Offenbarung: Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie 9783666567056, 3525567057, 9783525567050

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Offenbarung: Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie
 9783666567056, 3525567057, 9783525567050

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Studium Systematische Theologie

Band 2

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gunther Wenz

Offenbarung Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-56705-7

© 2005 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Text & Form, Garbsen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einleitung ...................................................................................................

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1. Zur Geschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland .......................................................................................

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2. Offenbarung als neuzeitspezifischer Begriff .........................................

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3. Das lange 19. Jahrhundert: 1789–1914/18 .........................................

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4. Die Unbegreiflichkeit der Sünde .........................................................

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5. Die Unvordenklichkeit des Seins ........................................................

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6. Die Transmoralität der Religion .......................................................... 108 7. Die kulturprotestantische Synthese ..................................................... 131 8. Das kurze 20. Jahrhundert: 1914/18–1989/91 ................................... 151 9. Historismus und Antihistorismus ....................................................... 171 10. Die Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung .................................. 195 11. Die Krise der Dialektischen Theologie ................................................ 216 12. Von der Zwiespältigkeit der Offenbarung ........................................... 235 13. Existentielle Fraglichkeit und Mut zum Sein ....................................... 257 14. Entwicklungstendenzen nachdialektischer Theologie seit 1945 .......... 271 Register ....................................................................................................... 279

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Einleitung

Gemessen an der Religionskritik, die auf sie folgSubjektivität als Epocheninte, wirken die religionstheoretischen Konzepte dex der Neuzeit der sog. Sattelzeit der Moderne nicht nur erstaunlich aktuell und anschlussfähig für gegenwärtige Analysen, sie geben sich untereinander auch als einheitlicher zu erkennen als dies im direkten Vergleich erscheinen mag. Das gemeinsame Grundparadigma bildet bei allen gegebenen Differenzen das Verständnis von Subjektivität als dem Epochenindex der Neuzeit. Subjektivität und Selbstbewusstsein werden dabei indes keineswegs zu evidenten Größen erklärt, die sich von selbst verstehen. Ihr Status gilt vielmehr als in hohem Maße aufklärungsbedürftig. Dabei wird dem religiösen Verhältnis übereinstimmend eine unveräußerliche Bedeutung für den Prozess der Bildung selbstbewussten Seins in der Welt zuerkannt. Religion gehört wesentlich zur conditio humana und ist mit guten Vernunftgründen als anthropologisches Universale zu behaupten. Der Mensch ist eine Entität sui generis. Sein Wesen lässt sich nicht nach der Seinsart der Din- Ich und Welt ge bestimmen. Zwar ist menschliches Dasein ein Sein in der Welt, zu der auch die Dinge gehören; doch ist das Weltverhältnis des Menschen von kategorial anderer Art als alle Verhältnisse, wie sie in der Dingwelt begegnen. Denn der Mensch verhält sich, indem er sich zu den Dingen der Welt verhält, simultan zu sich selbst. Seiner selbst inne, weiß er sich in der Welt von dieser zugleich unterschieden. Das Selbstverhältnis des Menschen ist mit seinem Personsein zwar nicht einfachhin gleichzusetzen, von diesem aber auch nicht zu trennen. Denn der Personalität der eigenen Person inne zu werden und „Ich“ sagen zu können, ist ohne selbstreferentielle Subjektivität nicht denkbar. Subjekte sind selbstbezügliche Entitäten, die sich als solche wissen und in ihrem Personsein für sich erschlossen sind: Die Seinsart von Subjekten ist diejenige personalen Selbstbewusstseins. Die Selbstbeziehung sich wissender Subjekte ist ein unleugbares, aber schwer aufklärbares Datum. Sein Gegebensein lässt sich allein aus Weltzusammenhängen heraus nicht angemessen verstehen, da es deren Wahrnehmung immer schon zugrunde liegt. Der Mensch ist weltoffen, insofern er jede gegebene Welt zu transzendieren vermag. Das impliziert, dass der Mensch den Grund seiner selbst in der Welt nicht zu finden vermag. Wohl steht er unveräußerlich in leibhaften Weltbezügen, die seine körperliche Genese und den Erhalt seiner sinnlichen Existenz betreffen. Doch lässt er sich auch in diesen Bezügen nicht auf objektiv Gegebenes redu-

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Einleitung

zieren, sondern ist als seiendes Subjekt ein Dasein für sich, welches sich zu sich selbst verhält. Für sich seiend und sich zu sich selbst verhaltend ist der Mensch über das Seiende hinaus. Die Subjektivität des Menschen lässt sich aus keiIntersubjektivität ner in der Dingwelt vorfindlichen Objektivität angemessen begründen. Aber auch auf die Interaktionen personaler Kommunikation kann Subjektivität nicht monokausal zurückgeführt werden. Zwar ist unter empirischen Entwicklungsgesichtspunkten betrachtet Intersubjektivität die Bedingung dafür, dass sich Subjektivität als selbstreferentielles Wissen, also als Selbstbewusstsein überhaupt ausbilden kann; realexistierendes Sichwissen in Gestalt individuellen Selbstbewusstseins ist allemal eine soziale Größe, die sich auf solipsistische Weise nicht fassen lässt. Gleichwohl impliziert Intersubjektivität, wie der Begriff selbst dies besagt, Subjektivität auf konstitutive Weise. Personale Verhältnisse sind ohne Selbstverhältnisse der in Beziehung tretenden Personen nicht zu denken. Ich muss mich selbst als Ich wissen können, um im Anderen ein Du zu erkennen, das selbst ein Ich ist. Das ist durch die unstrittige Tatsache nicht in Abrede gestellt, dass der Gebrauch von Personalpronomina vorfindliche Sprachvollzüge voraussetzt, die es ermöglichen, Wörter zu gebrauchen und sprechen zu lernen. Es ergibt sich damit ein differenzierter Befund, der gleichwohl als ein Zusammenhang wahrzunehmen ist: Sprachliche Kommunikation hat das Selbstverhältnis von Sprachsubjektiven zur impliziten Voraussetzung. Intersubjektivität ist zwar nicht die Folge einer äußeren Beziehung, in die solipsistische Subjekte eintreten, ohne durch diese wesentlich bestimmt zu sein. Aber Subjektivität ist ebenso wenig ein bloßes Funktionsmoment von Intersubjektivität. Selbstbeziehung und Beziehung zu Anderen kann nur in einem und aus einem Zusammenhang heraus begriffen werden. Entsprechendes gilt für den Bezug von Selbst- und Weltverhältnis. Obwohl stets und unhintergehbar Dasein in der Welt, ist das menschliche Selbstbewusstsein aus Weltbezügen nicht ableitbar, weil in diesen immer schon vorausgesetzt. Zwar ist In-der-Welt-Sein keine externe Bestimmung des Ich, sondern eine Bestimmung seiner internen Strukturiertheit, wofür die Leibhaftigkeit des Menschen ein Primärindiz ist. Dennoch ist der Mensch kategorial Anderes als ein Körperding, nämlich ein beseelter Leib. Es gilt beides zugleich und in einem: Ein zum Bewusstsein seiner selbst gekommenes Ich weiß sich sowohl als ein Subjekt unter anderen als auch als ein Subjekt gegenüber allem Anderen, als eine Seinsgröße in der Welt ebenso wie als eine Entität, die vermöge ihrer transmundanen Subjektivität Welt hat, ohne von dieser gänzlich bedingt zu sein. In der Simultaneität dieses Wissens, welches das Selbstbewusstsein sich wissender Subjekte realiter ausmacht, hat das Personsein menschlicher Personen sein konkretes Wesen. Selbstverhältnisse vollziehen sich in Wirklichkeit Der Grund von Selbst und nicht ohne Weltverhältnisse, wenngleich sie auf Welt diese nicht reduzierbar sind, weil von menschli-

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cher Weltwahrnehmung oder Intersubjektivität ohne Selbstbezug nicht die Rede sein kann. Aus keiner in der Welt vorfindlichen Objektivität begründbar findet die Subjektivität des Menschen aber ebenso wenig beständigen Grund in sich selbst; vielmehr erweist sich jeder Versuch unmittelbarer Selbstbegründung als zirkelhaft, aporetisch und verkehrt. Für den Menschen ist insofern nicht nur Welttranszendenz, sondern auch Selbsttranszendenz wesentlich. Der Mensch weiß sich von sich aus auf einen Grund verwiesen, der Welt und Selbst in ihrem Verhältnis zueinander fundiert, ohne aus Selbst- und Weltverhältnissen heraus erschlossen werden zu können. Die menschliche Beziehung auf diesen fundierenden Grund von Selbst und Welt ist das religiöse Verhältnis. Es ist auf das Sinnganze von Selbst und Welt in ihrer differenzierten Einheit ausgerichtet, welches jede Form der Selbst- und Welterfahrung übersteigt und gleichwohl in allen Sinngestalten und Sinngestaltungen des Daseins mitgesetzt ist. Auf das Selbst und Welt Übersteigende bezogen nimmt das religiöse Verhältnis zugleich die Das religiöse Verhältnis innere Begrenztheit subjektiver Freiheit und die Beschränktheit der objektiven Welt wahr. Religion bringt zu Bewusstsein, dass Selbst und Welt in der Grenze eins sind, die ihre gemeinsame Endlichkeit ausmacht. Im unendlichkeitsbezogenen Bewusstsein gemeinsamer Endlichkeit von Selbst und Welt weiß sich das im religiösen Verhältnis begriffene Subjekt zwar von aller Welt verschieden, nicht aber geschieden; die elementare religiöse Frage nach dem Notwendigkeitsgrund meines kontingenten Daseins gehört danach mit derjenigen, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, untrennbar zusammen. Mit diesem Hinweis, der die skizzenhafte Zusammenfassung von Elementaraussagen klassischer Religionskonzepte der Moderne abschließen soll, ist zugleich ein prinzipieller Grund für die Tatsache angegeben, dass gelebte Religion niemals solipsistisch verfasst, sondern in Weltzusammenhänge eingebunden ist, die alles Kreatürliche umfassen. Dass dabei die Natur, mit Schleiermacher zu reden, lediglich den Vorhof der Religion markiert, wohingen erst die Kulturgeschichte der Menschheit in deren innerstes Zentrum einführt, ist ersichtlich darin begründet, dass sich ohne geschichtliche Transzendierung des Natürlichen religiöses Bewusstsein nicht ausbildet. Erst mit der Geschichte und in ihr nimmt Religion explizite Gestalt an. Zu positiver Form gelangt gibt sich Religion entsprechend stets als eine gemeinschaftliche Lebensorientierung von Menschen zu erkennen, welche, ohne in diesen aufzugehen, konkret nicht unter Absehung von geschichtlichen Überlieferungszusammenhängen zu begreifen ist. Wer Religionen verstehen will, muss deshalb ihre Traditionsgeschichte kennen. Ohne die Kunst historischer Hermeneutik bleibt die Theorie der Religion zwangsläufig abstrakt. Das gilt gerade für die Religion des Christentums, welche, um noch einmal Schleiermachers fünfte Rede zu erwähnen, das Universum am meisten und am liebsten in der Geschichte der Religion anschaut, um so gleichsam eine höhere Potenz derselben zu sein. Im religiösen Verhältnis sucht der Mensch Antwort auf die radikale Fraglichkeit des Daseins seiner selbst und seiner Welt zu erhalten. Wo solche Antwort sich ein-

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stellt, spricht das religiöse Bewusstsein üblicherweise von Offenbarung. Der Offenbarungsbegriff benennt die Kehre von Daseinsfraglichkeit zu fundierter Sinnerfüllung, die für das religiöse Verhältnis konstitutiv ist, ohne aus menschlichen Beziehungsmöglichkeiten heraus entwickelt werden zu können. Mit dem Begriff der Offenbarung ist also umschrieben, was das religiöse Bewusstsein als seinen inneren Grund und zugleich als seinen externen Ursprung wahrnimmt, der seiner Verfügung entzogen ist. Einkehr in sich und Sich-Verlassen auf ein unverfügbar Externes gehören im religiösen Vollzug untrennbar zusammen. Subjektivitätstheoretisch plausibel ist dieser Zusammenhang insofern, als das Vermögen zur Selbstbestimmung, welches die Verfasstheit von Subjektivität ausmacht, nicht unmittelbar auf einen Akt subjektiver Selbstsetzung zurückzuführen, sondern von einer Voraussetzung abhängig ist, die als nichtgesetzt zu gelten hat. Das um Selbstaufklärung bemühte Subjekt kommt nicht umhin, sich auf ein unverfügbar Anderes hin zu transzendieren, um seiner selbst inne zu werden. In Form des religiösen Bewusstseins weiß das selbstbewusste Subjekt, dass es der Offenbarung bedarf, um für sich selbst erschlossen zu sein. Doch ist damit der epistemische Status dessen, was der Begriff der Offenbarung benennt, noch keineswegs hinreichend klar. Bezeichnet Offenbarung eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung, der absolutes Sein an sich selbst zukommt, oder setzt sich die im religiösen Bewusstsein zum Wissen um sich und den unverfügbaren Grund ihrer selbst gelangte Subjektivität besagte Voraussetzung als nichtgesetzt voraus, so dass in Wahrheit sie als Letztgrund ihrer eigenen Voraussetzung zu gelten hätte? Ist Gott, den als absoluten Seinsgrund und Grund ihrer selbst zu denken Subjektivität nicht umhin kann, lediglich ein notwendiges Gebilde der Selbstdeutung religiösen Bewusstseins oder eine Wirklichkeit, die wahrhaft wirklich ist und sich durch ihr offenbares Wirken jedem Fiktionsverdacht entzieht, indem sie sich als Grund des religiösen Bewusstseins zugleich als dessen Grenze erweist, an der sich religiöses Selbstdeutungsvermögen gegebenenfalls auch bricht? Ist der Gehalt des religiösen Bewusstseins in dessen Form zu fassen, um von diesem als vorausgesetztes Implikat seines Selbstverständnisses gedeutet zu werden? Oder erfüllt sich die Selbstdeutung des religiösen Bewusstsein in der Einsicht, sich nicht als Selbstdeutung verstehen zu können, weil der Gehalt des religiösen Bewusstseins dessen Deutungsvollzüge umgreift, überholt und gegebenenfalls nicht begründet, sondern zugrunderichtet? An Fragen dieser Art sind die Analysen des Offenbarungstraktats orientiert, wenngleich ihre explizite Beantwortung erst im materialdogmatischen Kontext erfolgen kann. Zunächst gilt es, durch theologiegeschichtliche Fallstudien ein aktuelles Bewusstsein der Problemkonstellationen moderner evangelischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert zu vermitteln, die sich vom Denken der Neuzeit kritisch und konstruktiv herausfordern ließ. F.D.E. Schleiermacher, dessen „Reden über die Bewusstsein gegenwärtigen Religion an die Gebildeten unter ihren VerächChristentums tern“ von 1799 religionstheologisch Epoche Offenbarung

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machten, hat in seiner „Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ von 1811 die Dogmatik der historischen Theologie zugeordnet, die er dreifach unterteilte: Kenntnis des Urchristentums als Aufgabe der Exegese, Kenntnis vom Gesamtverlauf des Christentums als Aufgabe der Kirchengeschichte und Kenntnis von dem Zustand des Christentums in dem gegenwärtigen Augenblick als Aufgabe der dogmatischen Theologie. Man mag diese Aufgabenzuweisung als eine Unterbestimmung des Sinns und Zwecks namentlich der Dogmatik beurteilen, deren Bedeutung nicht in der historischen Funktion einer Kenntnis des gegenwärtigen Moments der geistigen Verfassung des Christentums aufgeht. Dieses Urteil ändert aber nichts daran, dass die identifizierende Wahrnehmung des christlichen Selbstbewusstseins in seiner aktuellen Gegenwart zu den unaufgebbaren Aufgaben dogmatischer Theologie gehört. Dann aber gilt auch für sie bis auf weiteres der schlichte Grundsatz: Gegenwart kann nur verstanden werden als „Resultat der Vergangenheit“ (KGA I/6, 267, 24f.). So steht es im 15. Satz der Einleitung zum zweiten Teil („Von der historischen Theologie“) der Erstauflage von Schleiermachers Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften geschrieben. Ein präsentes Bewusstsein der eigenen Zeit, das für Künftiges erschlossen ist, stellt sich ohne Gedächtnispflege nicht ein. Erinnerung ist daher die Voraussetzung zukunftsoffener Geistesgegenwart. Das trifft auch für die Theologie zu und nachgerade dann, wenn diese systematisch betrieben wird. Zwar ist der Wahrheitsanspruch systematischer Theologie mit dem Geist einer Zeit keineswegs unmittelbar identisch, wenn der von ihr behauptete Unterschied von Zeit und Ewigkeit einen Sinn ergeben soll. Doch bedarf es gerade für die adäquate Wahrnehmung dieser Differenz eines geklärten historischen Selbstbewusstseins. Der naheliegendste Weg, zu einem historischen Selbstbewusstsein systematischer Theologie zu gelangen, besteht darin, sich deren Geschichte zu Bewusstsein zu bringen. In der Geschichte systematischer Theologie nämlich wird diese ihrer Selbstgenese ansichtig und in die Lage versetzt, sich differenziert zur eigenen Historizität zu verhalten. Das aber ist die Voraussetzung dafür, den dogmatischen Geltungsanspruch so zu vertreten, dass er von der Wahrheit, für die er steht, unterscheidbar bleibt. Insofern kann Theologiegeschichte die Funktion von Prolegomena der Dogmatik erfüllen. Sollen theologiegeschichtliche Studien methoTheologiegeschichte als disch reflektiert betrieben werden, kann deren Prolegomena der Dogmatik Zusammenhang mit der Historiographie im Allgemeinen nicht unbedacht bleiben. Die deutsche Geschichtswissenschaft wurde seit den gesellschaftlichen Umbrüchen im Zuge der sog. Studentenrevolution von 1968 zunehmend von der Historischen Sozialwissenschaft bestimmt. Die Sozialgeschichte hörte auf, ein Appendix der Wirtschaftsgeschichte zu sein, und entwickelte sich zu einer historischen Disziplin von paradigmatischer Bedeutung für die gesamte Geschichtswissenschaft. Vorbereitet durch die Ansätze Otto Brunners, Theodor Schieders und Werner Conzes fand die Historische Sozialwissenschaft in Forschern wie Reinhard Koselleck und Hans Mommsen namhafte Vertreter, die

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ihr über den deutschen Bereich hinaus Ansehen verschafften. Zur bisher umfassendsten Synthese verarbeitet worden ist das Programm in der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler und in Forschungen der „Bielefelder Schule“. War die traditionelle deutsche Geschichtsschreibung nach Weise des konventionellen Historismus in der Regel personenorientiert, so richtete die historische Sozialgeschichte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf überindividuelle Systemstrukturen, die als Kollektivbedingungen gesellschaftlichen Handelns von Einzelpersonen und sozialen Gruppen untersucht wurden. Als Konditionierungsfaktoren personalen Agierens kamen vor allem die Institutionengefüge von Staat und Wirtschaft, aber auch andere transindividuelle Größen wie Klassen, Interessensverbände und Standesorganisationen etc. in Betracht. Die marxistische Perspektive wurde in die Betrachtung integriert, zugleich aber mit modernisierungstheoretischen Aspekten etwa Max Weber’scher Provenienz kombiniert und daher um ihren ideologischen Alleinvertretungsanspruch gebracht. Bekräftigt wurde dies neben der allgemeinen Verpflichtung auf die Prinzipien aufgeklärter Ideologiekritik durch das dezidierte Bekenntnis zu einer normativen Westbindung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Die These vom traditionellen deutschen Sonderweg wurde allein in dem erkenntnisleitenden Interesse verfolgt, sich definitiv von diesem zu verabschieden zugunsten grundsätzlicher Westintegration und eines entsprechenden Konzepts einer offenen Demokratiegesellschaft mit rationalen und verfahrensdurchsichtigen Steuerungsmechanismen. Unter der konstruktiven Voraussetzung des Bekenntnisses zu den Grundsätzen westlicher Demokratie und Rechtstaatlichkeit gelangte die Historische Sozialwissenschaft zu der für sie charakteristischen Interpretation der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Während die westlichen Gesellschaften die Modernisierungsprobleme im Zuge der Auflösung traditionaler Sozialstrukturen und insbesondere der krisenhaften Ausbreitung des Industriekapitalismus im Rahmen ihrer parlamentarisch-demokratischen Verfassungen zu bewältigen suchten und tatsächlich weithin bewältigten, blieb das deutsche Kaiserreich trotz seiner hochmodernen Wirtschaft und trotz einer außerordentlich effizienten Bürokratie gesellschaftlich rückständig und einem autokratischen Herrschaftssystem unterworfen, das die Etablierung einer liberalen Zivilgesellschaft mit entsprechendem Krisenbewältigungspotential verhinderte. Diese Aporie blieb auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem erfolgten Untergang des alten Regimes erhalten und führte zu jener vielbeschriebenen Demokratieschwäche der Weimarer Republik, die dem wirtschaftlichen Krisendruck nur kurze Zeit standhalten konnte, um schließlich in der nationalsozialistischen Diktatur zu enden, deren verheerende Folgen singulär und in jeder Hinsicht katastrophal waren. Es blieb der Bundesrepublik Deutschland vorbehalten, die geschichtlichen Lehren aus dem apokalyptischen Desaster zu ziehen und sich im Sinne entschiedener Westintegration definitiv von deutschen Sonderwegen zu verabschieden. Durch die Ereignisse der ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde diese

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Entwicklung insofern bestätigt, also die sog. neuen Bundesländer nach erfolgter Vereinigung in die in den vorhergehenden vier Jahrzehnten gewachsene bundesrepublikanische Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialordnung und damit in die westliche Welt – mehr oder minder – nahtlos eingefügt wurden. Das Gedächtnis der sozialgeschichtlich orientierten Historiographie ist im Wesentlichen Soziokulturelles Gedächtnis durch die Dimensionen der Wirtschaft, der Bevölkerungsentwicklung, der politischen Herrschaft und der sozialen Ungleichheit bestimmt. Erkenntnisleitend ist der Gesellschaftsbegriff. Demgegenüber wird seit geraumer Zeit der Kulturbegriff als neuer Leitterminus der Geschichtsschreibung in Stellung gebracht. Das ist insofern nicht unberechtigt, als die neuere Sozialgeschichte gelegentlich dazu neigte, kulturelle Sinndeutungen zu interessegeleiteten Ideologien bzw. zu bloßen Funktionen ökonomischer, politischer oder sozialer Bedingungen herabzusetzen. Dabei drohte vergessen zu werden, dass sinnbestimmte Wirklichkeitsdeutungen der Kultur ihrerseits konditionierend auf soziale, politische und sogar ökonomische Zusammenhänge einwirken, wie dies bereits von Max Weber und von Ernst Troeltsch beispielhaft gegen einseitig von marxistischen Unterbau-Überbau-Modellen geprägte Weisen der Geschichtsschreibung geltend gemacht wurde. Man wird also Kulturgeschichte nicht zu einem bloßen Appendix der Sozialgeschichte marginalisieren dürfen. Entsprechendes gilt für die Religions- und mit ihr für die Theologiegeschichte. Unter den antitotalitären Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, welche die Nichtsubstituierbarkeit der Religion und ihrer theoretischen Reflexionsgestalten anerkennt, hat die Theologie ein Anrecht darauf, geschichtlich als ein Sinnsystem sui generis wahrgenommen zu werden, das sich durch politische, soziale und ökonomische Faktoren allein nicht hinreichend erklären lässt. Einer Repristination traditioneller Ideengeschichte ist damit keineswegs das Wort geredet. Denn offenbar lässt sich die Differenz dessen, was man Realität und Idealität zu nennen gewohnt ist, nicht einseitig auflösen. Auch die Historiographie muss sich daher einer bestimmten Doppelzügigkeit befleißigen, um der Einsicht Rechnung zu tragen, dass die geschichtliche Wirklichkeit sowohl durch sozioökonomische und politische Realbedingungen als auch durch ideelle Faktoren wie Sinndeutungen kultureller und religiöser Art bestimmt und zwar so bestimmt ist, dass beide Bestimmungsgrößen wohl zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind. Im gegebenen Rahmen kann die Einsicht in die differenzierte Konstitution geschichtlicher Wirklichkeit nicht in Form eines durchgeführten (theologie-)historiographischen Konzepts, sondern nur programmatisch und in der Weise einer Aufgabenstellung zur Geltung gebracht werden. Das geschieht dergestalt, dass den auf die Offenbarungsthematik konzentrierten Fallstudien jeweils Epochenbeschreibungen vorgeschaltet werden, welche in groben Zügen die historischen Rahmenbedingungen der theologiegeschichtlichen Entwicklung angeben. Dabei bleiben die hergestellten Bezüge zugestandenermaßen sehr äußerlich, welcher Mangel sich nur im Zusammenhang eines umfangreichen theologiegeschichtlichen Mammut-

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projekts beheben ließe, für das es in der gegenwärtigen Forschung nur Ansätze gibt und das im Übrigen die Möglichkeiten eines Einzelnen generell übersteigen dürfte. Epochale Trends und Bezüge zwischen theologiegeschichtlichen Entwicklungen und Entwicklungen soziokultureller Art werden sich gleichwohl erkennen lassen. Dadurch werden Perspektiven eröffnet, die zu genauerem Zusehen und zu eingehenderer Betrachtung Anlass geben mögen. Mehr ist im Rahmen des projektierten Unternehmens nicht zu leisten. Als grobes Ordnungsschema historiographischer Strukturierung dient im Folgenden primär die 19. und 20. Jahrhundert Unterscheidung des langen 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts, wie es u.a. das erwähnte Konzept einer „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler bestimmt. Danach nimmt das lange 19. Jahrhundert seinen zwar nicht chronologischen, wohl aber historischen Ausgang bei der Französischen Revolution, um in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu enden, welcher mit dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs den Sturz einer mehr als tausendjährigen Herrschaftsordnung erbrachte und das traditionelle europäische Staatensystem von Grund auf erschütterte. Was die Periodisierung der Zeit von 1789–1914/18 anbelangt, so sei auf die Ausführungen in dem einschlägigen Abschnitt verwiesen und einstweilen nur vermerkt, dass die Studien im Religionstraktat insbesondere auf die sog. Sattelzeit der Moderne und die bis in die 20er und 30er Jahre konzipierten religionstheoretischen Großsysteme konzentriert waren, während die zur Offenbarungsthematik zu gebenden Fallbeispiele die restliche Zeit des langen 19. Jahrhunderts mitumfassen. Die Grenzmarken des kurzen 20. Jahrhunderts sind durch den Ersten Weltkrieg einerseits und die Wendeereignisse der ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahre andererseits bestimmt. Als interne Periodisierungsdaten drängen sich die Umbruchsjahre 1933 und 1945 auf. Nähere Bestimmungen müssen auch hier den Ausführungen des einschlägigen Abschnitts überlassen bleiben. Angemerkt sei vorerst nur, dass die theologiegeschichtlichen Erörterungen zum 20. Jahrhundert sich im Wesentlichen auf deren erste Hälfte und dabei wiederum auf einige wenige ausgewählte Fallbeispiele beschränken, wohingegen die theologischen Entwürfe jüngeren Datums ganz der aktuellen Diskussion anheimgestellt und in die Systematik der materialdogmatischen Ausführungen integriert werden. Als Leitterminus des vorliegenden Traktats, der traditionellerweise den Prolegomena zugeordnet wird, fungiert, wie gesagt, der Begriff der Offenbarung, der namentlich unter dem Vorzeichen der Krise der Moderne zu einer Schlüsselkategorie theologischer Selbstverständigung geworden ist. Den Weisen seiner neuzeitspezifischen Verwendung ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Zuvor jedoch werden noch einmal jene allgemeinen Problemhorizonte umrissen, in denen sich moderne evangelische Theologie auch noch unter den Bedingungen der Krise der Neuzeit bewegt.

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1. Zur Geschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland

Lit.: K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon/Zürich (1947) 21952. – Fr. H.R. v. Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, seit Schleiermacher. Aus dem Nachlaß des Verfassers hg.v. P. Schaarschmidt, Erlangen und Leipzig 1894. – F.W. Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1: Aufklärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, Bd. 2: Kaiserreich, Teil 1, Gütersloh 1992, Teil 2, Gütersloh 1993. – M. Greschat (Hg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978. – E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh (1949ff.) 51975. – M. Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert. Bearb. u. mit einem Verzeichnis der Schriften Martin Kählers hg.v. E. Kähler, München 1962. – F. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, 1. Teil: Das Jahrhundert von Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg, Gießen (1926) 61934, 2. Teil: Zeitenwende auch in der Theologie, Gießen (1926) 61934. – E. Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, 2 Bde., Göttingen 2000/04 – F. Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981. – K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995. – W. Pannenberg, Problemgeschichte der neuern evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997. – O. Pfleiderer, Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in Großbritannien seit 1825, Freiburg i.Br. 1891. – J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997; Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997. – D. Rössler, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215–231. – H. Stephan, Geschichte der evangelischen Theologie seit dem Deutschen Idealismus, Berlin 1938. – H. Thielicke, Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie, Tübingen 1983.

Das Werden der Moderne ist entscheidend durch die Spaltung der abendländischen Christenheit Genese der Neuzeit bedingt. Durch sie kam die relative Einheitskultur des Mittelalters zu ihrem prinzipiellen Ende. Auch wenn der Prozess neuzeitlicher Emanzipation erst mit der Französischen Revolution von 1789 zu seinem Höhepunkt gelangte und dann in Annahme und Zurückweisung das 19. Jahrhun-

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Geschichte der neueren evangelischen Theologie

dert bestimmen sollte, reichen die Anfänge der Neuzeit zurück bis ins Reformationszeitalter. Das christliche Abendland zu spalten, lag nicht in der Absicht der Reformatoren. Ihre genuine Intention war auf die Reform der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche ausgerichtet. Noch auf dem Augsburger Reichstag von 1530, in dessen Verlauf von den evangelischen Ständen die Confessio Augustana als das wichtigste reformatorische Bekenntnis an Kaiser Karl V. übergeben wurde, standen im Zentrum der Ausgleichsverhandlungen Fragen praktischer Kirchenreform. Erst später kam es durch eine doktrinäre und institutionelle Verfestigung der widerstreitenden Parteien zu eigenständigen Kirchentümern. Der Prozess der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit beinhaltete nicht nur theologiKonfessionalisierung sche Aspekte, sondern betraf das gesamte soziale und politische Leben einschließlich der Wissenschaften. Er ist aufs Engste verbunden mit der Emanzipation frühneuzeitlicher Territorialstaaten im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation und mit der fortschreitenden Nationalstaatenbildung im außerdeutschen Bereich. Im Reich galt seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 der Rechtsgrundsatz, dass kein Territorium wegen seiner Konfessionszugehörigkeit mit Krieg überzogen werden dürfe. Allerdings kamen nur die sog. Altgläubigen und die Angehörigen der Augsburger Konfession in den Genuss dieser Bestimmungen. Im Übrigen korrespondierte der tendenziellen, wenngleich nur ansatzweise vollzogenen Ablösung des Reichsrechts von konfessionellen Vorgaben eine umso stärkere konfessionelle Homogenisierung innerhalb der Territorien. Es galt die Devise: „Cuius regio, eius religio.“ Das Recht, die Konfession der Untertanen zu bestimmen, lag beim Territorialherrn. Es bedurfte der Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, um den Religionsfrieden in Deutschland mit dem Westfälischen Vertrag von 1648 auszuweiten und Ansätze individueller Religions- und Gewissensfreiheit anfangsweise zur Geltung kommen zu lassen. Gleichwohl blieb das persönliche und öffentliche Leben von den konfessionellen Gegensätzen intensiv bestimmt. Die zu denominationellen Kirchentümern verfestigten Konfessionen hatten sich im Laufe der Zeit nicht nur institutionell etabliert, sondern sich auch eine feste Lehrnorm gegeben, die wesentlich durch wechselseitige Ausschließungen und Verwerfungsurteile gekennzeichnet war. Die Wittenberger Reformation hatte sich spätestens mit der Konkordienformel von 1577 und dem Konkordienbuch von 1580 zur lutherischen Konfession entwickelt, die nicht nur vom Katholizismus, sondern auch vom Reformiertentum zwinglisch-calvinischer Provenienz scharf geschieden war. Der konfessionelle Gegensatz von Lutheranern und Reformierten betraf vor allem Fragen der Abendmahlslehre und der Christologie sowie der Lehre von der Prädestination. Was den römischen Katholizismus anbelangt, so hatte er sich im Konzil von Trient und in der Confessio Tridentina eine durchaus reformorientierte und innovative Basis seiner kirchlichen Selbstverständigung geschaffen. Schon damals zeichnete sich gegenüber den Reformationskirchen das Insistieren auf der theologischen

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Notwendigkeit kirchenamtlicher Autorität als ein charakteristisches Kennzeichen römisch-katholischer Konfession ab, wenngleich das Autoritätsprinzip in Trient noch unter dem Traditionsprinzip verborgen war, um definitiv erst im I. Vatikanum manifest zu werden. Materialiter betrafen die Abgrenzungen gegenüber den Reformationskirchen neben ekklesiologischen und amtstheologischen Fragen vor allem Probleme der Rechtfertigungslehre und der Abendmahlstheologie. Doch stehen weniger sie als vielmehr die Kontroversen um die im Dogma von 1870 zur Definition gelangten Problemzusammenhänge des universalkirchlichen Jurisdiktionsprimats und der päpstlichen Infallibilität im Zentrum des Interesses sowohl katholischer als auch evangelischer Theologie im 19. Jahrhundert. Entgegen den konfessionalistischen Antagonismen der Wittenberger, Genfer und tridentini- Transkonfessionalität schen Tradition im Reformationszeitalter zeichneten sich zunächst bei Einzelnen oder kleineren Gruppierungen namentlich im spiritualistischen Lager, später dann auch in der bestallten Theologie Tendenzen dazu ab, einen Standpunkt jenseits dieser Gegensätze einzunehmen. Diese Tendenzen lassen sich an signifikanten terminologiegeschichtlichen Entwicklungen exemplifizieren: Der Protestantismusbegriff – an die protestatio beim Speyrer Reichstag von 1529 erinnernd – wird mehr und mehr zum Oberbegriff für alle Reformationskirchen, für Lutheraner, Reformierte und nicht selten auch für Anglikaner und andere Gruppierungen. Integrative Funktionen mit noch größerer Reichweite nimmt der Christentumsbegriff wahr, der das allen Christen Gemeinsame zu umfassen beansprucht und in einer eigenen Wesensliteratur entfaltet wird, die bis zu Adolf von Harnacks berühmter Schrift über das „Wesen des Christentums“ und darüber hinaus bemerkenswerte Erfolge zeitigte. Als der durch die konfessionalistischen Gegensätze veranlasste modernitätsspezifische Begriff mit der größten theologischen Reichweite fungiert schließlich der Begriff der Religion. Er beansprucht, alle durch ihn bezeichneten Erscheinungsformen als Manifestationen einer allgemeinen Wesenbestimmung zu erweisen. Was ist Religion? Aspekte ihres Begriffs und ihrer protestantischen Theorie in der Neuzeit Theorie der Religion wurden im ersten Traktat ausführlich und unter besonderer Berücksichtigung der Sattelzeit der Moderne erörtert. Dabei zeigte sich u.a., dass die Antworten frühmoderner und moderner Theorien auf die Religionsfrage nicht selten an den Traditionsbeständen der sog. natürlichen Theologie orientiert waren, wie sie in den Beweisen vom Dasein Gottes ihren klassischen Ausdruck gefunden haben. Während indes in den klassischen Gottesbeweisen etwa des Thomas von Aquin die Welterfahrung den Ausgangspunkt der Argumentation bildet, welche zur Einsicht in die Realität und Notwendigkeit einer göttlichen Wirk- und Zielursache führen soll, wird unter neuzeitlichen Bedingungen statt der Kosmologie fortschreitend die Anthropologie zur religionstheoretischen Leitwissenschaft. Daran bestätigt sich, dass Subjektivität als Epochenindex der Neuzeit insgesamt zu gelten hat. Über die Wahrheit Gottes und der Religion lässt sich, so

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die modernitätsspezifische Grundannahme, überzeugend nicht unter Absehung, sondern nur im Zusammenhang und unter Bezug auf die Selbsterfahrung des Menschen in seiner Lebenswelt befinden. Auch in religiöser Hinsicht gilt der Kant’sche Grundsatz: Das „Ich denke“ muss all meine Vorstellungen begleiten können. Was Kants (1724–1804) eigenes ReligionsverKant ständnis anbelangt, so entwickelte es sich insbesondere im Kontext seiner „Kritik der praktischen Vernunft“. Deren sittlicher Grundsatz, wie er im kategorischen Imperativ formuliert ist, enthält die unbedingte Forderung verallgemeinerungsfähigen Handelns. Diese Forderung ist ein Gebot vernünftiger Selbstbestimmung und daher autonom. Die Annahme Gottes oder einer anderweitigen religiösen Vorgabe ist für die Geltung des Sittengesetzes nicht konstitutiv. Gleichwohl bedarf nach Kant die Moral der Religion, um im Vollzug ihrer tatsächlichen Selbstrealisierung nicht auf der Strecke zu bleiben. Weil sie ihr durch das Postulat Gottes als des Schöpfers und Sittenrichters und des Herrn der gegebenen Welt die Hoffnung auf eine letztendliche Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, oder, wie Kant sagt, Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit eröffnet und nährt, dient die Religion der Moral als deren Beförderungsmittel. Die Religion als Vehikel der Moral: Nicht wenige theologische Konzeptionen des 19. Jahrhunderts knüpften an Kants Religionsverständnis an, um es entweder auf rationalistische oder supranaturalistische Weise fortzubilden. Als Rationalisten haben nach Kants eigener Nomenklatur jene zu gelten, die zwar die strikte Notwendigkeit göttlicher Offenbarung für die Begründung der Sittlichkeit in Abrede stellen, ihre Möglichkeit und Nützlichkeit im Unterschied zu den puren Naturalisten indes behaupten. Supranaturalisten oder Suprarationalisten hingegen sollen jene heißen, die nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit göttlicher Offenbarung für die Begründung und Realisierung der Moral in Anschlag bringen. Nicht wenige Theologiegeschichtsschreiber haben sich diese Kategorisierungen zu eigen gemacht, um die theologische Kantrezeption in ein sachliches Ordnungsgefüge zu bringen. Dabei kann es nicht überraschen, dass die entscheidende theologiegeschichtliche Bedeutung in der Regel dem Supranaturalismus zuerkannt wurde, weil im strengen Sinne nur er die unverzichtbare Relevanz der Religion für die praktische Vernunft zur Geltung zu bringen verstand, wohingegen der Rationalismus einer gänzlichen Funktionalisierung der Religion zugunsten autonomer Moral wenig entgegenzusetzen hatte. Anders als Kant und in konstruktiver Kritik an Hegel diesem wies Hegel (1770–1831) der Religion einen unveräußerlichen Ort im Kontext der theoretischen Vernunft zu, deren Trennung von der praktischen er als unstatthafte und befremdliche Separation disqualifizierte und spekulativ zu beheben suchte. Religion – so der Grundgedanke Hegels, der sein gesamtes System umfasst – ist Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen. Wie die spekulative Vernunft, so ist auch der re-

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ligiöse Vollzug darauf aus, die Schranken des Endlichen, denen sinnliches Bewusstsein und reines Verstandesdenken verhaftet bleiben, zu transzendieren, um vom Bedingten zum Unbedingten zu gelangen. Dabei darf die Transzendenz des Unbedingten und Unendlichen indes nicht so vorgestellt werden, dass sie als durch den Gegensatz zur Immanenz des Bedingten und Endlichen bestimmt erscheint. Denn ein durch den Gegensatz zum Endlichen bestimmtes Unendliches wäre nicht wahrhaft unendlich, weil es am Endlichen sein Ende fände und damit selbst endlich wäre. Um in seiner Absolutheit wahrgenommen zu werden, muss demnach das Transzendente in der Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit und als dasjenige gedacht werden, was sich im Anderen seiner selbst zu explizieren vermag. Um dies zu leisten, muss nach Hegel die religiöse Vorstellung in den philosophischen Begriff aufgehoben werden, wobei unter Aufhebung nach Hegel Negation, Bewahrung und Vollendung zugleich zu verstehen ist. Unter den theologischen Hegelrezipienten hat die These zu leistender Aufhebung religiöser Vorstellung in den philosophischen Begriff stets besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Während in der Schule der sog. Rechtshegelianer dabei – pauschal zu reden – die religionsaffirmativen Aspekte hervorgehoben wurden, betonten die Linkshegelianer vorwiegend die religionskritischen Elemente, bis schließlich Ludwig Feuerbachs radikalgenetische Religionskritik das Wesen des Christentums auf eine anthropologische Projektion zurückführte. Hatte Kant die Religion im Wesentlichen zu einer Funktion der Moral, Hegel zu einer Funkti- Schleiermacher on der Metaphysik im Sinne spekulativer Dialektik erklärt, so wollte Schleiermacher (1768–1834) ihr einen eigenständigen Stellenwert jenseits von Denken und Handeln sichern. Religion ist weder Metaphysik noch Moral; als Innesein des Sinnganzen kommt ihr vielmehr eine eigene Provinz im menschlichen Gemüt zu. Sie ist, wie Schleiermacher in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799 sagt, Anschauung des Universums und Gefühl bzw., wie es in der „Glaubenslehre“ von 1830/31 heißt, unmittelbares Selbstbewusstsein und Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Während das menschliche Subjekt sich in seinem Weltverhältnis stets in einer Gemengelage relativer Freiheit und relativer Abhängigkeit vorfindet, nimmt es sich in der differenzierten Einheit von Spontaneität und Rezeptivität, die es an sich selbst ist, in seinem schlechthinnigen Sich-Gegeben-Sein wahr. Im Innersten seiner selbst gründet das Subjekt nicht in sich, sondern in einem absoluten Grund, dessen Innesein die Religion ist. Fügt man hinzu, was für Schleiermachers Religionsverständnis keineswegs den Status einer bloßen Ergänzung hat, sondern ihr konstitutiv zugehört, dass nämlich Religion realiter stets positiv und gemeinschaftsbezogen existiert, dann wird deutlich, warum die Problemkonstellation seines Denkens jenseits der spezifischen Lösungsangebote, die es unterbreitet, exemplarisch werden konnte für die Theologie einer ganzen Epoche. Schleiermacher hat die Theologie als Theorie der Subjektivität neu begründet. Ohne Subjektbezug kann von den theologischen Inhalten und Gegenständen nach

