Offenbarung und Überlieferung: Die dogmatische Konstitution Dei Verbum des 2. Vaticanums im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie 9783666562327, 9783525562321

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Offenbarung und Überlieferung: Die dogmatische Konstitution Dei Verbum des 2. Vaticanums im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie
 9783666562327, 9783525562321

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G. G. Blum • Offenbarung und Überlieferung

GEORG GÜNTER BLUM

Offenbarung und Überlieferung

Die dogmatische Konstitution Dei Verbum des II. Vaticanums im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 28

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck Sc Ruprecht, Güttingen 1971. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Gulde-Dmdc Tübingen, Bindearbeiten: Hubert Sc Co., Göttingen

Dieses Buch ist den Menschen gewidmet, in denen mir Christus als Bruder begegnete

Vorwort In einem Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ökumenischen Rates der Kirchen heißt es: „Weil Gott nicht nur den Weg geschichtlicher Offenbarung, sondern auch den Weg geschichtlicher Vermittlung gewählt hat, gehört die geschichtliche Kontinuität zum Wesen der Christusverkündigung. Innerhalb dieser geschichtlichen Vermittlung kommt der Zeit der Väter grundlegende Bedeutung zu." 1 Wenn hier nicht nur von einem dogmatischen Apriori die Rede ist, ergibt sich aus dieser Erkenntnis die wichtige Aufgabe, immer wieder neu nach der wahren Kontinuität der geschichtlichen Vermittlung der Offenbarung zu fragen und das Bekenntnis und Glaubensbewußtsein der heutigen Christenheit mit den Vätern der Alten Kirche zu konfrontieren. Diese Zielsetzung gilt natürlich im besonderen Maße für die Lehre eines Konzils, das nach seinem eigenen Selbstverständnis der Kirche ihren Weg in die Zukunft öffnen wollte, ohne die Bindung an die Überlieferung zu verlieren. Uberblickt man die erst jetzt allmählich verebbende Flut der Konzilsliteratur, so läßt sich leicht feststellen, daß es zu einer wirklichen Begegnung zwischen der Vätertheologie und der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung noch nicht gekommen ist. Dieser bisher unerledigten Aufgabe soll die vorliegende Arbeit dienen. Daß sich an bestimmten Schwerpunkten auch eine kritische Auseinandersetzung mit modernen theologischen Konzeptionen zum Thema ergeben hat, kann die Aktualität patristischer Arbeit veranschaulichen. Leider wird es noch längere Zeit dauern, bis alle Konzilsakten veröffentlicht sein werden. Das für die genetische Erklärung wichtiger Partien der Offenbarungskonstitution notwendige Material ist jedoch auch jetzt schon zugänglich. Die bis zum Ende des Jahres 1969 in Deutschland, Frankreich und im englischen Sprachgebiet erschienene Literatur wurde nach Möglichkeit berücksichtigt, ohne daß dabei jedoch Vollständigkeit erreicht werden konnte. Mein Dank gilt an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der ökumenischen Centrale in Frankfurt, die durch die Gewährung 1 Bristol 1967. Studienergebnisse der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Beiheft zur ö k R N r . 7/8, Stuttgart 1967, p. 60.

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namhafter Beihilfen den Druck dieser Untersuchung ermöglicht haben. Herzlich danken möchte ich auch Herrn Professor D. Dr. Edmund Schlink D. D., Heidelberg für die Aufnahme dieser Arbeit in die „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie". Für die Mithilfe bei der Korrektur danke ich Herrn Assistenten Otfried Schlolaut und Herrn Werner Brückner. Marburg an der Lahn Am Tag der Himmelfahrt des Herrn 1970

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Georg Günter Blum

Inhalt Vorwort I. Zur Methode und Intention der Interpretation II. Das Verständnis der Offenbarung 1. Der Durchbruch zu einem heilsgeschichtlichen und dialogischen Offenbarungsbegriff im II. Vaticanum . . . . . 2. Die trinitarisdie Struktur der Selbstoffenbarung Gottes bei Irenaus . III. Die Konzeption der Überlieferung 1. Der ganzheitlidie und dynamische Traditionsbegriff von Dei Verbum 2. Der theologiegeschichtliche Hintergrund der Konzeption einer Realund Totaltradition der Offenbarung . . Drey (53), Möhler (54), Kuhn (57), Newman (57), die römische Schule (61), Franzelin (62), Blondel (64), Congar (66), Ratzinger (69) 3. Der neue ökumenische Konsensus über die Tradition. Montreal und die orthodoxe Theologie . . . . 4. Das Traditionsverständnis der Patristik Die frühkatholischen Väter . . . . . . Irenaus (86), Tertullian (93), Hippolyt (95), Cyprian (97) Die Alexandriner . . Klemens (99), Orígenes (103) Athanasius von Alexandria Basilius von Caesarea Vincenz von Lerin IV. Der Weg der Offenbarungstradition durdi die Geschidite 1. Theologiegeschichtliche Interpretation und kritische Würdigung der Aussagen des II. Vaticanums . . . 2. Die Geschichte der Überlieferung nach Dei Verbum in Konfrontation mit philosophischen und theologischen Konzeptionen der Gegenwart E. Betti (141), R. Bultmann (142), K. E. Skydsgaard und E. Kinder (144), H . G. Gadamer (148), J. Moltmann (151), W. Pannenberg (153) V. D i e Geschichte der Offenbarungstradition und die Enstehung des neutestamentlichen Kanons VI. Das gegenseitige Verhältnis zwischen Überlieferung und Heiliger Schrift 1. Die wesenhafte Verbundenheit von Tradition und Kanon nach Dei Verbum . . . . . 2. Die innere Einheit der Offenbarungstradition mit der Sdirift bei Irenäus

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V I I . D a s Verhältnis der Tradition und Schrift zur Kirche und ihrem Lehramt 1. Das hierarchisch bestimmte Beziehungsverhältnis zwischen Überlieferung und Volk Gottes im II. Vaticanum 2. Amt, Uberlieferung und Kirdie bei Irenaus . . 3. Das unterschiedliche Verständnis des römischen Primats als Kontroverspunkt zwischen der frühdiristlichen Konzeption und dem II. Vaticanum

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V I I I . Die Überlieferung des Glaubens und die Einheit der Kirdie

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Abkürzungsverzeichnis.

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Literaturverzeichnis

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Register von Kirchenversammlungen und lehramtlichen Dokumenten

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Register antiker und mittelalterlicher Autoren

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Register moderner Autoren .

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I. Zur Methode und Intention der Interpretation Die Konstitution „Über die göttliche Offenbarung" ist zweifellos das wichtigste Dokument des II. Vaticanums 1 . Sowohl in sachlicher als auch in logischer Beziehung ist sie auf jeden Fall der anderen dogmatischen Konstitution des Konzils „Über die Kirche" vorzuordnen, denn in ihr wird das zentralste theologische Thema schlechthin behandelt, nämlich die Frage nach der Gegenwärtigkeit des historisch einmaligen Offenbarungsgeschehens. In einer umfassenden Konzeption wird hier das Beziehungsverhältnis zwischen Offenbarung, Tradition, Schrift, Kirche, Lehramt und Heiligem Geist dargelegt und damit das Hauptproblem aller Kontroverstheologie und des gesamten Ökumenismus zur Diskussion gestellt 2 . Der gesamte Verlauf des II. Vaticanums hat deutlich gezeigt, daß die dogmatischen Verlautbarungen dieses Konzils weniger als Glaubensdefinitionen im althergebrachten üblichen Sinne gemeint sind, sondern vielmehr neue Möglichkeiten des theologischen Denkens und des Gespräches zwischen den getrennten Kirchen eröffnen sollen. Die pastoraltheologische Absicht des Konzils und seine ökumenisdie Zielsetzung verbieten von vornherein eine Interpretationsmethode, die mit einer konfessionellen Lösung des vielschichtigen und komplizierten Problemkomplexes rechnet und deshalb nur darauf bedacht ist, bestimmte kontroverstheologische Positionen der Vergangenheit zu fixieren und noch weiter zu verhärten. Eine dem Geist und Geschehen des Konzils sachgemäße Inter1 Zitiert wird nach dem aus A A S 58 (1966), 817—836 wiedergegebenen lateinischen Wortlaut in L T h K D a s zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Bd. II, Freiburg/Basel/Wien 1967, 504—583. Dort findet sich auch die offizielle deutsche Übersetzung, die in dieser Untersuchung verwandt wird. — Das I.—II. und das VI. K a pitel wurden kommentiert von J . Ratzinger, das III. von A. Grillmeier und das IV. und V. Kapitel von B. Rigaux. 1 In dem Konzilsdekret „Ober den Ökumenismus" N r . 21 wird dieses zentrale Problem ins Auge gefaßt. „Während die von uns getrennten Christen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift bejahen, haben sie jedoch, jeder wieder auf andere Art, eine von uns verschiedene Auffassung von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche, wobei nadi dem katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung und Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen Platz einnimmt", cf. infra 189 n. 1 das lateinische Zitat. — Zitiert wird nach dem aus A A S 57 (1965), 90—112 wiedergegebenen lateinischen Text mit seiner offiziellen deutschen Übersetzung in L T h K D a s zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Bd. II, Freiburg/Basel/Wien 1967, 40—123. D a s Dekret wird kommentiert von J . Feiner, der p. 115 auf die entsprechenden Stellen der Offenbarungskonstitution verweist.

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pretation muß bereit sein, die Offenheit der ausgesprochenen und formulierten Gedanken für die Zukunft in Rechnung zu stellen. Es ist in unserer heutigen Situation nicht zu erwarten, daß auf bestimmte kontroverstheologische Fragen der Vergangenheit überhaupt noch befriedigende Antworten gefunden werden können, wenn diese Fragestellungen nicht selbst durch neue denkerische Ansätze und weiterführende Konzeptionen überwunden werden. Unter diesem Aspekt sind bestimmte herkömmliche Interpretationsmethoden, seien sie mehr historisch oder vorwiegend konfessionell-dogmatisch orientiert, von vornherein in ihrer spezifischen Relativität zu erkennen. So kann eine historisch-genetische Erklärung der Endform der vorliegenden Fassung von Dei Verbum gegeben werden 3 , oder die Konstitution wird in erster Linie als die reife Frücht und die vorläufig letzte Stufe einer langen vorausgehenden theologie- und dogmengeschichtlichen Entwicklung ausgelegt4. Ein anderer Weg der Interpretation ist die s An ausführlichen Kommentaren sind zu nennen E. Stakemeier, Die Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung. Werden, Inhalt und theologische Bedeutung, Paderborn 1966 (2. Aufl. 1967), G. H . Tavard, The Dogmatic Constitution on Divine Révélation of Vatican Council II, London 1966, cf. die Zusammenfassung dieses Werkes bei G. H . Tavard, Commentary on De Revelatione, JES 3 (1966), 1—35, und das monumentale Sammelwerk von B.-D. Dupuy (ed.), La révélation divine. Constitution dogmatique „Dei Verbum'", Paris 1968. — Für breitere Leserschichten gedachte Auslegungen der Konstitution bieten D. Arenhoevel, Was sagt das Konzil über die Offenbarung?, Mainz 1967 und R. Schutz/M. Thurian, Das Wort Gottes auf dem Konzil. Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, Wortlaut und Kommentar, Freiburg/Basel/Wien 1967. Diese Arbeit zeichnet sich in besonderer Weise durch ihr theologisches Einfühlungsvermögen aus. Ähnlichen Charakter hat auch die Arbeit von O. Semmelroth/M. Zerwick, Vaticanum II über das Wort Gottes, Stuttgarter Bibelstudien 16 (1966), 5—95. — Ebenso sind folgende Aufsätze heranzuziehen: G. Voss, Die dogmatische Konstitution „Über die göttlichen Offenbarung", UnaS 21 (1966), 30—45; M. Zerwick, De S. Scriptura in Constitutione dogmatica „Dei Verbum", VD 44 (1966), 17—42; R. Latourelle, La Révélation et sa transmission selon la Constitution „Dei Verbum", Greg 47 (1966), 5—40; G. Baum, Die Konstitution De Divina Revelatione, Cath 20 (1966), 85—107; G. Baum, Vatican II's constitution on révélation: History and interprétation, ThSt 28 (1967), 51—75; K. Aland, De duplici fonte revelationis.. Ein Bericht zum Problem von Sdirift und Tradition auf dem II. Vaticanum, in: Erneuerung der Einen Kirche. Arbeiten zur Kirchengeschichte und Konfessionskunde Heinrich Bornkamm zum 65. Geburtstag gewidmet, hrsg. J. Lell, Göttingen 1966, 168—178; H . Geisser, Viva vox Evangelii in Ecclesia. Beobachtungen an der dogmatischen Konstitution „Über die göttliche Offenbarung", MdKI 17 (1966), 41—50; ähnlich H . Geisser, Hermeneutische Probleme in der neueren römisch-katholischen Theologie, in: Erneuerung der Einen Kirche . . . op. cit. 200—229 und P. van Leeuwen, Der Reifungsprozeß des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Lehre über die göttliche Offenbarung und ihre Weitergabe, Con 3 (1967), 2—8. 4 So zum Beispiel bei R. Daunis, Schrift und Tradition in Trient und in der modernen römisch-katholischen Theologie, KuD 13 (1967), 132—158. 184—200, wo die Schwäche dieser Methode deutlich zutage tritt, da die Problematik der Vergangenheit das

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direkte Konfrontation mit der reformatorischen Position, wie sie sich besonders in der von Luther herkommenden Wort-Gottes-Theologie manifestiert 5 . — Diese drei genannten Auslegungsmethoden können sicherlich wichtige Gesichtspunkte zur weiteren Diskussion beitragen, die auch in dieser Untersuchung gebührend und sorgfältig berücksichtigt werden sollen. Für sich genommen sind sie jedoch ungenügend, da sie nicht in befriedigender Weise auf den ökumenischen Neuansatz und Aufbruch des II. Vaticanums eingehen können. Nur diejenige Interpretation kann deshalb als der verhandelten Sache adäquat gelten, die wirklich ernsthaft mit dem Versuch rechnet, den bisherigen durch das Mittelalter, die Reformation und die Gegenreformation geprägten Engpaß der gesamten theologischen Problemstellung zu überwinden. Nur einer ökumenisch orientierten und auf die Zukunft gerichteten Hermeneutik wird es möglich sein, die grundlegende Intention zur Entschränkung des bisherigen konfessionellen Gegensatzes zu erfassen. Versteht man nun aber unter „ökumenisch" nicht nur ein räumliches Nebeneinander, sondern auch die echte geschichtliche Kontinuität des wahren Glaubens und die gemeinsame Grundlage der sich differenzierenden und oft widerstreitenden kirchlichen Traditionen, so dürfte es für eine der Konstitution kongeniale Exegese angebracht sein, das Offenbarungs- und Überlieferungsverständnis von Dei Verbum kritisch mit dem der Alten Kirche zu vergleichen und systematisch zu konfrontieren, wie es beispielhaft bei führenden Theologen des zweiten bis fünften wirklich Neue überdeckt, das nicht ausschließlich genetisch erklärt werden kann. Die gleiche Beobachtung gilt für die Ausführungen bei R. Boeckler, Der moderne römischkatholisdie Traditionsbegriff. Vorgeschichte. Diskussion um das Assumptio-Dogma. Zweites Vatikanisches Konzil, Göttingen 1967, 210—225. Boeckler verkennt in polemischer Absicht, daß das moderne katholische Traditionsverständnis keineswegs dem Assumptio-Dogma seine Prägung verdankt. Cf. die kritischen Rezensionen von G. H. Tavard in ThSt 29 (1968), 347—349 und G. G. Blum, Das II. Vatikanum — Selbstrechtfertigung oder ökumenischer Aufbruch?, Quatember 33 (1968/69), 36—37. — Eine primär theologiegeschichtlich orientierte Interpretation gibt audi G. C. Berkouwer, Das Konzil und die neue katholische Theologie, München 1968 (holländische Ausgabe 1965). 5 In Verbindung mit der zuerst genannten Methode gehen diesen Weg K . E. Skydsgaard, Schrift und Tradition. Eine vorläufige Untersuchung zur Entstehung und Aussage des Dokuments Constitutio dogmatica de Divina Revelatione »Dei Verbum", in: Wir sind gefragt. Antworten evangelischer Konzilsbeobachter, hrsg. F. W. Kantzenbach/ V. Vajta, Göttingen 1966, 31—61 und E. Schlink, Nach dem Konzil, München/Hamburg 1966, 167—178, ebenso E. Schlink, Écriture, Tradition et Magistère selon la Constitution Dei Verbum, in Dupuy, La révélation divine 499—511 und U. Kühn, Die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils, Berlin 1967, 47—75. Besonders erwähnenswert sind auch die Ausführungen bei G. Maron, Kirche und Rechtfertigung. Eine kontroverstheologische Untersuchung, ausgehend von den Texten des zweiten Vatikanischen Konzils, Göttingen 1969, 164—179, wo allerdings die Kurzschlüssigkeit der althergebrachten kontroverstheologischen Interpretationsmethode evident wird. Cf. die Rezension G. G. Blum, Das Monstrum Rom, Quatember 34 (1969/70), 98—100.

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J a h r h u n d e r t s z u m A u s d r u c k k o m m t , z u m ersten M a l e a b e r richtungsweisend f ü r die folgenden Generationen v o n Irenäus dargelegt w u r d e 6 . B l i c k t m a n a u f d i e Geschichte d e s T r a d i t i o n s b e g r i f F e s in d e r westlichen lateinischen K i r c h e , so f ä l l t ins A u g e , d a ß schon d i e m i t t e l a l t e r l i c h e E n t w i c k l u n g g e k e n n z e i c h n e t ist v o n einer i m m e r z u n e h m e n d e n D e s i n t e g r a t i o n d e r u r s p r ü n g l i c h e n u m f a s s e n d e n frühchristlichen K o n z e p t i o n 7 . D i e v e r h e e r e n d e n F o l g e n dieses P r o z e s s e s , v o r a l l e n D i n g e n d i e i m m e r g r ö ß e r w e r d e n d e D i a s t a s e zwischen Schrift u n d Kirche8, gehören zu den tiefsten U r s a c h e n d e r R e f o r m a t i o n . W e d e r d e r e v a n g e l i s c h e n noch der römischk a t h o l i s c h e n S e i t e g e l a n g es j e d o c h i m 16. J a h r h u n d e r t , z u d e r u m f a s s e n d e n W e i t e u n d T i e f e des altkirchlichen D e n k e n s z u r ü c k z u f i n d e n . D a s v e r h ä n g n i s v o l l e E r b e des lateinischen M i t t e l a l t e r s m i t seiner v e r k ü r z t e n Problemstellung und m a n g e l n d e n Erkenntnis der Offenbarungsgeschichte w u r d e nicht ü b e r w u n d e n , s o n d e r n i m Z e i t a l t e r d e r G e g e n r e f o r m a t i o n in sich e i n a n d e r a u s s c h l i e ß e n d e n k o n f e s s i o n e l l e n P o s i t i o n e n v e r h ä r t e t , d i e nun die kontroverstheologische P r o b l e m a t i k zwischen römischen K a t h o l i z i s m u s u n d P r o t e s t a n t i s m u s bis in u n s e r e e i g e n e Z e i t b e s t i m m t e n 9 . 6 Die umfassendste Sammlung des betreffenden Quellenmaterials findet sich in dem Artikel von A. Michel, Tradition, DThC X V 1, Paris 1946, 1252—1350. — Die wichtigsten Monographien, die sich in jüngster Zeit mit dem Thema beschäftigen sind E. Flesseman-van Leer, Tradition and Scripture in the Early Church, Assen 1954; R. P. C. Hanson, Tradition in the Early Church, London 1962 und G. G. Blum, Tradition und Sukzession. Studien zum Normbegriff des Apostolischen von Paulus bis Irenäus, Berlin/Hamburg 1963. — Speziell zu Irenäus sind heranzuziehen A. Bengsch, Heilsgeschidite und Heilswissen. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus Haereses" des Hl. Irenäus von Lyon, Leipzig 1957; J . Odiagavia, Visibile Patris Filius. A study of Irenaeus' teaching on Revelation and Tradition, Rom 1964 und N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon. Zur Charakteristik der Systeme, Salzburg/München 1966. 7 Die einzelnen Etappen dieses Desintegrationsprozesses werden dargestellt in den beiden grundlegenden Werken von G. H. Tavard, Holy Writ or Holy Church. The crisis of the Protestant Reformation, London 1959 und von Y. Congar, La tradition et les traditions, I : Essai historique, Paris 1960 (in deutscher Übersetzung: Die Tradition und die Traditionen I, Mainz 1964); II: Essai théologique, Paris 1963. — Ein kurzer Oberblick über die Geschichte des Traditionsbegriffes wird außerdem in folgenden Aufsätzen geboten: J . Bakhuizen van den Brink, La tradition dans l'église primitive et au X V I siècle, RHPhR 36 (1956), 271—281; J . Bakhuizen van den Brink, Tradition im theologischen Sinne, Vig Chr 13 (1959), 65—86 und H. A. Obermann, Q u o vadis? Tradition from Irenaeus to Humani Generis, SJTh 16 (1963), 225—255. 8 Die Folgen dieser Desintegration werden zum Beispiel in folgender Weise beurteilt von Tavard, Holy Writ 36: „The breaking asunder of that synthesis (the coherence of Scripture and Church) in the fourteenth century not only made the Churdi subsurvient to Scripture or the Scripture ancillary to the Churdi. It furthermore threw open a door by way of a supposed superiority of the Churdi over Holy Writ, to the idea that the Church had her own revelation independent of that which the Apostels recorded in their writings." • Über die zum Tridentinum hinführende und ihm folgende Entwicklung der Kontroverstheologie handeln ausführlich J . R. Geiselmann, Die Heilige Schrift und die Tradi-

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Im Unterschied zu dieser Entwicklung im Westen, die zu einem sich immer mehr vertiefenden konfessionellen Gegensatz im Verständnis der Offenbarung und ihrer Uberlieferung führte, verharrten die Kirchen des Ostens bei einer ursprünglichen, altkirchlichen Traditionstheologie. D a ß diese Position keineswegs der Vergangenheit angehört oder etwa von der Problemstellung des lateinischen Katholizismus und des Protestantismus überholt wurde, zeigte sich mit aller Deutlichkeit 1963 auf der „Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung" in Montreal, deren Verlautbarungen über Schrift und Tradition in eindrücklicher Weise das Gewicht der orthodoxen Auffassung dokumentieren 1 0 . Will man also das Thema „Offenbarung und Uberlieferung" nicht mehr nur mit einer einseitig konfessionell bedingten Fragestellung, sondern vielmehr unter ökumenischem und universalkirchlichem Aspekt betrachten, bedarf gerade die in einer ungebrochenen Kontinuität zur Frühzeit des Christentums stehende ostkirchliche Konzeption einer eingehenden Berücksichtigung 11 . Angesichts der heutigen ökumenischen Diskussionslage ist die kritische Frage unumgänglich, ob es nicht in der westlichen Geschichte des Traditionsverständnisses zu einer bedrohlichen Verengung und Verkürzung der gesamten Problemstellung gekommen ist 12 . tion. Zu den neueren Kontroversen über das Verhältnis der H l . Schrift zu den nichtgeschriebenen Traditionen, Freiburg/Basel/Wien 1962 und J . Beumer, Die mündliche Oberlieferung als Glaubensquelle, Handbuch der Dogmengeschichte Bd. I 4, Freiburg 1962. — Eine gute Einführung in die moderne Problematik gibt P. Lengsfeld, Überlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart, Paderborn 1960. 1 0 Siehe den Bericht der Sektion I I : »Schrift, Tradition und Traditionen", in: Montreal 1963. Bericht der Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung Montreal 12.—26. Juli 1963, hrsg. P. C. R o d g e r / L . Vischer, Genf 1963, 42—53. Die die Sektionsarbeit vorbereitenden Aufsätze finden sich in dem Sammelband: Schrift und Tradition. Untersuchung einer theologischen Kommission, hrsg. K . E. S k y d s g a a r d / L . Vischer, Zürich 1963. Folgende Beiträge dieses Bandes wurden in dieser Arbeit verwertet: J . L. Leuba, Tradition und Traditionen. Versuch einer systematischen Klärung, ibd. 9—23; E. Flessman-van Leer, Tradition, Schrift und Kirche bei Irenaus, ibd. 45—61; K . Bonis, Zur Frage der Tradition und der Traditionen. Versuch einer orthodoxen Stellungnahme, ibd. 62—68; E. Molland, Die Bedeutung der historisch-kritischen Forschung für das interkonfessionelle Gespräch über Schrift und Tradition, ibd. 69—94; K . E. Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, ibd. 128—156. — Besonders wertvoll ist die am Schluß des Bandes von G. Pedersen zusammengestellte Bibliographie, die den Zeitraum von 1930 bis 1962 umfaßt. 11 Wie notwendig eine solche Einbeziehung der orthodoxen Sicht ist, ergibt sich zum Beispiel aus N . A. Nissiotis, Bericht über das II. Vatikanische Konzil, ö k R 15 (1966), 120—136 oder aus dem Votum von J . Meyendorff, The meaning of tradition, in: Scripture and Ecumenism, Protestant, Catholic, Orthodox and Jewish, ed. L. J . Swidler, Louvain 1965, 43—58. 1 1 Diese wichtige Frage wird zum Beispiel völlig außer acht gelassen von G . Ebeling, „Sola sripctura" und das Problem der Tradition, in: G. Ebeling, Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 1964, 91—143, p. 92.

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Da diese Arbeit das Ziel verfolgt, die dogmatische Konstitution Dei Verbum auf ihre ökumenische Intention und Tragweite hin zu untersuchen, ist es angebracht, den Skopus ihrer einzelnen Abschnitte durch eine genaue Textanalyse zu erfassen. Hierbei ist es erforderlich, auch auf eine genetische und theologiegeschichtliche Erklärung zurückzugreifen. Nach dieser ersten Phase der Interpretation soll dann in thematischer Gliederung jeweils die kritische Konfrontation mit dem altkirchlichen, beziehungsweise orthodoxen Offenbarungs- und Traditionsverständnis vollzogen werden. Soweit dies im Rahmen einer solchen Untersudiung überhaupt möglich ist, wird sich hierbei auch eine Auseinandersetzung mit profilierten modernen Positionen ergeben, die für eine ökumenische Offenbarungs- und Traditionstheologie relevant sind.

IL Das Verständnis der Offenbarung 1. Der Durchbrach zu einem heilsgeschichtlichen und dialogischen Offenbarungsbegriff im II. Vaticanum Die unerläßliche Voraussetzung für eine theologisch fundierte Konzeption der Überlieferung ist die klare Erfassung dessen, was den Inhalt und den Modus der Tradition ausmacht. Ein erheblicher Mangel der herkömmlichen kontroverstheologischen Fragestellung nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition bestand darin, daß schon von der Frage her eine verhängnisvolle Verkürzung der Sachproblematik eintrat, die von vornherein alle noch so ernstgemeinten Lösungsversuche zunichte machte. Das Thema Sdirift und Tradition muß deshalb in den weiteren und tieferen Zusammenhang der Offenbarung und ihrer Uberlieferung hineingestellt werden. Bevor über Schrift, Kirche, Lehramt und Schriftauslegung gesprochen werden kann, muß überhaupt erst geklärt werden, was unter der Offenbarung zu verstehen ist1. Der spannungsvolle WerdeHier zeigt sich als ein grundlegender Mangel, daß das altkirchliche und orthodoxe Traditionsverständnis von Ebeling kaum in seine Erwägungen miteinbezogen wird. 1 Eine gute Einführung in die Geschichte und die Strukturen des Offenbarungsbegriffes gibt R. Latourelle, Théologie de la Révélation, Bruges/Paris 1963 (2. ed. 1966). In dieser Arbeit findet sich auch ein kurzer Überblick über das Offenbarungsverständnis der Patristik, das allerdings einer eingehenderen Darstellung bedürfte. Zu Irenaus cf. p. 96—106. — Eine systematisch orientierte Darstellung und Diskussion der verschiedenen vom II. Vaticanum rezipierten Komponenten des Offenbarungsbegriffes der modernen Theologie bietet H. Waidenfels, Offenbarung. Das Zweite Vatikanische Konzil auf dem Hintergrund der neueren Theologie, München 1969. Diese Arbeit ist auch des-

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gang der dogmatischen Konstitution Dei Verbum zeigt in überzeugender Weise, wie die bisherige Engführung überwunden wurde und damit eine neue Diskussionsgrundlage für die getrennten Kirchen entstanden ist. Symptomatisch für die problemgeschichtliche Situation zu Beginn des Konzils war das am 14. September 1962 von der Theologischen Kommission den Vätern vorgelegte Schema De fontibus revelationis2. In seinem ersten Kapitel mit der Überschrift De duplici fonte revelationis wird der Begriff der Offenbarung überhaupt nicht behandelt. Es wird vielmehr einfach vorausgesetzt, daß die Offenbarung mit der in Tradition und Schrift weitergegebenen Lehre identisch ist. Die Schrift und die konstitutive Tradition sind zwei voneinander unabhängige Offenbarungsquellen, die sich gegenseitig inhaltlich ergänzen, wobei immer vorausgesetzt werden muß, daß der Inhalt der Tradition größer ist als der der Schrift 3 . In welchem Verhältnis nun aber diese beiden Quellen zur halb besonders verdienstvoll, da sie das Gespräch mit evangelischen Theologen wie Bultmann, Cullmann und Pannenberg aufnimmt. Allerdings ist Waidenfels zu fragen, inwieweit überhaupt gesondert über die Offenbarung unter Absehung von ihrer Überlieferung gehandelt werden kann. — Über das Verhältnis zwischen biblischen Aussagen und theologischer Begrifflichkeit handelt sehr gut W . Bulst, Offenbarung. Biblischer und theologischer Begriff, Düsseldorf 1960. 2 Der T e x t dieses Entwurfs findet sich in: Schemata Constitutionum et Decretorum de quibus disceptabitur in Concilii sessionibus, Series prima, Typis Polyglottis Vaticanis 1962, p. 9 — 2 2 . — Eine Inhaltsangabe und Besprechung dieses Schemas geben: Aland, D e duplici fonte revelationis 1 6 0 — 1 7 7 ; Stakemeier, Die Konzilskonstitution 5 2 — 6 2 ; Dupuy, La révélation divine 6 2 — 7 3 und L T h K Das Zweite Vatikanische Konzil Bd. I I I , Freiburg/Basel/Wien 1968, p. 6 6 6 — 6 6 7 . — Als Rechtfertigung dieses ersten Schemas ist die Arbeit zu verstehen von P . Balic, D e Scriptura et Traditione, Romae 1963. Hier wird die materielle Insuffizienz der Schrift zugunsten einer konstitutiven Tradition offen postuliert und dieses Theologumenon gegen alle Reformtendenzen verteidigt. Die gleiche Intention verfolgen die Aufsätze von U . Betti, La tradizione e una fonte de rivelazione?, Antonianum 38 (1963), 3 1 — 4 9 ; A . Trapé, D e traditionis relatione ad S. Scripturam iuxta Concilium Tridentinum, Augustianum 3 (1963), 2 5 3 — 2 8 9 und I. Backes, Tradition und Schrift als Quellen der Offenbarung, T r T h Z 6 (1963), 3 2 1 — 3 3 3 . — Ebenso ganz im Sinne dieser konservativen neuscholastischen Auffassung ist noch die Arbeit konzipiert von H . Kruse. Die Heilige Schrift in der theologischen Erkenntnislehre. Grundfragen des katholischen Schriftverständnisses, Paderborn 1964. Sdion bei ihrem Erscheinen war diese Monographie durch das Konzil überholt. — Einen guten Einblick in die Auseinandersetzung um dieses Thema zwischen der konservativen und progressiven Gruppe vermittelt J . R . Geiselmann, Zur neuesten Kontroverse über die Heilige Schrift und die Tradition, T h Q 144 (1964), 3 1 — 6 8 und J . R . Geiselmann, Schrift und Tradition, T h Q 144 (1964), 3 8 5 — 4 4 4 , cf. ebenso G . Tavard, Scripture and T r a d i tion: Sources or Source?, J E S 1 (1964), 4 4 5 — 4 5 9 . — Diese sich auch literarisch niedergeschlagene heftige Diskussion um dieses Thema zeigt eindrücklich, daß das erste Schema der Offenbarungskonstitution sich auf eine starke Gruppe der konservativen Schultheologie stützen konnte. — H . Holstein, Les ,deux sources' de la révélation, R S R 57 (1969), 3 7 5 — 4 3 4 spricht von einer „Überholung" der alten Kontroverse auf dem I I . Vaticanum (p. 411). Trotzdem muß er als Historiker nüchtern feststellen, daß unter dem Druck der Minorität, die in keinem Augenblick ihre Attacke verminderte, das Konzil davon Abstand nahm, das Problem endgültig zu lösen (p. 433).

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O f f e n b a r u n g selber stehen u n d welche Z u o r d n u n g u n t e r e i n a n d e r sie v o n diesem U r s p r u n g h e r e r f a h r e n , w i r d e b e n s o w e n i g deutlich w i e d e r w i c h t i g e U n t e r s c h i e d zwischen d e m e i n m a l i g e n Geschehen d e r

Selbstmittei-

l u n g G o t t e s in C h r i s t u s u n d seiner W e i t e r g a b e u n d A k t u a l i s i e r u n g in d e r Kirche. D i e s e r aus d e r N e u s c h o l a s t i k s t a m m e n d e n K o n z e p t i o n liegt die i n t e l lektualistische A u f f a s s u n g z u g r u n d e , d a ß C h r i s t u s d e s h a l b d e r b a r e r ist, w e i l e r eine L e h r e als O f f e n b a r u n g v e r k ü n d i g t e 4 .

Offen-

Besonders

deutlich t r i t t diese A n s c h a u u n g in d e m z w e i t e n E n t w u r f h e r v o r , Schema

constitutionis

dogmaticae

de deposito

fidei

pure

custodiendo,

dem der

u r s p r ü n g l i c h g e s o n d e r t v o r g e l e g t w e r d e n sollte, d a n n a b e r n a c h d e r A b l e h n u n g des ersten Schemas stillschweigend v o n d e r T a g e s o r d n u n g schwand. Dieser E n t w u r f

ist g e k e n n z e i c h n e t

d u r c h eine

ver-

eigentümliche

D i s t a n z z u m Geschick u n d H e i l s w e r k J e s u ; es g e h t i h m ausschließlich u m g e o f f e n b a r t e W a h r h e i t e n . S o w i r d ü b e r d e n K r e u z e s t o d u n d die A u f e r s t e h u n g g e s a g t : „ F ü r die g e o f f e n b a r t e O r d n u n g des H e i l s h a b e n diese E r e i g n i s s e k e i n e B e d e u t u n g , es sei d e n n , sie w ü r d e n w e g e n d e r W a h r h e i t e n , die in i h n e n v e r b o r g e n sind o d e r m i t i h n e n v e r b u n d e n w e r d e n , durcii die P r e d i g t C h r i s t i u n d d e r G e s a n d t e n G o t t e s v e r k ü n d i g t u n d v o n uns im Glauben festgehalten."5 3 Diese theologische Sdiulmeinung wurde weithin auf evangelischer Seite als die katholische Glaubensüberzeugung angesehen. So spricht zum Beispiel C. H. Ratschow, Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, p. 193 von der römisch-katholischen Auffassung der Tradition als „das Reservoir von Offenbarungen, das nicht aufgezeichnet ist und das von der Kirche weitergegeben wird" (ebenso in der 3. Auflage 1967!). — Wenn nach dem II. Vaticanum Daunis, Schrift und Tradition 132 behauptet, daß über die inhaltliche Suffizienz der Schrift nicht entschieden worden sei, so ist dies nur unter der Voraussetzung zutreffend, daß auf jeden Fall die im ersten Schema dargelegte Zweiquellentheorie abgewiesen wurde. Aus diesem Grunde ist die Feststellung p. 200 unrichtig, daß das neue römisch-katholische Traditionsverständnis, mindestens was die Fragestellung anbelangt, mit der Zweiquellentheorie identisch bleibe, denn gerade diese Fragestellung wurde überwunden. 4 Kühn, Die Ergebnisse 51 weist hin auf das stark erkenntnismäßige Moment im herkömmlichen katholischen Offenbarungsverständnis. Dieses hängt mit der thomistischen Auffassung des Heils zusammen als vollkommener Erkenntnis Gottes und in der Ewigkeit als intellektueller Gottesschau. Kühn spricht in diesem Zusammenhang von einem konzeptualistischen Offenbarungsbegriff: die vom Verstand erfaßten Wahrheiten und Begriffe sind die letzten Realitäten. — Eine instruktive zusammenfassende Darstellung dieses Offenbarungsverständnisses der römisch-katholischen Schultheologie gibt Waidenfels, Offenbarung 26—38. Zu dieser Auffassung von einer sachlich-begrifflichen Mitteilung übernatürlicher Wahrheiten steht in scharfen Kontrast der Konsensus evangelischer Theologie über die Offenbarung als personaler Selbstmitteilung Gottes, der von Waldenfels, op. cit. 104ss eingehend gewürdigt wird. 5 Dieses zweite Schema findet sich in Schemata Constitutionum 36—47, das Zitat p. 18: Nam ad revclatum ordinem salutis ii eventus non pertinent, nisi per veritates quae in iis latent aut cum iis connectuntur, sermone Christi et legatorum Dei declarandas atque ii nobis fide tenendas. — Ober die vorbereiteten Schemata der Theologischen Kommis-

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Wir haben es hier mit einem stark intellektuell geprägten Verständnis der Offenbarung zu tun, die in erster Linie als ein übernatürliches Sprechen Gottes aufgefaßt wird. Zugleich könnte man diesen Offenbarungsbegriff als primär prophetisch orientiert charakterisieren, da die entscheidende Bedeutung der Menschwerdung des ewigen Wortes außerhalb seines Horizontes liegt. Folglich wird auch eine der grundlegenden Voraussetzungen des in der Endform von Dei Verbum explizierten Traditionsbegriffes abgelehnt, daß nämlich im Osterglauben eine Totalerfahrung des Christusmysteriums stattgefunden hat und weiterhin möglich ist. „Ebenso kann nicht angenommen werden, daß der göttliche und katholische Glaube zuallererst durch eine Erfahrung begründet wird, durch die allein das ganze Mysterium Christi, in dem alles offenbart ist, erfaßt würde und erst in zweiter Linie in dem Akt besteht, mit dem durch Vorstellungen und Worte das ausgedrückt wird, was zuvor durch die Erfahrung eine größere Tiefe erreicht hat." 6 Damit ist eine Realund Totaltradition ausgeschlossen, die sich auf die vor jedem formulierbaren Zeugnis liegende Selbsterschließung Gottes bezieht, denn Offenbarung ist zunächst immer in historisch faßbaren Sätzen ausgesagt, deren Bedeutung durch logische Deduktionen weiter expliziert werden kann. Es liegt auf der H a n d , daß diese Betrachtungsweise der unbedingten Priorität des inkarnierten Wortes gegenüber allem Zeugnis von diesem Wort und seiner Überlieferung nicht gerecht werden kann. Es ist deshalb in dieser Sicht durchaus konsequent, von einer doppelten Quelle der Offenbarung zu sprechen. Von einem einzigen Ursprung kann nämlich im strengen Sinne nur im Hinblick auf Jesus Christus selbst die Rede sein, der als das ewige Wort Gottes das Evangelium in seiner Person verkörpert. Es entspricht deshalb durchaus dem im zweiten Entwurf explizierten Offenbarungsverständnis, daß im ersten Schema De fontibus revelationis die Zweiquellentheorie in zugespitzter und polemischer Weise vertreten wird. „Die durch die Anordnungen und Vorbilder Christi und der Apostel gegründete Kirche hat immer geglaubt und glaubt, daß die unversehrte Offenbarung nicht in der Schrift allein, sondern in der Schrift und sion cf. LThK Das Zweite Vatikanische Konzil III 665—675 und besonders ausführlich P. Grelot, La Constitution sur la Révélation I: La préparation d'un schéma conciliaire, Ét 324 (1966), 99—113; über die Endform des Konstitutionstextes dann ebenso P. Grelot, La Constitution sur la Révélation II: Contenu et portee du texte conciliaire, Ét 324 (1966), 233—246. Uber das zweite Schema cf. ebenso Dupuy, La révélation divine 74ss. 8 Schema constitutionis op. cit. 20: Proinde teneri non potest fidem divinam et catholicam constituí primarle experientia, qua totum mysterium Christi in eoque omne revelatum verum percipiatur, et secundarie tantum in actu consistere quo, per conceptus et verba, ea exprimantur quae pr'tus altiori gradu experientia attigerit. — Bemerkenswert ist auch, daß diese Sichtweise ganz und gar dem Historismus entspricht, der nicht imstande ist, die hinter den positiven Quellen stehende Wirklichkeit und das diesen Quellen zugrunde liegende Geschehen in den Blick zubekommen. Cf. infra 148—149 und 168.

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Tradition wie in einer doppelten Quelle enthalten ist."7 Das Konzil von Trient hatte noch das Evangelium als „die Quelle aller heilbringenden Wahrheit und sittlichen Ordnung" bezeichnet und dann festgestellt, daß „diese Wahrheit und Ordnung enthalten ist in geschriebenen Büchern und in ungeschriebenen Traditionen" 8 . Durch diese Formulierung war die Frage nach der inhaltlichen Suffizienz der Schrift völlig offen gelassen. Die Voraussetzung dieser Position, nämlich der streng singularische Gebrauch des theologischen Zentralbegriffes der „Quelle", wurde aber in der Folgezeit nicht durchgehalten, und selbst Pius XII. spricht noch in seiner Enzyklika Humani generis aus dem Jahre 1950 unbekümmert von den „Quellen der Offenbarung", ohne im gegebenen Zusammenhang die Konsequenzen dieser Redeweise zu reflektieren9. So mußte die An7 Constitutio de fontibus revelationis, Cap. I Absatz 4, 7—10, in: Schemata constitutionum 10: Christi itaque et Apostolorum mandatis et exemplis instituía, sancta mater Ecclesia Semper credidit et credit integrum revelationem non in sola Scriptura sed in Scriptura et Traditione tanquam in duplici fönte contineri. Es wird dann noch hinzugefügt, daß die Übermittlung auf verschiedene Weise geschehen kann und daß die von den Aposteln empfangene Tradition quasi per manus tradita unabhängig von schriftlicher Fixierung auf mündlichem Wege zu uns gekommen ist. 8 Sessio IV Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis, DS 1501 (783): Sacrosancta oecumenica et generalis Tridentina Synodus in Spiritu Sancto legitime congregata . . . hoc sibi perpetuo ante oculos proponens ut sublatis erroribus puritas ipsa Evangelii in Ecclesia conservetur, quod promissum ante per Prophetas in Scripturis sanctis Dominus noster Jesus Christus Dei Filius proprio ore primum promulgavit,deinde per suos Apostolos tamquam fontem omnis et salutaris veritatis et morum disciplinae ,omni creaturae praedicari' (Mc 16,IS) iussit; perspiciensque, hanc veritatem et disciplinam contineri in libris scriptis et sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunt. — Am Schluß dieses Dekrets ist dann von den testimonia und praesidia die Rede, durch die die Glaubenslehre bekräftigt wird (DS 1505). Schrift und Tradition haben also im Hinblick auf das Dogma die Funktion des Zeugnisses und des Schutzes. 9 Cf. DS 3886 (2314): Verum quoque est, theologis Semper redeundum esse ad divinae revelationis fontes: eorum enim est indicare qua ratione ea quae a vivo Magisterio docentur, in Sacris Litteris et in divina ,traditione', sive explicite, sive implicite inveniantur. Accedit quod uterque doctrinae divinitus revelatae fons tot tantosque continet thesauros veritatis, ut numquam reapse exhauriatur. — Trape, De traditionis relatione 281 versucht, diese Anschauung in das Tridentinum zurückzuinterpretieren. Er stellt dann die Frage, ob es nicht immer katholische Uberzeugung gewesen sei, daß nicht alle kirchlichen Lehren in der Schrift enthalten sind. Trape übersieht dabei aber, daß ein päpstliches Urteil nicht letztlich definitiv zu sein braucht und außerdem die Enzyklika Humani generis die Quellen der Offenbarung nicht als Hauptthema behandelt, also die pluralische Redeweise peripher sein kann, vielleicht sogar unreflektiert! — Zur nachkonziliaren Diskussion dieses Themenkomplexes cf. A. Vargas-Machuca, De Scriptura et Traditione, VD 46 (1968), 47—55. Es handelt sich hier um eine Zusammenfassung der größeren Arbeit des Verfassers: Escritura, Tradición e Iglesia como reglas de fe según Francisco Suarez, Granada 1967. Vargas-Machuca polemisiert p. 49ss gegen Geiselmanns These von der Suffizienz der Schrift und pflichtet der n. 13 referierten Auffassung Beumers unter Berufung auf Suarez bei (p. 52).

