweise am Fürstenportal des Bamberger Doms zeigt. In dem um 1230 fertiggestellten Tympanon dieses Fürstenportals befindet sich eine Weltgerichtsdarstellung, bei der Christus, in der Mitte des Bildfeldes sitzend und mit seinen Wundmalen versehen, als Richter auftritt. Zu seinen Füßen kniend, sind die Gottesmutter Maria und Johannes der Täufer angeordnet. Zu Jesu rechter Seite finden sich Selige (in Anlehnung an Mt 25,34), denen ihre Sünden nach dem Tod vergeben und die ins Himmelreich aufgenommen wurden. Unter ihnen ist eine Gruppe von drei kleinen Figuren besonders auffällig, die ihre Hände betend halten und auf deren Gesichtern ein seliges Lächeln zu erkennen ist. Auf Jesu linker Seite sind die Verdammten dargestellt (in Anlehnung an Mt 25,41), darunter befinden sich, unverkennbar mit entsprechenden Attributen versehen, ein König, ein Bischof – vermutlich ein Papst – und eine Figur mit einem Sack voller Geld. Der Teufel zieht seine Ketten um diese Personengruppe, deren Körperhaltung seltsam verkrampft wirkt. Nicht nur ihre Körper wirken verzerrt, auch ihre Gesichter, vor allem ihre Münder sind zu einem bizarren Lachen geformt und zeigen ihre Zähne. Die am Bamberger Beispiel erkennbare Unterscheidung in seliges Lächeln und höllisches Lachen ist kein Einzelfall, sondern auch an vielen anderen Weltgerichtsportalen in Stein gemeißelt worden, so an demjenigen des Domes in der umbrischen Stadt Orvieto, an dem das höllische Lachen besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Für eine ausführliche kunsthistorische Beschreibung des Bamberger Fürstenportals sei hier hingewiesen auf Stefan Albrecht, Das Portal als Ort der Transformation. Ein neuer Blick auf das Bamberger Fürstenportal, in: Der Bamberger Dom im europäischen Kontext, hrsg. Stephan Albrecht (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien. Vorträge und Vorlesungen, 4), Bamberg 2015, S. 243–295. Bießenecker führt ebenfalls das Bamberger Fürstenportal als Beispiel an; siehe dazu Bießenecker (wie Anm. 907), S. 19–22 und zum figürlichen Lachen, S. 205–218.

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etwas Negatives gesehen wurde, was möglichst vermieden werden sollte. Im Kapitel 88 sind es Scherze, die weiße Rosen zerstörten, was die Frage nach der Blumensymbolik aufwirft. Im genannten Falle zerpflückte der Bruder selbst sein mittels Rosen dargestelltes tugendhaftes Leben, was für sein eigenes sündhaftes Verschulden steht. Die Wirkmächtigkeit der Blumensymbolik findet in den Visionen einer gewissen Jungfrau noch an weiteren Stellen ihren Ausdruck. Zunächst kann dabei ein Kanon von Blumen festgestellt werden, die wiederkehrend erwähnt werden. Gleich zu Beginn des 12. Kapitels werden Rosen, Lilien, Veilchen und Feldblumen als Blumenschmuck genannt.913 Auch im Kapitel 28 finden sich verschiedene Pflanzen angeführt, namentlich Rosen und Veilchen.914 Das 203. Kapitel benennt Blumen folgender Gattungen: Ein anderer Haufen erschien, wie gemischt aus verschiedenen Farben und Blumen, also Rosen, Lilien, Veilchen und anderen und bezeichnet die Keuschheit.915

Der Blumenkanon umfasst demnach zumeist Rosen, Veilchen und Lilien als konkrete Blumensorten. Neben den wiederkehrenden Blumenarten sind Blumen mit ihren Farben (wie weiß, generell bunt oder verschiedenfarbig) dargestellt. Des Weiteren werden die Blumen in allen Erwähnungen positiv konnotiert: Entweder bezeichnen sie Keuschheit (castitatem), wie im Kapitel 203, oder sie zieren Kronen, so im Kapitel 12, oder sie symbolisieren Verdienste äußerster Frömmigkeit (merita exteriorum exercitiorum). Im Kapitel 28 wird ein Extrakt aus Rosen, Veilchen und anderen Blumen als Heilmittel gegen den Aussatz (die Lepra) verwendet. Es wird dabei erklärt, dass der Aussatz durch die Sünde der Unkeuschheit entstanden sei; folglich erscheinen auch hier Rosen und Veilchen bei der Wiederherstellung der Keuschheit.916 Es sind also Frömmigkeit und Keuschheit, die durch bunte Blumen einen bildlichen Ausdruck finden. Dabei kann, zumindest innerhalb der Visionen der Agnes Blannbekin, keine einzelne Blume entweder nur der Keuschheit oder nur der Frömmigkeit zugeordnet werden. Vielmehr dienen Rosen, Lilien und/oder Veilchen (nicht selten im

913 Corona virginum erat varietate distincta et incredibiliter pulchra et praecipue quatuor florum generibus ornata, scilicet rosis et liliis, violis et flore campi. […] Istae coronae significabant merita exteriorum exercitiorum (Vis. c. virg., Cap. 12, S. 78). 914 De diversis herbis […] sicut de rosis, violis et similibus (Vis. c. virg., Cap. 28, S. 104). 915 Alius apparuit acervus quasi permixtus variis coloribus et floribus, puta rosis, liliis, violis et aliis, et significat castitatem (Vis. c. virg., Cap. 203, S. 418 und 420 sowie (deutsche Übersetzung:) S. 419 und 421). 916 Contra lepram dabat aquam diversarum manerierum de diversis herbis virtute ignis extractam verbi gratia, sicut de rosis, violis et similibus, et significat confusiones varias, quas incidunt luxuriosi, quibus revocantur et corriguntur a lepra luxuriae (Vis. c. virg., Cap. 28, S. 104).

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Verein) als Signum für ein allgemein tugendhaftes Verhalten oder das Gegenteil sündhaften Verhaltens. Rosen und Lilien wurden und werden häufig in der christlichen Symbolik verwendet. Zum einen stehen sie als figürliche Heiligenattribute für die gewahrte Keuschheit, wie etwa bei Josef von Nazareth oder Katharina von Siena.917 Zum anderen verweisen Blumen als narratives Element in Legenden auf die Tugendhaftigkeit und das gottgefällige Leben einer Person. So begegnen sie in der christlichen Erzähltradition des Rosenwunders, das Elisabeth von Thüringen widerfuhr. Danach bewahrten Rosen diese vor der Entdeckung ihres Ungehorsams gegenüber ihrem Mann und kennzeichneten ihre Tat zugleich als gute Handlung.918 In der spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Literatur, etwa bei Augustinus und Gregor von Tours, finden sich Blumen oftmals zum Zwecke der Beschreibung von Jenseitsorten. Rosen und Lilien schmücken das Paradies mit ihrem Duft und erinnern an Taten der Märtyrer/-innen oder Tugenden der Heiligen, wie die auf Erden bewahrte Keuschheit.919 Dabei symbolisieren die Blumen Keuschheit oder Frömmigkeit nicht unmittelbar. Sie sind ein narratives, gemaltes oder figürliches Abbild, das für einen Duft stehen soll. Die Blumen sind nur dessen Träger; der Duft bildet das eigentliche Signum für ein tugendhaftes Verhalten. Duft oder Wohlgeruch ist ein wiederkehrendes Motiv in der hagiografischen Literatur. Dabei ist es nicht Gott oder Jesus, der den Wohlgeruch verströmt, sondern er scheint von einzelnen Heiligen auszugehen. 917 Siehe dazu Hiltgart L. Keller, Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst, 10., bibliographisch neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2005, S. 633. 918 Am bekanntesten ist die Version, nach der sich Elisabeth den Vorgaben des thüringischen Fürstenhofes widersetzte und mit der Absicht in die Stadt Eisenach hinabstieg, Brot an Bedürftige zu verteilen. Bei diesem Vorhaben wurde sie von ihrem Mann Ludwig IV. ertappt, der sie aufforderte, ihren Korb zu zeigen. Elisabeth beteuerte daraufhin, lediglich Rosen in ihrem Korb zu haben, was sich beim Blick in denselben bestätigte. Die erste Erwähnung des Wunders in einer Lebensbeschreibung Elisabeths von Thüringen stammt aus der Zeit um 1250 und tritt in der lateinischen Elisabeth-Vita eines unbekannten Franziskaners aus der Toskana auf. Dieser Verfasser berichtet allerdings noch nicht von Rosen, sondern von Frühlingsblumen. Ort des Geschehens war laut ihm der ungarische Hof und Elisabeth noch ein Kind; siehe dazu Sylvia Weigelt, Elisabeth-Viten und Zeugnisse ihres Lebens vom 13. bis Anfang 16. Jahrhundert, in: Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts (wie Anm. 506), S. 19–22, hier: S. 20. 919 Siehe dazu Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien (wie Anm. 585), S. 119–120. Siehe dazu ferner Augustinus: Habet, habet, fratres, habet hortus ille dominicus, non solum rosas martyrum, sed et lilia virginum, et conjugatorum hederas, violasque viduarum. Prorsus, dilectissimi, nullum genus hominum de sua vocatione desperet: pro omnibus passus est Christus. Veraciter de illo scriptum est, Qui vult omnes homines salvos fieri, et in agnitionem veritatis venire [Hervorhebung im Original durch Kursivierung, J. S] (Augustinus, Sermones de Sanctis, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 5,1 (Migne PL, 38), Sp. 1247–1484, hier: Sermo 304 c. 3, Sp. 1396).

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Schon in der Frühphase des Christentums, in den ersten Märtyrerakten, findet der Wohlgeruch Erwähnung. So berichtet bereits die griechische Urfassung des Martyriums des Polykarp, Bischofs von Smyrna, dass sich bei dessen Feuertod ein Feuerwunder ereignet habe: Obwohl man den Körper Polykarps angezündet habe, sei er nicht verbrannt, sondern die Flammen hätten ihn wie eine Mauer umgeben und sein Fleisch sei verblieben wie Gold und Silber in einem Schmelzofen (like gold and silver proved in a melting-furnace). Währenddessen habe die umstehende Gemeinde einen süßen Wohlgeruch wie von duftendem Weihrauch wahrgenommen (perceived such a sweet fragrance as if from smoking frankincense).920 Der ausströmende Wohlgeruch widersprach jeglicher bekannten Geruchsbeschreibung von Feuer oder verbrennendem Fleisch, weshalb er hier als Zeichen eines nicht »ausgelöschten Lebens, seiner [= Polykarps, J. S.] Unvergänglichkeit und Heiligkeit«,921 verstanden werden sollte. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive beschäftigte die genannte Beobachtung des Wohlgeruchs 1919 bereits Ernst Lohmeyer, der in seiner Habilitationsschrift »Vom Göttlichen Wohlgeruch« dessen Rolle in den archaischen, jüdischen und christlichen Religionen erörtert.922 Den guten Geruch verwendet 1939 auch Waldemar Deonna als Suchund Ordnungskriterium bei seiner Sichtung hagiografischer Quellen. Sein daraus resultierendes Werk zeigt Deonna ganz als Kind seiner Zeit: Die umfassende und akribische Sammlung von Quellenmaterial bietet eine thematische Basis für weitere Forschung, was die erneute Veröffentlichung von 2003 unterstreicht.923 920 (15,1) When he had finished his prayer and sent upwards his ›Amen‹, the men in charge of the fire started to light it. A flame blazed up high and a wondrous miracle happened before their eyes: (15,2) the fire formed itself into the shape of a vault like a ship’s sail filled by the wind, and thus surrounded the martyr’s body with a wall. And he was inside it not like burning flesh, but like gold and silver proved in a melting-furnace. And from it we perceived such a sweet fragrance as if from smoking frankincense (Das Martyrium Polycarpi. Urfassung, in: Die Urfassungen der Martyria Polycarpi et Pionii und das Corpus Polycarpianum, 1: Editiones criticae, hrsg. Otto Zwierlein, mit armenisch-deutschem Text und englischer Übersetzung von Daniel Kölligan (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 116,1), Berlin [u. a.] 2014, S. 6–11, hier: c. 15,1–2, S. 11 und (griechische Version:) S. 10). In seiner Untersuchung zur Urfassung des Martyriums des Polykarp hat sich Otto Zwierlein mit den zahlreichen Interpolationen (Einschüben) zum oben angeführten Feuerwunder (MPol 15,2) beschäftigt. Zu einer genauen Erklärung der unterschiedlichen Bearbeitungsphasen sei hier verwiesen auf Otto Zwierlein, Die Urfassungen der Martyria Polycarpi et Pionii und das Corpus Polycarpianum, 2: Textgeschichte und Rekonstruktion. Polykarp, Ignatius und der Redaktor Ps.-Pionius (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 116,2), Berlin [u. a.] 2014, hier: S. 231–234, besonders S. 233, Fußnote 408. 921 Lohmeyer (wie Anm. 759), S. 48. 922 Siehe dazu Lohmeyer (wie Anm. 759). 923 Siehe dazu Waldemar Deonna, Euo¯dia. Croyances antiques et modernes: l’odeur suave des dieux et des élus. Introduction et épilogue par Carlo Cassola (Europa restitute, 1), Racconigi 2003.