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seiner neuzeitspezifischen Auffassung nicht angemessen die Rede sein. Dem entspricht die Forderung, mit welcher der protestantische Kirchenvater des 19. Jahrhunderts in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ (2. Auflage 1830) das anzustrebende Ausbildungsziel der Studierenden markiert: „Von jedem evangelischen Theologen ist zu verlangen, daß er im Bilden einer eignen Ueberzeugung begriffen sei“ (§ 219; KGA I/6, 403, 7f.). Dieser Grundsatz konnte als Wahlspruch allen theologischen Denkens gelten, dessen oberste Maxime es ist, einen eigenen Standpunkt zu haben. In ihm hat nach Dietrich Rösslers vielzitiertem Aufsatz über „Positionelle und kritische Theologie“ „die Magna Charta theologischer Originalität ihre Formel gefunden“ (Rössler, 215). Zusammen mit theologischer Originalität sind Selbständigkeit und eigene Überzeugung Leitbilder und Wertmaßstäbe positioneller Theologie, deren Charakteristikum Standpunktbedingtheit ist. Diesen Kriterien gemäß wird der wahre Theologe auf eine im spezifischen Sinne eigene Theologie nicht verzichten wollen, und als Virtuose gar vermag er nur dann zu gelten, wenn er eine theologische Schule sein eigen nennen kann. Bleibt auch der materiale Stoff christlicher Überlieferungsbestände der theologischen Arbeit in gewissem Sinne vorgegeben, so bietet doch die Wahl des eigenen Gesichtspunkts und der individuellen Perspektive vielfältige Möglichkeiten der Variation und der Gestaltung theologischer Selbständigkeit. Das beginnt bereits mit der Deklaration des Themas. „Denn im Thema kommt nicht nur der Wille zur Selbstunterscheidung von anderen Standpunkten zum Ausdruck, sondern vor allem derjenige Topos, der Fundament und Spitze für die Position und damit für die intendierte Gestalt von Theologie überhaupt ist.“ (Rössler, 217) Der Theologe gewinnt und bestätigt sein theologisches Selbstbewusstsein in der Ausarbeitung bestimmter thematischer Objektivationen, in welchen er seine Selbständigkeit verwirklicht. Da er aber noch andere Positionen neben sich hat, die nicht ohne weiteres mit dem eigenen Standpunkt übereinkommen, bringt die selbständige Ausarbeitung der spezifischen Thematik in vielen Fällen das Faktum der Konkurrenz mit sich. Die Vielfalt konkurrierender theologischer Gestaltungen bot denn auch dauerhaften Anlass, den Verlust der Einheit der Theologie zu beklagen. Dabei trug die Klage freilich nicht selten selbst die Züge des Beklagten an sich: Die kritische Abstandnahme von vorhandenen Realisierungen nämlich ist selbst ein Signum positioneller Theologie. Die durchgeführte Absicht, die Pluralität der Standpunkte durch ihre unmittelbare Kritik aufzuheben, ist deshalb noch allemal deren Bedingungen verfallen; denn der Gegensatz zur positionellen Theologie und ihrem Pluralismus gerät selbst zur Position. Man wird also der positionellen Theologie schwerlich eine unmittelbare Alternative entgegensetzen können, denn die Alternative ist gewissermaßen deren eigenes Gesetz. Das Faktum der Konkurrenz als Folge positionelPluralität und Konkurrenz ler Verfassung theologischer Standpunkte lässt sich übrigens nicht nur unter thematisch-inhaltPositionelle Theologie

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lichem, sondern auch unter wissenschaftsorganisatorischem Aspekt identifizieren, etwa an dem im 19. Jahrhundert aufblühenden akademischen Vereinswesen. Im Interesse der Durchsetzung der eigenen Schulrichtung schließt man sich in wissenschaftlichen Assoziationen zusammen und organisiert sich als Parteiposition. Entsprechendes ist im Hinblick auf die zahlreichen Gründungen theologisch-wissenschaftlicher Zeitungen und Fachjournale zu konstatieren, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach erfolgen. Ebenso wie das richtungsbestimmte Zeitungswesen wissenschaftlicher Provenienz ist die expandierende protestantische Kirchenpublizistik der Zeit durch „Parteibildung“ und „Richtungskämpfe“ bestimmt. Die allgemeinen Kirchenzeitungen, die sich gegenseitig den Anspruch auf gesamtprotestantische Führung streitig machen, sind die kirchlichen Gegenstücke zur sich ausbildenden politischen Parteipresse. Es zeigt sich, dass Positionalität und konkurrierende Pluralität Merkmale nicht nur der protestantischen Theologie, sondern der evangelischen Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts insgesamt sind. Einen äußeren Beleg hierfür bieten die überkommenen binnenreformatorischen Konfessionsdifferenzen: Der Mehrheit der Lutheraner steht eine Minderheit der Reformierten gegenüber; als aber im frühen 19. Jahrhundert Lutheraner und Reformierte kirchlich zur Union vereint werden sollen, da bleibt das mitnichten unumstritten, sondern führt insbesondere in Preußen zu heftigen Streitigkeiten mit der Folge einer gegenüber vormals eher gesteigerten Konfessionalisierung des religiösen Bewusstseins der Zeit. Der protestantischen Bekenntnispluralität und dem Pluralismus der Territorial- und Landeskirchen korrespondiert die interne Differenziertheit des Protestantismus und seines Frömmigkeitslebens, wie sie in positionell bestimmten Theologien sich reflektiert. Waren für Kirche, Frömmigkeit und Theologie des Protestantismus um 1800 herum im Wesentlichen noch die drei großen Bewegungen von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung bestimmend, so differenzierte sich die religiöse Landschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter aus, um immer pluralere Gestalt anzunehmen. Man muss nicht unerheblich pauschalisieren, um wenigstens in groben Linien folgende Entwicklungstendenzen verzeichnen zu können: Da ist einmal die Erweckungsbewegung, zu der sich im zweiten Jahrhundertjahrzehnt Orthodoxie und Pietismus in gemeinsamer Abwehr der überkommenen, noch weit ins Jahrhundert hinein wirkenden Richtung eines aufgeklärten Rationalismus zusammenfanden. Aus ihr entwickelt sich ein in seiner Art durchaus moderner Konservativismus, wie er zum einen durch dezidierte konfessionelle Theologen wie die Vertreter des Erlanger Luthertums, zum anderen und darüber hinaus von jenen Theologen repräsentiert wird, die man seit Schleiermacher die „Positiven“ nennt. Sie waren – darüber darf ein universitätsfixierter Blickwinkel nicht hinwegtäuschen – in den Gemeinden, aber auch in den kirchlichen Synoden in der Regel die bestimmenden Figuren. Dem rechten Flügel gegenüber formiert sich der liberale Protestantismus, der das Erbe der Aufklärung fortzuführen sich beauftragt sah und im Kulturprotestantismus eines Adolf von Harnack am kalendarischen Ende des 19. Jahrhunderts

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noch einmal zu enormer Breitenwirkung kam. Durch Mediatisierung der Positionen von Positiven und Liberalen versuchen diejenigen sich zu positionieren, die als Vermittlungstheologen in die Theologiegeschichte eingegangen sind. Doch repräsentieren auch sie kein transpositionelles Allgemeines, sondern betreiben auf ihre Weise standpunktbedingte Theologie, um so den bestehenden Positionenpluralismus weiter zu steigern. Dass Positionalität und Pluralität zu KennzeiPrivatisierung von Religion chen protestantischer Theologiegeschichte seit und Theologie Schleiermacher wurden, ist ein Beleg für die fortschreitende Privatisierung der Religion, die sich mehr und mehr vom Zwang institutioneller Theologie befreit. Die Theologie reflektiert diesen Entwicklungsprozess, indem auch sie tendenziell zur Privatsache des einzelnen Christen wird und zwar auch im konservativen Lager. Die jeweilige Theologie ist durch die Subjektivität desjenigen Theologen bestimmt, der sie vertritt, und insofern gleichsam als ein Akt der Selbstauslegung zu bezeichnen. An die Stelle der Autorität der Lehre tritt die „Relativität der bloßen Lehrmeinungen“ (Rössler, 219): so viele Theologien wie Theologen. Strukturell betrachtet ändert daran die Selbstverständlichkeit nichts, dass sich eine Selbstauslegung religiöser Individualität als theologische Position in der Regel erst unter der Bedingung hinreichender öffentlicher Zustimmung etablieren kann. In der Tat steht positionelle Theologie – sieht man von einigen wenigen Ausnahmegestalten ab – „nicht nur für die religiöse Individualität eines Autors, sondern repräsentiert die Anschauung einer Gruppe“ (Rössler, 223). Das bedeutet indes keine prinzipielle Restriktion ihrer Grundverfassung, sondern nur eine Einschränkung von deren Folgen. Der prinzipielle Pluralismus bleibt unter den faktischen Bedingungen theologisch-religiöser Gruppenbildung nicht nur bestehen, sondern findet an ihr seine Bestätigung. Denn die Schule, die Gruppe, der Kreis haben ihre eigentliche Funktion und Aufgabe darin, die einzelne theologische Meinung durch abgrenzende Komplexitätsreduktion sich selbst finden zu lassen und dauerhaft zu stabilisieren. Sie reproduzieren somit das Prinzip individueller Selbstbestimmung, indem sie ihm dienen. Der epochale Rang dieses Prinzips und die Problematik seiner Folgen wurde vielfach beschrieben. Charakteristisch sind u.a. folgende Merkmale: Der grundsätzlichen Individualisierung der Theologie korrespondiert ein unter der Voraussetzung fragloser Allgemeinheit zumindest des theologischen Grundbestands so nicht gekanntes Legitimationsbedürfnis. „Beispielhaft dafür ist ein Themenkreis, der durch die Stichworte Objektivität, Kirchlichkeit und Autorität gekennzeichnet ist. Es bedarf jetzt der theoretischen Anstrengung, um die Begriffe, die ehedem selbstverständliches Merkmal der Theologie waren, als bestimmende Elemente der eigenen Position auszuweisen.“ (Rössler, 219) Es handelt sich bei den neuen Themen der Theologie insofern nicht bloß um eine additive Vermehrung eines überlieferten Bestandes. „Sie sind vielmehr Symptom einer durch die Privatisierung der Theologie erzwungenen völlig neuen theoretischen Einstellung.“ (Rössler, 220) Deren Neuheit erschöpft sich nicht in einer bloßen Neuformierung ihres Themen-

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bestandes, sondern führt zu dessen grundsätzlicher Neubestimmung. Indem sich die Theologie als Auslegung von Religiosität vollzieht, „ist ihr ein Aufgabengebiet zugewiesen, das alle bislang gültigen Proportionen sprengt. Statt von der Verwaltung der Lehre wird der Problembereich der Theologie jetzt von der gesamten Lebenswelt diktiert. Ihr ist die Bewältigung der Fragen zugemutet, die mit dem Faktum menschlicher Existenz unter den Bedingungen der Neuzeit überhaupt gegeben sind.“ (Rössler, 221) Unter dieser Voraussetzung lassen sich dann auch Problemkonstellationen namhaft machen, die für die gesamte protestantische Theologiegeschichte nach Schleiermacher unbeschadet ihrer positionellen Verfassung kennzeichnend und gemeinsam sind. Um nur zwei Problemaspekte eigens zu benennen: Zum einen sah sich die Theologie des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt durch die radikalisierte Religionskritik – unausweichlich mit der Frage konfrontiert, ob sie die Religion als anthropologisches Universale, das unveräußerlich zum Menschsein des Menschen gehört, zu behaupten vermag und damit vor dem Schicksal bewahrt, zu einem Epiphänomen bzw. einer bloßen Funktion von Metaphysik und Moral oder anderer Größen herabgesetzt zu werden. Zum anderen musste das Problem einer Klärung zugeführt werden, wie sich das allgemeine Wesen der Religion zu ihrer positiven Verfasstheit verhält. Das Kirchenthema in seinem Verhältnis zur Religionsthematik erwies sich von daher als ein Desiderat erster Ordnung. Dabei konnte die Frage nicht unerörtert bleiben, in welcher Beziehung Individualität und Sozialität des Glaubens zueinander stehen. Nicht selten ergaben sich wichtige Grenzmarkierungen zwischen den konfessionellen Traditionen aus der unterschiedlichen Bestimmung dieser Beziehung. Doch wäre es falsch, mit dem Protestantismus eine Individualitätskultur reinen Beliebens zu assoziieren und den Katholizismus pauschal zu einem Gebilde zu erklären, welches die prinzipielle Individualität des einzelnen Glaubenden der Sozialdisziplin eines autoritativen Gehorsamsgebots unterwirft. Trotz zweifellos gegebener konfessionsbedingter Differenzen stellt sich die tatsächliche Lage auch in dieser Hinsicht komplexer dar, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Das hat nicht zuletzt mit den erwähnten religionskritischen Tendenzen zu tun, die Protestantismus und Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße gemeinsam betreffen. Spätestens seit der Vormärzzeit sind Formen radikaler Religionskritik zu einem nicht länger vernachlässigbaren Faktor deutschen Geisteslebens geworden. Die Erweckungsbewegung, die um 1815 weite Teile nicht nur der protestantischen, sondern auch der katholischen Bevölkerung erfasst hatte, konnte dies nicht verhindern. Mitverantwortlich für ihre mangelhafte Langzeitwirkung war die fromme Bewegung dabei insofern, als sie nach Anfängen, in denen die Schranken der Konfessionen transzendiert wurden, in die engen Bahnen konfessioneller Kirchlichkeit einmündete. Die gebildeten Schichten emanzipierten sich in nicht unbeachtlichen Teilen vom kirchlichen Einfluss und sympathisierten nicht selten mit antiklerikalen und religionskritischen Zeittendenzen, wie sie u.a. von den Agitatoren des „Jungen Deutschland“ vertreten wurden. Dies hinter-

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ließ auch in der breiten Masse des Volkes einen tieferen Eindruck und das umso mehr, als die Industrielle Revolution die durch sie verursachte Arbeiterklasse den Kirchen und deren religiösem Leben entfremdete. Die mangelhafte Reaktion der Kirchen auf die Soziale Frage und die Lage des Proletariats war dafür ein zusätzlicher Grund. Sympathisierte das Bürgertum mit dem Liberalismus, so trieb die Arbeiterschaft nicht ohne kirchliche Schuld einem Materialismus zu, der nicht erst unter marxistischen Bedingungen ideologische Gestalt und die Form einer Kryptometaphysik und eines Religionsersatzes annehmen konnte. Dies, wie gesagt, konnten weder die Erweckungsbewegung noch der theologische Liberalismus verhindern, der – wie auch die diversen Gestalten der Vermittlungstheologie – nicht selten eine akademische oder doch jedenfalls eine Angelegenheit des Bildungsbürgertums blieb, deren religiöse Vertreter wohl Gelehrte, Beamte oder Advokaten zu beeindrucken vermochten, nicht aber Arbeiter, Handwerker oder die Landbevölkerung, die noch am ehesten den traditionellen Formen kirchlicher Frömmigkeit treu blieb. Angesichts der Komplexität und der sich steiKomplexitätssteigerung und gernden Unübersichtlichkeit der religiös-sozioKrisenindikatoren kulturellen Lage im Deutschland des 19. Jahrhunderts kommt man im Interesse theologiegeschichtlicher Orientierung nicht umhin, nach Zäsuren Ausschau zu halten, die eine gewisse Grundordnung in die überbordende Fülle des in Betracht zu ziehenden Stoffes zu bringen vermögen. Eine solche theologie- und geistesgeschichtliche Zäsur wird, wie im ersten Band erwähnt, durch die Todesdaten Hegels und Schleiermachers markiert, welche unter religionstheoretischen Aspekten eine auch in anderer Hinsicht klassisch zu nennende Periode beschließen. Seit den 30er Jahren zeichnet sich das Ende der großen Systementwürfe ab, deren einstige Integrationskraft rapide nachlässt und wachsender Desintegration weicht. Diese Integrationskrise, deren Anfänge sich schon zu Lebzeiten der Klassiker andeuten, soll im Folgenden unter drei Aspekten nachgezeichnet werden: Als Krise der Sittlichkeit bzw. der praktischen Vernunft; als Krise der spekulativen Vernunft bzw. der Absolutheit des Begriffs; als Krise des frommen Gefühls. Dabei wird die These vertreten, dass die religionstheoretischen Großsysteme Kants, Hegels und Schleiermachers, die im ersten Band auf dem Hintergrund der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ausführlich erörtert wurden, auch noch unter den Bedingungen ihrer Krise und ihrer Kritik den wesentlichen Bezugspunkt theologischer Theoriebildung darstellten. Die Krise der Sittlichkeit wird mithin unter dem Gesichtspunkt theologischer Kant-, diejenige der spekulativen Vernunft unter dem der Hegel-, die Krise des frommen Gefühls schließlich in der Perspektive der Schleiermacherrezeption beschrieben. In erster Hinsicht kommt besonders der Supranaturalismus in Betracht und zwar sowohl in seiner älteren, exemplarisch von Gottlob Christian Storr (1746–1805) vertretenen, als auch in seiner jüngeren, bei Albrecht Ritschl (1822– 1889) und den Ritschlianern begegnenden Variante. Unter dem zweiten Aspekt

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wird der postidealistische Realismus verhandelt, und zwar weniger in Form eines metaphysiklosen Empirismus und Positivismus, der philosophisch und theologisch als epigonales, wenngleich äußerst breitenwirksames Phänomen zu beurteilen ist, als vielmehr in der Gestalt jenes metaphysischen Empirismus, wie er für die positive Philosophie des späten Schelling kennzeichnend ist, um durch deren Vermittlung theologisch einflussreich zu werden und hineinzuwirken bis ins 20. Jahrhundert. Mit Bedacht zu berücksichtigen ist dabei, dass Schellings positive Philosophie als Philosophie der Offenbarung konzipiert worden ist: Denn inwiefern der Offenbarungsbegriff sich im Zusammenhang der Krise der klassischen religionstheoretischen Systeme kritische und konstruktive Geltung verschafft, soll nicht nur in Hinsicht auf die theologische Hegel- und Kant-, sondern schließlich auch im Hinblick auf die theologische Schleiermacherrezeption die Leitfrage der Untersuchung sein. Die Krise des frommen Gefühls wird dabei insbesondere hamartiologisch thematisiert. Ist es doch nach Maßgabe der an Schleiermacher anschließenden Erweckungsbewegung und ihrer theologischen Tradition die Sünde, deren Unbegreiflichkeit mehr noch als die Unvordenklichkeit des Seins die Faktizität der Offenbarung notwendigerweise erforderlich macht. Nachdem auf besagte Weise die Krise der Sittlichkeit und einer auf Moral basierenden Religion, die Krise gedanklichen Begreifens des Absoluten und einer durch den absoluten Begriff begründeten Religion und fernerhin die religiöse Krise des frommen Gefühls im 19. Jahrhundert skizzenhaft wahrgenommen worden ist, soll das Ende des Äons auf der Grundlage jener Theologie thematisiert werden, die den Krisenbegriff ausdrücklich in ihren Namen aufgenommen hat, um als Theologie der Krise nicht länger Religionstheorie, sondern dezidiert Theologie der Offenbarung und nichts als Offenbarungstheologie zu sein. Um indes die nachklassischpostidealistische Krisenbewegung, wie sie sich in der theologischen Kant-, Hegelund Schleiermacherrezeption abzeichnet, nicht allzu ungebremst ihrem Höhepunkt und vorläufigem Ende zuzuführen, was zweifellos unhistorisch wäre, soll am Beispiel von Adolf von Harnacks (1851–1930) Schrift über das „Wesen des Christentums“ zuvor noch ein exemplarischer Versuch kulturprotestantischer Krisenbewältigung vorgestellt werden. Der Hinweis auf Adolf von Harnack bietet die Der Kulturprotestantismus Gelegenheit, die Situation des Protestantismus und seine Krise und seiner Theologie in der deutschen Gesellschaft nach erfolgter Reichsgründung von 1870/71 noch ein wenig genauer ins Auge zu fassen. Dass die Reichsgründung einen entscheidenden Einschnitt nicht nur in der politischen, sondern auch in der Geschichte der evangelischen Landeskirchen und der protestantischen Theologie in Deutschland markiert, ist offenkundig und unbestreitbar (vgl. Graf II/1, 12ff.). Erkenntlich steigerte sich das Interesse an gesamtkultureller Verbindlichkeit nicht nur der christlichen Überlieferung im Allgemeinen, sondern namentlich der protestantischen Tradition. Dabei korrespondiert dem gesteigerten Interesse an protestantischer Prägung der Gesamtkultur im Kaiserreich eine Steigerung der positionellen Pluralität der Formen, in denen die-

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ses Interesse wahrgenommen und zur Geltung gebracht werden sollte. Die mit der Aufklärung anhebende, bereits im Bezug auf Wolffianismus, Neologie und Rationalismus aufweisbare, seit vormärzlichen Zeiten dann in hohem Maße forcierte Tendenz zur inneren Fraktionierung des Protestantismus setzt sich einschließlich der mit ihr verbundenen politischen Desintegrationen und Spaltungen verstärkt fort. Dabei bleiben die theologischen Grundkonstellationen, wie sie sich im Zusammenhang des modernen Strukturwandels bürgerlicher Öffentlichkeit ausgebildet haben, im Wesentlichen auch unter den veränderten Rahmenbedingungen des Reiches erhalten. Durch mannigfache Vermittlungspositionen untereinander mediatisiert stehen sich, idealtypisch betrachtet, Liberale auf der einen und Konservative auf der anderen Seite gegenüber. „Liberale Kulturprotestanten und konservative, zumeist vom neulutherischen Konfessionalismus geprägte Kirchenprotestanten vertraten dabei gegensätzliche Kulturkonzepte, die eng mit alternativen Deutungen des Verhältnisses von Religion und Kirche sowie konkurrierenden Einschätzungen der modernen Gegenwartskultur zusammenhingen.“ (Graf II/1, 15) Nicht ohne Recht lässt sich daher der Kampf der theologischen Schulen und Lager im Kern als „ein Streit um die Deutung des krisenhaften Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung“ (Graf I, 35) identifizieren, wobei die Neuzeit keineswegs nur von den Liberalen, sondern ebenso von den Konservativen repräsentiert wird, die auf ihre Weise nicht minder neuzeitlich waren als jene, mit dem Unterschied freilich, dass sie die negativen Folgelasten der Moderne und die Bedürfnisse traditionaler Kompensation in der Regel sehr viel stärker akzentuierten als ihre liberalen Gegner. Der bei allen gegebenen Differenzen und Alternativen vorhandene Zusammenhang zwischen dem liberalen und konservativen Lager wird des Weiteren dadurch unterstrichen, dass beide vom gemeinsamen Interesse an einem starken, den kulturellen Pluralismus umfassenden und vor Desintegration bewahrenden Protestantismus geprägt sind. So unterschiedlich sich die evangelischen Theologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch positionierten: „Die theologischen Repräsentanten des religiös-liberalen Kulturprotestantismus stimmen mit ihren kirchenpolitischen Gegenspielern aus dem konfessionell-konservativen Kulturluthertum darin überein, daß allein der Protestantismus die Leitkultur der preußisch-deutschen Gesellschaft sein und nach 1870/71 dem neuen Reich ein alle Klassen und Milieus integrierendes Wertfundament vermitteln könne.“ (Graf I, 35) Trotz einer je spezifischen und nicht selten gegensätzlichen Konkretisierung erhoben also beide Lager des Protestantismus einen hegemonialen Anspruch auf protestantische Kulturdominanz (vgl. Graf II/1, 16). In die Krise, welche den sog. KulturprotestantisTheologie der Krise mus mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreichs betraf, waren deshalb nicht nur die liberalen, sondern auch die konservativen Protestanten hineingezogen. Das führt zu dem einstweiligen Schluss, dessen Implikationen an ausgewählten Beispielen der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts im Einzelnen zu verdeutlichen sein werden, dass die Theologie, welche als diejenige der Krise in die Theolo-

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giegeschichte eingegangen ist, einen tatsächlichen Neuansatz bildet, der sich ebenso wenig wie die auf ihn folgenden Ansätze in der evangelischen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts als bloße Prolongation von Positionen des 19. Jahrhunderts begreifen lässt. Im Vergleich zu diesem – dem langen – ist das kurze 20. Jahrhundert tatsächlich ein Kapitel für sich, um im Folgenden als solches dargestellt zu werden. Die Annahme einer mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution von 1918 eingetretenen Epochenwende deutscher Geschichte bedeutet indes keineswegs eine Leugnung der bei aller Diskontinuität verbleibenden Kontinuität der sich signifikant beschleunigenden historischen und kulturellen Entwicklung. Die sozialgeschichtliche Erforschung diverser Krisenherde des deutschen Kaiserreiches hat gezeigt, dass drohende Vorzeichen der kommenden Katastrophe bereits unmittelbar nach der Gründung des Reichs und nicht erst gegen dessen Ende hin erkennbar sind. „In keiner anderen Phase der neueren Geschichte wurde die deutsche Gesellschaft durch so dramatische Modernisierungsschübe geprägt wie in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs. Die entscheidende Antriebskraft der schnellen Verwandlung einer traditional-ständischen Honoratiorengesellschaft in eine mobile Klassen- und Massengesellschaft bildete die kapitalistische Modernisierung der Ökonomie. Vor allem seit den späten achtziger Jahren vollzog sich in großer Geschwindigkeit der Übergang Deutschlands von einer noch dominant agrarwirtschaftlich geprägten Gesellschaft zu einer vorwiegend von industrieller Produktion und vielfältigen ökonomischen Konzentrationsprozessen geprägten antagonistischen Klassengesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der schnellen Industrialisierung und ihren Folgeproblemen, insbesondere mit der wachsenden Segmentierung der Gesellschaft, stellte die zentrale Herausforderung für alle sozialen Gruppen und politischen Kräfte im Kaiserreich dar.“ (Graf II/1, 23f.) Auch Kirche und Theologie waren in diesen grundstürzenden Umwälzungsprozess involviert, ohne doch dauerhafte Lösungen seiner Bewältigung entwickeln zu können. Die soziale Frage wurde nur ansatzweise in Angriff genommen. Die Reaktionen auf rasantes Bevölkerungswachstum und fortschreitende Urbanisierung blieben halbherzig. Bezüglich der politischen Transformationen aber erwies sich der Protestantismus trotz seines gesamtgesellschaftlichen Integrationsanspruchs in vielem als eine – noch dazu in sich fraktionierte – Partei. Neben den bürgerlichliberalen und den primär durch Adel, Bauernschaft und einige Vertreter des Mittelstands und des Großkapitals geprägten konservativen Sozialmilieus des Protestantismus sowie dem politischen Katholizismus, der sich in der Zentrumspartei höchst erfolgreich organisierte, formierte sich eine proletarisch-sozialdemokratisch bestimmte Subkultur, die sich den verfassten Kirchen und mehr noch der akademischen Theologie gegenüber bis hin zu ausgesprochener Gegnerschaft entfremdete. Angesichts dieser Entwicklung musste sich die in den protestantischen Eliten des Kaiserreichs weit verbreitete Überzeugung, einen privilegierten Status in Gesellschaft und Staat innezuhaben, mittelfristig als „illusorische Selbsttäuschung“ (Graf II/1, 51) erweisen. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die

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Desillusionierung definitiv. Der protestantische Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Repräsentanz und Integration gehörte von nun an endgültig der Vergangenheit deutscher Geschichte an. Einige theologiegeschichtlich signifikante StatioZum weiteren Gang der nen auf dem Weg des langen 19. Jahrhunderts Untersuchung (III,3) in die Krise der Neuzeit im Allgemeinen und diejenige des modernen deutschen Protestantismus im Besonderen namhaft zu machen, ist, wie gesagt, Ziel nachfolgender Studien. Die Krise des frommen Gefühls im Schleiermacher’schen Sinne wird mit der Unbegreiflichkeit der Sünde (III,4) manifest, die Krise der spekulativen Vernunft und der Hegel’schen Annahme zu leistender Aufhebung religiöser Vorstellung in den absoluten Begriff mit der Einsicht in die Unvordenklichkeit des Seins (III,5), die Krise der Sittlichkeit und der praktischen Vernunft, an der sich Kants Religionstheorie orientierte, mit der erneuten Wahrnehmung der Transmoralität der Religion (III,6). In der Theologie der Krise schließlich, wie Karl Barth sie zu Beginn des kurzen 20. Jahrhunderts (III,8) ausbildete, wird die Krise der Neuzeit und des modernen Protestantismus nicht länger nur indirekt, sondern direkt thematisch. Zugleich wird das Paradigma theologischer Selbstverständigung definitiv vom Religionsbegriff auf den Begriff der Offenbarung umgestellt, zu dessen neuzeitspezifischer Verwendung eingangs einige einführende Bemerkungen notiert seien (III,2).

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2. Offenbarung als neuzeitspezifischer Begriff

Lit.: U. Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003. – G.W.F. Hegel, Gesammelte Schriften. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bd. 4: Jenaer Kritische Schriften, Hamburg 1968; Bd. 15: Schriften und Entwürfe I (1817–1825), Hamburg 1990. – F.H. Jacobi, Werke. Gesamtausgabe hg.v. K. Hammacher und W. Jaeschke, Bd. 2/ 1: Schriften zum transzendentalen Idealismus, Hamburg 2004 – E. Herms, Offenbarung V. Theologiegeschichte und Dogmatik, in: TRE 25, 146–210. – Kant’s gesammelte Schriften. Hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke, Berlin 1910ff. (= Akad. Ausg.). – F.D.E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (= KGA), hg.v. H.-J. Birkner/G. Ebeling/H. Fischer/H. Kimmerle/K.-V. Selge, Berlin/ New York 1980ff.

Gelegentlich sind vergangene Werke der Geistesgeschichte dem Bewusstsein einer breiteren Öf- Ursprungserschließung fentlichkeit nur noch über einzelne Sentenzen präsent, die sich der Nachwelt sprichwörtlich eingeprägt haben. Im Falle Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) wurde diese Gunst dem Satze zuteil, dass man ohne Voraussetzung eines Realismus, wie er im Begriff des Ding-an-sich umschrieben sei, in das Kant’sche System „nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben“ (Jacobi, Werke 2/1, 109) könne. In der zitierten Form findet sich die Wendung in einer Beilage („Ueber den transzendentalen Idealismus“) der Schrift „David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch“ von 1787, in welcher Jacobi die Grundlagen dessen entwickelte, was man seine Philosophie des Glaubens und der Offenbarung genannt hat. Den kritischen Ausgangspunkt der Argumentation bildet die Annahme, dass Kants – die Hume’sche Erkenntnistheorie in die Konsequenz treibende – „Kritik der reinen Vernunft“ im Nihilismus ende, da die Vorstellung einer ursächlichen Wirkung eines Dinges-an-sich, wie der anfänglich eingeführte Begriff der Sinnlichkeit sie involviere, nach der Lehre der Analytik ausgeschlossen sei. Diese erlaube nur in Bezug auf die phänomenale Sphäre der Erfahrungswelt Kausalverhältnisse in Anschlag zu bringen. Dieser selbstzersetzende Widerspruch liefere die Kant’sche Philosophie dem bodenlosen Abgrund des Nichts aus, aus welchem „keine hintennach ersonnene Hülfe“ (Jacobi, Werke 2/1, 382), wie sie die „Kritik der praktischen Vernunft“ durch Erweis der Evidenz des Sittlichen beizubringen suche, „das ein für allemal Verlorne wiederbringen könne“ (ebd.). Vergleichbar hatte bereits Johann Georg Hamann (1730–1788) in seiner Rezension der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 sowie in seiner „Metakritik über

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den Purismus der Vernunft“ von 1784 argumentiert, die man nicht ohne Recht den konzentriertesten Angriff genannt hat, den Kants Philosophie zu ihrer Zeit erfahren hat. Aufgefangen werden kann der Sturz der philosophischen Vernunft in den Abgrund des Nihilismus nach Jacobi nur dann, wenn diese sich auf Glaube und Offenbarung gründe, will heißen: auf die im Gefühl sich in der Weise unmittelbarer Gewissheit manifestierende Wahrheit der unvordenklichen Gegebenheit der Wirklichkeit des Wirklichen: „... das reale Seyn, das Seyn schlechthin, giebt sich im Gefühle allein zu erkennen; in demselben offenbart sich der gewisse Geist.“ (Jacobi, Werke 2/1, 424) Im Gefühl, das Jacobi im Anschluss an Jakob Friedrich Fries (1773–1843) auch Grundurteil der Vernunft nennen kann, koinzidiert in ursprünglicher Weise die für die Sphäre gedanklicher Reflexion und reflektierten Handelns signifikante Differenz von Subjekt und Objekt. Das Gefühl kann sonach die Bedingung der Möglichkeit theoretischer und praktischer Vernunft genannt werden, was nichts anderes heißt, als die Vernunft auf Glauben und Offenbarung gründend zu behaupten. Denn Glaube und Offenbarung sind nach Jacobi die wahren und eigentlichen Namen für das, was im Gefühl in unmittelbarer Weise präsent ist. Ist der Glaube „Etwas von der Seele Gefühltes ..., welches die Bejahungen des Wirklichen und seine Vorstellung, von den Erdichtungen der Einbildungskraft unterscheidet“ (Jacobi, Werke 2/1, 163), so bezeichnet Offenbarung eben jene Manifestation des Sein-Selbst (vgl. Jacobi, Werke 2/1, 164ff.), wie sie in der Gewissheit des Glaubens als einem präreflexiven Gefühl besteht, welches in seiner Präreflexivität, wie gesagt, als Bedingung der Möglichkeit allen reflektierten Denkens und Handelns fungiert. Fügt man hinzu, dass Jacobi die im Gefühl statthabende „Gottesahndung“ (Jacobi, Werke 2/1, 99) gelegentlich mit der Wendung „unmittelbare Anschauung“ (vgl. etwa Jacobi, Werke 2/1, 97) umschreiben konnte, so wundert es nicht, in einem am 28. März 1819, kurz nach Ableben des Glaubensphilosophen verfassten Brief Schleiermachers an Berthold Georg Niebuhr zu lesen: „Jacobis Tod wird Sie auch bewegt haben, wie er mir immer noch im Gemüthe liegt ... Mir war der Gedanke gekommen und ziemlich fest geworden, ihm meine Dogmatik (sc. die 1821/ 22 erstmals erschienene Glaubenslehre), an der ich jetzt schreibe, zuzueignen, dadurch unserm Verhältniß ein kleines Denkmal zu setzen und zugleich nach meinem Vermögen Jacobis eigentliches Verhältniß zum Christenthum ins Licht zu stellen.“ (Zit. n. KGA I/7,1, XXVI) Liegt die Bedeutung J.H. Jacobis für die theoloSchleiermacher giegeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert in seinem generellen Einfluss auf Schleiermacher begründet, so besteht sie in offenbarungstheologischer Hinsicht speziell darin, durch Verweis auf ein aller theoretischen und praktischen Tätigkeit der Vernunft zugrundliegendes Erschließungsgeschehen die rationale Offenbarungskritik einer Metakritik unterzogen und den Offenbarungsbegriff unter neuzeitlichen Bedingungen rehabilitiert und reformuliert zu haben. Offenbarung bedeutet nicht länger Mitteilung suprarationaler Kenntnisse, deren Überbietungsansprüche dem

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„lumen naturale“ gegenüber die Aufklärungskritik herausgefordert und zu den bekannten Konzepten einer „religio naturalis vel rationalis“ geführt haben. Der Begriff der Offenbarung bezeichnet vielmehr jenes ursprüngliche Erschließungsgeschehen, das allem Begreifen und Tun insofern vorausgeht, als dadurch Denken und Handeln allererst für sich selbst erschlossen werden. In diesem Sinne verdankt sich, wenn man so will, das „lumen naturale“ an sich selbst einer supranaturalen Erleuchtung, die – alles andere als irrationaler Natur – die Voraussetzung und Grundlage aller Rationalitätsvollzüge und inhaltlich bestimmter Vernunfterkenntnisse ist. Es ist die Offenbarung, welche jenen Horizont eröffnet, innerhalb dessen Denken und Handeln vernünftig ihre Ziele verfolgen können. Wie Religion als ihr Korrelat durch Metaphysik und Moral nicht zu ersetzen ist, so hat Offenbarung als Basis allen Wissens und allen verständigen Tuns zu gelten, ohne welche von Vernunft begründet nicht die Rede sein kann. Für Schleiermacher ist Jacobi auch in offenbarungstheologischer Hinsicht vorbildlich geworden. Der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts und der Glaubensphilosoph verstehen unter Offenbarung beide jenes Erschließungsgeschehen, in dem der Mensch zum unmittelbaren Bewusstsein seiner selbst und mit dem Bewusstsein seiner selbst in seinem Sich-Gegebensein zugleich zum Bewusstsein gegebenen Seins einer Welt des Endlichen überhaupt kommt. Als Beleg sei exemplarisch auf § 4,4 der zweiten Auflage der Schleiermacher’schen Dogmatik verwiesen, wo es heißt: „wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer eben dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden schlechthinnigen Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist.“ (zit. n. M. Redeker, Berlin 7 1960) Dass Schleiermachers Verständnis von Religion und Offenbarung sehr eng verbunden ist mit Hegel Jacobis Theorie des unmittelbaren Selbst- bzw. Realitätsbewusstseins wurde zeitig bemerkt und von keinem Geringeren als G.W.F. Hegel ausdrücklich namhaft gemacht. Nachdem dieser in der Vorrede seines Textes über die „Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“ von 1801 Schleiermachers Reden über die Religion noch verhältnismäßig wohlwollend beurteilt hatte, ordnete er sie in seiner Schrift „Glauben und Wissen“ von 1802/03 der Philosophie Jacobis zu, und zwar in dezidiert kritischer Absicht. In den Reden über die Religion, so Hegel, habe „das Jacobische Princip die höchste Potenzirung erreicht, deren es fähig ist“: „da in der Jacobischen Philosophie die Vernunft nur als Instinct und Gefühl, und Sittlichkeit nur in der empirischen Zufälligkeit und als Abhängigkeit von Dingen, wie sie die Erfahrung und Neigung und des Herzens Sinn gibt, das Wissen aber nur als ein Bewußtseyn von Besonderheiten und Eigenthümlichkeit, es seye äußerer oder innerer, begriffen wird, so ist in diesen Reden hingegen die Natur als eine Sammlung von endlichen Wirklichkeiten vertilgt, und als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus

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ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgehohlt, die Scheidewand zwischen dem Subject, oder dem Erkennen und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt. Aber indem so das Individuum seine Subjectivität von sich wirft, und der Dogmatismus der Sehnsucht seinen Gegensatz in Idealismus auflößt, so soll diese Subject-objectivität der Anschauung des Universums doch wieder ein Besonderes und Subjectives bleiben“ (Hegel 4, 385). In dieser Deutung fühlte sich Hegel durch Schleiermachers weitere Entwicklung bestätigt, die ihm den elementaren Zusammenhang mit dem – vermeintlichen und nach Hegels Urteil tatsächlichen – Subjektivismus Jacobis als immer offenkundiger erscheinen ließ. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur die berühmt-berüchtigte Bemerkung im Vorwort zur Religionsphilosophie seines früheren Heidelberger Schülers H.F.W. Hinrichs (1794–1861) von 1822, wo es heißt: „Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu seyn, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich.“ (Hegel 15, 137) Hegels maliziöse Bemerkung, von der nicht eigens gesagt werden muss, dass sie den Umkreis der Stärke Schleiermachers verlässt und dessen Niveau unterläuft, darf nicht über die erheblichen Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen, die zwischen beiden Denkern gerade in offenbarungstheoretischer Hinsicht bestehen. Wie Schleiermacher lässt auch der Offenbarungstheoretiker Hegel die Alternative von rationaler Vernunfterkenntnis und supranaturalem Offenbarungswissen weit hinter sich, indem er die Vernunft zum Organ der Offenbarung erklärt. Gott offenbart sich selbst in der Vernunft. Offenbarung beinhaltet und vermittelt kein supranaturales Wissen, das die Rationalität des „lumen naturale“ überbietet oder gar sprengt. Vielmehr wird durch Offenbarung als Sich-Manifestieren des Geistes die Vernunft für sich selbst erschlossen, um ihre natürliche Verfassung zu transzendieren und im Durchgang durch die Entwicklungsmomente der Idee zum vollendeten Bewusstsein ihrer selbst zu gelangen. Wie für Schleiermacher ist deshalb auch für Hegel Offenbarung ein Erschließungsgeschehen, das den Übergang von Substanz zu Subjekt eröffnet und ohne den Prozess des Zusichkommens, wie er im Sich-Wissen des Selbstbewusstseins statthat, nicht zu erfassen ist. Offenbarung bedeutet für beide keine supranaturale Information, sondern ein Geistgeschehen, das in basaler Weise die Beziehung von Subjektivität zu einem fundierenden Grund von Selbst und Welt angeht, welche das religiöse Verhältnis ausmacht. Was Hegel an Schleiermacher kritisiert, ist nicht der subjektivitätstheoretische Ansatz seiner Offenbarungstheologie, sondern die nach seinem Urteil vermittlungslose Unmittelbarkeit, in welcher sich das Geschehen der Geisterschließung nach Maßgabe der Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins bzw. des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit ereignet. Dem wird entgegengehalten, dass sich die Offenbarung des Unendlichen im Endlichen nicht unmittelbar, sondern in der Weise jener absoluten Vermittlung vollzieht, durch welche das Endliche von der Nichtigkeit seines Beginnens im indifferenten Sein zum göttlichen Geist erhoben