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schauung von der materialen UnVollständigkeit der Schrift immer neue Nahrung und Unterstützung erhalten und allmählich der Eindruck entstehen, daß diese sich keineswegs folgerichtig aus dem Tridentinum ergebende theologische Schulmeinung nun zur offiziellen kirchlichen Lehre deklariert werden konnte. Diese im ersten Schema der Offenbarungskonstitution sichtbare Absicht und die von ihr vorausgesetzte Interpretation des Tridentinums wurde aber mit Entschiedenheit und Leidenschaft von einer starken Gruppe katholischer Theologen zurückgewiesen. Besonders Josef Rupert Geiselmann vertrat die Auffassung, daß man in Trient auf jeden Fall die Möglichkeit einer materialen Suffizienz der Schrift offen gelassen habe, da die ursprünglich von den Kanonisten unter den Konzilsvätern vorgeschlagene Formulierung partim in libris partim . . .in traditionibus fallen gelassen wurde. Nach dem Widerspruch des Dominikaners Nacchianti und des Servitengenerals Bonuccio, daß die ganze Wahrheit des Evangeliums in der Schrift enthalten sei, ließ das Konzil die innerkatholische Kontroverse auf sich beruhen und begnügte sich damit, dem reforma torischen Sola-Scriptura-Prinzip mit einer Schrift und Tradition koordinierenden Formulierung zu begegnen, die die Suffizienzfrage aber unentschieden läßt 10 . Diese These des Tübinger Theologen gewann während der Verhandlung des Konzils ein großes Gewicht, das ausreichte, die im ersten Schema vorgeschlagene Lösung im Sinne der schon in Trient abgelehnten Theorie zurückzuweisen11. Da diese Auffassung aber dem bisher herrschenden, durch die nachtridenti10 Unter den zahlreichen Arbeiten Geiselmanns zu diesem Thema cf. besonders J. R. Geiselmann, Schrift — Tradition — Kirche, ein ökumenisches Problem, in: Begegnung der Christen. Studien evangelischer und katholischer Theologen, hrsg. M. Roesle/O. Cullmann, Stuttgart/Frankfurt 1959, 131—159, p. 136ss. — Eine Zusammenfassung aller früheren Arbeiten zur Interpretation des Tridentinums gibt Geiselmann, Die Heilige Schrift 108ss. — Vor Geiselmann war schon diese Interpretation vertreten worden von E. Ortigues, Écriture et traditions apostoliques au Concile de Trente, RSR 36 (1949), 271 bis 299. — Die Auffassung von Geiselmann wird nicht widerlegt, sondern erhält noch ein besonderes Gewicht durch die sicher richtige Feststellung von H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. II Freiburg 1957, p. 61 : „Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Mehrzahl der in Trient anwesenden Theologen, wenn nicht den Ausdruck partim — partim, so doch die Sache billigten, nämlidi daß die dogmatische Tradition einen die Schrift ergänzenden Offenbarungsstrom beinhalte." Zum Thema cf. ebenso Holstein, Les deux sources 376ss. 11 Das unter Mitarbeit von K. Rahner entstandene Votum sei hier als Beispiel angeführt. P. Rusch (episcopus), De non definienda illimitata insufficientia materiali Scripturae, ZkTh 85 (1963), 1—15, p. 1: Sententia, quae censet traditionem (prout distinguitur a Sacra Scriptura) continere praeter inspirationem et limites canonis insuper alias veritates dogmaticas, quae nec explicite nec implicite ullo modo continentur in Sacra Scriptura et hinc nullatenus in ea ultimum fundamentum habere dici possunt, non est sententia ita certa, ut definibilis dici possit. — Zu vergleichen ist hierzu K. Rahner, Heilige Schrift und Tradition, in: Schriften zur Theologie VI, Einsiedeln/Züridi/Köln 1965, 121—138, p. 126. 135, der hier die Suffizienz der Schrift näherhin ekklesiologisch begründet.

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nische K o n t r o v e r s t h e o l o g i e geprägten katholischen Bewußtsein w i d e r sprach 1 2 , stand sie w ä h r e n d des K o n z i l s noch zu sehr in der Auseinandersetzung, als d a ß genügend K l a r h e i t und Einmütigkeit f ü r eine Entscheidung zugunsten der materialen S u f f i z i e n z der Heiligen Schrift hätte gew o n n e n w e r d e n k ö n n e n 1 3 . A u ß e r d e m begann die Erkenntnis sich mehr und mehr durchzusetzen, d a ß die der K o n t r o v e r s e über die inhaltliche Vollständigkeit der Schrift zugrunde liegende Fragestellung das wirkliche Sachproblem in unangemessener Weise v e r k ü r z t und ein tieferes V e r ständnis des Verhältnisses zwischen Schrift und T r a d i t i o n erschwert 1 4 . Wahrscheinlich ist es letzten Endes auf die K r a f t dieser Einsicht zurückzuführen, d a ß t r o t z der k o n t r o v e r s e n theologischen Diskussionslage die im 1. Schema fixierte k o n s e r v a t i v e Position nicht mehr gehalten w e r den konnte. In einer f ü n f t ä g i g e n dramatischen Debatte w u r d e die V o r 12 So beruht die nachtridentinische Katechismuslehre vorwiegend auf der Zweiquellentheorie, wie zum Beispiel im Catechismus Romanus von 1566, cf. Catechismus ex decreto Concilii Tridentini..., Regensburg 1908, p. 11, prooemium XII: Omnis autem doctrinae ratio, quae fidelibus tradenda sit, verbo Dei continetur, quod in scripturam traditionesque distributum est. — Zu anderen Katechismen cf. H. Sdiauf, Die Lehre der Kirdie über Schrift und Tradition in den Katediismen, Essen 1963. — Zur Kontroverstheologie des 16. und 17. Jahrhunderts cf. die betreffenden Kapitel bei Geiselmann, Heilige Schrift. 13 Am schärfsten hatte schon gegen Geiselmann opponiert H. Lennerz, Scriptura Sola? Greg 40 (1959), 38—53. — Die gesamte Auseinandersetzung wird dargestellt von N. Appel, Die Kanonkrise im heutigen Protestantismus als kontroverstheologisches Problem, Paderborn 1964, p. 127ss und bei Beumer, Die mündliche Oberlieferung 126ss. Beumer selbst wendet sich sowohl gegen die Zweiquellentheorie als auch gegen die Suffizienz der Schrift und differenziert die dem Problem zugrunde liegende Fragestellung, indem er darauf hinweist, daß niemand behaupten will, man könne alle Wahrheiten aus der Schrift beweisen, aber auch niemand bestreitet, daß alle Wahrheiten in der Schrift ihr Fundament haben müssen (p. 133s). Das echte Problem besteht also in dem reziproken Beziehungsverhältnis von Schrift und Tradition, ihrer inneren organischen Einheit. 14 Bei seiner Auslegung des Trienter Dekrets vertritt diese Meinung J. Ratzinger, Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffes, in: K. Rahner/J. Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung, Freiburg/Basel/Wien 1965, 25—69, p. 50ss. Er kann sich dabei auf die Entstehungsgeschichte des Dekrets berufen, dessen endgültige Formulierungen die Synthese zwischen drei theologischen Konzeptionen darstellen. Grundlegend ist die pneumatologische Auffassung des Traditionsbegriffes, wie sie Kardinal Cervini vertrat, der das Eingeschriebensein der Offenbarung sowohl in der Bibel als auch im Herzen der Gläubigen hervorhob und das weiterführende Sprechen des Heiligen Geistes in der Kirche betonte. In diese Auffassung integriert ist ein Traditionsverständnis, das sich hauptsächlich an den gottesdienstlichen und anderen kirchlichen Überlieferungen orientierte. Das Pendant hierzu bildet schließlich die Konzeption, die den wesentlichen Inhalt der Tradition nicht primär im kirchlichen Leben, sondern im überlieferten Glauben erblicken möchte. Ist diese Analyse Ratzingers zutreffend, erübrigt es sich, wie Oberman, Quo vadis 245—246 es tut, mit den Gegnern Geiselmanns eine Interpretation des tridentinischen Traditionsbegriffes im Sinne einer partim-partim Theorie zu vertreten. — Cf. ebenso die Ausführungen über die pneumatologische und ekklesiologische Dimenson des tridentinischen Offenbarungsverständnsses bei Stakemeier, Die Konzilskonstitution 35—40.

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läge von der Mehrzahl der Bischöfe abgelehnt 15 . Obwohl bei der Abstimmung nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht wurde, ließ Johannes X X I I I . die Diskussion abbrechen und besiegelte so durch seine Initiative das Schicksal des ersten Entwurfes. Dieser Entschluß markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Verlauf des gesamten Konzils. Ohne einer rhetorischen Übertreibung zu verfallen, konnte mit Recht ein evangelischer Konzilsbeobachter die Bedeutung dieses Ereignisses darin sehen, daß mit ihm die gegenreformatorische Epoche in der Theologie der römisch-katholischen Kirche zu Ende gegangen war 1 6 . Obwohl mit der Ablehnung des ersten Entwurfes eine grundsätzliche Entscheidung über den inhaltlichen Skopus der zukünftigen Konstitution gefallen war, bedurfte es noch eines langen Weges bis zu ihrer endgültigen Fassung. Auch das von einer gemischten Kommission erarbeitete neue zweite Schema entsprach als Ganzes nicht den Intentionen der Konzilsmehrheit 17 . Nicht weniger als 280 Abänderungsvorschläge wurden vorgebracht, so daß es erst nach einer gründlichen Umarbeitung als dritter Entwurf zur öffentlichen Diskussion gestellt wurde. Obwohl auch dieses Schema noch zahlreichen Änderungen unterworfen wurde, sind in ihm schon wesentliche Bestandteile des schließlich promulgierten Textes enthalten. In dem ausführlichen Vorwort wird der enge Begriff einer Lehroffenbarung endgültig überwunden. Im ersten Kapitel De Verbo Dei revelato wird im Anschluß an das Tridentinum das Evangelium als die eine Offenbarungsquelle herausgestellt, als fons omnis et salutaris veritatis et morum disciplinae. In den folgenden Ausführungen wird dann schon deutlich zwischen diesem Evangelium und seiner Überlieferung durch die Apostel und die Kirche unterschieden. Schrift und Tradition sind die verschiedenen Weisen seiner Weitergabe. Das verbum Dei scriptum et traditum bildet zusammen das eine depositum fidei. Beide sind im Leben der Kirche so aufeinander hingeordnet, daß von 15 Die gesamte Debatte schildert ausführlich D. A. Seeber, Das Zweite Vaticanum. Konzil des Übergangs, Freiburg 1966, 88—94. — In theologiegeschichtlidier Perspektive handelt über „das Schicksal des ,Zwei-Quellen-Entwurfs'" M. Schoof, Der Durdibruch der neuen katholischen Theologie. Ursprünge — Wege — Strukturen, Wien/Freiburg/ Basel 1969, p. 296ss. 16 Skydsgaard, Schrift und Tradition 32. — W. Kasper, Schrift — Tradition — Verkündigung, in: W. Kasper, Glaube und Geschichte, Mainz 1970, 159—186, p. 159 versteht diese Entscheidung als „Abkehr der Kirche von den Verkrampfungen einer auf bloße Defensive und negative Verurteilungen eingestellten Mentalität und die Hinkehr zu einer neuen, zum Dialog mit den Andersdenkenden und Andersgläubigen bereiten Geistigkeit". 17 Eine ausführliche Inhaltsgabe der zweiten und dritten Schemas findet sich bei Stakemeier, Die Konzilskonstitution 70—84. — Die neue gemischte Kommission bestand aus Mitgliedern der Theologischen Kommission und des Sekretariats für die Einheit der Christen. Über den Beitrag dieses Sekretariats zur Entstehung der Endform der Konstitution cf. J. Feiner bei Dupuy, La révélation divine 119—153.

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ihnen gelten kann, altera alteris extranea non est. Da das Konzil aber gegenüber der Frage nach einer konstitutiven Tradition unbedingte Neutralität wahren wollte, wurde dieser Satz wieder in den folgenden Entwürfen gestrichen, weil er im Sinne einer formal-inhaltlichen Suffizienz der Schrift mißverstanden werden konnte. Die Ablehnung der im ersten Schema enthaltenen Zweiquellentheorie wurde jedoch durch diese Streichung nicht rückgängig gemacht. Der dieser neuen Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition zugrunde liegende, schon im Proömium angedeutete tiefere Offenbarungsbegriff erhält seine erste Profilierung im III. Kapitel über das Alte Testament. Hier wird mit aller wünschenswerten Deutlichkeit Offenbarung als SelbstofFenbarung Gottes verstanden, die aufgrund ihres geschichtlichen Tat- und Wortcharakters von ihrer Weitergabe unterschieden werden muß. Gottes Heilshandeln besteht darin, daß er sich seinem auserwählten Volk durch Taten und Worte personhaft kundtut: „Er hat sich dem Volk, das er sich erworben hatte, durch Wort und Tat als einzigen wahren und lebendigen Gott so geoffenbart, daß Israel Gottes Wege mit den Menschen an sich erfuhr . . ." 1 8 Dieser bedeutungsvolle Satz hat sich bis zur Endfassung der Konstitution erhalten. Das in ihm ausgesprochene Offenbarungsverständnis wurde, wie wir sehen werden, für Gottes Kundgabe in Jesus Christus fruchtbar gemacht. Das geschichtsmächtige Handeln Gottes wird aber dann aufgenommen in Bericht und Deutung, so daß gesagt werden muß: „Die Geschichte des Heils liegt, von heiligen Verfassern vorausverkündigt, berichtet und gedeutet, als wahres Wort Gottes vor in den Büchern des Alten Bundes." 19 Die unauflösliche innere Einheit von Wort und Tat der Selbstoffenbarung Gottes ist hier ebenso bedeutsam wie der Zusammenhang von Bericht und Deutung und der Unterscheidung zwischen der gottgewirkten Geschichte und den inspirierten Büchern von diesem Geschehen. Die zahlreichen Änderungsvorschläge zum zweiten Entwurf hatten zweifellos bewirkt, daß der Offenbarungsbegriff des am 30. 9. 1964 zur Diskussion gestellten dritten Schemas wesentlich vertieft worden war. Was in den ersten beiden Entwürfen nur die Einleitung darstellte, war nun umgeformt und erweitert zu dem grundlegenden ersten Kapitel De ipsa revelatione und dem Folgekapitel De divinae revelationis transmissione. Nach den Ausführungen über die Inspiration und Interpretation der heiligen Schriften und besonderen Abschnitten über das Alte 1 8 N r . 14 des promulgierten Textes: . . . populo sibi acquisito ita Se tamquam unicum Deum verum et vivum verbis ac gestis revelavit, ut Israel, quae divinae essent cum hominibus viae experiretur... 4 9 N r . 1 4 : Oeconomia autem salutis ab auctoribus sacris praenuntiata, enarrata atque explicata, ut verum Dei verbum in libris Veteris Testamenti exstat;...

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und das Neue Testament folgt dann das Schlußkapitel De sacra Scriptum in vita Ecclesiae. Damit ist die Struktur der endgültigen Konstitution festgelegt. Bei dem Umwandlungsprozeß über das vierte Schema zum Endstadium handelt es sich nur noch um die Ausarbeitung bestimmter Details, die unter den Konzilsvätern noch kontrovers waren. Wir können deshalb schon vom dritten Schema her zugleich auch den am 18. November 1965 von Papst Paul VI. und den Vätern des Konzils promulgierten endgültigen Text der Konstitution in unsere Darstellung miteinbeziehen. Schon der erste Satz des Proömiums ist durchdrungen vom pastoralen Tenor des Konzils: Dei Verbum religiöse audiens et fidenter proclamans, Sacrosancta Synodus Die Väter dieser Versammlung und mit ihnen die ganze Kirche stehen dem Worte Gottes als Hörende gegenüber, und erst aus dieser demütigen Unterordnung erwächst die Verkündigung. Das Generalthema der Konstitution wird dann in der Sprache des neutestamentlichen Zeugnisses formuliert. Durch das Zitat von 1. Joh. 1, 2—3 soll die wesentliche Struktur des Überlieferungsgeschehens zum Ausdruck gebracht werden. Das zu proklamierende Wort Gottes gründet sich auf die im Sehen und Hören bestehende Zeugenschaft der Erscheinung des ewigen Lebens in unserem Fleisch. Aus diesem Zeugnis und seiner Verkündigung erwächst die Verbindung mit Gott, dem Vater und seinem Sohne Jesus Christus und die Gemeinschaft der Glaubenden. Die Offenbarung Gottes, ihre Überlieferung und ihre Verkündigung, die durch sie bewirkte Gemeinschaft mit Gott und die Gemeinschaft der Kirche, das ist die von der biblischen Sicht her dem Konzil aufgetragene Thematik. Nach dieser neutestamentlichen Grundlegung folgt die dogmengeschichtliche Bezugnahme auf die beiden vorangegangenen Konzile. Gehört die Berufung auf das letzte der vorausgegangenen Konzile zum Topos solcher Dokumente 2 0 , so wurde in der letzten Fassung das Tridentinum noch zusätzlich eingefügt, wahrscheinlich mit der Absicht, dadurch die innere Kontinuität der kirchlichen Lehre zu postulieren. Gleichwohl ist dieser Gedanke so vorsichtig formuliert, Conciliorum Tridentini et Vaticani I inhaerens vestigiis ..., daß er keineswegs nur eine rückwärtsweisende Interpretation der Konstitution zuläßt. Bei aller Treue zur Vergangenheit versperrt die vorliegende Formulierung nicht den Weg in die Z u k u n f t und steht der einer neuen Situation gemäßen, vertieften und gewandelten Erkenntnis nicht im Wege 21 . Die in Dei Verbum 20 Wie zum Beispiel das I. Vaticanum gerade bei seiner Offenbarungslehre die K o n tinuität mit dem Tridentinum betont, cf. Constitutio dogmatica Dei Filius de fide catholica, Cap. 2. D e revelatione, D S 3007 (1788): Nos idem decretum renovantes hanc illius mentem esse declaramus . 21 Ratzinger, L T h K Kommentar 505 interpretiert: „Unsere Konstitution stellt eine relecture der entsprechenden Texte v o n Vaticanum I und Trient dar, in der das D a m a l i g e

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enthaltenen Aspekte einer legitimen, echten geschichtlichen Entwicklung gelten konsequenterweise auch für das Verhältnis zu den vorangegangenen lehramtlichen Äußerungen ebenso wie für den nachfolgenden Interpretationsprozeß. Charakteristisch für das Proömium, besonders für seinen Anfangsund Schlußsatz, ist das innige Ineinander von theologisch doktrineller Reflexion und pastoraler kerygmatischer Intention. An den folgenden Ausführungen der Konstitution wird deutlich werden, wie der formale Aspekt der Offenbarung und ihrer Überlieferung von ihrem materialen Gehalt nicht zu trennen ist. Deshalb handelt es sich hier kaum um ein Dilemma, sondern um eine der Wirklichkeit durchaus entsprechende Synthese der Lehre mit der Glaubensverkündigung des Konzils 22 . In welchem Sinne die Darlegungen von Dei Verbum gegenüber dem I. Vaticanum eine neue Sicht des gemeinsamen Themas eröffnen, ergibt sich schon aus dem Aufbau der entsprechenden Abschnitte. 1870 war die natürliche Gotteserkenntnis die Voraussetzung der gesamten Exposition 23 , in deren Rahmen dann auch die „übernatürliche Offenbarung" und ihre Übermittlung in Schrift und Tradition zu Sprache kam. Es ist nun kein Zufall, daß das II. Vaticanum in umgekehrter Richtung dieses Thema behandelt. Im Zusammenhang einer umfassenden heilsgeschichtlichen Schau tritt die Frage nach der Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis ganz in den Hintergrund und wird lediglich in einem Schlußteil behandelt. — Ein genauer Textvergleich der entscheidenden Sätze kann diesen neuen Ansatz veranschaulichen. Im I. Vaticanum heißt es: . attamen placuisse eius sapientiae et bonitati, alia eaque supernaturali via se ipsum ac aeterna voluntatis suae decreta humano generi revelare . (DS 3004). Das erste Kapitel von Dei Verbum beginnt hingegen: Placuit Deo in sua bonitate et sapientia Seipsum revelare et notum facere sacramentum voluntatis suae, quo homines per Christum, Verbum carnem factum, in Spiritu Sancto accessum habent ad Patrem . Der Offenbarungsbegriff hat hier zweifellos eine Vertiefung erfahren, da jetzt sein theozentrischer und personaler Aspekt deutlicher hervortritt und die „göttlichen Dekrete" abgelöst sind vom „Sakrament seines Wilauf heutige Weise gelesen und damit zugleich auf sein Wesentliches w i e auf sein U n g e nügendes hin neu interpretiert wird. So wird man Karl Barths Vorschlag durchaus zustimmen können, unsere Formel zu übersetzen: , v o n den Spuren jener K o n z i l i e n her vorwärtsgehend'." C f . K. Barth, A d Limina Apostolorum, Zürich 1967, p. 49 und K. Barth, Conciliorum Tridentini et Vaticani I inhaerens vestigiis?, in: D u p u y , La revelation divine 5 1 3 — 5 2 2 . 22 Gegen Ratzinger, L T h K Kommentar 5 0 5 — 5 0 6 , der v o n einem D i l e m m a und einem Widerstreit zwischen kerygmatischer und doktrineller Intention spricht. 23 C f . D S 3004 (1785): Eadem saneta mater Ecclesia tenet et docet, Deum, rerum omnium prineipium et firtem, naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse.

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lens". Die Vorstellung des Mysteriums ist an die Stelle rein rationaler Kategorien getreten. Wenn auch diese Unterschiede nicht überzubewerten sind, denn auch das I. Vaticanum spricht von der Selbstoffenbarung Gottes, können sie doch als symptomatisch gelten für ein mehr und mehr sich vertiefendes Verständnis der Kundgabe Gottes in Christus24. Noch wichtiger ist aber, daß in Dei Verbum von Anfang an von der trinitarischen Struktur der Offenbarung ausgegangen wird. Die Selbsterschließung Gottes wird durch Christus in die Geschichte vermittelt und durch den Heiligen Geist in den Gläubigen realisiert. Inwieweit diese trinitarische Konzeption in den folgenden Ausführungen auch wirklich zum Zuge kommt und durchgehalten wird, muß an dieser Stelle noch eine offene Frage bleiben. Hingegen liegt es auf der Hand, daß die Offenbarung ihrem innersten Wesen nach als Anrede verstanden wird, die zur Begegnung und zur Gemeinschaft führt. Dieses worthaft-personale und dialogische Verständnis der Selbstkundgabe Gottes ist ein wichtiges Anliegen moderner römisch-katholischer Theologie25 und wird an mehreren Stellen der Konstitution zum Ausdruck gebracht. Der allocntio und conversatio in Nr. 2 entspricht das colloquium Dei cum Filii sui Sponsa in Nr. 8 und das colloquium inter Deum et hominem in Nr. 25. Die Wahrheit, um die es bei diesem Dialog geht, liegt nicht nur auf der intellektuellen Ebene, sondern zielt vielmehr auf personhafte Gemeinschaft. Erzbischof Florit von Florenz brachte in seiner Relatio zum 3. Entwurf diesen Sachverhalt prägnant zum Ausdruck: „Gerade diese Wahrheit, daß Gott für uns in Christus der Bruder und Mittler geworden ist, wird keineswegs auf intellektuelle Weise erschöpft, sondern erfordert vielmehr, daß sie in Christus und durch Christus in die Praxis umgesetzt wird durch die Gemeinschaft mit der Heiligen Trinität, die eine wirklich interpersonale Gemeinschaft darstellt." 26 2 4 Eine Oberbewertung dieses Unterschieds liegt vor bei Latourelle, La Revelation 40, der einen genauen Vergleich der beiden angeführten Sätze durchführt. Ebenso sieht Ratzinger, L T h K Kommentar 506 hier einen zu starken Kontrast. Hingegen scheint das I. Vaticanum zu überschätzen H . Ott, Die Lehre des I. Vatikanischen Konzils. Ein evangelischer Kommentar, Basel 1963, p. 51, wenn er urteilt, daß es „präzis den personalen und ereignishaften, neuschöpfungshaften Charakter der Offenbarung festgehalten" habe. — Zum II. Vaticanum cf. H . Ott, Die Offenbarung Gottes nach dem Konzil, in: J . Ch. Hampe, Die Autorität der Freiheit. Gegenwart des Konzils und Zukunft der Kirche im ökumenischen Disput, Bd. I München 1966, 169—174. 2 5 Waldenfels, Offenbarung 86ss und 141ss stellt eindrucksvoll dar, wie heute von führenden katholischen und evangelischen Theologen die Offenbarung als Gott-MenschBegegnung verstanden wird. Als repräsentativ für diese Tendenz können gelten die beiden Arbeiten von E. H . Sdiillebeeckx: Christus, Sakrament der Gottbegegnung, 2. Aufl. Mainz 1964 und: Personale Begegnung mit Gott, Mainz 1964. 2 8 Das lateinische Zitat bei Baum, Die Konstitution 9 2 : Quae quidem veritas> cum Dens nobis in Christo }actus sit frater ac mediator, minime in ordine intellectuali exhau-

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Dieses dialogische Verständnis der Offenbarung ist heute schon weitgehend Allgemeinbesitz römisch-katholischen Denkens geworden. Auch Paul VI. hat in seiner Enzyklika Ecclesiam Suam von der Heilsgeschichte als dem Dialog Gottes mit den Menschen gesprochen, der für die Haltung der Kirche zur Welt und das ökumenische Gespräch die tiefste Grundlage bildet. „Die Offenbarung, das heißt die übernatürliche Beziehung, die Gott selbst durch freien Entschluß mit der Menschheit herstellen wollte, wird in einem Dialog verwirklicht, wobei das Wort Gottes sich in der Menschwerdung und dann im Evangelium zum Ausdruck b r i n g t . . . Die Heilsgeschichte erzählt diesen langen und vielgestaltigen Dialog, der von Gott ausgeht und zu einer wunderbar vielgestaltigen Zwiesprache mit dem Menschen w i r d . . . Wir müssen uns diese unaussprechliche und durchaus wirkliche Beziehung des Dialogs vor Augen halten, der uns angeboten und mit uns aufgenommen wurde von Gott Vater, durch die Vermittlung Christi, im Heiligen Geiste, um zu verstehen, welche Beziehung wir, das heißt die Kirche, mit der Menschheit anzubahnen und zu fördern suchen sollen."27 Im engsten Zusammenhang mit dieser dialogischen Konzeption steht die Auffassung, daß sich die Offenbarung in einer inneren Einheit von Wort und Werk ereignet. Die opera manifestieren immer eine doctrina und eine res, die durch Worte angezeigt werden. Die verba proklamieren hingegen die Werke und lassen das in ihnen enthaltene Mysterium sichtbar werden: Haec revelationis oeconomia fit gestis verbisque intrinsece inter se connexis, ita ut opera in historia salutis a Deo patrata, doctrinam et res verbis significatas manifestent ac corroborent, verba autem opera proclament et mysterium in eis contentum elucident (Nr. 2). Im Hinblick auf diese wesenhafte Verbundenheit von Wort und Werk spricht Erzbischof Florit in der Relatio von dem historischen und sakramentalen Charakter der Offenbarung. „Die Konstitutivelemente der Offenbarung selbst sind Werke, die in der Heilsgeschichte von Gott vollbracht werden, zusammen mit den Worten, durch welche Gott seine Werke erklärt haben will. Von daher wird die sowohl historische wie auch sakramentale Eigenart der Offenbarung klar: historisch, weil sie vor allem in sämtlichen Interventionen Gottes besteht, die, insofern sie unter dem einen Ziel der ritur; quinimmo exigit ut, in Christo et per Christum, in praxim deducatur, per communionem cum SS. Trinitate: quae ideo vera interpersonalis est communio. — Eine teilweise Übersetzung der v o m 25. 9. 1964 datierten und am 30. 9. 1964 vorgetragenen Relatio findet sich bei Hampe, D i e Autorität I 122—126. — Kühn, D i e Ergebnisse 52 würdigt ausdrücklich das Bemühen des Konzils um eine Entintellektualisierung und Personalisierung des Offenbarungsbegriffes und seine Abwendung v o n dem Konzeptualismus der Sdiultheologie. Ein ähnlich positives Urteil gewinnt auch Sdilink, Écriture 501. Diese neuen, in die Zukunft eines ökumenischen Dialogs weisenden Komponenten des Offenbarungsverständnisses, werden sehr gut herausgearbeitet v o n R. Schutz/M. Thurian, La révélation selon le chapitre I e r de la Constitution, in: Dupuy, La révélation divine 463—474.

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Heilssorge geeint sind, mit dem Namen ,Heilsplan' bezeichnet werden; sakramental, weil die vollständige Bedeutung der Geschehnisse uns nur durch die Worte bekannt wird, nämlich durch das Sprechen Gottes —, das auch selbst ein geschichtliches Ereignis ist." 28 Die geschichtlichen Tatsachen, um die es bei den Werken geht, sind also immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden Wirklichkeit. Sie können deshalb nie ihre eigene Sprache reden. Sie sind auf das Wort angewiesen, da dieses ihr Geheimnis ausspricht und verständlich macht. Die „Sache", um die es bei den Werken geht, kann auch zuerst durch das Wort zum Ausdruck gebracht werden, um dann durch hinzukommende Taten ihre Bekräftigung zu erhalten. Auf keinen Fall können aber Wort und Werk unabhängig voneinander gedacht werden. Die Offenbarung ist weder eine bloße Abfolge von objektiven Heilsfakten, noch besteht sie in einer Belehrung über göttliche Wahrheiten. Sie ereignet sich vielmehr in der inneren Einheit von geschichtlichen Heilstaten und Worten. Gottes Taten haben Wortcharakter und sein Wort hat Geschehnisfähigkeit. Offenbarung ist somit nicht nur ein auf die individualistisch eingeengte menschliche Existenz bezogenes Wortgeschehen und Sprachereignis, sondern vielmehr im umfassenden Sinne ein auch die N a t u r und die geschichtliche Umwelt des Menschen betreffendes Geschehnis. — Es ist offensichtlich, daß mit diesen Gedanken das personhaft-dialogische Offenbarungsverständnis mit einer heilsgeschichtlichen Konzeption verbunden wird. Dadurch werden auf der einen Seite die Gefahren einer aktualistischen Worttheologie gebannt, für die das Heil des Menschen sich punktuell im Entscheidungsruf des Kerygmas ereignet und so das tatsächliche von Gott gewirkte Geschehen zu völliger Bedeutungslosigkeit degradiert wird. Auf der anderen Seite wird aber auch ein historischer Positivismus in seine Schranken gewiesen, f ü r den Gott allein schon durch die Sprache der Tatsachen seine Gottheit 27 Die deutsche Übersetzung wurde zitiert nach: Papst Paul VI. Enzyklika Ecclesiam Suam vom 6. August 1964, Luzern/München 1964, p. 30—31. Der Originaltext in A A S 56 (1964), 609—659: Litterae encyclicae Ecclesiam Suam, p. 641—642. Auf das ökumenische Gespräch wird dann A A S 655—656 Bezug genommen. 28 Zitiert nach der Übersetzung bei Stakemeier, Die Konzilskonstitution (2. Aufl.) 133—134. — Latourelle, La Révélation 14 hebt ebenso diesen wichtigen Sachverhalt hervor: „Le caractère sacramentel de la révélation apparaît dans la compénétration et le soutien mutuel des œuvres et des paroles. Dieu pose à la fois l'événement du salut et en développe la signification; il intervient dans l'histoire et dit le sens de son intervention; il agit et commente son action." Zur ausführlichen Diskussion cf. H. de Lubac, Commentaire du préamble et du chapitre I, in: Dupuy, La révélation divine 157—302, p. 224—230 und Waldenfels, Offenbarung 152ss, der ausführlich diese Struktur der Offenbarung in ihrer Einheit von Wort und Tat darstellt und auch mit evangelischen Theologen wie Barth, Fuchs und Pannenberg den Dialog aufnimmt. — Eine besondere Schwierigkeit des Konstitutionstextes liegt in der Zusammenordnung von doctrina und res. Dabei dürfte doctrina von res her zu interpretieren sein. Es geht um die „Sache", um die Wirklichkeit Gottes, die in ihrem Verhältnis zum historischen Geschehen auch in einer doctrina zum Ausdruck kommen kann.

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erweist und den rettenden Glauben erweckt. Worte und Taten bedingen sich vielmehr gegenseitig und bilden in ihrer unauflöslichen Einheit die oeconomia revelationis29. Bedeutungsvoll ist an dieser Stelle die Aufnahme des Begriffes historia salutis, durch den der vorhergehende Ausdruck oeconomia revelationis präzisiert wird. Unter Heilsgeschichte ist hier nicht ein partikularer und esoterischer Teil der Profangeschichte verstanden, der neben der allgemeinen Geschichte einherläuft, sondern Gottes Handeln in geschichtlicher Bedingtheit, das Eingehen der Offenbarung in die Gesdiichte selbst, die nicht allein von der Subjektivität des Menschen her strukturiert ist, denn die konkrete Geschichtlichkeit ist immer auch welthaft, gesellschaftlich, politisch und institutionell vermittelt. Deshalb vollzieht sich Gottes Selbstmitteilung in einer Reihe von historischen Geschehnissen, die weder einer der allgemeinen Geschichtlichkeit entnommenen Obergeschichte angehören, noch auf das aus der reinen Transzendenz hervorbrechende individualistisch-aktualistische Moment reduziert werden können30. Durch den korrespondierenden Begriff der Ökonomie wird hervorgehoben, daß die betreifenden Ereignisse durch die Überbietung jeglicher Verheißung durch ihre Erfüllung den normalen geschichtlichen Erwartungshorizont durchbrechen und von ihrer Mitte und ihrem Höhepunkt aus ihr innerer Zusammenhang enthüllt wird. Gottes Worte und Werke, die Offenbarung über sich selbst und das Heil des Menschen „leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist" 31 . In scholastischer Terminologie sprach Erzbischof Florit von Christus als dem summus actus et objectum praecipuum aller Offenbarung32; er ist ihr unüberschreitbarer Höhepunkt und das Ziel von Gottes Plan und Geschichte mit den Menschen. Durch die Inkarnation seines ewigen Wortes kommt alles Handeln und Sprechen Gottes zu seiner letztgültigen Erfüllung. 29 Ohne daß dies unmittelbar beabsichtigt war, — die Väter des II. Vaticanums wenden sich hier in erster Linie gegen den neuscholastischen Intellektualismus —, wird damit Dei Verbum auch relevant für den in Deutschland aufgebrochenen Streit zwischen einer Wort- und einer Geschichtstheologie der Offenbarung. Ein ausschließlicher Gegensatz zwischen dem Kerygma und der „Sprache der Tatsachen" wurde allerdings von Pannenberg vermieden durch seinen Begriff der Oberlieferungsgeschichte, in der geschichtliche Fakten und ihre Deutung in einer Einheit verbunden sind, cf. infra 154 ss. 30 Zum Begriff der Heilsgeschichte cf. die ausgezeichnete Darstellung und Diskussion bei Waldenfels, Offenbarung 201—207 und W. Kasper, Grundlinien einer Theologie der Geschichte, in: W. Kasper, Glaube und Geschichte, Mainz 1970, 67—100, p. 90ss, ebenso de Lubac, Commentaire 184—196. 31 Nr. 2: Intima autem per hanc revelationem tarn de Deo quam de hominis salute veritas nobis in Christo illucescit, qui mediator simul et plenitudo totius revelationis exsistit. Ausdrücklich wird hier auch über eine Offenbarung in bezug auf das Heil des Menschen gesprochen. Dadurch wird der anthropologische Bezug des Seipsum revelare hervorgehoben. 32 Zitiert bei Baum, Die Konstitution 92.

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Wie tief die Vorstellung einer göttlichen Selbstmitteilung in der heilsgeschichtlichen Konzeption verankert ist und durch sie wiederum bedingt wird, zeigen die beiden folgenden Abschnitte (Nr. 3 und 4), die von der Vorbereitung der neutestamentlichen Offenbarung und Christus als dem Vollender der Selbstkundgabe Gottes handeln 33 . Es wird dabei vermieden, ausführlicher über das Verhältnis zwischen natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis zu sprechen. Es wird nur festgestellt, daß Gott durch das Wort alles erschafft und durch die geschaffenen Dinge den Menschen Zeugnis von sich gibt. Diese christologische Bedingtheit der Schöpfung konstituiert nun aber weder eine besondere Phase noch eine eigenständige Heilsmöglichkeit in der Geschichte Gottes mit der Menschheit. Von Anfang an ist sie vielmehr auf die die Immanenz der Schöpfung durchbrechende Offenbarung hingeordnet. „Da er aber den Weg übernatürlichen Heiles eröffnen wollte, hat er darüber hinaus sich selbst schon am Anfang den Stammeltern kundgetan. Nach ihrem Fall hat er sie wieder aufgerichtet in der Hoffnung auf das Heil, indem er die Erlösung versprach." 34 Obwohl alles Geschaffene vom Logos her verfaßt und bestimmt ist und deshalb den Menschen Gott bezeugt, gibt es auch schon vor dem Fall eine Geschichte des Heils, in der Gott durch seine Selbstkundgabe ein persönliches Verhältnis zu ihm ermöglicht. Soll durch diese heilsgeschichtliche Uberformung der traditionellen Lehre vom Urständ die bisherige Dualität zwischen der Schöpfungs- und Erlösungsordnung überwunden werden, so tritt doch dadurch die einschneidende Bedeutung des Sündenfalles für die nachfolgende Geschichte stark in den Hintergrund. Es besteht die Gefahr, daß eine allzu optimistische Sicht der Heilsgeschichte entwickelt wird, in der die spannungsvollen biblisdien Aspekte der Sünde, des Gesetzes, des göttlichen Zornes und des rettenden Evangeliums nicht genügend beachtet werden 35 . So wird die Geschichte Israels, auf die in diesem Zusammenhang nur andeutungsweise eingegangen wird, primär unter den Gesichtspunkt der Erziehung und der Vorbereitung des Heils gestellt. Sie ist eine Wegbereitung des Evangeliums durdi die Zeiten. Eine ausführlichere Darstellung als in Nr. 3 wird der alttestament3 3 R a t z i n g e r , L T h K K o m m e n t a r 5 0 8 bemerkt mit Recht, d a ß hier eine gewisse N ä h e zur Position Cullmanns vorliegt, ohne d a ß von einer Theologie der Heilsgeschichte im technischen Sinne gesprochen w e r d e n kann. 3 4 N r . 3 : . . . viam salutis supernae aperire intendens, insuper protoparentibus inde ab initio Semetipsum manifestavit. Post eorum autem lapsum eos, redemptione promissa, in sperrt salutis erexit. . . Durch das insuper dürfte nicht nur ein neuer Einsatz, sondern ebenso auch eine heilsgeschichtliche D o m i n a n z ausgesprochen sein. 3 5 In diese Richtung geht die K r i t i k des Offenbarungsbegriffes der Konstitution bei K ü h n , Die Ergebnisse 5 4 , w o er die F r a g e stellt, ob nicht in Dei Verbum die Dialektik v o n Gesetz und E v a n g e l i u m „zugunsten einer zu einflächig-,positiven' Sicht v o n .Offenbarung' abgeblendet" werde.

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liehen Heilsgeschichte im IV. Kapitel der Konstitution gewidmet. Der Weg Gottes mit Israel ist die vorbereitende Ausführung seines Heilsplanes mit der gesamten Menschheit und die beginnende Einlösung der Verheißung der Erlösung. Gott offenbart sich seinem Volk, indem er sich selbst kundgibt durch geschichtliche Taten und prophetische Predigt. Seine Initiative bezieht sich auf einen ganzen Komplex geschichtsmächtiger Realität, der Wort und Tat ebenso umfaßt wie Ereignisse und ihre Deutung. Sie erstreckt sich schließlich auch auf den schriftlichen Niederschlag dieser vorausverkündigten, berichteten und gedeuteten Heilsökonomie, die nun als wahres Wort Gottes in den Büchern des Alten Testamentes vorliegt 36 . Die der Vorbereitung auf das Kommen des Erlösers und seines messianischen Reiches dienende Disposition des Heilsplanes geschieht sowohl durch prophetische Ankündigung als auch durch typologische Signifikation 37 . Die Bücher des alten Bundes sind der Ausdruck einer paedagogia divina ebenso aber auch das Spiegelbild einer lebendigen Gotteserfahrung, aus der die Praxis des Gebets und die Weisheit des menschlichen Lebens hervorgehen. Wie Gottes Werke und Worte hat auch die Rezeption dieser Offenbarung im menschlichen Frömmigkeitsleben ihren Niederschlag in der alttestamentlichen Literatur gefunden. Beide gehören zur göttlichen Pädagogik 38 . Weil die Selbstoffenbarung Gottes sich in einer solchen genuin geschichtlichen Weise manifestiert, ist die Vorstellung keineswegs ausgeschlossen, daß in den Büchern des Alten Testamentes durchaus eine Dei et hominis cognitio erschlossen wird. Jedoch bezieht sich dieses Wissen ausschließlich auf die „Art und Weise, wie der gerechte und barmherzige Gott an den Menschen zu handeln pflegt". Da es einzig und allein um das mysterium salutis geht, handelt es sich hier nicht um ein natürliches Wissen sondern um Heilserkenntnis. Deshalb ist das Alte Testament auch nicht nur Vorbereitung im Sinne bloßer Vorläufigkeit. Im Schlußabschnitt des IV. Kapitels wird das Wort Augustins zitiert, daß das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen Testament erschlossen sei 39 . Unter Anspielung auf das frühchristliche antignostische Bekenntnis 3 6 N r . 14: Oeconomia autem salutis ab auetoribus sacris praenuntiata, enarrata atque explicata, ut verum Dei verbum in libris Veteris Testamenti exstat. 3 7 Mit der Ausdrucksweise in N r . 15 . . . prophetice nuntiaret et variis typis significaret. . . soll der wesenhafte Zusammenhang zwischen W o r t und Geschichtstat im H i n blick auf das Kommen des Christus zum Ausdruck gebracht werden, ohne damit eine Entscheidung über die typologische Auslegungsmethode zu fällen. In der Relatio zu N r . 12 heißt es: Abstrahitur autem a solvenda quaestione de ,sensu pleniore', cf. Rigaux, L T h K Kommentar 561. 3 8 Cf. Rigaux, L T h K Kommentar 3 6 0 : „Das Ereignis, die Verkündigung, die gedankliche Vertiefung und das ganze religiöse Leben werden zu einer Ökonomie, zu einer Aufrichtung und Bekundung einer vierfachen Macht: ein Volk, ein Gesetz, ein Tempel, ein Gott." 3 9 N r . 16: . . . disposuit, ut Novum in Vetere lateret et in Novo Vetus pateret, cf.

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zur Einheit des Alten und des Neuen Testamentes, die beide Gott als Inspirator et auctor haben, wird der innere Zusammenhang der diesen Büchern zugrundeliegenden Offenbarungsgeschichte veranschaulicht. Es ist klar, daß diese Gedankengänge über die Heilsgeschichte Gottes mit der Menschheit vor der Inkarnation des Logos wichtige Elemente einer Theologie der Offenbarung und ihrer Überlieferung enthalten. Es sei an dieser Stelle nur auf die enge Zueinanderordnung von Heilsgeschehen, Heilsverkündigung und Heilserfahrung im Leben einer Gemeinschaft hingewiesen, die sich als konstitutiv für den Traditionsbegriff von Dei Verbum erweisen wird. Das Sprechen und Handeln Gottes mit der Menschheit kommt zur Vollendung durch die Sendung seines Sohnes. Die Kontinuität dieses Geschehens zu der vorangegangenen Heilsgeschichte ebenso wie seine abschließende Totalität wird in Nr. 4 zum Ausdruck gebracht durch das Zitat von Hebr. 1, 1—2. Die Fleischwerdung des ewigen Wortes ist das Ende von Gottes Sprechen, weil Gott sich in ihr selbst aussagt und über sie hinaus es nichts mehr zu sagen gibt. Zugleich eröffnet sich aber auch durch dieses Ereignis die ganze unerschöpfliche Weite und Tiefe des göttlichen Wortes. In diesem Miteinander von definitiver Abgeschlossenheit und alle menschliche Erkenntnis umgreifender Fülle liegt eines der Hauptprobleme der Offenbarung und ihrer Überlieferung beschlossen. In den beiden Abschnitten Nr. 4 und 17 wird erläutert, wie die Erfüllung des gesamten Heilswerkes in Christus näher zu verstehen ist. In Überbietung aller worthaften und geschichtsmächtigen Selbstkundgabe Gottes im Alten Bund offenbart Jesus Christus den Vater und sein ewiges Wort durch seine personhafte Präsenz und Manifestation 40 . Er wird damit zum Inbegriff aller göttlichen Selbstmitteilung, daß nämlich „Gott mit uns ist". Da die Offenbarung durch eine mit dem ewigen Logos geeinte menschliche Existenz geschieht, liegt das Wesen aller Uberlieferung nicht primär in der Weitergabe einer Lehre, sondern in der Vergegenwärtigung dieses Wortes Gottes, das Jesus Christus selber ist. Der eigentliche Inhalt der Tradition ist eine göttlich-menschliche Wirklichkeit, die jede verbale Aussagemöglichkeit transzendiert. Selbst in Nr. 17, wo über die Schriften des Neuen Testamentes gehandelt wird, muß deshalb Augustinus, Quaest. in H e p t . 2 , 7 3 ; M P L 3 4 , 6 2 3 . — I m Schlußsatz von N r . 16 ist significatio als Sinnerfüllung zu verstehen. 4 0 N r . 4 : . . . tota Sui ipsius praesentia ac manifestatione . . In Schema I I I stand noch: . . . ei tota sua persona revelationem complendo perficit D a aber der altkirchliche Sprachgebrauch, bei dem die Person des Logos T r ä g e r der menschlichen N a t u r ist, nicht mit dem modernen Personbegriff in E i n k l a n g gebracht werden kann, w u r d e diese R e d e weise fallen gelassen. Allerdings hat Lumen Gentium N r . 5 den Personbegriff der N e u zeit übernommen. — D a ß die Erfüllung der Heilsökonomie in der Sendung des Sohnes besteht, also der Christologie des I I . V a t i c a n u m s eine heilsökonomische Trinitätslehre zugrunde liegt, w i r d ausführlich dargestellt bei Waldenfels, Offenbarung 2 3 9 — 2 4 3 .