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In einem kurzen Aufsatz widmet sich auch Kötting dem Wohlgeruch der Heiligkeit und folgert mit Blick auf Erzählungen über den Tod von Märtyrern, dass die Erwähnung des Wohlgeruchs in einer frühen Phase des Christentums als Element christlicher Lebensbeschreibung Einzug gehalten habe. Kötting verweist weiterhin auf die religionsgeschichtliche Entstehung dieses Motivs, das der spätjüdischen Tradition entstammt, in der der gewaltsame Tod eines Unschuldigen als ein Opfer aufgefasst worden sei.924 Anknüpfend an diese jüdische Opfertradition, sei im christlichen Sinn der gewaltsame Tod der Märtyrer als Opfer für die Botschaft Jesu Christi verstanden worden, das im Wohlgeruch seinen Ausdruck finde. Auch im etablierten Christentum fand der ausströmende Wohlgeruch beim Tod von Heiligen Erwähnung. Wenngleich die Heiligen nicht mehr wegen ihres Glaubens hingerichtet wurden, berichten die Quellen von ausströmendem Duft. Als regelmäßiges Motiv tritt er direkt nach dem Tod, bei der Graböffnung oder auch bei einer nachträglichen Translation von Reliquien in verschiedenen Jahrhunderten wieder auf. So wird Folgendes über die Öffnung des Grabes Godehards von Hildesheim im Mai 1132, fast hundert Jahre nach seinem Tod, berichtet: Dann wurde der Sarkophag geöffnet […] Ein gewisser göttlicher und unbekannter Geruch verströmte, sodass einige der Anwesenden von einer Art geistiger Süße erquickt wurden, und in dem vollkommenen Glauben seiner Heiligkeit bestärkte er sie.925

Auch die Vita Hildegards von Bingen schildert wunderbare Taten, die von ihrem Körper nach ihrem Tod am 17. September 1179 ausgegangen sein sollen. So seien zwei Gläubige zugleich von schweren Krankheiten geheilt worden, nachdem sie den Leichnam Hildegards berührt hätten. Außerdem wird ein Geruch von wunderbarer Süße beschrieben, den Hildegard von Bingen den Menschen bei ihrem Begräbnis hinterlassen habe: Auch stieg aus ihrem Grabe ein wunderbarer Duft auf, der Sinne und Brust vieler Menschen durchdrang. Daher hoffen und glauben wir ohne Zweifel, daß bei Gott ihr Andenken unsterblich ist, der ihr schon in diesem Leben den besonderen Vorzug seiner Gaben verlieh, wofür ihm Preis und Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.926 924 Siehe dazu Kötting (wie Anm 753), S. 173. 925 Eigene Übersetzung; Tum vero aperto sarcophago […] Divinus quidam et incognitus odor fragrabat, qui quosdam adstantes quasi quadam spiritali dulcedine refocillabat, et in perfecta fide sanctitatis ipsius eos corroborabat (Translatio Godehardi Episcopi Hildesheimensis, in: MGH SS, 12, hrsg. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1856 (unveränderter Nachdruck: Stuttgart 1995), S. 639–653, hier: 1132, Mai 4, S. 643. 926 Das Leben der heiligen Hildegard, berichtet von den Mönchen Gottfried und Theoderich. Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Adelgundis Führkötter, 2. Auflage, Salzburg 1980, Buch III, Kapitel 3,58, S. 132. Odor quoque mirae suavitatis de sepulchro ejus redolens, dulcedinis suae fragrantia aliquorum hominum nares perfundit et

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Ebenso wohlriechend soll der tote Körper Elisabeths von Thüringen bei der Graböffnung gewesen sein, obwohl Leichengestank erwartet worden sei: Denn der ehrwürdige Prior Ulrich hatte sieben Brüder mit sich genommen, das Kirchenportal geschlossen und in der Nacht die Graberde beiseite geräumt. Er öffnete das Grab und siehe! Als der Stein entfernt war, strömte von dem heiligen Leib ein solcher Wohlgeruch aus, dass alle von der Lieblichkeit dieses Duftes erquickt, voller Staunen gemeinsam Gott priesen. Denn sie fanden den heiligen Leib völlig unversehrt und unverwest, von dem sie doch wussten, dass er nicht mit Spezereien einbalsamiert gewesen war. […] Und sie staunten noch mehr darüber, dass ein äußerst lieblicher und wohlriechender Duft von dem Körper ausgehen konnte, der schon fast fünf Jahre bestattet war, dass doch solche Körper in der Regel ganz übel riechen. Scheint es auch da nicht, als sage die Dienerin Christi damit: ›Meine Narde gab ihren Wohlgeruch?‹ Die Narde ist ein Kraut von warmer Natur; es veranschaulicht die Liebe dieser Heiligen, deren Tugend eine solche Gnade verdient hat.927

Viele weitere Beispiele aus der hagiografischen Literatur könnten diese Aufzählung fortsetzen,928 doch zeigt die getroffene Auswahl bereits eine Tendenz: Zunächst wird sowohl Frauen als auch Männern ein postmortaler Duft nachgesagt. Außerdem versammeln die aufgelisteten Fälle nicht nur päpstlich-kanonisierte Heilige des Mittelalters: Godehard von Hildesheim wurde 1131 von Papst Innozenz II. und Elisabeth von Thüringen bereits ein Jahr nach ihrem Ableben von Papst Gregor IX. im Mai 1232 heiliggesprochen, Hildegard von pectora. Speramus itaque et indubitanter credimus, apud Deum esse memoriam immortalem, qui in hac vita donorum suorum prærogativam ei contulerat specialem, cui laus sit et honor in secula seculorum, Amen (Vita [Hildegardis virginis] auctoribus Godefrido et Theodorico monachis, in: AA.SS. Septembris, 5, 3. Auflage, Paris [u. a.] 1866, Die decima septima Septembris [17. September], S. 679–697, hier: III c. 3,58, S. 696–697. 927 Nam venerabilis vir Ulricus, prior loci, assumptis secum VII fratribus, ostio ecclesiae clauso, nocte reiecta terra sepulcrum aperuit, et ecce! tanta fragrantia lapide amoto de sacro corpore esserbuit, ut omnes odoris illius suavitate recreati, in admirationem versi, Deum collaudarent. Nam ipsum sacrum corpusculum, quod aromatibus noverant non fuisse conditum, totum invenerunt integrum et incorruptum. […] Et in hoc multo amplius mirabantur, quod suavissimus et aromaticus odor de corpore vix per quinquennium sepulto exire potuit, cum hujusmodi corpora plurimum feotere soleant. Nunquid non vobis ex hoc ipso famula Dei dicere videtur: ›Nardus mea dedit odorem suum?‹ Nardus herba est calide nature, caritatem beate illius exprimens, cuius virtus gratiam talem promeruit (Caesarius von Heisterbach, Sermo de Translatione Beate Elyzabeth, in: Das Leben der Heiligen Elisabeth (Vita Sancte Elyzabeth Lantgravie, Sermo de Translatione Beate Elyzabeth) [Deutsch/Latein], hrsg. und übersetzt von Ewald Könsgen, ergänzt durch: Summa Vitae Konrads von Marburg, Libellus de dictis quatuor ancillarum Sancte Elisabeth confectus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 67. Kleine Texte mit Übersetzungen, 2), Marburg 2007, S. 93–115, hier: 4, S. 104–105). 928 Waldemar Deonna hat im Anhang zu seinem Werk, allerdings ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, Märtyrer- und Heiligenlegenden zusammengestellt, in denen Duft nach dem Tod der Heiligen Erwähnung findet; siehe dazu Deonna (wie Anm. 923), ab S. 93.

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Bingen hingegen erfuhr zwar eine starke volksfrömmige Verehrung, wurde aber erst im Jahr 2012 von Papst Benedikt XVI. in den anerkannten Kreis der Heiligen aufgenommen. Gleichwohl kann konstatiert werden, dass die diskutierten Geruchsdarstellungen Personen betrafen, die aufgrund ihres gottgefälligen Lebens schon sehr früh im Ruf der Heiligkeit standen. Auch wenn eine päpstliche Kanonisierung zum Teil erst nach Jahrhunderten erfolgte, diente ihre Lebensweise den Gläubigen bereits vor oder bald nach ihrem Tod als Vorbild. Ihre hagiografischen Lebensbeschreibungen sollten die kultische Verehrung der betreffenden Personen von vornherein befördern. Dass es sich hierbei um stereotype und normative Beschreibungen handelt, die eher das Ziel hatten, die Heiligkeit ihrer Protagonisten/-innen zu beweisen und deren Kult zu befördern, als tatsächliche biografische Begebenheiten zu schildern, ist angesichts der Quellengattung evident.929 Der in der hagiografischen Literatur beschriebene Geruch wurde zumeist erst wahrnehmbar, nachdem – in Anlehnung an die Auferstehung Jesu930 – ein Stein vor dem Grab entfernt worden war. Der daraufhin ausströmende Duft ging anscheinend vom toten Körper oder den Knochen der heiligen Person aus. Sein Wesensmerkmal ist das starke Ausströmen, das ganze Kirchen und Klöster erfüllen konnte, wodurch Bewunderer angezogen wurden. Die Duftqualitäten werden in den besagten Lebensgeschichten zumeist mit süß, wunderbar, himmlisch oder sogar göttlich angegeben. All dies sind Eigenschaften, die denjenigen aus Beschreibungen des göttlichen Wohlgeruchs entsprechen. Dennoch ist in den Viten mehr als eine Assoziation mit göttlichem Wohlgeruch beabsichtigt, da dieser gemäß christlicher Deutung nicht nur von Gott und Christus ausging, sondern laut dem zweiten Korintherbrief 2,14–16 auch von den Anhängern/-innen Christi, und zwar aufgrund seiner Weitergabe von Gott an Jesus, die Apostel, die Heiligen und an Menschen, die ein beispielhaftes gottgewolltes Leben führten.931 Außerdem dürften die Beschreibungen des Wohlgeruchs, der von den toten Leibern oder Reliquien ausging, zweifelsohne auch Verweise auf ein corpus incorruptum sein. Die auch Jahrzehnte nach dem Tod vorgefundene Unversehrtheit nicht konservierter Körper gilt bis heute als ein Kriterium der kirchlichen Heiligsprechung.932 Der postmortale Erhalt der Körper ist als »Gabe Gottes, ge929 Anmerkungen zur Quellengattung der Heiligenviten finden sich u. a. bei Edeltraud Klueting, Fromme Frauen – unbequeme Frauen? Weibliches Religiosentum im Mittelalter (Hildesheimer Forschungen. Tagungs- und Forschungsberichte aus der Dombibliothek Hildesheim, 3), Hildesheim [u. a.] 2006, S. 3–6. 930 Siehe dazu Mk 16,1–4. 931 Siehe dazu auch die Ausführungen von Deonna (wie Anm. 923), S. 35–36. 932 Die Idee des Corpus incorruptum führt Angenendt ausführlich aus; siehe dazu Arnold Angenendt, Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung,

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schenkt aus seiner Gnade«,933 zu verstehen, die, von Gott ausgehend, sich über Jesus auch auf diejenigen übertragen könne, die vor ihrem Tod ein gottgefälliges Leben geführt hätten. Demgemäß spielten bei diesem Gnadenerweis diesseitige Taten eine wesentliche Rolle, denn wie Angenendt aufzeigt, sei »die Inkorruptheit besonders oft […] bei Märtyrern und […] Enthaltsamen«934 festzustellen gewesen. Somit zeugte der Duft bei Heiligen besonders von praktizierter Enthaltsamkeit, guten Taten oder der Hingabe des eigenen Lebens zur Verbreitung des Christentums. Deonna folgert allgemeiner, dass der Duft die Gerechten erkennbar gemacht und ihr tugendhaftes Leben dadurch ausgezeichnet habe.935 Ebendiese Dufttheologie, vermutlich über Heiligenbilder oder hagiografische Legenden rezipiert, verwendete auch Agnes Blannbekin in ihren Visionen. Blumen dienten ihr als Symbol eines materialisierten Wohlgeruchs, dem tugendhaftes Verhalten, besonders Frömmigkeit und Keuschheit, zugrunde lag.