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wird, um sich in ihm zu vollenden. Umgreift das Manifestationsgeschehen der Geistoffenbarung den gesamten Entwicklungsgang des Systems, so wird es in dessen Verlauf in der Philosophie der Religion eigens thematisch, wobei die je auf ihre Weise geoffenbart zu nennenden Religionen als Entwicklungsmomente der offenbaren Religion des Christentums zu gelten haben, in dessen religiöse Vollendungsgestalt sie eingehen, um darin aufgehoben zu werden. Indes endet der Prozess der Erhebung, in welchem der Geist seine Absolutheit erweist, indem er alle beschränkten Manifestationen seiner selbst in fortschreitender Offenbarung transzendiert und in sich aufhebt, nicht mit Religion, auch nicht mit der offenbaren Religion des Christentums, sofern deren Gehalt noch von der Form der Vorstellung abhängig ist, die es nach Hegel in diejenige des reinen Denkens als den Begriff des Begriffs aufzuheben gilt. Offenbarung ist nach Schleiermacher Erschließung des Universums als des Sinnhorizon- Kant tes des Daseins im unmittelbaren Selbstbewusstsein, welches ein Innesein ist, das als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit mit der Endlichkeit von Selbst und Welt zugleich des Unendlichen als des alles Endliche Transzendierenden gewahr wird. Hegel dagegen gilt das Offenbarungsgeschehen als der Vermittlungsprozess der Selbstdarstellung der unendlichen Vernunft in der endlichen, wie er begründet ist im Wesen des absoluten Geistes als eines SichManifestierens. In beiden Offenbarungskonzepten ist nicht nur das mittelalterliche, sondern auch dasjenige Verständnis von Offenbarung grundlegend verändert, das für die Aufklärung kennzeichnend wurde und noch bei Immanuel Kant begegnet. Für das mittelalterliche Verständnis, das Ausdrücke wie „revelatio“ oder „manifestatio“ überhaupt erst zum Inbegriff des Gegenstandes und des fundierenden Grundes des religiösen Glaubens werden ließ (vgl. Herms, 155–162), ist die Grundannahme bestimmend, dass durch Offenbarung und Offenbarungserkenntnis die Erkenntnis der Vernunft, wie immer diese im Einzelnen bestimmt werden mag, überboten, aber nicht abstrakt negiert wird. Offenbarung als Grund, Gegenstand und bestimmende Vollzugsform christlichen Glaubens ist übervernünftig, aber nicht unvernünftig oder gar widervernünftig. Die menschliche Vernunft ist daher unbeschadet ihrer Schranken anschlussfähig für die göttliche Offenbarung, die ihrerseits aufgeschlossen ist für alles vernünftigerweise als wahr Erkannte. Dieses Offenbarungsverständnis, dessen Grundkonzept sich bei allen Modifikationen, die es erfuhr, erstaunlich stabil hielt und auch in reformatorischer Theologie und darüber hinaus der Form nach unschwer zu identifizieren ist, geriet in die Krise, als widerstreitende Religionsparteien von ihm Gebrauch machten. War das traditionelle Verständnis von Hause aus auf vernünftigen Ausgleich insofern bedacht, als es zwar die Suprarationalität der Offenbarung behauptete, deren Irrationalität aber zugleich bestritt, so geriet es in einen zwangsläufigen Konflikt mit sich selbst zu dem Zeitpunkt, als unter Berufung auf Offenbarungserkenntnis christliche Glaubensweisen begründet wurden, die sich untereinander nicht mehr ausglei-

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chen ließen, sondern zu einem antagonistischen Gegensatz tendierten. Sachlich wiederholt sich unter anderen terminologischen Vorzeichen der Prozess, der in Bezug auf den Religionsbegriff ausführlich dargestellt wurde. Um einiges Elementare in Erinnerung zu rufen: Religion, Offenbarung, Die Geschichte des Religionsbegriffs, der diejenige Vernunft des Begriffs der Offenbarung auf ihre Weise korrespondiert, verlief, wie sich zeigte, nicht kontinuierlich. Abgesehen von der Schwierigkeit, in anderen Sprachen ein Äquivalent zu dem lateinischen Lehnwort zu finden, hat sich dessen gegenwärtige Bedeutung im Vergleich zur antiken und mittelalterlichen erheblich verändert. In der lateinischen Literatur der Antike bezeichnet „religio“ in der Regel die gewissenhafte Beachtung der nach göttlicher Weisung erforderlichen Riten. Die übliche etymologische Ableitung von „religere“ bzw. „relegere“ bestätigt dies. Wenn demgegenüber Laktantius und Augustin die Herkunft des Wortes von „religari“ betonten, dann geschah dies u.a. deshalb, um den Akzent von der äußeren Befolgung kultischer Vorschriften auf die innere Gottesbeziehung der Seele zu verlagern. Nichtsdestoweniger hat sich der originäre Bedeutungsgehalt des antiken „religio“-Begriffs auch im Mittelalter in modifizierter Form erhalten. „Religiosi“ sind nach mittelalterlichem Sprachgebrauch Ordensleute, die in hervorragender Weise die „virtus religionis“, also diejenige Tugend üben, durch welche jemand, um mit Thomas von Aquin zu reden, Gott zu Dienst und Ehren etwas darbringt (STh II-II, q. 186, a. 1 c.a.: „per quam aliquis ad Dei servitium et cultum aliquid exhibet“; vgl. DThA Bd. 24, Heidelberg u.a. 1952, 103). Die bestimmende Bedeutung des Religionsbegriffs bleibt entsprechend nach wie vor die sorgfältige Beachtung dessen, was Gott gegenüber tugendgemäß zu tun ist. Dieser Sinngehalt hat sich bis weit in die Frühneuzeit hinein erhalten. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzt sich – vorbereitet durch vorsichtige Neuansätze in Renaissance und Humanismus – allmählich eine generalisierende Verwendung des Religionsbegriffs durch, wie sie für dessen modernen und aktuellen Gebrauch kennzeichnend ist. Zwar ist auch jetzt noch von Religion als einer „iustitia erga Deum“ die Rede; doch bezeichnet der Begriff vor allem ein transkonfessionelles Allgemeines von universalanthropologischer Relevanz, dessen wesentlichem Gehalt diverse Erscheinungsformen subsumiert werden, die nun Religionen genannt werden können. Dabei hebt die plurale Verwendung die Einheit des Religionsbegriffs nicht auf, sondern bestätigt, insofern das eine und allgemeine Wesen der Religion in der diversen Besonderheit der Religionen ihre Entsprechung finden soll. Als ein Aufklärungsprodukt gibt sich das eine und allgemeine Wesen der Religion spätestens dann zu erkennen, wenn es die Gestalt der „religio naturalis vel rationalis“ annimmt. Die wesentliche Religion, so die These, ist ihrer wahren Natur nach vernünftig und dem Streit derjenigen, die unter Berufung auf suprarationale Offenbarung gegensätzliche religiöse Positionen beziehen, prinzipiell überlegen. Auf dieser Annahme, die soziohistorisch eine Reaktion auf die Antagonismen des

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konfessionalistischen Zeitalters darstellt, basiert die aufklärerische Kritik am supranaturalistischen Offenbarungskonzept mittelalterlicher Provenienz. Dabei konnte die Kritik an Vorgaben des kritisierten Konzepts durchaus konstruktiv anknüpfen: Blieb doch die Theorie übervernünftiger Offenbarung auf Vernunft elementar dadurch bezogen, dass sie zwar eine Überbietung der Vernunft, nicht aber einen Gegensatz zu ihr behauptete. Hier setzt die Aufklärungskritik konstruktiv an, indem sie den Anspruch der Offenbarung auf Übervernünftigkeit bestreitet und ihre erleuchtende Kraft mit dem „lumen naturale“ koinzidieren lässt, welches für ein rechtes Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis hinreichend und damit religiös suffizient sei. Nicht dass von der Aufklärung die Möglichkeit von Offenbarung generell in Frage gestellt oder Religion pauschal kritisiert worden wäre: Gerade in Deutschland war das keineswegs der Fall. Dem „lumen naturale“ konnte durchaus Offenbarungsqualität zuerkannt werden, und Religion galt nur den wenigsten Vertretern der deutschen Aufklärung als ein Produkt der Unvernunft. Doch hatte die Vernunft, der in der Regel nicht nur Selbst- und Welt-, sondern auch Gotteserkenntnis zugetraut wurde, als Maßstab einer aufgeklärten Religion samt ihrer möglichen Offenbarungsansprüche zu gelten. Das ist auch bei Kant nicht grundsätzlich anders. Dessen kritizistisches Vernunftverständnis verabschiedete zwar die Leibniz-Wolff ’sche Philosophie einer natürlichen Offenbarung, welche das deutsche Aufklärungsdenken lange bestimmte, und mit ihr die Annahme, von den Ideen Gottes, der Seele und der Freiheitswelt sei theoretisch ein realer und nicht lediglich ein regulativer Gebrauch zu machen. Dafür rückte bei Kant die praktische Vernunft in die Funktion des Kriteriums aller religiösen Offenbarungsansprüche ein. Vernünftig sind die Ansprüche der Religion, sofern sie mit dem Anspruch der praktischen Vernunft übereinkommen, wie er sich im kategorischen Imperativ ausspricht, der durch Religion weder zu ergänzen, noch gar zu ersetzen sei. Es ist der reine Glaube praktischer Vernunft, an deren Moralität und Sittlichkeit sich die Offenbarungszeugnisse der Religion und ihre statutarischen Gesetze zu bemessen haben. Zwar besteht nach Kant zwischen historischem Offenbarungsglauben und Vernunftreligion kein zwangsläufiger Gegensatz; er setzt im Falle des Christentums vielmehr entschieden voraus, dass Vernunftoffenbarung, wie er ausdrücklich sagen kann (vgl. etwa Akad. Ausg. VI, 144), und Offenbarung durch Schrift (und Tradition) im Wesentlichen übereinstimmen. Im Falle des Konflikts aber gehört nach seinem Urteil die Schiedsrichterrolle der praktischen Vernunft und damit jener Allgemeinverbindlichkeit, die für jeden Menschen ohne spezielle theologische Unterrichtung verständlich, ja selbstverständlich ist. In diesem Sinne ist Kants Bestreben auf den allmählichen Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens gerichtet, dessen Vollzug er als Annäherung des Reiches Gottes deutet (vgl. Akad. Ausg. VI, 115–124). Die Grundsätze der Auslegung der Heiligen Schrift und der Dogmenhermeneutik haben dieser Intention zu entsprechen. Wenn gefragt wird, „ob die Moral nach der Bibel oder die Bibel vielmehr nach der Moral ausgelegt werden müsse“ (Akad. Ausg. VI, 110), dann ist für Kant die Antwort eindeutig. Ebenso

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klar wird sie in Fichtes (1762–1814) „Kritik aller Offenbarung“ von 1792 ausgesprochen, wobei freilich der weitere Entwicklungsgang des Fichte’schen Denkens einen Weg über Kant hinaus weist, wie er von Schleiermacher, Hegel und anderen beschritten wurde, die an sein Werk anschlossen, um es zu transzendieren. Bevor hierauf zurückzukommen sein wird, seien Zum Offenbarungsbegriff zunächst einige Bemerkungen zum aktuellen theokatholischer Theologie logischen Gebrauch des Offenbarungsbegriffs zwischengeschaltet, wobei vorerst nicht die evangelische, sondern die offizielle katholische Theologie zu Wort kommen soll, deren Entwicklung in dieser Hinsicht besonders signifikant und lehrreich ist. In die römisch-katholische Konzilssprache eingeführt wurde der Offenbarungsbegriff im zweiten Kapitel der dogmatischen Konstitution über den katholischen Glauben „Dei Filius“ des Ersten Vatikanischen Konzils (DH 3004–3007; DH 3026–3029). Unter der mit Berufung auf Röm 1,20 betonten und gegen mögliche Bestreitungen mit dem Anathem verteidigten (vgl. DH 3026) Voraussetzung, dass der eine und wahre Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden könne (DH 3004: „naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse“), werden die Tatsache der übernatürlichen Offenbarung, durch welche Gott sich selbst und die ewigen Ratschlüsse seines Willens dem Menschengeschlecht erschließt, und deren Notwendigkeit herausgestellt sowie gegen den Deismus und Rationalismus geltend gemacht. Die unbedingte Notwendigkeit der die vernünftige Erkenntnis des Daseins Gottes zugleich bestätigenden und übersteigenden supranaturalen Offenbarung wird begründet mit der gottgewollten Hinordnung des Menschen auf das übernatürliche Ziel der Teilhabe an den göttlichen Heilsgütern, die das Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes völlig übersteigen (DH 3005: „quae humanae mentis intelligentiam omnino superant“). Enthalten sei jene übernatürliche Offenbarung nach Maßgabe des Trienter Konzils, auf dessen Dekret über die Annahme der heiligen Bücher und der Überlieferung (DH 1501) man sich ausdrücklich beruft, „in libris scriptis et sine scripto traditionibus“, also im Kanon der Bibel Alten und Neuen Testaments und in ungeschriebenen Überlieferungen. Die authentische Auslegung der Offenbarungsquelle(n) aber ist dem Lehramt der Kirche anheimgegeben. Was anschließend über den Glauben (DH 3008–3014) und sein Verhältnis zur Vernunft (DH 3015–3020) gesagt wird, fügt sich konsistent in diesen Zusammenhang ein. Es gilt der Grundsatz: „Si quis dixerit, rationem humanam ita independentem esse, ut fides ei a Deo imperari non possit: anathema sit.“ (DH 3031: „Wer sagt, die menschliche Vernunft sei so unabhängig, daß ihr der Glaube von Gott nicht befohlen werden könne: der sei mit dem Anathema belegt.“) Man hat das Offenbarungsverständnis des Ersten Vatikanischen Konzils gelegentlich ein instruktionstheoretisches genannt, das vor allem an der kognitiven und doktrinalen Komponente des göttlichen Erschließungsgeschehens orientiert sei und dieses primär als Mitteilung von Lehrwahrheiten auffasse. Über die Ange-

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messenheit dieser Deutung ist hier nicht zu befinden; außer Zweifel steht, dass das Offenbarungsverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils, wie es insbesondere in der dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ (DH 4201–4235; vgl. auch LThK Erg.-Bd. II, 504–583) entfaltet wurde, im Vergleich zu demjenigen des Ersten eine nicht unerhebliche Vertiefung darstellt. Im Zentrum steht nun der vom Vatikanum I zwar erwähnte, aber nicht eigentlich in die Mitte gestellte Gedanke der Selbstoffenbarung Gottes. Die Offenbarung wird primär nicht als belehrende Mitteilung über vernunftunzugängliche Sachverhalte, sondern als personale Selbstmitteilung des in Tat und Wort geschichtlich wirksamen dreieinigen Gottes bestimmt, der sich in Jesus Christus, welcher zugleich Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist (DH 4202: „qui mediator simul et plenitudo totius revelationis exsistit“), eschatologisch als derjenige erschlossen hat, der „wirklich mit uns ist, um uns aus der Finsternis der Sünde und des Todes zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken“ (DH 4204). Die christliche Heilsordnung des Neuen Bundes hat insofern als definitiv und unüberholbar zu gelten. Auch wenn „Dei Verbum“ im Folgenden, namentlich in der Lehre vom Glauben und in der Weitergabe der göttlichen Offenbarung sowie der Doktrin, die authentische Auslegung des in Schrift und Überlieferung gegebenen Wortes Gottes sei allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, tendenziell wieder in die traditionellen Bahnen der dogmatischen Konstitution „Dei Filius“ des I. Vatikanum zurücklenkt, wird man das im ersten Kapitel entwickelte Verständnis der Offenbarung selbst („De ipsa revelatione“) als einen echten Fortschritt dieser gegenüber zu würdigen haben. Vorbereitet wurde dieser Fortschritt durch eine aus neoscholastischen Schranken herausführende theologische Neubesinnung im Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, in deren Zusammenhang es vielfältige Berührungen mit Entwicklungen innerhalb der evangelischen Theologie gab. Auch in der evangelischen Theologie wird seit Zum Offenbarungsbegriff der Sattelzeit der Moderne der Offenbarungsbe- evangelischer Theologie griff zunehmend im Sinne göttlicher Selbstoffenbarung verwendet. Explizit begegnet der Terminus zuerst in Schellings Freiheitsschrift von 1809. Systembestimmende Bedeutung gewinnt er dann vor allem bei Hegel, sofern nun die Vernunft und das vernünftig zu begreifende Systemganze als Vollzüge des Sich-Offenbarens Gottes begriffen werden. Hegels Begriff der Offenbarung als Selbsterschließung des Absoluten ist nicht nur in der spekulativen Theologie eines Philipp Marheineke (1780–1846) oder Carl Daub (1765–1836), sondern weit darüber hinaus wirksam geworden bis hin zu Karl Barth (1886–1968), in dessen Dogmatik der Selbstoffenbarungsbegriff und die ihm implizite These der Einzigkeit der Offenbarung konzeptionserschließende Bedeutung gewinnt, um trinitätstheologisch entfaltet zu werden. Auch bei anderen Vertretern der Dialektischen Theologie sowie bei nicht wenigen ihrer Kritiker besteht über alle Unterschiede hinweg die gemeinsame Auffassung, dass Offenbarung nicht wesentlich Kundgabe von suprarationalen Sachverhalten und übernatürlichen Wahrheiten, sondern göttliche Selbstkundgabe sei.

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Die fast ausschließliche Verwendung des Begriffs der Offenbarung für die Selbsterschließung Gottes, wie sie in der moderneren evangelischer Theologie üblich geworden ist, lässt sich sachlich und terminologiegeschichtlich auf die sog. Sattelzeit der Moderne zurückführen und näherhin als ein Erbe des Deutschen Idealismus erweisen. Es bestätigt sich ein weiteres Mal, dass die Zeit um die Wende und nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch in semantischer Hinsicht eine Schwellenzeit darstellt und zwar nicht nur, wie namentlich Reinhard Koselleck gezeigt hat, für die politisch-soziale, sondern auch für die religiöse Sprache. Die semantische Transformation des Offenbarungsbegriffs ist ein bemerkenswerter Beleg hierfür. Zwar hat der Begriff der Selbstoffenbarung eine lange, bis auf Philo von Alexandrien und Plotin zurückreichende Geschichte. Doch gewinnt er erst seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts jene Zentralbedeutung, die ihn bis heute im religiösen und vor allem im theologischen Diskurs zukommt. Die seit der Sattelzeit bestimmend gewordene Bedeutung des Offenbarungsbegriffs stellt nicht nur im Vergleich zu seiner traditionellen Verwendung in der Vormoderne einen erheblichen Wandel dar; auch die seit Aufklärungszeiten übliche Relation von Vernunft und Offenbarung erfährt dadurch eine grundlegende Veränderung, sofern Genese und Vollzug der Vernunft nun an sich selbst als ein Offenbarungsereignis verstanden werden. Dies ist bei Hegel der Fall, aber in anderer Weise auch bei Schleiermacher, der zwar den Begriff der Selbstoffenbarung Gottes nicht verwendet, aber dem in der Religion statthabenden, im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit manifesten Erschließungsgeschehen ebenfalls eine für theoretische und praktische Vernunft konstitutive Bedeutung zuerkennt. Zugleich geben Hegel und Schleiermacher ein gemeinsames Beispiel dafür ab, wie eng der moderne Offenbarungsbegriff mit dem Religionsbegriff in seiner neuzeitspezifischen Verwendung sowohl terminologiegeschichtlich als auch sachlich verbunden ist. Das Verhältnis beider Begriffe, deren reflexiver Gebrauch in Philosophie und Theologie von ihrer nur bedingt signifikanten, weil unpräzisen Alltagsverwendung zu unterscheiden ist, lässt sich fürs Erste am ehesten funktional im Sinne eines gesetzmäßigen Zusammenhangs veränderlicher Größen beschreiben. Diese Beschreibung kann selbst für den äußersten Fall noch vorläufige Geltung beanspruchen, dass das Verhältnis von Religion und Offenbarung als Gegensatz bestimmt wird. Denn man wird zu prüfen haben, ob sich nicht auch noch im Falle ihrer alternativen Verhältnisbestimmung ein reflexer Zusammenhang beider Begriffsgrößen zu erkennen gibt. Dass ein solcher Zusammenhang aufs Ganze gesehen die Regel ist, wird man ohnehin annehmen dürfen. Aus der heuristischen Annahme eines funktionaOffenbarung als Prinzip len Beziehungszusammenhangs der modernitätsneuzeitlicher Theologie spezifischen Begriffe Religion und Offenbarung ergibt sich eine einstweilen nur vermutungsweise vorgetragene Trendbeschreibung, um deren Bewährung es im Folgenden zu tun sein wird. Der Terminus Religion, so wurde gezeigt, dient gemäß seiner neuzeitlichen Verwendung im Wesentlichen dazu, dasjenige auf den Begriff zu bringen, was den konfessionellen

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„Religionsparteien“ trotz ihres Streits gemeinsam ist. Die moderne Bedeutung des Religionsbegriffs ist somit durch eine signifikante Tendenz zur Generalisierung charakterisiert. Die Verallgemeinerungstendenz, die für den modernen Religionsbegriff kennzeichnend ist, gelangt zur Vollendung dort, wo sie sich mit der Universalität der Vernunft als dem Vermögen zu verallgemeinern und allgemeinverbindlich zu denken und zu handeln zusammenschließt. Religion, so kann dann gesagt werden, ist ein anthropologisches Universale, sofern sie zum Menschsein des Menschen und seiner Vernunftnatur elementar hinzugehört. Auf diesem Stand der Entwicklung des modernen Religionsbegriffs, wie er für die natürliche Vernunftreligion der Aufklärung charakteristisch ist, gilt die Bestimmung: „religio est religio naturalis vel rationalis“. Unter diesen Bedingungen kann die Positivität einer wie auch immer gearteten besonderen Offenbarung nur subsumiertes Moment vernunftallgemeiner Religion sein. So gesehen tendiert der moderne Begriff der Religion dazu, denjenigen der Offenbarung in sich aufzuheben. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass sich das Positivitätsproblem im unmittelbaren Kontext des Religionsbegriffs selbst eingestellt und zu der Auffassung geführt hat, das allgemeine Wesen der Religion lasse sich nur in je besonderer Weise und im Zusammenhang konkreter Religion erfassen. Denn selbst unter dieser Voraussetzung noch bleibt der generalisierende Trend des Religionsbegriffs ungebrochen, sofern die Positivität einer Religion in ihrer spezifischen Besonderheit als eine Gestalt allgemeinen religiösen Wesens menschlicher Natur erscheinen soll. Anders stellt sich die Angelegenheit erst dann dar, wenn mit der Rede von der Positivität der Religion die Annahme verbunden wird, diese sei ihrem Wesen nach konstitutiv auf eine Voraussetzung bezogen, welche dem religiösen Bewusstsein als sein Erschließungsgrund schlechterdings vorgegeben ist. Just an dieser Stelle nimmt, so die einstweilige These, der Reflexionsbegriff der Offenbarung seine modernitätsspezifische Funktion wahr, die ihn zum „Prinzip neuzeitlicher Theologie“ (Peter Eicher, 21ff.) werden lässt. Um die Funktion eines Prinzips neuzeitlicher Theologie erfüllen zu können, bedurfte die überkommene Rede von Offenbarung bzw. Offenbarungen indes gravierender Modifikationen, ja Umbestimmungen ihrer originären Bedeutung. Um es zugespitzt zu formulieren: Weit davon entfernt, sie unkritisch zu revozieren, hat der als Prinzip neuzeitlicher Theologie fungierende Offenbarungsbegriff die vom frühen Fichte und anderen vollzogene Kritik aller Offenbarung zur Voraussetzung, um metakritisch und konstruktiv auf sie zu reagieren. Alltagssprachlich ist die ohnehin seltene Rede Transformation des von Offenbarung bzw. Offenbarungen vieldeutig Offenbarungsbegriffs und kaum begriffsscharf zu erfassen. Am ehesten stellt sich die Assoziation eines erfahrenen Erschließungsgeschehens ein, in dem gewöhnlich Unzugängliches und im Alltagsleben Verborgenes eröffnet wird. Die übliche religionswissenschaftliche Verwendungsweise des Begriffs kann hierauf Bezug nehmen, wobei in der Regel der plurale Gebrauch überwiegt. Offenbarungen können in diesem Sinne Visionen, Auditionen oder andere außergewöhnliche

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Eingebungen und Erfahrungen genannt werden, die sich im Leben einzelner Menschen oder von Menschengruppen, sei es unmittelbar, sei es mittels spezifischer Medien und Zwischenträger, einstellen. Auf dieses weite religionsgeschichtliche Feld ist hier nicht einzugehen. Es genügt der Hinweis, dass auch die biblische Geschichte von einer Vielzahl unterschiedlicher Offenbarungsereignisse zu berichten weiß. Dabei zeigt sich die charakteristische Tendenz, die Pluralität von Offenbarungen, wie sie in einzelnen Ereignissen erfolgen, als Selbstbekundungen eines Gottes aufzufassen, der im geschichtlichen Zusammenhang seiner Manifestationen sich selbst in seiner Einheit und Einzigkeit zu erkennen gibt. Die Annahme einer definitiven Selbsterschließung Gottes, wie sie für das neutestamentliche Christuszeugnis kennzeichnend ist, vollendet diese Entwicklung und hebt sie insofern in sich auf, als sie den auferstandenen Gekreuzigten als den personalen Inbegriff göttlicher Selbstbekundungen bekennt, in welchem die unterschiedlichen Manifestationsgestalten des Offenbarungshandelns Gottes beschlossen und zu differenzierter Einheit gebracht sind. Die christliche Theologie hat diesen komplexen Zusammenhang von Anfang an reflektiert und im trinitarischen und christologischen Dogma zu klassischem Ausdruck gebracht, ohne dass dabei der Offenbarungsbegriff notwendigerweise eine Leitfunktion der Reflexionen innehaben musste und tatsächlich innehatte. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter ist der Begriff der Offenbarung zwar eine wichtige Kategorie theologischer Selbstverständigung, nicht aber von jener zentralen Bedeutung, die ihm erst im Laufe der Neuzeit zukam. Noch Martin Luther (1483–1546) gibt dafür ein Beispiel: Zwar hat er das deutsche Wort Offenbarung, dem im Griechischen und Lateinischen mehrere, in ihren Sinngehalten nicht immer eindeutig zu unterscheidende Termini wie „apokalypsis“ und „epiphaneia“ oder „revelatio“ und „manifestatio“ entsprechen, einschließlich seiner Derivate nicht selten verwendet; einen zentralen Stellenwert in seiner Theologie hat er dem Offenbarungsbegriff gleichwohl nicht eingeräumt. Zum kritischen und konstruktiven Prinzip der Theologie wurde der Offenbarungsbegriff, wie gesagt, erst in der Neuzeit. Auf den ersten Blick muss dieser Befund überraschend wirken. Ist doch für das neuzeitliche Beginnen das Bestreben kennzeichnend, die Vernunft und die ihr entsprechende vernünftige Religion zum Kriterium aller Offenbarungsansprüche zu erheben. Noch für Kant und den jungen Fichte besteht der Aufklärungsgrundsatz unangefochten fort, dass der auf positive Offenbarung sich gründende statutarische Kirchenglaube an der reinen Vernunftreligion den alleinigen Maßstab seiner Geltung habe. Dieser Grundsatz wurde durch die Kritik, die dem Kant’schen Kritizismus in der idealistischen Philosophie zuteil wurde, keineswegs einfach widerrufen. Gleichwohl zeichnet sich in deren Entwicklung ein Wandel ab, der bestimmenden Einfluss auf die künftige theologische Verwendung des Offenbarungsbegriffs gewinnen sollte. Die Funktion, die in durchaus neu zu nennender Weise mit dem Offenbarungsbegriff verbunden wird und seine zentrale Stellung begründet, besteht im Wesentlichen darin, die Schwierigkeiten, um nicht zu sagen: Aporien der Kant’schen Philosophie

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kritisch zu bezeichnen und einer konstruktiven Lösung zuzuführen. Zugleich musste der Offenbarungsbegriff, um diese Funktion erfüllen zu können, in jene Begriffsgestalt transformiert werden, deren wesentlicher Ausdruck der Terminus Selbstoffenbarung ist. Nach Maßgabe des Begriffs der SelbstoffenbaOffenbarung als göttliche rung, der in der neueren Offenbarungstheologie Selbstoffenbarung sowohl des Katholizismus als auch des Protestantismus bestimmend wurde, offenbart Gott in seiner Offenbarung im Wesentlichen nicht etwas, sondern sich selbst in der allumfassenden Wirklichkeit seiner Gottheit. Die göttliche Offenbarung kann also nicht auf die Mitteilung ansonsten verborgener transzendenter Sachverhalte, auch nicht auf eine lediglich das Erkennen betreffende kognitive Selbstmitteilung Gottes oder ähnlich eingeschränkte Aspekte restringiert werden; sie ist vielmehr als Eröffnung integrativer, partizipativer, kommunikativer, kurzum: unumschränkter Gottesgemeinschaft aufzufassen. Als unumschränkte Gottesgemeinschaft eröffnende göttliche Selbstoffenbarung ist das Offenbarungsgeschehen einzig und in seiner Einzigkeit eins und differenziert zugleich. Es erschließt die Heilswirklichkeit sowohl im Ganzen als auch in ihren einzelnen Momenten, deren Summe in der endgültigen, als Selbstoffenbarung Gottes manifesten göttlichen Offenbarung zu eschatologischer Erfüllung gelangt. Auf diese Weise ist die Selbstoffenbarung Gottes in ihrer Einzigkeit, welche der Offenbarungsbegriff in seiner Singularform als schlechterdings singulär zu reflektieren hat, eine und als eine zugleich in eine Vielfalt göttlicher Manifestationen differenziert, die in der definitiven Selbsterschließung Gottes aufgehoben und ihrer endgültigen Bestimmung als göttliche Selbstbekundungen zugeführt sind. Die Einsicht, dass das im theologischen Begriff der Selbstoffenbarung Reflektierte in seiner Singularität identisch und differenziert zugleich ist, impliziert, dass es nicht auf lediglich formale Weise zu begreifen und insofern mit dem formalen Begriff der Selbstoffenbarung als solchem noch keineswegs erfasst ist. Die nötige inhaltliche Bestimmtheit gewinnt dieser erst aus dem materialdogmatischen Zusammenhang heraus, ohne welchen die Offenbarungsthematik nicht adäquat zu erfassen ist. Die nachfolgenden Ausführungen erheben daher in keiner Weise den Anspruch einer durchgeführten Offenbarungstheologie. Geboten werden lediglich theologiegeschichtliche Einzelstudien, welche die Funktion, die der Offenbarungsbegriff in unterschiedlichen Systemkonzeptionen evangelischer Theologie erfüllt, exemplarisch erkennen lassen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Konzeption Karl Barths (1886–1968), die in einem emphatischen Sinne Offenbarungstheologie zu nennen ist. Fallstudien zu Brunner (1889–1966) und Bultmann (1884–1976) einerseits und zu Elert (1885–1955), Althaus (1888– 1966) und Hirsch (1888–1972) andererseits fügen sich an. Den Schluss markiert die Systematische Theologie Paul Tillichs (1886–1965), wohingegen die Diskussion neuerer Konzeptionen wie etwa des Programms „Offenbarung als Geschichte“ von Wolfhart Pannenberg den materialdogmatischen Ausführungen vorbehalten bleibt.

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Der chronologische und sachliche Anschluss an den Religionstraktat wird, wie schon erwähnt, dadurch hergestellt, dass aus der Rezeptionsgeschichte der dort entwickelten religionstheoretischen Großkonzepte einige Beispiele beigebracht werden, die für die Entwicklung evangelischer Offenbarungstheologie im 19. Jahrhundert kennzeichnend und charakteristisch sind. In Umkehrung der Reihenfolge, gemäß der die Konzeptionen Kants, Hegels und Schleiermachers im Religionstraktat behandelt wurden, wird zunächst am erweckungstheologischen Erbe des Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts aufgezeigt, wie aus dem erweckten Empfinden der unbegreiflichen Abgründigkeit der Sünde ein im Vergleich zu Schleiermacher erheblich gesteigertes Interesse an der kontingenten Faktizität der Heilsoffenbarung hervorging. Die Spätphilosophie Schellings und ihr metaphysischer Empirismus unvordenklichen Seins bieten sodann ein hervorragendes Beispiel für eine im Namen der Offenbarung vorgetragene Kritik am Hegelianismus und seinen religionstheoretischen Folgen. Der Rückgriff auf Kant schließlich, wie er in einem weiteren Abschnitt erfolgt, entspricht der theologiegeschichtlichen Entwicklung, sofern Albrecht Ritschl und seine Schüler im letzten Jahrhundertdrittel betont auf dessen moralphilosophisch ausgerichtete Religionstheorie rekurrierten, wobei sie in der Regel allerdings anders als dieser und im Anschluss an vormalige supranaturalistische Kantrezipienten die konstitutive Bedeutung von Religion und Offenbarung für die Sittlichkeit betonten. Der Übergang vom theologischen Neukantianismus zu Karl Barth, der sich in dessen eigener Biographie und Werkgeschichte signifikant reflektiert, wird vermittelt durch einige Bemerkungen zur kulturprotestantischen Synthese, wie Adolf von Harnack sie in seiner Wesensschrift versuchte, sowie zum Antagonismus von Historismus und Antihistorismus, der vornehmlich unter Bezug auf Ernst Troeltsch (1865–1923) und Martin Heidegger (1889– 1976) illustriert wird. Nicht nur in Bezug auf das erweckungsbewegte Die hamartiologische Krise Erbe Schleiermachers kommt der Hamartiologie des religiösen Bewusstseins offenbarungstheologisch weichenstellende Bedeutung zu. Ist doch die Lehre von der Sünde der Ort, an dem im Kontext der Theologie die stärksten Einwände gegen den Menschen auch und gerade als religiöses Subjekt vorgebracht werden. Die Hamartiologie macht geltend, dass der Mensch das Verhältnis zu Gott von sich aus weder konstituieren noch erhalten kann, weil er es stattdessen immer schon verfehlt und ins widerstreitende Gegenteil unmittelbarer Selbstbeziehung und Egozentrik verkehrt hat. Dabei geht die Verkehrung nach traditioneller christlicher Sündenlehre so weit, dass dem Sünder die Möglichkeit, sich selbst als solchen zu erkennen und zum Bewusstsein seiner Schuld zu gelangen, wenn auch nicht schlechterdings, so doch im Sinne einer Heilsmöglichkeit abzusprechen ist. Weil die Sünde sich nicht auf einzelne „peccata actualia“ beschränken lässt, sondern als „peccatum originale“ den faktischen Zustand des Menschen insgesamt betrifft, kann sich der Sünder nicht in heilsamer Weise als Subjekt seiner Sündenerkenntnis wissen. Zwar lässt das Unwesen seiner Sünde den Sünder nicht einfachhin aufhören, Subjekt im Sinne eines sich wissen-

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den Selbstbewusstseins zu sein; gleichwohl betrifft die sündige Verkehrung den Subjektstatus menschlichen Selbstbewusstseins insofern, als sie zusammen mit jedem selbsttätig zu realisierenden Heilsvermögen zugleich die Möglichkeit heilsamer Sündenerkenntnis entzieht. Um zu ihr und durch sie hindurch zum Bewusstsein des Heils zu gelangen, bedarf es eines Offenbarungsvorgangs, der, indem er die Abgründigkeit der Sündenverfallenheit aufdeckt, zugleich die Möglichkeit erschließt, dem Unheil des Bösen zu entkommen. Hamartiologisch ergibt sich sonach in Bezug auf das religiöse Verhältnis der Schluss, dass sich der Sünder seine sündige Selbstverkehrtheit einerseits selbst zuschreiben muss, dass er aber dazu andererseits nur unter der Voraussetzung in der Lage ist, dass er sich von sich selbst als Sünder unterschieden wissen kann, obwohl diese Möglichkeit sein Eigenvermögen übersteigt. Bleibt zu fragen, ob zumindest die Einsicht in sein gänzliches Unvermögen eine – religiöse – Möglichkeit des postlapsarischen Menschen darstellt oder ob nicht auch noch die Aporieerkenntnis als solche auf Offenbarung zurückzuführen ist. Nicht zuletzt in den diversen Reformulierungen der reformatorischen Lehre von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz im Kontext und Umkreis der Dialektischen Theologie spiegeln sich die unterschiedlichen Antworten wieder, die in der evangelischen Theologie der Neuzeit auf diese und vergleichbare Fragen gegeben wurden: Wie verhält sich die durch das Gesetz geforderte und bewirkte Sündenerkenntnis zum evangelischen Bekenntnis der Schuld, welches der durch den Zuspruch der Sündenvergebung im Glauben gerechtfertigte und damit heilsam von seiner Sünde unterschiedene Sünder ablegt? Ist nicht das Evangelium, insofern es allererst ein offenes und vorbehaltloses Bekenntnis der Sünde als Schuld erschließt, die Bedingung der Möglichkeit gesetzlicher Sündenerkenntnis zu nennen, da diese allenfalls zu heillosem, nicht aber zu heilsamem Schuldbewusstsein zu führen vermag? Wie aber lässt sich die Zurechenbarkeit der Sünde als menschlicher Schuld und ihre Unterscheidung von einem fatalen Geschick gewährleisten, wenn nicht am Gesetz als primärem Erkenntnisgrund der Sünde festgehalten wird? Fraglich und Gegenstand kritischer Erörterungen war in diesem Zusammenhang fernerhin die Bedeutung der traditionellen Binnendifferenzierung des Begriffs des Gesetzes nach verschiedenen Weisen seines Gebrauchs. Dient der „primus usus legis“ der Aufrechterhaltung einer Grundordnung sozialen Menschenlebens auch unter postlapsarischen Bedingungen, was ein gewisses, für sich genommen allerdings nicht nur beschränktes, sondern uneindeutiges und ambivalentes Freiheitsvermögen zur Voraussetzung hat, so erfüllt sich der theologische Gesetzesgebrauch nach traditioneller Lehre im „usus elenchticus legis“, durch welchen der Sünder seiner Sünde überführt und zum Bewusstsein der Schuld gebracht wird. Welchen theologischen Status hat dieses Schuldbewusstsein? Ist es Voraussetzung der Heilsoffenbarung oder bereits durch diese vermittelt? Wie immer die theologische Antwort auf Fragen dieser Art ausfällt: Die Hamartiologie macht die Krise namhaft, die als Binnenkrise des religiösen Bewusstseins schlechthin zu gelten hat. Zugleich kann die religiöse Aporie, welche die Sündenthematik markiert,

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auch den Religionstheologen hamartiologisch in die „Verzweiflung“ treiben, wie Schleiermacher zu erkennen gibt (GL § 80,4), da er das Zugrundegehen des religiösen Bewusstseins im Bewusstsein der Sündenschuld religionstheoretisch nicht mehr stimmig zu erfassen vermag. Verkehrt die Sünde das Verhältnis des religiösen Bewusstseins zu seinem Grund, dann muss der Fall der Sünde als Zerfall der Einheit des religiösen Bewusstseins selbst begriffen werden. Denn im Fall der Sünde gerät das religiöse Bewusstsein offenbar in einen Widerspruch zu sich und weiß sich als in sich zerfallen dergestalt, dass sein Sich-Wissen jedwede Form identischen Selbstbewusstseins zersetzt. Einerseits weiß das religiöse Bewusstsein die Sünde als Schuld, andererseits ist ihm dieses Wissen nicht nur nicht heilsam, sondern es gerät ihm zum Unheil dadurch, dass es den verführerischen Drang zu Ignoranz, zur Verleugnung und schließlich zur Verkennung der Sündenschuld in sich trägt. In der Folge dessen wird das Sündenbewusstsein selbst zum Anlass der Sünde. Es wird im Einzelnen zu erörtern sein, in welcher Weise der Begriff der Offenbarung auf dieses Äußerste hamartiologischer Selbstzersetzung des religiösen Bewusstseins systematisch bezogen ist. Dass dieser Bezug gegeben ist und dass er für die modernitätsspezifische Verwendung des Offenbarungsbegriffs kennzeichnende Bedeutung hat, wird dabei zum Zwecke der Prüfung in Form einer heuristischen These vorausgesetzt. Offenbarung, so lautet die Grundannahme, bezeichnet den Erschließungsgrund eines religiösen Verhältnisses, in welchem das religiöse Bewusstsein sich nicht nur kritisch gegen Anderes, sondern auch und gerade kritisch zu sich selbst zu verhalten vermag, was als die Bedingung der Möglichkeit eines konstruktiven Umgangs mit Selbst und Welt zu gelten hat.