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auf die hinter dem Buchstaben liegende Heilswirklichkeit zurückgegriffen werden. Wie in Nr. 4 werden auch hier die wichtigsten Faktoren des Offenbarungsgeschehens aufgezählt, das sich in einer Einheit von Wort und Tat vollzog und sich durch Christi Tod, seine Auferstehung und Himmelfahrt und die Sendung des Heiligen Geistes vollendete 41 . Das Leben Jesu, seine Predigt und seine Wunder bilden ebenso wie sein persönliches Geschick und die Gabe des Pneumas zusammen die eine der Kirche zur Tradition aufgegebene Realität 4 2 . Im Schlußabschnitt von Nr. 4 wird noch einmal der definitive Charakter dieser Heilsordnung des neuen Bundes hervorgehoben 43 . Sie ist schlechthin unüberholbar durch irgendeine nur denkbare religions- oder menschheitsgeschichtliche Entwicklung. Bis zur Wiederkunft Christi kann deshalb keine neue Offenbarung erwartet werden. Wurde in den vorangehenden Sätzen die Totalität der Christusoffenbarung in ihrem Verhältnis zu aller nachfolgenden Überlieferung behauptet, so kommt hier der Absolutheitscharakter dieser Selbstkundgabe Gottes gegenüber allen anderen Offenbarungsansprüchen zum Ausdruck. In Nr. 17 wird dieser allgenugsame und endgültige Charakter der Selbstmitteilung Gottes in Christus in bezug auf ihre Empfänger ausgesagt. Das Heilsmysterium wurde den Aposteln und Propheten im Heiligen Geist geoffenbart, damit sie das Evangelium verkündigen. Die Apostel als die ersten Träger der Uberlieferung stehen also für das totale und definitive Wesen der Offenbarung. Dem umfassenden heilsgeschichtlichen und personal-dialogischen Offenbarungsverständnis entspricht der in Nr. 5 dargelegte Glaubensbegriff, der in Anlehnung an die Ausführungen des I. Vaticanums ent4 1 In Nr. 4 heißt es: Quapropter Ipse, quem qui videt, videt et Patrem, tota Sui ipstus praesentia ac manifestatione, verbis et operibus, signis et miraculis, praesertim autem morte sua et gloriosa ex mortuis resurrectione, misso tandem Spiritu veritatis, revelationem complendo perficit ac testimonio divino confirmât,... In Nr. 17 lautet der entsprechende Satz: Christus Regnum Dei in terris instauravit, factis et verbis Patrem suum ac Seipsum manifestavit, atque morte, resurrectione et gloriosa ascensione missioneque Spiritus Sancti opus suum complevit. 42 R. Latourelle, Le Christ signe de la révélation selon la constitution ,Dei Verbum', Greg 47 (1966), 685—709, p. 686ss vergleicht diese Ausführungen über das Zeugnis der Christusoffenbarung mit den Aussagen des I. Vaticanums über die Kirche als Zeugnis der Offenbarung, cf. DS 3012—3013 (1793—1794). Der Schwerpunkt hat sich deutlich von der ekklesiologisdien auf die christologische Ebene verlagert. — Eine zusammenfassende Darstellung dieses Themas gibt R. Latourelle, Vatican II et les signes de la Révélation, Greg 49 (1968), 225—252. Als Offenbarungszeichen werden hier behandelt: Christus, die Wunder Christi, die Kirche, das Zeugnis der Christen, das Martyrium. Latourelle geht es um eine „Erneuerung der Theologie der Zeichen" (p. 248ss). 4 3 Der untheologische Ausdruck des zweiten Schemas Christianismus wurde später durch den patristischen Begriff der oeconomia christiana ersetzt, der den im Heilswillen Gottes verankerten komplexen und zugleich totalen Charakter des Offenbarungsgesdiehens gut zum Ausdruck bringt.

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wickelt wird44. So sehr nun aber an diese Aussagen angeknüpft wird, desto bemerkenswerter sind die Unterschiede, die bei einem genauen Vergleich sichtbar werden. Der Glaube wird im Anschluß an Paulus als Gehorsam verstanden, also als freie Tat des Menschen, der sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft und seiner Offenbarung willig zustimmt"45. Während das I. Vaticanum in diesem Zusammenhang davon spricht, „daß wir das von Gott Offenbarte als wahr glauben" und deshalb das Wesen des Glaubens sehr stark in einem intellektuellen Assensus sieht, wird in Dei Verbum diese Aussage fallengelassen und die Zustimmung auf die revelatio ab Eo data bezogen. Dem entspricht, daß die äußeren argumenta revelationis gegenüber der gratia praeveniens des Heiligen Geistes völlig in den Hintergrund treten und dadurch sowohl das ganzheitliche Wesen des Glaubens als auch sein absolut gnadenhafter Charakter nach der Lehre der 2. Synode von Orange eindrücklich herausgestellt wird46. Der Glaube ist nicht mehr aufgespalten in eine intellektuelle Beipflichtung zum Dogma der Kirche und in die Hingabe des Herzens, sondern er umgreift jetzt die ganze menschliche Person mit Willen und Verstand als ihr totales Ja zu Jesus Christus als dem offenbarten Worte Gottes. Diese gläubige Annahme der Offenbarung ist nach ihrer inneren Struktur ihr selbst adäquat. Sie entspricht ihr in ihrem personalen und ganzheitlichen Charakter ebenso wie in ihrer geistgewirkten, freien, unverfügbaren Gnade. Gleichwohl scheint das im I. Vaticanum ausgesprochene dialektische Verständnis des Glaubens als donum Dei und opus ad salutem dennoch im Schlußsatz von Nr. 5 aufzutauchen, wo es heißt: „Quo vero profundior usque evadat revelationis intelligentia, idem Spiritus Sanctus fidem iugiter per dona sua perficit."47 Aber auch hier bleibt die Alleinwirksamkeit Gottes unge44 Cf. I. Vaticanum, Constitutio dogmatica Dei Filius de fide catholica, Cap. 3. De fide, DS 3 0 0 8 — 3 0 1 4 (1789—1794), besonders in diesem Zusammenhang die drei ersten Abschnitte. — Zum gesamten Thema cf. U. Gerber, Katholischer Glaubensbegriff. Die Frage nach dem Glaubensbegriff in der katholischen Theologie vom I. Vatikanum bis zur Gegenwart, Gütersloh 1966. Allerdings ist in dieser Monographie noch nidit das II. Vaticanum berücksichtigt. 4 5 N r . 5 : Deo revelanti prestanda est .oboeditio fidei', qua homo se totum libere Deo commitit,plenum revelanti Deo intellectus et voluntatis obsequium' praestando et voluntarie revelationi ab Eo datae assentiendo. 4 6 Cf. DS 377 (180) über die 2. Synode von Orange, die die augustinisdie Gnadenlehre gegen die Semipelagianer verteidigte. Diese Lehre wurde vom I. Vaticanum ausdrücklich rezipiert, cf. DS 3010 (1791). 47 Die Vermutung von Kühn, Die Ergebnisse 55, ist kaum zutreffend, daß hier die scholastische Denkweise noch vorherrscht, die den Glauben primär als intellektuellen Akt begreift und ihm als Ergänzung Hoffnung und Liebe zuordnet. Recht verstanden dürfte hier die Abgrenzung gegen ein aktualistisches Glaubensverständnis vorliegen, für das die Annahme der Wirklichkeit Gottes ein der geschichtlichen Stunde entnommenes transempirisdies und transhistorisdies Geschehen beinhaltet. Es gibt ein Wachstum im Glauben, weil dieser wie die Offenbarung geschichtlichen Charakter trägt.

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schmälert, der durch den Heiligen Geist den Menschen erfaßt und sein Leben durchdringt. Wenn der Totalcharakter der Offenbarung und ihrer gläubigen Annahme verbunden wird mit der Idee der perfectio des Glaubens, so geschieht dies offensichtlich weniger im Hinblick auf die persönliche Entscheidung des einzelnen Menschen für Gott als vielmehr unter Berücksichtigung des Glaubens der Gemeinschaft und seines Weges durch die Geschichte48. Wie es ein Wachstum des persönlichen Glaubens gibt, ohne daß dadurch seine ganzheitliche Verfaßtheit verneint zu werden braucht, so ist auch ein Fortschreiten und eine stetige Vertiefung des gemeinschaftlichen Glaubens möglich, der über die Generationen hin überliefert wird. Die intelligentia revelationis ist einer fortschreitenden Entwicklung unterworfen, die allerdings nicht unbedingt gradlinig verlaufen muß, nichtsdestoweniger aber vom Heiligen Geist geleitet ist. In dieser Perspektive ist die Wirkweise des Pneumas vollkommen übernatürlich und gnadenhaft wie auch durch und durch geschichtlich. Der Geist handelt in absoluter Freiheit und in einer alle irdische Wirklichkeit transzendierenden Mächtigkeit, zugleich begibt er sich aber auch hinein in das menschliche Werden und die geschichtliche Entwicklung. Bei der Besprechung der betreffenden Aussagen des II. Kapitels der Konstitution wird sich zeigen, daß in dieser Dialektik ein Schlüsselproblem des Traditionsverständnisses vorliegt. Etwas unorganisch und nachträglich hinzugefügt muß auf den ersten Blick der letzte Artikel des I. Kapitels erscheinen, in dem die Lehre des I. Vaticanums über das Verhältnis zwischen natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis übernommen wird 49 . Jedoch ist auch hier eine beachtliche Akzentverschiebung zu konstatieren. Die inoffizielle Überschrift „Die geoffenbarten Wahrheiten" ist schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil das revelare des I. Vaticanums durch ein manifestare ac communicare abgelöst wurde, um damit den alles Lehrmäßige übersteigenden Charakter der personhaften Selbstkundgabe Gottes hervorzuheben50. Außerdem hat dieser Artikel einen ganz neuen Kontext bekommen, denn erst nach der Darlegung der heilsgeschichtlichen und dialogischen Selbstoffenbarung Gottes wird die Rolle des menschlichen Denkens in diesen 49

C f . die bei Ratzinger, LThK Kommentar 5 1 4 zitierte Relatio zum 3. Schema:

. . . ita innititur continuitas inter primum assensum et progressum, non solum pro singulis fidelibus . .sed etiam pro communitate. 4 9 C f . DS 3004—3006 (1785—1787). — Zur ausführlichen Diskussion der Problematik von Nr. 6 von Dei Verbum cf. Voss, Die dogmatische Konstitution 33—35 und Schutz/Thurian, Das W o r t Gottes 62—68. 5 0 Es ist deshalb kaum richtig, wie Geißer, V i v a vox 44 von einem unausgeglichenen Nebeneinander des intellektualistischen Offenbarungsbegriffes der Sdiultheologie und des neuen heilsgeschichtlich-personalen Verständnisses zu sprechen. Ebenso dürfte der Hinweis bei Kühn, Die Ergebnisse 56 auf das traditionelle Schema von Natur und Übernatur kaum zutreffend sein.

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Skopus einbezogen und das in diesem vorgegebenen Rahmen wichtige Sachproblem einer Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarungsbegegnung und Offenbarungslehre ins Auge gefaßt 51 . Das I. Vaticanum hatte den umgekehrten Weg eingeschlagen, indem es von der natürlichen Offenbarung und Gotterkennbarkeit durch die Vernunft ausging und von daher die Notwendigkeit einer übernatürlichen Kundgabe Gottes postulierte. 2. Die trinitarische Struktur der Selbstoffenbarung

Gottes bei

Irenaus

Ein Dokument wie die dogmatische Konstitution eines Konzils kann natürlich keine ausführliche theologische Darlegung eines vielschichtigen Themas bieten, sondern wird immer nur einige richtungweisende Markierungspunkte für eine weitere Ausarbeitung geben können. Der kritische Vergleich mit einem repräsentativen altkirchlichen Theologen muß sich deshalb auf einige wesentliche Punkte beschränken und auf eine detaillierte historisch-genetische Erklärung verzichten. Dabei geht es in diesem Zusammenhang sowieso nur darum, diejenigen Züge des Offenbarungsverständnisses zu erfassen, die schon eine bestimmte Konzeption der Überlieferung beinhalten. Irenäus bietet sich für einen solchen Vergleich förmlich an, weil er, wie vor ihm schon Ignatius, bei seiner Auseinandersetzung mit der Gnosis wesentliche Momente des gnostisch beeinflußten johanneischen Offenbarungsdenkens aufgreift, um diese aber dann im Unterschied zu Ignatius in einem weitgesteckten heilsgeschichtlichen Rahmen zu entfalten und von dieser Grundlage her konsequent auch die Weitergabe der Offenbarung und ihre Aktualisierung in der fortlaufenden Geschichte zu konzipieren 1 . Setzen wir ein bei dem Bekenntnis des Konzils in Dei Verbum Nr. 2 zu Christus als dem mediator und der plenitudo aller Offenbarung. Jegliche nur denkbare Selbstmitteilung Gottes wird durch Christus vermittelt und findet in ihm ihr Ziel und ihre letzte Erfüllung. Die in Nr. 4 der Konstitution angeführten Schriftstellen, die die revelatorische Rolle Christi bezeugen sollen, stammen ausschließlich aus dem vierten Evangelium. Auch Irenäus orientiert sich in seinem christologischen Denken 5 1 C f . die sachgerechte und richtungweisende Interpretation bei Waidenfels, Offenbarung 2 9 3 — 3 0 7 . 1 Als charakteristisches Beispiel dieses gnostisch gefärbten Offenbarungsbegriffes des Ignatius sei hier nur eine bekenntnisartige Formulierung aus Mg. 8,2 zitiert, cf. J . A . Fischer (ed.), Die Apostolischen Väter, D a r m s t a d t 1956, p. 1 6 6 : . . . elg fleög eativ, 6 ( P A V E Q I O O A ; E C I U T Ö V 6 i a 'Ir|aoC X g i a o ü T O Ü VIIOÖ aviroö, 05 e a t i v a ü x o i \6yoc; äizö 0 1 7 % jtpoeMkbv O b Irenäus hier von Ignatius direkt abhängig ist, oder ob ihm ähnliche Vorstellungen v o m Johannesevangelium und v o n der Gnosis her zugewachsen sind, kann an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden.

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hauptsächlich am Evangelisten Johannes und spricht wie er von der Offenbarungsgegenwart Gottes in Jesus. Der unsichtbare, unerkennbare und unfaßbare Gott, der in absoluter Transzendenz der Welt gegenübersteht 2 , hat sich der Menschheit auf keinem anderen Wege kundgetan als in seinem Sohne. D i e Erkenntnis des Vaters ist nur möglich durch Jesus. Filius revelat agnitionem Patris per suam manifestationem, agnitio enim Patris est Filii manifestatio omnia enim per Verbum manifestantur3. Es handelt sich hier also um keine bloße Wissensoffenbarung, sondern vielmehr um eine personale Manifestation. Das Offenbarte ist kongruent mit dem Offenbarenden. Christus bringt nicht nur die Lehre der Wahrheit 4 , er selbst ist die Wahrheit 5 . Die unbedingte Voraussetzung der Kundgabe des Vaters durch seinen Sohn ist die Wesensgleichheit Jesu mit dem Schöpfergott. Per Filium itaque qui est in Patre, et habet in se Patrem, is Qui est, manifestatus est Deus, Patre testimonium perhibente Filio et Filio annuntiante Patrem6. Diese Offenbarungs- und Wesensidentität scheint bei Irenaus sogar in einem ausgesprochenen Modalismus zu gipfeln: . . . invisibile etenim Filii Pater, visibile autem Patris Filius ?. D a aber die Selbstmitteilung Gottes in Christus durch und durch geschichtlich und heilsökonomisch konzipiert ist, bleibt der Logos zugleich auch immer dem Vater subordiniert 8 . In der Tat ist weder die Kategorie des Modalismus noch des Subordinatianismus dem Denken des Kirchenvaters vollständig adäquat, weil sein zentrales theologisches Anliegen in der Synthese zwischen dem % Zur Vorstellung der Transzendenz Gottes bei Irenaus, ihren Quellen und denkerischen Voraussetzungen cf. Ochagavia, Visibile Patris Filius 21—42. 3 IV 6,3 (159) — Irenaus wird zitiert nach der Ausgabe Libros quinque adversus haereses, ed. W. W. Harvey, vol. I—II, Cambridge 1857. Die Kapitelzählung bezieht sich auf die Ausgabe Contra omnes haereses libri V, ed. A. Stieren, vol. I—II, Leipzig 1853 und die Edition von R. Massuet in M P G 7. Diese Einteilung ist auch in der Ausgabe Harveys angegeben. In Klammern wird die Seitenzahl von H a r v e y beigefügt. Bei den ersten beiden Büchern bezieht sich die Zahl auf den ersten Band, bei den letzten drei Büchern auf den zweiten Band der Ausgabe von H a r v e y . 4 I I I praef. (1): . . . veritatem, hoc est Dei Filii doctrinam . . . 5 III 5,1 (18): Dominus noster Jesus Christus veritas est. 6 I I I 6,2 (23). — Ebenso eindrucksvoll bringt diesen Gedanken Irenaus zum Ausdruck in III 11,6 (44): Patrem enim invisibilem existentem, ille qui in sinu eius est Filius omnibus enarrat. Propter hoc cognoscunt eum hi quibus revelaverit Filius, et iterum Pater per Filium, Filii sui dat agnitionem his qui diligunt eum. Ähnlich in II 30,9 (368): Semper autem coexistens Filius Patri, olim, ab initio Semper revelat Patrem, et Angelis, et Archangelis et Potestatibus et omnibus, quibus vult revelare Deus. 7 I V 6,6 (160) Visibile wird hier synonym zu cognoscibile gebraucht. Ein ähnlicher Gedanke liegt vor in IV 4,2 ( 1 5 3 ) : . . . mensura enim Patris Filius, quoniam et capit eum. 8 Zur ausführlichen Diskussion dieses Themas cf. Odiagavia, Visibile Patris Filius 95—117 und W. Marcus, Der Subordinatianismus als historiologisches Phänomen. Ein Beitrag zu unserer Kenntnis von der Entstehung der altchristlichen ,Theologie' und Kultur unter besonderer Berücksichtigung der Begriffe Oikonomia und Theologia, M ü n chen 1963,134—139.

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aus der Gnosis stammenden Begriff der absoluten Selbstoffenbarung liegt und dem alttestamentlichen Zeugnis von der indirekten Kundgabe Gottes durch seine Geschichtstaten, zu denen auch die Schöpfung zu zählen ist. Aus dem Grunde reflektiert Irenaus niemals über den Logos in seipso oder seine innertrinitarische generatio ante tempus ohne Bezug auf die Ökonomie der Schöpfung und Erlösung. Uber Gott selbst kann er deshalb pointiert sprechen als totus existens Logos9, und im Hinblick auf das ewige Wort gilt, daß schon von Anfang an seine ganze gesamte zukünftige offenbarende Funktion in ihm angelegt ist. Sic semper Verbum Dei velut lineamenta rerum futurarum habet, et velut species dispositionum Patris hominibus ostendebat, docens nos quae sunt Dei10. Für die Gnosis konnte der Raum der Schöpfung und der Geschichte nur die Depotenzierung des Göttlichen bedeuten, und deshalb mußte sie ihn dem Demiurgen überlassen. Gegen Marcion und Ptolemäus hält aber Irenäus unbedingt daran fest, daß dieser Raum der Schöpfung und der Geschichte schon von Anfang an durchwaltet ist vom Logos. Der Vater wartet nicht bis zur Sendung seines Sohnes ins Fleisch, um sich selbst zu manifestieren. Die offenbarende Tätigkeit des Wortes beginnt vielmehr schon mit dem ersten Moment des Schöpfungsaktes. Die Selbstoffenbarung des Vaters durch die Inkarnation des Logos geschieht deshalb audi nicht punktuell und geschichtlich beziehungslos, sondern innerhalb einer oeconomia revelationis. Unus Christus Jesus Dominus noster, veniens per universam dispositionem et omnia in semetipsum recapitulans11. Innerhalb dieser heilsgeschichtlichen dispositio besteht die Neuheit der Inkarnation in der nicht mehr zu überbietenden heilsmächtigen Visibilität des ewigen Wortes, das durch seine Menschwerdung dieser Welt die Fülle aller Offenbarung bringt. Aus diesem Grunde ist der heilsgeschichtlidie Weg zu dieser Erfüllung nicht nur prophetischer, sondern auch schon inkarnatorischer Art. So heißt es von der Wirksamkeit des Logos in bezug auf die Heilsereignisse des alten Bundes: visibilem autem rursus hominibus per multas dispositiones ostendens Deum . ,32 Selbst • II 28,5 (354). — Über das heilsökonomische Verständnis des Logos bei Irenäus handeln ausführlich A. Orbe, Hacia la primera teología de la procesión del Verbo, Romae 1958, und G. Aeby, Les missions divines de Saint Justin á Origéne, Fribourg 1958. 1 0 IV 20,11 (223). Ochagavia, Visibile Patris Filius 112 rekapituliert diese Konzeption in folgender Weise: „Since the son gave form and substance (creatio secunda) to the amorphous matter created by the father out of nothing (creatio prima) thus making subsistent beings out of the original chaos, and since he, as Logos infixus, is present in the world preventing things from returning back to chaos and steering the course of history, then it follows that the beauty and mysteries of nature and the events of history are nothing but a manifestation and constant unfolding of the potentialities hidden in the Son at the moment of his generation." 11 III 16,6 (87), ähnlich auch IV 14,2 (185). 1 2 IV 20,7 (219). Zur Auseinandersetzung mit Houssiau, La Christologie de S. Irénée,

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die in herkömmlicher Terminologie sogenannte natürliche Gotteserkenntnis wird einzig und allein durch den Logos vermittelt. Er hat die Welt und den Menschen geschaffen und waltet in allen Bereichen seiner Schöpfung. Er ist inhärent der Natur wie auch dem menschlichen Geist. Die Erkenntnis Gottes durch diese Welt und in dieser Welt geschieht unter dem direkten Einfluß und der personhaften Einwirkung des göttlichen Wortes. Für Irenäus besteht eine Einheit und Kontinuität der revelatorischen Funktion des Wortes in der Schöpfung mit seiner Offenbarungsaufgabe in der Geschichte des alten Bundes. Beides sind Ökonomien der Selbstmitteilung Gottes, die in der Menschwerdung seines Wortes ihre Vollendung finden13. Fragen wir nun nach den konstitutiven Merkmalen, die dem alttestamentlichen und neutestamentlichen Offenbarungswirken des Wortes gemeinsam sind, so muß an erster Stelle der personal-dialogische Charakter dieses Wirkens genannt werden. Wo der Logos erscheint, wird das Schweigen gebrochen 14 , und es kommt zur personalen Begegnung und Kommunikation. Dieses Gespräch des Heils beginnt schon im Garten Eden 1 5 und setzt sich dann fort bei Kain und Abel, bei Noah und den Erzvätern und schließlich bei Moses und den Propheten 16 . Wie bei der Predigt Jesu geht es von Anfang an um persönliche Anrede und den Dialog Gottes mit den Menschen. Dieser worthaft-personalen Struktur der Offenbarung entspricht der Glaube als Gehorsam und Hingabe:

credere autem ei, est facere eius voluntatem17.

Louvain 1955, der nur eine prophetische Vorbereitung gelten lassen will, cf. Ochagavia, Visibile Patris Filius 83ss. 1 3 Besonders deutlich kommt die Schöpfung und Erlösung verbindende christozentrische Sicht der Heilsökonomie zum Ausdruck in V 18,3 (374): In hoc mundo existens, et secundum visibilitatem continet quae facta sunt omnia,, et in universa conditione infixus, quoniam Verbum Dei gubernans et disponens omnia; et propter hoc in sua (injvisibiliter venit, et caro factum est et pependit super lignum, uti universa in semetipsum recapituletur. Durch Inkarnation und Kreuz wird die Herrschaft des Logos über die Schöpfung manifestiert. Für die Frage der Gotteserkenntnis heißt das aber nach II 6,1 ( 2 6 4 ) : . . . tarnen hoc ipsum omnia cognoscunt, quando ratio mentibus infixa moveat ea et revelet eis, quoniam est unus Deus, omnium Dominus. Nach dem vorausgehenden Zitat ist hier ratio identisch mit Verbum. Zur Beweisführung cf. Ochagavia, Visibile Patris Filius 7 8 — 7 9 . Zum Thema cf. ebenso die Ausführungen bei Bengsch, Heilsgeschichte 177ss und Brox, Offenbarung 180—189. 1 4 II 12,5 ( 2 7 8 ) : Impossibile est autem Logo praesente Sigen esse, aut iterum Sige praesente Logon ostendit. An die Stelle von Logos oder Verbum kann deshalb auch Vox treten, cf. V 15,4 ( 3 6 7 ) : . . . sic in novissimis temporibus per eandem Vocem visitavit exquirens genus eius. 1 5 V 17,1 (369). — Ebenso findet sich dieser Gedanke im „Erweis der apostolischen Verkündigung" 12, cf. die Obersetzung aus dem Armenischen von S. Weber in B K V 4, Kempten 1912, p. 10. 1 8 Alle betreffenden Belege sind zusammengestellt bei Ochagavia, Visibile Patris Filius 4 4 — 5 4 . 1 7 I V 6,5 (160).

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Das zweite konstitutive Element der Offenbarungswirklichkeit des Logos ist die innere unauflösliche Einheit von Wort und Tat. Offenbarung geschieht nicht nur durch die Erscheinung des Wortes und seiner Rede, sondern ebenso durch sein Handeln. Von der persönlichen Manifestation, und dem prophetischen Zeugnis ist die typologische Signifikation nicht zu trennen. Non solum autem per visiones quae videbantur, et per sermones qui praeconabantur, sed et in operationibus visus est prophetis, ut per eos praefiguraret et praemonstraret futura18. Das Wort erscheint also nicht nur in Logophanien, es gibt sich auch nicht nur verbal kund. Zugleich tritt es auf den Plan in historischen Ereignissen und präfiguriert auf diese Weise die Erfüllung aller Offenbarung in seiner Menschwerdung. Die Aufeinanderfolge dieser Geschichtstaten, ihre planvolle Kontinuität und Entwicklung nach der Pädagogik des Vaters bilden die historia salutis Gottes mit den Menschen19. Konnten wir bisher die Offenbarung als theozentrisch verstehen, da es bei ihr immer um die Selbstmitteilung des einen transzendenten Gottes geht, aber ebenso auch als christozentrisch, da nur durch den Logos die Kundgabe des Vaters gewirkt wird und seine absolute Vermittlerrolle immer auf seine Menschwerdung hinzielt und sich in ihr erfüllt, so muß jetzt noch von dem pneumatischen Charakter alles Offenbarungsgeschehens gesprochen werden. Während dem Sohn im exklusiven Sinne die revelatorische Rolle zukommt, wirkt der Geist auf der Seite des Menschen die glaubensvolle Annahme der Offenbarung des Vaters durch den Logos. „Also kann man ohne den Geist das Wort Gottes nicht sehen und ohne den Sohn kann niemand zum Vater kommen. Denn das Wissen des Vaters ist der Sohn. Das Wissen vom Sohne Gottes aber erlangt man durch den Heiligen Geist." 20 Im Unterschied zum Werk des Sohnes, der die offenbarende Wirklichkeit Gottes in dieser Welt konstituiert21, kommt dem Geist die Aufgabe der Erleuchtung, der Erhaltung und Belebung zu. Wie alles Erschaffene allein durch seine Kraft existiert, so kann der Glaube nur durch ihn erhalten werden und an sein Ziel gelangen. In allen Phasen der oeconomia revelationis ist er der Beistand der Menschen gewesen22. Kein heilsgeschichtliches Ereignis 1 8 I V 2 0 , 1 2 ( 2 2 3 ) . Z u r Diskussion der Stelle cf. Ochagavia, n. 5 8 . 1 9 Ober den pädagogischen Sinn der Heilsgeschichte ä u ß e r t und 3 2 , 1 — 2 . — Die sehr ausgeprägte irenäische K o n z e p t i o n Entwicklung und Fortschritt w i r d ausführlich dargestellt von 120ss und 185ss.

Visibile Patris Filius 5 5 sich Irenaus in I V 14,2 der Heilsgeschichte als Bengsch, Heilsgeschichte

2 0 E r w e i s 7 ; W e b e r 7. D i e gleiche D a r l e g u n g des Verhältnisses zwischen Geist und Sohn findet sich I V 2 0 , 5 ( 2 1 6 ) und V 3 6 , 2 ( 4 2 9 ) . 2 1 V 18,1 ( 3 7 4 ) . 2 2 I V 33,1 ( 2 5 6 ) : Talis discipulus spiritalis vere recipiens Spiritum Dei, qui ab initio in universis dispositionibus Dei adfuit hominibus, et futura anuntiabit, et praesentia ostendit et praeterrita enarrat. ..

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ist ohne seine Präsenz denkbar. Sowohl vor als auch nach der Fleischwerdung des Wortes ist er im vollen Sinne die communicatio Christi23. Am Ende der Zeiten wird er schließlich mit dem Worte des Vaters das Heilswerk der Rekapitulation vollenden, die endgültige Heimholung des Menschen zu seinem Ursprung24. Wenn auch streng genommen der Glaube nicht zum Offenbarungsgeschehen gehört, so doch das Wirken des Geistes, das diesen Glauben erweckt und vollendet. Die Tätigkeit des Pneumas geschieht nun aber nicht ohne die geschichtliche Manifestation des Sohnes, sondern immer nur in Verbindung mit ihr und in ihrem Dienst. Durch das Pneuma wird kein neuer ungeschichtlicher Zugang zur Offenbarung eröffnet, sondern nur der offenbarende Weg des Logos für das Erkennen und die Nachfolge freigelegt. Wahre Gnosis ist deshalb immer die Erkenntnis des Sohnes Gottes als visibile Patris Filius25. Der Visibilität des fleischgewordenen Wortes korrespondiert seine Sichtbarkeit, beziehungsweise seine Erkennbarkeit nach dem Geist. Es besteht in dieser Hinsicht eine differenzierte Konformität zwischen der Zeit vor und nach der Inkarnation. Das Wirken des Geistes ist demnach durch und durch heilsgeschichtlich bedingt und gebunden. Der pneumatische Aspekt der Offenbarung ist folglich untrennbar von der geschichtlich konkreten Erscheinungsweise des Logos. Ohne Schmälerung seines absolut theozentrischen Charakters können wir also im Sinne des Irenäus das Offenbarungsgeschehen als totaliter christologisch und ebenso als totaliter pneumatisch verstehen. Werfen wir von diesem Ergebnis her einen kurzen Blick zurück auf Dei Verbum, so fällt sofort die mangelnde christologische und pneumatologische Durchdringung des Offenbarungsgedankens ins Auge. Während in Nr. 3. ausdrücklich gesagt wird, daß Gott durch das Wort alles erschafft, wird die Mittlerrolle des Logos in der Geschichte des alten Bundes nicht erwähnt und es entsteht der Eindruck, daß Gott in der Zeit vor Christus auf direkte Weise gesprochen und gehandelt habe. Die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis durch die geschaffenen Dinge ohne die Vermittlung des Sohnes, wie sie in Nr. 6 postuliert wird, ist dann die notwendige Konsequenz aus dieser Anschauung. Ähnlich verhält es sich mit dem Heiligen Geist, von dessen Tätigkeit im alten Bund nicht die Rede ist. Zwar wird in Nr. 4 gesagt, daß die Sendung des Geistes die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt. Auch kann nach Nr. 5 die Annahme der III 24,1 (131). Hier in Verbindung mit der Kirche. V 1,3 (317). Auf die Lehre von der Rekapitulation kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Wichtig für uns ist hier nur ihre eschatologische Bedeutung. Cf. zuletzt die kurze übersichtliche Darstellung bei Brox, Offenbarung 1 8 6 — 189. 2 5 III 10,3 (35). 23

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Offenbarung nicht ohne den Beistand des Pneumas geschehen; Glaube und Verstehen sind immer von ihm ganz abhängig. Aber offensichtlich ist es versäumt worden, diese fundamentalen Erkenntnisse in Dei Verbum auch auf die Heilsgeschichte vor der Menschwerdung des Logos anzuwenden. Abgesehen von dieser fehlenden Konsequenz kann jedoch eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen der Konzeption der Offenbarung in Dei Verbum und bei Irenäus festgestellt werden. Ein Vergleich der Konzilskonstitution mit dem frühchristlichen Theologen läßt in auffallender Weise die durch und durch trinitarische Struktur und die totale heilsgeschichtlich-christologische und pneumatologische Bestimmtheit des irenäischen Denkens ans helle Licht treten26. Es wird sich zeigen, wie die mit dem Offenbarungsverständnis gegebene Thematik sich in der Auffassung ihrer Überlieferung unmittelbar fortsetzt.

III. Die Konzeption der Überlieferung 1. Der ganzheitliche und dynamische Traditionsbegriff Dei Verbum

von

Während im ersten Schema der Konstitution Offenbarung die Erschließung neuer Erkenntnisinhalte bedeutete, die durchaus aus verschiedenen Quellen geschöpft werden konnten, ist in dem endgültigen Text diese intellektualistische Auffassung vollständig aufgegeben und an ihre Stelle ein Offenbarungsbegriff getreten, in dessen Mittelpunkt das person- und worthafte Heilshandeln Gottes in Jesus Christus steht. Es kann deshalb nicht mehr von mehreren Quellen der Überlieferung gesprochen werden. Die Weitergabe bezieht sich immer auf die eine und einzige göttliche Offenbarung, nämlich die Person, die Predigt und das Geschick des irdischen und auferstandenen Jesus. Wie die Offenbarung ein ganzheitlicher Vorgang ist, dessen verschiedene Komponenten eine innere Ein" Angesichts der Tatsache, daß das in Dei Verbum dargelegte heilsgesdiichtlidie Offenbarungsverständnis in seiner Grundstruktur dem altchristlidien Denken entspricht, kann das von Kühn, Die Ergebnisse 56 formulierte evangelische Desiderium, den Offenbarungsbegriff nicht nur von der Inkarnation, sondern auch von der Rechtfertigung her zu beleuchten, nicht als eine Alternative, sondern als ein im Sinne der referierten Kritik (cf. supra 31 n. 35) komplementärer Aspekt angesehen werden. Dies gilt ebenso für das höchst anfechtbare Verfahren bei Maron, Kirche und Rechtfertigung 162ss, überhaupt den ganzen Problemkreis Offenbarung und Uberlieferung von einem verabsolutierten Rechtfertigungsdogma her zu disqualifizieren. Diese Methode verbaut den Weg zu jedem editen Dialog.

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heit bilden, die reicher und umfassender ist als alle Sätze, die sie aussagen können, so verhält es sich auch mit der Überlieferung dieser Offenbarung. Im ersten Abschnitt (Nr. 7) des zweiten Kapitels De divinae révéla tionis transmissione wird zuerst der Übergang der Offenbarung zu ihrer Uberlieferung dargelegt. Die soteriologische Absolutheit und Universalität der Offenbarung fordert nach dem Willen Gottes ihre permanente Integrität und Transmission in der weitergehenden Geschichte1. Der Vollendung und Totalität aller Offenbarung in Christus entspricht das eine Evangelium, das den Offenbarer selbst und seine Verkündigung zum Inhalt hat und deshalb die eine Quelle aller Heilswahrheit und Sittenlehre darstellt. — Bei der Formulierung dieses Gedankens wird weitgehend auf das Tridentinum zurückgegriffen. Ein genauer Vergleich des Textes zeigt jedoch, daß zwei Ergänzungen vorgenommen wurden, die den Fortschritt des II. Vaticanums markieren 2 . Das Evangelium wird nicht mehr nur von Jesus „promulgiert", sondern auch „erfüllt". Ebenso bezieht sich der Auftrag Jesu an die Apostel nicht mehr ausschließlich auf die Predigt, sondern auch auf die Mitteilung von göttlichen Gaben 3 . Die Begrifflichkeit des adimplere und communicare einer personhaften, charismatischen ganzheitlichen Heilswirklichkeit tritt hier korrigierend neben die Redeweise von der Promulgation eines verbal und gesetzlich fixierten Lehrinhaltes. Die Verkündigung des Evangeliums gründet im Auftrag des Herrn, den die Apostel von ihm empfingen und durch den sie zu den ursprüng1 Nr. 7: Quae Deus ad salutem cunctarum gentium revelaverat, eadem benignissime disposait ut in aevum intégra permanerent omnibusque generationibus transmitterentur. Von diesem Aspekt her dürfte es kaum berechtigt sein, wie Barth, Ad Limina 52 im II. Kapitel „den großen, dem Konzil bei der Redaktion unseres Textes widerfahrenen Schwächeanfall" zu sehen und die Konstitution ausschließlich von ihrem letzten Kapitel her zu interpretieren. Zweifellos haben wir es im II. Kapitel mit dem Herzstück von Dei Verbum zu tun. Dies zeigt auch die Textgeschichte, cf. Ch. Moeller, Le texte du chapitre II dans la seconde période du Concile (Sessions II, I U I et IV), in: Dupuy, La révélation divine 305—344. 2 Die beiden betreffenden Sätze seien hier noch einmal zum Vergleich nebeneinandergestellt, Tridentinum, Sessio IV Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis, D S 1501 (783): . . . quod (sc. Evangelium) promissum ante per Prophetas in Scripturis sanctis Dominus noster Jesus Christus Dei Filius proprio ore primum promulgavit, deinde per suos Apostolos tamquam fontem omnis et salutaris veritatis et morum disciplinae ,omni creature praedicari' iussit. Und „Dei Verbum" Nr. 7: Ideo Christus Dominus, in quo summi Dei tota revelatio consummatur, mandatum dedit Apostolis ut Evangelium, quod promissum ante per Prophetas Ipse adimplevit et proprio ore promulgavit, tamquam fontem omnis et salutaris veritatis et morum disciplinae omnibus praedicarent, eis dona divina communicantes. 3 Es muß natürlich gefragt werden, was hier genauer unter dona divina verstanden werden soll. Sicherlich sind hier die Heilsgüter des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung gemeint, die durch die Predigt, die Sakramente und die charismatischen Gaben vermittelt werden.

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lichsten Tradenten der Heilsbotschaft wurden. Die Weitergabe der Überlieferung von Christus her geschieht dann auf zweierlei Weise, sowohl durch die mündliche Predigt der Apostel, durch ihr Beispiel und durch ihre Einrichtungen, als auch auf dem Wege der schriftlichen Fixierung der Heilsbotschaft durch die Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des Heiligen Geistes handelten4. Die Erwähnung der „apostolischen Männer" soll die im IV. Kapitel der Konstitution behandelte Verfasserfrage der Evangelien oifen halten (Nr. 18). In welchem Sinne hier von Inspiration gesprochen werden kann, wird näher im I I I . Kapitel erläutert. — Besondere Beachtung verdient aber in diesem Zusammenhang, daß neben die schriftliche Tradierung nicht nur die mündliche Überlieferung gestellt ist, sondern auch andere Möglichkeiten einer nichtschriftlichen Weitergabe der Offenbarung. Mit exemplum ist wahrscheinlich die volle christliche Lebenshingabe gemeint, die einen wesentlichen Modus echter Uberlieferung der Heilswahrheit darstellt. Bei institutio kann an Sakramente, an Ämter und an andere leibhaft-soziale Vollzüge des kirchlichen Lebens gedacht werden, die der Aktualisierung und Weitergabe der Offenbarung dienen. Dem exemplum und der institutio ist die praedicatio vorgeordnet als die den übrigen Überlieferungsformen vorausgehende Kommunikation des rettenden Evangeliums. Inhalt der nichtschriftlichen und der schriftlichen Uberlieferung ist immer das eine Evangelium, das noch einmal in bezug auf seinen Ursprung und seinen Gehalt genau erläutert wird. Während das Tridentinum hier nur davon spricht, was von den Aposteln ab ipsius Christi ore empfangen, beziehungsweise Spiritu Sancto dictante weitergegeben wurde, wird jetzt die Vorstellung einer bloßen Verbaltradition und die ihr korrespondierenden Verbalinspiration vermieden und der Ursprung der Uberlieferung in den weiten Rahmen der personhaften und pneumatischen Begegnung stellt, der das Gesagte und das Ungesagte in sich schließt und nicht nur das umfaßt, was die Apostel aus dem Munde ihres Herrn vernahmen, sondern ebenso seinen persönlichen Einfluß 5 , seine Taten und Wunder und sein gesamtes Heilswerk und schließlich auch das 4 Nr. 7: Quod quidem fideliter factum est, tum ab Apostolis, qui in praedicatione orali, exemplis et institutionibus ea tradiderunt quae sive ex ore, conversatione et operibus Christi acceperant, sive a Spiritu Sancto suggerente didicerant, tum ab Ulis Apostolis virisque apostolis, qui, sub inspiratione eiusdem Spiritus Sancti, nuntium salutis scriptis mandaverunt. — In der Diskussion der Konzilsväter wurde von einer traditio biformis gesprochen. Grammatisch wird dieser Sachverhalt zum Ausdrude gebracht durch die koordinierende Konstruktion mit tum — tum, die in ähnlicher Weise in Nr. 8 angewandt wird. Auf jeden Fall ist damit eine Auffassung gänzlich ausgeschlossen, die das Verhältnis der beiden Traditionsweisen im Sinne eines partim — partim versteht. 5 conversatio in N r . 7 bezieht sich wohl in erster Linie auf den persönlichen Umgang, der über das bloße Sprechen miteinander hinausgeht und dieses erst in seiner vollen Tragweite ermöglicht.