IV.3.f Gerochenes und Moralisches: entgrenzte Autoritäten Die Fähigkeit Agnes’, einen Bruder am Geruch zu erkennen, war der Umstand, den die Untersuchungen der vorangegangenen Kapitel maßgeblich zu ergründen suchten. Dafür wurde zunächst mit einer werkimmanenten Suche nach olfaktorischen Beschreibungen von Geistlichen begonnen. Dabei konnte besonders deutlich am Beispiel des göttlichen Akteurs, der in einer Vision als Lamm in Erscheinung trat, zum einen gezeigt werden, dass der gute Geruch von Menschen (im fraglichen Falle: Priestern) im Werk ein Indiz für göttliche Anwesenheit sein kann. Zum anderen mag der dabei erwähnte Geruch ein persönliches oder gruppenspezifisches olfaktorisches Profil mit der Möglichkeit liefern, auf innere, moralische Haltung zu schließen. Um die Singularität der Verwendung von olfaktorischen Profilen zu überprüfen, wurde ein Vergleich mit anderen ausgewählten Texten von Frauen durchgeführt. Die vergleichende Analyse von Visionen Hildegards von Bingen und Mechthilds von Magdeburg konnte zeigen, dass auch diese Frauen geruchliche Profile für bestimmte Personengruppen – jedoch nicht für Einzelpersonen – verwenden. Es ist davon auszugehen, dass der dabei beschriebene Geruch keine olfaktorische Entsprechung in der Wirklichkeit hat(te), sondern einen sozialen Geruch darstellt, der ein Indiz für die Bewertung kollektiver moralischer in: Arnold Angenendt, Die Gegenwart von Heiligen und Reliquien. Eingeleitet und hrsg. Hubertus Lutterbach, Münster 2010, S. 109–144, hier: S. 109. 933 Angenendt, Corpus incorruptum (wie Anm. 932), S. 131. 934 Angenendt, Corpus incorruptum (wie Anm. 932), S. 130. 935 Siehe dazu Deonna (wie Anm. 923), S. 36.

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Olfaktorik und Entgrenzung in den und durch die Visionen

Verhaltensweisen (hier: von Geistlichen wie Mönchen, Domherren oder Priestern) liefert. Je nachdem, ob der Geruch als Duft oder Gestank beschrieben bzw. gewertet wurde, war damit ein Urteil über eine entsprechende Personengruppe verbunden. Bei der Interpretation des Geruchs ist der Einfluss der sozialen Lebenswirklichkeit der Riechenden nicht zu vernachlässigen. Wie erkennbar wurde, wirkten sich persönliche Verflechtungen mit oder Animositäten gegenüber einer Gruppe prägend auf die Erstellung geruchlicher Profile aus. Aus diesen Feststellungen lässt sich insgesamt ableiten, dass die olfaktorischen Profile einzelner Gruppen nicht übertragbar, sondern individuell mit der jeweils riechenden oder, genauer gesagt, der Geruchswahrnehmungen äußernden Person verbunden waren. Wie gezeigt, bedient sich Hildegard von Bingen in der Ausformulierung olfaktorischer Profile nur weniger Nuancierungen und verfährt nach einem bipolaren Schema: Für sie gibt es das olfaktorisch Gute, das mit einer guten, Christus nachfolgenden Lebensweise einhergeht, und das olfaktorisch Schlechte, das sich aufgrund moralischen Fehlverhaltens entwickelt. Auch Mechthild von Magdeburg akzeptiert diese dichotome Ausrichtung von Gut und Schlecht und verbindet sie mit Geruch. Gleichwohl gestaltet sie geruchliche Profile von Geistlichen anders, indem sie bekannte Bilder christlicher Symbolsprache verwendet, die auch die Ebene einer olfaktorischen Metaphorik miteinbeziehen. Dabei entsteht ein Geruchssystem, das eine breitere Palette olfaktorischer Stufungen zwischen Wohlgeruch und Gestank eröffnet. Individualität und persönliche Beziehungen schwingen auch in den olfaktorischen Profilen der Agnes Blannbekin mit. Mehrere Untersuchungsergebnisse konnten eine Einbindung der Jungfrau in die (Gebets-)Gemeinschaft der Minderbrüder belegen. Dabei trat die Jungfrau oft als Mahnerin oder auch als Vermittlerin von Gnade auf, wobei ihre Handlungspotentialität größer war als die der Minderbrüdergemeinschaft. Gleichzeitig legitimierte sie ihre ›agency‹ durch die von Gott gegebenen Visionen und nicht aus sich selbst heraus. Folgte man der These von der Jungfrau als einer literarisch geschaffenen Person, ließe sich von einer bewusst konstruierten Handlungsfreiheit beispielsweise bei der Äußerung globaler Kritik an Ordensmitgliedern mit Führungsaufgaben sprechen, die der Jungfrau aufgrund ihrer Position als Visionärin eingeschrieben wurde. Dieser These deutlich entgegen stehen jedoch das Individuelle sowohl in der Kritik als auch in den personenbezogenen Verflechtungen – beginnend bei des Beichtvaters Bitte um Fürsprache bei Gott bis hin zum besonderen Verhältnis, das die Jungfrau mit dem (Laien-)Bruder Erlolf verband. Persönliche Verbindungen zu einzelnen Minderbrüdern sowie die profunde Kenntnis ihrer Ordensgrundsätze verschafften Agnes Blannbekin eine Autorität, die sie als Mahnerin und Beraterin in religiösen Anliegen hervortreten ließ.

Entgrenzte Autoritäten: gerochene Verfehlung in der Betrachtung der Minoriten

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Für die einleitenden Fragen zu Agnes’ Geruchserkennung einzelner Brüder konnten aus Vergleichen sowie der Analyse ihres Verhältnisses zur Gemeinschaft mehrere Erkenntnisse gewonnen werden: Erstens vermag das von Agnes einem Bruder zugeschriebene olfaktorische Profil ein Indiz für dessen moralisches Verhalten zu sein. Zweitens war die Konzeption sozialen Geruchs unter Verwendung olfaktorischer Metaphorik – wie der von Blumen als Zeichen des Wohlgeruchs – aus dem gängigen christlichen Symbolspektrum auch Agnes Blannbekin geläufig, und sie setzte diese Metaphorik gelegentlich ein. Drittens nutzte sie jedoch bei der Erwähnung des olfaktorischen Profils einzelner Brüder keine geläufigen Metaphern oder die Vorstellung eines sozialen Geruchs, vielmehr wird berichtet, dass sie wahrhaftig etwas roch. Gleichzeitig machte sie weder dem Beichtvater noch anderen Rezipienten/-innen gegenüber Angaben dazu, was sie gerochen hatte. Es ist davon auszugehen, dass der Geruch eines Bruders für Agnes Blannbekin tatsächlich ein Erkennen implizierte. Zum einen war es für sie aufgrund ihrer persönlichen Vertrautheit mit den Minderbrüdern möglich, einen jeweiligen Bruder namentlich zu identifizieren. Zum anderen handelte es sich um ein weitergehendes, wahrhaftes Erkennen des Bruders hinsichtlich seiner inneren Haltung, die im individuellen olfaktorischen Profil zum Ausdruck kam und von Agnes Blannbekin gelesen werden konnte. Die Kategorien ›gut‹ und ›schlecht‹ sind dabei keine von Agnes Blannbekin verwendeten Zuschreibungen, denn ihr ging es im Falle des Geruchs eines Bruders nicht mehr um eine reine Geruchszuschreibung, wie Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg sie intendierten. Agnes Blannbekin war am Erkennen im Sinne eines vollkommenen Erfassens und Begreifens einer Person aufgrund ihres olfaktorischen Profils gelegen, das für sie zum Ausdruck dieser Person schlechthin wurde. Es scheint, dass sie dabei ihrem Beichtvater keinen Einblick in die Art und Weise gewährte oder zu gewähren vermochte, wie eines ihrer olfaktorischen Profile zu lesen und zu verstehen sei, da der Beichtiger in diesem Zusammenhang keine weiteren Erklärungen zur Verfügung stellte oder zu stellen vermochte. Die individuelle Handlungsmacht, die die Jungfrau dadurch ausüben mochte, überschritt jegliche soziale Grenze ihrer weiblichen Rolle innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft und lag jenseits der internen Strukturen einer abgeschlossenen Brüdergemeinschaft. Mit dieser Handlungsmacht war sie eine Autorität, die klassische Maßstäbe, Schemata und Grenzen hinter sich ließ und überwand. Ihre spezifische ›agency‹ lag dabei im Olfaktorischen begründet. Es ist demnach nachvollziehbar und wohlüberlegt, dass der Beichtvater die Fähigkeit der Jungfrau, einen Bruder am Geruch zu erkennen, mit dem Wort mirabile kommentierte. In dessen Bedeutungsvarianten flossen die ausdrücklich anerkennende Verwunderung und das sonderbare Erstaunen des Beichtvaters über eine wunderbare Gewohnheit der Jungfrau zusammen.

V.

Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung – eine Verbindung zwischen Handschriften und Inhalt

Bei den Visionen einer gewissen Jungfrau handelt es sich um ein einzigartiges Werk, das die religiösen Erfahrungen einer Jungfrau, niedergeschrieben durch ihren Beichtvater, wiedergibt. Aufgrund des engen Arbeits- und Interaktionsverhältnisses zwischen den beiden entstand ein vielschichtiges Gedankenkonstrukt, das einerseits klassische Topoi des weiblich-religiösen Äußerns – wie die Betonung der eigenen Unwissenheit und Unwürdigkeit oder die Verwendung von Elementen aus weiblichen Heiligenviten – beinhaltet. Andererseits weisen die Visionen einer gewissen Jungfrau individuelle religiöse Anschauungen, Wertvorstellungen und Interpretationen auf, die durchaus über geläufige normative Vorstellungen zur Entstehungszeit des Werkes hinausgehen oder diesen sogar entgegenstehen. Dies betrifft sowohl die scharfe Kritik an Ordensoberen, die Mahnung zu einem allgemein gnädigeren gegenseitigen Umgang, den Appell zu barmherziger Haltung speziell gegenüber sexuellen Verfehlungen als auch die Art und Weise der rituell-sozialen Kommunikation. Ebenfalls auffällig an den Visionen einer gewissen Jungfrau ist die besondere Rolle der Olfaktorik, sei es die herausgehobene Stellung bzw. Bedeutung des Geruchs im Vergleich zu den übrigen Sinnen oder auch das markante Auftreten geruchlicher Phänomene. Wie gezeigt wurde, eröffneten sich der Jungfrau gerade dank der Olfaktorik ungewöhnliche Handlungsmöglichkeiten und -wege. Die vorgelegte Untersuchung hatte weder das Ziel ein holistisches und abgeschlossenes Bild der Agnes Blannbekin zu zeichnen, noch sollte sie eine Analyse und Deutung jeder einzelnen ihrer Visionen bieten. Vielmehr sind die Visionen einer gewissen Jungfrau unter einem sinnesgeschichtlichen Aspekt betrachtet worden, der sich besonders dem Geruch zuwandte. Durch die vorgelagerten Beobachtungen und theoretischen Überlegungen, dass dem Olfaktorischen eine wesentliche Rolle in der Kommunikation mit Gott und im sozialen Miteinander zukommt, wurde die Annahme überprüft, ob sich für die Jungfrau im Geruch und durch den Geruchssinn Handlungspotentialitäten eröffneten. Dabei war es nötig, einen strukturalisierenden Ansatz zu verwerfen und sich den Visionen

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Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung

einer gewissen Jungfrau stattdessen zunächst textimmanent zuzuwenden und dabei die religiöse Individualität der Agnes Blannbekin in den Blick zu nehmen. Für die Erörterung dessen war es in einem ersten Schritt erforderlich, Klarheit hinsichtlich der Quellenüberlieferung zu erlangen, weshalb alle bekannten und gegenwärtig verfügbaren Handschriften vorgestellt wurden. Daran schloss sich eine Skizze der zentralen Personen im Werk an, der Jungfrau Agnes Blannbekin und ihres Beichtvaters. Diese Charakterisierungen wurden vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen (wie dem Beginentum und der Etablierung der Minoriten in Wien) vorgenommen und mit einer Darstellung des Entstehungsund Arbeitsprozesses der Niederschrift abgerundet. Auf Grundlage der neuen Textzeugenzusammenstellung zeigte sich, dass geläufige Einordnungen wie die Benennung der Jungfrau als Agnes Blannbekin sowie ihr Beginenstand nicht zweifelsfrei belegbar sind. Die Charakterisierung der Jungfrau gestaltete sich ebenfalls schwierig, da diese nur durch die Hand des Bruders nachgezeichnet wurde. Dabei verschwimmt die Trennungslinie zwischen dem Wissensstand des Beichtvaters und dem geistigen Horizont der Jungfrau. Was in dieser Hinsicht zunächst wie ein konzeptuelles Problem anmutet, scheint bei genauerem Hinsehen absichtsvoll tief in den Visionen zu liegen, gleichsam in diese eingeschrieben zu sein, denn die beiden Beteiligten einte nicht nur die Arbeit an der Niederschrift, sondern auch ein reziprokes Seelsorgeverhältnis. Von Rezipienten/-innen sollte jedoch die Jungfrau als fromme und visionär begnadete Sprecherin und der Beichtvater als deren Schreiber und Berater verstanden werden. Die beschriebenen Überschneidungen lassen auch die Frage aufkommen, welcher Quellengattung die Visionen einer gewissen Jungfrau zuzurechnen ist. Im Zeitalter der Postmoderne mag man diese Idee der Klassifikation ablehnen, doch Vorteil einer solchen Einordnung kann die erleichterte Arbeit mit der Quelle sein. Darauf verweisen – mit alternierender Bezeichnung – viele Einführungen in das geschichtswissenschaftliche Arbeiten,936 denn die Erörterung der Intention, die sich auf den Vorgang der Erstellung richtet, und die Erörterung des Zwecks, welcher sich in der Verwendung zeigt, sind nötige Schritte in der Bewertung einer Quelle. Bereits 1985 setzt sich Dinzelbacher hinsichtlich der Visionen einer gewissen Jungfrau mit derartigen Bestimmungen auseinander und bezeichnet das Werk nach einem Vergleich mit ähnlichen Schriften als »Typ religiösen Schrifttums 936 Stellvertretend für die stets wachsende Anzahl von Handbüchern sei hier die Einführung in die Geschichtswissenschaft von Gabriele Lingelbach und Harriet Rudolph angeführt, die den Begriff der »Motivation« für Kategorien vorschlagen, die hier mit »Intention« und »Zweck« benannt werden. Die Autorinnen unterscheiden weiter nach primären und sekundären Motivationen. Siehe dazu Gabriele Lingelbach und Harriet Rudolph, Geschichte studieren. Eine praxisorientierte Einführung für Historiker von der Immatrikulation bis zum Berufseinstieg, Wiesbaden 2005, S. 116.

Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung

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zwischen Vita und Offenbarungsschrift«.937 Diese, so erläutert er weiter, beinhalteten einerseits einen biografischen Anteil und andererseits einen Teil Offenbarungsliteratur. Solche Zwischenformen, bei denen die Gewichtungen der Anteile variieren könnten, seien vom 13. Jahrhundert an sowohl im deutschen als auch im italienischen und französischen Raum in lateinisch-, später auch volkssprachlicher Mystik aufgetreten.938 Außer in einer »neuen Sensibilität«,939 die sich ab dem 12. Jahrhundert verbreitet und den inneren Bedürfnissen eines Menschen zugewandt habe, sieht Dinzelbacher Gründe für die Verbreitung dieses Schrifttypus zum einen in der wachsender Aufmerksamkeit von Aufzeichnern, die es der Nachwelt ermöglicht hätten, Kenntnis von dieser Sensibilität und den sie Erfahrenden zu erhalten, und zum anderen im Interesse am »neue[n] Erleben« von Christus- und/oder Gottesnähe sowie in der gesteigerten Beachtung der Seele und Empfindungen.940 Folgt man Dinzelbachers Überlegungen und formuliert einen Begriff für diese Mischform, könnte man die Visionen einer gewissen Jungfrau, wie bereits Stoklaska vorgeschlagen hat, eine »Offenbarungsvita«941 nennen, was gleichzeitig zum Ausdruck bringt, dass der Anteil der Offenbarungen gegenüber dem der biografischen Elemente weitaus überwiegt. Mit welcher Intention und zu welchem Zweck die Visionen einer gewissen Jungfrau erstellt wurden und an welches Publikum sie gerichtet waren, wurde anhand unterschiedlicher Thesen diskutiert: und zwar des Inhalts, dass mit Blick auf die Person Agnes Blannbekin entweder die Darstellung eines beispielhaften Lebens als Grundlage eines Kanonisationsprozesses oder die Vorstellung eines neuen vorbildhaften Lebensmodells mit Elementen der ›imitatio sanctorum‹ als Kennzeichen des Gnadenerhalts der Jungfrau beabsichtigt gewesen sei. In Bezug auf die Wiener Minoriten wurde die These einer Art Eigenwerbung hinterfragt,942 die vor allem vor dem Hintergrund betrieben worden sein mag, dass sich zeitgenössische Auseinandersetzungen mit dem Weltklerus und anderen Anbietern im Bereich der Seelsorge und Betreuung von Frauen ereignet haben könnten. Kombiniert man diese Diskussionen mit der Bewertung der Handschriften, die im Ergebnis zur Teilung der Manuskripte in zwei Textgruppen führte, kommt 937 938 939 940 941

Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 162. Siehe dazu Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 162. Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 175. Siehe dazu Dinzelbacher, Die ›Vita et Revelationes‹ (wie Anm. 26), S. 175. Den Begriff »Offenbarungsvita« verwendet erstmals Stoklaska in Anlehnung an Dinzelbachers Ausführungen zur Viten- und Offenbarungsliteratur; siehe dazu: Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 8. 942 Die moderne Bezeichnung der »Eigenwerbung« nimmt Bezug auf die bereits angeführte, von Stoklaska formulierte Bestimmung der Visonen einer gewissen Jungfrau, als »Rechtfertigungs- oder auch ›Propaganda‹-Schrift« zu dienen; siehe dazu Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 33.

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Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung

man zu folgender Interpretation: Textgruppe A, die eine nahezu komplette Textüberlieferung anbietet, will bewusst eine Jungfrau vorstellen, die im reziproken Verhältnis zu den Wiener Minoriten stand. Ob der Name der Jungfrau Agnes Blannbekin lautete oder nicht, war beim Verfassen des Textes noch unerheblich, erlangte allerdings bereits im Verlaufe der ersten Rezeption (die u. a. zum Hinzufügen einer Nachtragsnotiz mit Namensnennung führte) wachsende Bedeutung. Zentral für die Niederschrift der Visionen einer gewissen Jungfrau war die Vorstellung einer frommen Jungfrau mit nichtklausurierter Lebensführung und ganz besonders ihrer visionären Fähigkeiten. Die Wiedergabe ihrer Visionen sowie deren Deutung in Gesprächen mit dem Beichtvater der Jungfrau bzw. einer göttlichen Stimme oder durch selbstständige Interpretation nehmen den größten Teil des Textes ein, weshalb die Benennung mit »Offenbarungsvita« für diese Textgruppe zutreffend scheint. Das inhaltliche Anliegen darin war nicht primär, für eine bestimmte Ordensgemeinschaft oder eine umstrittene, sich dennoch etablierende Möglichkeit weiblicher Lebensentwürfe zu werben. Diese Motive wie auch andere zeitgenössische Entwicklungen nahmen lediglich indirekten Einfluss auf die Gedankenwelt des Schreibers und der Jungfrau. Im Zentrum stand vielmehr eine Jungfrau und ihre Sicht auf ihre soziale Lebenswelt, die auffällig stark auf das Religiöse und dessen Akteure/-innen ausgerichtet war. Weiterhin gibt der Text Einblick in den Transfer religiöser Dogmen und Normen hin zum Denkhorizont einer Frau, der geprägt war von alltäglichen Erfahrungen und unsystematisch (vermutlich mit Hilfe des Beichtvaters) erworbenem Wissen. Gleichzeitig spiegelt der Text Versuche, die individuelle Erfahrung göttlicher Nähe erzählbar zu machen. Die erlebte Nähe Gottes, Jesu und des Heiligen Geistes sowie eine visionäre Gabe verschafften der Jungfrau eine gewisse Legitimation, über religiöse Angelegenheiten zu sprechen und letztlich auch zu urteilen, was sie besonders in Bezug auf Missstände innerhalb der Gemeinschaft und Ordensleitung der Minderbrüder tat. Der Textgruppe B hingegen fehlen inhaltlich besonders die Kapitel, welche Einblick in das wechselseitige Gebetsverhältnis zwischen der Jungfrau und der Gemeinschaft der Wiener Minoriten geben. Dies wird besonders am Beispiel des Kapitels 72 sichtbar, das eingangs erzählt, wie die Jungfrau in der Kirche der Brüder eine Privatmesse hörte. Obgleich alle Handschriften der Textgruppe B das Kapitel 71 enthalten, bricht in ihnen die Erzählung danach ab und setzt erst mit der Handlung derjenigen Kapitel wieder ein, die in Textgruppe A die Ordnungsnummern 74 bzw. 75 tragen. Ebenso fehlen in Textgruppe B Berichte über das Gemeinschaftsleben der Minoriten sowie über Verfehlungen, Missstände, aber auch einzelne Personen oder Ereignisse aus dem minoritischen Kreis. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Kapitel 116 oder 117 verwiesen, die in den Manuskripten der Gruppe A besonders die Ordensoberen in den Blick nehmen und deren Handeln bewerten. Deutlich ist auch, dass die