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Lit.: N. Botzenhart, Reform, Restauration, Krise. Deutschland 1789–1847, (Frankfurt a.M. 1985) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – H.-W. Krumwiede, Geschichte des Christentums III. Neuzeit: 17. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21987. – Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, München (1983) 1998. (= Nipperdey I) – Ders., Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München (1990) 1998. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München (1992) 1998. (= Nipperdey II, 1.2) – K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995. – J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997. – W. Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, (Frankfurt a.M. 1985) Lizenzausgabe Darmstadt 1997 (= Siemann [1848/49]). – H.-P. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918, (Frankfurt a.M. 1995) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära: 1700–1815, München (1987) 19892. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“. 1815–1845/49, München (1987) 19963. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 1995.

Sowohl an seinem Anfang als auch an seinem Ende reicht das 19. Jahrhundert historisch über Epochenzäsuren seine kalendarischen Grenzen hinaus; deshalb ist es als das „lange“ in die Geschichte eingegangen. Sein Anfang ist durch den Ausbruch der Französischen Revolution, sein Ende durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Umstürze bestimmt, die er bewirkte. Historisch gliedern lässt sich die Epoche von 1789–1914/18 in Deutschland anhand zweier herausragender Daten: 1848 und 1871. Dabei teilt sich die Phase deutscher Geschichte bis 1848 „in zwei sehr unterschiedliche Perioden: in eine des Krieges, der politischen Umwälzungen, der Auflösung des Ancien Régime, der Versuche, einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft zu formen – und in eine des Friedens, der Stabilität, der wirtschaftlichen Stagnation und der politischen Repression. Die Einheit dieser Epoche liegt darin, daß sie die Inkubationszeit der modernen Industriegesellschaft in Deutschland gewesen ist.“ (Botzenhart, 7) Es folgt mit den Jahren 1848–1871 die Periode der Deutschen Doppelrevolution und der Reichsgründung, die in die Bismarckära und die Zeit des wilhelminischen Imperialismus übergeht. Bereits knapp eineinhalb Jahrzehnte bevor in Frankreich mit dem Sturm auf

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die Bastille die Revolution ausbrach, die eine politische Neustrukturierung der gesamten kontinentaleuropäischen Gesellschaft zur Folge haben sollte, war es in Nordamerika zu einer nicht minder folgenreichen Verfassungsrevolution gekommen, nachdem der seit langem schwelende Konflikt zwischen den nordamerikanischen Kolonien und dem englischen Mutterland in offene Auseinandersetzung übergegangen war. „Das entscheidende Resultat bildete die Gründung eines großen Flächenstaats in der Form einer föderativ organisierten Republik, welche auf die neuartige Legitimationsbasis der Volkssouveränität gestellt wurde, die öffentliche Ordnung in einer schriftlichen Verfassung regelte, gewählte Volksvertretungen einführte und außer der strikten Gewaltenteilung ein ungeahntes Maß an liberalen Freiheits- und demokratischen Gleichheitsrechten verwirklichte. Die einzelstaatlichen Verfassungen, bald auch die Unionsverfassung, garantierten unveräußerliche Menschen- und Bürgerrechte; das Recht auf Widerstand gegen ein rechtsverletzendes Regime, die Eigentumsrechte und zahlreiche naturrechtlich fundierte Zielvorstellungen der Aufklärung wurden gesetzlich verankert, darüber hinaus wurden sie feste Bestandteile jenes ‚American Creed‘, der das neue Gemeinwesen als Integrationsideologie überwölbte.“ (Wehler I, 347) Obwohl die nordamerikanische Verfassungsrevolution mit ihrer Absage an ständisch-monarchisch-hierarchische Traditionen zugunsten republikanisch-egalitärer Tendenzen von nicht wenigen aufgeklärten Europäern als vorbildlich und nachahmenswert erachtet wurde, ist sie mit der Französischen Revolution historisch nur bedingt vergleichbar. Der offenkundigste Unterschied besteht darin, dass in Nordamerika der politisch-soziokulturelle Umsturz sich in der Loslösung von einem nicht nur fernen, sondern seinerseits bereits liberal-demokratisch geprägten Mutterland vollziehen konnte, wohingegen er in Frankreich die überkommene spätfeudal-absolutistische Ordnung im eigenen Lande zerschlagen musste. Die erste Etappe der Französischen Revolution hebt damit an, dass sich das Bürgertum als der neben Adel und Klerus dritte Stand mit dem Anspruch, die Majorität der Nation zu repräsentieren, als verfassungsgebende Versammlung konstituiert. Die theoretische Basis für diese von Revolten der Bauernschaft und der Pariser Stadtbevölkerung begleitete Aktion bildet die Lehre von der Volkssouveränität, wie Jean-Jacques Rousseau (1713–1778) sie im „Contrat Social“ von 1762 beispielhaft vertreten hatte, demzufolge der allgemeine Wille der Bürger (volonté générale) als der eigentliche staatliche Souverän zu gelten hat. In kritischer Abkehr vom absolutistischen Staat wird fernerhin das Prinzip der Gewaltenteilung festgeschrieben und erklärt, dass jeder Bürger über angeborene und daher unveräußerliche Menschenrechte verfügt. Die Monarchie bleibt in konstitutioneller Form, die den König an die Verfassung und die von der Volksvertretung erlassenen Gesetze bindet, zunächst erhalten; die Kirche aber, deren Besitz in großen Teilen der Säkularisation anheimfällt, wird im Sinne der Zivilverfassung der politischen Gewalt untergeordnet. Die zweite Etappe der Revolution beginnt mit dem Sturz der Monarchie und der Hinrichtung Ludwig XVI. sowie der Etablierung einer parlamentarischen ReAmerikanische und Französische Revolution

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publik. Wurde dem Staat anfangs im Anschluss namentlich an John Locke (1632– 1704) die Aufgabe zugedacht, das natürlich begründete Freiheitsrecht auf individuelles Eigentum zu sichern, so setzten sich mit den Sansculotten und Jakobinern gegenüber den Girondisten mehr und mehr radikale Verfechter eines nicht nur politischen, sondern wirtschaftlich-sozialen Gleichheitsgrundsatzes durch, die sich – wie schon Rousseau – gegenüber dem Privateigentum im Allgemeinen und dem bürgerlichen Privatunternehmertum im Besonderen kritisch verhielten. Im Zuge dieser Entwicklung schaltet der jakobinische Wohlfahrtsausschuss den Einfluss des parlamentarischen Nationalkonvents fortschreitend aus, um schließlich diktatorische Vollmachten in egalisierender Absicht zu beanspruchen. Es folgt die Schreckensherrschaft der Guillotine, in der die Revolution nicht nur ihre Gegner, sondern – man denke nur an Robespierre – auch ihre eigenen Kinder fraß. Nach dem Ende des jakobinischen Terrors und erfolgter Verabschiedung der republikanischen Direktorialverfassung mündet die dritte und letzte Phase der Französischen Revolution in den Staatsstreich der Armee und ihres erfolgreichsten Generals, Napoléon Bonaparte (1799), der den politischen Idealen der Revolution in Frankreich eine feste staatliche, durch sein plebiszitär legitimiertes Kaisertum (1804) gekrönte Form gab, um sie darüber hinaus in Fortführung der Eroberungskriege der Revolutionsregierung in europäischem Maßstab zu realisieren. Während man unter den Intellektuellen EngDeutschland und die lands und Nordamerikas, von Ausnahmen abge- Revolution sehen, die Ereignisse der Französischen Revolution eher reserviert kommentierte, wofür weniger ein reaktionäres als vielmehr das traditionelle Bewusstsein der eigenen Fortschrittlichkeit den Grund abgegeben haben dürfte, war die Zustimmung zu den Pariser Vorgängen in Deutschland anfangs groß und mehrheitlich. Das änderte sich allerdings abrupt seit den Septembermorden von 1792, der Hinrichtung des Königs im Januar 1793 und der jakobinischen Schreckenszeit (vgl. Nowak, 36–41). In der Konsequenz schlug die erste Revolutionseuphorie häufig in eine Apologie der Reformpolitik des deutschen aufgeklärten Absolutismus um, dessen reformerische „Revolution von oben“ freilich zunächst einmal ebensowenig stattfand wie eine „Revolution von unten“, für die es im Deutschland der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weder im gebildeten Bürgertum noch bei den sozialen Unterschichten eine tragfähige Basis gab. So verlief in Deutschland die Zeit zwischen 1789 und den napoleonischen Kriegen in verhältnismäßig beharrlichen Bahnen. Erst als der deutsche Reformabsolutismus, der von Hause aus „keineswegs dasselbe (wollte) wie die Amerikanische oder Französische Revolution“ (Wehler I, 360), sondern seinen Modernisierungswillen oft in den Dienst der Erhaltung traditionaler Gesellschaftsstrukturen stellte, durch äußeren Druck und militärische Niederlage unter Entscheidungszwang geriet, fand er sich zu einer Politik bereit, die man zutreffend als „defensive Modernisierung“ (Wehler I, 343) bezeichnet hat, „da nach Möglichkeit wichtige Stützpfeiler der alten Ordnung durch die Reform von oben gegen die Revolution von unten erhalten werden sollten“ (Wehler I, 345). Kurzum: „Napoleon war es,

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der die deutschen Staaten unausweichlich dazu zwang, sich mit den revolutionären Errungenschaften Frankreichs auseinanderzusetzen, der neuartigen Dynamik eines revolutionierten Landes zu begegnen.“ (ebd.) Es hat daher seine Richtigkeit, eine Historie Deutschlands der Jahre nach 1800 mit dem Satz zu beginnen: „Am Anfang war Napoleon.“ (Nipperdey I, 11) Der überwältigende Einfluss Napoleons auf die Revolution und Reform deutsche Geschichte in den Jahren nach dem kalendarischen Beginn des 19. Jahrhunderts tritt besonders eindrucksvoll zutage, wenn man sich die „große territoriale Flurbereinigung“ (Botzenhart, 46), der die alte Ordnung unterzogen wurde, anhand des statistischen Zahlenmaterials vor Augen führt. In der Konsequenz des sog. Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803 werden die weit über eineinhalbtausend Herrschaftseinheiten im Alten Reich auf wenig mehr als dreißig reduziert. Kirchengeschichtlich besonders bedeutsam ist dabei der Aspekt der Säkularisation der geistlichen Herrschaftsgebiete, die für den deutschen Katholizismus zu einem gelegentlich bis heute fortwirkenden revolutionären Trauma wurde: „Im Ganzen gingen der katholischen Kirche in der ‚territorialen Revolution‘ zwei Kurfürstentümer, ein weiteres Erzbistum, 19 Bistümer und 44 Reichsabteien verloren, nicht gerechnet die Stifte und Klöster. Außerdem verschwanden in der Säkularisation 18 katholische Universitäten (oder wurden umgewidmet), kirchliche Sozial- und Fürsorgenetze, Kunstschätze und Bibliotheken.“ (Nowak, 47). Mit dem Ende der geistlichen Territorien und der umfassenden Nivellierung der weltlichen Reichsstände hatte das Alte Reich aufgehört zu sein, noch bevor am 6. August 1806 der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Franz II., auf ein französisches Ultimatum hin die Reichskrone niederlegte, um fernerhin als Kaiser von Österreich seines Amtes zu walten. Der Zusammenbruch des Alten Reiches und die territoriale Massenannexion im Zuge von Säkularisation und Mediatisierung gab den Vorteilnehmern dieser Entwicklung, die z.T. enorme Gebietszuwächse zu verbuchen hatten, die günstige Gelegenheit einer Zentralisierung der Staatsgewalt und einer entsprechenden Vereinheitlichung der politischen Strukturen. Beides konnte ohne Reformmaßnahmen und Modernisierungsbestrebungen nicht erfolgversprechend geleistet werden. Diese wurden zunächst und vor allem in den süddeutschen Rheinbundstaaten wie etwa im neugeschaffenen Königreich Bayern unter Max Joseph und dem Grafen Montgelas eingeleitet. Aber auch unter den durch die Kriegsereignisse anders gearteten Verhältnissen Preußens kam es seit 1807 unter der bürokratischen Leitung von Freiherr Karl von und zum Stein sowie namentlich von Fürst Karl August von Hardenberg zu wichtigen Reformen der Verwaltung, des Militärwesens und der Wirtschaft. In ökonomischer Hinsicht bildete Gewerbefreiheit das reformerische Grundprinzip. Kernstück der Heeresreform war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht unter der männlichen Bevölkerung. Weniger eindeutig waren wegen der offenen Verfassungsfrage die Ziele der Verwaltungsreform. Zwar kam es zu einer enormen bürokratischen Rationalisierung und einer Steigerung der Verwal-

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tungseffizienz von großer Dauerhaftigkeit, für welche der preußische Beamte sprichwörtlich geworden ist; auch ist Preußen nach 1815 kein absolutistischer Staat im eigentlichen Sinne mehr. Doch alle gesamtstaatlichen Verfassungspläne scheiterten. So blieb der größte norddeutsche Staat ähnlich wie Österreich und im Unterschied zu den süddeutschen Mittelstaaten bis 1848 eine vorkonstitutionelle Monarchie ohne Verfassung. Erfolgreicher und an Wirkungsmächtigkeit hinter den wirtschaftlichen und militärischen Modernisierungsmaßnahmen nicht zurückstehend war die Humboldt’sche Reform des preußischen Bildungswesens. Sie betraf unmittelbar Schule, Universität und Kirche, war aber im Horizont einer geistigen Erneuerung des gesamten Gemeinwesens konzipiert. Auch das Thema der Judenemanzipation gehört hierher. Namhafte Theologen und Philosophen waren an der Bildungsreform an hervorgehobener Stelle beteiligt. Ein Reformzentrum bildete die im Jahre 1810 unter dem Rektorat Fichtes gegründete Berliner Universität, an der mit Schleiermacher und (seit 1818) Hegel Klassiker moderner (Religions-)Theorie dozierten, die es vermochten, den Geist und insbesondere den religiösen Geist ihrer Zeit, ja der entwickelten Neuzeit überhaupt, gedanklich zu erfassen. Gelehrte ihres Rangs und Ansehens haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich ein durch neuzeitspezifische Religiosität vermitteltes bürgerliches Selbstbewusstsein ausbilden konnte, ohne welches die defensive Modernisierung, mit welcher Preußen und die meisten übrigen deutschen Staaten auf die Herausforderungen des revolutionärnapoleonischen Frankreich reagierten, hätte erfolglos bleiben müssen. Einen nicht unbedeutsamen Beitrag zum zumindest partiellen Erfolg der skizzierten Reformpolitik hat fernerhin der im Werden begriffene moderne deutsche Nationalismus geleistet, der auf seine Weise die unabweisbaren Probleme staatlicher Legitimation und gesellschaftlicher Integration zu bewältigen suchte. Er ist ursprünglich mit dem Liberalismus eng verbunden und hielt sich, von Ausnahmen abgesehen, in seinen Anfängen von expansionistischen und fremdenfeindlichen Elementen fern und für kosmopolitische Perspektiven offen. Zunächst fast nur im Bildungsbürgertum verbreitet, erlangte der liberale Nationalismus in den Befreiungskriegen zunehmende Breitenwirkung. Als Napoleons große Armee nach dem Desaster des russischen Feldzuges 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen und ganz Deutschland von der Fremdherrschaft befreit war, schien die Realisierung der Idee nationaler Einheit auf der Basis freier Selbstbestimmung der Völker manchem in greifbare Nähe gerückt. Was aber tatsächlich kam, war eine andere geschichtliche Wirklichkeit: die konservative Restauration der europäischen Staatenwelt nach Maßgabe des Legitimitätsgedankens. Den Beginn der Restaurationsperiode markiert der Zusammenbruch des napoleonischen Hege- Reform und Restauration monialsystems nach der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 18. Oktober 1813, an dessen Definitivität auch das bei Waterloo endende Zwischenspiel der hundert Tage nichts mehr ändern konnte. Ihr weiterer Verlauf ist wesentlich bestimmt durch die Ergebnisse des Wiener Kongresses, zu

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dem sich von Oktober 1814 bis Juni 1815 Herrscher und Diplomaten fast aller Staaten des Kontinents versammelten, um die Wiederherstellung der europäischen Staatenordnung zu besorgen. Grundlage hierfür sollte das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte sein, wohingegen der durch die sog. Heilige Allianz intendierte „Bruderbund christlicher Politik“ (Nowak, 59) nur geringe realhistorische Folgen zeitigte. Da weder Metternich noch die übrigen Großmächte ein zu starkes Deutschland wünschten, kam es weder zu einer Wiederherstellung des alten deutschen Kaiserreichs noch zu einer gesamtdeutschen Nationalstaatsbildung, sondern lediglich zu einem Bund gleichberechtigter souveräner Staaten. Die Mitglieder des Deutschen Bundes, von denen Preußen und Österreich die wichtigsten waren, verpflichteten sich zwar zu politischer Zusammenarbeit in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, bildeten aber kein Organ der gesamtdeutschen Repräsentation aus. Nach Maßgabe des dreizehnten Artikels der Bundesakte sollten die Einzelstaaten lediglich „landständische Verfassungen“ verabschieden. Was das genau heißen sollte, war Gegenstand heftiger Auslegungsstreitigkeiten: „Sollte unter ‚landständisch‘ eine nach westeuropäischem Vorbild geschriebene, die Gewaltenteilung anvisierende, auf der Mitwirkung der vom Wahlrecht zugelassenen Bürger beruhende gesamtstaatliche Konstitution verstanden und damit auch für alle anderen Staaten ein bundesverfassungskonformes Nahziel verbindlich vorgeschrieben werden? Oder sollten als ‚landständisch‘ primär oder gar ausschließlich die alten herrschaftsständischen Beratungsgremien aus der Zeit vor dem großen revolutionären Einschnitt gelten, so daß etwa fortbestehende oder neu zu berufende Provinzialstände hinreichten, im Extremfall sogar eine moderne Konstitution aufgehoben werden konnte?“ (Wehler II, 328) Machtpolitisch entschieden wurde diese Alternative durch die – burschenschaftliche Umtriebe und Sands Mord an Kotzebue zum willkommenen Anlass der Reaktion nehmenden – Karlsbader Beschlüsse von 1819 und die Wiener Schlussakte von 1820, die den Sieg des Metternich’schen – konsequenter „Revolutionsprophylaxe“ (Botzenhart, 87) dienenden – Staatskonservatismus festschrieben und den Deutschen Bund über Jahre hinaus zu einem „System innenpolitischer Illiberalität“ (Wehler II, 322) werden ließ. Ruhe hatte von nun an als die erste Bürgerpflicht zu gelten. Die Universitäten wurden einer generellen Polizeiaufsicht unterstellt, die Burschenschaften verboten, Zensur extensiv ausgeübt, Zentralbehörden zur Verfolgung revolutionärer Umtriebe eingerichtet. Gänzlich und auf Dauer unterdrücken ließ sich das Drängen auf politische Freiheit indes nicht, auch wenn es einer noch erheblichen Inkubationszeit, des sog. Vormärz, bedurfte, bis die deutsche Revolution im März 1848 ihren Lauf nehmen konnte. Dass die Jahre zwischen 1815 und 1848 trotz fehlender kriegerischer Ereignisse und staatlich verordneter Bürgerruhe mit betulicher Biedermeierlichkeit nur bedingt etwas zu tun haben, daran erinnert nicht nur das u.a. durch die französische Junirevolution von 1830 motivierte Hambacher Fest, das belegen vor allem die einschneidenden Strukturwandlungsprozesse der Zeit. Sie betreffen vor allem die Wirtschaft. Auch wenn die Industrielle Revolution in Deutschland eigentlich erst

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um 1845 begann, erfährt in den drei Jahrzehnten vorher der durch Zollunionspolitik geförderte Agrar-, Handels- und insbesondere Industriekapitalismus einen rasanten Entwicklungsschub. Der wirtschaftliche Transformationsprozess hatte das Vordringen der marktbedingten Klassen und die sog. Proletarisierung nicht nur der industriellen Lohnarbeiterschaft zur Folge, die – um es in Anlehnung an die marxistische Theorie des Kapitals zu formulieren – ihre menschliche Arbeitsleistung als marktabhängige Ware feilzubieten hatten. Da die deutsche Industriegesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht das Entfaltungsniveau erreicht hatte, um ihrer sozialen Lasten Herr zu werden, kam es zu einer wachsenden Pauperisierung sowohl des städtischen als auch des ländlichen Proletariats. Die Kapazität in Landwirtschaft und Gewerbe erwies sich durch das enorme Bevölkerungswachstum, welches durch die Kapitalisierung der Wirtschaftsformen wesentlich mitverursacht war, mehr und mehr überfordert. Nicht wenige Angehörige der sog. unteren Schichten wurden dadurch – namentlich im Zuge der Agrar- und Gewerbekrise der Jahre von 1845 bis 1848 – in die Verelendung getrieben. Dies gehört zu den wesentlichen Faktoren der Krise, die in der Revolution manifest wurde. Krisenhaft war auch, wenngleich in anderer und weniger dramatischer Weise, die strukturelle Entwicklung des Bürgertums, das sich – ohne bereits eine wirklich homogene Sozialformation zu sein – aus traditionellem Stadtbürgertum, einer kleinen Wirtschaftsbourgeoisie und dem akademischen Bildungsbürgertum zusammensetzte. Die beiden letztgenannten Gruppierungen sind überwiegend protestantisch bestimmt und bilden, obwohl die bürgerliche Minderheit, eine gesellschaftliche Führungselite aus, wohingegen die stadtbürgerliche Mehrheit soziokulturell eher ins Hintertreffen gerät. Namentlich das expandierende Bildungsbürgertum gab für die Ausbildung einer spezifisch zivilen Weltanschauung, die eine künftige „bürgerliche Gesellschaft“ bestimmen sollte, die entscheidenden Anstöße. Als Offensivideologie gegen alle geburtsständischen Privilegien bot sich insbesondere das Prinzip persönlicher Leistung an. Im Übrigen erwies sich Pluralität von Anbeginn als ein charakteristisches Kennzeichen des aufstrebenden Bürgertums und seiner Ideenwelt, die nicht nur von externen Gegensätzen, sondern auch durch vielfältige interne Spannungen geprägt war. Einen wichtigen Integrationsfaktor stellt neben dem Nationalismus ein vielfach religiös imprägniertes neuhumanistisches Bildungsideal dar, für das die Gesichtspunkte humaner Freiheit und Toleranz bestimmend waren. Von ihnen und den Grundmaximen vernünftiger Moral, wie namentlich Kants Philosophie sie darbietet, ist der bürgerliche Liberalismus bestimmt, dessen Ziele sich zusammenfassend so umschreiben lassen: Erstrebt wurde ein auf Partizipation aller seiner Mitglieder gründender, die feudale Privilegienordnung beseitigender repräsentativer Verfassungsstaat auf nationaler Basis, dessen Eingriffsrechte an deklarierten Grund- und Menschenrechten ihre Grenze finden. Im Übrigen sollte er den Rechtsrahmen bilden für das freie Konkurrieren nicht nur der geistigen Kräfte, sondern auch der wirtschaftlichen Kräfte im Sinne eines über Angebot und Nachfrage geregelten

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freien Marktes. Die normative Grundidee war dabei geleitet vom Gedanken vernünftiger Selbstbestimmung eines von heteronomen Vorgaben emanzipierten Subjekts unter paritätisch zu achtenden Subjekten. Die Realisierung der durch diese Grundnorm bestimmten politisch-soziokulturellen Ziele erwartete man im Lager der Liberalen mehrheitlich nicht von einer revolutionären, sondern von einer evolutionären Entwicklung. Indes erwuchs dem dezidiert antiegalitären Liberalismus aus den eigenen Reihen während der gesteigerten Krisenzeit des Vormärz in Gestalt eines politischen Radikaldemokratismus eine nicht unbedeutende Opposition, wie denn auch – um von den noch verhältnismäßig kleinen sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen zu schweigen – der politische Konservativismus als der eigentliche Antipode des Liberalismus sich längst schon und etwa zeitgleich mit diesem formiert hatte. Auch der Konservativismus ist in seiner Art eine moderne und bürgerliche Erscheinung und seine Wirkungen können keineswegs einseitig der politischen Restauration oder Reaktion zugerechnet werden. Dem Reformabsolutismus und bürokratisierten Anstaltsstaat standen die Konservativen eher kritischer gegenüber als die Liberalen. Aber während jene in Kontinuität zu Aufklärung und Rationalismus für eine rationale Planung von Politik auf der Basis allgemeiner Menschenvernunft plädierten, ist das konservative Denkmuster vor allem auf Autonomiekritik und konstruktive Wahrnehmung traditionaler Sitten und gewachsener Gewohnheitswerte abgestellt und an einem Freiheitsbegriff orientiert, der sich in Kategorien menschlicher Selbstbestimmung nicht hinreichend fassen lässt. Die sowohl von politischen als auch von sozialen Die Deutsche Revolution und Motiven bewirkte Revolution von 1848/49 wird ihr Scheitern in der Regel als historischer Misserfolg gewertet. Für dieses Urteil spricht der äußere Verlauf der Ereignisse: Zwar expandierte das revolutionäre Geschehen sehr schnell und sehr weit und erfasste den größten Teil von ganz Europa. Doch stand am Ende überall der Sieg der Konterrevolution der restaurativen Kräfte. Von Anfang März bis Ende Juni 1848 war es, um nur einige Aspekte der deutschen Entwicklung zu benennen, zu rasch um sich greifenden Bauernrevolten gekommen, denen in den Städten spontane Massenaufläufe korrespondierten, die schließlich in Wien – Metternich musste Mitte März incognito nach England fliehen – und Berlin zu Barrikadenkämpfen und zum offenen Bürgerkrieg zwischen Revolutionären und Soldaten führten. Dabei rekrutierten sich die revolutionären Kräfte in der überwiegenden Mehrzahl aus den sozialen Unterschichten, wohingegen die bürgerliche Politprominenz sich mehrheitlich von den Straßenschlachten fernhielt. Von den blutigen Ereignissen in Stadt und Land müssen daher die zwar revolutionär bewegten, aber im Wesentlichen friedlich verlaufenden Vorgänge in den Nationalversammlungen zu Wien und Berlin sowie in der Frankfurter Paulskirche unterschieden werden. Die dort aktiven Volksvertreter, die überwiegend den gesellschaftlichen Funktionseliten angehörten, versuchten einige, wenngleich keineswegs alle Revolutionsziele in einer Verfassung zu verankern, um eine politische und soziale Neuordnung zu erwirken. Doch konnten

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sie mit dem schnellen Verlauf der Ereignisse nicht Schritt halten. Bereits im Sommer/Herbst 1848 war die europäische Revolutionswende (vgl. Siemann [1848/ 49], 157–175) eingetreten, die im Oktober in Wien, im Monat darauf in Berlin die Überlegenheit der konterrevolutionären Kräfte eindeutig unter Beweis gestellt hatte. Als am 28. März 1849, ein gutes Jahr nach Revolutionsbeginn, von der Frankfurter Nationalversammlung die Reichsverfassung verkündet wurde, war diese nicht mehr durchzusetzen. Wenige Tage darauf lehnte der preußische König die ihm von der Frankfurter Deputation angetragene Kaiserkrone brüsk ab. Die Gründe des Scheiterns der Revolution sind zum einen in deren internen Schwächen, zum anderen in äußeren Grenzen und zum dritten in den häufig unterschätzten Ressourcen der Gegenrevolution zu suchen. Was ersteres betrifft, so ist als ein wesentlicher Schwachpunkt der Revolutionsbewegung die Spaltung von Liberalen und Radikaldemokraten zu nennen. Während die Radikaldemokraten die Revolution zu einer durchaus grundstürzenden Umwälzung der Verhältnisse nutzen wollten, gaben die Liberalen auch unter revolutionären Bedingungen kontinuierlicher Gesellschaftsevolution den eindeutigen Vorzug, wobei ihre tiefsitzende „Aversion gegen den anarchischen Charakter der Volksbewegungen“ (Wehler II, 761) eine entscheidende Rolle spielte. Statt auf Revolution setzte man bei den bürgerlichen Funktionseliten auf Reform und ausgleichenden Kompromiss. Man kann das Angst vor der eigenen Courage nennen. Doch „(w)oher sollten Kampfbereitschaft und Risikofreudigkeit kommen, warum sollten Revolutionspessimismus und Furcht vor Demokratie und Pöbelexzeß weichen, nachdem die ‚Konstitutionellen‘ ganz und gar in der Tradition eines staatsnahen Honoratiorenliberalismus politisch sozialisiert worden waren? Hier stößt man auf eine strukturelle Grenze liberaler Politik, die zu den unaufhebbaren Dilemmata der deutschen Revolution gehört.“ (Wehler II, 762) Zu dem internen Strukturproblem der revolutionären Bewegung, welches eine dauerhafte und durchsetzungsstarke Allianz ihrer bewegenden Kräfte vereitelte, trat als äußeres Hindernis der deutsche Polyzentrismus, der einheitlichen Lösungen im Sinne nationalstaatlicher Integration von vornherein im Wege stand. Musste sich eine großdeutsche, auf Einbeziehung der deutschösterreichischen Gebiete in einen deutschen Nationalstaat bedachte Revolutionskonzeption angesichts der Situation der Habsburger Vielvölkermonarchie bei genauerem Zusehen als illusionär erweisen, so ging auch die kleindeutsche Konzeption von Voraussetzungen aus, die realpolitisch nicht gegeben waren. Sie basierte „erstens, auf der unterstellten Bereitschaft Friedrich Wilhelm IV., durch seine eigene aktive Politik das Werk der Revolution zu unterstützen; sie beruhte, zweitens, auf der friedlichen Hinnahme des preußischen Primats durch Wien, und sie ging, drittens, von einer verhängnisvollen Unterschätzung des altpreußischen Konservativismus und monarchischen Legitimismus aus. Alle Prämissen erwiesen sich als falsch: Friedrich Wilhelm IV. dachte nicht an eine Kooperation mit der Paulskirche. Schwarzenberg verzichtete keineswegs auf die habsburgische Führungsposition. Die preußischen Machteliten verachteten das nationale Hirngespinst und scheuten vor dem Hege-

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monialkrieg im Bund zurück – erst 17 Jahre später waren sie dank Bismarck und seinem Bündnis mit der Nationalbewegung dazu bereit. Kurz, unter den Bedingungen von 1848/49 besaßen weder die großdeutsche noch die kleindeutsche Politik eine ernstzunehmende Realisierungschance.“ (Wehler II, 765) Zu den genannten Gründen für das Scheitern der Revolution tritt schließlich als weitere, nicht minder wichtige Ursache die Stärke der gegenrevolutionären Kräfte, die nach einem anfänglichen Schwächeanfall im Frühjahr 1848 sich bald schon konsolidierten und durch die – nicht zuletzt von den intakt gebliebenen Amtskirchen geförderte – traditionale Beharrungsmentalität weiter Bevölkerungskreise zumindest latent unterstützt wurde. Summa summarum: Realistische Erfolgschancen hatte die Revolution nur wenige Wochen lang; im Sommer 1848 bereits war ihr Misserfolg ausgemacht, um in den folgenden Monaten Schlag auf Schlag bestätigt zu werden. Trotz der erfolgten realpolitischen Niederlage kann die Revolution nicht als gescheitert im Sinne von ergebnislos gewertet werden. Denn sie zeitigte trotz Verfehlung ihres Primärzwecks Nachwirkungen von bleibendem Bestand, an deren produktiver Mitgestaltung sich auch die Revolutionsgegner angesichts des unübersehbar gewordenen gesellschaftlichen Modernisierungsbedürfnisses zu beteiligen hatten. Die im Zuge der Revolutionsbewegung erzielten Fortschritte auf eine allgemeine Staatsbürgergesellschaft hin ließen sich nicht einfach rückgängig machen. Preußen bleibt wie die allermeisten der übrigen deutschen Länder Verfassungsstaat. Die Strukturen bürgerlicher Öffentlichkeit befestigen sich trotz erheblicher Widerstände und Rückschläge. Der publizistische Markt wächst, die öffentliche Kommunikation verdichtet sich und gewinnt über Parlament und politische Parteien ein gewisses Maß an Einfluss auf Gesetzgebung und Regierungshandeln. Auch wenn man die nachrevolutionäre Phase sowohl in Bezug auf Preußen als auch auf die übrigen Länder des Deutschen Bundes als eine Zeit der zweiten Restauration zu bezeichnen hat, die politisch durch Depression und eine konservativliberalen „Scheinkonstitutionalismus“ bestimmt war (vgl. Wehler III, 197): Ein konstitutioneller Anfang zumindest war gemacht, der auf weitere demokratische Veränderungen hindrängte. Mehr als einen auf Langzeitwirkung angelegten Teilerfolg wird man der 48er Revolution gleichwohl nicht attestieren können. Ungleich erfolgreicher war am Maßstab äußerer Die Industrielle Revolution Effizienz und Wirkungsmächtigkeit gemessen die zweite Revolution, die – seit geraumer Zeit im Gang befindlich – um die Jahrhundertmitte Deutschland mit voller Wucht erfasste: die industrielle Umwälzung. Sie bereitete dem tausendjährigen Feudalzeitalter binnen kürzester Zeit ein Ende und fegte mit beispielloser Dynamik hinweg, was sich ihr ökonomisch in den Weg stellte. Der definitive Durchbruch der deutschen Industriellen Revolution von 1850 bis 1873 führte zusammen mit elementaren wirtschaftlichen Veränderungen einen Strukturwandel des Gemeinwesens insgesamt herbei, dessen Tragweite sich schwer überschätzen lässt. Schon in den Jahren bis zur Gründung des großpreußisch-kleindeutschen Reiches lässt sich ne-

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ben weiter ansteigenden Bevölkerungswachstumsraten eine kontinuierliche Tendenz zur Urbanisierung beobachten. In den Folgejahren tritt die Verstädterung sodann in ihre eigentliche Beschleunigungsphase. Die Expansion der marktbedingten Klassen setzt sich sprunghaft fort, wohingegen die ständisch geprägte Sozialstruktur der Gesellschaft im Abnehmen begriffen ist. Allerdings behauptet der Landadel vielerorts noch seine Vorherrschaft. Ihm steht das Millionenheer lohnabhängiger Agrararbeiter gegenüber, dem in den ausufernden Städten das Industrieproletariat entspricht. Enorm ist der Aufschwung des Bürgertums, „das nach einer Anlaufphase vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der 1830er Jahre zwischen etwa 1840 und 1880 eine Zeitspanne erlebte, in der seine Durchsetzungsfähigkeit, seine Prägekraft und sein gesamtgesellschaftlich wirkender Vorbildcharakter zu kulminieren begannen. Die politische Niederlage seiner liberalen Repräsentanten im Verlauf der achtundvierziger Revolution tat dem, wie es zunächst schien, keinen Abbruch. Ja, gerade seit den fünfziger Jahren mehrten sich die Stimmen, die selbstbewußt von einem ‚bürgerlichen Zeitalter‘ sprachen.“ (Wehler III, 189) Besitz- und Bildungsbürgertum streben unter tendenzieller Nivellierung ihrer sozialen Differenz dynamisch aufwärts, während das traditional geprägte Stadtbürgertum unaufhaltsam zerfällt oder aufgesogen wird. Als bürgerliche Integrations- und Homogenisierungsideologie fungieren mehr denn je Liberalismus, humanistisches Bildungsideal und Nationalstaatsidee. Zum Lebensstil der Bürgerlichkeit, an dem sich auf seine Weise auch der im stadium nascendi begriffene mittelständische Kleinbürger zu orientieren suchte, gehörte neben der von der Öffentlichkeit streng separierten Binnensphäre der Familie u.a. ein intensives Vereinsleben, dem im politischen Bereich das sich ausweitende Parteienwesen samt dazugehöriger Interessenverbände entspricht. An diesem Prozess bemüht sich die Arbeiterklasse in Form etwa von Gewerkschaften teilzunehmen, wie andererseits auch der traditionale Stand des Adels nicht länger umhin kann, seine spezifischen Interessen in parteilicher Form wahrzunehmen. All dies kann als Reflex auf die fortschreitende Auflösung der Ständegesellschaft und als Indiz einer beschleunigten Modernisierung der gesellschaftlichen Lebenswelten gedeutet werden, als deren bestimmende Größe mehr und mehr das Bürgertum zutage tritt. Die Industrielle Revolution zeitigte nicht nur enorme sozialgeschichtliche Folgen, sie trug auch entscheidend zum weiteren Verlauf der politischen Geschichte Deutschlands und zum Zustandekommen der im Jahre 1871 unter preußischer Regie erfolgten Reichsgründung bei. Zum einen waren es wesentlich ökonomische Gründe, die Preußen in den 60er Jahren zur Vormacht im deutschsprachigen Mitteleuropa haben werden lassen, zumal da die militärische Potenz der Borussen ohne ihren enormen Wirtschaftsaufschwung nicht zustandegekommen wäre; zum anderen erzeugte die Industrialisierung einen – nicht nur im Zollwesen – entgrenzenden Integrationseffekt, der sich mittels einer klugen Wirtschaftspolitik für nationale Einigungszwecke nutzen ließ. Jedenfalls ist der Einigungsprozess durch Handels- und Hegemonialpolitik gleichermaßen bestimmt, wobei großpreußi-

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sche Expansion und kleindeutsche Nationalstaatbildung einen Zusammenhang bilden. Ereignis wurde die Reichsgründung von 1871 Revolution von oben schließlich im Zuge jener „Revolution von oben“, deren Zustandekommen untrennbar verbunden ist mit einem Namen: Otto von Bismarck (1815–1898), der eiserne Kanzler, der deutsche Bonaparte, der diktatorische Charismatiker oder wie immer man ihn sonst zu nennen pflegt. 1862 trat er – von Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen ernannt – in den Vordergrund der politischen Bühne. Um die schwierige innenpolitische Situation, die durch einen sich zuspitzenden, im Kampf um die Heeresreform und die parlamentarische Monarchie ausgebrochenen Verfassungskonflikt gekennzeichnet war, in den Griff zu bekommen, brauchte Bismarck außenpolitische Erfolge. Er suchte und fand sie in drei Hegemonialkriegen der Jahre 1864, 1866 und 1870. Um nur Stichwörter zu nennen: Sturm auf die Düppeler Schanzen für den Krieg in Schleswig-Holstein, Königgrätz/Sadowa für Österreichs Niederlage im deutschen Bürgerkrieg und schließlich Sedan sowie Versailles für den Sieg über Frankreich bzw. die Reichsgründungs- und Kaiserproklamationsfeier, die zur Demütigung des besiegten „Erbfeinds“ im Spiegelsaal des einstigen Schlosses Ludwig XIV. stattzufinden hatte. „Nach Sedan, erst recht nach Versailles war dann kein Halten mehr. Ein leidenschaftlicher Nationalismus feierte die Gründung des Kaiserreichs als Vollendung der deutschen Geschichte. Hochfahrender Stolz auf ein epochales Ereignis verband sich mit einem emporschießenden Sendungsbewußtsein, Haß- und Triumphgefühl gegenüber den Franzosen mit einem unbändigen Hochmut als Ergebnis der militärischen Erfolge in diesem dritten von drei Kriegen, der innerhalb von einem halben Dutzend Jahren siegreich beendet worden war. Nie zuvor war das Heer populärer als bei der Berliner Siegesparade der heimkehrenden Truppen. Der borussische Einigungsnationalismus sah sich am Ziel seiner Träume, während zahlreiche Stimmen aus dem Protestantismus, unduldsamer noch als 1866, die Vollendung der Reformation durch das evangelische Preußen priesen. Bismarck avancierte zum ‚Reichsgründer‘, Moltke zu seinem ‚Paladin‘, Wilhelm zum ‚greisen Heldenkaiser‘. Wer wollte, hieß es immer wieder, noch daran zweifeln: Gottes Gnade waltete über den Deutschen.“ (Wehler III, 329) Um auf den Boden nüchterner Tatsachen zurückzukehren: Was hat die am 28. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles ihren einstweiligen zeremoniellen Höhepunkt erreichende Entwicklung realpolitisch erbracht? Vor allem eine Allianz zwischen preußischer Expansion und liberaler Nationalbewegung, welche die innenpolitische Krise, unter deren Zeichen Bismarck angetreten war, in dem Sinne löste, „daß die Lebensdauer des alten Regimes verlängert, mit anderen Worten, daß die anstehenden Grundsatzentscheidungen weit in die Zukunft hinein aufgeschoben wurden“ (Wehler III, 282). Die Ambivalenz dieses Urteils lässt sich nach Maßgabe der für Bismarck sprichwörtlichen Interdependenz von Innen- und Außenpolitik auch in außenpolitischer Hinsicht in Anschlag bringen. Die singuläre historische