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erinnernde Verstehen alles Geschehenen unter der Führung des Parakleten, a Spiritu Sancto suggerente6. Der konkrete Inhalt des weiterzugebenden Evangeliums ist also komplexer Natur, denn er bezieht sich nicht nur auf die Verkündigung Jesu, die durch eine mündliche oder schriftliche Paradosis kerygmatischen und historisch-dokumentarischen Charakters tradiert werden kann. Der volle inhaltliche Skopus dieses Evangeliums ist ebenso die persönlich-geistige Gesamterfahrung des irdischen Jesus und des auferstandenen Christus, die sich in das Leben der Apostel eingeprägt hat und in ihrer ganzen Tiefe und Dynamik nicht völlig in einer historischen Dokumentation eingefangen werden kann. Das gleiche gilt auch von den Werken Christi, wenn man unter ihnen vor allen Dingen die Taten seiner Liebe, seinen Opfertod und seine Auferstehung versteht. Als weiteres Element dieses komplexen Evangeliums wird die vom Heiligen Geist gewirkte apostolische Lehre genannt, mit der die Interpretation der Historie Jesu als Heilsgeschehen gemeint ist. Dieses pneumatische Glaubenszeugnis kann auch seinen schriftlichen Niederschlag finden und damit historisch fixiert werden. In erster Linie ist es jedoch angelegt auf eine lebendige und unter dem Einfluß des Geistes stehende dynamisdie Weitergabe in der Geschichte. Ein wichtiger Aspekt echter Uberlieferung ist somit auch das unauflösliche Ineinander von historisch verifizierbaren Geschehen und seiner pneumatischen Deutung. Was nun das Verhältnis von schriftlicher und nichtschriftlicher Uberlieferung anbetrifft, dürfte klar sein, daß beide es mit dem gleichen Inhalt zu tun haben, insofern dieser überhaupt durch Niederschrift festgehalten werden kann. Das jegliche schriftliche Form Umgreifende und Uberschießende sind die vitalen, personhaften und tathaften Elemente des Jesusgeschehens und die Aktivität des Pneumas im Vollzuge ihrer Deutung durch die Apostel. Diesem komplexen Tatbestand des Uberlieferungsgehaltes entsprechen die verschiedenen Modi der Weitergabe des Evangeliums. Wenn in diesem Zusammenhang von dem ganzheitlichen und dynamischen Charakter der Uberlieferung gesprochen wird, soll damit zum Ausdruck kommen, daß die eine und einzige Offenbarungswirklichkeit, die weitergegeben wird, verschiedene Komponenten enthält, die in ihren differenzierten Relationen das eine Evangelium bilden. So muß unterschieden werden zwischen einer historischen und einer pneumatischen Uberlieferung, zwischen einer Verbal- und einer 6 Es handelt sich hier um ein Zitat von Joh. 14,26 in der Version der Vulgata. Damit ist gegenüber dem Spiritu Sancto dictante des Tridentinums die pneumatische Lebendigkeit der Tradition zum Ausdrude gekommen und das mit den johanneischen Parakletensprüchen gegebene pneumatologische Verständnis der Überlieferung ins Spiel gebracht. — Wäre Maron, Kirche und Rechtfertigung 169 dieses Aspektes der Oberlieferung ansichtig geworden, hätte er nicht im Hinblick auf das una cum Sacra Traditione von Nr. 21 das Fehlurteil fällen können: „Vielmehr ist bei der Reflexion über die Schrift die Tradition an die Stelle des Heiligen Geistes getreten."

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Realtradition und einer mündlichen und einer schriftlichen Weitergabe. Diese Begriffspaare stellen jedoch keine Gegensätze dar, sondern vielmehr Sachverhalte, die in sich und untereinander komplementär sind. Sie enthalten jeweils ein statisches und ein dynamisches Moment, ein Element des dokumentarisch Fixierbaren und ein Element des im Leben Vollziehbaren. Alle Komponenten hängen in je verschiedener Bedeutung miteinander zusammen, sind aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig. In ihrer inneren Einheit sind sie die vom Konzil gemeinte ganzheitliche und dynamische Uberlieferung, die die eine Offenbarungswirklichkeit darstellt7. Im letzten Absatz von Nr. 7 werden zwei weitere wichtige Aspekte dieser lebendigen Totaltradition kurz angedeutet. Zuerst geht es um den engen Zusammenhang des Traditionsgedankens mit dem Sukzessionsprinzip. Die unauflösliche Einheit von Überlieferung und Nachfolge war auf dem Tridentinum noch nicht, oder besser gesagt, nicht mehr erkannt worden. Deshalb muß auf Irenäus als den theologischen Kronzeugen der Verbindung von Tradition und Sukzession zurückgegriffen werden. Nach einem Zitat aus Adversus Haereses haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger eingesetzt und ihnen ihr eigenes Lehramt überliefert, damit auch nach ihnen das Evangelium unversehrt und lebendig in der Kirche erhalten werde8. Es ist offensichtlich, daß an dieser Stelle der Konstitution noch nicht auf die Frage des Lehramtes näher eingegangen werden soll, sondern vielmehr die grundlegende Einheit des materialen und des formalen Prinzips der Überlieferung deklariert wird. Die Bewahrung und Aktualisierung des Evangeliums geschieht in apostolischer Nachfolge, das heißt, daß der sachliche Gehalt der Tradition von den Aposteln her bis in die Gegenwart fortgeführt wird in der personund zeugnishaften Gestalt der von der Kirche eingesetzten Repräsentanten ihrer Verkündigung und Lehre. Da es hier der Sache nach erst einmal um die geschichtliche Kontinuität der Glaubenden überhaupt geht und dann erst um die amtlichen Organe dieser Gemeinschaft, ist es unerfindlich, daß hier nicht an erster Stelle die Kirche als Subjekt der Überlieferung genannt wird, sondern unvermittelt ohne irgendeinen ekklesiologischen Bezug die Bischöfe als Nachfolger der Apostel fungieren, deren Lehramt sie übernommen haben9. Diese Unterlassung mag unreflektiert 7 Es mag hier schon kurz darauf hingewiesen werden, daß in der Theologiegeschithte der Neuzeit diese Konzeption der Überlieferung am klarsten von Maurice Blondel erfaßt worden ist. 8 Nr. 7: Ut autem Evangelium integrum et vivum iugiter in Ecclesia servaretur, Apostoli successores reliquerunt Episcopos, ipsis ,suum ipsorum locum magisterii tradentes'. Cf. Adv. haer. III 3,1 (9): . . .quos et successores reliquebant suum ipsorum locum magisterii tradentes. 9 Ratzinger, LThK Kommentar 517 geht an dieser Stelle überhaupt nicht ein auf das Verhältnis von Kirche und Amt, betont aber um so mehr das durch die Sukzession

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sein, kann aber im Hinblick auf die brennende Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen Kirche, Amt und Tradition zu Mißverständnissen führen10. Im letzten Satz von Nr. 7 findet sich dann zum ersten Male der theologische Begriff der Sacra Traditio. Während die Väter von Trient ausschließlich die konkreten Phänomene des kirchlichen Lebens im Auge hatten und deshalb nur im Plural von den traditiones sprachen11, haben wir es im II. Vaticanum mit einem theologischen Reflexionsbegriff zu tun, der wesensgemäß nur im Singular gebraucht werden kann, weil er die Weitergabe und die Vergegenwärtigung der einen Offenbarung zu seinem Inhalt hat. Es wird nun gesagt, daß diese Tradition und die Heilige Schrift beider Testamente „gleichsam ein Spiegel sind, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er ist" 12 . Damit ist ein wesentliches Anliegen des Konzils, wie es besonders in Lumen Gentium zum Ausdruck kommt13, auch für das Verständnis der Offenbarungsüberlieferung fruchtbar gemacht worden. Durch das Bild des Spiegels und der Pilgerschaft des Gottesvolkes wird deutlich, daß bei aller Vergegenwärtigung und Antizipation die Vollendung des mit Tradition und Schrift gegebenen Heilsgutes der Kirche erst im Eschaton geschenkt werden wird. Inhalt und Geschehen der Uberlieferung sind also eschatologisch ausgerichtet und müssen in der Perspektive des Reiches Gottes betrachtet werden14. Zwischen der herausgestellte formale Prinzip der Überlieferung; „sie bedeutet im letzten eine hermeneutische Grundentscheidung, derart, daß der Glaube nicht anders als in der geschichtlichen Kontinuität der Glaubenden anwesend ist, in ihr, nicht gegen sie gefunden werden muß". — Zur speziellen Bedeutung der apostolischen Sukzession und des Lehramtes der Bischöfe für den gesamten Überlieferungsprozeß wird später noch Stellung genommen werden. 10 So zieht Kühn, Die Ergebnisse 60 die keineswegs zutreffende Folgerung, daß in Nr. 7 von Dei Verbum die „heilige Überlieferung" als mündliches Lehramt der Bischöfe aufgefaßt werde. — Berechtigt ist der Einwand von Schlink, Écriture 502, der die Vorordnung des Amtes vor der Gemeinschaft der Gläubigen bei der Weitergabe des Evangeliums kritisiert. 11 Mit diesen traditiones waren zum Beispiel gemeint die Messe als Opfermahl, die Kindertaufe, die Sitte des Fastens, das Gebet nach Osten, das Kreuzeszeichen etc. Cf. Y . Congar, Traditions apostoliques non écrites et sufficance de l'Écriture, Ist 6 (1959), 2 1 9 — 3 0 6 , p. 289ss und B. Bévenot, Traditions in the Council of Trent, H e y J 4 (1963), 333—347. 12 N r . 7: Haec igitur Sacra Traditio et Sacra utriusque Testamenti Scriptura veluti speculum sunt in quo Ecclesia in terris peregrinans contemplatur Deum, a quo omnia accipit, usquedum ad Eum videndum facie ad faciem sicuti est perducatur. 1 3 Das ganze VII. Kapitel ist dem endzeitlichen Charakter der pilgernden Kirche gewidmet, cf. besonders Nr. 48, wo von einer Antizipation des fines saeculorum und der renovado mundi die Rede ist. 14 Damit dürfte die kritische Anfrage von Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes 154—155 eine positive Antwort erhalten haben. Es wäre aber eindeutiger gewesen, in

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Geschichte der Offenbarungsüberlieferung und der Erfüllung aller Offenbarung in der Schau Gottes besteht eine Spannung, die das Leben der Kirche in dieser Welt durchgehend prägt. Von diesem Ziel und dieser Vollendung her gesehen muß die Erkenntnis und die Realisierung der Überlieferung ihrem Wesen nach immer fragmentarisch und vorläufig bleiben 15 . Ein besonderes Problem des Schlußabschnittes von N r . 7 ist mit der scheinbaren Koordination von Sacra Traditio und Sacra Scriptura gegeben. Wird damit schon wieder der ganzheitliche und totale Traditionsbegriff aufgegeben, bei dem revelatio, evangelium und traditio in sachlicher und geschichtlicher Folge auseinander hervorgehen und die Schrift dann einen speziellen Modus der Uberlieferung darstellt? Es ist aber hier keineswegs ein Nebeneinander von Tradition und Schrift gemeint, das bei aller Beziehung beider zueinander in erster Linie ihre ursprüngliche Eigenständigkeit und Trennung hervorhebt. Die Beobachtung dürfte zutreffend sein, daß das Konzil mit voller Absicht in zweierlei Weise von Tradition spricht 16 . Im Hinblick auf den Ursprung der Uberlieferung muß nämlich ihr Begriff unbedingt inklusiv sein, um sowohl mündliche als auch institutionelle und schriftliche Formen der Weitergabe zu umfassen, besonders aber, um die Ganzheit der Offenbarung in der Person des Offenbarers als eigentliche Sache und Subjekt der Tradition zum Ausdruck zu bringen. Blickt man dann aber auf die nachapostolische Zeit, so muß von der Schrift gesondert gesprochen werden, sogar in einer gewissen Absetzung von der Tradition, da sie neben, oder besser gesagt, in der weitergehenden Überlieferung eine abgeschlossene Tradition und damit den Urtypus der einen Tradition darstellt. Damit ist in N r . 7 von Dei Verbum schon der ganzheitliche und dynamische Traditionsbegriff des II. Vaticanums in seiner Grundstruktur dargelegt. Besteht die Offenbarung nicht nur in einer Lehre über Gott, sondern in seiner Selbsterschließung durch Christus, so muß auch ihre Weitergabe primär in der Dimension einer personhaften, ganzheitlichen Realität gedacht werden. Die verschiedenen Komponenten der Uberlieferung sind dann dieser Grundgegebenheit ein- und unterzuordnen und dadurch in eine innere Beziehung miteinander zu setzen. Allein unter dieser Voraussetzung erweist sich die Differenzierung von Tradition und Dei Verbum statt von der Gottesschau vom Reiche Gottes zu sprechen, obwohl sich diese Terminologie vom Zusammenhang her nahelegte und der biblische Sachverhalt von 1. Kor. 13,12 her gegeben ist. 15 Ratzinger, LThK Kommentar 517 erwägt, ob hier nicht auch ein traditionskritisches Element anklinge, „denn wo nur spiegelbildlich gesdiaut und gelesen wird, da ist auch mit Verzerrungen und Verschiebungen zu rechnen". Aber weder vom Bild noch von der Sache her ist dieses Thema hier angesprochen. Auch Schutz/Thurian, Das Wort Gottes 72 interpretieren nur im Sinne des Vorläufigen. 18 Skydsgaard, Schrift und Tradition 42.

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Schrift als sachlich begründet und erforderlich. Die Schrift gehört zur Tradition, sie ist Tradition auf besondere Weise. Im Gesamtkomplex der Überlieferung nimmt sie als die fixierte apostolische Predigt einen bevorzugten Platz ein. Die Sache der Schrift, die auf jeden Fall identisch ist mit der Sache der Tradition, wird aber nicht wirksam ohne den lebendigen geschichtlichen Vorgang der Uberlieferung, der sich mit seinen unterschiedlichen Komponenten ebenso wie die Schrift auf den Ursprung der Offenbarung bezieht. Ein Sola-Scriptura, das diesen ganzheitlichen und lebendigen Traditionsbegriff des II. Vaticanums ausschließen würde, könnte deshalb nur als Axiom eines geschichtslosen Aktualismus verstanden werden, wenn man von vornherein von einem biblizistischen Fundamentalismus, einem reinen Skripturismus, absieht. Letztlich impliziert dieser Traditionsbegriff schon von seinem Ansatz her die grundlegende und weitreichende Entscheidung, daß die Uberlieferung der Offenbarung, ebenso wie diese selbst, sich von ihrem Anfang bis zu ihrer Vollendung in der Geschichte und unter ihren Bedingungen vollzieht. Der pneumatische Aspekt der Selbstmitteilung Gottes durch Christus kann deshalb niemals ohne die Voraussetzung ihres inkarnatorischen Zentralmotivs gedacht werden. Wurde in Nr. 7 die ganzheitliche Überlieferung der Offenbarung vorwiegend im Blick auf ihren Ursprung und auf ihr Ziel dargelegt, so beschäftigt sich der folgende Abschnitt Nr. 8 mit ihrem Inhalt, mit ihrer Aufgabe und mit ihrer geschichtlichen Entwicklung. Auf diese Weise tritt der umfassende und lebendige Charakter der Tradition noch deutlicher zutage. Der übergeordnete Begriff, von dem jetzt ausgegangen wird, ist die praedicatio apostolica, die in den inspirierten Büchern auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. Wiederum sind hier das lebendige Zeugnis und seine schriftliche Form in ihrer gegenseitigen Zuordnung und inneren Einheit gesehen, wobei der einzigartige Rang der Schriften durch den Inspirationsgedanken hervorgehoben wird. Wie nun ihr spezieller Modus zu interpretieren ist, bleibt an dieser Stelle offen und ist der weiteren Diskussion überlassen17. Diese apostolische Predigt in ihren unterschiedlichen Modi muß bis zum Ende der Zeiten bewahrt werden, und zwar in ununterbrochener Folge, continua successione. Die Erhaltung der Heilsbotschaft geschieht also in einer hier nicht näher erläuterten Kontinuität. Noch einmal werden zwei charakteristische Merkmale dieser Überlieferung herausgestellt. Einmal handelt es sich um das, was die Apostel empfangen haben, um den ein für allemal überlieferten Glauben (Jud. 3). Zweitens wird dieser Glaube sowohl in mündlicher wie auch 1 7 Die Übersetzung des speciali modo mit „besonders deutlich" dürfte nicht ganz zutreffend sein. Die Art der Besonderheit ist gerade für die weitere Diskussion offen gelassen.

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in schriftlicher Form weitergegeben18. Der apostolische Charakter der Tradition besteht also in ihrer von der Offenbarung her bedingten Abgeschlossenheit und Unveränderlichkeit, an der auch die mündliche Überlieferungsform nichts ändern kann. Hier gilt es nur, treu zu bewahren, das Empfangene festzuhalten und für den überlieferten Glauben zu kämpfen. Gleichwohl besteht diese Tradition nicht nur in einer historisch dokumentierten Lehre, die nur in scharfer Abgrenzung zur nachapostolischen Zeit erfaßt werden kann. Das quod vero ab Apostolis traditum est hat neben seinem historischen und lehrhaften Aspekt eine auf den Glaubensvollzug und die christliche Lebenshingabe gerichtete Komponente, die gerade nicht in ihrer Beschränkung auf die Zeit der Apostel, sondern vielmehr in ihrer bis in die Gegenwart reichenden Wirkung gesehen werden muß. So kann die Uberlieferung von ihrem Zweck und von ihrem Ziel her beschrieben werden: „Sie umfaßt alles, was dem Volke Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren." Tradition ist demnach die im Leben der Gläubigen realisierte Offenbarungswirklichkeit. Dieser mit dem Begriff der Apostolizität verbundene Überlieferungsgedanke wird dann noch bis zu einer äußersten Grenze erweitert und zu einer letztmöglichen Synthese geführt, so daß die historisch feststehende normative apostolische Ursprungstradition zugunsten ihrer vorwärtsgerichteten aktualisierenden Dynamik ganz aus dem Blickfeld zu entschwinden droht: Ecclesia, in sua doctrina, vita et cultu, perpetuat cunctisque generationibus transmittit omne quod ipsa est, omne quod credit. Im 3. Schema war dieser Traditionsbegriff sogar noch weiter gefaßt. Es hieß dort: omne quod ipsa est, omne quod habet, omne quod credit19. Nach den kritischen Einwänden einiger Väter, daß hier die apostolische Urtradition nicht genügend von der weitergehenden kirchlichen Uberlieferung unterschieden werde, wurde das omne quod habet gestrichen20. Damit wurde zwar die Gefahr eines Mißverständnisses gemindert, aber noch lange nicht hinlänglich deutlich die Einmaligkeit, die Unüberholbarkeit und die normativ kritische Funktion des apostolischen Zeugnisses ausgesagt. Zwar wird in der offiziellen Relatio betont, daß zu dieser Tradition nur gehöre, quae substantialia sunt Ecclesiae21, aber was ist unter diesen substantialia zu verstehen? 1 8 Es ist ein Kuriosum des Konzilstextes, daß ausgeredinet der ganzheitliche Überlieferungsgedanke durdi das Zitat von 2.Thess 2,15 bekräftigt werden soll, in dem von 1 9 Cf. Baum, Die Konstitution 98. traditiones die Rede ist! 2 0 Besonders ist hier die am 30. 9. 1964 gehaltene Rede Kardinal Meyers von Chicago zu erwähnen, der sich dafür einsetze, daß in der Konstitution auch die Möglidikeit von Fehlentwicklungen der Tradition zugegeben werde. Leider ist diese Rede bei H a m pe, Die Autorität überhaupt nicht und bei Stakemeier, Die Konzilskonstitution 219 nur fragmentarisch wiedergegeben, cf. das wichtige Zitat supra 139 n. 22. 21 Cf. Baum, Die Konstitution 99.

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Die wichtige Frage nach der Norm einer notwendigen Unterscheidung zwischen einer traditio divino-apostolica und den traditiones mere ecclesiasticae ist hier bewußt offen geblieben. Die im Hinblick auf das ökumenische Gespräch auch von römisch-katholischer Seite mit Nachdruck erhobene Forderung nach einer Traditionskritik wurde also nicht erfüllt. Während in Trient die Situation von vornherein so apologetisch und polemisch geprägt war, daß das kriteriologische Problem kaum zu einem Thema dieses Konzils werden konnte22, wäre es jetzt an der Zeit gewesen, dieser Frage ohne Vorbehalte und mit aller Offenheit näherzutreten. Daß dies nicht geschehen ist, gehört zu den großen Chancen, die vom II. Vaticanum versäumt worden sind23. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß es dem Konzil in diesem Zusammenhang hauptsächlich um die positive Aufgabe geht, unter der Voraussetzung einer grundlegenden und normativen apostolischen UrÜberlieferung eine die bloß historisch fixierbare Verbaltradition weit umgreifende Realtradition der Offenbarung zu konstatieren, die nicht nur durch eine Lehre, sondern ebenso durch das Leben und den Kult weitergegeben wird 24 . Da diese Real- und Totaltradition immer auch den Lebensvollzug und die gottesdienstliche Praxis in sich schließt, ist sie wesenhaft gebunden an die Gemeinschaft der Kirche, ja die Oberliefeferung in diesem umfassenden Sinne macht das Leben der Kirche aus, sie besteht in all dem, was sie in echter Weise ist als Kirche des Glaubens. Von der Kraft dieser Tradition wird die Kirche erfaßt und durchdrungen, so daß sie selbst und ihr Glaube sich innerlich mit ihr verbinden. Unter voller Wahrung ihrer ursprünglichen Identität wird beim Vollzug der Tradition die Trennung zwischen Subjekt und Objekt überbrückt 22 Ratzinger, LThK Kommentar 520 macht darauf aufmerksam, daß im Tridentinum in kaum erkennbarer Weise das Problem der Traditionskritik lediglich auftaucht in dem Nebensatz ad nos usque pervenerunt (cf. DS 1501). Wenn aber nur die kirchlich rezipierten Überlieferungen für verbindlich erklärt werden, werde allerdings das Kriterium der Apostolizität durch diesen Maßstab der kirchlichen Rezeption weithin ausgeschaltet. Ratzinger vertritt dann in diesem Zusammenhang die Meinung, daß auch das II. Vaticanum über diesen Standpunkt hinaus keinen Fortschritt gebracht habe. „Gerade ein Konzil, das sich bewußt als Reformkonzil verstand und damit implizit Möglichkeit und Wirklichkeit entstellender Tradition einräumte, hätte hier ein wesentlich Stück theologischer Grundlegung seiner selbst und seines Wollens reflex vollziehen können« (ibd. 524— 525). 23 Kühn, Die Ergebnisse 61 fragt: „Wird hier nicht in überaus gefährlicher Weise das Sein und Glauben der Kirche, so wie es in Leben, Lehre und Kultus erscheint, zum ungeprüften und unprüfbaren Ausdruck des Apostolischen?" Ähnlich kritisch äußert sich zu diesem umfassenden Traditionsbegriif auch Schlink, Écriture 503—504 und Kasper, Schrift 168. 24 Ratzinger, LThK Kommentar 519 umschreibt zutreffend den Totalitätscharakter der Überlieferung mit folgenden Worten: „Mit ihr ist zunächst schlicht die vielschichtig - eine Gegenwart des die Zeiten durchschreitenden Christusmysteriums gemeint; sie besagt das Ganze der Gegenwart des Christlichen in dieser Welt."

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und die Scheidung zwischen einer aktiven und einer passiven Weitergabe aufgehoben. Die Kirche hat nicht nur eine Tradition, sie ist auch diese Tradition. Sie überliefert nicht nur einen objektiven Glauben, sondern zugleich auch immer das, was sie im subjektiven Sinne von diesem Glauben erfaßt. Die lebendige Wirklichkeit der Offenbarung manifestiert sich auf diese Weise in ihrer Gemeinschaft. Die Dynamik der Überlieferung ist deshalb untrennbar von ihrem Leben und ihrem gemeinschaftlichen Glauben. Die Kirche ist der Lebensraum der Überlieferung, ebenso aber auch ihr lebendiges Subjekt und Bewußtsein25.

2. Der theologiegeschichtliche Hintergrund der Konzeption Real- und Totaltradition der Offenbarung

einer

Zum besseren Verständnis von Nr. 8 der Offenbarungskonstitution ist es angebracht, einen kurzen Blick auf die theologiegeschichtliche Provenienz des dargelegten Traditionsbegriffes zu werfen. Diese ist zu einem wesentlichen Teil in der katholischen Tübinger Schule zu suchen, deren Begründer Johann Sebastian Drey in seinem unveröffentlichten Jugendwerk „Ideen zur Geschichte des katholischen Dogmensystems" die lebendige Überlieferung als die Selbstbewegung der Offenbarung aus der Vergangenheit in die Gegenwart konzipierte1. Diese ständige Fortsetzung des Urchristentums zum jeweiligen Heute verstand Drey im Gegensatz zum Deismus in der von der Romantik geprägten Kategorie des lebendigen Organismus, bei dem in aller Transformation des Wachstums die ursprüngliche Identität des Wesens erhalten bleibt. Durch diesen in der Theologiegeschichte der Neuzeit völlig neuen Gedanken von der Selbstüberlieferung der Offenbarung in ihrer dynamischen Bewegung konnte die drängende Frage nach dem Verhältnis zwischen der Unveränderlich" Im Hinblick auf das hermeneutische Problem hat diesen Zusammenhang zuletzt herausgestellt G. Voss, Die ökumenische Bedeutung der biblisdien Hermeneutik, UnaS 23 (1968), 35—49, p. 46—47. Die Schrift ist eingebettet in die lebendige Oberlieferung, und diese steht im engsten Zusammenhang mit dem Leben der Kirche. Mit Recht stellt Voss p. 47 die Frage: „Ist es darum nicht zu undialektisch gesehen, wenn Luther die Kirdie als creatura verbi versteht? Als Gemeinschaft des Glaubens ist sie auch die bleibende Leibhaftigkeit des Wortes, in der durch den Heiligen Geist ,die lebendige Stimme des Evangeliums' (viva vox Evangelii) ihren Ausdruck findet." Die Öffnung der Herzen durch den Heiligen Geist kann sich nach Voss nicht in ungeschichtlicher Isoliertheit vollziehen, sondern nur im leibhaftigen Hineingenommensein in die Kirche als die Gemeinschaft des Glaubens. Das von Luther für so wichtig gehaltene verbum externum müßte in dieser Hinsicht radikaler veranschlagt werden. 1 Hierzu die entsprechenden Belege aus der Handschrift Dreys bei J. R. Geiselmann, Lebendiger Glaube aus geheiligter Oberlieferung. Der Grundgedanke der Theologie Johann Adam Möhlers und der Katholischen Tübinger Schule, 2. Aufl. Freiburg/Basel/ Wien 1966, p. 121ss.

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keit der Offenbarung und ihrem geschichtlichen Entwicklungsprozeß eine Lösung finden. Auf diesen grundlegenden Erkenntnissen seines Lehrers fußt Johann Adam Möhler, der schon in seinem frühen Werk „Die Einheit in der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus, dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte" den Durchbruch zum Begriff einer ganzheitlichen und lebendigen Uberlieferung vollzog. Unter Tradition wird nun nicht mehr in herkömmlicher Weise in erster Linie das Depositum einer feststehenden und unveränderlichen Glaubenslehre verstanden, sondern eine „in der Kirche sich fortpflanzende, forterbende geistige Lebenskraft" 2 . Es handelt sich aber hier nicht um ein bloß subjektives und intuitives Geschehen; die Voraussetzung dieses Gedankens ist vielmehr ein personal-dynamischer Offenbarungsbegriff. Wie von Christus her göttliches Leben empfangen wird, so auch die in ihm personifizierte göttliche Wahrheit, die der Kirche wie jenes göttliche Leben geschenkt ist3. Ihre Weitergabe ist immer von zwei wesentlichen Aspekten gekennzeichnet, nämlich von ihrem inhaltlich objektiven Bezug und der inneren Aneigung und Erfahrung des Geoffenbarten. Der objektive und der subjektive Gesichtspunkt finden ihre innere Einheit im Wirken des Pneumas. „Die Apostel verkündeten, was sie vom Herrn in lebendiger Rede erhalten hatten, von einem Geiste beseelt, in lebendiger Rede an allen Orten w i e d e r . . . So mußte denn in der gesamten Kirche, nach ihrer ganzen Ausdehnung eine und dieselbe Lehre ertönen als Ausdruck des einen inneren religiösen Lebens, gleidisam als die Aussprache eines und desselben Geistes."4 In dieser durch und durch pneumatologischen und vitalistischen Sicht ist die Uberlieferung schließlich nichts anderes als „der durch alle Zeiten laufende, in jedem Moment lebendige, aber zugleich sich verkörpernde Ausdruck des die Gesamtheit der Gläubigen belebenden Heiligen Geistes" 5 . Die Tradition kann deshalb nicht „für etwas unabhängig vom geheiligten Leben der Kirche Bestehendes" angesehen werden6, denn die Offenbarung wird immer vom Heiligen Geist im kirchlichen Gesamtbewußtsein vergegenwärtigt. Das den Gläubigen geschenkte Pneuma schafft sich die Kirche als die äußere sichtbare Gestaltung der lebendigen Kraft der Liebe7. Die Funktion des Amtes tritt in dieser sichtbaren Kirche stark in den Hintergrund, denn die bleibende Identität der Offenbarung wird primär vom Gesamtleben der Gläubigen erhalten. Damit entsteht natürlich die Gefahr, die einmalige Offenbarung in das fortdauernde kirchliche Bewußtsein aufzulösen. Möhler hat diese GeZitiert wird nach der Ausgabe von J. R. Geiselmann, Köln/Olten 1956, p. 11. 4 Ibd. 2 6 — 2 7 . » Ibd. 23 n. 1. 5 Ibd. 5 0 — 5 1 . 6 Ibd. 251 Zusatz zu Seite 37. 7 Ibd. 167—172. 2

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fahr später in seiner vorwiegend christologisch orientierten „Symbolik" erkannt und dadurch zu bannen versucht, daß er mit der Wirksamkeit des Pneumas zugleich die Bedeutung des Amtes hervorhob. „Der göttliche Geist, welchem die Leitung und Belebung der Kirche anvertraut ist, wird in seiner Vereinigung mit dem menschlichen ein eigentümlich christlicher Takt, ein tiefes, sicher führendes Gefühl, das, wie es in der Wahrheit steht, auch aller Wahrheit entgegenleitet. Durch vertrauensvolles Anschließen an das fortwährende Apostolat, durch die Erziehung in der Kirche, durch das Hören, Lernen und Leben in ihr, durch die A u f nahme des sie ewig befruchtenden höheren Prinzips wird ein tief innerlicher Sinn gebildet, der zum Vernehmen und Aufnehmen des geschriebenen Wortes einzig geeignet ist, weil er mit jenem, in dem die Heiligen Schriften selbst v e r f a ß t wurden, zusammenfällt." 8 Gerade durch eine höhere Bewertung der Kirche als Institution und Hierarchie kommt Möhler zu einer klaren Unterscheidung zwischen einer subjektiven und objektiven Tradition. Obwohl die Uberlieferung in einer innigen Synthese mit dem Glaubenssinn der Kirche verbunden ist, darf sie doch keineswegs einfach mit dem kirchlichen Bewußtsein identifiziert werden 9 . So kann Möhler die Unterschiedenheit und die Einheit der lebendigen Glaubensüberlieferung und der historischen Tradition beschreiben, indem er in pointierter Weise von der Kirche als Leib des Herrn konstatiert: „Sie ist in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenbarung; im Ganzen ruht er ganz, dem Ganzen sind alle seine Verheißungen, alle 8 J . A. Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, hrsg. J. R. Geiselmann, Köln/Olten 1958, p. 413. — Zur kritischen kontroverstheologischen Würdigung des Zusammenhanges von Ekklesiologie und Traditionsverständnis bei Möhler cf. F. W. Kantzenbach, Zur Deutung der kontroverstheologischen Problematik, München 1963, p. 44ss. — Zur umfassenden Darstellung der tragenden Motive der Theologie Möhlers und ihrer geistesgeschichtlichen Einordnung cf. zuletzt J. R. Geiselmann, Die katholische Tübinger Schule. Ihre Theologische Eigenart, Freiburg/Basel/Wien 1964. 8 Wenn K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I 2 : Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 5. Aufl. Zollikon-Zürich 1960, p. 627 gegen Möhler den Vorwurf erhebt einer „Gleichsetzung der Kirche, ihres Glaubens und ihres Wortes mit der sie begründenden Offenbarung", so dürfte dieses Urteil kaum zutreffend sein. — Kantzenbach, Zur Deutung der kontroverstheologischen Problematik 52—53 bringt mit Recht einen anderen richtigen kritischen Gesichtspunkt zur Sprache, daß nämlich Möhler das Problem der Sünde in seinem Traditionsbegriff nicht genügend bedacht habe. — Es sei in diesem Zusammenhang hingewiesen auf die protestantische Kritik am Traditionsverständnis der Tübinger Schule durch H. J. Holtzmann, Kanon und Tradition. Ein Beitrag zur neueren Dogmengeschichte und Symbolik, Ludwigsburg 1859, die aber kaum der von Möhler aufgeworfenen Sachproblematik gerecht geworden ist. — K. G. Steck, Heinrich Holtzmanns Beitrag zur Kontroverse über Schrift und Tradition, in: Festschrift E. Wolf, hrsg. H. Gollwitzer/H. Traub, München 1962, 372— 387 geht ebenso kaum auf die zentralen Leitideen Möhlers ein.

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seine Gaben hinterlassen, keinem Individuum für sich allein, nach den Zeiten der Apostel. Dies Gesamtverständnis, dies kirchliche Bewußtsein ist die Tradition im subjektiven Sinne des Wortes. Was ist also Tradition? Der eigentümliche in der Kirche vorhandene und durch die kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn, der jedoch nicht ohne seinen Inhalt zu denken ist, der sich vielmehr an seinem und durch seinen Inhalt gebildet hat, so daß er ein erfüllter Sinn zu nennen ist. Die Tradition ist das fortwährend in den Herzen der Gläubigen lebende Wort. Diesem Sinne als Gesamtsinne ist die Auslegung der Heiligen Schrift anvertraut: die durch denselben ausgesprochene Erklärung in dem bestrittenen Gegenstand ist das Urteil der Kirche und die Kirche darum Richterin in den Angelegenheiten des Glaubens (judex controversiarum). Die Tradition im objektiven Sinne ist der in äußerlichen historischen Zeugnissen vorliegende Gesamtglaube der Kirche durch alle Jahrhunderte hindurch: in diesem Sinne wird gewöhnlich die Tradition die Norm, die Richtschnur der Schrifterklärung, die Glaubensregel genannt." 1 0 Diese wichtige Zuordnung von subjektiver und objektiver Tradition erlaubt es Möhler, die Konstanz der Offenbarung im geschichtlichen Transformationsprozeß zu wahren. Bei aller Entwicklung verändert sich das Ursprüngliche nicht in seinem Wesen, denn es geht immer nur um rein formale Änderungen und ein immer tieferes Bewußtwerden der einmal geschehenen Selbstkundgabe Gottes 11 . Das Ursprüngliche der göttlichen Offenbarung wird den nachfolgenden Generationen in einer neuen anderen Form durch die lebendige Tradition übermittelt. Innerhalb der christologischen Konzeption der „Symbolik" wird das Problem einer echten geschichtlichen Entwicklung vom Traditionsbegriff her neutralisiert, denn nach dem Prinzip der Inkarnation bleibt die wesenhafte Möhler, Symbolik 414—416. Zur Vorstellung einer rein formalen Entwicklung cf. die Studie von A. Monon, L'attitude de Jean Adam Moehler (1796—1838) dans la question du développement du dogme, E T L 1939, 328—382, der besonders p. 376ss den Unterschied zu Newman herausarbeitet. — Eine weitere eingehende Untersuchung dieses Themas findet sich bei Geiselmann, Die Katholische Tübinger Schule 74ss: „Die Lehre Möhlers von der Entwicklung und von dem dogmatischen Fortschritt." — Aufschluß über dieses Thema gibt Möhler, Symbolik 427—432. Charakteristisch ist die Äußerung in J . A. Möhler, Kirchengeschichte, hrsg. P. B. Gams Tübingen 1867, p. 13: „Es dürfte besser sein zu sagen: in materieller Beziehung sei die von Christus der Kirche überlieferte Wahrheit unveränderlich, in formeller aber könne eine Veränderung eintreten." Es ist deshalb bezeichnend, daß Möhler, Symbolik 444 n. 4 zustimmend auf Vincenz von Lerin hinweist. — D a ß die Konzeption einer lebendigen Überlieferung bei Möhler keine Evolution des Traditionsgehaltes impliziert, wird auch dargelegt von J . R a n f t , Lebendige Überlieferung. Ihre Einheit und ihre Entwicklung, in: Die eine Kirche. Zum Gedenken J . A. Möhlers 1838—1938, hrsg. H . Tüchle, Paderborn 1939, 109—134, p. 131s. Der organische Charakter der Tradition ist primär auf die Gemeinschaft der Gläubigen bezogen. 10

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Identität des Göttlichen unangetastet, während alle geschichtlichen Wandlungen der Sprache und des Verstehens der menschlichen Seite zugehören. Aber auch abgesehen von diesem besonderen inkarnationstheologischen Moment ist der Traditionsbegriff der Tübinger Schule, wie er zum Beispiel auch von dem Möhler-Schüler Anton Berlage dargestellt wird12, bestimmt von der Vorstellung einer Aktualisierung der einmal geschehenen Offenbarung durch die lebendige Totalität des christlichen Daseins, dessen Einheit trotz aller Mannigfaltigkeit in einer fortschreitenden Geschichte durch das Wirken des einen Geistes gewährleistet ist. Erst Johannes Evangelista Kuhn hat sich unter den gegebenen Denkvoraussetzungen der Tübinger Schule, besonders aber in Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, eingehender mit dem Problem der geschichtlichen Entwicklung beschäftigt, ohne es jedoch einer befriedigenden Lösung näherzubringen13. Da der von ihm zugrunde gelegte Traditionsbegriff kaum wesentlich von dem Möhlers abweicht, braucht in diesem Zusammenhang nicht näher auf die Einzelheiten seines umfassenden systematischen Entwurfes eingegangen zu werden. Die spezielle Frage der Entwicklung sollte erst durch Newman beantwortet werden. Noch tiefgreifender als die Tübinger Schule hat John Henry Newman das moderne Denken über die Tradition beeinflußt14. In seiner berühmten Oxforder Universitätspredigt aus dem Jahre 1843 und in dem 1845 veröffentlichten Essay über die Entwicklung der Glaubenslehre behandelt er das Gesamtphänomen der Offenbarung und ihrer Überlieferung15. Während Möhler hauptsächlich das immanente pneumatische 1 2 Anton Berlage, Über den Begriff und das Wesen der Tradition, abgedruckt bei J . R. Geiselmann, Geist des Christentums und des Katholizismus. Ausgewählte Schriften katholischer Theologie im Zeitalter des deutschen Idealismus und der Romantik, Mainz 1940, 4 3 3 — 4 4 4 . 1 3 Zu allen Details cf. die Monographie von J . R. Geiselmann, Die lebendige Uberlieferung als Norm des christlichen Glaubens. Die apostolische Tradition in der Form der kirchlichen Verkündigung — das Formalprinzip des Katholizismus dargestellt im Geiste der Traditionslehre Johannes E v . Kuhns, Freiburg 1959 und Geiselmann, Die Katholische Tübinger Schule 9 2 — 1 2 8 : „Die Entwicklungslehre Kuhns." 1 4 Aus der uferlosen Newman-Literatur seien zum vorliegenden Thema genannt G. Biemer, Überlieferung und Offenbarung. Die Lehre von der Tradition nach John Henry Newman, Freiburg/Basel/Wien 1961; O. Chadwick, From Bossuet to Newman. The idea of doctrinal development, Cambridge 1 9 5 7 ; J . - H . Walgrave, Newman. Le développement du dogme,Tournai/Paris 1 9 5 7 ; J . Stern, Bible et tradition chez Newman: Aux origines de la théorie du développement, Paris 1967 und das Sammelwerk J . Coulson/A. M. Aichin (ed.), The rediscovery of Newman: An Oxford Symposium, London 1967, das einen Aufsatz von B. C. Butler über Newmans Einfluß auf das II. Vaticanum enthält. 1 5 Die Predigt „The Theory of Developments in Religious Doctrine" in: Fifteen Sermons preached before The University of Oxford, Westminster Md. 1966, 3 1 2 — 3 5 1 ; die Ubersetzung von M. Hofmann in: John Henry Kardinal Newman, Ausgewählte Werke, hrsg. M. Laros, Bd. II Zur Philosophie und Theologie des Glaubens, 1. Teil, Mainz 1936,

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Wirkprinzip der Tradition in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte, geht es Newman in erster Linie darum, die Uberlieferung als die legitime und notwendige Entwicklung der Offenbarung unter immer neuen und sich verändernden geschichtlichen Bedingungen darzustellen. Um das Heilsgeschehen in der fortdauernden Geschichte adäquat zu erfassen, versteht er die umfassende Realität der einmal gegebenen und zugleich geschichtlich weiterwirkenden Offenbarung in der Art einer „Idee", die in der Kirche fortlebt als ein aktives und bewegendes Prinzip und die ihr innewohnenden vielfältigen Aspekte sukzessiv zur Entfaltung bringt, denn „die Idee, die einen Gegenstand — oder einen vermeintlichen Gegenstand — repräsentiert, ist gleichbedeutend mit der Gesamtsumme ihrer möglichen Aspekte, mögen diese auch noch so sehr im Einzelbewußtsein der Individuen variieren" 1 6 . Die am Anfang stehende Offenbarung trägt ein solch unerschöpfliches Leben in sich, daß sie zuerst hauptsächlich intuitiv erfaßt wird, ohne daß sie schon in allen Einzelzügen vollständig ausgedrückt gewesen wäre. Zur Wirklichkeit der „Idee" gehört die Notwendigkeit ihrer geschichtlichen Entwicklung. Sie muß sich explizieren, um überhaupt zu existieren und angeeignet werden zu können. Die Dogmengeschichte ist als ein solcher Entwicklungsprozeß zu verstehen. „Theologische Dogmen sind der Ausdruck der Urteile, die der Geist über die geoffenbarte Wahrheit formt, oder der Eindrücke, die er von ihr empfängt. Die Offenbarung stellt ihm bestimmte übernatürliche Tatsachen und Handlungen, Wesen und Grundsätze vor. Diese geben ihm einen gewissen Eindruck oder ein Bild, und dieser Eindruck wird unmittelbar oder gar notwendigerweise Gegenstand der Reflexion des Geistes selbst, der nun dazu übergeht, ihn zu untersuchen und in aufeinanderfolgende und genau bestimmte Sätze zu teilen." 17 Hinter allen Bekenntnissen und Dogmen steht also die eine „Idee", die sie jeweils nur in einem Teilaspekt zum Ausdruck bringen, „weil der Menschengeist nur stückweise zerlegend über eine Idee nachsinnen und sie in ihrer Einzigkeit und Ganzheit nicht gebrauchen kann, sondern nur, 2 2 4 — 2 5 2 . — John Henry Cardinal Newman, An Essay on the Development of Christian Doctrine (2. ed. of 1878), Westminster, Md. 1968; in der Übersetzung: Über die Entwicklung der Glaubenslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Theodor Haecker, besorgt, kommentiert und mit ergänzenden Dokumenten versehen von Johannes Artz, Mainz 1969, VIII. Band der ausgewählten Werke von John Henry K a r dinal Newman. Über alle Fragen der Entstehung und der Interpretation des Essays ist diese ausgezeichnete Ausgabe zu Rate zu ziehen. 1 6 Newman, An Essay 3 4 ; Übers. Haecker/Artz 36. — Zur Terminologie der „Idee" cf. Walgrave, Newman 106 n. 8. 1 7 Newman, The Theory 3 2 0 ; Übers. Hofmann 231. — Im Folgenden führt Newman aus, wie die Ganzheit einer Idee auch als ein unbewußter religiöser Eindruck empfangen werden kann. „ . . . the ideas may be latent in the Christian mind, by which it is animated and formed . . ( i b d . 323).

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wenn er sie in eine Reihe von Aspekten und Beziehungen auflöst" 1 8 . Diese notwendige geschichtliche Entfaltung der Idee der Offenbarung ist aber nur möglich in einer Entwicklung, in einem „Prozeß, durch den die Aspekte einer Idee in Form und Zusammenhang gebracht werden" Es gehört zu den Grundüberzeugungen Newmans, „daß eine Idee wie die des Christentums Entwicklungen haben muß, und daß diese sicherlich göttlicher Herkunft sind, weil es selbst göttlicher H e r k u n f t ist" 1 9 . Diese Erkenntnis gilt auch im Hinblick auf die schriftliche Bezeugung der Offenbarung. „Die Sätze der Schrift sind sowohl Bestätigung als auch Informationsquelle beim Forschen. Sie bilden Ansätze, ohne erschöpfend zu sein. Die Schrift beginnt eine Reihe von Entwicklungen, beendet sie aber nicht." 2 0 Diese von Gott selbst intendierte und schon in der Schrift angelegte Entwicklung geschieht weder in biologisch naturhafter Gesetzmäßigkeit noch durch bloß logische Deduktionen. Im Unterschied zu Korruptionen gibt es sieben geschichtlich verifizierbare Kennzeichen echter Entwicklungen einer Idee: Die Erhaltung ihres Typus, die Kontinuität ihrer Prinzipien, ihr Assimilationsvermögen, ihre logische Folgerichtigkeit, die Vorwegnahme ihrer Zukunft, die erhaltende Wirkung auf ihre Vergangenheit und ihre fortdauernde Lebenskraft 2 1 . Jedes dieser Kennzeichen steht unter dem doppelten Aspekt der Permanenz und des Wachstums. Die wesensgemäße Identität der einmal gegebenen offenbarten Idee wird in keiner Weise beeinträchtigt durch ihre kontinuierliche Entfaltung, denn alle späteren Erkenntnisse sind ja immer nur Teilaussagen des ursprünglich Ganzen, der vom impliziten Denken erfaßten Idee, die den vollen 1 8 N e w m a n , T h e T h e o r y 3 3 1 — 3 3 2 ; Übers. H o f m a n n 340. C f . N e w m a n , A n Essay 35; Ü b e r s . H a e c k e r / A r t z 3 6 : „ E s gibt keinen A s p e k t , der tief genug w ä r e , um den Inhalt einer realen Idee zu erschöpfen, keinen Ausdruck, keinen S a t z , der sie zu definieren vermöchte." 1 9 N e w m a n , A n E s s a y 38.120; Übers. H a e c k e r / A r t z 39.110. — C f . ibd. 7 5 : „ these natural and true developments, as being natural a n d true, were of course contemplated and taken into account by its Author, w h o in designing the w o r k designed its legitimate results." s o N e w m a n , T h e T h e o r y 3 3 5 : „ T h e scripture statements are sanctions as well as inf o r m a n t s in the i n q u i r y ; they begin and they do not exhaust. Scripture, I say, begins a series of developments which it does not finish." A n E s s a y 74 spricht N e w m a n im Hinblick auf die Entwicklung von „ a n a l o g y and e x a m p l e of S c r i p t u r e " . 2 1 N e w m a n , A n E s s a y 1 6 9 — 2 0 6 ; Ü b e r s . H a e c k e r / A r t z 151—183. — Zur Diskussion dieser 7 M e r k m a l e und Kriterien einer genuinen Entwicklung cf. Biemer, Ü b e r l i e f e r u n g 1 0 3 — 1 0 7 ; H . Fries, J . H . N e w m a n s Beitrag zum Verständnis der T r a d i t i o n , in: D i e mündliche Überlieferung. Beiträge z u m Begriff der T r a d i t i o n , hrsg. M. S d i m a u s , M ü n chen 1957, 6 3 — 1 2 2 , p. 104ss und H . H a m m a n s , D i e neueren katholischen Erklärungen der Dogmenentwicklung, Essen 1965, 53—55. W a l g r a v e , N e w m a n 186 spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g v o n einer Soziologie der Idee. C f . ibd. 2 8 2 : „ L e s sept critères sont le fruit d'un examen phénoménologique de la réalité v i v a n t e et intégrale du développement des idées dans la société humaine."