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Vorhauterfahrung der Jungfrau, von der im Kapitel 37 berichtet wird, in keine Handschrift der Gruppe B übernommen wurde, wohl aber die vorangehenden Kapitel 32 bis einschließlich 36. Eine solch bewusste Verwischung der agierenden Hauptperson (Jungfrau), ihrer Individualität und ihres Umfelds hat auch Auswirkungen auf die hier untersuchte Verwendung von Geruch in den Visionen einer gewissen Jungfrau. Hinsichtlich der Olfaktorik muss nämlich festgestellt werden, dass der Textgruppe B alle Kapitel fehlen, in denen die individuelle Frömmigkeitspraxis des Altarküssens mit einem anschließenden Riechen verbunden sind (Cap. 40, 175 und 230). Auch die besondere Anordnung der Sinne und die hervorgehobene Rolle des Geruchs/-sinns, vor allem bei der Kommunikation mit Gott, wie sie sich im Kapitel 187 ausformuliert findet, wurde nicht in die Manuskripte der Gruppe B übernommen. Weiterhin fehlt es dort an Textstellen, die spezifische olfaktorische Profile liefern (wie Cap. 154) oder olfaktorische Metaphorik verwendeten. Weder die Intention noch der Zweck der Textgruppe B kann demnach in einer Beschreibung von Handlungsmöglichkeiten, Individualität und Rolle der Jungfrau im Verhältnis zur Gemeinschaft der Minoriten liegen. Die Intention der Abschriften aus dieser Gruppe ist abstrakter und bedarf keiner umfassenden Wiedergabe einzelner Visionen. Ziel der Textgruppe B ist die beispielhafte Vorstellung eines Betreuungsverhältnisses einer weiblichen Person mit visionären Fähigkeiten. Dies bestätigt die Auswahl der Visionen. Auch wenn diese in einzelnen Absätzen oder Kapiteln von Handschrift zu Handschrift variieren können, beginnen alle Abschriften der betreffenden Textgruppe mit den ersten 23 bekannten Kapiteln, die, losgelöst von einer bestimmten Person, einem Ort oder einer Zeit, eine religiöse Weltsicht wiedergeben. Bei den darauffolgenden Kapiteln handelt es sich um thematische Textblöcke, in denen unterschiedliche Absichten beim Erbringen/der Inanspruchnahme religiöser Dienste bewertet und anhand verschiedener Zelebranten, Beichtiger und andächtiger Menschen exemplifiziert werden. Darüber hinaus finden klassische Frömmigkeitspraktiken (etwa die Andacht des Gebets zu unterschiedlichen Festen wie Passion oder Himmelfahrt) und ihre Bedeutung spezielle Erwähnung. Des Weiteren wird die Wichtigkeit des Beichtens betont. Die Intention der Textgruppe B drückt sich zweitens in Anmerkungen am Rand oder innerhalb des Textes der Handschriften aus und bestätigt den didaktischen Zweck dieser Texte. Ob man, wie Stoklaska es formuliert, »am ehesten« von »Lehrvisionen mit vorwiegend pastoraler Zielsetzung«943 sprechen könnte, ist mit Blick auf die Lehrabsicht der Visionen mit Vorsicht zu bejahen. Die Visionen sollten keine Weltsicht lehren, aber in ihrer Gesamtheit zeigen, wie die seelsorgerische Betreuung von Frauen aussehen und in welchen Variationen sich deren Erleben göttlicher Nähe abspielen könnte. Die Verbreitung der Abschriften aus 943 Stoklaska, Die Revelationes der Agnes Blannbekin (wie Anm. 28), S. 31.

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Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung

der fraglichen Textgruppe in Institutionen unterschiedlicher monastischer Tradition (wie solchen der Zisterzienser, Kartäuser oder Dominikaner) spricht für eine gewisse Übertragbarkeit der Inhalte und ist ein weiteres Indiz für die Beispielhaftigkeit des damit Geschilderten. Es lässt sich deshalb folgern, dass das Textkorpus der Gruppe B mit ihrer ausgewählten Überlieferung der Gattung einer Art Mustererzählung zuzurechnen ist, die von Seelsorgeanbietern übernommen werden konnte. Die dafür ausgewählten Visionen sollten frommen Laien das mögliche Spektrum ihres religiösen Erlebens beschreiben. Nach kontextualisierenden Abschnitten zu den Handschriften und der textlichen Überlieferungssituation sowie zu Versuchen der Personencharakterisierung wandte sich diese Studie der näheren Analyse der Visionen zu, die sich von einer sinnesgeschichtlichen Perspektive auf einen geruchsgeschichtlichen Zugang verengte. Leitend war die Frage nach der Rolle und Funktion des Olfaktorischen in den Visionen der Agnes Blannbekin. Im Zuge ihrer Beantwortung erwiesen sich die Visionen als vielschichtiges Gebilde, das sowohl das Innenleben als auch die Außenwelt der Jungfrau thematisiert. Es fand sich bei der Protagonistin eine starke Zentrierung auf und Sehnsucht nach Jesus Christus und dessen Nähe und Anwesenheit. Zugleich wurden zahlreiche Beschreibungen und Bewertungen verschiedener, teilweise sogar namentlich genannter Einzelpersonen und sozialer Gruppen, besonders aus der Gemeinschaft der Minderbrüder, ausgemacht. In ihnen nehmen die Sinne, besonders der Geruchssinn, eine bedeutende Rolle ein. Zurückkommend zur leitenden Frage, welche Rolle und Funktion dem Olfaktorischen in der Quelle zukommen, müssen zunächst zwei Punkte hervorgehoben werden. Der erste bezieht sich auf die Kategorie ›Geschlecht‹: Die Hauptperson der untersuchten Quelle ist eine Frau, genauer gesagt eine Jungfrau. Für die Bewertung des Geruchssinns ist dabei zu vernachlässigen, ob diese Frauenfigur mit einer real existierenden Person korrespondierte oder durch die literarische Fiktion eines Schreibers entstand. In der Realität der Rezeption ist sie eine Jungfrau (in zeitlich späterer Rezeption gar mit dem Namen Agnes Blannbekin), die sich ihrem – zumeist als Franziskaner eingeführten – Beichtvater anvertraute. Dieser diskutierte mit der Jungfrau verschiedene Glaubensinhalte sowie die von ihr erzählten Visionen, die er letztlich niederschrieb. Bezüglich des Prozesses der Niederschrift wurde einerseits die Transformation von volkssprachlicher Oralität zu lateinischer Schriftsprache ausführlich diskutiert, wobei das Ausmaß der abändernden Eingriffe durch den Beichtvater unklar blieb. Andererseits galt die Untersuchung der verwobenen Kommunikation zwischen Beichtvater und -kind, die in die Visionen eingeschrieben ist und ein reziprokes Seelsorgeverhältnis spiegelt. Dennoch war es die Jungfrau Agnes Blannbekin als eine aktive Handelnde, die küsste, roch, Gott begegnete oder Priester und Ordensobere bewer-

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tete und somit als Akteurin in Erscheinung trat. Gleichzeitig sprechen allerdings bestimmte Elemente innerhalb der Lebensgeschichte der Agnes Blannbekin für eine Orientierung an bekannten weiblichen Heiligenlegenden, was eine nachträgliche Bearbeitung dieser Lebensgeschichte der Jungfrau durch den Beichtvater zumindest nahelegt. Neben der Aufnahme hagiografischer Komponenten oder Parallelen zu anderen weiblichen Heiligenviten, sollten die wiederholten Bekundungen frommer Motive der Agnes Blannbekin von der Gnaden- und Tugendhaftigkeit ihrer Lebensführung als Jungfrau überzeugen. Der zweite hervorzuhebende Punkt im Zusammenhang mit der Studie des Olfaktorischen im vorliegenden Werk ist die davon ausgehende Handlungspotentialität der Jungfrau, die aufgrund der Quellengattung hauptsächlich im religiösen Bereich zu suchen war. In Anlehnung an einen Erfurter Ansatz stellte sich am Ausgangspunkt der Untersuchung die Frage, ob das Individuum Agnes Blannbekin Handlungspotentialität im religiösen Bereich besaß und dabei eine religiöse Individualisierung feststellbar ist. Den Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage lieferte die Olfaktorik, die bei Agnes Blannbekin eine herausgehobene Stellung einnimmt. Entgegen der vorherrschenden aristotelischen Sinneshierarchie und der Diskreditierung des Geruchssinns als eines niederen Sinns im gesellschaftlichen Miteinander stand der Geruchssinn für Agnes Blannbekin an erster Stelle der Rangordnung der Sinne. Im Vergleich zu den anderen Sinnen zeigte sich diese herausgehobene Stellung des odoratus – der hier bewusst uneindeutig sowohl mit Geruch als auch mit Geruchssinn übersetzt wird – besonders darin, dass er aufgrund seiner ontischen (immer-seienden) Konstitution für die Jungfrau der Weg zur Gottesbegegnung und das Mittel der Gottesbegierde war. Darüber hinaus stellte der Geruch in Verbindung mit ungewöhnlich-individuellen Frömmigkeitspraktiken wie dem Altarküssen eine einzigartige Handlungsmöglichkeit für Agnes Blannbekin dar, die Präsenz Christi vor allem am Altar auch außerhalb der Messfeier und ohne das Zutun eines Priesters erleben zu können. Selbst wenn diese Handlungsmöglichkeit ihre Grenzen besaß – die sich in der Wahrnehmung von Brandgeruch und dem Entzug der Gnade Gottes ausdrückten –, wurde den Rezipienten/-innen von Agnes’ Visionen doch verdeutlicht, dass diese Handlungsmöglichkeit der Jungfrau gottgegeben und somit nicht häretisch-deviant war, was angesichts des zeitlichen Kontexts der Betonung bedurfte. Weiterhin zeigte die Untersuchung, dass es der Jungfrau möglich war, bestimmte Brüder am Geruch zu erkennen. Zuvor hatte geklärt werden müssen, ob derartige olfaktorische Zuschreibungen einer Person aufgrund ihrer inneren, moralischen Haltung zukamen. Ziel war es dann zu klären, wofür die olfaktorische Spur einer Person stand. Um diese Spur sichtbar und erklärbar zu machen, wurde in ausgewählten Texten von Frauen nach der Verwendung von Olfaktorik zur Beschreibung von Personen, besonders solchen im geistlichen Stand, ge-

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sucht. Dabei stellte sich heraus, dass Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg olfaktorische Profile zur Beschreibung und Bewertung geistlicher Gruppen nutzten. Zudem konnte gezeigt werden, dass sich ihre Zuschreibungen unterscheiden. Hildegard von Bingen verfuhr nach einem deutlich dichotomen Prinzip, während Mechthild von Magdeburg verschiedene Zwischenstufen zuließ, die sie mit Hilfe christlicher Symbolsprache umriss. Die von beiden verwendeten geruchlichen Zuschreibungen ließen sich nach Feststellung persönlicher Verflechtungen innerhalb der mittelalterlichen Gedankenwelt verständlich dechiffrieren. Wie anschließend gezeigt werden konnte, verhält es sich im Fall der Agnes Blannbekin jedoch anders: Gerade wegen ihrer persönlichen Verbindungen zur Gemeinschaft der Wiener Minderbrüder und aufgrund der herausgehobenen Bedeutung des Geruchs/Geruchssinn für sie ist die olfaktorische Spur eines Bruders nicht nur ein geruchliches Profil im Sinne einer begrenzten Zuschreibung, sondern ein allumfassendes Erkennen des jeweiligen Bruders. Die Erörterung hatte sich bis zum genannten Punkt stets an der Frage orientiert, wie olfaktorische Spuren gelesen werden und was olfaktorische Profile über die damit bezeichneten Personen aussagen. Im Folgenden wurde noch einmal anders gefragt: Was verraten olfaktorische Profile über diejenige Person, die sie wahrnimmt? Aus den einführenden Betrachtungen zu Besonderheiten des Olfaktorischen war bereits hervorgegangen, dass Geruch ein Sinneseindruck und daher auch ein Mittel der Kommunikation ist. Wie jede Verständigung verläuft geruchliche Kommunikation nicht nur in eine Richtung, sondern ist wechselseitig. Geruch zeichnet demnach nicht nur seine Quelle oder seine/-n Träger/-in aus, sondern auch diejenigen, die ihn wahrnehmen. Dies veranschaulicht auch das Beispiel des riechenden Lammes aus dem 154. Kapitel in den Visionen einer gewissen Jungfrau, wonach es eine besondere Gabe darstellte, Moralisches riechen zu können. Weiterhin hielt der Beichtvater die Fähigkeit der Jungfrau, einen Bruder am Geruch zu erkennen, für höchst erstaunlich, wenn nicht gar wunderbar. Die Aussagekraft hinsichtlich der riechenden Person bestätigte auch die Textstelle zum entzogenen Geruch am Altar im Kapitel 230, verdeutlichte jedoch zugleich, dass nach Ansicht der Jungfrau und ihres Beichtigers keine irdischen Leistungen den Ausschlag für den Erweis göttlicher Gnade gaben, sondern allein Gottes Bereitschaft. Demnach wurden Agnes Blannbekin mit ihren spezifischen Fähigkeiten der Geruchserkennung und -wahrnehmung von Gott besondere Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die die Jungfrau als würdig auszeichneten. Was aber verbirgt sich hinter dem Zusammenspiel aus einer Frau als Akteurin und ihren Möglichkeiten religiöser Individualisierung durch das Olfaktorische? Eine Interpretation bietet das Konzept der Entgrenzung. Wie bereits ausgeführt, ist die Entgrenzung mehr als eine bloße Übertretung von Grenzen; sie beschreibt vielmehr ein Verlassen von Körpern und Räumen sowie ein Auflösen bestehender Handlungsschranken, die soziale Normierungen setzen mögen. Im Fall