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Leistung Bismarcks besteht zweifellos darin, mit eiserner Härte und vom Kriegsglück begünstigt einen kleindeutschen Nationalstaat unter großpreußischer Ägide zustandegebracht zu haben. Auch wenn man, wofür gute Gründe sprechen, davon ausgeht, dass dieses Ergebnis der Dynamik der geschichtlichen Entwicklung entsprach und zur damaligen Zeit mehr oder minder alternativlos war, wird man doch in Anbetracht nicht nur der Art und Weise seines Zustandekommens, sondern auch seiner historischen Folgen nicht umhin können, die Gesamtbilanz zweideutig ausfallen zu lassen. „Ihr glaubt, ihr habt ein Reich geboren, und habt doch nur ein Volk zerstört“, hatte Franz Grillparzer einst unter dem Eindruck von Königgrätz geklagt. Wahr ist, dass der preußisch-österreichische Krieg von 1866, der zu Recht als deutscher Bürgerkrieg zu bezeichnen ist, und der ihm folgende Norddeutsche Bund nicht nur die ihrerseits höchst ambivalente großdeutsche Lösung obsolet machte, sondern auch, was schwerer wiegt, den historischen Traditionszusammenhang im deutschsprachigen Mitteleuropa einschneidend tangierte, wobei der Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus vielfach ideenpolitisch funktionalisiert wurde. Als schließlich nach dem Frankreichkrieg, dessen historische Folgelasten ebenfalls evident sind, der Norddeutsche Bund zur großpreußischen Staatsbildung fortentwickelt wurde, so ging das, um einen weiteren problematischen Aspekt der Reichsgründung zu benennen, auf steigende Kosten der von Bismarck von Anfang an eher gering veranschlagten föderativen Elemente, wie sie in der Organisation des Deutschen Bundes gegeben waren. Andererseits wäre es verkehrt, die Entwicklungschancen des Deutschen Bundes und eines großdeutschen Einheitskonzepts zu überschätzen und gegen die Reichsgründung auf borussisch-kleindeutscher Basis auszuspielen. Das großdeutsche Konzept wurde nicht zuletzt durch die repressive Politik der Habsburger Monarchie in den fünfziger und sechziger Jahren völlig in Misskredit gebracht. Das Vertrauen in die Reformfähigkeit des Bundes war, so scheint es, endgültig dahin. Zwar hatte dieser zur Wahrung des europäischen Friedens nicht unwesentlich beigetragen; dauerhaft bändigen konnte er den seit alters vorhandenen und in ihm fortwirkenden Antagonismus der beiden deutschen Großmächte aber ersichtlich nicht. So musste der auf interne Homogenität abgestellte kleindeutsche Nationalstaat unter preußischer Ägide als alternativlos erscheinen und das umso mehr, als der Geist der Zeit nicht nur in Preußen national-nationalistisch ausgerichtet war. Da trägt es für das historische Urteil wenig aus, dass bundesstaatlich-staatenbündische Verfassungen in Anbetracht des bundesrepublikanischen Föderalismus und der europäischen Union heute zu Recht in einem neuen Licht erscheinen. In der Bismarckära von 1871 bis 1890 war das Bismarckära und politische Herrschaftssystem im Wesentlichen Wilhelmismus von folgenden Faktoren bestimmt: Zum einen durch das Regime des Kanzlers, dessen überragende Führungspersönlichkeit die Herrschaft straff koordinierte und zentrierte. Als ein weiteres – formal übergeordnetes, aber realpolitisch bei-, gelegentlich auch dem Reichskanzler untergeordnetes

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– Machtzentrum ist die Monarchie zu nennen. Bürokratie und Militär treten hinzu. Der Reichstag als zentrales Organ der Gesetzgebung stellt zweifellos ebenfalls ein politisches Machtzentrum von erheblicher Bedeutung dar. Aber weder vermochte er das Militär seiner parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen, noch den Kanzler und seine Minister aus seiner Mitte heraus zu bestimmen, da diese vom Kaiser ernannt wurden. Da es keine Regierungspartei gab, hatten die Parteien lediglich die Möglichkeit, die Regierung zu unterstützen oder zu opponieren. Einer der innenpolitischen Krisenherde der Bismarckära ist mit dem ebenso aggressiven wie defensiven Kampf der sog. staatserhaltenden Kräfte gegen Sozialismus und Sozialdemokratie benannt. Flankierend wird die Auseinandersetzung durch eine interventionistische Sozialpolitik begleitet. Den Sozialistenverfolgungen vorangegangen war die sog. Kulturkampfkrise. Dabei handelt es sich zumindest anfänglich um einen Grundsatzkonflikt zwischen säkularisiertem Staat und protestantischem Liberalismus einerseits sowie einem militanten Katholizismus papalistisch-ultramontaner Provenienz andererseits. Anhand der Geschichte der Zentrumspartei, in der sich der politische Katholizismus sammelte, ließe sich der weitere Gang dieser Entwicklung detailliert beschreiben. Außenpolitisch war Bismarck im Interesse der Bewahrung seines nationalen Einigungswerkes vor allem am Erhalt des status quo in Europa orientiert, den er durch Bündnispolitik bzw. Bündnisverhinderungspolitik zu gewährleisten suchte. Seine Kolonialpolitik verfolgte ausschließlich wirtschaftsimperialistische Ziele mit sozialimperialistischem Nebenzweck. Eine expansive Weltpolitik lag nicht in Bismarcks Absicht. Diese Zurückhaltung änderte sich, nachdem der ebenso unfähige wie großspurige Wilhelm II., der nach dem Tode des greisen Wilhelm I. und der nur neunundneunzigtägigen Herrschaft des „ewigen“ Kronprinzen Friedrich im „Dreikaiserjahr“ zum Monarchen avanciert war, am 15. März 1890 Bismarck als Reichskanzler entlassen hatte – aus Gründen, die damals politisch nicht unplausibel zu sein schienen. Der alte Lotse ging von Bord und das Staatsruder übernahm ein Parvenu, dessen Hang zu byzantinischer Prachtentfaltung in einem eigentümlichen Missverhältnis zu seinen staatsmännischen Fähigkeiten stand. Die auf Bestandssicherung ausgerichtete, durch Zurückhaltung im internationalen Bereich und den Primat des Inneren bestimmte Außenpolitik Bismarcks wird nunmehr durch eine dezidiert imperialistische Weltmachtpolitik abgelöst. Dabei ist die Regentschaft Wilhelm II. nach Zerfall des sammlungspolitischen Machtkartells, welches das letzte Jahrzehnt der Bismarckära prägte, sowohl außen- als auch innenpolitisch durch systematische Dauerlabilität gekennzeichnet. Da es weder einer Führungsfigur noch dem Reichsparlament gelang, das durch Bismarcks Abgang entstandene Machtvakuum zu füllen, „schwelte hinter der glänzenden Fassade der autoritären Monarchie eine permanente Staatskrise. Denn anstelle der konstitutionell festgelegten Hierarchie von Entscheidungsgremien, die zu einer verbindlichen politischen Willensbildung führen sollte und unter dem charismatischen Bismarck auch meistens dazu geführt hatte, setzte sich jetzt eine Polykratie miteinander rivalisierender Machtzentren durch. Die ständig fluktuierenden Kräf-

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tekonstellationen, die einem solchen System eigentümlich sind, verursachten den Zickzackkurs, dem die deutsche Innen- und Außenpolitik in den folgenden drei Jahrzehnten so oft gefolgt ist.“ (Wehler III, 1000) Als schließlich die inneren und äußeren Krisen sich mehr und mehr zuspitzen, tritt man die „Flucht nach vorn“ (vgl. Wehler III, 1152ff.) an. Unter der Kanzlerschaft von Theobald von Bethmann Hollweg (1909–1914), dem vierten Kanzler der wilhelminischen Ära nach Leo von Caprivi (1890–1894), Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1894–1900) und Bernhard von Bülow (1900–1909), wurde für den 1. August 1914 die Generalmobilmachung angeordnet. Der in seiner Art bisher beispiellose, entgegen dem Schlieffenplan sich über vier Jahre hinziehende Erste Weltkrieg begann. Äußerlich veranlasst wurde er durch die Folgezusammenhänge des Mordes am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, der mit seiner Frau am 28. Juni 1914 in Sarajewo einem Anschlag zum Opfer fiel. Nicht minder mitverursacht aber war er, was Deutschland betrifft, durch aberwitziges diplomatisches Kalkül und durch eine seit Jahrzehnten betriebene Rüstungspolitik, die Kriegsbereitschaft zum politischen Prinzip werden ließ. „Im Kern entsprang diese Kriegsbereitschaft der von Grund auf verfehlten Strategie eines exzessiv übersteigerten Sozialimperialismus, der durch die erwarteten Kriegserfolge die Legitimationsbasis der politischen Ordnung und des gesellschaftlichen Systems so überwältigend stärken wollte, daß das großpreußische Reich dem Zwang zu modernisierenden Reformen weiter ausweichen konnte. In der maßlosen Kriegszielpolitik der folgenden vier Jahre und in der innenpolitischen Blockadehaltung der Machteliten und ihrer Kohorten lebte diese Grundintention weiter fort. An der Bedeutung der welthistorischen Zäsur ist nicht zu rütteln: Als im August 1914 wegen der deutschen Kriegspolitik für Europa die ‚Urkatastrophe‘ (Kennan) des Ersten Weltkriegs ausbrach, endete das lange 19. Jahrhundert, und das kurze 20. Jahrhundert bis 1990 begann ...“ (Wehler III, 1168) Trotz der Großkrise, auf die man zusteuerte, und trotz mannigfacher Vorzeichen, in denen Gründerzeit und Fin des siècle sich deren Kommen bereits um die Jahrhundertwende andeutete, prosperierte das Kaiserreich in bisher ungekannten Formen und führte eine Wirtschaftsblüte herbei, wie Deutschland sie noch nicht gesehen hatte. Die architektonischen Hinterlassenschaften der sog. Gründerzeit sind bis zum heutigen Tage ein bewunderungswürdiges Zeugnis hierfür. Man kann im Blick auf das Kaiserreich mit Fug und Recht von einem ersten deutschen „Wirtschaftswunder“ sprechen (vgl. Wehler III, 610f.). „Der Industriekapitalismus expandierte mit Riesenschritten, so daß Deutschland in der internationalen Rangskala schließlich an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten, aber vor England als dem Pionierland der Industriellen Revolution lag.“ (Wehler III, 489) Allerdings kam nur eine zahlenmäßig bescheidene Minderheit der Bevölkerung in den Genuss des erwirtschafteten Wohlstands. Auch wurden Zeiten der Hochkonjunktur immer wieder von langanhaltenden Depressionsphasen unterbrochen, so in den Jahren 1873 bis 1879, 1882 bis 1886, 1890 bis 1895, 1907/8 sowie ab 1913. Die Wirtschaftskrisen

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hatten eine fortschreitende Abkehr vom Freihandelssystem zur Folge und leiteten eine korporativ-interventionsstaatliche Entwicklung ein, die zu einer Stärkung der bürokratischen Ordnungsmacht und zu einer Verstaatlichung weiter sozialer und ökonomischer Gesellschaftsbereiche führte. Nichtsdestoweniger blieb der Markt der wichtigste Faktor der Gesellschaftsformierung. Insbesondere in seiner jüngsten Form, derjenigen des Arbeitsmarktes, wurde er „zum ungleichheitsstrukturierenden Zentrum der Stratifikationsordnung. Er verdrängte die traditionellen Mechanismen der Zuweisung von Rang, Prestige und Einfluß, wie sie etwa in den Adelsprivilegien kraft familiärer Herkunft am längsten weiterlebten.“ (Wehler III, 843) Dieser Trend unterstützte sonach auf der einen Seite durch Abbau ständischer Bindungen die Ausbildung einer Staatsbürgergesellschaft freier und gleichberechtigter Individuen, er machte aber andererseits die soziale Stellung der Menschen dergestalt von ihrem Marktwert abhängig, dass statt hart abgestufter Sozialhierarchien ständischer solche ökonomischer Art entstanden. Um nur den finanziellen Aspekt ins Auge zu fassen: „Trotz der relativen Verbesserung der Realeinkommen, die seit den achtziger Jahren auch dem Oberbereich der Unterklassen zugute kamen, blieben zu Beginn der neunziger Jahre rund fünfundsiebzig Prozent, kurz vor 1914 immer noch siebzig Prozent, im allergünstigsten Fall sechsundsechzig Prozent unter der Grenze des niedrigsten Jahreseinkommens, jenseits derer die Besteuerung überhaupt erst einsetzte. Man hat daher davon auszugehen, daß die städtischen und ländlichen proletarischen und proletaroiden Erwerbsklassen zwischen fünfundsiebzig und mindestens sechsundsechzig Prozent der Reichsbevölkerung umfaßten. Insofern trifft die bekannte bildliche Darstellung des Stratifikationssystems als eine birnenförmige Gestalt zu: Aus einem weit ausgebuckelten riesigen proletarischen Sockel wächst der schlanke Hals der Mittelklassen empor, der mit dem nadeldünnen Schlußstück der Oberklassen endet. Auch und gerade die Wohlstandssteigerung während der Hochkonjunkturperiode nach 1895 hat dazu geführt, daß sich die Distanz zwischen Oberund Unterklassen, vor allem aber auch zwischen Ober- und Mittelklassen kontinuierlich vergrößert hat.“ (Wehler III, 846) Obwohl in der reichsdeutschen Klassengesellschaft das Proletariat die größte Bevölkerungsgruppe bildete, waren seine politischen Partizipationsmöglichkeiten gering. Der Zugang zu Macht- und Herrschaftschancen war für die ländliche und städtische Arbeiterschaft in aller Regel verstellt. Hingegen konnte der Adel einen Großteil seiner Privilegien erhalten: Nicht nur in Politik und Militär, auch in der Staatsbürokratie hielt er die wichtigsten Positionen fest. Dabei lässt sich eine wechselseitige Allianz von Adel und Großbürgertum beobachten. Während sich die adelige Herrschaftselite politisch mit der Unternehmerklasse verbündet, gleicht sich das Großbürgertum in Stil und sozialem Gehabe nicht selten der Aristokratie an, so dass von einem Prozess der Feudalisierung der Bourgeoisie gesprochen werden kann. Dieser Prozess setzt sich in bestimmter Weise bis ins Bildungsbürgertum fort, das öffentliche Geltung nicht selten über Positionen in dem vom Adel dominierten Militär zu erreichen sucht, was zu der in Bezug auf die Gesellschaft des

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Kaiserreichs häufig festgestellten „Militarisierung der bürgerlichen Lebenswelt“ (Rohls I, 720) führte. Trotz solcher dem Anschein nach gegenläufiger Trends und trotz der demographischen Tatsache, dass Wirtschafts- und Bildungsbürgertum nur einen vergleichsweise geringen Bevölkerungsanteil stellten, bleibt das bürgerliche Vordringen in der Gesellschaft weiterhin nicht nur ungebrochen, sondern die vorherrschende Tendenz. Dabei weiten sich die bürgerlichen Sozialformationen aus und gewinnen an Umfang, was sich an der fortschreitenden Expansion des sog. Kleinbürgertums ersehen lässt. Eine Verbürgerlichung der Arbeiterschaft und des proletarischen Milieus findet hingegen allenfalls ansatzweise statt, da der Klassengegensatz von beiden Seiten als diametral empfunden wurde, wodurch die faktischen Verhältnisse mentalitätsgeschichtlich zementiert wurden. Seine Macht übte das Bürgertum im Wesentlichen durch berufliche Leistung und funktional differenzierte Kompetenzen aus, wohingegen seine politischen Herrschaftsrechte bis zum Ende des Kaiserreichs durch den Adel maßgeblich eingeschränkt wurden. Ökonomisch war die Feudalordnung zwar beseitigt, politisch aber blieben die Bastionen der aristokratischen Welt noch lange bestehen. Die Kirchen- und Christentumshistorie ist mit Theologische Problemder Geschichte des langen 19. Jahrhunderts, die horizonte in Bezug auf das Deutschland der Jahre 1789 bis 1914 in einigen wenigen Grundzügen skizziert wurde, untrennbar und aufs Engste verbunden. Der Beweis hierfür ließe sich hinsichtlich der diversen innerkirchlichen Auseinandersetzungen mit den politischen Bewegungen des Nationalismus, Konservativismus und Liberalismus ebenso erbringen wie im Hinblick auf die mit der Polithistorie vielfältig verquickte Geschichte der Unionsbewegungen und der ihnen korrespondierenden Gegenbewegungen im deutschen Protestantismus. Dessen Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche im 19. Jahrhundert wäre ein nicht minder lohnendes Thema wie protestantische Reaktionen auf die Soziale Frage im Zuge der Industriellen Revolution und der durch sie hervorgerufenen Arbeiterbewegung. Auch die Geschichte der protestantischen Vereine und kirchlichen Werke wäre eigener Erörterung wert. All dies kann hier nicht geleistet werden. Geboten werden sollen lediglich einige Fallbeispiele zur evangelischen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts und zwar insbesondere für die Zeit der werdenden bzw. bereits erfolgten Krise der großen religionstheoretischen Systeme von Kant, Hegel und Schleiermacher. Mit ihrem Niedergang tritt der theologische Streit um die Legitimität der Neuzeit und die spezifische Form der Modernität, die sie im Laufe ihrer Geschichte angenommen hat, in ein neues Stadium seiner Entwicklung. Die krisenhaften Aspekte des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses treten umso deutlicher zutage, je mehr und ungehemmter sich dieser beschleunigt. Das ist auch im Hinblick auf die Theologie wahrzunehmen, in deren Binnenraum sich die Entwicklungen der Außenwelt in vielfältiger Weise reflektieren. Dabei lassen sich das kritische Geltendmachen der Krise und die Ansätze ihrer konstruktiven Bewäl-

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tigung zwar unterscheiden, nicht aber trennen und das umso weniger, als gerade die evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts sowohl insgesamt als auch in ihren einzelnen Vertretern die Dialektik der Aufklärung nicht nur äußerlich begleitet, sondern in ihrem Innersten widerspiegelt. In allem, was sie ist, ist sie immer auch und in durchaus wesentlich zu nennender Weise Modernitätsreflexion. Reflexion der Moderne bestimmt ihre Kritik ebenso wie ihre Konstruktionen. Gegenüber den schulbildenden Integrationsleistungen der Großsysteme des Deutschen Idealismus geben sich seit den 30er Jahren vermehrt Zeichen wachsender Desintegration zu erkennen. An ausgewählten Beispielen evangelischer Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts soll diese Tendenz im Folgenden problemorientiert und unter besonderer Berücksichtigung offenbarungstheologischer Aspekte beschrieben werden. Das gesteigerte Bewusstein einer Krise der Sittlichkeit wird in der Perspektive supranaturalistischer Kantrezeption geltend gemacht, deren wesentliche Pointe in ihrer von Storr bis Ritschl geteilten Annahme besteht, dass Moral transmoralischer Religiosität bedürfe, um unter den Bedingungen der gegebenen Welt beständig fundiert und dauerhaft realisierbar zu sein. Ausgehend von Schellings positiver Philosophie der Offenbarung soll fernerhin die Krise spekulativen Denkens Hegel’scher Provenienz aufgewiesen und auf ihre geistesgeschichtlichen Folgeerscheinungen hin untersucht werden, nachdem zuvor schon mit der Krise des frommen Gefühls jenes Thema in die Mitte der Erörterungen gerückt wurde, auf das sich die theologische Krisentheorie seit alters in besonderer Weise konzentriert hat: die Hamartiologie. Der Begriff der Sünde ist nicht nur der pointierteste Ausdruck religiöser Kritik religionsexterner Verhältnisse, sondern zugleich Indiz schärfster religiöser Selbstkritik, in der das religiöse Bewusstsein seine eigene Krise und das Unvermögen benennt, sie von sich aus zu beheben. Die Lehre von der Sünde kann somit am besten den Übergang zu jener Theologie vermitteln, die als diejenige der Krise das theologiegeschichtliche Ende des langen 19. Jahrhunderts und den Beginn des kurzen 20. Jahrhunderts markiert. Spätestens durch sie wird statt dem Begriff der Religion derjenige der Offenbarung zum Prinzip neuzeitlicher Theologie erhoben.

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Lit.: Chr. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996. – K. Barth (wie II/1). – C. Daub’s philosophische und theologische Vorlesungen, hg.v. Marheineke und Dittenberger, Bd. 5. Zweite Abtheilung: C. Daub’s System der theologischen Moral. Zweiter Theil. Zweite Abtheilung. Nebst einem zwiefachen Anhang der Lehren von der Sünde und von der Natur des Bösen, Berlin 1843. – I. Kant (wie II/2). – S. Kierkegaard, Der Begriff der Angst. Eine simple psychologisch-wegweisende Untersuchung in der Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde von Vigilius Haufniensis, Kopenhagen 1844, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 5, Jena 1923. – Ders., Die Krankheit zum Tode. Eine christlich psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, Kopenhagen 1849, in: ders., Gesammelte Werke 24. und 25. Abteilung, Düsseldorf 1957. – O. Marquard, Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: M. Fuhrmann/H.R. Jauß/W. Pannenberg (Hg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981 (Poetik und Hermeneutik IX), 53–71. – J. Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 2 Bde.. Dritte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Breslau 1849. – J. Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitätslogische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin u.a. 1977. – G.S. Steinbarts System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und andrer die nach Weisheit fragen eingerichtet, Züllichau (1778) 21780. – F.A.G. Tholuck, Die christliche Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 51836. – Ders., Gespräche über die vornehmsten Glaubensfragen der Zeit, zunächst für nachdenkende Laien, welche Verständigung suchen, Halle 1846.

Unter Neologen war man auf den Hl. Augustin Neologische Hamartiologieund das augustinische Erbe der Reformation in kritik der Regel nicht gut zu sprechen. Den meisten um theologische Modernisierung Bemühten galt es vielmehr als ausgemacht, „wie wenig Augustin die geringste Autorität in der Kirche zu haben verdienet“ (Steinbart, 95). Als Beispiel für diese Auffassung sei Gotthilf Samuel Steinbart (1738– 1809) erwähnt: Sein 1778 erschienenes „System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums“, welches „für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und andrer, die nach Weisheit fragen, eingerichtet“ wurde, ist erklärtermaßen von der Absicht bestimmt, „den ganzen afrikanischen Brast der willkührlichen Lehrbestimmungen gänzlich aus der Philosophie des Christenthums oder dem dogmatischen System herauszuwerfen“ (Steinbart, 110). Eine Unzahl von „willkührlichen Hypothesen“ (Steinbart, 94), welche den „Augustini-

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schen privat Meinungen“ (Steinbart, 142) zuzurechnen seien, hätten den positiven Einfluss des Christentums auf die Glückseligkeit bislang wenn nicht verhindert, so doch erheblich behindert. Aufgezählt werden u.a. die „Irrlehren“ von der Sünde aller in Adam, von der postlapsarischen Verdorbenheit der menschlichen Natur, vom völligen Unvermögen des Menschen, zu seiner Besserung beizutragen, sowie von der Irresistibilität der Gnade und von der Prädestination. Um zeitgemäße Modernisierung in Theologie und Christentum zu bewirken, sei es notwendig, als erstes die genannten Hauptsätze des „afrikanischen Systems“ (Steinbart, 114) auszumerzen. Im Fortgang der Neologie zum Rationalismus wurde dieses Werk mehr oder minder konsequent vollbracht. Die Tendenz des neuzeitlichen Geistes ist durch die Hinwendung von der passiven, hinnehmenden zur aktiven und hervorbringenden Vernunft bestimmt. Das selbstbewusste Subjekt erkennt sich als Bezugspunkt aller Gehalte, um sie von sich aus durch Denken und Handeln theoretisch und praktisch zu gestalten. Der moderne Mensch lässt sich die Wirklichkeit nicht vorgeben, um sie leidend hinzunehmen, er will sie vielmehr aktiv hervorbringen und tätig realisieren. Gerade darin aber erweist sich seine Entschlossenheit zu konsequenter Selbstätigkeit als folgerichtig, dass er sich nicht nur zum Agenten seines Heils, sondern ebenso zum Agenten seines Unheils erklärt. Das selbstbewusste moderne Subjekt will selbst schuld, selbst Wirkursache seiner spezifischen Situation sein. Der Kritik am Dogma von einem durch Jesus Christus stellvertretend gewirkten menschheitlichen Heil korrespondiert deshalb durchweg die Ablehnung der Lehre von der Versündigung aller durch natürliche Erbfolge verbundenen Geschlechter im Urvater Adam, wofür der moderate Neologe J.G. Töllner (1724–1774) den Merksatz prägte: „Wir haben in Adam nichts verloren.“ (Theologische Untersuchungen II/1 [Riga 1774], 213) Durch beide Auffassungen sah man gleichermaßen die moralisch-sittliche Unverwechselbarkeit und Unteilbarkeit menschlichen Personseins, die Unentschuldbarkeit und Haftbarkeit des je einzelnen Individuums für seine Tat, kurz: die Eigenständigkeit des Subjekts zerstört. „Jedem das Seine“, „Jeder ist seines Glückes (resp. Unglückes) Schmied“ sind die von nun an auch von Theologen gern zitierten Sentenzen, in denen sich das Selbstverständnis der neuen Zeit sprichwörtlichen Ausdruck verleiht. Damit verbietet sich der moderne Mensch, sein Geschick Schicksal zu nennen und in natürlicher Ergebung hinzunehmen; denn was über ihn kommt, sind im Wesentlichen seine eigenen Taten. Zugleich entsagt er der Möglichkeit, sich dadurch zu entschuldigen, dass er seine Verfehlung auf ein Anderes schiebt, um sich so aus der Selbstverantwortung zu stehlen. Vielmehr erklärt er seine Zurechnungsfähigkeit zum Kriterium seiner Menschlichkeit. Um ihretwillen darf er seine Verfehlung nicht als ein ablösbares, übertragbares bzw. in einem Fremden gründendes Äußeres abtun, sondern muss sie selbstbezüglich auf sich nehmen. Der Begriff der Verfehlung hat deshalb im modernen Sinn stets reflexiven Charakter. Verfehlung ist stricte dictu Selbstverfehlung. Damit ist zugleich bestimmt, was nach neologischem Verständnis Sünde heißt.

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Der hamartiologische Gedanke menschlicher Selbstverfehlung ist zwar als solcher nicht neu, Sünde als Selbstverfehlung sondern war schon immer ein wesentlicher Aspekt christlichen Sündenverständnisses. Namentlich an Augustins klassischer Analyse der Konkupiszenz ließe sich dies zeigen, in welcher das verkehrte Begehren des Menschen auf Hochmut und Ichsucht, auf die unmittelbare Selbstbezüglichkeit des „amor sui“ zurückgeführt wird. Gleichwohl ist der Sündenbegriff bei ihm, wie in der traditionellen christlichen Lehre überhaupt, nie in der Ausschließlichkeit aus dem Selbstverhältnis des Menschen entwickelt worden, wie das in der Neuzeit der Fall ist. Die Sündhaftigkeit des Menschen bemisst sich nach Augustin immer auch an einer gegebenen kosmischen Ordnung, die keineswegs in der direkten Zuständigkeit des Menschen liegt, sondern in sich bzw. im transzendenten Gott gründet. Gegen sie verstößt der Mensch, indem er, von „cupiditas“ bzw. „concupiscentia“ beherrscht, ihre Rangfolge missachtet, Zweck und Mittel vertauscht und Nichtiges für Wesentliches nimmt. Für das neuzeitliche Bewusstsein hingegen ist jedes Weltverhältnis ein Modus menschlichen Selbstverhältnisses, so dass sich im verkehrten Weltumgang die verkehrte Beziehung des Subjekts zu sich selbst abschattet. Der Verkehrung äußerer Weltordnung geht mithin nach neuzeitlichem Verständnis stets die Verkehrung innerer Ordnung, die Verkehrung menschlicher Wesensnatur voran. Was die Verfassung jener Wesensnatur des Menschen anbelangt, so bestimmte das aufgeklärte Bewusstsein die optimistische Annahme seiner ursprünglichen Güte. Gleichwohl galt bereits der frühen Aufklärung die Güte menschlicher Natur keineswegs als naturhafte Gegebenheit. Recht despektierlich nennen schon die Sozinianer den vermeintlichen Urvater Adam in jeder Hinsicht ein Kind, einen stümperhaften Anfänger, einen – sit venia verbo – Naturburschen, dessen unterentwickelte Fähigkeiten noch der Erziehung durch die Kulturgeschichte des folgenden Menschengeschlechts harrten. Das „felix-culpa“-Motiv gehört in diesen Zusammenhang. Von einer Urstandsgerechtigkeit will man nichts wissen; dabei erschöpft sich die Kritik keineswegs in der Ablehnung unangemessener mythologischer Vorstellung, sondern ist viel grundsätzlicher gefasst: „iustitia enim non est perfectio hominis naturalis, sed voluntaria!“, sagt Fausto Sozzini (1539–1604) in seinen „Praelectiones theologicae“ (Bibliotheca Fratrum Polonorum I [Amsterdam 1656], 540 Sp. 1). Die wesentliche Güte des Menschen darf keine unmittelbare Naturgegebenheit sein, sondern sich erst vermittels willentlicher Selbsttätigkeit herstellen, wenn anders menschliche Freiheit angemessen, nämlich als Selbstvollzug gedacht werden soll. In diesem Zusammenhang verstrickt sich die Theorie der Aufklärung allerdings in eine eigentümliche Doppeldeutigkeit. Um nämlich die ethische Unterscheidung von Gut und Böse auf einen freien Willensentscheid des Menschen zurückführen zu können, sah man sich gezwungen, Freiheit schließlich doch als eine unmittelbare, ihrem konkreten Selbstvollzug immer schon zugrundeliegende Fähigkeit, als eine Art von natürlichem Vermögen zu bestimmen. Dabei wurde

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jenem Freiheitsvermögen stillschweigend das Prädikat ursprünglicher Güte zugedacht, obzwar es doch nur als Grundlage freier Willensentscheidung zwischen Gut und Böse fungieren sollte und auch als Bedingung zumindest der Möglichkeit von Sünde in Betracht kommen musste. Diese Ambivalenz ihrer eigenen Argumentation hat die neologische Theorie nicht voll durchschaut; allein so konnte ihr die grundsätzliche Überlegenheit menschlicher Güte über das Böse unproblematisch bleiben. Die für die Aufklärung charakteristische Zuversicht, sich trotz aller begangenen Verfehlungen stets noch für das Gute selbsttätig entscheiden zu können, gründet zuletzt in dem Vertrauen auf ein dem aktuellen Selbstvollzug der Freiheit substanzhaft vorgegebenes und grundsätzlich positiv zu wertendes Freiheitsvermögen. So gilt dem durchschnittlichen neologischen Bewusstsein die Sünde zwar als Hemmung und Hindernis, niemals aber im eigentlichen Sinn als Schranke der moralischen Selbstentwicklung des Menschen. Ihre übliche Zurückführung auf die Sinnlichkeit bestätigt genau dies: Insofern die äußere Sinnlichkeit die innere Identität des Menschen zuletzt unberührt lässt, wird die Sünde als das durch freie menschliche Selbsttätigkeit grundsätzlich Überwindbare bestimmt. Entsprechend wurde nicht in Zweifel gezogen, dass vergangenes Unrecht durch tätige Besserung hinweggearbeitet werden könne. Auf die Beförderung künftiger Tugendübung allein hat sich demgemäß der Umgang mit Sünde und Schuld in der Strafe primär auszurichten. Der Sinn der Strafe erfüllt sich in Selbstbestrafung, in individueller Gewissensqual und Selbsterkenntnis als dem ersten Weg der Besserung. Gegenüber dem neologischen Subjektivismus Das radikale Böse hat Immanuel Kant eine tiefgreifende kritische Wende vollzogen. Sein Anspruch, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären, bewährt sich zuvörderst an einem Freiheitsbegriff, der über den Gedanken eines unmittelbaren, nämlich mit der Faktizität des empirischen Subjekts gleichsam natürlich gegebenen Freiheitsvermögens hinausführt. Zwar bleibt auch bei Kant Subjektivität prominentestes Thema und zentraler Bezugspunkt der Erscheinungswelt. Aber darunter ist nun primär nicht mehr ein singuläres Selbstbewusstsein zu verstehen, sondern das Selbstbewusstsein überhaupt, welches jedem Bezug auf individuelle Subjekte vorauszudenken ist, hingegen niemals empirisch gegebenen Ich-Subjekten untergeordnet werden darf. Die weitreichenden Folgen dieses Sachverhalts zeigen sich in praktischer Hinsicht besonders auffällig am unterschiedlichen Umgang mit dem Unrecht begangener Untat. Konnte das aufgeklärte Bewusstsein begangenes Unrecht nach erfolgter Besserung geflissentlich übergehen und vergangen sein lassen, so gilt nach Kant als unumstößlicher Grundsatz: Strafe muss sein. Eine gerechte Zukunft ist nach ihm nicht denkbar ohne eine durchaus als Vergeltung zu verstehende Sühnung geschehener Untat. Der Zustand der Gerechtigkeit ist deshalb nach Kant im Unterschied zur aufklärerischen Meinung nicht schon dadurch wiederhergestellt, dass das singuläre Subjekt, das im Unrecht sich selbst verfehlte, wieder zu sich findet und den Weg der Besserung einschlägt. Denn das im Unrecht verfehlte Selbst ist eben nicht

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unmittelbar mit dem empirischen Subjekt gleichzusetzen, es stellt vielmehr jene transzendentale Subjektivität dar, welche sich im empirischen Subjekt als differenter Sollensanspruch anmeldet. Das einzelne Subjekt bekommt es also in Tat und Untat nicht etwa nur mit sich selbst zu tun, sondern vielmehr mit der Verbindlichkeit eines Gesetzes, dessen Kriterium gerade in seiner unbedingten Verallgemeinerungsfähigkeit liegt und dessen Imperativ kategorisch, mithin unabhängig von der spezifischen Verfasstheit des individuellen Subjekts gilt. Diesen Bestimmungen korrespondiert, wie u.a. das erste Stück der Kant’schen Religionsschrift von 1793 belegt, ein vertieftes Verständnis des Unwesens der Sünde überhaupt. Die Situation des empirischen Subjekts ist nach Kant keineswegs bestimmt durch grundsätzliche Güte menschlicher Wesensnatur, auch nicht durch eine indifferente Unentschiedenheit dem Guten und Bösen gegenüber; vielmehr gilt, dass sich das empirische Subjekt immer schon für die Sünde entschieden hat. Seine Situation ist gekennzeichnet durch das radikale Böse. Denn in der Gattung der Menschheit herrsche ein Hang, trotz klaren Bewusstseins der sittlichen Maxime von dieser abzuweichen. Zwar kann es sich dabei nach Kant nicht um ein naturhaftes Verhängnis bzw. um eine Art von „Naturtrieb“ (Akad. Ausg. VI, 22) handeln, sondern nur um eine willentliche Selbstentscheidung des Menschen; es ist nämlich „nichts sittlich- (d.i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene That ist“ (Akad. Ausg. VI, 31). Aber diese Entscheidung kann nicht mehr unmittelbar auf eine vermeintlich indifferente Willensfreiheit des empirischen Subjekts zurückgeführt werden, sondern hat als alle Menschen betreffende „intelligibele That“ (ebd.) vor aller Erfahrung zu gelten, als eine Tat, deren Ursprung sich jedem forschenden Zugriff entzieht. Realisiert Kant, wie bereits gezeigt, in seiner Lehre vom radikalen Bösen und vom transempi- Der Sündenmüller rischen Fall der Sünde die denkbar stärksten Einwände gegen moralische Freiheit, um deren Realität zuletzt umso gewisser zu werden, so stellt für Julius Müller (1801–1878) die Sünde nicht nur ein Hindernis und eine Hemmung sittlicher Selbsttätigkeit, sondern deren Schranke und Grenze dar. Darin ist der „Sündenmüller“ repräsentativ für eine mit der Erweckungsbewegung anhebende, das gesamte 19. Jahrhundert durchziehende und noch weit darüber hinaus reichende theologische Traditionslinie, die es nachgerade unter offenbarungstheologischen Gesichtspunkten verdient, genauer wahrgenommen zu werden. Für Müllers „Christliche Lehre von der Sünde“, deren erster Band 1839 erstmals, 1844 in Neubearbeitung mit einem zweiten erschienen ist – bis 1889 erfolgten sodann weitere fünf Auflagen beider Bände (31849; 41858; 51867; 61877; 7 1889) –, stellt sich das Grundproblem der Hamartiologie zunächst ganz ähnlich dar wie für Kant. Auf der einen Seite verweise die faktische, als Erfahrungstatsache unbestreitbare Allgemeinheit der Sünde (vgl. Müller II, 310–348) auf ihre Einwurzelung in der menschlichen Natur, die der Entscheidungskompetenz empirischer, in Raum und Zeit vorfindlicher Subjekte entzogen ist. Auf der anderen Seite sei die Sündhaftigkeit der Sünde nicht anders zu fassen denn als persönliche Ver-

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schuldung. Widerspruchslos zusammendenken lasse sich dies nur unter der Annahme des „Begriff(s) einer jenseits unsers zeitlich individuellen Daseins begründeten Sündhaftigkeit, welche, weil sie, sei es nun unmittelbar oder in ihren unfehlbaren Folgen, Schuld mit sich führt, ihren Ursprung in unsrer persönlichen Selbstentscheidung haben muß“ (Müller II, 496). Diese Selbstentscheidung müsse als eine von jedem vollzogene und deshalb allgemeine erachtet werden, weil jeder Mensch sich faktisch in der Sünde befinde, was Müller, wie gesagt, durchaus für empirisch aufweisbar hält. Damit steht für ihn die an Origenes erinnernde „Idee einer außerzeitlichen Existenzweise der geschaffenen Persönlichkeit, von der ihr Leben in der Zeit abhängig ist“ (Müller II, 497), fest; gleiches gilt für eine „jenseits des irdischen Lebens liegende(n) Selbstentscheidung“ (Müller II, 100). Mit ihr glaubt Müller zugleich den Sinn der Bestimmung Kants ausgelotet zu haben, welche das radikale Böse auf eine intelligible Tat vor aller Erfahrung zurückführt. In Wahrheit, so scheint es, hat er, wie schon die älteren Supranaturalisten vor ihm, indem er offenbar den Begriff einer intelligiblen Tat als Hinweis auf transzendente Wirklichkeiten außer Raum und Zeit verstand, unter Berufung auf Kant genau jenen metaphysischen Realismus wiederzubeleben versucht, den jener auszuschalten sich vorgenommen hatte. Gleichwohl empfiehlt es sich, Müller nicht vorschnell Begriffseinfalt und zurückgebliebenes Problembewusstsein zu attestieren, wie das den Supranaturalisten von rationalistischer Seite gerne unterstellt wurde. Denn seine vermeintliche Ontologisierung der Kant’schen Sündenlehre entbehrt nicht einer gedanklichen Konsequenz. Sie hat ihre Folgerichtigkeit in dem Bemühen, Kants These vom radikalen Bösen wirklich radikal zu denken, sofern sie dessen Ursprung zu einem Unvordenklichen und Unausdenklichen erklärt, welches sich in den Zusammenhang autonomer Vernunft beim besten Willen nicht aufheben lässt. Schon Müllers Kantinterpretation wendet sich energisch gegen die verbreitete Deutung, der Philosoph habe die Sünde in der Weise der Neologie aus der Sinnlichkeit abgeleitet bzw. auf den Widerstand der Sinnlichkeit gegen das geistige Wesen des Menschen reduziert. Die Unterordnung der Gesetzesforderung unter den Sinnestrieb sei nicht als durch die sinnliche Natur des Menschen als solche begründet zu erachten, sie habe ihre Ursache vielmehr nach Kant durchaus in einer Verkehrung menschlicher Geistigkeit und Freiheit selbst. Die Sünde lasse sich somit nicht als ein die Identität des Menschen im Innersten nicht berührender Sachverhalt abtun, habe vielmehr als Radikalverkehrung zu gelten. Dann aber führt nach Müller an dem gedanklichen Eingeständnis nichts mehr vorbei, dass am Abgrund des Bösen wie das Denkvermögen, so auch die freie Selbsttätigkeit des Menschen auf eine Schranke stoße. Damit stehe zugleich fest, dass die Realisierung der Freiheit angesichts der Sünde nicht mehr als autarker menschlicher Selbstvollzug, sondern nur noch als Befreiung durch göttliche Offenbarungstat gedacht werden könne. Die Überzeugung, dass mit der Faktizität der Tholucks wahre Weihe Sünde der menschlichen Freiheit eine zwar selbst verschuldete, aber selbsttätig nicht transzendierbare Grenze gesetzt sei, welche nur die unableitbare Tat göttlicher Offenbarung zu

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beheben vermöge, teilte Müller mit seinem Freund und Hallenser Kollegen F.A.G. Tholuck (1799–1877), dessen 1823 zunächst anonym, ab der dritten Auflage schließlich unter Nennung seines Namens erschienenen Schrift über „Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder die wahre Weihe des Zweiflers“ das Standardtraktat der deutschen Erweckungsbewegung darstellt. Noch zu Lebzeiten seines Autors wurde das Büchlein insgesamt achtmal neu aufgelegt, dazu ins Englische, Holländische, Französische, Dänische und Schwedische übersetzt. Die nachhaltige Wirkung des erwecklichen Werkes ist durchaus mit der Beachtung zu vergleichen, welche die im Geburtsjahr Tholucks erstmals publizierten Schleiermacher’schen ,,Reden über die Religion“ gefunden hatten. Der neben dem theologischen Neukantianer Wilhelm Herrmann (1846–1922) bedeutendste Schüler Tholucks, Martin Kähler (1835–1912), hat das später so gesagt: ,,Hier trat neben den klassischen Redner, welcher hochgebildeten Verächtern Deutschlands die Religion wieder achtbar gemacht hatte, ein Zeuge in Feuerzungen, welcher in der protestantischen Bildungswelt mächtig für den Sünderheiland an die Herzen pochte, indem er auf Grund eigener und fremder Erfahrung den Weg und die Mittel schilderte, um aus dem edlen Humanismus den Übergang zum evangelischen Glauben zu finden.“ (RE3 XIX, 698) Der Erfolg des Tholuck’schen Traktats erklärt sich daraus, dass in ihm alle charakteristischen Merkmale der Erweckungsbewegung und ihrer Theologie vereint sind: das brennende Sündenbewusstsein und die entsprechende Rückbesinnung auf die theologischen Zentralthemen Gnade und Versöhnung, deren Vernachlässigung als Grundschaden des Rationalismus, aber auch eines lebensarmen Supranaturalismus erachtet wurde; die entschiedene Zuwendung zur Bibel; der durchweg existentielle Bezug (anatomie du coeur); die Konzentration auf das Praktische; das eschatologische Geschichtsbewusstsein; ferner die Vorliebe für das Geheimnisvolle, Charismatische und Visionäre sowie der Zug ins Erbauliche, Pathetische, ja Geschmäcklerische. Hinzu kommt die betont biographische bzw. autobiographische Ausrichtung: Bewusst auf der Grenze zwischen wissenschaftlicher und erbaulicher Diktion angesiedelt, ist Tholucks Erweckungstraktat konzipiert als persönliches Wort und Lebenszeugnis, das von Herzen kommt und zu Herzen gehen soll. Aufklärung durch Erleuchtung des Herzens lautet die Devise. Von zentraler Bedeutung für aufgeklärte Herzenserleuchtung ist das Sündenthema, das zur damaligen Zeit im Mittelpunkt allgemeinen Interesses stand. Tholuck spitzt es zu, indem er gegen W.M.L. de Wettes (1780–1849) „Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen“ von 1822 die These vertritt, die ,,wahre Weihe des Zweiflers“ sei ausschließlich von der vorbehaltlosen Anerkenntnis persönlicher Sündenverfallenheit zu erwarten, gemäß dem Grundsatz, dass ohne die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich werde. Die weitere thematische Entfaltung wird ganz von lebenspraktischen Anliegen beherrscht; die Sünde kann kein Gegenstand gelehrter Untersuchung sein, denn sie ist ein für die Vernunft Unausdenkliches, von dessen Faktizität man sich keinen Begriff machen kann, obwohl sie le-

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bensgeschichtlich unleugbar ist. Scheitert aber an der Erfahrung persönlicher Sündenschuld jeder Versuch einer allgemeinen vernünftigen Theorie und Praxis, muss sie als evidentes Indiz sowohl der Unumgänglichkeit der Individualitätsthematik als auch der Unausweichlichkeit offenbarungsgegründeter Religion gelten. Die Konzentration der Erweckungsbewegung auf die Hamartiologie hat von Schleiermacher her betrachtet also durchaus ihre Folgerichtigkeit: werden doch die Unteilbarkeit des Individuums und seine religiöse Bedürftigkeit nirgends deutlicher als in der distanzlosen Bedrängnis persönlicher Sündenschuld. Es ist das Bewusstsein persönlicher Schuld, welSündenverzweiflung und ches den Anspruch der Selbständigkeit der OfOffenbarungsglauben fenbarungsreligion gegenüber allem philosophischen Hegemoniestreben am evidentesten verifiziert. Der vom Allgemeinen prädominierte zeitgenössische Begriffspantheismus, wie ihn die Erweckten um Tholuck vor allem, aber keineswegs nur im Linkshegelianismus am Werke sahen, wird nach deren Urteil in Gestalt der Sündenthematik mit einer Lebenswirklichkeit konfrontiert, die dem logischen Zugriff der Spekulation prinzipiell entzogen ist. Der Sünde ist begrifflich nicht beizukommen, ihre Schuld gedanklich nicht zu beheben. Dazu bedarf es der Faktizität und Positivität der Offenbarung, für deren Notwendigkeitserweis das Sündenbewusstsein in seiner inneren Ausweglosigkeit die Grundlage bildet. Wie gesagt: „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntniß möglich.“ (Tholuck, Sünde, 13) Auf einen Reim gebracht: „Willst du die Höllenfahrt in’s eigne Herz nicht wagen, / Wird dich kein Himmelsflug an’s Herz der Gottheit tragen!“ (Tholuck, Glaubensfragen [1. Aufl.], 90) Die im zitierten Sinnspruch verdichtete Gedankenstruktur, derzufolge die Aporie hamartiologischer Selbstwahrnehmung den negativen Bezugspunkt positiver Offenbarungserkenntnis darstellt, lässt sich in allen möglichen Variationen theologiegeschichtlich über Martin Kähler bis hin etwa zu Rudolf Bultmann oder Paul Tillich verfolgen. Dabei bleibt sie mit einer Ambivalenz behaftet, die charakteristisch ist für die Erweckungstheologie im Allgemeinen und ihre Lehre von Sünde und Versöhnung im Besonderen. So sehr sie Offenbarungs- und Schrifttheologie zu sein beansprucht, basiert sie doch immer auch auf der Überzeugung einer Koinzidenz von Gottes- und Selbsterkenntnis im Herzen. Die Selbsterfahrung des sündigen Menschen ist demgemäß nicht nur unabdingbares Moment, sondern auch Fundament der Gotteserkenntnis, nicht allein Medium, persönliche Schuld wahrzunehmen, sondern zugleich Mittel, sie zu überwinden. Aus diesem inneren Spannungsreichtum heraus erklärt es sich, warum die Erweckungstheologie zum gemeinsamen Bezugspunkt durchaus unterschiedlicher theologiegeschichtlicher Bewegungen werden konnte. Die Möglichkeit, den Glauben in bloß subjektiver Selbsterfahrung aufgehen zu lassen, ist in der Erweckungstheologie ebenso angelegt wie die Möglichkeit, alles an die positive Autorität der Offenbarung zu binden, wie sie sich in dem durch das kirchliche Bekenntnis ausgelegten Schriftwort manifestiert.