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Gehalt der Offenbarung in sich trägt und deshalb die K r a f t einer lebendigen Entwicklung besitzt, durch die allein die jeweils zeitgenössische Identität mit dem Ursprung gewährleistet wird 2 2 . Aus diesem Grunde kann auch dieser Explikationsprozeß als ein der Offenbarung immanentes Prinzip nicht auf das kirchliche Altertum beschränkt werden. E r durchzieht vielmehr die ganze Geschichte der Kirche bis hinein in die jeweilige Gegenwart. Zu allen Zeiten findet die lebendige und aktive Uberlieferung, durch die das objektive W o r t Gottes in der es empfangenden Kirche subjektiv wird 2 3 , ihren Ausdruck im Glaubenssinn des gesamten Gottes Volkes. Schon in seiner frühen Studie über „Die Arianer des vierten J a h r hunderts" hatte N e w m a n die elementare Zeugenschaft der Gläubigen erkannt 2 4 . In seinem grundlegenden Alterswerk „An essay in aid of a g r a m m a r of assent" ( 1 8 7 0 ) beschreibt er dann eine ausführliche Theorie über den „illative sense" der Kirche, ihre Gabe der Erfassung und Folgerung im Bereich der Offenbarungswahrheit 2 5 . N e w m a n versucht hier, auch den noetischen Aspekt der Überlieferung gebührend zu berücksichtigen und zieht damit eine Folgerung aus der Einsicht, daß die Kirche in der Geschichte lebt und deshalb ihr Glaubenssinn auch erkenntnistheoretisch und erkenntniskritisch erforscht werden muß. Eine andere Konsequenz aus der realistischen Schau der geschichtlichen Entwicklung des christlichen Glaubens ist für N e w m a n die Notwendig2 2 Chadwick, From Bossuet 195 stellt die Frage, ob nadi der Entwicklungstheorie Newmans nicht neue kirchliche Lehren den Rang neuer Offenbarungen hätten. Diese Gefahr ist jedoch vermieden durch die Konzeption der „Idee", die eine Supplementierung des Ursprünglichen von vornherein ausschließt. Stern, Bible 219 widerlegt Chadwicks Kritik durch die Darlegung von Newmans Glaubensbegriff. — In ähnliche Richtung wie Chadwick geht auch die Kritik von A. A. Stephenson, Cardinal Newman and the development of doctrine, J E S 3 (1966), 463—485, der überhaupt die Anschauung von einer Lehrentwicklung als ein Desaster betrachtet (p. 464) und diese für unvereinbar hält mit der Permanenz und Wandellosigkeit der echten Lehre (p. 474). Die Analogie aus dem Biologischen mißversteht Stephenson als Identität (p. 469). Er übersieht dabei Newmans Ausführungen in An Essay 84—85. 23 Diese Formulierung stammt aus Newmans Briefwechsel mit dem römischen Theologen Perrone, zitiert bei Fries, J. H. Newmans Beitrag 118. Cf. die 1847 von Newman an Perrone übersandte Studie De Catholici Dogmatis Evolutione mit ihren Ausführungen über das objektive und das subjektive Wort Gottes. Die Obersetzung findet sich bei Newman, Über die Entwicklung, Anhang III, p. 393—401. 24 J . H. Newman, The Arians of the fourth Century, their doctrine, temper and conduct, chiefly as exhibited in the councils of the Church between a. d. 325 and a. d. 381, Oxford 1833. Zur Darstellung und Diskussion dieses Werkes cf. Biemer, Überlieferung 61—63. 2 5 Eine Analyse des Textes gibt Fries, J . H. Newmans Beitrag 119—122 und ebenso Biemer, Überlieferung 146—152. — Die deutsche Übersetzung erschien zuletzt in John Henry Kardinal Newman, Ausgewählte Werke Bd. VII, Entwurf einer Zustimmungslehre, durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Theodor Haecker, kommentiert von Johannes Artz, Mainz 1961.

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keit einer höchsten und allgemein anerkannten Autorität. „In demselben Maße, wie echte Entwicklungen der Lehre und der Praxis des göttlichen Planes wahrscheinlich sind, ist auch die Aufrichtung einer äußeren Autorität innerhalb dieses Planes wahrscheinlich, die über diese Entwicklungen zu entscheiden hat und sie dadurch trennt von der Menge bloß menschlicher Spekulationen, Extravaganzen, Korruptionen und Irrungen, in denen und aus denen heraus sie wachsen. Das ist die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche; denn unter Unfehlbarkeit versteht man meines Erachtens die Macht zu entscheiden, ob dieser oder jener, ein dritter oder überhaupt jeder theologische oder ethische Satz wahr ist." 2 6 Unter den Voraussetzungen seiner Betrachtungsweise ist für Newman diese unfehlbare Autorität selbst das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung und deshalb keineswegs von Anfang an verbunden mit einem göttlich gesetzten Amt. Die Frage, wie die von ihm postulierte Unfehlbarkeit der Kirdie zum Ausdruck kommen konnte, erforderte nicht unbedingt als Antwort das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma 27 . Im Vergleich mit den neuen zukunftsträchtigen Ideen von Möhler und Newman hat die neuscholastische Schultheologie des 19. Jahrhunderts keine weiteren bahnbrechenden Erkenntnisse zum Thema der Offenbarung und ihrer Überlieferung geleistet. Ihr ausgeprägter Intellektualismus und ihre vorwiegend apologetische Zielsetzung ließen sie weder den ganzheitlich, dynamischen Charakter noch die genuin geschichtliche Entwicklung der Tradition erkennen. Hingegen wurde die definitive Abgeschlossenheit der Offenbarung, die logische Explikation ihrer Quellen und die Rolle des Lehramtes bei ihrer dogmatischen Deduktionsmethode in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. So haben sich die Vertreter der Römischen Schule Giovanni Perrone, Carlo Passaglia und Clemens Schräder auf Anregungen Newmans und im Zusammenhang mit der Definition der unbefleckten Empfängnis Marias eingehend mit dem Traditionsproblem beschäftigt 28 , ohne daß jedoch ihre Gedankengänge von tiefgreifender Wirkung gewesen wären. Das gleiche gilt von der ausge2 6 N e w m a n , A n E s s a y 7 8 — 7 9 ; U b e r s . H a e c k e r / A r t z 74. — D i e Überschrift des 2. Abschnittes des II. K a p i t e l s lautet: „ A n infallible developing authority to be e x p e c t e d " (ibd. 75). Z u diesem A s p e k t der Entwicklungstheorie N e w m a n s cf. M. Bevenot, T r a d i tion, Church and D o g m a , H e y J 1 (1960), 3 4 — 4 7 , p. 44ss. Ü b e r das genauere Verständnis von „ U n f e h l b a r k e i t " cf. A r t z bei N e w m a n n , Ü b e r die Entwicklung 5 0 2 — 5 0 4 . 2 7 N e w m a n hat dem U n f e h l b a r k e i t s d o g m a des I. V a t i c a n u m s skeptisch gegenübergestanden. C f . die nachträgliche Fußnote in der zweiten A u f l a g e , A n E s s a y 8 7 : „ S e v e n years ago, it is scarcely necessary to say, the V a t i c a n Council determined that the P o p e , ex cathedra, has the same infallibility as the Church. This does not affect the argument in the t e x t . " 2 8 Z u allen Einzelheiten cf. die Arbeit v o n W. K a s p e r , D i e Lehre v o n der T r a d i t i o n in der Römischen Schule ( G i o v a n n i Perrone, C a r l o Passaglia, Clemens Schräder), Freib u r g / B a s e l / W i e n 1962 und H a m m a n s , D i e neueren katholischen E r k l ä r u n g e n 5 9 — 7 5 .

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wogenen systematischen Darstellung des gesamten Problemkreises durch Matthias Joseph Scheeben29. Der bedeutendste Vertreter der römischen Schule ist Johannes Baptista Franzelin, dessen Tractatus de divina Traditione et Scriptura wohl als die repräsentative Darstellung der neuscholastischen Traditionstheologie gelten kann. Bemerkenswert ist Franzelins sorgfältige und prägnante Darlegung der subjektiven und objektiven Aspekte der Überlieferung. „Die allgemeine Glaubenslehre ist im allgemeinen Sinne die göttliche Uberlieferung, insofern sie unter dem Beistand des Heiligen Geistes durch eine ununterbrochene Aufeinanderfolge in der Ubereinstimmung der Hüter des Offenbarungsgutes und der vom Herrn eingesetzten Lehrer bewahrt wird. Die Väter nennen diese Uberlieferung die Predigt der Kirche, die Regel des Glaubensverständnisses, die Regel der apostolischen Wahrheit, wenn sie die Lehre als den Gegenstand betrachten, den die apostolische Sukzession bewahrt und weitergibt. Aber sie nennen sie ebenfalls das Glaubensbewußtsein, das katholische Glaubensverständnis, den Sinn der Kirche, den in die Herzen geschriebenen Glauben, die nicht geschriebene Weisheit, wenn sie die Kirche als Subjekt betrachten, die unter der Führung des Heiligen Geistes errichtet worden ist, begabt mit den Charisma der Wahrheit, um das anvertraute Glaubensgut zu verstehen, zu hüten und zu wahren."30 Wohl haben auch Möhler, Newman und Scheeben die Bedeutung des Lehramtes für das Glaubensbewußtsein der Kirche herausgestellt. Bei Franzelin fällt aber nun ein besonderer Nachdruck auf die amtlichen Zeugen der Überlieferung und ihre Autorität, so daß von ihm die Tradition nahezu mit der amtlichen Vorlage der Offenbarung ineinsgesetzt wird31. Als Aufgabe der Bischöfe betrachtet Franzelin, „in der Kraft des Beistandes des Heiligen Geistes die Kirche in der unversehrten Wahrheit eines identisch bleibenden Glaubens zu erhalten durch den Dienst und das authentische Lehramt der Hirten und Lehrer, die Christus zur Auferbauung seines 2 9 Cf. den ersten Teil der theologischen Erkenntnislehre in J . M. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, 2. Aufl. hrsg. M. Grabmann, Freiburg 1948, p. 4 1 — 2 8 6 , besonders die programmatische Darlegung p. 108ss: „Die genetische Vermittlung und Entwicklung oder der sukzessive Prozeß der Lehrverkündigung in seinen drei Hauptmomenten oder Stadien: apostolisches Depositum, kirchliche Überlieferung und kirchliche Glaubensregel." 3 0 J . B. Franzelin, Tractatus de divina Traditione et Scriptura, 2. ed. Romae 1875, These II, p. 96. Die deutsche Obersetzung wurde zitiert nach H . Holstein, die Überlieferung in der Kirche, Köln 1967, p. 95. 3 1 Beumer, Die mündliche Überlieferung 120 konstatiert zur Römischen Schule und besonders Franzelin: „ . . . daß die Tradition eher von der formellen Art ihrer Verwirklichung her gesehen werden muß als im Hinblick auf ihr eigentümliches, u. U . den U m fang der Schrift überschreitendes Objekt; zugleich wird aber audi eine allzu starke Annäherung des Begriffes an den der amtlichen Lehrverkündigung greifbar . .

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Leibes gegeben hat. Ihnen kommt es zu, mit Autorität die Kirche Gottes zu lehren, und von Seiten der Gläubigen müssen dieser Lehre Zustimmung und Glaubensgehorsam antworten. Aus diesem Grund hat Christus diesem von ihm errichteten Lehramt die Unfehlbarkeit im Lehren für alles verliehen, was er selbst und sein Geist gelehrt haben" 3 2 . Bedingt durch die Zeitumstände und eine defensiv-apologetische H a l tung gegenüber rationalistischen Tendenzen war es gerade diese von Franzelin überbetonte Rolle eines unfehlbaren Lehramtes, die im I. Vaticanum herausgestellt wurde, dessen über das Tridentinum hinausgehender Beitrag zu einer Theologie der Überlieferung primär in seinem D o g m a von der päpstlichen Unfehlbarkeit liegt 3 3 . Es muß jedoch konzediert werden, daß damit noch keineswegs die lebendige und aktive Seite der Tradition mit dem Lehramt identifiziert wird, wenn auch die durch das private Wort von Pius I X . signalisierte gefährliche Tendenz eines „ L a tradizione son i o " bis in die jüngste Zeit immer wieder zum Vorschein gekommen ist 3 4 . Nach offizieller Lehre kann das kirchliche A m t keine neuen Überlieferungen schaffen, sondern sie nur neu zum Ausdruck bringen. Selbst Franzelin läßt über diesen Sachverhalt keinen Zweifel aufkommen. „Wir sagen also nicht, daß die Kirche Richterin über den wahren Sinn der Schriften oder der Uberlieferungen sei, wie wenn sie ihnen nur die Autorität zuerkännte, die sie selbst ihnen verliehe. D a s Wort Gottes, das, in den Schriften aufgezeichnet, durch die Uberlieferungen kundgetan wird, die uns die Dokumente und Monumente (des Altertums) bewahren, besitzt aus sich (ex sese) Autorität, denn es ist das Wort der unendlichen Wahrheit. Es bildet also für die ganze Kirche die N o r m des Glaubens (norma credendi). Die Kirche hat unter dem Beistand des Heiligen Geistes nur die Aufgabe, das Wort Gottes von dem zu unterscheiden, was nicht Wort Gottes ist, und es authentisch zu erklären, indem sie seinen wirklichen Sinn feststellt. Wir stellen die Kirche nicht über das Wort Gottes, wie uns die Protestanten beschuldigen, sondern wir sagen, daß der Glaube der Kirche durch das Wort Gottes geleitet wird und daß sie so dem Wort Gottes unterworfen ist. Aber wir sagen ebenfalls, daß es ihr zukommt, unfehlbar den wirklichen Sinn dieses Wortes zu verstehen und ihn dem Glauben eines jeden 3 2 Franzelin, T r a c t a t u s 114, These X I I , Scholia 1; Übersetzung bei Holstein, D i e U b e r l i e f e r u n g 96. 3 3 D S 3 0 6 5 — 3 0 7 5 ( 1 8 3 2 — 1 8 4 0 ) : Sessio I V , 18. J u l . 1 8 7 0 : Constitutio d o g m a t i c a I „ P a s t o r aeternus" de Ecclesia Christi. C a p . 4. D e R o m a n i Pontificis infallibili magisterio. 3 4 Z u Pius I X . cf. H . Meyer, D a s W o r t Pius' I X . „ D i e T r a d i t i o n bin ich." Päpstliche U n f e h l b a r k e i t und apostolische T r a d i t i o n in den D e b a t t e n und Dekreten des V a t i c a n u m I, München 1965. — Symptomatisch f ü r diese T e n d e n z ist zum Beispiel die Arbeit von A . Deneffe, D e r Traditionsbegriff, Münster 1931. Charakteristische Vertreter werden mit entsprechenden Zitaten a u f g e z ä h l t bei C o n g a r , L a tradition I 289.

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vorzulegen. So steht die Kirche über dem fehlbaren Verstehen der einzelnen Christen." 3 5 Die bahnbrechenden Gedanken eines Möhler und Newman waren jedoch weit davon entfernt, in eine Schultheologie eingefangen zu werden. In einer völlig neuen Situation wurden sie zu Beginn unseres J a h r hunderts auf dem Höhepunkt der modernistischen Krise noch einmal mit neuen Akzenten artikuliert von Maurice Blondel36. In scharfer Auseinandersetzung mit einem geschichtslosen Dogmatismus, den er als Extrinsezismus bezeichnet, und einem alles relativierenden Historismus betont er eindrücklich, daß unter Überlieferung in erster Linie das ständig lebendige und aktive Bewußtsein der Kirche zu verstehen ist, das weniger den intellektuellen Aspekt der Vergangenheit als vielmehr ihre lebendige Wirklichkeit bewahrt 3 7 . Aus diesem Grunde werden von der Überlieferung nicht nur historische Texte vorausgesetzt, sondern ebenso auch die christliche Erfahrung vergangener Generationen und der in der Gegenwart gelebte christliche Glaube. Ihre tiefste Relation hat die Tradition im Leben aus der Offenbarung, das von Anfang an in seiner ganzen Fülle gegeben ist. Da es sich hierbei um ein vielschichtiges Phänomen handelt, das sowohl die Wirklichkeit des Lebens als auch den Drang zur Reflexion in sich schließt, entbindet die Tradition eine innere Dynamik, die darauf hindrängt, daß sie „vom implizit Gelebten zum explizit Erkannten hinüberleitet (de l'implicite vécu à l'explicite connu)" 3 8 . Beides gilt von der lebendigen Überlieferung: „Sie besitzt ihren Gott und ihr Alles" und „sie bringt Elemente deutlich zum Bewußtsein, die bis dahin in den Tiefen des Glaubens und des Lebens ruhten, jedoch kaum ausgesprochen, weitergegeben und überdacht worden waren" 3 9 . Die Uber3 5 Franzelin, Tractatus 226, Übersetzung nach Holstein, Die Überlieferung 96—97. — Eine gute Einordnung dieses Traditionsverständnisses von Franzelin in seinen theologiegeschiditlichen Zusammenhang gibt O. Müller, Zum Begriff der Tradition in der Theologie der letzten hundert Jahre, MThZ 4 (1953), 164—186. Müller berücksichtigt besonders das Verhältnis zu Möhler, Newman und Scheeben. — Die innerkatholisdie Diskussion um den Traditionsbegriff zwischen Franzelin, Billot, Sdieeben bis hin zu Geiselman behandelt auch J. P. Mackey, The modern theology of tradition, London 1962. 36 M. Blondel, Geschichte und Dogma, Mainz 1963. Das Büchlein bringt die Übersetzung einer Artikelserie aus La Quinzaine 56 (Jan.—Févr. 1904) mit dem Titel: „Histoire et dogma, les lacunes philosophiques de l'exégèse moderne" und eines A u f satzes im Bulletin de littérature ecclésiastique de Toulouse (Févr.—Mars 1905) „De la valeur historique de dogma." — Eine genaue Analyse dieser Aufsätze bietet W . A . Scott, The notion of tradition in Maurice Blondel, ThS 27 (1966), 384—400. Zu vergleichen sind ebenso die Ausführungen bei Hammans, Die neueren katholischen Erklä3 7 Blondel, Geschichte 69. rungen 86—90. 38 Ibd. 70. In dieser Erkenntnis dürfte eine wesentliche Präzisierung gegenüber den Gedanken von Möhler und Newman liegen. 3 9 Ibd. 70. Mit „weitergeben" ist in diesem Zusammenhang das bewußte Weitergeben gemeint, das sich reflexiv und verbal äußert, nicht nur die Weitergabe des gelebten Glaubens.

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lieferung der Vergangenheit der Offenbarung in die Gegenwart hinein macht ihre vorwärts treibende K r a f t aus. An dieser Stelle bringt Blondel seine Philosophie der Aktion auf den theologischen Sachverhalt zur Anwendung. Die Tradition in diesem Sinne ist nämlich identisch mit Aktion. Ihre bewahrende Macht ist zugleich eine die Vergangenheit und Z u k u n f t erobernde 40 . U n d zwar handelt es sich hier um die Aktion der Kirche, jene fortschreitende Arbeit der Tradition, die sich in ihrem Leben vollzieht 41 . Die begrifflichen Formen des Dogmas und jegliche Theologie entstehen aus dem in der Gemeinschaft realisierten Glauben, der alle möglichen gedanklichen Explikationen virtuell in sich trägt 42 . Die Tradition hat somit auch eine eminent synthetische K r a f t . Sie vereinigt in sich drei konstitutive Elemente: die Gegebenheiten der Geschichte, die Bemühungen der Vernunft und die durch den Vollzug des Glaubens gewonnenen Erfahrungen 4 3 . Es ist das besondere Verdienst Blondels, im Lichte der Grundlagenproblematik des Verhältnisses zwischen Glauben und Geschichte eine ganzheitliche und dynamische Konzeption der Überlieferung profiliert zu haben, um damit einen einseitig historisch oder dogmatisch orientierten Begriff der Tradition zu überwinden. Blondel ist dabei keineswegs der Gefahr erlegen, die historischen Gegebenheiten der Offenbarung mit ihrer lebendigen Wirklichkeit im gegenwärtigen Glaubensleben der Kirche zu identifizieren und das kirchliche Glaubensbewußtsein mit der Überlieferung, die es trägt und in dieses Bewußtsein einfließt, in eins zu setzen. Das Gotteswort geht nicht im Glaubensbewußtsein der Kirche auf. Zwischen der Offenbarung im historischen Sinne und der aktuellen Tradition herrscht nicht einfach ein organisches Verlängerungsverhältnis 44 . Trifft diese Kritik schon nicht auf Newman zu, so geht sie 40

Ibd. 69. Zur Philosophie der Aktion cf. Scott, The notion 391 ss und sein abschließendes Urteil: „The full view is to see the Church totally and in act, living her life in all her members and ever more fully explicating that life. The insight has been to see the Church in the existential order, in act." — Zur generellen Bedeutung dieser Gedanken Blondels für die Theologie cf. H. Bouillard, L'intention fondamentale de Maurice Blondel et la théologie, RSR 36 (1949), 321—402. 42 Blondel, Geschichte 72. — Cf. Scott, The notion 389: „For Blondel, the interplay between the faithful supplying the Church with data for the construction of its tradition out of the fabric of their actual living and the Church in its turn using this to develop her tradition which she then uses for the enrichment of their lives, is the very center of the notion of tradition." 43 Blondel, Geschichte 72—73. 44 Auf dieser Linie der Argumentation beruht die oft auftauchende, aber nicht zutreffende Kritik, wie sie sich zum Beispiel findet bei K. D. Schmidt, Die katholische Auffassung von der Tradition, in: Gesammelte Aufsätze, hrsg. M. Jakobs, Göttingen 1967, 87— 95, zuletzt bei Skydsgaard, Tradition und Wort Gottes 148 oder bei G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung. Ein dogmatischer Entwurf, Hamburg/Volksdorf 1954, der p. 33 die katholische Auffassung als einen „monistisch-progressiven Evolutionismus" 41

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an den Ideen Blondels völlig vorbei, dem es durchaus fernlag, die notwendige Bindung an eine einmalige geschichtliche Offenbarung zugunsten eines naturhaften Evolutionismus des kirchlichen Glaubensbewußtseins zu lösen. Gleichwohl ist es Blondel gelungen, die gefährliche Trennung zwischen einer objektiven und einer subjektiven, zwischen einer aktiven und einer passiven Tradition zu überwinden und damit zugleich die einseitige Subjekt-Objekt-Diastase zwischen der Überlieferung der Offenbarung und der sich im Leben und Glauben der Kirche verwirklichenden Offenbarung zu überbrücken. Wenn noetisch auch streng unterschieden werden muß zwischen einem formulierbaren, historisch fixierbaren und einem im Leben vollziehbaren Glauben, so sind diese doch faktisch in einer unauflösbaren Einheit verbunden. Gerade im Hinblick auf die Offenbarung läßt sich Tradition weder ausschließlich historisieren und objektivieren, noch auch dissoziieren von ihrem empfangenden und weitergebenden Subjekt der Kirche. Sie umfaßt immer beides: Die Fortdauer der Offenbarungswirklichkeit im Glaubensleben der Kirche und die gedankliche Explikation dieses Lebens aus dem Glauben an die einmal geschehene und gegenwärtige Selbstkundgabe Gottes. Im Hinblick auf die außerordentliche Bedeutung der Gedanken Blondels für das moderne römisch-katholische Traditionsverständnis 4 5 gewinnen die von Yves Congar gestellten weiterführenden Fragen ein besonderes Gewicht. U m allen Mißverständnissen entgegenzutreten, muß unbedingt festgestellt werden, daß der Glaube der Kirche nicht schöpferisch sein kann, sondern immer angewiesen ist auf das Zeugnis der vorliegenden historischen Dokumente 4 6 . Indem Blondel mit Entschiedenheit den Rationalismus und den Historismus seiner Zeit bekämpfte, ist vielleicht dieser Gesichtspunkt etwas zu sehr in den Hintergrund getreten 4 7 . Im engen Zusammenhang mit diesem kritischen Gesichtspunkt steht die bezeichnet und p. 40 von einem „monologischen Verständnis des katholischen Emanations-Prozesses" spricht. Die Monographie ist neu abgedruckt in G . Gloege, Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate, Bd. II, Göttingen 1967, 293—329. 4 5 Diese zentrale Bedeutung Blondels wird zum Beispiel sichtbar bei J . Bärbel, Dogmenentwicklung und Tradition, T r T h Z 74 (1965), 213—231, p. 226ss. 46 Y . M. J . Congar, Tradition et vie ecclésiale. La tradition, mode original de communication, Ist 8 (1961/62), 411—436, p. 428: „ L a foi de l'Église peut pénétrer le sens de textes et des faits; elle n'est pas créatrice. L a foi de l'Église et les déclarations du magistère sont liées à des attestations, aus moins de façon médiate. La valeur de ces attestations est garantie, partie par leur qualité documentaire historique, partie par la preuve apologétique qui s'applique à l'ensemble de l'Église et de ses fondements." 4 7 Ibd. 428: „En réagissant contre le rationalisme apologétique d'un coté, l'historicisme de l'autre, Blondel n'a-t-il pas minimisé le rôle des attestations et de démarches qui fondent leur valeur pour la raison? Il a bien dégagé, dans le mouvement qui va des faits primitifs au dogme, l'acroissement qui se produit dans le contenue de la conscience chrétienne. N'a-t-il pas minimisé l'exigence de révélation de ce contenu dans le donné documentaire, en même temps que les possibilités de l'histoire?"

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Frage, ob nidit die sicherlich grundsätzlich richtige Konzeption einer Realtradition zu wenig berücksichtigt, daß das apostolische Zeugnis nicht nur einen historischen Bericht darstellt, sondern auch schon eine theologische Interpretation der betreffenden Fakten vermittelt, die ebenso wie diese einen normativen Charakter hat, da sie auf der Wirksamkeit des Pneumas beruht. „Der der Kirche anvertraute Schatz ist nicht allein eine Realität, sondern auch ein Offenbarungsgut, das schon dogmatischen Charakter trägt." 4 8 Ungeachtet dieser kritischen Einwände ist es aber gerade Congar, der wie kaum ein zweiter unter den zeitgenössischen katholischen Theologen die Grundideen Blondels aufnimmt und weiter vertieft. Die Tradition ist für ihn der ursprüngliche und grundlegende Modus der Weitergabe der Offenbarung. Was hat Jesus Christus hinterlassen? Nichts Geschriebenes, aber die Wirklichkeit des Heils und der Gemeinschaft, die Realität des neuen Bundes 49 . Das Beispiel der Eucharistie zeigt paradigmatisch, daß Ritus und Aktion der Dokumentation vorausgehen 50 . Die apostolischen Schriften bilden wohl einen normativen Bezugspunkt, aber der Glaube der Kirche lebt in unmittelbarer Weise aus der christlichen Realität, die in der Totaltradition enthalten ist; noch auf direkte Art, aber in einem sekundären Verfahren, wird er bestimmt von der Schrift 51 . Die Tradition kann aus diesem Grunde auch nicht nur als viva vox des Evangeliums verstanden werden, sondern ist die Permanenz seiner Realität 52 . Alle theologischen Formulierungen sind ihr gegenüber relativ und sekundär. Der Tradition als der gegenwärtigen Wirklichkeit des Heils gebührt der Primat über ihre verbale Explikation und ihre Bezeugung durch Texte 53 . Bei seiner Analyse und Synthese des Traditionsbegriffes geht Congar 4 8 Ibd. 429: „II a trop peu considéré le témoignage apostolique sous l'aspect où celui-ci n'est pas seulement récit et donné historique, mais où il contient communique une interprétation théologique des faits, interprétation qui émanant d'hommes inspirés pour être fondateurs de l'Église, a elle-même valeur de donné, et de donné normatif. Le trésor confié à l'Église n'est pas seulement réalité, mais dépôt de révélation de nature déjà dogmatique." 4 9 Ibd. 412: „Jesus Christ lui-même n'a rien laissé par écrit, il nous a laissé le christianisme: pas des énoncés doctrinaux, seulement, mais la réalité du salut et de la communion, la réalité de la Nouvelle Alliance." 5 0 Ibd. 413. 5 1 Ibd. 414: „L'écrit est une référence et, s'il agit des écrits apostoliques, une référence normative. Mais la foi de l'Église, tout comme sa vie, est réglée de la façon la plus immédiate par la réalité chrétienne contenue dans la tradition totale; de façon immédiate encore, mais en une démarche seconde, elle est réglée par les écrits apostoliques." 5 2 Ibd. 415. 5 3 Ibd. 416: „Cette primauté de la réalité sur les formules, ce dépassement des textes par la réalité, cette via vitae, c'est la Tradition même." Congar erläutert diesen Gedanken am Beispiel der vornicänischen Kirche. Das Zeugnis ihres Lebens, ihres Betens und ihres Martyriums war ungebrochen trotz mangelhafter theologischer Formulierungen.

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davon aus, daß der Heilige Geist in der Kirche wirkt, nicht um weiter zu offenbaren oder eine essentielle Struktur zu begründen, sondern um die Implikationen des schon GeofTenbarten im Laufe der Geschichte zu verlebendigen und zu immer tieferem Verständnis zu erwecken54. Tradition ist deshalb weniger das Depositum des überlieferten Glaubensinhaltes als vielmehr die pneumatische Aktion, die diesen Inhalt zum Tragen bringt. Congar spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Subjekten der Tradition, die ihre innere Beziehung in der Person des Heiligen Geistes finden: der in der Überlieferung sich selbst mitteilende Christus praesens, die Apostel als die Urtradenten und die Kirche als die pneumatische und geschichtliche Trägerin der Tradition, die sich dem kirchlichen Gedächtnis und Bewußtsein von Anfang an her einprägt und von Christus lebendig erhalten wird 55 . Die Offenbarung ist dem Gottesvolk des neuen Bundes anvertraut, das durch das Pneuma Geist und Genius des Evangeliums besitzt und deshalb sein natürliches Milieu konstitutiert 56 . Der privilegierte Ort der Kommunikation der Tradition ist die Liturgie. „Sie enthält, überliefert und bringt auf ihre Weise zum Ausdruck die Totalität der Mysterien, von denen die theologische Erkenntnis und selbst das Dogma nur bestimmte Aspekte formuliert haben." 57 Die Liturgie entspricht deshalb in solch einzigartiger Weise dem Wesen der Tradition, weil der durch sie überlieferte Inhalt auch zugleich von ihr vollzogen wird 58 , denn zur Überlieferung gehört ihre aktuelle Verwirklichung durch die Kraft des Pneumas, die in der Liturgie, in den Sakramenten, in geistlichen Menschen und in der Gemeinschaft der Kirche geschieht. Die historischen Dokumente des Heilsgeschehens und das Leben des Glaubens im Heiligen Geist sind deshalb die zwei verschiedenen Weisen der einen Tradition der Offenbarung 59 . 54

Cf. das I. Kapitel bei Congar, La tradition II. Congar, La tradition II 85: „L'Église . . . garde et réalise la memoire vivante de ce qu'elle a reçu et dont son Époux et Seigneur rafraîchit sans cesse en elle la présence et la fraîcheur. En un sens, cette conscience possède son objet en intégrité dès le départ." 59 Ibd. 131: „Si la Révélation a été remise à un peuple comme tel — sous régime évangélique, un peuple spirituel —, il est normal que ce peuple ait son esprit, son génie, et constitue un milieu." 57 Congar, Tradition et vie ecclésiale 417: „ . . . que l'Église a comme investi toute sa foi dans sa prière et que si la ferveur n'est pas créatrice de vérité la liturgie contient, livre et exprime à sa manière la totalité de mystères dont l'intelligence et le dogme lui-même n'ont formulé que certains aspects." 58 Ibd. 419: „ . . . la liturgie procède simplement avec l'assurance de la vie à l'affirmation de ce qu'elle fait et du contenu de ce qu'elle livre en le célébrant. C'est le style propre de la Tradition, qui communique les conditions de la vie en communiquant la vie elle-même." 59 Ibd. 435: „En conclusion de celui-ci notons que l'enseignement salutaire ou évangélique nous est livré sous deux formes et selon deux modes : le document et l'éducation, le texte et l'esprit vivant." Im Vorausgehenden hatte Congar von der erzieherischen und mütterlichen Rolle der Tradition gesprochen. — Zu diesem Doppelaspekt der Tradition 65

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D a das von Congar behandelte Thema die Väter des II. Vaticanums intensiv beschäftigte, wurde es auch von einer Reihe weiterer Konzilstheologen aufgegriffen, zum Beispiel von Robert Latourelle, Ernst Schillebeeckx, Walter Kasper und Karl Rahner 6 0 , die mehr oder minder auf den Werdegang von Dei Verbum einen bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Eine besonders eindrucksvolle schöpferische Variation erfuhr der gesamte Problemkreis durch Joseph Ratzinger, dessen Gedankengänge als repräsentativ für einen größeren Kreis katholischer Theologen gelten können 6 1 . Ausgehend von der Inkongruenz von Schrift und Offenbarung weist Ratzinger darauf hin, daß Offenbarung erst da angekommen ist, „wo außer den sie bezeugenden materialen Aussagen auch ihre innere Wirklichkeit selbst in der Weise des Glaubens wirksam geworden ist" 6 2 . Der Glaube als Offenbarungsempfang ist nichts anderes als das Eingehen in die Christuswirklichkeit. Diese ist aber im Leibe Christi, der Kirche, vorgegeben. Die Offenbarungsgegenwart ist deshalb unabtrennbar mit dem Glauben und der Kirche verbunden 63 . Uberlieferung besteht also nicht in einer bloß exegetischen Tradition, sondern bezieht sich immer auf das ganze Mysterium der Anwesenheit Christi in seinem Leib, ebenso aber auch auf seine Einwohnung im Glauben, „die allen Einzelexplikationen, auch denen der Schrift, jeweils voraus ist und das eigentlich zu Uberliefernde darstellt" 6 4 . Die tiefste Wurzel dieses umfassenden Traditionsbegriffes ist darin zu suchen, daß die Offenbarung nicht nur als verobjektivierte Historie verstanden werden kann, sondern als das Christuscf. ebenso Congar, La tradition I I 136. D e r ganzheitlidie Charakter der Überlieferung wird durch diese Betrachtungsweise nidit angetastet. — Den Konzilsvätern lag ein besonderes Votum Congars vor. C f . Dupuy, L a révélation divine 5 8 9 — 5 9 8 : Tradition et Écriture. Texte du P. Yves Congar (novembre 1962). 9 0 Ebenso wie von Congar lag den Konzilsvätern auch von Rahner ein eigener E n t wurf vor, cf. Dupuy, La révélation divine 5 7 7 — 4 8 7 : Le schéma du P . K a r l Rahner D e la révélation de Dieu et de l'homme faite en Jésus-Christ. C f . K . Rahner, Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung, in: K . R a h n e r / J . Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung, Freiburg/Basel/Wien 1965, 1 1 — 2 4 und Rahner, Schrift und Tradition, op. cit. Ähnliche Anliegen vertreten Latourelle, Théologie op. cit.; E. Sdiillebeeckx, Offenbarung und Theologie, Gesammelte Schriften Bd. I, Mainz 1965 und W . Kasper, Dogma unter dem W o r t Gottes, Mainz 1965. — Besonders ist in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen Beiträge zu unserem Thema in dem repräsentativen und monumentalen Sammelwerk hinzuweisen: J . F e i n e r / M . Löhrer, Mysterium Salutis, Grundriß heilsgeschichtlidier Dogmatik, Bd. I : Die Grundlagen heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln/ Zürich/Köln 1965. C f . ibd. 4 6 3 — 4 9 6 : P . Lengsfeld, Tradition und H l . Schrift — ihr Verhältnis, und ibd. 7 2 7 — 7 8 2 : K . R a h n e r / K . Lehmann, Die Geschichtlichkeit der Vermittlung. 6 1 Vorbereitend: J . Ratzinger, Offenbarung — Schrift — Überlieferung, T r T h Z 67 (1958), 13—27, dann: J . Ratzinger, Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffes, in: Rahner/Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung 2 5 — 6 9 . 4 2 Ratzinger, Ein Versuch 35. " Ibd. 40. »* Ibd. 45.

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ereignis Gegenwartscharakter besitzt durch die vollmächtige Anwesenheit des Christusgeistes 65 . „Tradition im kirchlichen Sinne besagt die Bindung des Menschen an die in der Schrift (als einem Organ der Tradition) bezeugte einmalige Christusgeschichte, die jedoch durch den Geist in der Kirche ihre Gegenwart hat, von ihr glaubend und betend als Gegenwart erfahren und in der Verkündigung als solche ausgelegt wird." 6 6 Ratzinger führt den Nachweis, daß schon dem Trienter Traditionsdekret im Entwurf des Kardinals Cervini ein pneumatologischer Traditionsbegriff zugrunde liegt. Das Evangelium stellt demnadi nicht nur eine Verbaltradition dar, sondern vielmehr eine Realtradition, die gegenüber dem sie bezeugenden W o r t einen pneumatischen Überhang der von diesem gemeinten Wirklichkeit in sich birgt 6 7 . Echte Uberlieferung wird also nicht nur durch die Bindung an einmalige Geschehnisse der Vergangenheit konstituiert, sondern ebenso durch die Präsenz des Geistes, der die Heilswirklichkeit dieser Geschichte in der Gegenwart bewirkt. Das Dogma ist folglich weniger die Auslegung und Entfaltung einer abgeschlossenen Offenbarungslehre, als vielmehr die Explikation des in der Schrift bezeugten Christusgeschehens, wie es sich kontinuierlich in der Geschichte des Glaubens aktualisiert 68 . Nach diesem Uberblick über die Grundzüge des modernen römischkatholischen Traditionsverständnisses erhebt sich nun die Frage, ob diese Konzeption im Hinblick auf die von der Orthodoxie und den Reformationskirchen vertretenen Positionen ökumenischen Charakter beanspruchen kann.

3. Der neue ökumenische Konsensus über die Tradition Montreal und die orthodoxe Theologie Der in den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts in Vergessenheit geratene ganzheitliche dynamische Traditionsbegriff, der im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde und seitdem in der römisch-katholischen Theologie tiefe Wurzeln geschlagen hat, entspricht heute bis zu einem gewissen Grade einem weitgehenden ökumenischen Konsensus. Dies wurde 1963 evident bei der „Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung" in Montreal, die Ibd. 45. J. Ratzinger, Artikel „Tradition" (systematisch), in: L T h K 10,293—299, p. 297. 6 7 Ratzinger, Ein Versuch 5 3 — 5 4 . — Ibd. 6 8 — 6 9 gibt Ratzinger eine Obersicht über die innere Struktur des Trienter Traditionsdekrets, die bei allen künftigen Diskussionen über den Traditionsbegriff des Tridentinums beachtet werden sollte. — Zum gleichen Thema cf. die Ausführungen bei Stakemeier, Die Konzilskonstitution 2 4 — 4 0 . 6 8 J. Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie. Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen H e f t 139, Köln/Opladen 1966, p. 21. 85

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endgültig die Vorstellung einer bloßen Lehr- und Verbaltradition überwunden hat. Im Unterschied zu den Vätern des II. Vaticanums gelang es den Theologen von Montreal, den Traditionsbegrifi genau zu differenzieren. „Wir sprechen von der Tradition, einer Tradition und den Traditionen. Mit der Tradition ist das Evangelium selbst gemeint, wie es von Generation zu Generation in und von der Kirche übermittelt wurde: der im Leben der Kirche gegenwärtige Christus selbst. Mit Tradition meinen wir den Traditionsvorgang. Der Begriff Traditionen wird in einem doppelten Sinn gebraucht: Wir braudien ihn einerseits, wenn wir von der Verschiedenheit der Ausdrucksformen sprechen, anderseits aber auch, wenn von dem die Rede ist, was wir gemeinhin konfessionelle Traditionen nennen.. Innerhalb der verschiedenen möglichen Bedeutungen des Wortes Tradition wird unmißverständlich der Idee der Realtradition eine zentrale und dominierende Stellung eingeräumt. Die Tradition umfaßt nicht nur die apostolische Überlieferung als ganze Botschaft des Evangeliums wie sie von Christus her empfangen wurde, sondern ebenso auch die lebendige Uberlieferung der Kirche, in der die Paradosis der Apostel in das Glaubensleben hinein transformiert und so Christus selbst vergegenwärtigt wird. Insofern besteht der engste Zusammenhang zwischen der Tradition und dem Traditionsvorgang, durch den sich die Offenbarung im Leben der Kirche realisiert. Gleichwohl muß zwischen beiden unterschieden werden, ebenso wie zwischen apostolischer Paradosis und lebendiger Realtradition der Kirche, wenn auch alle genannten Bedeutungsinhalte in der Tradition konvergieren2. Höchst eindrücklich wurde in Montreal dieser ganzheitliche umfassende und wesentlich ekklesiologische Charakter der Tradition herausgearbeitet. „Wir gehen davon aus, daß wir alle in einer Tradition leben, die auf unseren Herrn selbst zurückgeht und ihre Wurzeln im Alten Testament hat, und daß wir alle dieser Tradition insofern verpflichtet sind, als wir die geoffenbarte Wahrheit, das Evangelium, empfangen haben, wie es von Generation zu Generation weitergegeben wurde. So können wir sagen, daß wir als Christen durch die Tradition des Evangeliums (die Paradosis des Kerygmas) existieren, wie sie in der Schrift bezeugt und durch die Kirche kraft 1 Montreal 1963, 4 2 — 5 3 : Bericht der Sektion II über „Schrift, Tradition und T r a ditionen", p. 42. 2 Uber die verschiedenen Bedeutungsinhalte des Traditionsbegriffes handelt ausführlich Sdiutz/Thurian, Das Wort Gottes 7 6 — 8 0 . J . L. Leuba, L a tradition à Montreal et à Vatican II. Convergences et divergences, in: Dupuy, La révélation divine 4 7 5 — 4 9 7 sieht das Kernproblem in der „connexion entre l'ontologie du traditum et Ia noétique de l'actus tradendi" (p. 486) und fragt, „comment la tradition apostolique primitive et ses actualisations ultérieures dans la vie de l'Église, tout en étant en étroite connexion, ne constituent pas néanmoins un jeu de miroirs, mais manifestent, par leur implication mutuelle, ce qui elles sont eu elles-mêmes" (p. 489).