Resümee: Olfaktorik und Entgrenzung

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der Jungfrau Agnes Blannbekin vollzog sich eine solche Entgrenzung im Olfaktorischen. Dem zuträglich waren die Besonderheiten des Olfaktorischen. Wie erwähnt, war und ist bei der sozialen Kommunikation geruchliche Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit ausschlaggebend für soziale Nähe oder zwischenmenschliche Antipathie. Gleichzeitig haftet dem Geruch eine Undefinierbarkeit an, die den Geruchssinn, besonders in der rituellen Kommunikation, zu einem Sinn der Übergänge macht. Aufgrund ihrer visionären Begnadung war es Agnes Blannbekin auch als Frau möglich, Kritik am Verhalten von Angehörigen geistlicher Stände zu formulieren und über sie zu urteilen sowie irdische Zustände im religiösen Bereich zu bewerten. Hierbei verließ die Jungfrau deutlich die ihr ursprünglich zugewiesene soziale Rolle. Ihre visionären Fähigkeiten erweiterten ihre Handlungspotentialität als Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft. Den Sinnen, besonders eben dem Geruchssinn, kam dabei eine zentrale Funktion zu, mittels dessen der Geruch den Raum der Visionen mit dem sozialen Raum im Diesseitigen verband. In einer Vision roch Agnes etwas; die Bewertung des Geruchs konnte dann eine individuelle Bewertung sein und war nicht nur eine olfaktorische Zuschreibung im Sinne eines olfaktorischen Profils, sondern ein wahrhaftiges Erkennen einer Person. Im Olfaktorischen lag für die Jungfrau außerdem ein selbstgewählter Zugang zu Gott, der ihr Autonomie gegenüber den Beschränkungen durch Zelebranten verlieh. Weiterhin war es für sie über den Geruch möglich, Gott zu erfahren. Denn im odoratus flossen Mensch und Gott zusammen. Dabei verließ sie ihre irdische Anbindung durch einen (weiblichen) sterblichen Körper und vereinte sich mit Gott in der Vision. Mit der Konzentration auf das Olfaktorische in der Analyse und Interpretation von Visionen wurde ein neuer Denkansatz vorgestellt, der zum einen dem diesbezüglichen Forschungsdesiderat hinsichtlich der Beachtung von Geruchlichem in den Geschichtswissenschaften entgegenkommen soll. Zum anderen ermöglicht eben dieser geruchsgeschichtliche Zugang einen neuartigen Blick auf die Visionen einer gewissen Jungfrau, denn im Olfaktorischen liegt ein Schlüssel zum Verständnis und zur Interpretation dieser Visionen.

VI.

Quellen und Literatur

Die Auflistung der ungedruckten Quellen erfolgt alphabetisch nach dem Aufbewahrungsort der jeweiligen Handschrift. Die Nennung der gedruckten Quelleneditionen und Übersetzungen ist ebenfalls alphabetisch nach Autor/-in des Werkes geordnet. Ist Autor/-in nicht klar zu identifizieren, sind die Editionen nach dem Titel oder bekannten Schlagworten wie beispielsweise [Franziskanische Quellen] zusammengefasst.

VI.1 Quellen VI.1.a Ungedruckte Quellen Basel Universitätsbibliothek, Cod. A VIII 6, fol. 154v–158Ar

Berlin Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Magdeburg 174, fol. 79v–89r

Lilienfeld Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 145, fol. 45ra–70rb

Mainz Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 115a, fol. 268r–274v Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 117, fol. 188r–195v Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs. I 160, fol. 51r–55r

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Quellen und Literatur

Zwettl Bibliothek des Zisterzienserstiftes, Cod. 384, fol. 29r–76v

VI.1.b Editionen zu Visiones cuiusdam virginis Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin (†1315), hrsg. und übersetzt von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 419), Göppingen 1994. Ven[erabilis] Agnetis Blannbekin, Quæ sub Rudolpho Habspurgico & Alberto I. Austriacis Imp[eratoribus] Wiennæ floruit, Vita Et Revelationes Auctore Anonymo Ord[inis] F[ratrum] Min[orum] è Celebri Conv[entu] S[anctæ] Crucis Wiennensis, ejusdem Virginis Confess[ario]. Accessit Pothonis Presbyteri & Monachi celeberr[imi] Monast[erii] Prunveningensis, nunc Priflingensis, prope Ratisbonam, Ord[inis] S[ancti] B[enedicti] qui seculo Christi XII. claruit, Liber De Miraculis Sanctæ Dei Genitricis Mariæ, hrsg. Bernhard Pez, Wien 1731.

VI.1.c Andere Editionen und Übersetzungen Anselm von Laon (Ps.-Anselm von Canterbury), Epistola CVII De corpore et sanguine Domini, in: S. Anselmi […] Cantuariensis […] opera omnia […], 2 (Migne PL, 159), Sp. 255 A-258 A. [Aristoteles] Aristoteles, On the Parts of Animals, übersetzt und mit Kommentaren von James G. Lennox, Oxford 2001. Aristoteles, Über die Seele. Griechisch/Deutsch, hrsg. und übersetzt von Gernot Krapinger (Reclams Universal-Bibliothek, 18602), Stuttgart 2011. [Augustinus] Augustinus, In Joannis evangelium tractatus CXXIV, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia […], 3,2 (Migne PL, 35), Sp. 1379–1976. Augustinus, Sermones de Sanctis, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 5,1 (Migne PL, 38), Sp. 1247–1484. Augustinus, De fide et operibus, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 6 (Migne PL, 40), Sp. 197–230. Augustinus, De Trinitate, in: Sancti […] Augustini Hipponensis […] opera omnia, 8 (Migne PL, 42), Sp. 819–1097. Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes, 1: Vorträge 1–23, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Thomas Specht (Bibliothek der Kirchenväter, 8: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt, 4), Kempten [u. a.] 1913.

Quellen

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Quellen und Literatur

Christan von Lilienfeld, Hymnen, Officien, Sequenzen und Reimgebete, hrsg. Guido Maria Dreves (Analecta hymnica medii aevi, 41, a), Leipzig 1903 (Nachdruck: Frankfurt am Main 1961). Codex Udalrici, 1, hrsg. Klaus Naß (MGH Epistolae 2: Die Briefe der deutschen Kaiserzeit, 10,1), Wiesbaden 2017. Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae. Verzameling van stukken betreffende de pauselijke en bisschoppelijke inquisitie in de Nederlanden, 1: Tot aan de herinrichting der inquisitie onder Keizer Karel V (1025–1520), hrsg. Paul Fredericq (Werken van den practischen leergang van vaderlandsche geschiedenis, 1), Gent [u. a.] 1889. [Corpus iuris canonici] Decretum magistri Gratiani, 2. Ausgabe nach Emil Ludwig Richter, hrsg. Emil Friedberg, (Corpus iuris canonici, 1) Leipzig 1879. Decretalium Collectiones, 2. Ausgabe nach Emil Ludwig Richter, hrsg. Emil Friedberg, (Corpus iuris canonici, 2) Leipzig 1879. Cronica s[ancti] Petri Erford[ensis] mod[erna], in: Monumenta Erphesfurtensia saec. XII. XIII. XIV, hrsg. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [42]), Hannover [u. a.] 1899, S. 117–369. [Cyprian von Karthago] Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, 2: Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer (Bibliothek der Kirchenväter. 1. Reihe, 60), München 1928. [Elisabeth von Schönau] Die Visionen und Briefe der heiligen Elisabeth sowie die Schriften der Aebte Ekbert und Emecho von Schönau. Nach den Original-Handschriften, 2., durch einen Nachtrag vermehrte und verbesserte Ausgabe, hrsg. Ferdinand Wilhelm Emil Roth, Brünn 1886. Elisabeth von Schönau, Die Werke, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Peter Dinzelbacher, hrsg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Florin, Kloster Schönau, Paderborn [u. a.] 2006. [Elisabeth von Thüringen] Der sog. Libellus de dictis quattuor ancillarum S. Elisabeth confectus. Mit Benutzung aller bekannten Handschriften zum 1. Male vollständig und mit kritischer Einführung hrsg. und eingeleitet von Albert Huyskens, Kempten [u. a.] 1911. Bericht der päpstlichen Kommission über die Aussagen der vier Dienerinnen Elisabeths, übersetzt von Sylvia Weigelt, in: Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts, hrsg. Sylvia Weigelt (Quellen zur Geschichte Thüringens, 30), Erfurt 2008, S. 41–69. Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475), hrsg. Matthias Lexer (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 64), Stuttgart 1862. [Franziskanische Quellen] Actus beati Francisci et sociorum ejus, hrsg. Paul Sabatier (Collection d’études et de documents sur l’histoire religieuse et littéraire du Moyen âge, 4), Paris 1902. ›Compilatio Assisiensis‹ dagli Scritti di Fr. Leone e Compagni su S. Francesco d’Assisi. L’edizione integrale dal Ms. 1046 di Perugia con versione italiana a fronte introduzione e note, hrsg. Marino Bigaroni (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana. Chiesa Nuova – Assisi, 2), Assisi 1975.

Quellen

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Quellen und Literatur

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Quellen

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Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 2, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860. Le lettere di S. Caterina da Siena ridotte a miglior lezione e in ordine nuovo disposte con proemio e note, 3, hrsg. Niccolò Tommaseo, Florenz 1860. Caterina von Siena, Sämtliche Briefe, 4: An die Ordensfrauen [aus dem Italienischen von Rita Manlik de Cesaris], hrsg. Werner Schmid, Kleinhain 2007. Caterina von Siena, Sämtliche Briefe, 8: An die Frauen in der Welt [aus dem Italienischen von Claudia Reimüller], hrsg. Werner Schmid, Kleinhain 2013. Lebensbeschreibung: Siehe unter [Raimund von Capua]. [Klara von Assisi] Il processo di canonizzazione di S. Chiara d’Assisi, hrsg. Zeffirino Lazzeri, in: Archivum Franciscanum Historicum 13 (1920), S. 403–493. Leben und Schriften der heiligen Klara von Assisi, hrsg. Marianne Schlosser und Engelbert Grau, 8. Auflage (Edition T. Coelde), Kevelaer 2001, S. 184–221. [Konzilsakten] Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 9[: Anni 536–590], hrsg. Giovanni Domenico Mansi, Paris 1901 (unveränderter Nachdruck: Graz 1960). Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 13, hrsg. Joannes Domenicus Mansi, Paris 1901 (unveränderter Nachdruck: Graz 1960). Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963– 1973, hrsg. Heinrich Rennings unter Mitarbeit von Martin Klöckener, Kevelaer 1983. Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), 3. Auflage, hrsg. Guiseppe Alberigo und Josef Wohlmuth, Paderborn [u. a.] 2000. Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekreten der ökumenischen Konzilien, 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545–1563), Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70), Zweites Vatikanisches Konzil (1962–1965), 3. Auflage, hrsg. Guiseppe Alberigo und Josef Wohlmuth, Paderborn [u. a.] 2002. Liber de miraculis Sanctae Dei genitricis Mariae: Published at Vienna, in 1731 by Bernhard Pez, O. S. B: Reprinted for the First Time by Thomas Frederick Crane with an Introduction and Notes and a Bibliography of the Writings of T. F. Crane (Cornell University Studies in Romance Languages and Literature, 1), Ithaca [u. a.] 1925. [Matthäus Paris] Ex Mathei Parisienisis Cronicis Maioribus, in: Ex rerum Anglicarum scriptoribus saec. XIII (MGH SS, 28), S. 107–389. Das Martyrium Polycarpi. Urfassung, in: Die Urfassungen der Martyria Polycarpi et Pionii und das Corpus Polycarpianum, 1: Editiones criticae, hrsg. Otto Zwierlein, mit armenisch-deutschem Text und englischer Übersetzung von Daniel Kölligan (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 116,1), Berlin [u. a.] 2014, S. 6–11. [Mechthild von Magdeburg] Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift im kritischen Vergleich mit der gesamten Überlieferung, 1: Text, hrsg. Hans Neumann, besorgt von Gisela Vollmann-Profe (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 100), München [u. a.] 1990.