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Auch Müllers Sündenlehre hat auf ihre Weise an der erweckungstheologischen Ambivalenz Sünde und Freiheit Anteil, was sich exemplarisch an der Problematik seines Freiheitsbegriffs verdeutlichen lässt. Die diesbezügliche Auffassung Kants sah Müller mit einem „durchaus unaufgeklärte(n) Widerspruch“ behaftet, wenn dieser „einerseits die Freiheit eben so eng und unzertrennlich mit dem Gesetz der praktischen Vernunft verknüpft, als die Naturursache an das Naturgesetz gebunden ist, ... und wenn er denn doch andrerseits genöthigt ist die Freiheit des Willens als ein Vermögen zu behandeln, aus welchem nicht bloß das Gute, sondern auch das Böse, also der Widerstreit mit dem Sittengesetz hervorgeht“ (Müller I, 467). Müller will diese „verwirrende Zweideutigkeit im Gebrauch des Begriffes der Freiheit“ (ebd.), wie er sie bei Kant vorfindet, durch eine ausdrückliche Begriffsdifferenzierung beheben: durch die Unterscheidung einer formalen und einer realen Freiheit (dazu bes. Müller II, 6–48). Die wahrhaft wirkliche, in Gott gegründete Freiheit ist dabei, wie der Name schon sagt, einzig die reale Freiheit. „Wahrhaft frei ist der Mensch nicht, wenn sein Wille von Gott abgewandt ist, auch nicht, wenn er auf gleiche Weise von dem Bösen ... wie von dem Guten sich angezogen findet, eben so wenig, wenn sein Wille ein noch relativ unbestimmter, gleichsam leerer in sittlicher Beziehung ist, sondern dann ist er im höchsten Sinne frei, wenn er mit voller Entschiedenheit das Gute will und in seinem Handeln jene innere Nothwendigkeit ausprägt, welche jeden Gedanken an die Möglichkeit des Gegentheils ausschließt.“ (Müller II, 10). Die Bedingung und Entstehung des Bösen im Menschen können demnach aus dem Begriff realer Freiheit nicht entwickelt werden. Um gleichwohl am Schuldcharakter der Sünde festzuhalten, den er nicht anders als durch den Gedanken der Verursachung glaubt sichern zu können, sieht Müller sich gezwungen, den Begriff der formalen Freiheit einzuführen, der das zum ursprünglichen Wesen des Menschen gehörige Willensvermögen bezeichnen soll, „sowohl das Böse als das Gute aus sich selbst hervorzubringen“ (Müller II, 15) und zwischen beiden zu wählen (vgl. Müller II, 17). Obwohl Müller die formale Freiheit immer schon als eine defiziente Gestalt der Freiheit betrachtet, da Freiheit sich nicht in Indifferenz, sondern erst mit ihrer vollen Entschiedenheit für das Gute erfülle (vgl. Müller II, 10), hält er doch zugleich um der Aufklärung der Ursächlichkeit der Sünde willen an ihr fest. Der Begriff der formalen Freiheit sei erforderlich, um dem Sünder vorhalten zu können, die Sünde selbst verursacht zu haben, was nach Müller die conditio sine qua non persönlichen Schuldbewusstseins ist. Zu fragen ist, ob dieses, durch die theoretische Orientierung an der Kausalitätskategorie bedingte, Insistieren auf dem Begriff formaler Freiheit nicht in selbstwidersprüchlicher Weise auf das Prinzip unmittelbarer Selbstbestimmung und auf einen Modus von Freiheit fixiert bleibt, welcher nach Müllers eigener Einsicht in die Sünde hineintreibt und sie reproduziert, mithin immer schon eine verkehrte Freiheit, also Unfreiheit darstellt, deren einzige Bestimmung es ist, überwunden zu werden. Um diese Frage nicht vorschnell und in einer Weise zu beantworten, welche die

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Differenziertheit der Argumentation Müllers verkennt, ist dessen Bestimmung formaler Freiheit in ihrem Unterschied zur realen möglichst genau und präzise ins Auge zu fassen. Während reale Freiheit nicht nur Gesetzeserfüllung, sondern zugleich Inbegriff der Verwirklichung des bestimmungsgemäßen Selbstseins des Menschen bezeichnet, wird formale Freiheit um der Möglichkeit und Zurechenbarkeit der Sünde willen in Anschlag gebracht. Obwohl beide ihrem Wesen nach auseinanderzufallen und sich gegenseitig aufzuheben scheinen, will Müller sie als zwei Momente eines Begriffs verstanden wissen, aus deren differenziertem Zusammenhang sich das rechte Verständnis der Freiheit allererst ergibt. Das Verhältnis formaler und materialer Freiheit soll näherhin dasjenige von anfänglichem Beginnen und Vollendungsziel sein. Daraus erhellt, dass die formale Freiheit darauf hingeordnet ist, sich in der realen zu erfüllen. In Konsequenz dessen lehnt es Müller ab, dem Begriff formaler Freiheit eine fixe indifferentistisch-äquilibristische Fassung zu geben, weil auf diese Weise die Vermittelbarkeit formaler und realer Freiheit nicht zu gewährleisten wäre. Der Begriff der formalen Freiheit erscheint so gesehen auf nichts anderes hinzudeuten als auf den durch den Begriff der realen Freiheit selbst geforderten Modus ihrer freien Verwirklichung. Freiheit kann nur auf freie Weise wirklich werden und wirklich sein: Das ist wahr und steht außer Zweifel. Um die Vermittelbarkeit formaler und realer Freiheit zu gewährleisten und erstere als transitorisches Moment im Vollzug wirklicher Freiheit aussagen zu können, kommt für Müller die definitive Festlegung formaler Freiheit und ihres Begriffs auf Unentschiedenheit und Indifferenz nicht in Frage. Um solche Festlegung zu verhindern, versucht er der formalen Freiheit eine, wie er meint, rein formale Fassung zu geben und sie förmlich als das unfixe und nicht festgelegte, mit Unentschiedenheit nicht gleichzusetzende rein Unentschiedene im Sinne des bloßen Vermögens des Auchanderskönnens zu bestimmen. „Auchanderskönnen“ ist nach Müllers Urteil der ihrer Formalität entsprechende Begriff formaler Freiheit. Die Frage bleibt allerdings, ob eine als „Auchanderskönnen“ begriffene Freiheit tatsächlich als bloßes Vermögen und reine Fähigkeit der Verursachung begriffen ist. Von einer ihrer selbst bewussten und darin ihrem Begriff entsprechenden Freiheit jedenfalls wird man dies nicht sagen können: Freiheit nämlich, die sich als formale Freiheit weiß und bewusst als solche bestimmt, hat eben damit schon ihre Unschuld verloren und sich eben dadurch, dass sie im Verhältnis zum Guten „Auchanderskönnen“ sein will, von diesem bereits entfremdet und den Begriff realer Freiheit verfehlt. Anders formuliert: Realiter lässt sich der Begriff der formalen Freiheit entgegen der erklärten Absicht Müllers nur als äquilibristische Indifferenzfreiheit fassen. Eine sich als äquilibristische Indifferenzfreiheit bestimmende Freiheit aber ist ipso facto verkehrt. Dem Begriff der formalen Freiheit eignet deshalb eine selbstdestruktive Dialektik. Dass das Festhalten an formaler Freiheit selbst zum Exempel der Sünde werden kann, hätte JuliFormale und reale Freiheit us Müller nicht zuletzt von jenem Philosophen

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lernen können, den er im Anschluss an seinen Freund Tholuck allzu schnell mit dem theologiegeschichtlich äußerst wirkmächtigen Verdikt des „panlogischen Pantheismus“ meinte etikettieren und erledigen zu können. Nach G.W.F. Hegel offenbart sich im Insistieren auf einem formalen Freiheitsvermögen jener Wille des Subjekts, unmittelbar aus sich selbst heraus sein zu wollen, welcher das Unwesen der Sünde ausmacht. Die wahre Freiheit des Menschen komme hingegen zu sich nicht im Festhalten eines ursprünglichen Freiheitsvermögens, etwa im Sinne indifferenter Entscheidungsfreiheit, vielmehr nur im Überschreiten alles bloß unmittelbar Gegebenen an ihm. Diese Einsicht fordert eine fundamentale Kehre der gesamten Sündenauffassung. Das Unwesen der Sünde ist nicht von einem formalen, am Verursachungsprinzip orientierten Begriff der Freiheit anzugehen, denn dieser reproduziert an sich deren Herrschaft, und zwar gerade dadurch, dass er sich den Schein indifferenter Unschuld gibt und das Subjekt dazu verführt, sich unmittelbar auf sich und sein gleichsam natürliches Vermögen zu beziehen. Der auf seiner Natürlichkeit und der Unmittelbarkeit seines Seins insistierende Mensch aber ist böse, weil er sich seiner geistigen Bestimmung versagt, seine Einzelheit gegen das Allgemeine setzt und so seine Endlichkeit mit unendlichem Anspruch verbindet. Zwar ist nach Hegel die Natur keineswegs an sich böse, vielmehr sittlich indifferent, sofern sie Gesetzen folgt, zu denen sie sich nicht selbständig zu verhalten vermag. Für den Menschen als freies, geistiges, zur Selbstunterscheidung von der Natur und ihren Gesetzen befähigtes Wesen hingegen wird das natürliche Sein zum Bösen, wenn er in dessen Unmittelbarkeit verharrt und sich in die Faktizität seines Naturzustandes einhaust. Um zu sich und seiner geistigen Bestimmung zu gelangen, muss der Mensch die natürliche Indifferenz seines unmittelbaren Seins verlassen. Er muss die indifferente Unschuld des Natürlichen, auf der zu beharren Schuld wäre, hinter sich lassen, um im notwendigen Durchgang durch die reflexe Entzweiung des Bewusstseins und durch die in ihr mitgesetzte Erkenntnis der Differenz von Gut und Böse zu konkreter Sittlichkeit zu gelangen. Genau dies bestätigt sich Hegel in seiner Deutung der Sündenfallgeschichte: „Damit die in der Natur thätige Vernunft und Freiheit ihrer selbst mächtig werde, und so als vernünftiges und freies Subject ein Bestehen habe für sich, der Natur als Object gegenüber, ist der Verlust der Unschuld nothwendig, es kann bei ihr nicht bleiben. ... Indem der Mensch zur Reflexion über sich kommt, tritt er aus dem Garten der Thiere heraus, ist in den Unterschied zwischen sich und der Natur getreten, die Unschuld ist verloren. ... Der Verlust der Unschuld ist das Mittel zur Erkenntniß überhaupt, un(d) insbesondere dafür, daß Vernunft und Freiheit ein für sich selbst Bestehen gewinnen oder erhalten innerhalb der bewußt- und willenlosen Natur.“ Demgemäß soll gelten: „Nicht der Verlust der Unschuld ist an sich der sogenannte Sündenfall oder das Böse, er vermittelt nur das, dass der Mensch der erkennende wird, aber was er nun als der erkennende beschließt und thut dem Gesetz zuwider, das erst ist Sünde und das ist seine Schuld, d.i. der Sündenfall...“ Zu lesen ist die zitierte Zusammenfassung von Hegels spekulativer Interpretation

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biblischer Urgeschichte bei dem Theologen, der sich wie um die theologische Rezeption der Hegel’schen Philosophie überhaupt, so auch um die dogmatische Aufnahme und Ausarbeitung ihrer Sündenlehre besonders sachkundig bemüht hat, bei Carl Daub (Daub, 226f.). Folgten die beiden Teile seines „Judas Ischariot“ von 1816/18 noch ganz der Schelling’schen Philosophie, so bezeugt die Tatsache, dass Daub 1818 die Publikation des bereits druckfertigen dritten Heftes untersagte, den vollzogenen Übergang zu Hegel. In seiner Vorlesung über die Lehre von der Sünde, welche seinem „System der theologischen Moral beigegeben ist (vgl. Daub, 149–294), vollendet sich die spekulative Einsicht in das Unwesen des Bösen entsprechend in Hegels Hamartiologie (vgl. Daub, 222–231). Anders als Carl Daub vermochten sich die ErweHamartiologische Spekulackungstheologen um Julius Müller mit Hegels tionskritik Sündenlehre nicht zu befreunden; sie galt ihnen vielmehr als eine der Hypertrophie spekulativer Vernunft korrespondierende unstatthafte Verharmlosung des Bösen. Über den mit der Sünde gesetzten Zwiespalt im sittlichen Leben wollte und konnte man sich nicht „mit der bekannten Dialektik der Unmittelbarkeit und Vermittelung“ (Müller I, VII) beruhigen, welche den Unterschied zwischen Gut und Böse „auflöst in dem dialektischen Fluß der sogenannten konkreten Sittlichkeit“ (Müller I, VIII). Das Böse gilt vielmehr als „der unvermeidliche Stein des Anstoßes, an dem der bloße Apriorismus des Denkens zerschellen muß“; „denn … das Böse a priori erkennen wollen“, heiße nichts anderes, „als den Begriff des Bösen aufheben“ (Müller I, 24). Der eigentliche Grund der Verkehrtheit der Hegel’schen Hamartiologie wird entsprechend darin gesehen, dass Hegel „das Wesen des Geistes einseitig als Denken, dieses Denken aber als nothwendige(n) Proceß“ (Müller I, 552) aufgefasst habe. Der Primat logisch-spekulativer Notwendigkeit bringe es nämlich mit sich, dass die Weltwirklichkeit zum absoluten Prozess hypostasiert und das Böse zu dessen notwendigem Moment erklärt werde (vgl. Müller I, 552). In diesem Verdikt fassen sich nicht nur alle Einzeleinwände von Müllers Hegelkritik zusammen, es fungiert immer schon als deren Basis. Ob Müller die vermeintliche Identifikation des Begriffs der Entzweiung mit dem des Bösen beanstandet (vgl. Müller I, 540f.) oder einen Widerspruch zwischen einer ethischen und metaphysischen Notwendigkeit entdeckt (vgl. Müller I, 543f.), stets gilt seine Kritik den fatalen Konsequenzen jener angeblich von Hegel behaupteten Notwendigkeit des Bösen. Auch dessen Bestimmung, das Böse bzw. die manifeste Differenz zwischen Gut und Böse sei nur notwendig, um überwunden und aufgehoben zu werden, kann Müller in seiner Kritik nicht irre machen. Denn da er es für ausgemacht hält, dass das sittliche Leben im Hegel’schen Denken eines bleibenden Gegensatzes zum Bösen bedarf, um nicht zum Stillstand zu kommen, gilt ihm die beanspruchte Aufhebung des Bösen keineswegs als real geschehene, sondern bloß als „eine immerfort geschehende“ (Müller I, 549). Müller scheut sich nicht, den Vorwurf schlechter Unendlichkeit gegen die Hegel’sche Philosophie zu wenden, obgleich er weiß, dass der Leerlauf des „progressus in infinitum“ nicht zuletzt von

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dieser in Verruf gebracht wurde. Damit steht fest: „Für ein endliches Leben, welches sich in reiner, ungestörter Harmonie mit Gott und mit sich selbst entfaltet, ist in diesem System einmal kein Raum ....“ (Ebd.) Das endliche Subjekt wird das Böse nicht los und bleibt demnach ewig unerlöst. „Ja wir müssen weiter gehen und behaupten, daß Gott selbst ... dieses Schicksal theilt.“ (Müller I, 550). Denn der absolute Geist – so Müller – lebt nur im Prozess der Aufhebung des Bösen und würde sich mit dessen Überwindung selbst erledigen. So bleibe nichts weiter übrig, als das Böse und die Sünde zum „integrirende(n) Moment der Idee“ (Müller I, 552), die Paradiesesschlange zur „Raupe der Göttin Vernunft“ (E. Bloch) zu verklären. Damit aber gerate das Gute in Abhängigkeit vom Bösen und Gott unter eine fremde Notwendigkeit. Just dies ist der sachliche Vorwurf, der sich hinter den Etiketten „Pantheismus“ und „Panlogismus“ verbirgt, mit denen Müller die Hegel’sche Philosophie gerne dann versieht, wenn ihm um eine generelle Charakteristik und nicht um eine spezielle Auseinandersetzung zu tun ist. Dass die erweckungstheologischen Panlogismus- und Pantheismusvorwürfe der Differenziertheit des Hegel’schen Denkens nicht gerecht werden und eine Reihe ausdrücklicher Stellungnahmen des Philosophen gegen sich haben, wird man schwerlich bestreiten und auch dadurch nicht entschuldigen können, dass Müllers Bild von Hegels Philosophie „weithin mitbestimmt ist durch den Blick auf ihre theoretischen und praktischen Folgen bei denen, die sich auf sie berufen: die ‚Hegel-Schüler’“ (Ringleben, 261). Gleichwohl wird man erwägen müssen, ob Müllers Einwände nicht ein Wahrheitsmoment beinhalten, und zwar auch im Hinblick auf Hegels eigenes System. Denn mit dessen Selbstvollendung im Begriff ist der Anspruch verbunden, dass menschliche Subjektivität und Gottheit Gottes im Geist so übereinkommen, dass das Verhältnis ersterer zu ihrer Bestimmung und zu Gott letztlich als Selbstverhältnis gelten kann. Daran aber entsteht begründeter Zweifel, ob im absoluten Begriff die Differenz zwischen Realem und Idealem nicht nur in idealer Weise, sondern „wirklich“ aufgehoben ist, womit dann das Ende aller Religion an der Zeit wäre bzw. die Religion nur noch als eine prinzipiell vergangene Bewusstseinsgestalt in Betracht kommen könnte. Steht nicht die Einheit Gottes und des Menschen, wenngleich in jedem christlichen Gottesverhältnis immer schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen, wegen der Faktizität von Übel und Sünde, die Mensch und Welt nach wie vor nicht einfachhin hinter sich haben, stets auch und zugleich unter einem eschatologischen Vorbehalt, der deutlich macht, dass die gottmenschliche Einheit, zu der alle Wirklichkeit bestimmt ist, nur als auf Glauben hin zugesprochene Gabe, mithin religiös wahrzunehmen ist? Julius Müller jedenfalls war der Überzeugung, dass der mit der These einer vollzogenen Aufhebung der Religion in den Begriff verbundene absolute Vermittlungsanspruch spekulativer Vernunft die Belange des individuellen Menschen in seiner empirischen Welt abstrakt übergehe und entsprechend mit dem „todtgebornen Gedanken eines Denkens ohne ein Denkendes“ (Müller I, 23) beginne und ende. Müllers Freund Tholuck sah das nicht anders: „Mag die Alleinslehre Natur und Welt erklären, mag sie Geister bannen

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und mit ihren Anschauungen die Zeit und den Raum vernichten – das kleine Menschenherz mit seinen großen Bedürfnissen kennt sie nicht, und wenn es wund ist, kann sie es nicht heilen.“ (Tholuck, Sünde, 19) Das Individuelle, so Tholuck, ist in Hegels System keineswegs gut aufgehoben, sondern zum Verschwinden gebracht, und es bestätigt sich die Vermutung, „daß das Ende aller Speculation sei Läugnung alles bestimmten Seyns“ (Tholuck, Sünde, 8; bei T. teilweise gesperrt). Mit ihrer These, dass das Rätsel des Bösen aller begrifflichen Auflösung spotte und damit die Unbegreifliche Sünde Unvereinbarkeit eines Systems absoluten Wissens mit der tatsächlichen Beschaffenheit des endlichen Menschen und seiner Welt erweise, traten F.A.G. Tholuck und J. Müller allen Versuchen entgegen, die Wirklichkeit der Sünde gedanklich zu vermitteln und zu einem Moment philosophischer Begriffsentwicklung herabzusetzen. Sie verbanden damit den Anspruch auf Selbständigkeit von Offenbarungsreligion und Theologie gegenüber allem philosophischen Hegemoniestreben. Denn nur in offenbarungsgegründeter Religion und Theologie werde das Unwesen der Sünde entsprechend wahrgenommen und überwunden, indem der durch autonome Selbsttätigkeit des Menschen nicht aufarbeitbaren Faktizität seiner Verkehrtheit das nicht minder faktische Faktum göttlicher Versöhnungstat entgegengesetzt werde. Dass es sich bei dieser Argumentation nicht lediglich um erweckungstheologisches Sondergut handelt, beweisen vergleichbare Tendenzen in der philosophiegeschichtlichen Entwicklung nach Hegel, die mit der Erweckungsbewegung zwar keineswegs einfachhin konform geht, aber dennoch Berührungspunkte von erheblicher Relevanz aufweist. Nicht von ungefähr hat Odo Marquard die These vertreten, dass die posthegelianische Philosophie gerade von der Hamartiologie her zur Philosophie der Faktizität geworden sei (vgl. Marquard, 64f.). Offenbar bestehen zwischen einer Philosophie unvordenklichen Seins und einer Theologie unbegreiflicher Sünde elementare Zusammenhänge, die systematisch bedacht werden wollen. Schon Kant, von Müller nicht umsonst unter den Kant Philosophen favorisiert, hatte den Hang des Menschen zum Bösen zu einer kontingenten Urentscheidung erklärt, die sich jedem forschenden Zugriff entzieht: Das moralisch Böse bleibt „als intelligible Urdezision ... ein Faktum, zu dessen Faktizität unsere Vernunft nicht zukann“ (Marquard, 64). Zwar wurde das radikale Böse in der ersten Hälfte der idealistischen Bewegung (wie tendenziell schon bei Kant selbst) weitgehend verbannt; dafür brach es sich in der zweiten mit um so größerer Gewalt Bahn und löste das System der Vernunftidentität auf. Am späten Schelling wird dies eigens und in der nötigen Ausführlichkeit erörtert werden. Vorerst genügt der Hinweis, dass für den einstigen Identitätsphilosophen die Hamartiologie zum Sprengsatz einer in sich geschlossenen Subjektivitätstheorie wurde. Dies zeichnet sich bereits in der Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ von 1809 ab, die im Innersten vom Problem der Wirklichkeit des Bösen bewegt ist. Die Hamartiologie markiert, wie ausdrücklich gesagt wird, den Punkt der tiefsten

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Schwierigkeit aller Freiheitssystematik. Dabei stellt sich Schelling dem Problem wie Müller dezidiert theologisch. Sind in Gott der in seiner absoluten Freiheitspotentialität unvordenkliche Existenzgrund und vernünftiges Existieren, für welches der Logos als zweite Potenz einsteht, im Geiste als der dritten Potenz unauflöslich eins, so liegt in der Zertrennlichkeit der Potenzen im endlichen Menschen die Möglichkeit von dessen Sünde begründet. Nicht dass menschliche Endlichkeit und Sinnlichkeit als solche Sünde seien: Es ist der in Gottes Existenz von Ewigkeit zu Ewigkeit vernünftig aufgehobene unvordenkliche Grund des Existierens, der unter den Bedingungen der Endlichkeit die Möglichkeit des Bösen enthält, welches in seinem Unwesen nicht das Endliche an sich selbst, sondern der selbstische Existenzwille unvernünftig in sich verkehrter Endlichkeit ist. Der selbstische Eigensinn macht das Unwesen des „peccatum originale“ aus, aus welchem alle „peccata actualia“ hervorgehen. Deutlicher noch als in seiner Freiheitsschrift von 1809 stellt Schelling in seinen späteren „Vor- Schelling lesungen über die Philosophie der Mythologie und Offenbarung“ klar, dass die Rede von einer Möglichkeit des „peccatum originale“ nur uneigentlich zu verstehen sei, da die Faktizität der Sünde die Einsicht in einen möglichen Sinngrund ihres Falls nicht nur nicht erschließe, sondern verschließe. Von der Abgründigkeit des Bösen und dem Unwesen der Sünde in der Welt kann man sich keinen sinnvollen Begriff machen; denn es ist das an sich Sinnund Begrifflose. Entsprechend bestimmt Schelling den Sündenfall als eine „Urdezision, die ‚das reine Daß‘ und ein ‚durch sich selbst Zufälliges‘ ist: Schelling akzentuiert die pure, ‚unvordenkliche‘ und unhintergehbare Faktizität des Falls.“ (Marquard, 63f. mit Belegen) Die Sünde lässt sich aus der Schöpfung nicht ableiten. Sie ist zwar in ihr, aber nicht aus ihr, sondern aus sich selbst heraus geworden und nach wie vor werdend; sie ist als Opposition des Guten nicht durch dieses bedingt, sondern bloße Position und sinnlose Setzung ihrer selbst. Eine philosophisch-theologische Genetisierung ihrer Faktizität ist nicht möglich. Das „peccatum originale“ ist als schlechthinnige Untat und in grundloser Selbstsetzung in der Welt. Wie Tholuck und Müller verbindet der späte Schelling mit dieser Argumentation ein Plädoyer für die philosophisch unaufhebbare Eigenart von Offenbarungsreligion und Theologie. Die Faktizität des Falls in ihrer Unvordenklichkeit macht plausibel, „daß seine Heilung nicht als notwendiges Resultat eines geschichtlichen Fortschritts durch eine bloß menschliche Macht herbeigeplant werden kann; vielmehr: Die Erlösung ist Gnade des wirklich Allmächtigen, also Gottes, und darum selber unerzwingbare Faktizität. Die unvordenkliche Faktizität des Falls kann nur durch unvordenkliche Faktizität besiegt werden: durch ‚Gott selbst‘, ‚der der Herr seines Seins ist‘ und ‚als ein selbst Thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann‘.“ (Marquard, 64) Namentlich bei Sören Kierkegaard (1813– 1855) werden diese hamartiologischen Grund- Kierkegaard annahmen des späten Schelling radikal fortge-

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führt und zugespitzt. Die Sünde ist unrelativierbar, deshalb nicht Negation, sondern selbst Position, dabei unableitbar kontingent, aus Sinnzusammenhängen nicht genetisierbar, Sprung, Paradox. Der Gehalt der Genesiserzählung von der ersten Sünde, in der Kierkegaard die „einzige dialektisch-konsequente Auffassung“ des Themas findet, konzentriert sich deshalb für ihn auf den Satz: „Die Sünde kam durch eine Sünde in die Welt“, will heißen: „daß die Sünde sich selbst voraussetzt; daß sie so in die Welt kommt, daß sie vorausgesetzt ist, indem sie da ist“ (Kierkegaard, Begriff Angst [= BA], 26). Die Sünde ist sich selbst voraussetzende Position – „jedoch nicht so, als ob es begriffen werden könnte, sondern als ein Paradox, welches geglaubt werden muß“ (Kierkegaard, Krankheit zum Tode [= KT], 98). Kierkegaards eindringliche psychologische Analyse der Verzweiflung als der „Krankheit zum Tode“ sowie der Angst als der „Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“ (BA 36), als des „Schwindel(s) der Freiheit“, welcher den Fall der Ohnmacht der Sünde umgibt (vgl. BA 57), will ausdrücklich diese „Pointe nicht wegschwatzen, sondern muß in ihrer elastischen Zweideutigkeit bleiben, aus der die Schuld in dem qualitativen Sprunge hervorbricht“ (BA 35). Den qualitativen Sprung deduzieren oder gar ethisch rechtfertigen zu wollen, darf und wird ihr nicht in den Sinn kommen (vgl. BA 38–40). Ebenso widersinnig erscheint Kierkegaard die Forderung einer allgemeinen wissenschaftlichen Theorie der Sünde: „denn das Selbstische ist eben das einzelne, und was dieses bedeutet, kann nur der einzelne als einzelner wissen, da es unter allgemeinen Kategorien betrachtet alles bedeuten kann, aber so, daß dieses alles schlechthin nichts bedeutet.“ (BA 73f.). Aus dieser Auffassung ergibt sich eine kompromisslose Absage an die Spekulation: „Die Kategorie der Sünde ist die Kategorie der Einzelnheit. Die Sünde läßt sich schlechterdings nicht spekulativ denken.“ (KT 120) „... es ist Leichtfertigkeit und neue Sünde so zu tun, als wäre es ein Nichts, ein einzelner Sünder zu sein – wenn man selber dieser einzelne Sünder ist. Hier fährt das Christentum drein, schlägt ein Kreuz vor der Spekulation. ... Der Sünde Ernst ist ihre Wirklichkeit in dem Einzelnen, ob du es bist oder ich; spekulativ soll man von dem Einzelnen fortsehen: mithin kann man nur leichtsinnig von der Sünde spekulativ reden. Die Dialektik der Sünde ist der der Spekulation schnurstracks entgegen.“ (KT 121) Das Denken stößt nach Kierkegaard in der Sünde auf eine Grenze, die es in seiner Selbstverschlossenheit selbst ist. In-sich-verkehrt versucht sich das Denken der Sünde durch Erklärung zu entledigen und reproduziert sie stattdessen. In dieser sich selbst undurchsichtigen Selbstverkehrung ist die Sünde. Zur Vernunft zu bringen vermag ihre in sich verschlossene, sich selbst unergründliche, weil unmittelbar in sich gründende Unbegreiflichkeit und Widersinnigkeit nur die unableitbare göttliche Tat der Offenbarung. Durch sie erst wird der Sünder zum Bewusstsein seiner selbst und in ein Selbstverhältnis gebracht, das aus dem Missverhältnis sündigen Insichverkehrtseins hinausführt und sich der eigenen Freiheit öffnet. „... kein Mensch vermag aus eignem Vermögen und von sich selber her auszusagen, was Sünde ist, eben deshalb, weil er in der Sünde ist; alles sein Reden von der Sünde ist im Grunde Beschönigung der Sünde, eine Entschuldigung, eine sündige Abmilde-

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rung. Daher hebt das Christentum auch auf andre Art an, damit, daß eine Offenbarung von Gott her dazu gehöre, um den Menschen darüber aufzuklären, was Sünde ist ....“ (KT 94) Das Programm der Dialektischen Theologie ist damit hamartiologisch angesagt. Dass die Faktizität der Sünde sich nicht auf den Begriff bringen und weder durch praktische Barth noch durch theoretische Selbstanstrengung des Menschen, sondern nur durch die Faktizität göttlichen Handelns überwinden lässt, diese von Kierkegaard und dem späten Schelling dem philosophischen Bewusstsein eingeschärfte These bildete schon die Grundüberzeugung der Sündenlehre von Julius Müller. „Auf einen einzigen Punkt hat Müller zwölfhundert Seiten lang hingezeigt, wo d(er) christliche Monismus aufhören müsse, entweder Monismus oder christlich zu sein, auf ein ‚Unbegreifliches‘ auf Seiten des Menschen, das sich mit Gott auf keinen Fall und in keiner Weise vereinigen lasse. Dieser eine, von Müller gesehene und angegriffene Punkt war das Problem der Sünde.“ (Barth, 536) Auf ihn mit eherner Konsequenz verwiesen zu haben, ist das Verdienst, welches nach Karl Barth den theologiegeschichtlichen Rang Müllers begründet. Indes verschonte Barth den solchermaßen Hochgeschätzten dennoch nicht mit scharfer Kritik. Sie setzt ein bei der erwähnten Unterscheidung zwischen formaler und realer Freiheit. Müller habe die fundamentalen Einsichten seiner Sündenlehre schließlich selbst wieder verspielt, insofern er trotz Betonung der unbegreiflichen Faktizität des Bösen, von der man sich keinen Begriff machen könne, nicht darauf verzichtet habe, „eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Sünde geben zu wollen und damit implizit auch eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Guten, der Gnade, der Offenbarung und letztlich Gottes selber“ (Barth, 542). Tatsächlich spricht Müller von einer Möglichkeit des Menschen zur Sünde, nicht nur, um deren Zurechenbarkeit zu sichern, sondern um sich durch eine gleichsam anthropologieinterne Argumentation in Fragen der Sündenlehre die Option offenzuhalten, einen durch das Sündenbewusstsein als eines Bewusstseins eigener Verworfenheit vermittelten Übergang zum göttlichen Heilsangebot darzutun. Der Begriff der formalen Freiheit hat bei Müller genau diese in sich gedoppelte Funktion, Möglichkeit und Unmöglichkeit der Sünde in einem zu behaupten. Formal ist die formale Freiheit im Unterschied zur realen deshalb, weil ihr Vollzug eodem actu den tatsächlichen Verlust der Freiheit bewerkstelligt, nämlich ihre Stillegung in der Faktizität der Sünde. Mit dem Begriff „formale Freiheit“ verbindet sich also die Absicht, den Menschen dergestalt seiner Sünde zu überführen, dass er nichts mehr vom eigenen Vermögen, sondern alles von den Möglichkeiten Gottes erwartet. Die gedankliche Struktur dieser ArgumentatiHamartiologie und Offenonsfigur lässt sich, wie erwähnt, durch die gesam- barungstheologie te Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts verfolgen, von der Erweckungstheologie bis hin etwa zu Martin Kähler. Auch in Kählers „Wissenschaft der christlichen Lehre“ (1883) wird der Einsicht in die eige-

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ne Unmöglichkeit, wie sie im Sündenbewusstsein manifest ist, die Funktion zugedacht, „überführend“ – also im Sinne des „usus elenchticus legis“ – die eigentliche theologische Thematik einzuleiten. Sosehr er sich dagegen verwahrt, den Versöhnungsvorgang auf ein Selbstverhältnis des Menschen zu reduzieren und in einem Bewusstseinsvollzug aufgehen zu lassen, sosehr bildet die Sünden- und Schulderfahrung, deren Evidenz und Durchsetzungsvermögen er für ausgemacht hält, den Ausgangsort der theologischen Gedankenentwicklung. Die menschliche Subjektivität bleibt somit in Kählers Theologie auch im Äußersten ihrer Depotenzierung noch insofern grundlegend, als ihre Unheilsgewissheit den vorgegebenen Bezugspunkt der theologischen Inhalte darstellt. Freilich handelt es sich dabei um einen Punkt, auf dem zu verweilen, um sich ihrer Selbständigkeit zu versichern, für die menschliche Subjektivität keine Möglichkeit darstellt; nur im Scheitern bildet sie den – dann freilich notwendigen – Anknüpfungspunkt der Theologie. Zu ergänzen ist, dass sich analoge Argumentationsfiguren auch in den Reihen der sog. Dialektischen Theologen unschwer auffinden lassen. An den Widerspruch des Menschen gegen Gott knüpft der Sünde widersprechend das Gnadenevangelium an, von welchem ohne Bezug auf die gesetzesbedingte Aporie des Sündenbewusstseins nicht heilsam die Rede sein kann. So argumentiert Brunner, aber ähnlich argumentieren auch die Kählerschüler Bultmann und Tillich sowie auf ihre Weise Gegner der Dialektischen Theologie wie Elert, Althaus und Hirsch. Darauf wird zurückzukommen sein. Vorerst genügt der Hinweis, dass Barth selbst andere Wege ging und auch jenen letzten, hamartiologisch vermittelten und damit nur noch negativen „Anknüpfungspunkt“ zu tilgen trachtete, weil er selbst durch ihn noch die Faktizität der Sünde wie die Faktizität göttlicher Offenbarung hintergangen sah. Konsequent entzieht Barth der Theologie jede Möglichkeit, das Böse selbstbewusstseinstheoretisch zu ergründen und die Sünde rein gesetzlich zu erfassen. Erkannt, anerkannt und durch ein „confiteor“ bekannt werden kann die Sünde nur, wo sie durch Gottes absolute Offenbarungstat gestellt und durch das unbedingte Wort des Evangeliums überwunden ist. So kann Barth aus den anerkannten Einsichten Müllers die Konsequenz ziehen, die er bei diesem noch vermisst. Erkenntnis der Sünde als Schuld kann es „nur als unableitbare Qualifizierung des Menschen durch Gottes Offenbarung geben“. Eben damit aber muss „Gottes Offenbarung selber zu einer solchen Wirklichkeit werden, die dem Kreis der systematisch begreifbaren Möglichkeiten entzogen ist, die als Gotteswirklichkeit einsichtig werden muß, die nur als solche, also ohne Korrespondenz zu einer menschlichen Möglichkeit einsichtig werden kann“ (Barth, 541). Die formale Stellung der Sündenlehre in Barths „Kirchlicher Dogmatik“, auf die im Einzelnen noch einzugehen sein wird, bestätigt die entscheidende Pointe seiner offenbarungstheologischen Hamartiologie. Durch Gottes Offenbarung ist das Beginnen des Bösen vorweg und von Anfang an als leer, nichtig und eitel bestimmt. Das Böse ist keiner Begründung fähig, hat vielmehr als das in sich Widrige, Grundund Bodenlose zu gelten. Demgemäß lehnt Barth nicht nur jede Metaphysik ab, die das Böse auf einen Urgrund zurückführt und zu einem eigenständigen Wesen