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des Heiligen Geistes übermittelt worden ist. Tradition in diesem Sinne wird gegenwärtig in der Predigt des Wortes, in der Verwaltung der Sakramente und im Gottesdienst, in christlicher Unterweisung und in der Theologie, in der Mission und in dem Zeugnis, das die Glieder der Gemeinde durch ihr Leben für Christus ablegen. — Das, was beim Traditionsvorgang überliefert wird, ist der christliche Glaube, nicht nur als Summe von Lehrsätzen, sondern als lebendige Wirklichkeit, die durch das Wirken des Heiligen Geistes vermittelt wird. Wir können so von einer christlichen Tradition sprechen, deren Inhalt Christus selbst ist, gegenwärtig im Leben der Kirche." 3 Sicherlich wird in diesen Ausführungen das Kerygma weder als ein „dogmatisches System theologischer Interpretation" noch als „ein Kanon im Kanon oder feststehendes Kriterium", sondern als das „von Gott kommende Geschehen des Christusereignisses" und als das „aktualisierte, nicht mit der Schrift identische Wort Gottes" aufgefaßt 4 . Es wäre aber verfehlt, in dem Moment der Geschichtlichkeit jeder kerygmatischen Wortgestalt der Offenbarung, die durch den Wandel der Situation, der Sprache und der theologischen Interpretation bedingt ist, das primäre Anliegen des in Montreal dargelegten Traditionsbegriffes zu sehen. Es geht hier vielmehr um die entscheidende Ausweitung einer bloß kerygmatischen Traditionsvorstellung zu einer das gesamte Glaubensleben der Kirche umfassenden Konzeption. Die Überlieferung ist im christologischpneumatologischen Sinne die traditio Dei als Offenbarung, als Selbstmitteilung Gottes im Heiligen Geist5. Nach orthodoxer Anschauung ist es der in der Kirche präsente Christus, wie er gegenwärtig ist in den mannigfaltigen Ausdrucksformen ihres Lebens, der sich durch den HeiliMontreal 1963, Bericht 43—44. E. Dinkler, Theologische Aufgaben der ökumenischen Arbeit heute, ö k R 14 (1965), 116—132, p. 120. Dinkler versucht hier, die Verlautbarungen von Montreal im Sinne der Kerygma-Theologie zu interpretieren und das auf „das Insistieren der Orthodoxen" zurückzuführende starke ekklesiologische Element zu korrigieren. Ähnlich urteilte E. Dinkler, Kritischer Rückblick auf die 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal, ÖkR 13 (1964), 83—93, p. 89: „Denn indem man die Paradosis des Kerygma als die alles bindende Tradition vor die Traditionen und die Schrift als Kanon stellte, ist ja theologisch ein Sachkriterium impliziert worden, — wenngleich der Bericht am Schluß auch wieder mit Recht darauf hinausläuft, daß uns das Kriterium nicht verfügbar sei. Mit dem expliziten Hinweis auf die Paradosis des Kerygma ist aber das Christusereignis selbst als Grundlage des Glaubens und der Kirche anerkannt und ein in Zukunft weiter zu entfaltendes Kriterium für die notwendige Infragestellung der kirchlichen Traditionen in den Blick gefaßt." 5 J. Moltmann, Schrift, Tradition, Traditionen. Bericht über die Arbeit der Sektion II, ÖkR 13 (1964), 104—111, p. 105 berichtet von erheblichen protestantischen Einwänden gegen dieses Traditionsverständnis und spricht von einer für die Reformationskirchen sich daraus ergebenden theologischen Aufwertung der Tradition. Von orthodoxer Seite war sogar als mögliche Formulierung sola traditione erwogen worden (p. 106). s

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gen Geist überliefert im Glauben zum Glauben. Unter Tradition wird hier also nicht nur die einmalige Offenbarungstat Gottes in Christus verstanden und die Predigt des Wortes als Paradosis des Kerygmas, aus der die Kirche entsteht und durch die sie am Leben erhalten wird. Nach dieser Auffassung umfaßt die Tradition ebenso den christlichen Glauben selbst, wie er in der Kirche und durch die Kirche überliefert wird und sich in ungebrochener Kontiuität von Generation zu Generation manifestiert 6 . Es wurde in den Debatten von Montreal deutlich, daß bei dieser Konzeption das gesamte Beziehungsverhältnis zwischen Christologie und Pneumatologie auf dem Spiel steht und die von der Orthodoxie und dem Anglikanismus vertretene Sicht letztlich auf die altkirchliche Trinitätstheologie zurückzuführen ist 7 . Unter der Voraussetzung eines ganzheitlichen Traditionsbegriffes muß auch die Rolle der Schrift verstanden werden. „Die Tatsache, daß die Tradition der Schrift vorausgeht, läßt uns die Bedeutung der Tradition erkennen. Sie weist aber zugleidi auf die Bedeutung der Heiligen Schrift als Hort des Wortes Gottes hin." 8 Diese Ortsbestimmung der Schrift, die dem in Montreal dargelegten Traditionsverständnis entspricht, kann dahingehend zusammengefaßt werden, „daß die Schrift das Ergebnis der gleichen Tradition ist, die ein kontinuierliches Leben in der Kirche hatte. Sie ist ihr verbaler Ausdruck, aber sie enthält nicht die ganze Wahrheit. Sie muß gelesen werden im Kontext der allgemeinen christlichen Tradition, die, abgesehen von der Schrift, ihren Ausdruck findet in Sakramenten, Glaubensbekenntnissen, im christlichen Denken und in kulturellen Werten, die indirekt von der Schrift herkommen. Die Auslegung der • Montreal 1963, Bericht 46. Beide Möglichkeiten des Traditionsverständnisses werden hier genannt. Es liegt auf der Hand, daß nur die Einheit beider Aspekte der Tradition entspricht. Es ist deshalb im Sinne von Montreal nicht sachgemäß, wenn sowohl Dinkler, Kritischer Rückblick 89 als auch Moltmann, Schrift, Tradition, Traditionen 106 versuchen, diesen umfassenden Traditionsbegrifï auf die Paradosis des Kerygmas zu reduzieren, die nicht auch „die Fülle der geschichtlichen Erscheinungsformen der Kirche beinhaltet". Sowohl angesichts von Montreal und des II. Yaticanums als auch der orthodoxen Theologie (cf. infra 83) ist die Frage von Leuba, La tradition 488 nicht nur unbeantwortbar, sondern auch nicht sachlich kongenial: „Comment l'actus tradendi, en découvrant la portée du traditum, ne refluet-il pas en fait sur le traditum, dès lors que l'ontologie du traditum, mystérieuse et insaissisable sans l'actus tradendi, n'existe pour la conscience de l'Église que grâce à l'actus tradendi? Comment ainsi la tradition apostolique n'est-elle pas engagée dans une évolution noétique dont rien n'assure qu'elle ne soit pas une metabasis eis allo genos?" 7 Cf. die Bemerkung bei Dinkler, Kritischer Rückblick 90—91 und Moltmann, Schrift, Tradition, Traditionen 111, der in diesem Zusammenhang eine Studie über das filioque anregen möchte. 8 Montreal 1963, Bericht 43. — Moltmann, Schrift, Tradition, Traditionen 106 bemerkt hierzu treffend: „Die Tradition der Selbstoifenbarung Gottes muß dann zur Voraussetzung einer Theologie der Schrift werden."

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Schrift gemäß den hermeneutischen Regeln ist ein notwendiger Teil der Aufgabe der Kirche, da ihr Leben und Denken übereinstimmend mit der Schrift' sein sollen (wie auch immer dies näher bestimmt werden mag), sie wird aber durchgeführt im Kontext des gesamten Lebens der Kirche. Die Wahrheit der Schrift wird nicht die Endsumme der Ergebnisse der Exegese sein, da diese in das christliche Leben und Denken nur durch das Medium einer bestimmten Form der christlichen Tradition und Praxis eingefügt werden"9. Wird in solcher Weise der Primat der Kirche und ihrer Tradition gegenüber allem Verstehen des Wortes Gottes im Zeugnis der Schrift hervorgehoben, entsteht unausweichlich das kriteriologische Problem mit der Frage, ob die Tradition gegen die kirchlichen Traditionen auftreten kann und nach welchem Kriterium die in der Schrift historisch fixierte apostolische Überlieferung interpretiert werden muß. Diese zentrale Frage nach dem gültigen Maßstab der Auslegung des Schriftzeugnisses von der Offenbarung und der Möglichkeit einer kritischen Funktion einer solchen Interpretation gegenüber dem Selbstverständnis der empirischefi Kirche ist allerdings unlösbar durch eine bestimmte hermeneutische Methode, denn grundsätzlich-theologisch kann nur gelten, daß als richtige Interpretation diejenige anzusehen ist, die unter der Führung des Heiligen Geistes geschieht10. Damit ist natürlich noch keine praktikable Lösung des vorliegenden Problems gegeben, aber dieses auf seinen eigentlichen Kernpunkt zurückgeführt, nämlich die Frage nach der geschichtlichen Wirkungsweise des Pneumas. Die geschichtsmächtige und geistgewirkte Aktualisierung des Schriftzeugnisses zum Wort Gottes besteht jedenfalls nicht nur in seiner kritischen Funktion und der ständigen Infragestellung aller kirchlichen Gestaltwerdung11. Eine Verabsolutierung 9 Bristol 1967. Studienergebnisse 56. Die Kommission unterscheidet von dieser Auffassung die Position, daß die Schrift als alleinige, von der Kirche völlig unabhängige N o r m der Wahrheit anzusehen sei, oder daß sie nur ein Element der Wahrheit darstelle zusammen mit anderen Faktoren wie der Entwicklung des menschlichen Denkens, der kulturellen Entwicklung etc. (ibd.). — Leuba, L a tradition 488 sieht die Bedeutung der apostolischen Tradition darin, daß sie der Kirche die Einheit der Schrift zu erkennen gibt. 10 Montreal 1963, Bericht 45. Hiermit wird das Kernproblem des gesamten Themas anvisiert. Der Bericht begnügt sich an dieser Stelle damit, die verschiedenen hermeneutischen Ansätze in den getrennten Kirchen aufzuzeigen. Auch Bristol 1967. Studienergebnisse 4 6 — 5 8 , wo über das hermeneutische Problem und Tradition und Schrift gehandelt wird, hat hier keinen weiteren Fortschritt gebracht. 11 Dies postuliert zum Beispiel Dinkler, Theologische Aufgaben 121, wenn er die kriteriologische Frage als schlechthin entscheidend ansieht und ohne ihre Lösung im Sinne der Kerygma-Theologie eine Verneinung der Reformation befürchtet. „Nicht nur dies, sondern weil sonst eine Geschichte der Kirche und ihrer Theologie aufhören würde, weil diese Geschichte von der kritischen Funktion des Wortes Gottes und

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des kriteriologischen Momentes ist unvereinbar mit dem in Montreal explizierten Traditionsbegrifi. Es gehört zu den erstaunlichsten Ergebnissen der Geschichte von „Faith and Order" innerhalb der ökumenischen Bewegung, daß diese Konferenz sich nicht etwa zu einem Dualismus zwischen Tradition und Kirche, sondern vielmehr zu einem ganzheitlichem ekklesiologischen Verständnis der Überlieferung bekannte. Nach der Promulgierung von Dei Verbum war sofort die Konvergenz mit der Verlautbarung von Montreal offensichtlich und damit ohne direkte Intention ein weitgehender ökumenischer Konsensus konstituiert12. Es ist bekannt, daß bei den Debatten in Montreal orthodoxe Theologen eine wichtige Rolle gespielt haben und ihre intensive Mitarbeit maßgeblich die Formulierungen des Berichtes über „Schrift, Tradition und Traditionen" beeinflußte. In der Tat entsprechen an diesem Punkte die Aussagen der „Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung" weithin dem Glaubensbewußtsein der Orthodoxie, wie es von führenden Theologen immer wieder ausgesprochen wurde. Selbst die für westliche Einflüsse sehr empfängliche Schuldogmatik der russischen und neugriechischen Theologie13 bewahrte ein spezifisch ostkirchliches Verständnis von Offenbarung und Tradition. Aus dem Blickwinkel eines neuscholastisch geprägten Denkens kann deshalb ein römisch-katholischer Beobachter feststellen, daß ostkirchliche Theologen „die Offenbarung nicht als objektives Sprechen Gottes betrachten, das wegen seiner göttlichen Autorität angenommen werden muß, sondern vielmehr als Geheimnis, als die den Geist durchdringende Wirksamkeit Gottes, die durch den inneren religiösen Sinn im Herzen empfangen wird. Und mehr als eine Lehre halten sie die Offenbarung für ein lebendiges Faktum" 14 . Eindeutig erscheint auch diesem Beobachter die Vorstellung einer Selbstoffenbarung Gottes, denn die Offenbarung ist deshalb lebendig, weil in Fakten und Ereignissen Gott selbst erscheint. „Die seiner Verkündigung gegenüber dem jeweiligen Selbstverständnis der empirischen Kirche lebt." 12 Dies betonen zum Beispiel M. Thurian, U n acte oecuménique du Concile: le vote de la Constitution dogmatique sur la révélation, Verbum Caro 76 (1965) 6 — 1 0 und L. Vischer, Nach der vierten Session des zweiten Vatikanischen Konzils, ö k R 15 (1966), 81—120, p. 8 7 : „Die Konvergenz ist offenkundig. Beide Dokumente gehen in ähnlicher Weise von einem umfassenderen Begriff der Tradition aus." Cf. ebenso Leuba, L a tradition 483. 13 Als Hauptvertreter sind hier zu nennen: Makarij, Antonij, Philaret (Cernigov), Silvestr, Malinovskij, Philaret (Drozdov), Rossis und Androutsos. Zur Obersicht cf. R . Slenczka, Ostkirche und Ökumene. Die Einheit der Kirche als dogmatisches Problem in der neueren ostkirchlichen Theologie, Göttingen 1962, p. 3 6 — 3 7 . 14 Th. Spacil, Doctrina theologicae Orientis separati de revelatione, fide, dogmate. Pars prima: Doctrina theologiae Orientis separati exponitur, Orientalia Christiana X X X I 2, Romae 1933, p. 381. Die diesem Urteil zugrunde liegenden detaillierten Belege finden sich ibd. 207ss.

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Offenbarung ist nach ihrer Wesenheit nichts anderes als die Erscheinung Gottes." 15 Entsprechend dieser Offenbarungsauffassung ist die Tradition das innere charismatische oder mystische Gedächtnis der Kirche, durch das das lebendige Wort Gottes von Generation zu Generation weitergegeben wird 16 . Da in dieser Sicht unter Offenbarung nicht nur ein überlebtes historisches Geschehen, sondern ebenso eine aktuelle gegenwärtige Wirksamkeit zu verstehen ist, spricht Sergij Bulgakov von ihr als der heiligen Tradition, die weiterlebt in einem fortlaufendem Prozeß 17 . Nach dieser Anschauung beinhaltet die Tradition sowohl den Traditionsakt Gottes in Jesus Christus als auch seine Fortdauer im Laufe der Kirchengeschichte, zu der der neutestamentliche Kanon, die Auslegung der Schrift, die Glaubensbekenntnisse, der Gottesdienst, die Sakramente und das Leben der Kirche überhaupt gehören. Nikos A. Nissiotis verdeutlicht, daß so die Tradition als das durch Gott im Christusgeschehen gegebene Evangelium die Tradition als Vorgang der ständigen Weitergabe dieses Geschehens miteinschließt18. Wenn auch dieser Traditionsbegriff auf Kontinuität hin angelegt ist und in enger Verbindung mit ihm das ekklesiologische Axiom von der alten ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends entstehen konnte 19 , so ist er doch keineswegs ausschließlich der Vergangenheit zugewandt, sondern ebenso in dynamischer Weise auf die aktuelle Gegenwart und auf die Zukunft hin orientiert. „Diese Tradition gründet sich auf die Vergangenheit, aber sie ist beseelt, bewegt, dynamisch geworden in der Vorwegnahme der Wiederkunft des auferstandenen Christus." 20 1 5 Ibd. 209. Neben den Schultheologen werden von Spacil auch Vertreter der Emigrationstheologie wie Florovskij und Bulgakov herangezogen. 1 6 Ibd. 279ss ausführliche Belege aus der russischen und neugriechischen theologischen Literatur für dieses Traditionsverständnis. 1 7 S. Bulgakov, Dialog zwischen Gott und Mensch. Ein Beitrag zum christlichen Offenbarungsbegriff, Marburg 1961, p. 25 und 44. 1 8 N . A. Nissiotis, Die Einheit von Schrift und Tradition von einem östlich-orthodoxen Standpunkt aus, ö k R 14 (1965), 2 7 1 — 2 9 2 , p. 2 7 1 — 2 7 3 beleuchtet die Distinktionen von Montreal und kommt zu dem Schluß, daß zwischen Tradition und Tradition kein Unterschied besteht, da es sich immer sowohl um den Akt des tradendum Gottes in Jesus Christus als auch um den Prozeß dieses tradendum im Laufe der Kirchengeschichte handelt. 1 9 Zur Darstellung und Diskussion dieses Axioms cf. Slenczka, Ostkirche und Ökumene 174—184. Cf. zuletzt die Darstellung dieses Gedankens bei N. A. Nissiotis, Die Theologie der Ostkirche im ökumenischen Dialog. Kirche und Welt in orthodoxer Sicht, Stuttgart 1968, p. 232ss. Die Ostkirche wird hier gekennzeichnet als „die Kirche einer lebendigen Tradition ungebrochener Kontinuität durch die Jahrhunderte hindurch" (p. 233). Die Tradition entspringt „der inneren K r a f t der ungebrochenen Kontinuität, die seit dem Pfingsttage besteht und wie ein mächtiger Strom neuen Lebens die ganze Kirchengeschichte belebt" (p. 233). 2 0 Nissiotis, Die Theologie der Ostkirche 150.

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D a die Tradition nicht nur das Grund- und Anfangsgeschehen in Christus ist, sondern sich als seine gegenwärtige, aktuelle und zukunftsträchtige Wirksamkeit in der Geschichte fortsetzt, steht sie immer auch in einer unlösbaren Verbindung mit den kirchlichen Traditionen, die als verschiedene Ausdrucksformen der einen Tradition gelten können. Sie beziehen sich alle auf das Urereignis der Offenbarung in Christus und hängen von ihm ab, aber in keiner ihrer Formen, weder der biblischen noch der patristischen, weder der scholastischen noch der reformatorischen, können sie mit diesem selbst identifiziert werden. Die faktische Kirchengeschidite und die Geschichte der Tradition sind keineswegs miteinander voll identisch 21 . D i e Mannigfaltigkeit und die Verschiedenheit der kirchlichen Traditionen können auch in Spannung geraten zu der einen Tradition, die jedoch durch zwei grundlegende Faktoren vor der Auflösung geschützt und in ihrer wesenhaften Identität bewahrt wird. Es sind dies die festgelegte geschriebene Form der Anfangstradition und die Kontiuität des Lebens der Kirche als authentisches Echo der einen Tradition. Schrift und Tradition können also niemals als zwei gesonderte Quellen des Christusgeschehens erscheinen. Aller begrifflichen Unterscheidung liegt immer ein reales inneres Beziehungsverhältnis zugrunde, das letztlich in einer sachlichen Identität besteht. Es kann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß die Redeweise von den zwei Quellen der Offenbarung von orthodoxen Theologen übernommen und in sehr mißverständlicher Weise gebraucht wurde 22 . Die bedenklichen Implikationen 21 Ibd. 233. Die Erkenntnis dieser möglichen Differenz entspridit der Überzeugung, d a ß unter Tradition die K r a f t des Heiligen Geistes zu verstehen ist, der die Kirche in die Wahrheit f ü h r t . 22 E. Photiadis, Die Lehre der orthodoxen Kirche über Schrift und Tradition, U n a S 18 (1963), 236—247, p. 247 meint in der Zweiquellentheorie eine Gemeinsamkeit mit der römischen Kirche erblicken zu können, wenn er sich auch gegen eine zeitliche und inhaltliche Ausdehnung der Tradition über das 8. J a h r h u n d e r t hinaus wendet. Zumindestens mißverständlich ist die Formulierung p. 241: „Nach der O r t h o d o x e n Kirche wiegen die beiden Glaubensquellen gleichschwer und haben dieselbe K r a f t und koinzidieren miteinander bis zur Identität." Ebenso irreführend äußert sich auch E. A n t o niadis, Die orthodoxen hermeneutischen Grundprinzipien und Methoden der Auslegung des Neuen Testaments und ihre theologischen Voraussetzungen, in: D . Savramis (Hrsg.), Aus der neugriechischen Theologie, Würzburg 1961, 46—79, p. 48: „Die den K a n o n des Neuen Testaments bildenden 27 Schriften enthalten nicht die ganze, in der Person Christi geschehene göttliche Offenbarung, sondern nur einen Teil davon, und bilden darum nur die eine Quelle der christlichen Wahrheit, deren andere die kirchliche Tradition ist." — Ähnlich auch B. Vellas, Die Autorität der Bibel nach der Lehre der orthodoxen Kirche, ibd. 18—33, p. 24 und 27ss, w o er zwischen historischer, theologischer und dogmatischer Tradition unterscheidet. „Diese historische Tradition hat einen ergänzenden Charakter, weil sie die O f f e n b a r u n g der neutestamentlichen Schriften vervollständigt" (p. 27). Die gleiche Betrachtungsweise findet sich bei B. Sdiultze, Heilige Schrift und Überlieferung in Verbindung mit dem ökumenischen Konzil in der Lehre der byzantinisch-griechischen Theologie, in: B. Schultze/J. C h r y -

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dieser Begrifflichkeit sind jedoch durchaus auf orthodoxer Seite erkannt, und es gibt genügend klärende Darstellungen, die sich eindeutig gegen eine Zweiquellentheorie abgrenzen23. Für die ostkirchliche Theologie ist der neutestamentliche Kanon eingeordnet in den lebendigen Vorgang der Vergegenwärtigung der Offenbarung aus der Vergangenheit in die Zukunft durch die Gemeinschaft der Kirche. „Tradition ist immer eine Bewegung in Richtung Zukunft, aber auf der Grundlage der Vergangenheit, die ihr ihre Zukunft gibt und aufrechterhält. Tradition ist ein Ubereinkommen des Einzelnen mit der christlichen Gemeinschaft in bezug auf die Zukunft, aber ein Übereinkommen, das schon in der Vergangenheit gefunden wird. Die Schrift ist das ständig gegenwärtige Bindeglied, wie es zu Beginn dieser Bewegung, vom Augenblick der ersten Verkündigung der frohen Botschaft war. So macht die dynamische Tradition das geschriebene Wort Gottes zu einem ununterbrochenen Lebensstrom."24 Die Ganzheit und die Suffizienz der Schrift kann nach dieser Konzeption ebensowenig eine verbale wie ihre Authentizität eine formale sein25. Obwohl die Schrift in sich vollständig ist, setzt sie immer sostomus, Die Glaubenswelt der orthodoxen Kirche, Salzburg 1961, 154—190, p. 157—173. — Weitere Belege auch bei L. Müller, Die Bedeutung der Tradition in der orthodoxen Theologie und Kirche, in: Kirche und Kosmos. Orthodoxes und evangelisches Christentum, Studienschrift Nr. 2 hrsg. vom Kirchlichen Außenamt der EKiD, Witten 1950, 77—97, p. 86ss. 23 Zum Beispiel N . Arseniev, The teaching of the Orthodox Church on the relation between Scripture and Tradition. Essay II, in: The Eastern Churches Quarterly 7 (1947), Supplementary Issue. Papers read at the Eastern Churches quarterly conference at Blackfriars Oxford Oct. 1946 and at a discussion group of Dominicans and members of the Mirfield Community July 1946 und D. Slijepcevic, Die Heilige Schrift und die heilige Tradition nach dem Standpunkt der Orthodoxen Kirche, IKZ 42 (1952), 154—168. — Mit großer Entschiedenheit wendet sich gegen die Zweiquellentheorie V. Lossky, La tradition et les traditions, Messager de l'exarchat du patriardie Russe en Europe occidentale 10 (1959), 101—121, p. 101—102. — Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch E. Schlink, Zum Problem der Tradition. Thesen für ein ökumenisches Gespräch zwischen Theologen der evangelischen und der orthodoxen Kirche, in: E. Schlink, Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen. Beiträge zum Gespräch zwischen den getrennten Kirchen, Göttingen 1961, 196—201, dem es in erster Linie um eine klare Abgrenzung zwischen der apostolischen und kirchlichen Tradition geht. 24 Nissiotis, Die Einheit 281. Die Beschränkung der Tradition auf einen bestimmten Abschnitt der Vergangenheit wird ausdrücklich abgelehnt. Photiadis, Die Lehre der orthodoxen Kirche 247s betont hingegen die Beschränkung der Tradition auf die sieben ersten ökumenischen Konzilien, während Vellas, Die Autorität der Bibel 29 grundsätzlich auch mit neuen dogmatischen Traditionen rechnet. 25 Meyendorff, The meaning 45. Chr. Konstantinidis, Zur dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, in: D. Papandreou (Hrsg.), Stimmen der Orthodoxie. Zu Grundfragen des II. Vatikanums, Wien/Freiburg/Basel 1969, 11—53, p. 32—33 wendet sidi entschieden gegen das Sola-Scriptura-Prinzip und meint im Hinblick auf einige Partien von Dei Verbum, daß „der Ton übertreibend einseitig auf dem Faktor Heilige Schrift liegt".

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die Tradition voraus, nicht als ein Supplement, sondern als das notwendige Milieu, in dem sie erst in ihrer tiefsten Bedeutung verstanden werden kann. Diese Voraussetzung ist letzten Endes nach Grigorij Florovskij eine pneumatische. „Tradition ist das beständige Bleiben des Geistes, und dies nicht nur in der Erinnerung von Worten. Tradition ist ein charismatisches, nicht ein historisches Prinzip." 26 In eindrucksvoller Weise hat Vladimir Losski} das pneumatologische Verständnis der Uberlieferung dargelegt, indem er zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Tradition unterscheidet27 und zugleich den inneren Zusammenhang beider herausarbeitet. In Analogie zur Inkarnation geht es um die Leibwerdung des ewigen Wortes in der worthaften Sprache der Predigt, der Schrift, der Liturgie und des Dogmas ebenso wie in der wortlosen Sprache des Ritus und der Ikonen 28 . Der „Totalitarismus" des inkarnierten Wortes bemächtigt sich aller Möglichkeiten irdischer Gestaltwerdung. „Wenn die Schriften und alles, was die Kirche hervorbringen kann an geschriebenen und ausgesprochenen Worten, an Bildern oder liturgischen und anderen Symbolen, die verschiedenen Weisen darstellt, die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, so ist die Tradition die einzigartige Art und Weise, diese zu empfangen." 29 Das bedeutet aber, daß die Tradition nicht der Inhalt der Offenbarung ist, „sondern das Licht, das ihn offenbart.. Sie ist nicht die Wahrheit, aber eine Kommunikation des Geistes der Wahrheit" 30 . Die Tradition kann folglich definiert werden als „das Leben des Heiligen Geistes in der Kirche". Wie durch den Geist die Inkarnation des ewigen Wortes geschah, ist auch die Vermittlung jeder Glaubenswahrheit allein durch seine Gnade bedingt. Sie allein macht die Kirche fähig, das inkarnierte Wort zu erkennen31. Im Hinblick auf das Verhältnis von Schrift und Tradition ergibt sich dann die Folgerung: „Wenn die Kirche, nachdem sie den Schriftkanon geschaffen hat, ihn in der Tradition bewahrt, so ist diese Bewahrung nicht statisch und untätig, 2 6 G. Florovsky, The Churdi of God, London 1934, p. 65. — Dieses pneumatologisdie Verständnis der Tradition findet sich auch bei P. Evdokimov, L'Orthodoxie, Neuchâtel/Paris 1959, p. 195—197 und bei N. Zernov, Eastern Christendom. A study of the origin and development of the Eastern Orthodox Churdi, New Y o r k 1961, 2 7 Lossky, La tradition 106. p. 2 3 1 — 2 3 2 . 2 8 Ibd. 107: » . . . les icônes, aussi bien que les Écritures, sont des expressions de l'inexprimable, devenues possible grâce à la révélation de Dieu qui trouva son accomplissement dans l'incarnation du Fils." 2 9 Ibd. 108 . 3 0 Ibd. 109. 3 1 Ibd. 111 : „ . . . la tradition . . . n'est pas le contenu révélé, mais le mode unique de recevoir la Révélation, faculté dûe à l'Esprit Saint qui rend l'Église apte à connaître le Verbe Incarné dans son rapport avec le Père . . Zur orthodoxen Pneumatologie überhaupt cf. die eindrucksvolle Darstellung bei V. Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, G r a z / W i e n / K ö l n 1961, p. 198ss und zuletzt Nissiotis, Die Theologie der Ostkirche 64—85.

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sondern dynamisch und bewußt.. ." 32 Am Beispiel des Homousios illustriert Losskij diese Dynamik der Überlieferung, die nicht, wie Vincenz von Lerin meinte, an überkommene Formeln oder überhaupt an die kirchliche Antiquität gebunden ist. Allerdings ist damit noch keineswegs einem Evolutionsprinzip das Wort geredet. Was sich entwickelt, ist nicht die Erkenntnis der Offenbarung, sondern die Art und Weise, die lebendige Wahrheit in der Tradition zu erkennen, welche sie schützt, indem sie neue dogmatische Definitionen hervorbringt33. Dieser Vorbehalt gegenüber jeglichem Fortschrittsdenken ist darin begründet, daß keine theologische Lehre eine Explikation des Mysteriums darstellt und die Tradition ersetzen kann. In diesem Zusammenhang kommt Losskij zu einer präzisen Verhältnisbestimmung zwischen Dogma und Tradition. „Als Ausdruck der Wahrheit gehört ein Glaubensdogma zur Tradition, ohne jedoch einen Teil von ihr zu konstituieren. Es ist ein Mittel, ein Instrument der Erkenntnis, das uns der Tradition der Kirche folgen läßt, ein Zeuge der Tradition, ihre äußere Grenze, oder vielmehr die rechte Brücke, die zur Erkenntnis der Wahrheit in der Tradition führt." 34 Schrift und Dogma leben beide in der Tradition, nur mit dem Unterschied, daß der Kanon abgeschlossen ist, während die dogmatische Tradition erweitert werden kann. Gleichwohl ist diese Tradition nicht lediglich das Produkt eines ständigen Werdeprozesses, sondern immer Ausdruck der Fülle, ohne deren definitive Explikation sein zu können. Die Dogmen der Kirche, die ikonographische Tradition und die Schrift sind auf verschiedene Weise Ausdruck der Fülle der Wahrheit, die in der einen Tradition des Geistes gegenwärtig ist35. 3 2 Lossky, L a Tradition 112. Es ist bemerkenswert, daß Losskij auch die mündliche Überlieferung, wie sie sich zum Beispiel in den Apokryphen niedergeschlagen hat, in diese Dynamik einbezieht und die Tradition in diesem Zusammenhang als den kritischen Geist der Kirche bezeichnet (p. 113). 33 Ibid. 116. Für Losskij ist eine dogmatische Definition wie die von Nicäa kein eigentlicher Fortschritt im Vergleich zur urchristlichen Glaubenserkenntnis. 34 Ibd. 116. Die Dogmenbildung sieht Losskij in erster Linie bestimmt durch den Kampf gegen die Häresie. Die dogmatische Entwicklung, die sich zum Beispiel im Vergleich von Nicäa mit Chalcedon ergibt, impliziert keine Augmentation der Wahrheitserkenntnis. Einen Fortschritt in diesem Sinne gibt es nur im geistlichen Leben des einzelnen, nicht aber der Kirche (p. 1 1 7 — 1 1 8 ) . — Lossky, Die mystische Theologie 301 differenziert klar zwischen Dogma und Tradition: „Diese Tradition ist aber nicht nur die Gesamtheit der Dogmen, der geheiligten und von der Kirche bewahrten Institutionen und Riten, sondern vor allem das, was sich in diesen äußeren Formen ausdrückt: eine lebendige Tradition, eine unaufhörliche Offenbarung des Heiligen Geistes in der Kirche . . 3 5 Lossky, L a Tradition 120: „Cette plénitude de la Vérité qu'ils expriment sans jamais arriver à l'expliciter, permet d'apparenter les dogmes de l'Église avec les Saintes Écritures." — Ibd. 120—121 zeigt Losskij unter Hinweis auf Canon 3 des Concilium Constantinopolitanum IV (cf. DS 6 5 3 — 6 5 6 ) daß das, was von der dogmatischen Tradition gesagt ist, auch von der ikonographischen Tradition gilt.

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Losskij sieht die von ihm vertretene Auffassung der Uberlieferung paradigmatisch zum Ausdruck gebracht in den Formulierungen des II. Konzils von Nicäa (787), wo von der historischen Lehre der Väter die Paradosis der katholischen Kirche unterschieden wird, die durch die Einwohnung des Heiligen Geistes begründet ist 36 . Hier wird eindrücklich deutlich, wie ein pneumatologisches Verständnis der Tradition es der orthodoxen Theologie ermöglicht, die Uberlieferung aufs engste mit dem Leben der Kirche zu verbinden. Die innige Synthese von Pneuma, Tradition und Kirche wird übereinstimmend von griechischen und russischen Theologen betont. So schreibt Chrysostomos Konstantinidis: „Die Heilige Überlieferung ist die dauernde Anwesenheit des in jede Wahrheit einführenden Heiligen Geistes im Räume der geoffenbarten Wahrheit. Sie ist auch die in der Kirche lebende Offenbarung Gottes, sie ist selbst das Leben der Kirche, und sie ist auch die Handlung seitens Gottes, durch welche die göttliche Offenbarung und die Heilige Schrift in die Kirche übertragen und von der Kirche empfangen werden, oder anders gesagt: Durch die Heilige Überlieferung wird das übertragen, was die Kirche ist und besitzt." 37 Und Jean Meyendorff formuliert noch prägnanter: „Tradition ist die sakramentale Kontinuität in der Geschichte der Gemeinschaft der Heiligen; in gewisser Hinsicht ist sie die Kirche selbst." 38 Für Nikos A. Nissiotis manifestiert sich durch die Uberlieferung die permanente Gegenwart Gottes in der Gemeinschaft des neuen Israel. Das Wesen der Kirche wird durch sie zum Ausdruck gebracht. „Die Gestalt der Tradition der einen historischen Kirche und ihrer sichtbaren Grenzen, die durch die schriftliche patristische Tradition, das Kirchenrecht und die Beschlüsse der bisher sieben ökumenischen Konzilien bestimmt werden, sind Ausdruck des tiefen, unfaßbaren und von der ganzen Kirche unmittelbar erlebten Wesens der Kirche. Dieses Wesen, das heilsgeschichtlich, christologisch und pneumatologisch zu ver3 6 Concilium Nicaenum II, Actio V I I , oct. 7 8 7 ; D S 6 0 0 ( 3 0 2 ) : ÊJicotoXoufloîvTeç Tt) denyÔQto ôiôaaxaXiçt xtbv âyicov natÉpcov T^CDV, x a l TM jiaça&oaei TÎjç "/.a'9o/a-/fjç èxxXr|criaç' T O Î yào èv ÀUTFL o b a ] a a v t o ç ayiou J I V E I J I U X T O Ç elvai TAT)TR|V Y I V O J A Y . O ^ E V 3 7 Konstantinidis, Zur dogmatischen Konstitution 2 6 — 2 7 . Ähnlich auch Bonis, Zur F r a g e 66, der feststellt, „daß unter apostolischer Tradition nichts anderes zu verstehen ist als das Weiterleben der Kirche selbst", und Lossky, Die mystische Theologie 2 3 9 : „Die Tradition hat ja pneumatologischen C h a r a k t e r : sie ist das Leben der Kirche im Heiligen Geist." Cf. S. Boulgakoff, L ' O r t h o d o x i e ( 1 9 3 2 ) , 2. ed. Paris 1958, p. 4 4 : „La vie de la tradition consiste dans l'œuvre créatrice inséparable de l'Église, par laquelle se manifestent les profondeurs de sa conscience." 8 8 Meyendorff, The meaning 4 7 . D a m i t dürfte die von Schlink, Zum Problem der Tradition 199 aufgeworfene Frage eindeutig beantwortet sein, was orthodoxe Theologen unter apostolischer Tradition verstehen: sicherlich keine bloße historische Größe, sondern mit der Bibel und dem D o g m a auch den Strom des kirchlichen Lebens, wenn hier auch eine Grenzlinie zur bloßen Volksfrömmigkeit und ihren Bräuchen gezogen werden muß.

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stehen ist, bestimmt die äußere sichtbare Gestalt der Kirche und macht sie transparent, so daß wir direkt an dem hinter den Formen verborgenen Wesen teilhaben können." 39 Die Kontinuität dieser Uberlieferung liegt in „der aus den Charismata heraus lebenden Gemeinde". Ihrem Inhalt nach ist sie „das Ergebnis des Handelns Gottes durch bestimmte Ereignisse, die die Kirche zu einem sich durch die Jahrhunderte hindurch ziehenden Strom machen" 40 . Weil die Gegenwart des Geistes im Volke Gottes die tiefste Dimension der Tradition darstellt, kann diese nicht äußeren Kriterien, weder historischen noch juridischen, unterworfen werden. Da „die lebendige Wahrheit ihr eigenes Kriterium ist" 41 , würden alle anderen Maßstäbe als die des Pneumas einer falschen Sekurität dienen und den wahren Glauben verdunkeln. Es gibt keine formale Instanz außerhalb der pneumatisch durchwirkten Tradition, die hier richten und entscheiden könnte. Deshalb kann audi gesagt werden: „Die Überlieferung der Kirche bildet die unmittelbare Norm des Glaubens." 42 Aus diesem Grunde sind zum Beispiel konziliare Beschlüsse nur dann bindend, wenn sie in die Praxis der Kirche Eingang finden und vom kirchlichen Gesamtbewußtsein rezipiert werden 43 . Die fundamentale Übereinstimmung der Orthodoxie mit dem II. Vaticanum besteht in einer spezifischen Verhältnisbestimmung zwischen der historischen Form der Offenbarung und ihrer gegenwärtigen Aktualisierung, durch die die bisherige katholisch-protestantische Dialektik von Schrift und Tradition überwunden wird 44 . Dieser ökumenische Konsensus kommt in dreifacher Weise zum Ausdruck, nämlich in der unauflöslichen inneren Bezogenheit von Schrift und Tradition, in der organischen M

Nissiotis, Die Einheit 286. Ibd. 284 und 288. 41 Meyendorff, The meaning 51. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Meyendorffs Sicht der westlichen Problematik: „The entire Western ecclesiological problem, since the sixteenth century, turned around this opposition of two criteria, t w o references of doctrinal security, while in Orthodoxy no need for, or necessity of, such a security was ever f e l t . . 42 A. de Halleux, Die orthodoxe Theologie, in: Feiner/Löhrer, Mysterium Salutis I, 981—987, p. 984. 43 S. Bulgakov, The Orthodox Church, London 1936, p. 88—89: „Only the church in its identity with itself can testify to the truth. It is the church, which agrees or not, with the council. There are not and there cannot be, external forms established beforehand for the testimony of the church about itself." — Ähnlich auch Nissiotis, Die Einheit 285. 44 Nissiotis, Bericht 122—123, der allerdings neben einer schwachen Pneumatologie den Versuch kritisiert, das Lehramt als dritte Autorität neben Schrift und Tradition zu etablieren. Cf. zur Beurteilung dieser Obereinstimmung besonders A. Scrima, Révélation et Tradition dans la Constitution dogmatique Dei Verbum selon un point de vue orthodoxe, in: Dupuy, La révélation divine 523—539, p. 528, w o im Hinblick auf diese Verhältnisbestimmung von der inneren Einheit der Realität gesprochen wird. 40

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Einheit der Uberlieferung als traditum und als actus tradendi, der Einheit ihres ontologischen und noëtischen Aspektes, und schließlich der Konvergenz kirchlicher Gestaltwerdung der Tradition mit der Realität und Präsenz der Offenbarung 45 . Tradition ist also nicht nur Überlieferung von Lehre, verbalen Formeln, von Riten und Institutionen, sondern die Kommunikation des Heilsgeschehens im geschichtlichen Leben der Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes. „Die Bibel ist die kristallisierte Form seines Handelns und die Tradition ist das Leben derjenigen, die in historischer Kontinuität von den Gaben des Parakleten leben. Die eine manifestiert die Wahrheit der anderen, sie gehören zusammen, bezeugen das eine Geschehen, nämlich die Gegenwart Christi in und durch den Heiligen Geist in der einen Kirche des trinitarischen Gottes." Die in diesem Sinne verstandene Tradition kann ihrem innersten Wesen nach keinem außer ihr liegendem Kriterium unterstellt werden. Gewißheit in der rechten Auslegung der Bibel gibt es nur „in der gegenseitigen Durchdringung und gegenseitigen Erklärung der Bibel und des Lebens der Kirche als Echo auf die Fülle, die Ganzheit der in Christus gegründeten und vom Heiligen Geist gesammelten und in die Wahrheit geleiteten Gemeinschaft" 46 . Es ist von besonderem Interesse, mit dieser orthodoxen Zustimmung und Kritik die Stimme der ostkirchlichen Theologie zu vergleichen, wie sie innerhalb des Konzils laut wurde. In der Generalkongregation vom 1. 10. 1964 sprach Antonio Gregorio Vuccino über die orientalische Lehre von der Tradition 47 . Eindrücklich wurde von ihm der Zusammenhang zwischen der sich in Raum und Zeit vollziehenden geschichtlichen Überlieferung mit dem innertrinitarischen Leben Gottes herausgestellt. 45 Scrima, Révélation 529. Zum dritten Punkt heißt es: „...convergence enfin de type liturgiques des réalités, qui sginifient et actualisent dans le processus de la Tradition la réalité même de l'économie de Dieu dans sa totalité." Ibd. 532 n. 7 weist Scrima hin auf neuere russische Literatur zum Thema. Cf. ebenso L. Sertorius, Orthodoxe Theologie im 20. Jahrhundert, in: H. Vorgrimler/R. Vander Gucht, Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert, Bd. II, Freiburg/Basel/Wien 1969, p. 163—164. Die Tradition als Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche ist besonders von der russischen Theologie herausgearbeitet worden, während die griechische Theologie mehr auf die protestantische Fragestellung nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition einging und dadurch schon den genuin orthodoxen Denkansatz vernachlässigte. 44 Nissiotis, Bericht 124—125. In dieser Sicht ist die von Leuba, La tradition 488 aufgeworfene Frage (cf. supra 73 n. 6) gegenstandslos oder nicht sachgemäß. Wenigstens kann sie von Leubas eigenen Denkvoraussetzungen her nicht beantwortet werden. Die innere Durchdringung von Bibel und Tradition impliziert zugleich die Kongruenz von traditum und actus tradendi. In diesem Sinne faßt auch Boulgakoff, L'Orthodoxie 37 das innere Verhältnis zwischen Schrift, Kirche und Pneuma: „Comme l'Écriture est donnée à l'Église et qu'elle est donnée par l'Église, on doit la comprendre aussi dans un esprit d'Église, c'est-a-dire liée à la tradition ecclésiastique et non pas dehors d'elle." 47 Die Übersetzung der Rede findet sich bei Hampe, Die Autorität I 117—118.