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Quellen und Literatur

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Quellen

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Solvi, Daniele, Dall’estasi al testo: le rivelazioni di Agnese Blannbekin, in: Stati alterati di coscienza come pratica rituale. Documenti, testimonianze e rappresentazioni, hrsg. Carmine Pisano und Daniele Solvi (Speaking Souls – Animæ loquentes, 4), Lugano 2018, S. 131–166. Speer, Andreas, Weisheit bei Augustinus und Meister Eckhart, in: Meister Eckhart und Augustinus [Konferenzschrift, Würzburg 2007], hrsg. Rudolf Kilian Weigand und Regina D. Schiewer (Meister-Eckhart-Jahrbuch, 3), Stuttgart 2011, S. 1–10. Stammler, Wolfgang, Blannbekin, Agnes, in: Neue Deutsche Biographie, 2: Behaim – Bürkel, hrsg. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1955, S. 287. Steckel, Sita, ›Gravis et clamosa querela‹. Synodale Konfliktführung und Öffentlichkeit im französischen Bettelordensstreit 1254–1290, in: Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik, hrsg. Christoph Dartmann, Andreas Pietsch und Sita Steckel (Historische Zeitschrift. Beihefte, 67), Berlin [u. a.] 2015, S. 159–202. Steinberg, Leo, The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983. – The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, 2., revidierte und erweiterte Auflage, Chicago [u. a.] 1996. Steiner, Paul, Sensory Branding. Grundlagen multisensualer Markenführung, 2. Auflage, Wiesbaden 2016. Steinmann, Martin, Die Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Register zu den Abteilungen AI – AXI und O (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel, 4), Basel 1982. Stockinger, Thomas und Wallnig, Thomas, Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentare, 1: 1709–1715 (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 2,1), Wien 2010. Stockinger, Thomas; Wallnig, Thomas; Fiska, Patrick; Peper, Ines und Mayer, Manuela, Die gelehrte Korrespondenz der Bruder Pez. Text, Regesten, Kommentare, 2: 1716–1718, 1. Halbband (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 2,2,1), Wien 2015. Stoklaska, Anneliese, Die Revelationes der Agnes Blannbekin. Ein mystisches Unikat im Schrifttum des Wiener Mittelalters, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 43 (1987), S. 7–34. – Weibliche Religiosität im mittelalterlichen Wien unter besonderer Berücksichtigung der Agnes Blannbekin, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, hrsg. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 28), Köln 1988, S. 165–184. Stölting, Ulrike, Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse, Mainz 2005. Strauss, Richard, Studien zur Mystik in Österreich mit besonderer Berücksichtigung von Agnes Blambeck, Dissertation, maschinenschriftlich, eingereicht an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, 1948. Suttner, Gustav von, Die Garelli. Ein Beitrag zur Culturgeschichte des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, Wien 1885.

356

Quellen und Literatur

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Literatur

357

– Die Straßburger Beginenverfolgungen (1317–1319) und ihre Nachwirkungen im Basler Beginenstreit (1405–1411): Neue Texte von Johannes Mulberg OP zum Basler Inquisitionsprozess, in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hrsg. Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer (Meister-Eckhart-Jahrbuch, 2), Stuttgart 2008, S. 141–170. Weigelt, Sylvia, Elisabeth-Viten und Zeugnisse ihres Lebens vom 13. bis Anfang 16. Jahrhundert, in: Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts, hrsg. Sylvia Weigelt (Quellen zur Geschichte Thüringens, 30), Erfurt 2008, S. 19–22. Weis, Anton, P., Potho, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 26: Philipp (III.) von Hessen – Pyrker, Leipzig 1888, S. 478. Weiß, Bardo, Die franziskanische Bewegung und die frühe deutsche Frauenmystik, in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 63 (2000), S. 236–258. – Jesus Christus bei den frühen deutschen Mystikerinnen, 1: Die Namen, Paderborn [u. a.] 2009. Wesjohann, Achim, Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter, 49), Berlin 2012. Wiethaus, Ulrike, Agnes Blannbekin, Viennese Beguine: Life and Revelations. Translated from the Latin with Introduction, Notes and Interpretive Essay (Library of Medieval Women), Cambridge [u. a.] 2002. – Spatiality and the Sacred in Agnes Blannbekin’s Life and Revelations, in: Wiethaus, Ulrike, Agnes Blannbekin, Viennese Beguine: Life and Revelations. Translated from the Latin with Introduction, Notes and Interpretive Essay (Library of Medieval Women), Cambridge [u. a.] 2002, S. 163–176. – Street Mysticism: An Introduction to ›The Life and Revelations‹ of Agnes Blannbekin, in: Women Writing Latin: From Roman Antiquity to Early Modern Europe, 2: Medieval Women Writing Latin, hrsg. Laurie J. Churchill, Phyllis Rugg Brown und Jane E. Jeffrey (Women writers of the world, 6), New York [u. a.] 2002, S. 281–307. Wilhelmy, Winfried, Das leise Lachen des Mittelalters. Lächeln, Lachen und Gelächter in den Schriften christlicher Gelehrter (300–1500), in: Seliges Lächeln – Höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters [Ausstellungskatalog, anlässlich der Ausstellung im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Mainz vom 27. April 2012 bis 16. September 2012], hrsg. Winfried Wilhelmy, Regensburg 2012, S. 38–55. Winter, Ursula und Heydeck, Kurt, Die Manuscripta Magdeburgica der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 3: Ms. Magdeb. 170–286 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Reihe 1: Handschriften, 4,3), Wiesbaden 2008. Wünsche, Peter, Liturgiewissenschaftliche Perspektiven, in: Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes: Religionsgeschichte – Bibel – Liturgie [zum Gedächtnis an Helmut Merklein, 17. September 1940–30. September 1999], hrsg. Joachim Kügler (Stuttgarter Bibelstudien, 187), Stuttgart 2000, S. 173–191. Würth, Ingrid, Die Aussagen der vier Dienerinnen im Kanonisationsprozess und ihre Überlieferung im sog. ›Libellus‹, in: Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, hrsg. Dieter Blume, Petersberg 2007, S. 187–192.

358

Quellen und Literatur

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VII. Register

VII.1 Handschriften Basel, Universitätsbibliothek – Cod. A VIII 6 19, 75, 77, 98–102, 104– 112, 155, 157, 171 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz – Ms. Magdeburg 174 75, 96–98, 101f., 104, 106–112, 156, 171

Neresheim, Bibliothek der Benediktinerabtei – Hs. verschollen 19, 75–81, 87, 101, 107– 112, 117f., 126, 130f., 136, 138, 157

Lilienfeld, Bibliothek des Zisterzienserstiftes – Cod. 145 75f., 81, 85–90, 95, 101–103, 106–112, 116, 156, 210, 266, 297

Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes – Cod. 384 75f., 80–86, 102f., 106–112, 130, 151, 155f., 171, 210

Mainz, Wissenschaftliche Stadtbibliothek – Hs. I 115a 75f., 90–92, 95–97, 101f., 104, 106–112, 130, 156, 171 – Hs. I 117 75f., 90, 92–97, 101f., 104, 106–112, 130, 156, 171 – Hs. I 160 76, 90, 94–97, 101f., 104, 106– 112, 130, 156, 171

Straßburg, Stadtbibliothek – Hs. verschollen 75f., 100f., 137

360

Register

VII.2 Personen und Orte Agnes Blannbekin passim Agnes von Böhmen 84, 151f. Agnes von Kuenring 84, 164, 167 Agnes von Österreich 23 Alexander IV. (Papst) 97f., 166 Angela von Foligno 101, 169, 198–200 Anselm von Canterbury 92, 269 Anselm von Laon 269 Aristoteles 31, 44, 64–70, 220, 225, 228, 306f., 325 – On the Parts of Animals 307 – Über die Seele 64f. Augustinus 65, 68–70, 93, 98, 102, 172, 212, 219, 246, 269f., 300f., 310 – De decem virginibus 68–70 – De fide et operibus 212 – De Trinitate 219 – In Joannis evangelium tractatus 269f. – Sermones de Sanctis 310 Basel 75, 77, 98, 102, 104, 106, 171 Berlin 75f., 97 Bernhard von Clairvaux 92, 98, 102, 104, 114, 176, 179, 198, 224, 234f., 276 – Sermones super Cantica Canticorum 235 Berthold von Regensburg 28, 172, 213 Birgitta von Schweden 123, 181f., 185–189 – Revelaciones 123, 181f., 185, 189 Bonaventura 226–229, 234f. – Commentaria in quatuor libros 228 – Commentarius in evangelium S. Lucae 235 – Itinerarium mentis in Deum 226–229 – Legenda Maior 234 Boto von Prüfening Siehe Potho von Prüfening Caesarius von Heisterbach 313 Christan (auch Christian) von Lilienfeld 85f. Christina die Wunderbare 98, 100, 102, 276f.

Cyprian von Karthago David von Augsburg

232–234 248

Elisabeth von Schönau 17, 193, 277f. Elisabeth von Thüringen 147, 151–154, 234, 310, 313 – Libellus 147, 152–154, 234, 310 Erfurt 37, 41 Ermenricus 19, 23, 78f., 118, 135, 299 Frankfurt 41 Franz von Assisi 89f., 98, 102, 158, 163, 169, 214, 225, 234, 265, 290, 295f., 300– 302 – Actus beati Francisci et sociorum ejus 89f. – Compilatio Assisiensis 214f. – Die Blümlein des hl. Franziskus (Fioretti) 89 – Epistola ad ministrum 295 – Regula bullata 290, 296, 301 – Regula non bullata 296, 301 Franziska von Rom 255, 258 Freiburg 41 Gertrud von Hackeborn 92 Gertrud von Helfta 17, 26 Gnemhertl, Otto 82–84, 104 Godehard von Hildesheim 313 Gottfried von Disibodenberg 312f. Gregor der Große 172–174 Gregor IX. (Papst) 145, 161f., 166, 179, 313 Gregor von Tours 310 Hamburg 42 Heinrich Seuse 26 Heinrich von Halle 192, 278, 286 Helfta 194, 248, 278 Hildegard von Bingen 17, 21f., 26, 92, 186, 249, 269, 277–283, 287f., 312f., 315–317, 326 – Scivias 279–283, 287f., 315–317

361

Moderne Autoren/-innen

Honorius von Autun 213 Hugo von St. Victor 268, 269 Jacob von Vitry 277 Jacobus de Voragine 91, 102 Johannes Chrysostomos 65, 92 Johannes Tauler 173 Johannes von Salisbury 213 Jordan von Giano 159–162 Josef von Nazareth 310 Katharina von Siena 182–187, 310 – Le lettere 182–184 Klara von Assisi 26, 28, 152, 154, 169 Köln 42, 214 Lilienfeld