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neben Gott oder gar in Gott erklärt; er untersagt zugleich jeden gedanklichen Versuch, Gottes Schöpfergüte und das Böse in der Welt einander genetisch zuzuordnen. Denn das Böse, welches in der Sünde des Menschen seinen inneren Abgrund hat, ist bei Gott ein Nichtiges und mithin auch kein selbständiges Thema der Theologie. Jeder Versuch, die logisch-kausale Struktur des Übergangs von der guten Schöpfung Gottes zum Bösen zu eruieren, um das Böse theologisch zu begründen und zu erklären, müsste auf seine unstatthafte Verklärung hinauslaufen. Insofern gilt es, die Frage nach dem Woher des Bösen als eine äußerliche und unangemessene Fragestellung zu verabschieden. Vom Bösen als solchem kann theologisch eigentlich gar nicht die Rede sein. Indes ist damit nach Barth die Macht des Bösen keineswegs verharmlost, sondern im Gegenteil allererst identifiziert. Während nämlich jeder Versuch des Menschen, das Dunkel des Bösen reflexiv aufzuhellen, die Möglichkeit einer Hintergehung und tendenziellen Auflösung seiner intransigenten Faktizität unterstellt, wird die für die Eigenmächtigkeit des Menschen unaufhebbare Tatsächlichkeit des Bösen gerade dadurch deutlich, dass die Möglichkeit seiner Überwindung allein dem tatkräftigen Vermögen Gottes vorbehalten wird. So gilt, dass erst und nur dadurch, dass Gott die Grundlosigkeit und Unwesentlichkeit des Bösen erweist, dessen unergründliche Abgründigkeit und die Macht deutlich wird, mit der es in der Welt sein Unwesen treibt. Die dem theologischen Bedenken der Sünde allein entsprechende gedankliche Situation impliziert demnach den Verzicht auf jede vernunftinterne Herleitung des Bösen. Weder kann der Mensch in unstatthafter Entschuldigung den Grund des Bösen auf eine Ursache außerhalb seiner selbst schieben, noch dieses auf ein vermeintlich indifferent-neutrales (formales) Freiheitsvermögen im Sinne einer Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse zurückführen. Denn der Begriff der Wahlfreiheit verfehlt nach Barth den einzig angemessenen Begriff der Freiheit vorweg. Des Menschen Freiheit kann nämlich „nie die Freiheit (sein), sich seiner Verantwortung vor Gott zu entschlagen. Sie ist nicht die Freiheit zu sündigen.“ (KD III/2, 235) Menschliche Freiheit kann es nur geben in Entsprechung zu Gott, während der Widerspruch der Sünde zugleich das Ende der Freiheit, nämlich ihre Verkehrung zur Unfreiheit darstellt. Die Sünde ist insofern niemals eine Möglichkeit freien Menschseins, sondern dessen Unmöglichkeit. Als solche wird sie durch Gottes Offenbarung qualifiziert. Insofern ist auch die Erkenntnis der Sünde als Sünde und mithin das Bewusstsein der Schuld durch Offenbarung konstituiert. Eine offenbarungsunabhängige Selbsterkenntnis des Sünders schließt Barth theologisch ebenso aus wie die Möglichkeit, die Universalität der menschlichen Sünde durch eine separate Lehre von Urstand und Fall sowie eine daran anschließende Erbsündenlehre zu erheben. Sündenerkenntnis ist mithin in all ihren Aspekten ein Modus der Offenbarungserkenntnis, in der Gott in Jesus Christus durch den Geist sich selbst zu erkennen gibt. Mit dem bei Barth erreichten offenbarungstheologischen Schluss scheint sich der hamartio- Barth und Schleiermacher logische Gedankengang von seinen erweckungs-

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bewegten Anfängen weit entfernt und von den in der Erweckungstheologie noch unschwer erkennbaren Zusammenhängen mit Schleiermacher gänzlich abgekehrt zu haben. Dessen Glaubenslehre entwickelt die Hamartiologie bekanntlich als die erste des die Tatsachen des frommen Selbstbewusstseins bestimmenden Gegensatzes. Damit wird, wie es scheint, die Sünde dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als dem Wesen der Frömmigkeit zwar als negatives Moment zugeordnet, ohne doch deshalb als grundstürzende Krise des frommen Subjekts zur Geltung gebracht zu werden. Denn dessen Religiosität bleibt nach Maßgabe des Aufbaus der Glaubenslehre offenbar der Sünde vorausgesetzt, welch formaler Entscheid offenbar die materiale Konsequenz nach sich zieht, Sünde von vornherein nur als Sündenbewusstsein thematisch werden zu lassen. Nach Urteil seiner Kritiker hat sich Schleiermacher damit vorweg der Möglichkeit beraubt, den hamartiologischen Gegensatz als einen realen, das Selbstbewusstsein des Subjekts zugrunde richtenden Widerspruch zu begreifen. Die Sünde erscheine immer schon als auf das Gute hin relativiert, dessen sich die fromme Subjektivität auf innigste und unveräußerliche Weise gewiss sei. Damit werde die destruktive Widrigkeit der Sünde verharmlost und in ihrer Widerlichkeit verkannt. Genau auf dieses kritische Ergebnis lief bereits Julius Müllers Analyse der Schleiermacher’schen Hamartiologie hinaus. „Da die Glaubenslehre“, so der Ausgangspunkt aller Einwände, „nach Schl(eiermacher)s Begriff wesentlich nichts Anders ist als eine Beschreibung der Erregungen des unmittelbaren christlichfrommen Selbstbewußtseins, so hat sie es ... nur mit dem Bewußtsein der Sünde zu thun“ (Müller I, 477). Allein diese Perspektive bringt es nach Müller zwangsläufig mit sich, dass die Sünde in ihrem abgründigen Unwesen verkannt wird. Er findet dies dadurch erwiesen, dass Schleiermacher die Sinnlichkeit und nicht den geistigen Willen des Menschen selbst zum Prinzip der Sünde erklärt habe (vgl. Müller I, 469ff.). Die Sünde sei nach Schleiermacher in eins zu setzen mit dem Widerstand, welchen die sinnliche Seite unseres Wesens, die Gesamtheit der sogenannten niederen Seelenkräfte, gegen die geistige führe, sie betreffe hingegen nicht die geistige Seite an sich selbst. Allerdings verkennt Müller nicht eine gewisse „Amphibolie“ (Müller I, 476) in Schleiermachers Gebrauch des Wortes „sinnlich“. Zwar scheine er sich zuweilen „ganz auf demselben Boden zu befinden mit der gewöhnlichen Sinnlichkeitstheorie; plötzlich aber erblicken wir ihn auf einem ganz andern Standpunkte, wo er uns in tief eindringender Rede zeigt, wie jedes Fürsichseinwollen des Menschlichen, jedes von der Beziehung auf Gott sich losreißende Streben, sei es auch nach dem Urtheil der Welt das erhabenste, großartigste, Sünde ist, wo er uns die Selbstsucht als die innerste Quelle der Sünde enthüllt und das von ihr ausströmende Verderben bis in die feinsten, geistigsten Gestaltungen des Bösen verfolgt“ (Müller I, 476). In eine ähnliche, über das eigene System hinausführende Richtung weise auch Schleiermachers Bemerkung, wonach im Sündenbewusstsein die Erinnerung an eine demselben vorgängige Sünde stillschweigend mitgesetzt sei, deren – weniger zur Urzeit als zur Unzeit – statthabender Fall faktisch jenseits des Bewusstseins zu stehen komme. Ein konsequentes Durchdenken dieser Tendenz hat

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sich Schleiermacher nach Müller indes dadurch verstellt, dass er Sünde und Sündenbewusstsein identifiziert habe, und zwar nicht etwa nur im methodischen Sinne, sondern im Sinne einer objektiven Behauptung (vgl. Müller I, 477). Denn durch diese Identifikation sei die Sünde vorweg relativiert, nämlich in den Zusammenhang menschlichen Selbstbewusstseins eingeholt und als das durch des Menschen Eigenmacht grundsätzlich Überwindbare bestimmt. Demgegenüber sei es nötig, theologisch zur Geltung zu bringen, dass Sünde ihrem abgründigen Unwesen nach primär kein Bewusstseinsobjekt, sondern eine Größe sei, welche das Bewusstsein und sein Erkenntnisvermögen beherrsche. Nun ist, wie erwähnt, dem „Sendschreiben an Lücke“ zu entnehmen, dass Schleiermacher ernsthaft erwogen hat, die Anordnung der beiden Hauptteile seiner christlichen Glaubenslehre, wie er sie in der Erstauflage vorgenommen hatte, in deren Zweitauflage umzukehren, damit deutlicher werde, dass das in jeder christlich frommen Gemütserregung immer schon vorausgesetzte und mitenthaltene Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit erst in der Religiosität positiven Christentums als wirklich gesetztes Gottesbewusstsein manifest werde. Während im unmittelbaren Selbstbewusstsein religiösen Gefühls das Gottesbewusstsein nur latent vorhanden sei, trete es erst im christologisch-pneumatologischen Vermittlungszusammenhang, welcher die Positivität christlicher Religion ausmache, realiter, also als Bewusstsein von Gott als Gott zutage. Hamartiologisch lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die Lehre von der Sünde, will sie christliche Lehre von der Sünde sein, ohne christologisch-pneumatologische Vermittlung theologisch nicht angemessen zu verstehen ist. Erst im Glauben an Christus, welchen der Geist Gottes erschließt, wird die Unkräftigkeit des Gottesbewusstseins recht eigentlich als Sünde und diese als das erkannt, was sie ihrem Unwesen nach ist: eine grund- und bodenlose Verkehrung der göttlichen Bestimmung des Menschen mit widrig-widerlichen Folgen für dessen Verhältnis zur Welt, deren Übel sich unter dem Vorzeichen der Sünde zum Bösen wenden und die Güte der Schöpfung verstellen. Interpretiert man die Hamartiologie der Die offenbare Erkenntnis „Glaubenslehre“ in dieser Perspektive, dann lässt der Sünde in ihrer sich der Einwand von Julius Müller nicht mehr Unbegreiflichkeit ohne weiteres aufrecht erhalten, Schleiermacher habe die Sünde im Bewusstsein derselben aufgehen lassen und zu einem verschwindenden Moment der Selbstvergewisserung religiöser Subjektivität herabgesetzt, ohne der hamartiologischen Krise der Frömmigkeit in ihrer Abgründigkeit gewahr zu werden. Tatsächlich wird man Schleiermachers Hamartiologie nicht gerecht, wenn man ihr eine Reduktion der Sünde auf Sinnlichkeit als der Gesamtheit der sogenannten niederen Seelenkräfte bzw. die Behauptung unterstellt, sündige Verkehrtheit sei in den Vollzug bewussten Lebens selbsttätig aufzuheben. Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass das Unwesen der Sünde nach Schleiermacher keineswegs nur die äußere Sinnlichkeit, sondern das innere, wenn man so will: geistige Wesen des Menschen betrifft. Zum anderen aber gilt, dass die Sünde im Schuldbewusstsein, wie es die christliche Religion in ihrer Positivität vermittelt,

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als das erkannt ist, was der kreatürlichen Bestimmung des Menschen und seiner Welt schlechterdings zuwider ist. Das entwickelte christlich fromme Selbstbewusstsein weiß die Sünde als ein in sich Widriges, dessen Widerlichkeit keiner sinnvollen Erklärung zuzuführen ist und nur als unbegreiflich begriffen werden kann. Ob das Bewusstsein der Sünde in ihrer Unbegreiflichkeit bereits in sich heilsam ist und ob nicht auch mit einem heillosen Schuldbewusstsein gerechnet werden muss, ist hier nicht zu erörtern. Festzuhalten ist lediglich, dass das christologisch-pneumatologisch vermittelte Erlösungs- und Versöhnungsbewusstsein, ohne welches von der Positivität christlicher Religion nicht die Rede sein kann, nicht nur den Bestimmungsgrund heilsamen Sündenbewusstseins abgibt, sondern auch die Voraussetzung dafür, die Sünde in ihrer abgründigen Heillosigkeit zu erkennen und diese Erkenntnis auszuhalten, wozu heillose Gewissenspein, selbst wenn sie als wirkliches Bewusstsein der Sünde anzunehmen wäre, allenfalls momentan, nicht aber dauerhaft in der Lage wäre. Fragt man zuletzt, was die „causa deficiens“ der Sünde ausmacht und worin ihr Widerspruch zur kreatürlichen Bestimmung von Mensch und Welt sinnwidrigerweise besteht, so sieht man sich bereits durch Schleiermacher auf eine „strukturelle Verkehrung im Vollzug endlicher Freiheit“ (Axt-Piscalar, 205) verwiesen, wenngleich nicht bereits er, sondern erst Kierkegaard das Unwesen der Sünde „ausdrücklich aus der aporetischen Verfaßtheit endlicher Freiheit“ (ebd.) entwickelt hat. Während sich im Glauben, wie es in der hamartiologischen Schrift über „Die Krankheit zum Tode“ heißt, das Selbst, indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, durchsichtig in der Macht gründet, welche es gesetzt hat (vgl. KT 10, 47,134), wird im Verblendungszusammenhang der Sünde der göttliche Grund menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ausgeblendet. Das sündige Subjekt nimmt sich als selbstverständlich und verkennt gerade darin sich selbst und das Wesen seiner Freiheit unter den gottgegründeten und darin grundsätzlich guten Bedingungen kreatürlicher Endlichkeit. Nicht nur aporetisch, sondern faktisch verkehrt ist der Vollzug endlicher Freiheit, sofern sein unmittelbares und darin selbstverständliches Beginnen die Einsicht in die Gottgegründetheit menschlicher Selbsttätigkeit verstellt und damit von Grunde aus alles falsch, nichtig und eitel macht. Dass menschliche Freiheit – ihrer in Gott gründenden und gottunterschiedenen Endlichkeit uneingedenk, ja diese durch Annahme eigener Selbstverständlichkeit verleugnend – vermittlungslos mit sich selbst und damit in der Weise unmittelbaren Beginnens den Anfang macht, galt Kierkegaard daher bereits als Ursprung der Sünde, welcher den Fall in den bodenlosen Abgrund des Bösen in sich schließt, durch welchen der Mensch sich selbst und seine Welt zugrunde zu richten trachtet. Im Unterschied zu dem von ihm im Übrigen Schleiermacher und hochgeschätzten Sündenmüller lehnte KierkeKierkegaard gaard daher eine Differenzierung formaler und materialer Freiheit dezidiert ab. Menschliche Freiheit ist entweder als sich gegebene real oder durch den formalen Gebrauch ihrer selbst in sich verkehrt und gegenüber

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sich selbst und Anderen destruktiv. Entsprechend wollte Kierkegaard nichts davon wissen, der Wirklichkeit der Sünde eine Möglichkeit im Sinne unmittelbaren menschlichen Selbstbestimmungsvermögens vorauszusetzen, weil das Geltendmachen eines solchen Vermögens bereits ipso facto den Fall der Sünde ausmacht. Der Wirklichkeit der Sünde ist vernünftigerweise keine Möglichkeit und kein Grund zuzudenken, weil sie – in sich unmöglich – alles Menschenmögliche zunichte macht, um dem Abgrund zu verfallen, der sie in ihrem Unwesen selbst ist. Das hamartiologisch letzte Wort muss also lauten: unbegreifliche Sünde. Ihre Zurechenbarkeit als Schuld ist damit mitnichten geleugnet. Wo der Mensch sich im Glauben als gerechtfertigter Sünder wahrnimmt, wird ihm mit dem Bewusstsein seiner Schuld zugleich die Einsicht in die Unbegreiflichkeit der Sünde aufgehen und umgekehrt. Je gläubiger und gottverständiger ein Mensch wird, desto unbegreiflicher werden ihm Sünde und Bosheit. Je begreiflicher sich die Sünde hingegen gibt, desto mehr wird sie verkannt und desto mehr verstellt sie die Einsicht in ihr abgründiges Unwesen. Kommt aber ihre Schuld zu Bewusstsein, dann verflüchtigt sich der falsche Schein der Möglichkeit der Sünde und ihre „causa deficiens“ wird als Abgrund der Unmöglichkeit durchschaut, der allen möglichen Sinn verwirkt. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach der „ratio cognoscendi“ der Sünde. Diese Frage benennt das zentralste und zugleich schwierigste Problem der Hamartiologie, nicht zuletzt weil in ihm der problematische Zusammenhang von Sünde und Schuld beschlossen liegt. Ontischer und noetischer Sündenbegriff scheinen notorisch inkompatibel zu sein. Nur wenn die Sünde als Sünde gewusst wird, ist Schuldbewusstsein möglich; aber zugleich gehört es zum sündigen Unwesen und zum Trug der Sünde, das Wissen um sich selbst schuldig zu bleiben. Es ist nach Kierkegaard ein Kennzeichen des christlichen Glaubens und seiner Gewissheit, beides zugleich zu wissen. In dieselbe Richtung deutet schon Schleiermachers Hamartiologie, wenn man sie nicht von einem von der Konkretheit der positiven Religion des Christentums abstrahierenden Begriff der Frömmigkeit her liest, sondern konsequent auf die Darstellung des entwickelten christlichen frommen Selbstbewusstseins als des eigentlichen Skopus der „Glaubenslehre“ bezieht. Unter Voraussetzung und Wahrnehmung dieses Bezugs kann die Kritik nicht länger bestehen, Schleiermachers Hamartiologie depotenziere die Sünde bewusstseinstheoretisch, um schließlich die sich wissende Subjektivität des Menschen zur Überwindung des Sündenbewusstseins und mit dieser zur Überwindung der Sünde selbst zu ermächtigen. Nimmt man hinzu, „daß das Sündenbewußtsein für Schleiermacher kein bloß individuelles, sondern immer ein allgemeines ist, insofern es das, was es von dem einzelnen aussagt, von der Menschheit schlechthin prädiziert, so sollte sich der Vorwurf, Schleiermacher relativiere die Sünde, indem er sie begreift, wie sie sich im Sündenbewußtsein ausdrückt, erübrigen. Die Sünde wird vielmehr in ihrem Daß- und Wassein nach Schleiermachers Überzeugung durch das mitgeteilte Erlösungsbewußtsein qualifiziert und sie wird von diesem und eben nur von diesem her dann auch als zu überwinden gesetzt. Mit dieser Einsicht ist Schleiermacher, wenn man so will, ein antizipativer Barthianer.“ (Axt-Piscalar, 246)

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Lit.: F.W.J. Schelling; Philosophie der Offenbarung. Unveränd. reprograf. Nachdr. d. aus d. handschriftl. Nachlaß hg. Ausgabe von 1858, 2 Bde., Darmstadt 1974 – P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910), in: ders., Frühe Werke, hg.v. G. Hummel/D. Lax, Berlin/New York 1998 (Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Bd. IX), 154– 272. – Ders., Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung (1912), in: ders., Main Works/Hauptwerke Vol./Bd. 1: Philosophical Writings/Philosophische Schriften, Ed. by/hg.v. G. Wenz, Berlin/New York 1989, 21–112. – Ders., Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes (1955), in: ebd., 391–402.

Der Peripatetiker Andronikos von Rhodos, der im 1. Jahrhundert vor Christus die lange verschollenen Lehrschriften des Aristoteles herausgegeben hat, soll in deren bibliothekarischer Anordnung der Überlieferung zufolge die Abhandlungen zur „Ersten Philosophie“ hinter die Bücher über die Physik eingereiht haben. Daher rührt nach lange vorherrschender Meinung der Name Metaphysik. Der Sache nach bedeutet das Wort die Philosophie, die über die Natur hinausgeht. Metaphysik ist die Lehre vom Transzendenten. Die „metaphysica generalis“ bedenkt als Ontologie das Sein des Seienden und dessen allgemeine und notwendige Bestimmtheiten. Thema der speziellen Metaphysik sind traditionellerweise Gott, Welt und Menschenseele, wofür die „metaphysica specialis“ von Christian Wolff (1679–1754) in Anschluss an Leibniz (1646–1716) ein klassisches Aufklärungsbeispiel gibt. Als metaphysische Psychologie erörtert sie das Wesen der Seele als einfache Substanz, als metaphysische Kosmologie die Welt als integrierten Inbegriff des natürlich Seienden, als metaphysische Theologie sucht sie Gottes Gottheit als Grund und Ursache von Seele und Welt zu erweisen. Dabei verfährt die Wolff ’sche „metaphysica specialis“ ihrer Selbsteinschätzung gemäß streng rational und auf rein vernünftige Weise. Ohne Gegenstände der Erfahrung als Material ihrer Erkenntnis in Anspruch zu nehmen, behauptet die rationale Metaphysik ihre Lehre nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach aus Vernunft allein apriorisch entwickeln zu können. Dieser Annahme hat Kant entschieden widersprochen, ohne deshalb die Notwendigkeit vernünftiger Transzendierung des Empirischen generell in Frage zu stellen. Zwar ist eine psychologische, kosmologische und theologische Metaphysik als Lehre von transzendenten Gegenständen nach seinem Urteil nicht möglich; doch kann die Vernunft die Frage nach Gott, Welt und Menschenseele sowenig Ontologie, Metaphysik, Tranzendentalphilosophie

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abweisen, wie sie diese theoretisch zu beantworten vermag. Im Gegensatz zur traditionellen „metaphysica specialis“ darf sie von deren Ideen keinen objektiven, sondern lediglich einen regulativen Gebrauch machen. Die Gedanken Seele, Welt und Gott stehen für die Letztbedingungen möglicher Erfahrung, ohne über ihre regulative Funktion als Letztbedingungen möglicher Erfahrung hinaus im Sinne objektiver Realität vernünftig erfasst oder gar auf empirisch-gegenständliche Weise in Erfahrung gebracht werden zu können. Ihre theoretische Leistung ist rein transzendental, wohingegen ein transzendenter Gebrauch nach Kant nichts als Blendwerk zu erzeugen vermag. Zwar ist der transzendentale Gebrauch der Vernunft nicht lediglich formal zu nennen, weil Erfahrung ohne Wissen sowie bewusste Erfahrung – anders als der Empirismus es will – ohne Gebrauch nicht nur der Verstandeskategorien, sondern auch der Vernunftideen Seele, Welt und Gott keinesfalls denkbar ist. Indes ist der „usus realis“ reiner Vernunft einzig und allein transzendental, nämlich auf die Letztbedingungen der Möglichkeit bewusster Erfahrung ausgerichtet, niemals hingegen zur Erschließung von Transzendenz und der Einsicht in transzendente Gegenstände geeignet. Metaphysik als wissenschaftliche Erkenntnis eines „ens transcendens“ bzw. transzendenter Entitäten ist somit nach Kant unmöglich. Bleibt zu fragen, ob damit die Metaphysik insgesamt oder nur in ihrer durch dogmatischen, will heißen: durch unkritischen Vernunftgebrauch gekennzeichneten Form zu Ende gekommen ist. Immerhin hat Kant selbst eine Metaphysik der kritischen Art nicht nur programmatisch gefordert, sondern als Metaphysik der Natur im Sinne eines Systems der Prinzipien apriorischer, aller empirischen Naturwissenschaft zugrundeliegender Naturerkenntnis sowie als Metaphysik der Sitten im Sinne eines Systems erfahrungsunabhängiger und erfahrungsbestimmender Letztbedingungen von Recht und Moral mehr oder minder auch ausgeführt. Hieran schließen Fichte, Schelling sowie Hegel an, dessen Vernunftsystem als Wissenschaft des Absoluten darauf angelegt ist, in überbietender Aufhebung eines subjektiven und eines objektiven Idealismus Metaphysik ebenso kritisch wie konstruktiv ihrer Vollendung zuzuführen. Dabei bleibt Hegel Kant trotz aller Kritik an dessen kritischer Transzendentalphilosophie darin verpflichtet, dass Thema seiner konstruktiven Metaphysik nicht transzendente Gegenstände, sondern konstitutive Bedingungsmomente des Wissensvollzugs sind. Metaphysisches Wissen ist nicht Transzendenzwissen, sondern Wissen um die im Wissen selbst gegebenen Letztbedingungen desselben. Wissen des Absoluten meint im Hegel’schen Hegels Wissenschaft des Sinne nicht Wissen von einem „ens transcenAbsoluten dens“, sondern absolutes Wissen des sich mit seinem reinen Wesen beschäftigenden Geistes. Wenngleich das absolute Wissen Hegel’scher Metaphysik mitnichten unmittelbar einem Individualsubjekt – und sei dieses Hegel selbst – zuzuerkennen ist, weil es als Wissen des Absoluten jedes endliche Selbstbewusstsein transzendiert und als Sich-Wissen des Absoluten als Absoluten zu gelten hat, so ist das Absolute ebenso wenig ein dem Bewusstsein und

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dem sich wissenden Wissen selbstbewusster Subjektivität in Transzendenz Gegenüberstehendes, sondern absolutes Wissen des Wissens um sich selbst. Das Absolute ist als Absolutes nicht wissenstranszendent im Sinne eines vom Wissen abgesetzten Seins, sondern in seinem Sein absolutes Wissen, in welchem alles, was ist und als Sein gewusst wird, aufgehoben und inbegriffen ist. Hegels Theorie des Absoluten transzendiert fraglos die Transzendentalphilosophie Kants. Eine Philosophie der Transzendenz ist sie gleichwohl ebenso wenig wie diese. Anders stellt sich die Angelegenheit beim späten Schelling dar, dessen Philosophie der Mythologie und Offenbarung, ohne vorkritisch genannt werden zu können, als Transzendenzmetaphysik und, wenn man so will, Ontologie von Gott, Welt und Menschenseele konzipiert ist. Für die metaphysische Ontotheologie des späten Schelling ist Gott nicht das im absoluten Wissen sich wissende Absolute, sondern an sich selbst unvordenkliches Sein und als prinzipiierendes Prinzip der Prinzipien Ich und Welt, die auf ihre Weise ebenfalls durch Wissen unaufhebbare Seinsgrößen sind, schlechterdings transzendent, um für das Wissen in der unbegreiflichen Faktizität seines Dass als Geheimnis offenbar zu werden. Als transzendenter Grund bringt Gott nicht nur das dem Wissen zu wissen gegebene Kontingente frei hervor, um auf diese Weise Welt zu Bewusstsein zu bringen, er begründet auf unvordenkliche Weise auch das sich wissende Ich, dessen Selbstbewusstsein sein Sein als faktisch gegeben vorauszusetzen oder besser: sich als sich gegeben zu begreifen hat. Das „sum“ des „cogito“ kann diesem nicht länger qua „ergo“ zugeordnet werden, da sich das Sein des „Ich denke“ nicht durch reines Denken und durch Denken allein erfassen lässt. Seiend ist das Denken des Subjekts sich selbst auf unvordenkliche Weise gegeben. In diesem Sinne weist Schellings Subjektivitätsphilosophie über den Idealismus hinaus und kann als nachidealistisch bezeichnet werden. Sie bleibt dem Idealismus aber darin verpflichtet, dass sie Subjektivität nicht im Sinne eines antiidealistischen Realismus lediglich als dinglich Vorhandenes vorstellig macht, um die Innenwelt des Ich tendenziell in der äußeren Welt des Empirischen aufgehen zu lassen. Die Subjektivitätsphilosophie lässt vielmehr das Sein des seienden Subjekts mit der Faktizität seiner selbst als eines Denkenden und eines Sich-Wissenden gegeben sein. Dieses ist dazu bestimmt, sein Selbstsein welthaft zu realisieren, ohne sich in der Welt zu gründen und aus ihr zu begründen, weil Gott und Gott allein der Grund seiner aus sich selbst heraus nicht zu begründenden Subjektivität ist. Subjektivität gründet in einer ihr unverfügbaren Wirklichkeit, die sie ermöglicht; sowenig diese Wirklichkeit das Ich unmittelbar selbst ist, sowenig kann sie mit Innerweltlichem oder der Welt im Ganzen gleichgesetzt werden und zwar unbeschadet dessen, dass Subjektsein immer In-der-Welt-Sein ist. Die unverfügbare Wirklichkeit, welche die Möglichkeit von Subjektivität und die Beziehung des Ich zu sich selbst und zur Welt begründet, ist Gott. So sagt es der späte Schelling und vor ihm auf Fichtes Wissenschaftslehren seine Weise bereits Fichte, an dessen Denkweg im gegebenen Zusammenhang noch einmal stich-

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wortartig erinnert sei. In den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts bis hin zum Atheismusstreit hatte Fichte seine Philosophie im Sinne eines strenger gefassten Kantianismus verstanden, dem er mit der Lehre vom Ich als Wissensprinzip zur Vollendung verhelfen wollte. Im Kontext dieser Unternehmung ersetzte er bereits kurz nach seinem „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ von 1792 Kants praktisches Postulat Gottes als des Garanten einer letztendlichen Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit durch den Gedanken einer moralischen Weltordnung, welche in prästabilierter Harmonie die schließliche Koinzidenz von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit gewährleistet. In der Schrift „Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ von 1798 ist dieser Gedanke im Einzelnen entfaltet. Im Übrigen gibt das Konzept der Wissenschaftslehre den genauesten Eindruck von Fichtes Denken in der damaligen Zeit, wobei sich in den Jahren 1800 bis 1801 die Krise des rein autonom gedachten Ich abzuzeichnen beginnt, um in der Wissenschaftslehre von 1804 zu der Einsicht zu führen, dass die autarken Selbstbegründungsversuche des Ich zwangsläufig scheitern müssen, weil dieses ohne Voraussetzung eines unvordenklichen göttlichen Grundes in sich grundlos, ja dem Abgrund des Nichtigen und Bösen preisgegeben ist. Wahre Spekulation, wie Fichte sie von nun an betreibt, hat dieser Einsicht zufolge ihren Ausgang beim Bewusstsein nötiger Selbstbegrenzung des philosophischen Standpunkts zu nehmen, weil sich nachgerade der zu vollkommener Aufklärung seiner selbst durchgedrungene Begriff als limitiert wahrnimmt, um auf das unvordenkliche Sein Gottes hin überschritten zu werden, dessen Transzendenz durch Offenbarung einleuchtet und jene positive Erfüllung von Selbst und Welt bewirkt, welcher sich das Denken nur „via negationis“ zu nähern vermag. Nicht durch das Ich bewirkt, aber gleichwohl nicht außerhalb von dessen Vollzug offenbar, ist das Absolute, was es ist, um Selbstsein aus seinem unvordenklichen und unverfügbaren Grunde frei zu erschließen. Im erschlossenen Selbstsein freier Subjektivität ist Gott als unergründbarer Grund manifest und als das sich manifestierende Geheimnis seiner Unbegreiflichkeit offenbar. Wahrhaft zu sich gekommen nimmt das Subjekt sich gleichermaßen als gottgegründet und gottunterschieden wahr, als in der Welt und doch nicht von dieser. Die in den selbstbewussteinstheoretischen Ansätzen Kants theoretisch unbewältigte Differenz von transzendentaler und empirischer Subjektivität wird aufgehoben, wenngleich in anderer Weise als bei Hegel, der die Einheit von allgemeiner Ichheit und besonderem Ich als dialektisch vermitteltes Ergebnis begreift, wohingegen Fichte und auf vergleichbare Weise der späte Schelling von der ursprünglichen, in Gott gründenden Einheit beider ausgehen, um die Wirklichkeit der Freiheit nicht nur als deren Resultat, sondern bereits als deren konstitutiven Ursprung zu denken. Was das näherhin heißt, soll im Folgenden anSchellings Offenbarungshand der auf drei Bücher verteilten siebenund- philosophie dreißig Vorlesungen Schellings zur Philosophie der Offenbarung in Grundzügen expliziert werden. Vorausgeschickt sei eine kurze Erinnerung an Schellings philosophische Genese im Anschluss an Paul Tillichs theo-

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logische Lizentiatendissertation „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“ von 1912. Als Prinzip Schelling’scher Mystik benennt Tillich dort Identität mit Gott, als Prinzip des Schuldbewusstseins Widerspruch zu ihm; das erste Prinzip sei, wie es heißt, nötig um der Wahrheit, das zweite um der Sittlichkeit willen. In der ersten Hauptperiode von Schellings Entwicklung setzte sich laut Tillich fortschreitend das Prinzip der Identität durch, um sich in der Mystik der intellektualen Anschauung unter abstrakter Negation der sittlichen Kategorien, die zugleich diejenigen der Geschichte und der individuellen Subjektivität seien, zu vollenden. Zu untergliedern sei die besagte Entwicklungsperiode in eine Phase zum Pantheismus neigender Naturphilosophie (1797–1800), die das Reale ins Ideale dadurch überführe, dass sie Subjektivität und Selbstbewusstsein aus der Objektivität der un- und unterbewussten Natur organisch hervorgehen lasse. Eine weitere Phase (1801–1809) erbringe die Vollendung des Identitätssystems: Das in der Spontaneität intellektualer Anschauung unmittelbar erfasste Absolute vereint Geist und Natur in indifferenter Identität, um den Unterschied von Realem und Idealem erst reflexiv aus sich zu entlassen und ihn im Durchgang durch seine ausdifferenzierten Gestalten auf spekulative Weise in sich zurückzuführen. Folgt man Tillich, dann liegt in der höchsten Entfaltung des Identitätsprinzips bereits das Moment des Umschlagens begründet, da Identität in Wirklichkeit nicht auf indifferente Weise, sondern nur zugleich mit Differenz zu erfassen sei. Seit seiner zweiten Entwicklungsperiode, die mit den Untersuchungen „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ von 1809 beginne, habe Schelling daher Identität und Differenz als gleichursprünglich zu denken versucht. Im Absoluten selbst sei eine irreduzible Dualität insofern anzusetzen, als die Identität Gottes mit nichtidentifizierbarer Differenz, welche das unvordenkliche Sein Gottes ausmache, unergründlich verbunden sei. Auf rein begriffsapriorische Weise könne eine gehaltvolle Lehre von Gott daher nicht zustande gebracht werden. Dazu bedürfe es eines metaphysischen Empirismus, der das Absolute nicht wie die bisherige Philosophie der Vernunft, die in Hegels ihre entwickeltste Gestalt gefunden habe, nach Maßgabe der Negativität des sich aus sich selbst heraus entwickelnden Begriffs bloß apriorisch konstruiere, sondern aposteriorisch aus der Art und Weise zu erfahren suche, wie es sich im religiösen Leben der Menschheit tatsächlich offenbare. Durchgeführt hat Schelling sein Programm eines Metaphysischer Empirismus metaphysischen Empirismus, dessen Genese Paul Tillich skizziert, neben den „Weltaltern“ (1811– 15) als der narrativen Vergegenwärtigung der Selbstverwirklichungsgeschichte Gottes vor allem in den „Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung“, die er in seinen letzten Lebensjahrzehnten bis 1845 mehrfach vortrug und in denen seine Spätphilosophie zur Vollendung gelangt. Grundlegend ist die Einteilung der Philosophie in eine negative und eine positive. In Affirmation der Kant’schen Erkenntnistheorie und deren idealistischer Konsequenzen hält Schelling daran fest, dass der essentielle Gehalt der Weltdinge im Allgemeinen und der

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religiösen Ideenwelt im Besonderen ohne Rückgriff auf Erfahrung nach Weise einer rein rationalen Vernunftwissenschaft apriorisch entwickelt werden könne; dies zu leisten sei Aufgabe der negativen Philosophie, welche durch die positive insofern vorausgesetzt werde, als diese keineswegs durch einen einfachen Gegensatz zur Vernunft und damit als irrational im unvernünftigen Sinne oder als suprarational im Sinne vorkritischer Metaphysik bestimmt sei. Die Nötigung, die positive von der negativen Philosophie zu unterscheiden, ergibt sich für Schelling aus der Wahrnehmung einer Grenze, die der Vernunft nicht lediglich äußerlich ist, sondern auf die sie beim ebenso unausweichlichen wie undurchführbaren Versuch ihrer Selbstgenetisierung stößt. Vermittels der Einsicht in die Aporie, sich nicht selbst hervorbringen zu können, weiß die negative Philosophie sich an die positive verwiesen, aus dem Zusammenhang mit welcher ihr aufgeht, auf unvordenkliche Weise in ihren Vollzug eingesetzt zu sein. Ihr Prioritätsanspruch muss daher aufgegeben werden zugunsten jener Aposteriorizität, in der sich das Absolute als die tatsächliche Möglichkeit reinen Sich-setzens dem Apriorismus der Vernunft voraussetzt, um dieser das für sie unbegreifliche Dass ihrer selbst vorstellig zu machen und zur – aposteriorischen – Einsicht zu bringen. Das dem Begriff unbegreifliche Dass seiner selbst und damit das unvordenkliche Sein der Vernunft im Sinne eines metaphysischen Empirismus wahrzunehmen, ist Sinn und Aufgabe positiver Philosophie, die in Mythologie und Offenbarung ihre wesentlichen Themen findet. Um noch einmal auf Tillich zurückzukommen, der zwei Jahre vor seiner theologischen Lizentiatenarbeit über „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“ den Voraussetzungen und Prinzipien der religionsgeschichtlichen Konstruktion der positiven Philosophie bereits seine philosophische Dissertation (1910) gewidmet hatte, so ist der Sachgrund seiner theologischen Affinität zum Denken des späten Schelling unschwer darin zu finden, dass dieser der religiösen Symbolik des Mythos und namentlich der christlichen Offenbarung nicht nur eine die theoretische und praktische Vernunft illustrierende Funktion zuerkannte, sondern sich um den Aufweis ihrer unersetzbar konstitutiven Funktion für das Denken bemühte. Während, um nur vom zentralen Offenbarungsgeschehen des Christentums zu sprechen, Jesus Christus bei Kant lediglich ein für die Begründung praktischer Vernunft und die Geltung des kategorischen Imperativs letztlich entbehrliches Sinnbild der Gott wohlgefälligen Menschheit, beim frühen Fichte die zu unmittelbarem Selbstbewusstsein gewordene absolute Vernunft und bei Hegel die vollendete Geschichte der göttlichen Idee im Modus ihrer Vorstellung sei, spreche der späte Schelling der Erscheinung des Gottmenschen eine philosophische Fundamentalbedeutung zu und wende sich infolgedessen – darin Schleiermacher und auf andere Weise auch dem späten Fichte vergleichbar – gegen eine moralische bzw. metaphysische Funktionalisierung und philosophische Aufhebung von Religion und Offenbarungstheologie. Zwar gelangte Tillich zu der Auffassung, dass die Lehre von der empirischen Menschwerdung des Absoluten immanent unhaltbar sei, weil auch noch der späte Schelling der idealistischen Position seiner Anfänge verhaftet bleibe, dergemäß die äußere Geschichte nur die

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Bedeutung haben könne, der inneren die Anschauung zu geben. Nichtsdestoweniger erachtete er Schellings fortschreitende Abkehr von einer rationalistisch-idealistischen Geringschätzung des Geschichtlichen im Christentum als inadäquater Einkleidung ewiger Vernunftwahrheit als ebenso vorbildlich wie dessen sich steigernde Kritik einer abstrakt apriorischen Wesensphilosophie, welche den Entfremdungserfahrungen des menschlichen Daseins in einer gefallenen Welt nicht gerecht zu werden vermochte. Entsprechend blieben für Tillich „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“ untrennbar verbunden, wofür seine gleichnamige Rede anlässlich einer Gedächtnisfeier zum 100. Todestag von Schelling am 26. September 1954 einen eindrucksvollen Beweis gibt. Bevor auf die Wirkungsgeschichte seines DenNegative und Positive kens näher einzugehen ist, soll, wie angekündigt, Philosophie der späte Schelling selbst das Wort haben und zwar in Form seiner Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung. Mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Drachensaat des Hegelianismus auszurotten, war Schelling vom Preußenkönig an die Berliner Humboldt-Universität berufen worden. In der ersten dortigen Vorlesung am 15. November 1841 (vgl. Schelling II, 357–367) kommt er indirekt auf den polemischen Zweck seiner Sendung zu sprechen, um diesen allerdings sogleich zu relativieren, und zwar nicht zuletzt mit dem Hinweis, er selbst habe den ersten Impuls zu jener Philosophie gegeben, die nun wegen ihrer religionskritischen Resultate so sehr in Verruf geraten sei. Nicht um sich über einen anderen zu erheben, sei er gekommen, sondern um seinen Lebensberuf dadurch zu vollenden, dass er die – dem Gesetz zu vergleichende – negative Philosophie des Vernunftapriorismus, welche in Hegel ihren obersten Repräsentanten gefunden habe, aus der Abstraktheit ihres Absolutheitsanspruches löse, um sie auf die positive Philosophie als die gedankliche Form des Evangeliums hin zu relativieren, in welchem das Gesetz der Vernunft zu aposteriorischer Erfüllung gelange. Wie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist nach Schellings Urteil auch das Verhältnis negativer und positiver Philosophie als ein Zusammenhang begrifflich nicht synthetisierbarer Differenz strukturiert. Das Absolute in seiner Idealität ist dem Vernunftapriorisimus negativer Philosophie durchaus erschwinglich, nicht aber der wirkliche, der existierende Gott, dessen unvordenkliches Sein sich allein in der Faktizität der Offenbarung erschließt. Beide Einsichten sind nicht unmittelbar synthetisierbar, bilden aber gleichwohl einen, freilich nur vonseiten der positiven Philosophie her wirklich durchsichtigen Zusammenhang. „Wer aus der Philosophie sein besonderes Studium macht, hat noch immer mit Kant anzufangen“ (Schelling I, 33): Die Fundamentalschwierigkeit von dessen – für den Entwicklungsgang neuzeitlichen Denkens schlechterdings basalen – Philosophie sei in der Tatsache begründet, dass er einerseits eine Erkenntnis der Dinge a priori behaupte, deren An-sich-Sein aber andererseits von der apriorischen Erkenntnis ausnehme. Infolge dieser Schwierigkeit musste der Ding-an-sich-Begriff zersetzt und behauptet werden, dass sich das Existierende selbst in der Einheit seiner Form und seiner Materie apriorisch einsehen lasse. „Dieser Gedanke kam in