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Von diesem Ursprung her bilden Offenbarung und Tradition eine unauflösliche Einheit. In überspitzter Weise formuliert Vuccino, die Kirche habe sich immer „auf eine einzige Quelle gestützt, das heißt auf ihr vom Heiligen Geist erleuchtetes und geleitetes eigenes Bewußtsein" 48 . Gemeint ist damit, daß das Wesen der Apostolizität durch die Gegenwart und die Wirksamkeit des Geistes konstituiert wird und die Gemeinsamkeit der Schrift mit der keineswegs historisch abgeschlossenen, sondern vielmehr bis in die Gegenwart fortdauernden apostolischen Tradition durch die Inspiration des Pneumas begründet ist. Noch tiefgreifender waren die Ausführungen des melchitischen Titularerzbischofs von Edessa Neophytos Edelby1''. Er wandte sich polemisch gegen die typisch westliche Gegenüberstellung von Tradition und Schrift, die den orientalischen Kirchen vollständig fremd ist und aus der Verkümmerung der gemeinsamen altchristlichen Überlieferung erklärt werden muß. Ähnlich wie beim Verhältnis zwischen Konsekration und Epiklese und der Beziehung zwischen Primat und Kollegialität ist die Frage nach Schrift und Tradition falsch gestellt, denn „wir dürfen nicht die Sendung des Heiligen Geistes von der Sendung des fleischgewordenen Wortes trennen" Das Ziel aller Exegese besteht darin, „den geschichtlichen Sinn der Heiligen Schrift im Lichte des auferstandenen Christus zu begreifen" 50 . Aus dieser das Werk des Sohnes und des Geistes verbindenden Heilsökonomie ergibt sich ein doppelter Aspekt der Heiligen Schrift als einer liturgischen und prophetischen Wirklichkeit. Der Kanon ist „eine Botschaft und dann erst ein Buch, das Zeugnis des Heiligen Geistes über das Christusereignis, dessen bevorzugter Augenblick die eucharistische Liturgie ist" Es handelt sich deshalb auch hier um keine geschriebene Norm, sondern um „die Konsekration der Heilsgeschichte unter der Gestalt des Menschenwortes, aber untrennbar verbunden mit der eucharistischen Konsekration, in der die ganze Geschichte im Leibe rekapituliert wird" 51 . Zur Konsekration gehört aber auch die Anrufung des Pneumas. „Die Tradition ist die Epiklese der Heilsgeschichte, die Theophanie des Heiligen Geistes, ohne welche die Geschichte unbegreiflich und die Heilige Schrift toter Buchstabe bleibt." 52 Aus dieser Sicht ergeben sich gewichtige Folgerungen für die Auslegung der Heiligen Schrift, die von der Totalität der Heilsgeschichte her erklärt werden muß. Die rettenden Ereignisse und die Gemeinschaft des Gottesvolkes Ibd. 118. Die Ubersetzung der am 5. 10. 1964 gehaltenen Rede ist wiedergegeben bei Hampe, Die Autorität I 119—122. 5 0 Ibd. 119. 51 Ibd. 1 1 9 — 1 2 0 . 52 Ibd. 120. Es handelt sich hier keineswegs nur um eine geistreiche Applikation liturgischer Kategorien auf geschichtliche Sachverhalte, sondern um einen genialen E r klärungsversuch des gesamten Themenkomplexes aus dem Geist altkirchlicher Liturgie. 48

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im alten Bund werden bezeugt durch das Alte Testament. Es folgt das von Christus ein für allemal verwirklichte Heil und die in dieser Offenbarung gegründete Gemeinschaft. Dies ist die „Heilsökonomie des fleischgewordenen Wortes, dessen einzigartige Epiphanie die Schriften des Neuen Testamentes sind" 53 . Im dritten Zeitraum, in dem wir selbst leben, „ist der Heilige Geist persönlich am Werk, um die ganze Geschichte der Heilsökonomie des fleischgewordenen Wortes und die Macht der Auferstehung gegenwärtig zu machen: das ist die Heilsökonomie des Heiligen Geistes oder die Tradition im Zeitalter der Kirche. So sehen wir, daß die Tradition, das heißt die Kirche, während sie die Heilsökonomie des Wortes weitergibt, wesentlich liturgisch ist" Das Wirken des Pneumas ist also unabtrennbar von der Kirche als dem Leibe Christi. Deshalb muß man die Tradition „im Lichte der Sakramentalität der Apostolizität, das heißt des Episkopats, betrachten und vor allem leben. Dieses liturgische und prophetische Zeichen ist auch eine Epiklese der unfehlbaren Glaubenseinheit des Gottesvolkes" 54 . Jedoch so sehr auch die Tradition mit dem Leben der Kirche verbunden ist, bleibt immer der offenbarende Gott auch der verborgene Gott. „Der Osten sagt, die Offenbarung sei zuerst ,apophatisch', das heißt im Mysterium gelebt, ehe sie in Worten vorgetragen wird. Diese apophatische Gegebenheit der Offenbarung begründet für die Kirche den stets lebendigen Reichtum der Tradition." 55 Die lebendige Uberlieferung gewinnt also ihre ständige Kraft aus der unsagbaren Tiefe des Glaubens und der Gegenwart des Heils, das alle möglichen verbalen Explikationen umgreift. „Die Fülle des Mysteriums sprengt nicht nur die Formeln der Theologie, sondern sogar die Grenzen des Buchstabens der Heiligen Schrift." 56 Die Heilige Schrift muß deshalb letzten Endes geistlich, das heißt im Heiligen Geist gelesen werden. Bei ihrer Auslegung geht es nicht nur um historische Kritik oder die Analogie des Glaubens, „sondern weit mehr um den Sinn der Ganzheit des auferstandenen Christus, dessen Zeugnis und Wiederkunft der Heilige Geist in der Kirche immer weiter verwirklicht" 57 . Blicken wir zurück von diesem sowohl pneumatologisch als auch ekklesiologisch geprägten ganzheitlichen Überlieferungsverständnis der Ostkirche auf den Traditionsbegriff der „Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung" und die Offenbarungskonstitution des II. Vaticanums, so läßt sich trotz aller erkennbaren Unterschiede ein weitgehender ökumenischer Konsensus konstatieren. — Es soll nun die Frage 54 Ibd. 121. Ibd. 120. Ibd. 121. — Ober diesen Apophatismus ostkirchlicher Theologie handelt ausführlich Lossky, Die mystische Theologie 31—57. 6 6 Edelby bei Hampe, Die Autorität I 121. " Ibd. 122. 53

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gestellt werden, inwieweit dieses Ergebnis dem frühchristlichen Denken entspricht. Im folgenden Abschnitt wird deshalb das patristische Traditionsverständnis einer eingehenden Darstellung unterzogen.

4. Das Traditionsverständnis Die frühkatholischen

der Patristik

Väter

Versuchen wir nun, das bisher durch eine Analyse des Textes und den Aufweis theologiegeschichtlicher Zusammenhänge und ökumenischer Übereinstimmung gewonnene Verständnis der Aussagen von Dei Verbum über die ganzheitliche und dynamische Uberlieferung mit den Gedanken des Irenäus zu konfrontieren, so können wir uns auf die bei diesem Kirchenvater drei grundlegenden Aspekte des geschichtlichen, des pneumatologischen und des ekklesiologischen Charakters der echten Tradition konzentrieren. Dabei kommt es besonders darauf an, die innere Einheit dieser drei Komponenten zu bedenken und die komplementärsynthetische Methode des irenäischen Denkens genügend zu berücksichtigen. Setzen wir ein bei den ursprünglichen Vermittlern der Offenbarung. Im Gegensatz zu der gnostischen Lehre qualifiziert Irenäus die Tradition der Kirche als apostolisch. Die Berufung auf die Apostel durchzieht wie ein roter Faden das ganze Werk des Kirchenvaters. Die geschichtliche Rolle der Apostel bei der Übermittlung der Offenbarung wird von ihm klar erkannt und immer wieder aufs neue herausgestellt1. Der Herr hat den Aposteln die Vollmacht des Evangeliums gegeben. Durch sie allein lernen wir deshalb die Wahrheit kennen 2 . Aber dieser durch die Apostel vermittelte historische Traditionszusammenhang zwischen Christus und der nachfolgenden Kirche ist nur die eine Seite des wahrhaft apostolischen Erbes. Es genügt nicht, daß der Herr seinen Jüngern nur die Offenbarungskunde weitergibt und damit eine heilsgeschichtliche Kontinuität begründet. Mit dem „vollkommenen Wissen" werden die Apostel erst durch das Pfingstereignis begabt, das sie teilhaben läßt an der Vollkommenheit ihres Meisters3. Die apostolische Vollmacht ist nicht 1 In diesem Zusammenhang können natürlich jeweils nur wenige ausgewählte Zitate als besonders charakteristische Beispiele für einen angedeuteten Gedanken gebracht werden. Zu allen Details cf. Blum, Tradition 162ss, dort auch ausführliche Belegstellen. 2 III praef. (1): Etenim Dominus omnium dedit Apostolis suis potestatem Evangelii, per quos et veritatem, hoc est Dei Filii doctrinam, cognovimus. 3 III 1,1 (2). Hier wird die perfecta agnitio der geistbegabten Apostel ausdrücklich herausgestellt, ähnlich IV 35,2 (274), w o neben der agnitio die perfectio und veritas stehen.

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nur historisch, sondern ebenso pneumatisch bedingt. Geschichtliches Wissen und charismatische Begabung bilden eine unauflösliche Einheit. Die Apostel sind sowohl in einem heilsgeschichtlichen als auch in einem aktuell-pneumatologischen Sinne die Vermittler und Überlieferer der Heilsbotschaft und damit das notwendige Bindeglied zwischen der Offenbarung und der glaubenden Kirche. Die apostolische Tradition ist deshalb Quelle und N o r m aller christlichen Wahrheit 4 . In ihr wird die Offenbarungswirklichkeit an die Kirche weitergegeben. So ist schließlich diese traditio ab Apostolis die gegenwärtige Verkündigung, die in der Kirche überlieferte Offenbarung. Die Paradosis und das Kerygma sind von ihrem Ursprung her gesehen wesenhaft apostolisch, im Hinblick auf ihre aktuelle Funktion aber ebenso kirchlich 5 . Das Kerygma der Apostel, das auf die Offenbarung zurückgeht, transformiert sich in die Verkündigung der Kirche. In ihrer Überlieferung ist die Offenbarung also lebendige, gegenwärtige Wirklichkeit. Die Rolle der Kirche ist nicht nur die des Empfangens, sondern auch des aktiven Weitergebens der Tradition. Die apostolische Urtradition ist in das kirchliche Überliefern und Verkünden so aufgenommen und so eingegangen, daß es sich nur noch in noetischer und bloß historischer Hinsicht um zwei verschiedene Dinge handelt, in Wirklichkeit aber um die innere Einheit der einen Wahrheit, der einen Offenbarung. Die Uberlieferung ist f ü r Irenaus keine autonome Größe, keine Sache für sich, die als von der Kirche unabhängig gedacht werden könnte oder die von der Kirche lediglich als Objekt angenommen und weitergegeben wird. Weder in geschichtlicher noch in sachlicher Beziehung gibt es eine Diastase zwischen der Offenbarungstradition und der Kirche, weil die unauflösliche innere Einheit zwischen beiden durch den Heiligen Geist gewährleistet ist. Der Glaube der Kirche ist nicht nur ein depositum, das in einem bloß historischen und geistesgeschichtlichen Sinne verifizierbar und tradierbar wäre 6 , denn nur durch das Wirken des Heiligen Geistes wird dieses empfangene und weiterzugebende Glaubensgut immer wieder aufs neue belebt und aktualisiert. Dies geschieht aber immer nur im Zusammenhang mit der Kirche, der das Pneuma als Lebensatem und als Kommunikation mit Christus anvertraut ist 7 . Die Vergegenwärtigung der Offenbarung wird 4 Charakteristisch ist für diesen Sachverhalt in III 3,3 (11) die Gleichsetzung z w i schen der ab Apostolis traditio und der veritatis praeconatio. 5 Zur detaillierten Darstellung und den einzelnen Belegen cf. Bengsch, Heilsgeschichte 6 2 — 7 4 ; Flesseman-van Leer, Tradition, Schrift und Kirche 46ss; Blum, Tradition 2 1 4 — 2 1 5 und Brox, Offenbarung 135—167. 6 D e r historische A s p e k t der Tradition kommt zum Beispiel III 4,1 (15) zum Ausdruck durch den Vergleich, daß die Apostel der Kirche die Wahrheit anvertraut haben, w i e ein Reicher sein Geld in einer Schatzkammer anlegt. 7 III 24,1 (131): Praedicationem vero Ecclesiae undique constantem et aequaliter perseverantem, et testimonium babentem a prophetis et ab Apostolis et ab omnibus

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in der Kirche und durch die Kirche vollzogen, weil ihr allein der Geist Gottes gegeben ist. Ubi enim Ecclesia, ibi Spiritus Dei, et ubi Spiritus Dei, illic Ecclesia, et omnis gratia. Spiritus autem Veritas8. Die Offenbarungswahrheit des Kerygmas wird also nicht nur geschichtlich, sondern ebenso audi pneumatologisch und damit ekklesiologisch begründet. Kraft ihres apostolischen und pneumatischen Charakters ist die Kirche Trägerin der Wahrheit, die ausschließlich in ihr zu finden ist9. Sie ist deshalb der Eingang zum Leben10, und wer außerhalb ihrer steht, befindet sich auch außerhalb der Wahrheit 11 , die nichts anderes ist als die gegenwärtige Wirklichkeit der Offenbarung. Diese Interdependenz zwischen Offenbarungstradition, Kirche und Pneuma ist von Irenäus zutiefst heilsgeschichtlich und heilsökonomisch konzipiert. Super omnia quidem Pater, et ipse est caput Christi: per omnia autem Verbum, et ipse est caput Ecclesiae: in omnibus autem nobis Spiritus, et ipse est aqua viva, quam praestat Dominus in se recte credentibus et diligentibus se12. Weil die Kirche Leib des Christus ist13 und er ihr Haupt, wird durch sie die revelatorische Funktion des Logos nach seiner Menschwerdung und Himmelfahrt fortgesetzt. Die Erfüllung des Heilsweges Gottes mit den Menschen verwirklicht sich in der Kirche14. Sie ist das Paradies Gottes auf dieser Erde, der Inbegriff der discipulis. . . quam perceptam ab Ecclesia custodimus, et quae semper a Spiritu Dei quasi in vase bono eximium quoddam depositum iuvenescens, et iuvenescere faciens ipsum vas in quo est. Hoc enim Ecclesiae creditum est Dei munus quemadmodum aspiratio plasmationi, ad hoc ut omnia membra percipientia vivificentur: et in eo disposita est communicatio Christi, id est Spiritus sanctus. Der Gedankengang dieses Abschnittes ist gekennzeichnet von dem Übergang einer historischen zu einer pneumatologischen und von da aus zu einer ekklesiologischen Begründung der Tradition. Die Dominante ist dabei das pneumatische Element. Die Belebung geht nicht, wie Flesseman-van Leer, Tradition, Schrift und Kirche 50 fälschlicherweise übersetzt, von der Verkündigung aus, sondern einzig und allein vom Heiligen Geist, der über das unerläßliche Medium der Kirche der Tradition Leben verleiht. 8 III 24,1 (132). Bei diesem wichtigen Satz ist durchaus die Reihenfolge der zwei richtigen Verhältnisbestimmungen zu beachten. Zur Interpretation des Satzes und zum Verständnis der pneumatischen Kirche bei Irenäus cf. Brox, Offenbarung 61 ss. 9 Belegstellen bei Blum, Tradition 220—221. 10 III 4,1 (15): Cum Apostolis, quasi in depositorium dives, plenissime in eam (sc. Ecclesiam) contulerint omnia quae sint veritatis, uti omnis quicumque velit, sumat ex ea potum vitae. Haec est enim vitae introitus. 11 IV 33,7 (261): Omnes eos qui sunt extra veritatem, id est qui sunt extra Ecclesiam. 12 V 18,2 (374). 13 IV 33,7 (261) wird die Kirdie bezeidinet als t ö (leya xal evöo'Cov aü^ia xoü XQIOTOÖ. 14 IV 34,2 (270) wird zuerst in bezug auf die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung gesagt: Omnia enim ipse adimplevit veniens..., dann heißt es aber weiter: et adhuc implet in Ecclesia usque ad consummationem a Lege praedictum novum Testamentum. — Im Hinblick auf die Verkündigung kommt dies in anderer Weise 88

neuen Schöpfung 1 5 . Wenn die Menschen in ihm versammelt werden, indem sie der Verkündigung gehorchen, geschieht das Werk der Rekapitulation, die pneumatische Erneuerung und die Heimholung in den U r sprung 16 . Christus „faßt alles zusammen", indem er den Menschen mit dem Geist vereinigt, ihm diesen Geist einpflanzt und selbst zum H a u p t des Geistes wird 1 7 . Dieser Heilsweg wird vollendet und kommt an sein Ziel, weil der menschgewordene Logos in sich selbst den Menschen rekapitulierte und sich zum H a u p t der Kirche setzte 18 . Das „unter ein Haupt fassen" heißt nichts anderes, als das ursprüngliche geisterfüllte Leben des Paradieses in der Kirche zu neuem Leben erwecken. So ist mit der Kirche als Leib Christi die fortdauernde Gegenwart der Offenbarung als weitergehende Sichtbarkeit, Erkennbarkeit des Logos und lebendige Manifestation des Vaters gegeben 19 . In heilsökonomischer Betrachtung ist die Kirche weniger christologisch, also von ihrem geschichtlichen Ursprung her gesehen, als vielmehr pneumatologisch vom Wirken dessen her, der in jeder Phase der Offenbarung diese in die Glaubenswirklichkeit transponiert und das vom Logos geschichtlich Geformte animiert. In bezug auf die Tradition der Offenbarung im historischen Sinne ist die Rolle des Heiligen Geistes deshalb nicht nur konsekutiv zu verstehen als bewahrende und aktualisierende K r a f t eines vorgegebenen Objektes. Allein durch das Pneuma wird überhaupt Offenbarung in die Geschichte hinein vermittelt 2 0 . Nicht der Geist resultiert aus dem Historischen, sondern umgekehrt: Das Historische ist Resultat des Geistes. Dies gilt in gleicher Weise für die historische Tradition, für das historische Gebilde der Schrift und für die historische Gestalt der Kirche, die primär als Geschöpf des Pneumas angesehen werden muß. Weder für zum Ausdruck in V 20,1 (378): Et Ecclesiae quidem praedicatio vera et firma, apud quam una et eadem salutis via in universo mundo ostenditur. 15 V 20,2 (379): Plantata est enim Ecclesia Paradisus in hoc mundo 16 V 20,2 (380): ...in quem (sc. paradisum) Dominus inducit eos, qui obediunt praeconio eius, recapitulans in se omnia quae in coelis et quae in terra. 17 Ibd. Haec igitur in semetipsum recapitulatus est, adunans hominem spiritui, et spiritum collocans in homine, ipse caput spiritus }actus est. 18 In dem großen antignostischen Bekenntnis I I I 16,6 (87—88) heißt es: Et hominem ergo in semetipsum recapitulatus est. . et Verbum homo, universa in semetipsum recapitulans . in semetipsum primatum assumens, et apponens semetipsum caput Eclcesiae. 19 Zu dieser Gesamtthematik cf. Ochagavia, Visibile Patris Filius 124ss: „Christ's visibility as kept in the Church." Der pneumatologische Aspekt der Kirche macht es jedoch unmöglich, sie einfach als Fortsetzung der Inkarnation zu betrachten. Ochagavia hätte sich noch mehr gegen dieses mögliche Mißverständnis abschirmen müssen. Die tiefste Kontinuität liegt in der durch das Pneuma gewirkten Offenbarungsgegenwart. 20 Cf. supra 41 das Zitat über die Rolle des Heiligen Geistes aus dem „Erweis", ähnlich auch IV 33,7 (262): .. sententia firma, quae est in Spiritu Dei, qui praestat agnitionem veritatis, qui dispositiones Patris et Filii exposuit.

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die Tradition noch für die Kirche ist der Geist etwas sekundär Hinzukommendes, sondern das Leben selbst, ohne das diese Größen der toten Historie angehören, die wohl noch in der Geistesgeschichte der Menschheit fortwirkt, nicht aber in der Heilsökonomie des trinitarischen Gottes. So bilden für Irenaus der Geist und die Kirche eine unauflösbare Einheit21, zugleich sind aber auch der Geist und das Evangelium Ausdruck der in der Kirche und durch die Kirche fortwirkenden Uber lief erung der Offenbarung 22 . Obwohl Irenäus in außergewöhnlicher Weise die Bindung der Tradition an das einmalige und unüberholbare Heilsgeschehen in Christus betont, um seine Auflösung in den durch und durch ungeschichtlichen gnostischen Mythos abzuwehren, hindert ihn diese Frontstellung nicht, den ganzheitlichen und dynamischen Charakter der Offenbarungsüberlieferung herauszuarbeiten. Dieser liegt für ihn in der innigen Synthese ihres historischen, pneumatologischen und ekklesiologischen Aspektes. Es ist die lebendige Christuswirklichkeit selbst, die in unauflöslichem Bezug zu ihrem geschichtlichen Ursprung in ständiger pneumatischer Vergegenwärtigung durch die Kirche als Wirkstätte und als Geschöpf des Geistes überliefert wird. Dieses ganzheitliche Traditionsverständnis wird ebenso deutlich bei der Bewertung der schriftlichen Form der Überlieferung. Die apostolische Predigt geht zeitlich und sachlich ihrer schriftlichen Fixierung voraus. Es ist aber Gottes Wille, daß später durch die Schriften diese Predigt weitergegeben wird 23 . Ihr Text ist sozusagen imprägniert von der personalen Autorität Christi und der Apostel. Christus selbst ist in ihnen „eingesät" 24 . Daß dies aber keineswegs im Sinne eines bloßen Biblizismus gemeint ist, geht schon daraus hervor, daß Irenäus nicht genau zwischen Evangelium qua Buch und Evangelium qua neuer Heilsordnung unterscheidet. So wird das Evangelium gleichgesetzt mit dem neuen Bund 25 . Wenn die Rede auf die Schriftwerdung des Evangeliums kommt, wird das Buch nicht der Tradition als eigenständige Größe gegenübergestellt, 21 Von den Häretikern wird III 24,1 (132) gesagt: Quapropter qui non participant eum (sc. Spiritum) neque a mammillis matris nutriuntur in vitam, neque percipiunt de corpore Christi procedentem nitidissimum fontem. Wer also nidit am Geist teilhat, hat auch nicht an der Kirche teil, aber ebenso auch umgekehrt. 22 Formelhaft hat Irenäus diesen Zusammenhang ausgedrückt in III 11,8 (47): O T I I X O ; ÖE y.ai ATR|(HYna EXxXTjoiag tö tvayyikwv, xal JIVECUCI ^oiij;. 23 III 1,1 (2 )•.... quod (sc. Evangelium) tunc praeconaverunt, postea vero per Dei voluntatem in Scripturis nobis tradiderunt, fundamentum et columnam fidei nostrae futurum. 24 IV 20,1 (172): . .. inseminatus est ubique in Scripturis eius Filius Dei. Wenn dies auch von dem Alten Testament gesagt ist, gilt es analog audi von den neutestamentlichen Schriften. 25 Zum Beispiel heißt es in III 11,8 (50) vom Evangelium:. . . quartum vero (testamentum), quod renovat hominem et recapitulat in se omnia, quod est per Evangelium, elevans et pennigerans homines in coeleste regnum.

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sondern vielmehr als spezieller Modus der einen apostolischen und evangelischen Überlieferung betrachtet26. Im Zusammenhang mit dem Problem von vier verschiedenen Evangelienbüchern bemüht sich Irenaus, ihre allein vom Pneuma gewährleistete innere Einheit aufzuzeigen27. Nur der Geist kann den Buchstaben zum Leben erwecken und die eine Sache der vielfältigen Zeugnisse in lebendiger Weise zur Sprache bringen. Diese der Überlieferung der Offenbarung innewohnende pneumatische Kraft umgreift und übersteigt alle ihre möglichen schriftlichen oder auch mündlichen Formulierungen, wie sie sich nicht nur in Büchern, sondern auch in den verschiedenartigen Ausprägungen der regula veritatis als der Zusammenfassung des apostolischen Glaubens niedergeschlagen haben. Die Dynamis der Paradosis ist immer ein und dieselbe28. Es ist bedeutsam, daß Irenaus in diesem Zusammenhang, wo es um die innere Einheit und Identität der Überlieferung geht, von der Seele und dem Herz der einen Kirche spricht, die über die ganze Welt zerstreut ist. — In ähnlicher Weise, nämlich von der Realtradition der Offenbarung und vom Glaubenssinn der Kirche her, argumentiert er angesichts der hypothetischen Frage, was geschehen würde, wenn die Apostel nichts Schriftliches hinterlassen hätten. Man müßte dann auf die ältesten Kirchen apostolischen Ursprungs zurückgehen, denn auch die Barbarenvölker glauben auf diese Art und Weise. Ohne Papier und Tinte ist durch den Heiligen Geist ihr Heil in ihre Herzen geschrieben, und sie bewahren sorgfältig die alte Tradition 29 . Zwischen schriftlicher und mündlicher Form der Überlieferung besteht wegen der beiden zugrunde liegenden und in das Glaubensbewußtsein aufgenommenen Realtradition eine vollständige Konsonanz. Wenn auch Irenäus nicht die Begriffspaare einer objektiven und subjektiven, einer passiven und aktiven, einer Verbal- und Realtradition gekannt hat, wie überhaupt seinem synthetischen Denken alle analysierenden und abstrahierenden Distinktionen fremd waren, so sind doch die mit diesen Begriffen gemeinten Sachverhalte voll und ganz bei ihm vorhanden. Im Vergleich zu Dei Verbum sind allerdings die verschie2 8 Zur Analyse der wichtigen Aussage über die Entstehung des Matthäusevangeliums in III 1,1 (2—3) cf. Blum, Tradition 179—180. 27 1 1 1 1 1 , 8 ( 4 7 ) : ó Ttöv ajtävTCüv TExvitrig A ó ^ o ; . . cpav£(Xir9EÌg toig àvdgówtoig, fòcoxev r)[nv TETpàuopcpov rò iùayyéXiov, évi 8e .-ivEtiucm O V V E X Ó J Ì E V O V . Später (48) heißt es dann von diesen Evangelien: èv olg EYXCTÖE^ETOU Xgiaxóg. 2 8 I 10,1 (90—91) wird eine Zusammenfassung des apostolischen „Glaubens" gegeben. Danach wird in I 10,2 (92) die Koinzidenz dieses objektivierten Glaubens mit dem subjektiven Glauben der Kirche auf der ganzen Welt herausgestellt: f) 6iivaiu; t f j ; iraoaòódEcog (ita xal t| avxr\. 2 9 III 4,1—2 (16): Quid autem si neque Apostoli quidem Scripturas reliquissent nobis nonne oportebat ordinem sequi traditionis quam tradiderunt eis, quibus committebant ecclesias? Cui ordinationi assentiunt multae gentes barbarorum eorum qui in Christum credunt, sine charta vel atramento scriptum habentes per Spiritum in cordibus suis salutem et veterem traditionem diligenter custodientes.

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denen Aspekte der Tradition wesentlich stärker pneumatologisch zentriert. In dieser Hinsicht ist die orthodoxe Kritik durchaus berechtigt, daß die Offenbarung und damit auch ihre Vergegenwärtigung in dieser dogmatischen Konstitution eher christologisch-monistisch als volltrinitarisch verstanden werde und der Rolle des Heiligen Geistes eine größere Bedeutung zukommen müsse30. Auch sonst ist die weitgehende Übereinstimmung zwischen Irenäus und der ostkirchlichen Position evident, zum Beispiel auch in der kriteriologischen Fragestellung. Denn was ist für Irenäus der höchste Maßstab und das letztgültige Kriterium für alle Tradition? Die Wahrheit, die Offenbarung selbst! Gegenüber allen abweichenden, häretischen Meinungen stellt er letztlich keine formellen Kriterien auf, sondern behauptet, daß die wahrhaft Gläubigen dem einen wahren Gott als ihrem Lehrer folgen und seine Worte als Regel der Wahrheit besitzen31. Gegenüber allen Irrtümern hat die Kirche nicht weniger und nicht mehr als die Wahrheit selbst zur Regel32. Die regula veritatis kann wohl mündlich oder schriftlich formuliert werden und so einen formellen Charakter erhalten. Als Inbegriff der gesamten Offenbarungswirklichkeit transzendiert sie aber jegliche mögliche Fixierung und wirkt in pneumatischer Selbstmächtigkeit und Selbstevidenz als Maßstab und Kriterium. Fragen wir nach den tiefsten Anliegen des irenäischen Traditionsverständnisses, so ist es sicherlich darin zu sehen, daß die Offenbarung nicht als abgeschlossene historische Größe aufgefaßt wird, der dann auf einer anderen Ebene die Tradition folgt, sondern die Offenbarung ist ihrem Wesen nach Überlieferung in den Raum der Geschichte und des persönlichen Glaubens. Von der Wirklichkeitsmacht der Selbstmitteilung Gottes in Christus wird als Tradition gesprochen33. Die Überlieferung im vollen Sinne ist deshalb nichts anderes als die lebendige Totalität der gesamten Offenbarung, die sich auf dem Wege von mannigfaltigen „Traditionen" den Menschen mitteilt, aber doch von diesen grundsätzlich unterschieden werden muß, weil sie ihnen immer auch Norm und Richtschnur bleibt. Es ist deshalb undenkbar, daß diese Uberlieferung einem außer ihr liegendem Kriterium unterworfen sein könnte. Sie bedarf keiner nachfolgenden Authentifizierung und erklärt sich selbst34. Regula und traditio in ihrem theologischen Sinne sind immer identisch. Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß die Konzeption 30

Cf. Nissiotis, Bericht 123. IV 35,4 (276): Nos autem

unum et solum verum Deum doctorem sequentes, et regttlam veritatis habentes eius sermones, de iisdetn Semper eadem dicimus omnes,... 32 II 28,1 ( 3 4 9 ) : . . . habentes itaque regulam ipsam veritatem ... 31

33 Besonders eindrücklich hat diesen Sachverhalt herausgestellt Bakhuizen van den Brink, La tradition 280 und Bakhuizen van den Brink, Traditio 78. 34 Cf. Bakhuizen van den Brink, La tradition 276 und Bakhuizen van den Brink, Traditio 75.

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des Irenaus von der Überlieferung der Offenbarung repräsentativ und grundlegend für die gesamte Alte Kirche ist 35 . Jedoch hat keiner der Kirchenväter außer Basilius jemals wieder ihre Weite und Tiefe voll zum Ausdruck bringen können. Wohl wurden einzelne Aspekte weiter entfaltet, ebenso kam es aber auch zu beträchtlichen Verkürzungen und Entstellungen, die jedoch die Leistung des Bischofs von Lyon in ein desto helleres Licht rücken. Den wichtigsten Etappen dieser altkirchlichen Problemgeschichte muß hier kurz nachgegangen werden, um der Interpretation von Dei Verbum eine noch breitere Basis zu geben. Bei Tertullian setzt sich das irenäische Erbe fort, wird von ihm aber auch tiefgreifend verkürzt und modifiziert 36 . Ein äußeres Symptom für den Wandel des Verständnisses ist die Anwendung des Wortes traditio im Singular und Plural für kirchliche Einzelüberlieferungen der Disziplin und der liturgischen Gebräuche37. Die Tradition ist also nicht mehr wesenhaft und ganzheitlich auf die Offenbarung bezogen. — Neben diese Aufsplitterung tritt eine Formalisierung. Die historische Überlieferungskorrektheit und die zeitliche Priorität der Tradition gewinnt jetzt das Übergewicht über ihre kerygmatische Selbstmächtigkeit 38 . Die Uberlieferung wird zum bloßen Traditionsgut. Sie verliert den Charakter des gegenwärtig gesetzten Offenbarungsinhaltes. Auch für die regula als Ausdruck des Gesamtinhaltes der Offenbarungswahrheit schiebt sich die Idee der korrekten Uberlieferung in den Vordergrund. Vom lebendigen Subjekt der Tradition wird die Gemeinschaft der Gläubigen deshalb zur „Kirche der authentischen Regel" 3 9 . Was von Irenäus primär pneumatologisch konzipiert wurde, wird von Tertullian weitgehend auf die Ebene des Historisch-Empirischen verlagert. Dieses pragmatische Traditionsverständnis hat sich in vollendeter Form im Beweisgang von De praescriptione haereticorum niedergeschlagen. Gegenüber dem häretischen Schriftgebrauch ergibt sich die Kompetenzfrage cui competat possessio scripturarum*0, und daraus resultiert die andere Frage cui competat fides ipsa, cuius sunt scripturae4,1. Eine Antwort wird in den beiden Prozeßeinreden gegeben, die die vollstän3 5 Bakhuizen van den Brink, op. cit. spürt dieser Konzeption bis ins dritte J a h r hundert nach. Eine ausgesprochene Problemgeschichte, die die ganze Alte Kirdie umfaßt, bleibt bis heute ein dringendes Desiderium. Cf. zuletzt zum Thema O. Castren, Ober den Begriff der Traditionsgebundenheit, StTh 91 (1967), 182—202, p. 190ss. 3 6 Cf. zu diesem Thema G. G. Blum, Der Begriff des Apostolischen im theologischen Denken Tertullians, KuD 9 (1963), 102—121. 3 7 Zu den Belegstellen und zur Diskussion der Literatur cf. Blum, Der Begriff 111. 3 8 Charakteristisch ist der Satz in Adversus Marcionem IV 5; C S E L 47, ed. A. Kroymann 4 3 0 , 1 1 : id verius quod prius, id prius, quod ab initio .. . 3 9 Adversus Valentinianos 4 ; C S E L 47, ed. A. Kroymann 181,2. 4 0 pr. 15; C S E L 70, ed. A. Kroymann 20,9. 4 1 pr. 19; Kroymann 23,5.

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dige Tradierung der fides-disciplina sowohl zwischen Christus und den Aposteln als auch zwischen den Aposteln und den von ihnen gegründeten Gemeinden erweisen. Die übrigen Kirchen haben an der apostolischen Tradition teil, indem sie mit den apostolischen Urkirchen in Gemeinschaft stehen42. In diesen formal-logischen und rationalistischen Gedankengängen waltet ein nüchterner Pragmatismus, im gewissen Sinne sogar ein historischer Kritizismus. Die Kirche ist nicht mehr primär eine pneumatische Größe, sondern wird empirisch verstanden als eine Summe von Einzelgemeinden. Obwohl sich bei Tertullian auch Reflexe des überkommenen ganzheitlichen und dynamischen Traditionsverständnisses finden, ist die Überlieferung für ihn nicht mehr in erster Linie pneumatische Präsenz der Offenbarung, sondern wird in ihrem Wesen von einem nachweisbaren historischen Kausalnexus her begründet43. Der Heilige Geist steht deshalb in einer auffallenden Distanz zu den konkreten historischen Gegebenheiten der Kirche. Im Zuge der historischen Argumentation kann von seiner Rolle vollständig abgesehen werden44. Dementsprechend werden auch die Bischöfe nicht als Geistbegabte, sondern als Gewährsmänner einer historischen Überlieferung verstanden. Diesem Traditionspragmatismus wird schließlich auch die Schrift eingeordnet. Rechtmäßiger Besitzer der Schrift kann nur der sein, der die historisch verifizierbare apostolische Glaubensüberlieferung besitzt. Ubi enim apparuerit esse veritatem disciplinae et fidei Christianae, illic erit veritas et scripturarum et expositionum et omnium traditionum Christianarum45. Nach Tertullians Übertritt zum Montanismus werden dann die letzten Konsequenzen seiner Anschauung in voller Schärfe deutlich. Die sich im Leben der Kirche konkretisierende Geschichtswirklichkeit der Offenbarung steht in einer unüberbrückbaren Diastase zum Wirken des Pneumas. Dem rationalistischen Traditionsempirismus entspricht der von geschichtlichen Bindungen weitgehend gelöste Geistbegriff46. 42 Die Verbindung zwischen Apostolizität und Katholizität findet ihren klassischen Ausdruck in pr. 21; Kroymann 24,25: Itaque tot ac tantae ecclesiae una est illa, ab apostolis prima, ex qua omnes. Sic omnes primae et apostolicae, dum una omnes. 43 Im Hinblick auf eine Aussage wie die in pr. 37; Kroymann 4 7 , 2 : . . . ea regula . . . quam ecclesiae ab apostolis, apostoli a Christo, Christus a Deo tradidit bemerkt Bakhuizen van den Brink, Traditio 71: „Gott kann also das Subjekt von tradere sein: das Verbum bedeutet dann offenbaren und das Substantiv traditio: göttliche Offenbarung." Dieses echt theologische Verständnis, das Tertullian von seinen Vorgängern übernimmt, wird jedoch von ihm selbst wieder zunichte gemacht durch seinen rationalistischen Pragmatismus. Für Tertullian dürfte also das Urteil von Bakhuizen van den Brink nidit zutreffen. 44 Cf. die erstaunliche Argumentationsmethode in pr. 28; Kroymann 34,2. 45 pr. 19; Kroymann 23,8. 46 Ober das montanistische Geistverständnis Tertullians in De pudicitia 21, das keineswegs als ein Neuansatz zu verstehen ist, sondern der schon vorher vorhandenen

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In der aus der montanistischen Zeit stammenden Schrift De Corona militis gibt Tertullian ein praktisches Beispiel dieses rational-pneumatologischen TraditionsVerständnisses. Es wird hier die Frage gestellt nach der Legitimität von überkommenen Bräuchen, wie zum Beispiel den Riten bei der Taufe und Eucharistie, die nicht in der Schrift belegt sind. Die Gültigkeit dieses kirchlichen Brauchtums beruht auf consuetudo und consensus. Diese traditio kann nicht auf einen apostolischen Ursprung zurückgeführt werden; es ist aber nötig, ihre ratio zu durchschauen47. Der vernünftige Grundsatz für solche Sitten besteht darin, daß es jedem Gläubigen erlaubt ist, etwas zu konzipieren und zu konstituieren unter der Voraussetzung, daß es Gott entspricht, der Kirchenzucht dienlich ist und das Heil fördert 48 . Ob diese Bedingungen erfüllt sind, ist nur durch die Zustimmung der Gläubigen zu erfahren. Letzter Grund für diese Entscheidung ist der Heilige Geist. Audi der Apostel hat von sich aus Anweisungen gegeben, hatte aber den Geist Gottes, der ihn in alle Wahrheit leitete. Deshalb beruhte sein Rat auf einer ratio divina*9. Die echte, dem genuin altkirchlichen Traditionsverständnis entsprechende Alternative zu dieser auf den ersten Blick so einleuchtenden pragmatisch-geistlichen Konzeption ist nicht etwa die Fiktion apostolischer Originalität, sondern jene Überlegung, mit der Hippolyt und später Basilius die innere Verbindung zwischen kirchlichen Sitten und Gebräuchen und der Offenbarungstradition herstellen. Bedeutsamer für die Entwicklung des Traditionsverständnisses als Tertullian ist Hippolyt50. Wie bei Irenaus haben wir es auch bei ihm mit der theologischen Konzeption einer apostolischen Gesamttradition zu tun, die allerdings an einem wichtigen Punkte ein neues Element enthält. Ohne einer verhängnisvollen Zersplitterung und Nivellierung anheimzufallen, wird nun auch der ganzheitlich-pneumatologische Überlieferungsgedanke auf das kirchliche Leben mit seinen liturgischen, verfassungsrechtlichen und disziplinären Bereichen in Anwendung gebracht. Deutlicher als bei Irenäus kommt jetzt zum Ausdruck, daß auch das praktisch-kirchliche Leben die eine Offenbarungswirklichkeit überliefert. Die von Hippolyt verfaßte Kirchenordnung ist von ihm als materiale Struktur des theologischen Denkens bei Tertullian entspricht, cf. Blum, Der Begriff 115ss. 4 7 er. 4 ; C S E L 70, ed. A. Kroymann 1 5 9 , 2 — 4 : Rationem traditioni et consuetudini et fidei patrocinaturam aut ipse perspicies, aut ab aliquo qui perspexerit disces. 4 8 er. 4 ; Kroymann 1 6 0 , 3 1 — 3 3 : An non putas omni fideli licere concipere et constituere, dumtaxat quod deo congruat, quod diseiplinae conducat, quod saluti proficiat. 4 9 er. 4 ; Kroymann: 160,39—40 heißt es, daß der Apostel Anweisungen gibt, a semetipso, scilicet et ipse spiritum dei habens deduetorem omnis veritatis. 5 0 Cf. G. G. Blum, Apostolische Tradition und Sukzession bei Hippolyt, Z N W 55 (1964), 9 5 — 1 1 0 .

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Konkretisierung der einen und einzigen OfFenbarungstradition konzipiert. Die traditio quae permansit usque nunc, auf die im Prolog Bezug genommen wird 51 , ist nichts anderes als die traditio ab Apostolis. Diese wird aber nun nicht vordergründig pragmatisch-historisch verstanden, so daß die Versuchung auftauchen könnte, ihre einzelnen Bestimmungen in der Weise der späteren pseudoapostolischen Literaturgattung durch die Fiktion ihres direkten apostolischen Ursprungs zu legitimieren. Ungeachtet ihrer grundsätzlichen Beziehung zum Heilsgeschehen der Vergangenheit ist die Tradition im Verständnis Hippolyts eine aktuellpneumatische Wirklichkeit, die der vollkommenen Gnade des Heiligen Geistes zum rechten Verständnis bedarf 52 . Am Schluß seiner Kirchenordnung räumt Hippolyt ausdrücklich die Möglichkeit ein, die apostolische Uberlieferung nicht vollständig wiedergegeben zu haben. Ja, es kommt ihm gar nicht auf eine solche Vollständigkeit oder auch auf eine historische Verifikation an, denn Gott wird das, was ausgelassen ist, den Gläubigen offenbaren! 53 Es geht also gar nicht um die Konservierung alter kirchlicher Gebräuche im Namen eines dogmatischen Prinzips, sondern um die Aufnahme der kirchlichen Lebenswirklichkeit in die ebenso historische wie auch pneumatologische Konzeption der apostolischen Tradition. Wie sehr dieses Verständnis zugleich auch ekklesiologisch bedingt ist, zeigt sich andeutungsweise daran, daß alle Gläubigen, also nicht nur die Amtsträger, kraft ihres pneumatischen „Würdigseins" berufen sind, die apostolische Uberlieferung zu bewahren und in ihrer Gegenwart zu aktualisieren 54 . Zusammenfassend könnte man vielleicht die innere Tendenz der Auffassung Hippolyts dahingehend charakterisieren, daß sie zutiefst von der Überzeugung einer ganzheitlichen und dynamischen Realtradition der Offenbarungswirklichkeit durchdrungen ist, die in absoluter Bindung an ihren historischen Ursprung sich im gegenwärtigen Leben der Kirche pneumatisch expliziert. Geraten einmal kirchliche Sitten und Gebräuche in den Zwiespalt der Kontroverse, liegt immer die Gefahr nahe, die pneumatische Tiefendimension der Offenbarungstradition durch einen kurzschlüssigen historischen Positivismus verkümmern zu lassen, der auch in einen ekklesiologischen umschlagen kann. Im Ketzertaufstreit geht es um zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Gepflogenheiten beim Ubertritt eines Sek5 1 E . Hauler, Didascalia Apostolorum fragmenta Veronensia Latina, Leipzig 1900, p. 101,5. 5 2 Hauler 1 0 3 , 1 0 — 1 3 . 5 3 In der koptischen Fassung der Kirchenordnung heißt es, cf. W . T i l l / J . Leipoldt, Der koptische Text der Kirchenordnung Hippolyts, T U 58, Berlin 1954, p. 4 5 : „Wenn wir nur einiges ausließen, unsere Geliebten, (so) wird es Gott den Würdigen offenbaren." 5 4 Zur Terminologie des „Würdigseins" cf. Blum, Apostolische Tradition 100.