76, 85–88, 102, 106

Magdeburg 75f., 96–98, 104, 106, 156, 171, 284–287 Mainz 75f., 90–97, 102, 106, 145, 214, 307 Margareta Ebner 25 Maria von Oignies 132, 277 Matthäus Paris 150 Mechthild von Hackeborn 17, 26 Mechthild von Magdeburg 17, 21, 25f., 92, 98–100, 102, 132, 192, 198, 248, 277f., 283–288, 315–317, 326 – Das fließende Licht der Gottheit 99, 100, 102, 283 Meister Eckhart 219f. Melk 77, 117 München 41 Neresheim

76f., 116, 126

Nürnberg Origenes

41f. 52, 67f., 228

Paris 13, 42, 58, 166, 180f., 219, 290 Petrus Cantor 213 Polykarp 311 Potho von Prüfening 6, 112, 116, 118–122, 124, 126 Raimund von Capua 184f. Regensburg 77, 119–121, 160f. Richalm von Schöntal 124 Rom 180–182, 186, 189, 232 Salzburg 159–161 St. Pölten 116, 138, 199 Straßburg 76, 100f. Theoderich von Echternach 313 Thomas Morus 39f. Thomas von Aquin 65f., 176, 214, 270 – Quaestiones disputatae de veritate 66 – Summa 214, 270 Thomas von Cantimpré 98, 100, 102, 277 Thomas von Celano 163, 225, 234 Vienne

144–146, 167

Wien 9, 22–24, 82f., 85, 101, 103, 104, 125f., 135–137, 148, 150f., 155, 158f., 161, 163, 166f., 170, 320 Wilbirg (aus St. Florian) 22, 114, 149, 273 Wilhelm Durandus 237 Zwettl 75f., 81–83, 87, 116, 164

VII.3 Moderne Autoren/-innen Abulafia, Anna Sapir 246 Aichinger, Wolfgang 55, 63, 73 Albrecht, Stefan 308 Andersen, Elisabeth A. 286 Angenendt, Arnold 179f., 310, 314f.

Baer, Julius 232 Balabanski, Vicky 70 Barlösius, Eva 46–48 Bauckner, Arthur 114 Bauer, Michael 129 Beauchamp, Gary K. 31

362 Bechmann, Ulrike 50, 242f. Benjamin, Walter 59, 62 Benz, Stefan 67, 115f., 122, 124 Bertazzo, Luciano 27f. Bießenecker, Stefan 307f. Blessing, Claus 269 Bock, Gisela 47, 54 Böhringer, Letha 147 Borries, Ekkehard 14, 219 Brandhorst, Jürgen 213 Braun, Joseph 232, 237f. Browe, Peter 140, 262f. 265 Brown, Peter D. G. 29, 129 Bushdid, Caroline 32 Cave, Nick 276f. Chmel, Joseph 7, 127f., 130 Classen, Albrecht 25f., 79, 118 Classen, Constance 60–62, 64 Coakley, John 207 Corbin, Alain 13, 57–59, 71–73 Crane, Thomas Frederick 121 Dannenberg, Lars-Arne 148 Deonna, Waldemar 311, 313–315 Dinzelbacher, Peter 7, 18, 20, 22–24, 27– 29, 75, 77–79, 81f., 85, 87, 91–93, 95, 100f., 103, 105, 107, 124, 128, 130–132, 135–138, 149, 153f., 186f., 193f., 199f., 202, 210, 216, 223f., 226, 231, 238, 257, 272, 278, 289, 291, 293, 299, 304, 320f. Dirlmeier, Ulf 38–41 Döbler, Marvin 276 Dölger, Franz Joseph 231–233 Dominguez, Fernando 114 Döring, Heinrich 125 Doty, Richard L. 31, 34 Doublier, Etienne 257 Du Cange, Charles 144 Eco, Umberto 306 Eickels, Klaus van 9, 234 Endres, Josef A. 120f. Faupel-Drevs, Kirstin 237 Febvre, Lucien 55–58, 71

Register

Felder, Hilarin 215 Felskau, Christian-Frederik 152 Figura, Michael 224 Filser, Hubert 114 Finkenzeller, Josef 264, 269 Fößel, Amalie 148 Foucault, Michel 52f. Frenken, Ralph 26f. Frieß, Gottfried E. 90, 159, 161f., 164 Führkötter, Adelgundis 280f., 312 Furrer, Daniel 42 Garelli, Pius Nikolaus 24, 122–124, 175 Gell, Alfred 51 Gengnagel, Vincent 55 Gentilotti, Johann Benedikt 115f., 122 Giddens, Anthony 16 Ginzburg, Carlo 15 Görres, Joseph von 18, 76, 79, 100f., 132, 137, 139, 198 Greschat, Katharina 173f. Grotefend, Hermann 80 Grundmann, Herbert 144 Güntherode, Karl von 6, 125–127, 130 Güra, Eva Patricia 33 Haas, Alois M. 25, 206, 239 Habermas, Rebekka 16 Hageneder, Herta 162, 166 Hammerl, Benedikt 82–84 Hardick, Lothar 160 Hartung, Wolfgang 211–214 Hauch, Gabriella 46, 54 Haug, Walter 25 Heer, Gall 114 Hergemöller, Bernd-Ulrich 211 Herrmann, Bernd 38, 40, 42 Heydeck, Kurt 96–98 Hödl, Ludwig 85, 166 Hösel, Gottfried 39, 41f. Hotz, Brigitte 147 Howes, David 48–51, 59–61 Huizinga, Johan 55, 57f. Hünicken, Rolf 286 Illi, Martin

38f.

363

Moderne Autoren/-innen

Isenmann, Eberhard

145

Johannson, Sheila R. 54 Jütte, Robert 45, 57, 63f., 66, 68 Kaelble, Hartmut 15 Katschthaler, Eduard Ernst 124 Keller, Hiltgart L. 310 Kirakosian, Racha 14 Kirk-Smith, Michael D. 33 Klueting, Edeltraud 314 Knobloch, Stefan 295f. Köbler, Gerhard 305 Kocka, Jürgen 15, 55 Köpf, Ulrich 169, 198–200, 224 Körkel-Hinkfoth, Regine 70 Körner, Stefan 125 Kötting, Bernhard 243, 312 Krause, Monika 15 Kügler, Joachim 49, 242, 244 Lackner, Franz 75f., 85–87, 91, 96 Landgraf, Artur Michael 37, 269 Landman, Christina 29 Laudage, Christiane 257 Le Goff, Jacques 306–308 Le Guérer, Annick 47, 243 Lehmann, Leonhard 89, 160, 163, 215, 225, 234, 290f., 295f., 300 Lehnert, Walter 41f. Levi, Giovanni 15 Lexer, Matthias 41, 305 Lingelbach, Gabriele 320 List, Gerhard 91–95 Locke, John 66 Lohmeyer, Ernst 244, 311 Löser, Freimut 205–207 Lüdtke, Alf 15f. Lützelschwab, Ralf 179–181, 186f., 189f. Mabillon, Jean 114 Maiworm, Regina E. 33f. Maleczek, Werner 159, 162 Malm, Mike 18 Markschies, Christoph 178 Marx, Karl 66f.

Mattelaer, Johan J. 186 Mayer, Hans Eberhard 159 Mayordomo, Moisés 68, 70 McGinn, Bernhard 18 McLuhan, Marshall 59, 62, 72 Merzdorf, Johann Friedrich Ludwig Theodor 18 Meusel, Johann Georg 125 Minelli, Ludwig, A. 179 Missfelder, Jan-Friedrich 57, 73 Morat, Daniel 55, 63 Müller, Alphons Victor 180–182, 186 Mussafia, Adolfo 119–121 Nemes, Balázs J. 98f., 278 Neunheuser, Burkhard 268f. Newhauser, Richard 61f. Nicklis, Hans-Werner 38, 42f. Nyberg, Tore 181, 186 Ohloff, Günther 32f., 47 Ohly, Friedrich 248, 250 Ong, Walter 59f., 72 Opitz, Claudia 54, 145, 192–194, 200 Opitz-Belakhal, Claudia Siehe Opitz, Claudia Panizza, Oskar 7, 118, 128–130 Parucki, Maria 163f. Patschovsky, Alexander 146f. Pellegrini, Lodovico 166 Pellegrini, Luigi 166, 291 Peters, Ursula 192, 194f., 286 Pez, Bernhard 6f., 18f., 24, 75–81, 85, 87, 97, 101, 105, 112–131, 136–139, 142–144, 149f., 153, 157, 164, 175, 199, 289, 297, 299 Pez, Hieronymus 77, 113–115, 164 Pontius, Hadrianus 122f. Potthast, August 98 Prütting, Lenz 307 Raab, Jürgen 13, 31f., 43f., 241 Ranke, Leopold von 128 Raßloff, Steffen 37 Régnier-Bohler, Danielle 194

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Register

Reichold, Klaus 37 Reusch, Heinrich 124 Revel, Jacques 15 Ringler, Siegfried 192 Röckelein, Hedwig 147 Rohr, Christian 114 Rohrbacher, Stefan 287 Rößler, Stephan 81f. Roth, Gunhild 193, 219 Rubin, Miri 240, 268 Ruh, Kurt 14, 17f., 25, 75, 79, 100f., 131, 199f., 276 Rüpke, Jörg 16f. Rupprich, Hans 22f., 27, 100, 118, 138, 150

Stoklaska, Anneliese 23f., 79, 137f., 149f., 168, 175, 191, 194, 226, 239, 273, 321, 323 Stölting, Ulrike 18 Strauss, Richard 22 Suttner, Gustav von 122f. Synnott, Anthony 60, 65f.

Sarasin, Philipp 37 Scheer, Peter 31 Scheibelreiter, Georg 159 Schimek, Conrad 85 Schlosser, Marianne 152, 227f., 234 Schmidt, Margot 284–286 Schmidt, Paul Gerhard 124 Schneider, Roswitha 182 Schneidmüller, Bernd 40, 42 Schottroff, Luise 70 Schreiber, Heinrich 93 Schreiner, Klaus 198, 233–235, 300 Schreiner-Hornung, Antonie 212–214 Schubert, Anselm 268 Schubert, Ernst 39, 42, 213f. Seidler, Christoph 72 Shell, Marc 178 Simmel, Georg 44–47 Slywa, Katja Monika 24f. Smith, Mark M. 62f., 73 Solvi, Daniele 28 Speer, Andreas 219f., 238 Stammler, Wolfgang 17 Steckel, Sita 165 Steinberg, Leo 176 Steiner, Paul 34f. Steinmann, Martin 75 Stockinger, Thomas 77, 113–116

Väth, Paula 97 Vauchez, André 179, 300 Veblen, Thorstein 44 Vogeler, Renate 7, 18, 20, 22, 24, 27f., 75, 79, 85, 95, 101, 105, 107, 130–132, 136f., 149, 153, 199f., 202, 210, 216, 223, 226, 231, 238, 257, 272, 304 Vogtherr, Thomas 177 Voigt, Jörg 144f.

Tenckhoff, Franz 166 Trachtenberg, Joshua 47, 287 Trînca, Beatrice 278 Tschulik, Walter 22, 149, 167, 273, 288 Udolph, Jürgen 144f. Ueding, Gerd 307

Walker Bynum, Caroline 176 Wehrli-Johns, Martina, 145f. Weigelt, Sylvia 153, 310 Weis, Anton P. 120 Weiß, Bardo 169f., 248f. Wesjohann, Achim 163 Wiethaus, Ulrike 7, 28f., 79, 132f. Wilhelmy, Winfried 307f. Winter, Ursula 96–98 Wünsche, Peter 49, 243 Würth, Ingrid 153 Wurzbach, Constantin 125, 127 Zafran, Eric 47 Ziegler, Charlotte 80, 82, 84 Zimmermann, Volker 39 Zips, Manfred 162, 164 Zwierlein, Otto 311