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tierers in die Großkirche. Der römische Bischof Stephan beruft sich auf die consuetudo seiner Gemeinde, die von Häretikern gespendete Taufe anzuerkennen, und er deklariert diesen Usus als maßgebliche apostolische Überlieferung 55 . Gegenüber diesem römischen Traditionalismus verhält sich Cyprian ausgesprochen kritisch. Ihm geht es nicht um herkömmliche Sitten, seien sie auch noch so alt und ehrwürdig, sondern immer um die Wahrheit. Wenn kirchliches Brauchtum auf Irrtum beruht, wird es auch nicht wahr durch sein Alter 56 , denn es ist durchaus möglich, daß die veritas der consuetudo entgegensteht57. Es entspricht nun dem Denkcharakter des kirchlichen Praktikers, daß diese traditionskritische Wahrheit zunächst einmal historisch-biblisch begründet wird. Die evangelische und apostolische Tradition konkretisiert sich für Cyprian allein in der Schrift. In allen strittigen Fragen wird man deshalb in ihr die richtige Antwort finden58. Die traditio, auf die sich Cyprian im Ketzertaufstreit beruft, ist für ihn auch immer biblisch belegbar 59 . Dodi denkt der Bischof von Karthago hier keineswegs im modernen Sinne fundamentalistisch. Die unabdingbare Voraussetzung dieses Verfahrens ist die innere Einheit zwischen der origo dominica und der evangelica et apostolica traditio. Im Rückgang auf diesen Ursprung wird die aktuelle ratio gewonnen60. Der Irrtum verschwindet und die ratio der himmlischen Mysterien wird erkennbar 61 . 55 Cyprian referiert die Argumente Stephans, der sich einfach auf die consuetudo beruft (ep. 73,13; Härtel 787,8ss) oder den Grundsatz vertritt: . . . quod accepimus ab apostolis hoc sequimur" (ep. 73,13; Härtel 787,18—19) und darauf besteht, nihil innovetur nisi quod traditum est (ep. 74,2; Härtel 800,7—8). — Zitiert wird nach der Ausgabe von G. Härtel, S. Th. C. Cypriani opera omnia, CSEL I I I 1—3, Vindobonae 1868—1871. 56 ep. 74,9; Härtel 806—23—24: Nam consuetudo sine ventate vetustas erroris est. 57 Bischof Felix, ein Gefolgsmann Cyprians, äußert sich in folgender Weise, cf. Sententiae episcoporum de haereticis baptizandis 63; Härtel I 456: In haereticis sine ecclesiae baptismo admittendis nemo consuetudinem rationi et ventati praeponat, quia consuetudinem ratio et veritas Semper excludit. 58 ep. 4,1 ; Härtel 473,6ss wird zum Beispiel mit alttestamentlichen Belegen gegen das Syneiseaktentum Stellung genommen: Scias, nos ab evangelicis et apostolicis traditionibus non recedere, in ep. 67,5; Härtel 739,7 gegen eine unreguläre Bischofswahl: Propter quod diligenter de traditione divina et apostolica observatione servandum est et tenendum . .. und in ep. 63,1; Härtel 701,13ss geht es um den Gebrauch des Weines bei der Eucharistie: evangelicae veritatis et dominicae traditionis tenere rationem nec ab eo quod Christus et praecepit et gessit humana et novella institutione decedere 59 ep. 74,2; Härtel 800,8s fragt er seine Gegner: unde est ista traditio? utrumne de dominica et evangelica auctoritate descendens an de apostolorum mandatis adque epistulis veniens? ea enim facienda esse quae scripta sint Deus testatur Es folgen Schriftbelege. 60 ep. 74,10; Härtel 808,15—17: ...et ad originem dominicam et ad evangelicam adque apostolicam traditionem revertamur et inde surgat actus nostri ratio unde et ordo et origo surrexit. 61 ep. 74,10; Härtel 808,1—4: nam si ad divinae traditionis caput et originem rever-

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Die biblischen Zeugnisse enthalten also eine ratio und eine veritas, die den Gegenwartsbezug und den inneren Zusammenhang des gesamten Schriftinhaltes in seiner Zuspitzung auf den rettenden Heilsglauben ausmachen. Dieser für die aktuelle Problematik gültige Skopus der Schrift konkretisiert sich nun aber für Cyprian hauptsächlich in der Einheit der Kirche, die für ihn einen wesentlichen Aspekt der Offenbarungswirklichkeit darstellt. Das Band der kirchlichen Gemeinschaft steht auf einer Wirklichkeitsebene mit dem Gottes- und Christusglauben62. Jegliches Schisma muß ebenso wie die Anerkennung der Ketzertaufe notwendigerweise gegen die wahrhafte apostolische Tradition verstoßen63. Weil für Cyprian die Einheit der Kirche in der Person des Petrus effektiv symbolisiert und repräsentiert ist und in der Nachfolge dieses Apostels durch den Gesamtepiskopat der Kirche verwirklicht wird 64 , darf keine partikulare Sitte, und sei es die Roms, eine universalkirchliche Gültigkeit beanspruchen. Die ratio und veritas des Ursprungs, die echte apostolische Tradition, ist nie an eine einzelne Gemeinde gebunden, sondern vielmehr immer der Gesamtkirche anvertraut. Wie man auch immer zu der Sachproblematik des Ketzertaufstreites stehen mag, die an dieser Stelle nicht erörtert werden kann, so war doch diese Auseinandersetzung für Cyprian die Gelegenheit, selbst mit den ungenügenden Mitteln biblisch-historischer Argumente einen wichtigen Aspekt der Totaltradition in das kirchliche Bewußtsein zu erheben. Schon Irenaus hatte die Meinung vertreten, daß ein liturgisches Brauchtum nicht von Rom her für alle übrigen Gemeinden als verbindlich erklärt werden könne, ohne jedoch die grundsätzliche Bedeutung dieser für ihn mehr praktisch-geistlichen Regel erkannt zu haben65. Die

Alexandriner

Will man bei den alexandrinischen Vätern die besondere Eigenart des ihnen gemäßen Uberlieferungsgedankens erfassen, muß man von der Gnosis, dem Zentralbegriff ihres theologischen Denkens ausgehen. tamur, cessat error humanus et sacramentorum caelestium ratione perspecta

quidquid

sub caligine ac nube tenebrarum obscurum latebat in lucem veritatis aperitur. 6 2 ep. 74,11; H ä r t e l 808,18—22: traditum est enim nobis quod sit unus Deus et Christus unus et una spes et fides una et una ecclesia et baptismum unurn non nisi in una ecclesia constitutum, a qua (unitate) quisque discesserit cum haereticis necesse est inveniatur, quos dum contra ecclesiam vindicat, sacramentum divinae traditionis inpugnat. 6 3 ep. 46,1; H ä r t e l 604,10—12: D i e N o v a t i a n e r handeln contra Dei dispositionem, contra evangelicam legem, contra institutionis catholicae unitatem. — ep. 69,3; H ä r t e l 752,14—15 heißt es von N o v a t i a n : qui evangelica et apostolica traditione contempta nemini succendens a se ipso ortus est. 8 4 In De catholicae ecclesiae unitate 4 ; H ä r t e l I 212,8ss wird diese Konzeption dargelegt. 8 5 In seinem Beridit über die Passahstreitigkeiten exzerpiert Euseb H E V 24 einen

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Während f ü r Klemens der Glaube die Bekehrung vom Heidentum zu dem einen Gott bewirkt, vollzieht sich dann ein immer wachsendes Verständnis des im Glauben Ergriffenen, das schließlich in der vollkommenen Liebe und in der Gottesschau seine Erfüllung findet 66 . In der Gnosis als Wachstums- und Reifestufe der Pistis auf dem Wege zur Agape ist ein starkes intellektuelles Moment enthalten, denn sie ist immer auch ein Wissen des Heils. Gleichwohl kann sie nicht einfach mit Weisheit gleichgesetzt werden. Die Gnosis bezieht sich nämlich nicht nur auf formulierbare Aussagen. Sie ist immer auch Ausdruck christlichen Gehorsams, der echten Glaubensverwirklichung sowohl im Denken als auch im Leben. Im Unterschied zu Glaube und Liebe, die totaliter aktuellpneumatisch aufgefaßt werden, wird die Erkenntnis „durch die Gnade Gottes aufgrund der Überlieferung weitergegeben und denen, die sich der Lehre würdig erweisen, wie ein Unterpfand anvertraut" 6 7 . Es ist also das Proprium der Gnosis, daß sie überliefert wird, weil sie dem geschichtlichen Raum des Denkens und des Lebensvollzuges angehört. Letztlich geht es ihr nicht um religiöse Meinungen, sondern um Christus als den „Urgrund aller Lehre" 68 , der selbst der Führer in der Gnosis sein will. Diese von Christus selbst gewirkte Erkenntnis ist nichts anderes als die im Denken und Leben aktualisierte Offenbarung, deren Medium die prophetischen und apostolischen Schriften darstellen 69 . Bei der wahrhaften Uberlieferung geht es deshalb immer um die rechte Schriftauslegung, die von Anfang an eine innere Einheit mit dem Inhalt der Schrift bildet. Die „göttliche Paradosis" ist immer den menschlichen Lehren derjenigen konfrontiert, die „die von den seligen Aposteln und Lehrern in Ubereinstimmung mit den von Gott eingegebenen Worten überlieferten Lehren" nicht annehmen oder absichtlich fälschen 70 . Als echter Gnostiker Brief des Irenaus an den römischen Bischof Victor. Aus diesem Schreiben geht hervor, daß Irenaus dem Brauchtum Roms gegenüber der quartadezimanischen Passahsitte keine größere Verbindlichkeit zuerkannte, o b w o h l er in A d v . haer. III 4,1 (15) den R a t geben k o n n t e : Et si de aliqua modica questione disceptatio esset, nonne oportet in antiquissimas recurrere ecclesias, in quibus Apostolis conversati sunt et ab eis de praesenti quaestione sumere quod certum et se liquidum est. " Diese grundlegenden Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Pistis, Gnosis und Agape finden sich in Strom. V I I 5 5 — 5 7 . — Zitiert wird nach der Ausgabe Clemens Alexandrinus, Bd. II Stromata Buch I — V I , 3. ed. O . S t ä h l i n / L . Friichtel, G C S 52, Berlin 1960 und Bd. III Stromata Buch V I I und V I I I etc. ed. O . Stählin, G C S 17, Leipzig 1909. D i e übersetzten T e x t e stammen teilweise v o n O . Stählin in B K V 17—20, München 1 9 3 6 — 1 9 3 8 . 67 Strom. V I I 55,6; Stählin 41,3—6. • 8 Strom. V I I 95,3; Stählin 6 7 , 1 6 — 1 9 : „ D e n n zu eigen haben wir tr)V ¿QXT|V tri; öi&aaxaXla^." 69 Strom. V I I 95,3; Stählin 67. Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, d a ß mit den Propheten, dem Evangelium und den Aposteln weniger die entsprechenden Teile der H e i l i g e n Schrift gemeint sind als die aufeinanderfolgenden Phasen des 70 Offenbarungsgeschehens. Strom. V I I 103,5; Stählin 73,7ss.

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kann nur derjenige gelten, der sich ständig mit der Heiligen Schrift beschäftigt, zugleich aber auch an den rechtgläubigen apostolischen und kirchlichen Lehren 71 festhält und ebenso nach den Geboten des Evangeliums lebt. Sein ganzes Leben, seine Werke und seine Worte sollen der Überlieferung des Herrn entsprechen. Wir haben es hier mit einem umfassenden Paradosisbegriff zu tun, in dem der Inhalt der Schrift, die Verkündigung der Kirche und der gelebte Glaube eine innere Einheit bilden. Der Gnostiker zeichnet sich durch drei Fähigkeiten aus, die in ihrem Zusammenspiel die Weite und Dynamik der Paradosis ausmachen: Das Erkennen, das Vollbringen und das Uberliefern der Geheimnisse der Wahrheit 72 . Mit der Wirklichkeit des Glaubens ist die Wirklichkeit der Kirche eine wesentliche Bedingung für die Integrität der Überlieferung. Gegenüber den zahlreichen Konventikeln und Sekten seiner Zeit wird Klemens nicht müde zu betonen, daß es eine zuverlässige Gnosis nur in der wahren und alten Kirche gibt 73 . Der Einheit und Einzigartigkeit der Kirche entspricht die Ausschließlichkeit der Lehre aller Apostel und der einen und einzigen Überlieferung 74 . Eine unsachgemäße Auslegung und Überlieferung der Heiligen Schrift liegt vor, wenn man sie nicht nach dem Wahrheitskanon ausdeutet 75 . Dieser Kanon der Wahrheit ist aber identisch mit dem „kirchlichen Kanon", der die innere Einheit der Schrift gewährleistet 76 . Die gnostische Paradosis und die gnostische Wahrheitsregel ist also immer ganz und gar von der Kirche her verantwortet und von ihr geprägt. Zwischen der wahrhaften Gnosis und der kirchlichen Lehre besteht für Klemens kein Unterschied 77 . Obwohl Klemens in ähnlicher Weise wie Irenaus den größten Wert 71 Strom. VII 104,1; Stählin 73,16—17: TT|V AJTOATOXIXI]V xai sxxXriaiaarin^v öoOoxouiav xcöv ÖOY|xaxcov. 7 2 Strom. VII 4,2; Stählin 5,8: tot itaga rfj &XT)ÖEÜJ: £mxExgu|j.HEva jtupa/.a|j.ßdv£iv. 7 3 Strom. VII 92,3; Stählin 65,20—21. Von der wahren und alten Kirche ist auch Strom. VII 107,3 die Rede. 74 Strom. VII 106—108 handelt Klemens eindrücklich von dem Beziehungsverhältnis zwischen der einen Kirche und der wahren Oberlieferung, um dann 108,1; Stählin 76,22—24 alle Häretiker mit der Feststellung zurückzuweisen: uia yao [f|] jtävTGJV YIYOVE TOJV dnoaxoXcov &ANEQ öifiaoxa/äa, OUTCO? 6E xal [r|] jtapäSoaig. 75 Strom. VI 124,5; Stählin/Früchtel 494,29: x a t a TÖV Trjq d?.r|deia; xavova. Vorher, in 124,4 hieß es: „Denn ein anvertrautes, Gott zurückzugebendes Gut ist das Verständnis und die sorgfältige Pflege der frommen Uberlieferung entsprechend der durch die Apostel des Herrn vermittelten Lehre des Herrn." 76 Strom. VI 125,2—3. Die in der inneren Einheit der Schrift beschlossene Offenbarungswahrheit ist gemeint, wenn es heißt (Stählin/Früchtel 495,5—7): xctvcbv ÖE Exx/.riaiacmxog R| at)vcp6ia xai T) AUNcmy.r]v jiapaöomv.

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immer auf dem Wege einer kontinuierlichen, ununterbrochenen Überlieferung von Christus über die Apostel bis in die Gegenwart 82 . Die Organe dieser pneumatisch-geschichtlichen Paradosis sind aber nicht wie bei Irenäus die kirchlichen Amtsträger, sondern eine Kette von Lehrern, die bis auf die Apostel zurückgeht und in der von Generation zu Generation der apostolische Glaube tradiert wird 83 . Für Klemens ist sein persönlicher Lehrer Pantainos das letzte Glied in dieser Art von apostolischer Sukzession 84 . Das wichtigste Bindeglied zwischen den Aposteln und der nachfolgenden Kirche ist für ihn wahrscheinlich Barnabas gewesen85. Sicherlich wäre Klemens auch in der Lage, eine Liste von Tradenten aufzustellen, nur würde es sich dann nicht um eine amtliche Sukzession handeln, sondern um die Nachfolge von Pneumatikern und gnostischen Lehrern. Im Vergleich zu Irenäus haben wir es hier wahrscheinlich sogar mit dem älteren und ursprünglicheren Sukzessionsgedanken zu tun. Daß Klemens die Amtsnachfolge nicht berücksichtigt, hat keine ekklesiologischen Gründe, sondern hängt einfach mit seiner spezifischen Sicht der Offenbarungsüberlieferung als Realtradition zusammen. Die Lehrtradition ist der Öffentlichkeit zugänglich und muß deshalb von einem kirchlich legitimierten Amt bewahrt und weitergegeben werden, während die Realtradition von den Geistergriffenen und geistlich Begnadeten weitergeführt wird. Dabei braucht das eine das andere nicht auszuschließen. Bei allen Spannungsmöglichkeiten wäre es hier völlig abwegig, antithetisch zu denken. Irenäus und Klemens vertreten an diesem Punkte lediglich zwei verschiedene Aspekte des Sukzessionsgedankens, die aber beide in der ganzheitlichen und dynamischen Konzeption der Offenbarungsüberlieferung konvergieren. Eine kritische Divergenz zu Irenäus und dem altkirchlichen Traditionsdenken überhaupt dürfte sich aber an einer anderen Stelle ergeben. Fragt man nämlich nach dem Inhalt der Uberlieferung, so ergibt sich, 82 Strom. V I 6 1 , 1 — 3 : Christus ist selbst die Weisheit, die in der gnostischen Oberlieferung gegenwärtig ist. Die Paradosis dieser Gnosis ist aber undenkbar ohne Sukzession, ibd. 6 1 , 3 ; Stählin/Früchtel 4 6 2 , 2 8 — 3 0 : -f) vvtöoiq öe aürr) [rj] •KO.xä öiaöoxöt; elg ö?.I70UG kv. TMV ditooioXtav ¿YQACPIOG jtaQaöoftelaa xaTeXriXiidev. 8 3 Strom. I 1 1 , 2 — 3 ; Stählin/Früchtel 8,20—9,3. Nach der Schilderung von mehreren Lehrern, denen er wesentliche Erkenntnisse verdankte, fährt Klemens fort: „Jene Lehrer aber, die die wahre, unmittelbar von den heiligen Aposteln Petrus und Jakobus, Johannes und Paulus stammende Überlieferung der seligen Lehre unversehrt bewahrten, indem immer ein Sohn sie von seinem Vater übernahm kamen in der Tat mit Gottes Hilfe auch zu uns, um jene von den Vätern ererbten und apostolischen Samenkörner (in uns) niederzulegen." 8 4 In Strom. I 11,2 spricht er von ihm als von der „sizilischen Biene, die aus den Blumen der prophetischen und apostolischen Wiese Honig sog". 8 5 Barnabas wird im 7. Buch der Hypotyposen als Apostelschüler angesehen, cf. Euseb H E II 1,5. — In Strom. V 63 wird die allegorische Schriftauslegung des Barnabasbriefes als apostolische Tradition beansprucht.

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daß Klemens unter ihm nicht nur die Heilswahrheit versteht oder eine spezielle Hermeneutik, sondern eine komplette gnostische Wissenschaftslehre, die eine Kosmogonie und Physiologie miteinschließt86. Klemens geht es um die „wahre Philosophie", um den von der Vernunft erfaßten und durchdrungenen Glauben, für den auch das Wissen und die Beweisführung von höchster Bedeutung sind87. Diese „wahre Philosophie" ist nichts anderes als ein typisch alexandrinisches System spekulativer Theologie, in dem alle zeitgenössischen Fragen und Probleme von geistigem Belang aufgenommen sind. Die Paradosis wird so zu einem Programm des fides quaerens intellectum. Die Dynamik des Traditionsprozesses ist wesentlich bestimmt durch seine intellektuelle Virulenz. Ebenso wie in der vollendeten Gnosis, der auf der Offenbarung beruhenden vollkommenen Philosophie, die eschatologische Grenze zwischen Glauben und Schauen zu verschwinden droht, steht auch die Überlieferung der Offenbarung in Gefahr, sich in bloße Theologie aufzulösen. Irenäus hatte noch einen klaren Unterschied gemacht zwischen der Glaubensregel und dem theologischen Bemühen, diese logisch und spekulativphilosophisch zu artikulieren und zu explizieren. Gerade die Vielzahl und die Verschiedenartigkeit der Theologien zeigten ihm ihre Relativität gegenüber der ihnen vorgegebenen Tradition 88 . In Alexandria wird diese Distanz zwischen Paradosis und Theologie nicht mehr deutlich genug gesehen. Auch bei Origenes stoßen wir auf den gleichen Sachverhalt. In seinem dogmatischen Hauptwerk De principiis führt Origenes aus, daß es eine öffentliche Heilsverkündigung der Apostel gegeben hat, die mit dem kirchlichen Kerygma identisch ist und deren Hauptthemen in einer Liste aufgeführt werden89. Die gedankliche Ausarbeitung und die 8 6 Strom. I 1 5 , 2 ; Stählin/Früchtel 1 1 , 1 2 — 1 7 skizziert Klemens den inhaltlichen U m f a n g dieser durch die Wesensschau (e:tojmxT| decopia) vermittelten Gnosis: „Deshalb wird sie (sc. meine Schrift, die Stromata) nach dem berühmten und erhabenen K a n o n der Paradosis fortschreiten, wobei wir von der Entstehung der W e l t ausgehen wollen; sie wird das vorausschicken, was von der Naturlehre zuerst durchgenommen werden m u ß . " Dieses Verfahren dient der x a g a ö o x r i v t r i ; yvwcmxfig j i a g a ö ö a E c o ; (Stählin/Früchtel 1 1 , 1 8 — 1 9 ) . D a ß es sich hierbei nicht nur um eine theologische P r o pädeutik handelt, geht eindeutig aus Strom. I V 3 , 2 ; Stählin/Früchtel 249,11 hervor. Die Ejtojrreia x a t a TÖV TF)5 äXTy&EIAG '/.U/.r|ÖELva YVCDEMXFJG .-laoaöoaecug muß von der Kosmogonie ausgehen, um von hier aus zu der Theologie aufzusteigen. 8 7 In Strom. II 4 8 , 1 ; Stählin/Früchtel 1 3 8 , 1 7 — 1 8 heißt es prägnant und programmatisch: JIICJTT] 6E T| yvcooi; rixi; a v e£r| E:ruaTT||j.o\axfj an66ei|ig x&y x a t a tr|v dXr|dfj cptAoaocpiav jtaoaöiöo|i£vc)V. Ähnlich der Schlußsatz des 5. Buches Strom. V 1 4 1 , 4 ; Stählin/Früchtel 4 2 1 , 1 6 — 1 8 : „So soll also auch der fünfte Teppich unserer gnostischen Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie abgeschlossen sein." 8 8 C f . A d v . haer. I 10,3 ( 9 4 — 9 7 ) . Von der Ttjg juatECog ¿Jtööeaig werden hier eine Reihe von theologischen Themen, wie z. B. die Kosmogonie oder die allegorische Auslegungsmethode unterschieden, die sich dann auch wieder bei den alexandrinisdien Vätern finden. 88

De principiis, ed. P. Koetschau, G C S 22, Leipzig 1913, I praef. 4 — 1 0 ; 9 , 1 2 — 1 6 ,

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Beweisgründe für diese apostolische Tradition sind aber der fortschreitenden Forschung weniger Geistbegabter vorbehalten. Ihre Arbeit dient dem ausführlichen Schriftbeweis und der Systembildung durch den Aufweis einer inneren Sachlogik90. Der durch die Tradition vorgegebene und in der Schrift enthaltene materiale Gehalt der kirchlichen Predigt bedarf einer intellektuell-geistlichen Transformation, die nur dem theologisch Gebildeten und pneumatisch Begnadeten möglich ist. So stehen immer den öffentlich verkündigten und von allen geglaubten Sätzen die „verschwiegenen Lehren" gegenüber, die nur den Eingeweihten zugänglich sind91. Wie bei Klemens liegt auch bei Origenes diese Esoterik darin begründet, daß die eigentliche Sache der Schrift, sozusagen ihre unter dem Literalsinn verborgene Essenz, erst durch Interpretation gewonnen werden kann, die im engsten Zusammenhang mit einem geistlichem Geschehen steht. Tradition ist für Origenes Interpretation, jene Bewegung nämlich vom Leib der Schrift zu ihrer Seele und zu ihrem Geist, zu ihrem moralischen und pneumatischen Sinn92. Für diesen Vorgang hat die kirchliche Glaubensregel, der „kirchliche Kanon", in Verbindung mit der apostolischen Sukzession93 im wörtlichen Sinne eine grundlegende Bedeutung. Wie bei Irenaus ist auch bei Origenes dieser Kanon nichts anderes als das, was die Kirche von Anfang an glaubte und überlieferte als Quintessenz aller Lehre und Verkündigung. Dabei handelt es sich nicht in erster Linie um einzelne Glaubensartikel, sondern um die fides quae creditur in ihrer 15. Im griechischen Fragment des Abschnittes 10 wird zum Beispiel gesagt, daß êv x ö xriptr/ixcm x a l TÒ elvai t i v a ç àyytXovç ... naoaôéôoxat. Die Schöpfung der Engel, ihr vorzeitlicher Fall und andere spekulative Ausführungen gehören jedoch nicht in dieses überlieferte Kerygma. Ein anderes Beispiel wird in De prin. II 1,1 (Koetschau 195,4—5) angeführt: ènei ôè êv xo) xT]où"/|j.axi xo) ky.xXr\aiaOTiy.(ò jreoiéxExcu ó JtegL JCQÎCTECOÇ ôixaiaç deoù Xôyoç, Kerygma entsprechen an anderen Stellen die Synonyme Kanon, Logos und Dogmata. Belege bei Hanson, Origen's Doctrine 91 ss. 8 0 Cf. De prin. I praef. 3 und 10. — Ausführliche weitere Belege für diese Esoterik des Origenes bei Hanson, Origen's Doctrine 7 4 — 8 1 . 9 1 In einem Fragment über Prov. 24,6 in M P G 17,225 ist die Rede von exacrtov òóyna xrjç "/.adoXixfjç x a i àjcoaxo/.iy.fiç èxxXrjaiag. In einem Fragment zum Hohenlied 4,3,4 in M P G 17,272 werden den t à itejtiaxeufiéva die aicojtiónEva òóy\iaxa gegenübergestellt. 92 Zur Hermeneutik und zur Worttheologie des Origenes sind hier besonders die drei grundlegenden Untersuchungen zu nennen: M. Harl, Origene et la fonction révélatrice du Verbe incarné, Paris 1958, R . P . C . Hanson, Allegory and event. A study of the sources and the significance of Origen's interprétation of scripture, London 1959 und R . Gögler, Zur Theologie des biblisdien Wortes bei Origenes, Düsseldorf 1963. 93 De prin. IV 2,2 (Koetschau 3 0 8 , 1 5 — 1 6 ) : Origenes wendet sich hier gegen diejenigen, die die Sdirift nur buchstäblich, nidit aber geistlich verstehen. Dieser Fehler kann vermieden werden, wenn man sich gemäß der Sukzession der Apostel an den Kanon der himmlischen Kirche Jesu Christi hält: èxouévoiç X où xavôvoç tfjç Iriaoï Xçuaxoî) x a x à ôiaôoxriv xùv axoazóXiav oùocmou Èxx/.r^a'iaç.

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wesenhaften Gesamtheit. Dieser Glaube transponiert sich in der Gegenwart in das Kerygma, die lebendige Tradition und Predigt der Kirche. Er ist nicht identisch mit der Schrift, bildet aber auch keine von ihr unabhängige Offenbarungsquelle, er ist vielmehr die durch Allegorese gewonnene aktuelle Heilswahrheit, die mit dem Ursprung der Offenbarung übereinstimmt 94 . Es entspricht dieser Konzeption, daß unter den im Vorwort zu De principiis angeführten Fundamentalartikeln der Überlieferung auch der zweifache Sinn der vom Heiligen Geist inspirierten Schriften enthalten ist, womit wahrscheinlich die buchstäbliche und die mystische Bedeutung gemeint sind. Liegen diese Anschauungen auf der von Klemens vorgezeichneten Linie, so weicht Origenes von seinem Vorgänger ab, insofern er bewußt an bestimmten Punkten seiner mystisch-spekulativen Theologie den kirchlichen Kanon überschreitet 95 und auf den Anspruch einer ganzheitlichen Identität verzichtet. H a t t e Klemens wenigstens noch die ungebrochene Einheit zwischen der Glaubensregel und ihrer theologischen Explikation postuliert, um dadurch die Ganzheit des Überlieferungsgehaltes und des Traditionsprozesses zu wahren, gerät Origenes hier in einen tiefen Zwiespalt zwischen der kirchlichen Orthodoxie und seinem intellektuell-theologischen Uberbau, dessen Symptome in den später so heftig umkämpften origenistischen Sonderlehren in Erscheinung treten. Dieser für Origenes so typische Dualismus ist letztlich darauf zurückzuführen, daß im eklatanten Unterschied zu Klemens ihm die geschichtliche Dimension der Uberlieferung verlorengegangen ist. Das, worauf es ihm eigentlich ankommt, seine spirituell-intellektuelle Explikation des kirchlichen Glaubensgutes, bedarf keiner überlieferungsgeschichtlichen Legitimation durch eine Tradentenkette von Lehrern oder Amtsträgern, denn sie ist auf dem unmittelbaren Wege der Interpretation sozusagen durch Überspringen der Zeitdifferenz zwischen der einmal geschehenen Offenbarung und ihrer Gegenwärtigsetzung gewonnen. Origenes war davon überzeugt, daß aus dem wissenschaftlichen Studium der Bibel eine Gesamtschau des Heils entsteht, die jenseits des Verstehenshorizontes des simplen Gläubigen liegt, der sich lediglich an die Glaubensregel hält. 94 Zur ausführlichen Darlegung dieses Sachverhaltes cf. Hanson, Origen's Doctrine 97—98. Zu vergleichen sind hierzu auch die eingehenden Untersuchungen theologischer Zentralbegriffe wie Dogma, Kerygma, Kanon etc. bei F. H. Kettler, Der ursprüngliche Sinn der Dogmatik des Origenes, Berlin 1966, p. 4ss und 17ss. »5 Contra Celsum V 18—19, ed. P. Koetschau GCS 3, Leipzig 1899, 19—21 begegnet Origenes dem Einwand des Celsus gegen die Auferstehung des Fleisches, daß diese nur von den einfachen Menschen geglaubt werde, während die Gebildeten seiner eigenen spirituellen und mystischen Erklärung (Koetschau 20,16—17: ¿JTOQQT|T6V ti xui |j.ucmx6v) folgen würden, die sich auf 1. Kor. 15 berufen könne. Schon I 7 (Koetschau GCS 2,59—60) hatte er einen scharfen Unterschied zwischen der vulgären und der vergeistigten Form des Glaubens konstatiert.

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Ebenso war Orígenes davon überzeugt, daß schon Jesus und die Apostel dieses spirituelle Verständnis einem kleinen Kreis von Eingeweihten mitgeteilt hat, aber zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht keine kontinuierliche Lehrtradition. Die wesenhafte Identität des Ursprungs mit dem Heute ist rein aktualistisch-pneumatologisch verstanden 96 . Diese in der frühen Kirche völlig neuartige und singulare Konzeption ist im tiefsten Grunde auf ein spiritualisiertes Offenbarungsverständnis zurückzuführen. Die tatsächliche Geschichte der Offenbarung steht zumindest in Gefahr, sich in zeitlose und ewig gültige Allegorie aufzulösen 97 . Das biblische Wort wird weitgehend enthistorisiert und vom wirklichen Geschehen abstrahiert, weil nur dem ewigen Logos, aber nicht dem fleischgewordenen, eine zentrale revelatorische Funktion zukommt 98 . Die Inkarnation ist nicht mehr Erfüllung aller Offenbarung, denn sie wird auf eine bloß isagogische Bedeutung reduziert. Die Schrift wird deshalb nicht als Zeugnis der Heilsgeschichte verstanden, deren Mittelpunkt die Menschwerdung des Logos darstellt, sie ist vielmehr verborgene Offenbarungsrede des ewigen Wortes, das sich in seine literarische Form und irdische Sprachgestalt hinein erniedrigt, um auf dem Wege über diese heilsökonomisch notwendige Adaption alle sinnhaften Hüllen pneumatisch zu transzendieren. Nicht die Menschwerdung, sondern die Sprachwerdung des ewigen Wortes war das tiefste Anliegen des Origenes. Die Inkarnation konnte deshalb für ihn nur als eine Art von Durchgangsstation für das eigentliche Sprach- und Interpretationsgeschehen fungieren 99 . Von dieser Prämisse her mußte das Problem der geschichtlichen Uberlieferung der Offenbarung gegenstandslos werden. Gleichwohl konnte der große Alexandriner auf der untersten Ebene seines theologischen Systems der überkommenen Glaubensregel noch eine Daseinsberechtigung einräumen, so daß seine Theologie aufs Ganze gesehen nicht den Boden kirchlicher Rechtgläubigkeit unter ihren Füßen verlor. Ein sicheres Indiz für diesen Sachverhalt ist die relativ große Bedeutung, die er einer institutionellen Überlieferung zumißt. Kirchliche Gebräuche wie zum Beispiel die Wendung nach Osten und das Knien beim Gebet, die Weise die Eucharistie zu feiern oder der Gang der Taufliturgie werden von allen beobachtet, ohne daß auch alle ihren wahren Sinn verstehen, „gemäß der Art, mit der sie von dem großen 96 Diese Konsequenz ist zu ziehen aus dem von Hanson, Origen's Doctrine 87ss dargelegten Sachverhalt. " Dies hat in jüngster Zeit in Auseinandersetzung mit H . de Lubac besonders scharf Hanson, Allegory herausgearbeitet, cf. besonders ibd. 362ss. 9 8 C f . Harl, Origéne 336ss. Es ist das besondere Verdienst dieser Arbeit, die Hermeneutik des Origenes von seinem Inkarnationsverständnis her gesehen zu haben. " C f . Gögler, Zur Theologie 299ss das Kapitel „Das biblische Wort — Inkarnation des ewigen Wortes". „Der Logos in Jesus" (259—260) hat für diese Art von Inkarnation seine zentrale Bedeutung verloren.

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Hohenpriester seinen Söhnen überliefert und anvertraut wurden" 1 0 0 . Noch deutlicher kommt dieser Aspekt der Paradosis zum Ausdruck im Kommentar zu den Proverbien, wo neben dem Wort der Schrift die ungeschriebenen Traditionen kirchlichen Brauchtums angeführt werden 101 , nicht als Supplemente des Schriftinhaltes, sondern als Kontext, Ausdrucksmittel und Modus der einen apostolischen Uberlieferung, die auch aus dem besteht, was Jesus ohne Schrift und ohne Worte seinen Jüngern anvertraute 102 . Diese zuerst von Hippolyt erkannte wichtige Komponente einer ganzheitlich verstandenen Tradition fand dann aber erst bei Basilius ihre eigentliche theologische Würdigung. Athanasius von

Alexandria

Die von der alexandrinischen Schule geschaffenen Ansätze für die Konzeption einer ganzheitlichen Überlieferung werden von Basilius bei seiner Auseinandersetzung um die Gottheit des Heiligen Geistes aufgegriffen und weiter fortgeführt. Faßt man die gesamte dogmengeschichtliche Entwicklung des vierten Jahrhunderts ins Auge, so gehört der Kampf des großen Kappadoziers um die göttliche Wesensgleichheit des Pneumas zu jenem weitläufigen Prozeß der Rezeption und der Interpretation des Bekenntnisses von Nicäa. Fragt man nach der Begründung der gegensätzlichen Positionen, so ergibt sich der bemerkenswerte Sachverhalt, daß die von Arius herkommenden Theologen allein die Schrift oder eine historisch fixierte Tradition ins Feld führten, während die Vertreter der im späteren Sinne kirchlichen Rechtgläubigkeit sich mit der Schrift ebenso auf die bis in die Gegenwart reichende und von den Vätern von Nicäa bezeugte lebendige Uberlieferung beriefen 103 . Diese verschiedene Beurteilung von Offenbarung und Überlieferung in ihrem Verhältnis zur Schrift ist schon in den polemischen und apologetischen Schriften des Athanasius erkennbar. In dem im Jahre 350 verfaßten Brief zur Verteidigung des in Nicäa formulierten Glaubens, ins1 0 0 Homilie zu Numeri V 1 in: Homilien zum Hexateudi in Rufins Übersetzung ed. W . A. Baehrens, G C S 30, Leipzig 1921, p. 26,14ss. Mit den Söhnen des Hohenpriesters sind wahrscheinlich die Bischöfe gemeint. 1 0 1 In einem Katenenfragment zu Proverbia 1,8 in M P G 17,157 heißt es: itatpog (AEV olhoijouev Xöyoxig xfjs r@anaxoç jtaoa&éômxE . . SS X X 4 2 e ; M P G 3 2 , 1 6 0 D ; Pruche 4 2 6 ist im Hinblick auf dieses T h e m a die Rede von x à xfjç d e o X o y i a ; ÔÔYjxaxa. 1 2 2 Die innere Einheit der Taufe als Ritus, Glaubensinhalt und Glaubensakt k o m m t zum Ausdruck SS X 2 2 a ; M P G 3 2 . 1 1 3 A ; Pruche 3 3 6 : „Es ist der gleidie Schaden, ohne Taufe zu sterben oder etwas angenommen zu haben, das von der P a r a dosis abweicht"; ähnlich auch SS X 2 2 b ; M P G 3 2 , 1 1 3 C ; Pruche 338. Folglich kann die Taufe SS X V 2 9 d ; M P G 3 2 , 1 3 2 A ; Pruche 368 bezeichnet werden als jiapâôooiç xfj; OsoYvcoaiaç. 1 2 3 SS X 2 0 e ; M P G 3 2 . 1 1 2 A ; Pruche 3 3 2 heißt es: „Wenn aber der H e r r bei der

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der Taufe, von ihrem Ritus und ihrer Homologie 1 2 4 . Das Dogma ist der diesen rituellen und verbalen Ausdrucksformen zugrunde liegende Glaubenssinn, der nicht durch eine bloße Handlung oder Formel absolut fixiert oder garantiert werden kann. Beim Dogma geht es um die eigentlich gemeinte Sache und ihren sich nur durch den Glauben eröffnenden Wesensgehalt. Insofern ist das Dogma immer vom Kerygma unterschieden, dem notwendigerweise eine öffentliche und explikative Fixiertheit eignet 125 . Damit kommen wir zu den zentralen Aussagen des X X V I I . Kapitels von De Spiritu Sancto über das Verhältnis von Kerygma und Dogma, die uns zugleich über das Traditionsverständnis des Basilius Aufschluß geben. Es muß zunächst einmal in Erstaunen setzen, wenn es dort heißt: „Eine Sache ist das Dogma, eine andere das Kerygma. Über jenes schweigt man, die Kerygmen werden hingegen veröffentlicht." 1 2 6 Beim Dogma handelt es sich also im Gegensatz zum Kerygma um eine verborgene Größe, die weiterhin durch die folgende Bemerkung charakterisiert wird, daß eine Form der Verschwiegenheit die Undeutlichkeit sei, „deren sich die Schrift bedient, indem sie den Sinn der Dogmen zum Vorteil der Lesenden schwer zugänglich macht" Diese auffallende Behauptung und überhaupt die Tatsache, daß jetzt das Dogma mit der Schrift und mit dem Schweigen in Verbindung gebracht wird, muß zuerst einmal aus der polemischen Situation des Traktates verstanden werden. Die Pneumatologie seines Gesprächspartners Paradosis der rettenden Taufe den Jüngern deutlich den Auftrag gab, alle Völker auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen, und dabei die Gemeinschaft mit dem Geist nicht unter seiner Würde h i e l t . . . " — Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang ausgesprochen ibd. 2 1 a ; M P G 3 2 , 1 1 2 A ; Pruche 3 3 2 : „Wenn jedoch der Herr bei der Taufe den Heiligen Geist sich um dem Vater nicht verbunden hätte . . . " 124 P . Smulders, Le mot et le concept de tradition chez les pères grecs, R S R 40 ( 1 9 5 1 / 5 2 ) , Mélanges Jules Lebreton I I 4 1 — 6 2 macht darauf aufmerksam, daß von Cyrill von Jerusalem, Gregor von Nyssa und Basilius der Begriff der Paradosis durchweg auf das Taufbekenntnis angewandt wird, cf. p. 45 und 5 8 — 5 9 die entsprechenden Belege. Damit ist im Vergleich zum zweiten Jahrhundert eine Spezialisierung eingetreten, während der ursprüngliche Begriffsinhalt von Paradosis jetzt mehr durch die Worte Dogma und Mysterium gedeckt wird. Hier scheint auch für Basilius der äußere Anlaß gelegen zu haben, dem Begriff des Dogmas einen neuen theologischen Inhalt zu geben. 1 2 5 In dem 373 Eustathius vorgelegten Glaubensbekenntnis ep. 125,1; Courtonne I I 3 1 , 1 6 — 2 2 wird zwischen dem Buchstaben und der inneren Intention (ôiâvoia, v o ï ç ) des Nicänums unterschieden. Es liegt hier eine Analogie zu der Differenzierung zwischen Dogma und Kerygma vor. Es ist deshalb kaum zutreffend, wenn Pruche, Basile (1. ed. 1947) 198 n. 1 vom Dogma spricht als „la doctrine ,courante' de l'Église" und Amand de Mendieta, The pair Kerygma and Dogma 139 das Dogma lediglich als eine theologische Doktrin betrachtet. 1 2 6 S S X X V I I 55e; M P G 3 2 . 1 8 9 B ; Pruche 4 8 4 : aXXo yàç ôôyucc, xai ä U o Kr|Qt>Y|J.a, T 6 [ I È V yà.Q aiautärai, x à ôè X T ) Ç T ) Y [ J . A T U Ô T ] N O A I E I J E T A I .

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und Opponenten basierte nämlich auf dem mit einem vordergründigen Rationalismus gekoppelten Sola-Scriptura-Prinzip 127 . Eustathius lehnt es entschieden ab, über den Buchstaben und historischen Literalsinn der Schrift hinauszugehen und andere als biblische Bezeichnungen für den Heiligen Geist zu gebrauchen. Er möchte die Diskussion ausschließlich mit Schriftbeweisen führen, während er „das ungeschriebene Zeugnis der Väter" als wertlos zurückweist 128 . Dieses Verfahren ist für Basilius gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Fundamente des Glaubens an Christus und die apostolische Uberlieferung. Seine Konzeption einer ungeschriebenen Paradosis, die an mehreren Stellen seiner Abhandlung in Erscheinung tritt 129 , wird im X X V I I . Kapitel in ihrem Verhältnis zum Dogma und Kerygma näher erläutert 130 . Beide können sowohl aus der geschriebenen Lehre als auch aus der ungeschriebenen Überlieferung 131 stammen. „Von den in der Kirche beobachteten Dogmen und Kerygmen haben wir manche aus der schriftlich festgehaltenen Didaskalia, andere haben wir aus der Paradosis der Apostel empfangen, sie wurden uns im Mysterium überliefert. Beide haben für das Glaubensleben die gleiche Bedeutung." 132 Es geht hier also nicht in erster Linie um das Verhältnis von Schrift und Tradition, sondern um die Doppelbeziehung zwischen Kerygma und Dogma zu der geschriebenen und der 127 Zur Gesprächssituation cf. B. Prudie, Autour de traite sur le Saint-Esprit de Saint Basile de Césarée, RSR 52 (1964), 204—232, p. 207ss und Gribomont, Esotérisme 26ss. 128 SS X 21c; M P G 32,112C; Pruche 334: xrjv aygacpov xcov naxEgwv (iapxupiav o'jg oijöevog á | í a v «noiteujióuEVOL. Speziell richtet sich die Polemik gegen die von Basilius vertretene Doxologie „Ehre sei dem Vater samt (HEXÓ) dem Sohne mit (aiiv) dem Heiligen Geist". Cf. SS X X V I I 57d; M P G 32,193D; Pruche 490: „Sie hören nicht auf, überall im Lande zu schreien, der Lobpreis ,mit dem Geist' sei á^ápTupov xai äygarpov." 129 Programmatisch in SS I X 19a; M P G 32,108A; Pruche 322: Die Vorstellungen (ewoia) über den Heiligen Geist sollen erhoben werden E X TCÜV Tpacpcüv und E X XFJG äypacpou nagadóaeojg rä>v jiatéocov. 130 Erwähnenswert ist die von Gribomont, Esotérisme 48 vorgetragene Hypothese, daß Basilius erst bei der Redaktion seines Traktats in Kapitel X X V I I das Begriffspaar Dogma-Kerygma einführte, um seine Unterscheidung zwischen der Schrift und der ungeschriebenen Paradosis vor Mißverständnissen zu schützen. 131 E. Amand de Mendiéta, The .Unwritten' and ,Secret' Apostolic Traditions in the theological thought of St. Basil of Caesarea, SJTh Occasional Papers N o . 13, Edinburg/London 1965, p. 39 weist aufgrund einer detaillierten Untersuchung darauf hin, daß mit aygaqpog auf keinen Fall ,mündlich', sondern ,nicht in der Schrift enthalten' gemeint sei. 132 SS X X V I I 54d; M P G 32,188A; Pruche 478—480: Ttöv EV xfj ' E x x ^ m q i jtEqpiAavuévcov Sovuáxcov xai xrigvY(iáxcov xä [.IEV EX xfj; éyygáfpov 6iöacrxa>ia; É'xoftEV, xa dé EX tf¡s xäiv ánoaxókwv jiagaóóaEwg 6ia0oftévxa r)uív év [maxriptcp jtagEÓElánEda • cíitep á|icpóx£Qa xr)v aijtriv laxvv e'XEI Jtoóg xf]v Euaeßeiav. Das xa |IÉV — xa ÖE besagt, daß das Dogma ebenso wie das Kerygma auf beiderlei Art und Weise überliefert sein kann. Zur Interpretation und ihrer Geschichte cf. Gribomont, Esotérisme 23 und 48.

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ungeschriebenen Überlieferung. Gegenüber dem Scripturismus seiner Kontrahenten, die sich ausschließlich auf wörtliche Aussagen der Schrift berufen, verteidigt Basilius leidenschaftlich die nichtschriftliche Paradosis, die für den Glauben von großer Bedeutung ist 133 . Die Leugnung der „Satzungen der Kirche" und ihrer „ungeschriebenen Bräuche" läuft auf eine Beeinträchtigung des Evangeliums hinaus und auf eine Reduktion des Kerygmas auf seinen bloßen Namen 1 3 4 . Die Vorstellung einer ungeschriebenen Paradosis ist nun eng verbunden mit dem Begriff der Mysterien, die im engeren Sinne die christlichen Sakramente bezeichnen, darüber hinaus aber auch andere liturgische Riten und Gebräuche 135 . Von der ungeschriebenen apostolischen Paradosis gilt, daß sie èv ^vat^picp geschieht, also auf dem Weg der Sakramente und des liturgischen Brauchtums 136 . Das eine Mysterium der Gegenwart des Heils und des Glaubens ist in der Kirche verborgen und wird vermittelt durch ihr gottesdienstliches Leben. Aufgrund der zahlreichen von Basilius angeführten Beispiele können wir drei Arten ungeschriebener Überlieferung unterscheiden, die in einem je verschiedenen Verhältnis zum Kerygma und Dogma stehen. Liturgische Riten wie das Gebet nach Osten, das eucharistische Weihegebet und die mit der Taufe verbundenen Sitten wie die Absage an den Satan und die Segnung des Wassers und des Öles haben alle teil an kerygmatischer Öffentlichkeit und Fixiertheit, obwohl sie ungeschrieben sind und aus einer „verschwiegenen und mystischen Paradosis" 1 3 3 S S X X V I I 57a; M P G 32,193A; Prudie 488: Basilius fordert hier seine Gegner auf, Schriftbelege für die Homologie anzuführen, wenn sie sdion die von ihm vertretene Doxologie als nicht sdiriftgemäß ablehnen. Grundsätzlich steht aber für ihn fest: TOOOÜTCOV övtcov &yQ&