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Fichte zur Wirkung, dessen großes, unvergeßliches Verdienst immer dieses bleiben wird, zuerst die Idee einer vollkommenen apriorischen Wissenschaft in seinem Geiste erfaßt zu haben.“ (Schelling I, 51) Hegel schließlich sei es vorbehalten gewesen, den subjektiven Idealismus Fichtes im Durchgang durch den objektiven, zu dem seine – Schellings – Naturphilosophie nicht Unwesentliches beigetragen habe, zum absoluten Idealismus zu vollenden. Die Größe des Hegel’schen Systems ist nach Schellings Urteil mit der in umfassender Perspektive geltend gemachten Einsicht gegeben, dass die Vernunft eine unendliche Erkenntnispotenz sei, weil alles Erkannte nur vermöge der Vernunft erkannt werde. Dass das Erkenntnisvermögen der Vernunft unendlich sei, bestreitet Schelling nicht nur nicht, sondern er behauptet es mit Hegel. Die Vernunft, sofern sie erkennt und ihr Erkennen sich zu Bewusstsein bringt, ohne welches vernünftige Selbstbewusstsein Erkenntnis nicht geschieht, findet in sich „das Prius oder, was dasselbe ist, das Subjekt alles Seyns, und an diesem hat sie auch das Mittel oder vielmehr das Princip einer apriorischen Erkenntniß alles Seyenden“ (Schelling I, 57). Allerdings sei zu fragen, „was es ist, das auf diese Weise, nämlich a priori, an allem Seyenden erkannt wird. Ist es das Wesen, die Sache des Seyenden, oder daß es ist?“ (Ebd.) Während das Wesen des Dings im Begriff und damit apriorisch erfasst werde, gewähre die Einsicht, dass es ist, der Begriff nicht allein, sondern nur im Verein mit aposteriorischer Wahrnehmung der Existenz des Dinges, ohne Annahme von dessen unvordenklichem Sein der Begriff nicht wirklich zu begreifen vermöge. Zwar ist, was im Erkennen als existierend erkannt wird, der Begriff des Dinges, und ohne Begriff ist Erkennen nach Schelling schlechterdings nicht möglich; von einer Rückführung von Selbstbewusstsein und Bewusstsein auf begriffloses Sein kann bei ihm daher mitnichten die Rede sein: Welt als Fülle des Seienden ist präsent niemals ohne selbstbewusste Vernunft, von deren Möglichkeit her die Subjekt-Objekt-Relation als Ganze ihre Form erhält. Verkehrt aber sei die Behauptung, die Welt als solche und die Existenz der Dinge in ihr seien durch Vernunft und Denken ins Dasein gebracht. Allein hiergegen wendet sich Schellings Polemik wider eine falsch verstandene Identität von Denken und Sein sowie seine Unterscheidung zwischen dem „quid sit“ und dem „quod sit“, wobei im Einzelnen ungeprüft bleiben kann, ob Hegels System von diesen Einwänden tatsächlich getroffen ist. Wie auch immer: Wirklich ist vernünftiges Selbstbewusstsein, so sehr es das Verhältnis zur Welt strukturiert und insofern eine transmundane Stellung dieser gegenüber einnimmt, nach Schelling nur, insofern es sich zur Welt verhält als ein solches, dessen Selbst niemals ohne Welt, sondern immer nur zusammen mit dieser auftritt. Damit ist gesagt, dass die Vernunft mit einer Differenz zu rechnen hat, die ihrer Identität gleichursprünglich und in diese nicht aufzuheben ist, obwohl ohne Vernunftidentität und selbstbewusste Subjektivität von ihr schlechterdings nicht die Rede sein könnte. Das vernunftbestimmte, aber nicht auf Vernunft reduzierbare Grundverhältnis von Subjek- Subjekt und Sein tivität und Sein enthält die Frage in sich, worauf

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es basiert. Aus der Welt als der Summe alles dessen heraus, was existiert, lässt sich diese Frage insofern nicht beantworten, als das Wissen von Welt mit selbstbewusster Vernunft immer schon verbunden ist, welche daher aus der Welt nicht herzuleiten ist, sondern sich von ihr als Ganzer unterschieden weiß. Gleichwohl vermag Vernunft, so sehr ohne sie von Welt nicht die Rede sein kann, nicht für sich allein den Basisgrund des Verhältnisses von Denken und Sein abzugeben, weil sie nicht weltlos, sondern immer nur im Weltbezug sich vollzieht und damit in Beziehung zu einem Dass, welches sie aus sich heraus zu genetisieren nicht in der Lage ist. Letzteres tendenziell in Abrede gestellt zu haben, ist der Fehler, den Schelling Hegel zum Vorwurf macht. Weil er die Gleichursprünglichkeit von Weltverhältnis und vernünftigem Selbstverhältnis leugne und das Weltverhältnis auf das Selbstverhältnis der Vernunft zurücknehme, bewege sich seine apriorische Vernunftwissenschaft nur in einer logischen Welt, die nicht wirklich existiere, sondern nur im Denken ihr scheinbares Sein habe. In der Welt der Logik wird nur die Möglichkeit von Sein, nicht aber wirklich Seiendes begriffen, wie denn die fortschreitende Entwicklung logischen Denkens nur zur Einsicht in die Idee des Absoluten, nicht aber zur Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeit führt. Trotz des nicht behebbaren Unterschieds beider und in Bestätigung dieses Unterschieds entspricht die positive der negativen Philosophie insofern, als sie deren Entwicklungsgang von unbestimmten zu immer bestimmteren Modi gedanklicher Komplexität auf ihre Weise mitvollzieht, indem sie sich vom Seienden in seinen differenzierten Gestalten zum Sein selbst erheben lässt, das alle endlichen Seinsgestalten unendlich transzendiert und seine Existenz in Gott hat. Die positive Philosophie erschöpft sich mitnichten in der Wahrnehmung kontingenten Seins, und ihr Empirismus ist als metaphysischer etwa von einem empirischen Sensualismus elementar unterschieden. Ihr Umgang mit dem sinnlich zu erfassenden Sein scheint von der negativen Philosophie zunächst nur darin zu differieren, dass sie dessen Existenz als Datum gelten lässt, das nicht durch reines Denken gesetzt ist, ohne dass sich deshalb die Notwendigkeit begrifflicher Bestimmung und der Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen auch nur ansatzweise leugnen ließe. Was die positive Philosophie in Bezug auf das sinnlich Gegebene einklagt, ist, wenn man so will, lediglich die nötige Sensibilität, die – wie in Bezug auf das System des absoluten Idealismus kritisch vermerkt wird (vgl. Schelling I, 88) – der Stockung in der Bewegung gewahr wird, die zwischen der Logik und der Natur- bzw. Realphilosophie eintritt, ohne von Hegel angemessen empfunden worden zu sein. Im Übrigen lässt sich positive Philosophie mit der Idee des Absoluten, wie sie im Begriff des Begriffs gegeben ist, durchaus ihr ureigenes Wesen vorgeben, unter dem Vorbehalt freilich, dass mit der Idee Gottes dessen Existenz noch nicht erfasst sei. Die negative Philosophie ist für die positive durchaus konstitutiver Bestandteil ihrer selbst, und sie ist nach Schelling nur zu kritisieren, wenn sie sich selbstverabsolutierend für das Ganze hält und an sich selbst positive Philosophie sein will, statt sich durch Unterscheidung von dieser zu relativieren und als das zu bestimmen, was sie ist: negative Philosophie. Beschränkt diese sich auf ihre vornehmste Aufga-

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be, den Begriff Gottes als notwendige und höchste Vernunftidee auszubilden, ohne damit den Anspruch auf einen erbrachten Existenzbeweis Gottes zu verbinden, dann ist sie positiver Philosophie nicht nur recht, sondern unverzichtbare Voraussetzung von dieser. Der metaphysische Empirismus setzt den Rationalismus negativer Philosophie voraus, und er verabschiedet ihn nicht dadurch, dass er ihn auf die Unvordenklichkeit des Seins hin relativiert. Als Vorlauf, wenn man so will, ist der Prozess begrifflicher Erhebung, wie negative Philosophie ihn vollzieht, für die positive unentbehrlich, die dann freilich, von der negativen zur Idee des Absoluten geführt, das Verfahren umkehrt, um gegenläufig zur Erkenntnis nicht nur der Idee, sondern der Existenz und der Wirklichkeit Gottes zu gelangen. Vermittels dieser Wende, die als religiöse Kehre zu bezeichnen nicht abwegig ist, wird das, was in der reinen rationalen Philosophie das Prius war, zum Posterius. In diesem Sinne kann Schelling den metaphyApriorismus und Aposteriosischen Empirismus das eigentlich apriorische, rismus beim Prius der Existenz des Absoluten einsetzende Verfahren und die negative Philosophie reiner Rationalität eine aposteriorische Wissenschaft nennen, weil deren höchste Idee erst im nachhinein, nämlich aus dem Geschehenszusammenhang der Existenzerschließung Gottes, welche positive Philosophie zu erfassen hat, ihre Vollendung findet. Indem der metaphysische Empirismus positiver Philosophie der Wahrnehmung des Geschehens der Existenzerschließung Gottes hingegeben ist, richtet er sich auf die Erfahrung dessen aus, was den Seinsgrund nicht nur alles als vernünftig zu begreifenden Seienden, sondern der Vernunft selbst ausmacht. Metaphysischer Empirismus nimmt wahr, dass Vernunft auf unvordenkliche Weise in ihren Vollzug eingesetzt ist und sich nur in Erkenntnis dieses ihres Sich-Gegeben-Seins vernünftig zu vollziehen vermag. Damit bestätigt sich erneut, was bereits gesagt wurde, dass nämlich der Empirismus der Schelling’schen Spätphilosophie mit einem Empirismus, der alle Erkenntnis auf die Erfahrung durch Sinne beschränkt, wenig bis nichts gemein hat. Auch von einem, wie er es nennt, mystischen Empirismus, der des unvordenklichen Seinsgrundes der Vernunft rein gefühlsmäßig innezuwerden versucht, grenzt Schelling sich ebenso ab wie von irrationalen, sich durch den bloßen Gegensatz zum Vernunftrationalismus bestimmende Formen der Theosophie. Theosophisch ist sein metaphysischer Empirismus allenfalls insofern zu nennen, als er primär nicht auf Welterfahrung, sondern auf die Erfahrung des unvordenklichen Seins Gottes ausgerichtet ist, in dem alle Vernunft Grenze, Grund und Inhalt findet. Wenn das empirische Sein der Weltdinge nicht eigentlich unvordenklich zu nennen ist, da jedes in der Welterfahrung vorkommende Sein Denkbestimmungen an sich hat, ohne die es gar nicht erfahrbar wäre, kann von Unvordenklichkeit stricte dictu überhaupt nur in Bezug auf die Existenz Gottes gesprochen werden. Diese als eine von Gott her erschlossene in Erfahrung zu bringen, um sie der Vernunft als ihr absolutes Prius zu denken zu geben, ist der Sinn des metaphysischen Empirismus, der die Philosophie der Mythologie und insbesondere diejenige der Offenbarung kennzeichnet.

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Philosophie der Offenbarung nimmt ihren Ausgang bei der Existenzerschließung des in seiner absoluten Priorität schlechterdings transzendenten und unbegreiflichen Seins, das allein dann als das Sein Gottes begriffen und zur Vernunft gebracht werden kann, wenn Gott dieses Sein als sein Sein bestimmt, um sich auf diese Weise in seiner Gottheit zu erweisen. Damit ist bereits gesagt, dass der Ausgang positiver Philosophie keine dogmatische Prämisse darstellen kann, die in axiomatischer Selbstverständlichkeit zur Geltung zu bringen wäre; der Ausgang positiver Philosophie ist im Gegenteil ein offenes und freies Geschehen, dessen Bewahrheitung nur durch faktische Bewährung statthaben kann, wie allein Gott sie in seiner absoluten Wirkmacht als Herr des Seins zu gewährleisten vermag. Um die Offenbarung in ihrer realen Tatsächlichkeit zu erfassen, reicht es nicht hin, ihren Begriff zu setzen und alles weitere konsequentem Denken zu überlassen. Offenbarung, die im Sinne positiver Philosophie diesen Namen verdient, ist vielmehr ein Faktum absoluter Positivität, dessen Gehalt nicht apriorisch zu erschließen und gedanklich zu ergründen, sondern nur aus seinen gottgesetzten Wirklichkeitsfolgen heraus aposteriorisch in Erfahrung zu bringen ist, um auf diese Weise das Denken zu bestimmen. Wirklich erbracht werden kann der Wahrheitsbeweis Gottes nur durch dessen Selbsterweis als Herr des Seins. Als das Sein selbst, das er ist, ist Gott nach Schelling Begriff und Unbegreiflichkeit seinem eigenen Begriff und damit allem Begreifen Gottes voraus. Gottes Existenz kann daher nicht nach Weise des ontologischen Arguments als des hervorragendsten aller Vernunftargumente bewiesen werden, weil dieses lediglich die Notwendigkeit der Idee Gottes erweist, nicht aber deren Wirklichkeit, die allem Begreifen entzogen ist und nur von Gott selbst begriffen und in freier göttlicher Tat erschlossen werden kann. Allein Gott selbst ist der Unbegreiflichkeit seines Seins mächtig. Der innere Grund seiner Existenz entzieht sich jedem Begriff. Sein Sein ist an sich selbst absolut unbegreiflich. Gottes Wesen aber eignet die Potenz, die Unbegreiflichkeit seines Seins in sich zu begreifen, um sich als Herr seines und allen Seins zu erweisen. Dasjenige, vermöge dessen er das grundlos Existierende und schlechterdings unbegreifliche Sein selbst ist, übersteigt im Unterschied zum menschlichen Vernunftvermögen nicht die Möglichkeiten Gottes, sofern dieser, wie gesagt, wesensmäßig seines Seins Herr zu werden und den unbegreiflichen Grund seiner selbst in sich zu begreifen vermag. Das a priori Unbegreifliche ist in Gott begriffen, und indem Gott in seiner Offenbarung sich selbst erschließt, erschließt er mit sich selbst auf aposteriorische Weise auch einen Begriff seiner Unbegreiflichkeit, womit die Vernunft auf unvordenkliche Weise in ihr Wesen eingesetzt und zugleich aufgeschlossen ist für die unerschöpfliche Fülle des Seins. Der Seinsmangel negativer Philosophie wird so auf positive Weise behoben. Mit Schelling zu reden: „das a priori unbegreifliche, weil durch keinen vorausgehenden Begriff vermittelte, Seyn wird in Gott ein begreifliches, oder es kommt in Gott zu seinem Begriffe. Das unendlich Existirende, das die Vernunft nicht in sich bergen kann, wird ihr in Gott zum immanenten.“ (Schelling I, 170) Absolute Positivität

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Das Sein des Seienden wird der Vernunft in Gott begreifbar, sagt Schelling wohlgemerkt. Er verbindet diese Feststellung mit dem bemerkenswerten Hinweis, dass das religiöse Verhältnis für die Vernünftigkeit der Vernunft und deren vernünftiges Seins- und Selbstverständnis ebenso grundlegend wie unaufhebbar ist. Nicht minder bemerkenswert ist die in diesem Zusammenhang geübte Kritik an der These, die Religion enthalte das Wahre nur in der Weise der Vorstellung und damit nicht in der Form der Wahrheit, welche allein dem Denken zu Gebote stehe. Dem wird entgegengehalten, dass dem Denken der unvordenkliche Seinsgrund seiner selbst vorstellig werden muss, um es zu sich selbst zu ermächtigen und real werden zu lassen. Das allem Denken unvordenklich zuvorkommende Sein selbst sei daher das „absolut Vorgestellte“ (Schelling I, 173) zu nennen, ohne dessen Vorstelligwerden nur die Idee des Absoluten, nicht aber Gott als der alles Sein in sich Begreifende erfasst werden könne. Gott ist der die Unvordenklichkeit seines und allen Seins in sich Begreifende: Zu dieser Einsicht haben die in ihren Grundzügen nachgezeichneten Prolegomena der Philosophie der Offenbarung hingeführt. Die Offenbarung dessen, der in der Unbegreiflichkeit seines Seins alles Seiende wesentlich in sich begreift, zur Anschauung zu bringen und dem Denken vorstellig zu machen, ist der Philosophie der Offenbarung selbst aufgegeben, deren Durchführung, in welcher sich die positive Philosophie erfüllt, hier nur skizziert werden kann. Die Struktur der Argumentation ist ihrem Gehalt gemäß trinitarisch. In seinem ebenso unergründlichen wie unerschöpflichen Sein ist Gott der unvergleichlich Eine, den zu bezeichnen es keinen Begriff gibt und dessen Dass unbegreiflich ist. Als der die Unvordenklichkeit seines Seins in sich begreifende ist Gott, ohne seinesgleichen zu haben, das Wesen des Seins im Allgemeinen und dessen wahrer Begriff. Absoluter Geist schließlich ist Gott deshalb zu nennen, weil er das Eine und das Andere, nämlich unvordenklicher Seinsgrund seiner Existenz und existierender Begriff, der alles Sein in sich begreift, von Ewigkeit zu Ewigkeit zugleich ist. Mit seiner sog. Potenzenlehre hat Schelling dem christlichen Dreieinigkeitsdogma eine philo- Die göttliche Trinität sophische Fassung gegeben, wobei der ersten trinitarischen Person die Potenz des Seinkönnens, dem Logos diejenige des Seinmüssens und dem Geist diejenige des Seinsollens entspricht. Vermöge dreier Potenzen ist Gott der Unvordenklichkeit seines Seins als des Prius seiner Gottheit mächtig und in der Einheit seines Wesens sich selbst manifest. Als die Potenz von allem Möglichen ist Gott das Seinkönnende, in dem alles wirklich Seiende den an sich selbst unbegreiflichen Wirkgrund seiner Möglichkeit dergestalt hat, dass auch das Unmöglichmachen aller Seinsmöglichkeiten im Vermögen der ersten Potenz liegt. Als reiner Wille und „potentia absoluta“ ist die erste Potenz Grund und Abgrund aller Seinsmöglichkeit. Ihr Vermögen ist der Differenz von Sein und Nichtsein absolut mächtig. Sie ist die unfassbare Macht reiner Möglichkeit und damit zugleich die Freiheit, in Widerspruch mit sich selbst zu treten und mit sich selbst uneins zu sein. Die erste Potenz ist frei, das unvordenkliche Sein, in welchem die Gottheit ihr Prius

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hat, zu affirmieren oder zu negieren, kurzum: zu sein oder nicht zu sein. Als der reine Wille, der es vermag, zugleich zu wollen und nicht zu wollen, ist die erste Potenz vernünftigerweise ebenso unbegreiflich wie die schiere Tatsache, dass etwas ist und nicht nichts. Begreifbar und zur Vernunft gebracht wird die erste Potenz reinen Seinkönnens durch die zweite: Sie ist das absolute Vermögen reinen, wenn man so will, selbstlosen Seins. Ist die erste Potenz das Prinzip der Subjektivität rein unmittelbarer – den möglichen Selbstwiderspruch implizierender – Selbstbestimmung, so kann die zweite Potenz als Prinzip der Objektivität oder der vermittelten Selbstbestimmung gelten, in deren Potentialität die Möglichkeitsbedingung vernünftiger Wirklichkeit begründet liegt. In der zweiten Potenz nimmt die Gottheit ihr unvordenkliches Sein gewollt an, um gelassen und im Widerspruch zum möglichen Selbstwiderspruch ihres absoluten Vermögens zu sein, was sie ist. Ist der bloße Schöpferwille der Gottheit dem Unterschied von Sein und Nichtsein gegenüber indifferent und die Freiheit reiner Möglichkeit, so steht die zweite Potenz als diejenige des Logos für das Vermögen wirklicher Gestaltung, welches Sein sein lässt, ohne es zugleich zu entziehen. Der Logos vermag Gott das Sein selbst sein zu lassen, welches nicht nur über virtuelle, sondern über reale Seinsmöglichkeit verfügt. In dieser seiner Potenz ist der Logos der Mittler der unmittelbar schöpferischen Potenz, der diese mit sich selbst vermittelt und sie in die Lage versetzt, ebenso frei wie wirklich zu schaffen. Im absoluten Geist schließlich als der dritten Potenz sind die Potentialitäten reinen Vermögens und reinen Seins in differenzierter Einheit manifest, und Gott ist das, was im absoluten Sinne sein soll: er selbst als die Wirklichkeit, die – ihrer selbst mächtig – in ihrem Sein Macht des Seins und als absolutes Seinsvermögen das Sein selbst ist, das in der Freiheit der Liebe dem, was es nicht selbst ist, Sein zu geben bereit ist, um Seiendes aus dem Nichts hervorzurufen. Mit der „creatio ex nihilo“ hebt der ökonomische Die trinitarische Ökonomie Prozess trinitarischen Lebens an, der zwar nicht als Prozess göttlicher Selbstverwirklichung zu beschreiben ist, weil Gott in seinem „quod“ und „quid“ vollendet ist in sich selbst, der aber gleichwohl keinen Zufall im Gegensatz zur Notwendigkeit darstellt, weil er im Wirklichkeitsvermögen des Wesens gründet, das in der Einheit seines Dass und seines Was der Differenz von Zufall und Notwendigkeit mächtig und darin wahrhaft frei ist. Als dem Herrn seines Seins eignet Gott die Freiheit, ein außergöttliches Sein ins Sein zu rufen und sein zu lassen. Dass Gott ein außergöttliches Sein geschaffen hat, ist eine Tatsache, die einerseits nicht deduziert werden kann, die aber andererseits vernünftigerweise anzuerkennen ist, weil sie die Voraussetzung aller Vernunfterkenntnis darstellt. Wenn etwas existiert, dann muss es – darin ist der negativen Philosophie recht zu geben – so existieren, wie die Vernunft es begreift. Dass aber überhaupt etwas existiert und da ist, kann nicht apriorisch, sondern nur aposteriorisch begriffen werden; die Existenz des Seienden erscheint für seinen Wesensbegriff notwendigerweise als kontingent. Der metaphysische Empirismus

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von Schellings positiver Philosophie findet so in der Schöpfungslehre seine ursprünglichste Begründung. Ist das Seiende in der schieren Existenz seines Seins zwar unbegreiflich, so ist es gleichwohl seine geschöpfliche Bestimmung, sich zu wissen und vernünftig zu sein. Das kreatürliche Sein ist darauf angelegt, zum Bewusstsein seiner selbst zu kommen und selbstbewusst zu werden. Der seiner selbst bewusste Mensch, in welchem Natur zur Geschichte wird, hat demgemäß nach Schelling als Krone der Schöpfung und als Ebenbild des Schöpfers zu gelten. Indes entspricht der realexistierende Mensch seiner Gottebenbildlichkeit nicht nur nicht, er widerspricht ihr vielmehr. Die Möglichkeit zu solchem Widerspruch ist – wenngleich als eine sich selbst verwirkende und faktisch um alles Vermögen bringende – der Wirklichkeit der Schöpfung implizit, sofern sich die Potenz reinen Seinkönnens als das Vermögen schlechthinniger Indifferenz in ihr reflektiert. Während indes in der göttlichen Wirklichkeit das absolute Willensvermögen der ersten Potenz unlösbar eingebunden ist in das dreieinige Wesen Gottes, zu welchem Logos und Geist in konstitutiver Gleichursprünglichkeit hinzugehören, verkehrt sich im Selbstbewusstsein des Seienden, das seinen Ursprung außer sich hat, das Vermögen spontanen Willens in gewissermaßen grundverkehrter Weise in sich, um – seines göttlichen Ursprungs uneingedenk – rein selbstische Gestalt und die Form unmittelbarer Selbstbestimmung und bloß natürlicher, logos- und geistloser, ja: logos- und geistwidriger Selbstdurchsetzung anzunehmen. Dabei ist hinzuzufügen, dass der selbstische Wille, indem er alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, negiert, zuletzt auch auf willentlich-unwillentliche Weise sich selbst zugrunde richtet. Es ist das Ziel der Religionsgeschichte, die nach Schelling nur als Offenbarungsgeschichte Gottes recht verstanden werden kann, den Menschen aus der destruktiven Verkehrtheit seiner Sünde zu befreien, durch deren Unwesen er sich selbst und seine Welt zugrunde richtet. Die religiöse Entwicklung nimmt ihren Ausgang in prähistorischer Zeit, welche die Menschheitsgeschichte mit dem Naturprozess verbindet und in den Mythen der Vorzeit ins Dämmerlicht des Bewusstseins tritt. Seinen Abschluss findet der mythologische Prozess, dessen Epochen und Perioden hier nicht zu verfolgen sind, nach Schelling in den griechischen Mysterien, in denen der Mythos zum Bewusstsein seiner Grenze gelangt und in bewusste Geschichte übergeht. Zum geschichtlichen Bewusstsein seiner selbst gelangt das Menschengeschlecht nach Schelling demgemäß recht eigentlich erst durch die Griechen, deren Philosophie den Mythos rationalisiert und jene Kulturentwicklung erschließt, als deren Inbegriff der Vernunftidealismus negativer Philosophie zu gelten hat. In ihm vollendet sich der Geist des Heidentums, der in seiner erfüllten Gestalt des Seins dadurch Herr zu werden versucht, dass er aus Ideen lebt. Dem entsprechen auf ihre Weise auch Judentum und Islam, sofern sie den selbstischen Willen der Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes zu unterwerfen suchen. Doch bleiben selbst sie noch, indem sie den selbstischen Willen gesetzlich negieren, im Banne einer isoliert verstandenen ersten Potenz, wie vor allem ihr gleichsam unitarischer und zum Monismus neigender Monotheismus beweise.

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Erst mit dem Christentum endet die Herrschaft eines abstrakten Monotheismus und das Reich des trinitarischen Gottes bricht an, indem der Logos erscheint, der die ins Dämonische verkehrte Macht eines vom ursprünglichen Zusammenhang abgekehrten Indifferenzwillens durch Selbsthingabe überwindet und die Herrlichkeit des Geistes heraufführt, in welcher Freiheit und Liebe vollkommen eins sind. Schellings Philosophie der Offenbarung schließt mit einer Konstruktion dreier Perioden der Kirchengeschichte, die nach den Aposteln Petrus, Paulus und Johannes benannt sind. Nach Katholizismus und Protestantismus soll, so die hoffnungsvolle Erwartung, mit dem johanneischen Äon jenes Zeitalter des Christentums anbrechen, in dem der Geist allein herrscht und Gott alles in allem ist. Indes ist das Reich des Geistes in der Gewissheit, zu welcher philosophische Theologie zu führen vermag, erst antizipativ präsent und unter den Bedingungen einer vergehenden Gegenwart allein von der Zukunft des Eschatons zu erwarten. Das religiöse Verhältnis ist daher realiter unersetzbar und durch Denken und Begreifen nicht zu substituieren. Wäre der Gehalt der Religion lediglich eine Vernunftidee, wie es der „religio rationalis“ negativer Philosophie zu sein scheint, dann freilich ließe sich die Vorstellungsform der Religion abstreifen und in reines Denken aufheben, wie Hegel dies insinuiert. Aber der Gehalt der Religion ist keine bloße Idee der Vernunft, sondern der lebendige Gott und die Wirklichkeit seines im Kommen begriffenen Reiches, das nicht erdacht, sondern wie Gott selbst nur von sich aus vorstellig werden kann. Das religiöse Bewusstsein versteht sich selbst vom Sein Gottes und der Zukunft seines Reiches her Faktizität und Begriff und kann entsprechend nur von Gott her recht verstanden werden. Nur formell-apriorischer Betrachtung, wie sie negativer Philosophie aufgegeben ist, muss Gott als die vollendete Idee des religiösen Bewusstseins erscheinen. Positive Philosophie hingegen betrachtet das Sein Gottes als Grund und Ziel des religiösen Bewusstseins und die Voraussetzung menschlicher Vernünftigkeit, die nicht zu setzen, sondern im religiösen Verhältnis durch Fühlen, Denken und Wollen als sich selbst voraussetzende Voraussetzung wahrzunehmen ist, wobei, wie gesagt, von der für das religiöse Verhältnis charakteristischen Vorstellungsform nicht abstrahiert werden kann. Allerdings übersteigt die religiöse Vorstellung auch nach dem Urteil Schellings die Sinne, wie denn auch die Faktizität der Offenbarungsgeschichte historische Fakten transzendiert. Gleichwohl ist der Geist des Absoluten ohne Gedächtnis der empirischen Erscheinung Gottes in einer historischen Person von sinnlich erfahrbarer Tatsächlichkeit nicht zu begreifen. Am tatsächlichen Dass der Menschwerdung der zweiten Potenz und an der spekulativ unableitbaren Existenz Jesu Christi ist Schelling deshalb alles gelegen. Dabei soll die äußere Geschichte keineswegs nur die Bedeutung haben, der inneren die Anschauung zu geben. Ihre Funktion ist es vielmehr, ein neues Gottesverhältnis zu konstituieren, welches ohne Erinnerung der empirischen Faktizität des Offenbarungsgeschehens nicht zu heben ist. Im Geiste zu leben heißt daher, Jesu Christi Offenbares Christentum

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eingedenk und der Zukunft des Gekommenen als einer realen Wirklichkeit gewärtig zu sein. Schellings „positive“ Philosophie bestreitet der „negativen“, indem sie sich von ihr unterscheidet, dass Sein begrifflich genetisiert und in reines Denken aufgehoben werden kann. Die Positivität unvordenklichen Seins wird freilich nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit behauptet, sondern in einer durch den Unterschied positiver und negativer Philosophie vermittelten Weise. Statt sich durch einen abstrakten Gegensatz zu ihr zu bestimmen, bleibt die positive Philosophie in ihrer Positivität auf die negative bezogen mit der Konsequenz, dass sich innerhalb ihrer selbst der Unterschied von negativer und positiver reflektiert, und zwar als das Verhältnis von Religion und Offenbarung. Wie negative und positive Philosophie, so stehen auch Religion und Offenbarung als Zentralthemen positiver Philosophie in einem durch ihre Differenz vermittelten Zusammenhang. Die Religion, deren Begriff und Sein die aus der Philosophie der Mythologie hervorgehende Religionsphilosophie zu erfassen sucht, ist auf Offenbarung hingeordnet, in der sie ihre Bestimmung findet und ohne welche sie nicht wäre, was sie ist. Denn das Wesen der Religion besteht in Wahrheit darin, von der Offenbarung her, auf die sie aus ist, sie selbst zu sein. Im wahren religiösen Verhältnis lebt die Religion exzentrisch von einer sich selbst voraussetzenden Voraussetzung her, in der sie gründet und durch deren Erschließung sie sich selbst erschlossen weiß. Die die Absolutheit Gottes erschließende Offenbarung, welche Begriff und Sinn der Religion vollendet, ist nach Schelling mit der absoluten Faktizität der Erscheinung Jesu Christi gegeben. Ihre Gegebenheit ist ein reines Datum und aus bloßem Denken ebenso wenig zu erschwingen wie durch die im religiösen Verhältnis angelegten Bezüge selbsttätig zu erreichen. Gleichwohl schließt das Offenbarungsdatum unbeschadet seiner Positivität an die Beziehungszusammenhänge der Religion und der religiösen Verhältnisse an. Vermöge der Offenbarung weiß das religiöse Bewusstsein sich von seinem Grund unterschieden und zugleich zur Einheit mit ihm bestimmt. Das ist deshalb der Fall, weil die Offenbarung in ihrer unbegreiflichen Faktizität die Differenz ihrer selbst zur Religion zu umgreifen vermag. Wird die Offenbarung mithin nach Schelling als Vollendung der Religionsgeschichte vorstellig, Vernunft und Offenbarung ohne in ihrer Faktizität aus dieser ableitbar zu sein, so ist der differenzierte Zusammenhang von negativer und positiver Philosophie, wie er sich innerhalb letzterer am Verhältnis von Religion und Offenbarung reflektiert, nun zuletzt noch in jener Reflexionsgestalt zu bedenken, welche die Offenbarung selbst als differenzbestimmt erscheinen lässt. Das zentrale Problem des metaphysischen Empirismus Schellings liegt im Verständnis des absoluten Faktums der Selbstoffenbarung Gottes in seiner Absolutheit beschlossen. In welchem Verhältnis steht die kontingente Faktizität dieses Faktums zu seiner metaphysischen Bedeutung, tatsächliche Selbstoffenbarung Gottes zu sein? Anders gefragt: Konstituiert die Faktizität des absoluten Offenbarungsfaktums allererst die Wirklichkeit der Gottesidee der Vernunft und ihrer durch die Potenzenlehre vorgezeich-

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neten trinitarischen Struktur? Ist also das Christusereignis in seiner unvordenklichen Kontingenz der Erschließungsgrund der Trinitätslehre, oder findet die trinitarische Lehre von den Potenzen, wie bereits die negative Philosophie sie sich systematisch-prinzipiell auszudenken vermag, im Christusgeschehen lediglich ihre vollkommene Bestätigung? Zu fragen wäre freilich auch, ob es seine Richtigkeit hat, das fragliche Problem in alternativer Form zu exponieren. Diese Frage muss nach meinem Urteil verneint werden, ohne dass deshalb eine unmittelbare Äquivalenz von vernünftigem Gottesgedanken und Offenbarungskontingenz zu behaupten wäre. Beide stehen vielmehr wie negative und positive Philosophie, die sie je auf ihre Weise thematisieren, in einem begrifflich nicht synthetisierbaren Differenzverhältnis, welches die Realdialektik religiöser Vernunft und vernünftiger Religion gleichwohl als einen durch Gott selbst erschlossenen einigen Zusammenhang wahrzunehmen vermag. Im Wahrnehmungszusammenhang religiöser Vernunft und vernünftiger Religion, welche nach Schelling das Christentum ausmacht, wird ein Zweifaches zugleich evident: Im Bestreben, die Konditionen ihrer eigenen Begründung zu entwickeln, gelangt die Vernunft – das beschränkte Seiende transzendierend – zur Idee des „ens necessarium“, die sie notwendig denken muss, um sich selbst in ihrem Grunde zu erfassen. Sich selbst ergründend muss die Vernunft den Gedanken des notwendigerweise Existierenden mit Notwendigkeit denken. Das ist das Gesetz der Vernunft, das nach Schelling zugleich gebietet, die Existenz des „ens necessarium“ als unabhängig von ihrem Gedachtwerden und nicht lediglich als Begriffsimplikat zu denken. Ist die Existenz des notwendigerweise Existierenden als unabhängig von seinem Gedachtwerden zu denken, dann bleibt die Vernunft, um sich selbst zu ergründen, auf eine unvordenkliche Erfahrung der Existenz des „ens necessarium“ angewiesen, in der sich die Wirklichkeit des notwendigen Wesens als absolute Realität in der Einheit von Denken und Sein erschließt. Dieses Erschließungsgeschehen nennt Schelling Offenbarung, deren unvordenkliche Faktizität als die Wirklichkeit des absoluten Grundes nur religiös zu rezipieren ist. Im religiösen Offenbarungsverhältnis wird manifest, dass die Vernunft über die Bedingungen ihrer eigenen Begründung nicht verfügt, aber auch nicht verfügen muss, da sie in ebenso unvordenklicher wie unausdenklicher Weise erfüllt sind. Die Vernunft kann sich damit zu ihrer Begründungsaporie bekennen, ohne in den Zwang zu geraten, sie durch unmittelbare Selbstbestimmung lösen zu wollen. Denn eben dieser Versuch, sich mit dem grundlosen Schein der Selbstverständlichkeit zu versehen, müsste die Vernunft in ihr vernunftwidriges Gegenteil verkehren und zwangsläufig in den Abgrund führen, dessen Bodenlosigkeit die Sünde des „peccatum originale“ verfällt. Jenem Abgrund, dem sie in selbstzersetzender Weise durch den Versuch ihrer unmittelbaren Selbstbegründung zu verfallen droht und tatsächlich verfällt, wird die Vernunft dadurch entzogen, dass ihr in der Offenbarung ihr Grund als ein absolut gegebener erschlossen wird. Die Unvordenklichkeit des Grundes der Vernunft macht also nicht etwa deren Verwirklichung unmöglich, sondern ist im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstrealisierung.

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Für die systematische Relationierung negativer und positiver Philosophie bedeutet dies, dass letztere die notwendige Beziehung ihrer selbst zu ersterer impliziert und damit den Zusammenhang von negativer und positiver Philosophie in ihrer begrifflich nicht synthetisierbaren Differenz realisiert. Im religiösen Offenbarungsverhältnis weiß die Vernunft, dass sie ihre eigene Begründung nicht selbst durchführen kann, und ist doch zugleich ihres absoluten Grundes gewiss. Auf diese zweifach-eine Gewissheit seiender Vernunft und vernünftigen Seins ist der metaphysische Empirismus der Schelling’schen Spätphilosophie ausgerichtet. Eine vergleichbare Ausrichtung findet sich, wie gesagt, auch schon in der Philosophie des Spekulativer Theismus späteren Fichte, und sie lässt sich sodann fernerhin in der Ontotheologie des Fichtesohnes Immanuel Hermann (1796– 1879) aufzeigen oder etwa bei H.C. Weiße (1801–1866), um nur noch diesen zu nennen. Auch die sog. spekulativen Theisten bestreiten, dass das Dass des Seins begrifflich genetisiert und in reines Denken aufgehoben werden kann. Insofern lassen sie sich, wie der späte Schelling, als Nachidealisten klassifizieren. Indes bleibt ihr Seinsdenken idealistisch vermittelt, insofern für ihr Verständnis von Realität deren Erschlossenheit für Verstehen konstitutiv ist. Von einer subjektlosen Objektivität kann unter diesen Voraussetzungen nicht die Rede sein. Es wird im Gegenteil entschieden betont, dass der Für-Bezug der Wirklichkeit des Realen selbst unveräußerlich hinzugehört, sodass dessen Realität nur in der differenzierten Einheit von Subjektivität und Objektivität angemessen erfasst werden kann. Zur Realität gehört demzufolge nicht nur die Phänomenwelt des Objektiven, welche dem Subjekt erscheint, sondern das Subjekt selbst und die Sphäre seiner Subjektivität, die ohne intersubjektive Bezüge und ohne Bezug auf Gott als den absoluten Grund von Selbst und Welt realiter nicht zu verstehen ist. Erweisen sich die genannten Nachidealisten somit erkenntlich als Erben des Idealismus, so wird der weitere Gang der postidealistischen Entwicklung weniger von ihnen und ihrem Wirklichkeitsverständnis, als vielmehr von einem Realismus der Sachlichkeit bestimmt, welcher den Idealismus nicht mehr durch kritische Überbietung zu vollenden gedenkt, sondern für erledigt zu erklären sich anschickt. Vertreten wurde der Sachlichkeitsrealismus in der Regel nicht im Sinne eines strikten Materialismus, der Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu bloßen Epiphänomenen des Seins herabsetzt und dessen monistische Tendenz auch dem erklärten Antimetaphysizismus noch ein metaphysisches Ansehen verleiht. Bestimmend ist für die realistische Sachlichkeit vielmehr ein sensualistischer Empirismus geworden, dem das sinnlich Erfahrbare und zuletzt nur dieses als wirklich gilt. Mit einem metaphysischen Empirismus, wie ihn Schellings positive Philosophie vertrat, hat solch dem bloß Ontischen verhafteter Positivismus des Sinnlich-Gegebenen kaum etwas zu tun. Sein Entstehen ist im Wesentlichen durch philosophieexterne Faktoren induziert. Soziokulturell geurteilt ist der Siegeszug eines positivistischen Realismus der Sachlichkeit aufs Engste verbunden mit der Industriellen Revolution in Deutsch-

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land, zu deren Implikationen und Folgen er gehört. Er geht einher mit einem elementaren Funktionswandel der Wissenschaft überhaupt. Die Philosophie verliert ihr wissenschaftliches Definitionsmonopol, und ihr Anspruch, eine Enzyklopädie der Wissenschaften leisten zu können, wird mehr und mehr als unwissenschaftlich abgetan. Die Wissenschaft verwissenschaftlicht sich, will heißen: sie hebt sich fortschreitend von anderen sozialen Funktionssystemen ab, um sich zugleich selbst immer stärker auszudifferenzieren. War das Humboldt’sche Wissenschafts- und Universitätskonzept bewusst und mit Emphase auf Allgemeinbildung bezogen, so tritt nun eine wissenschaftliche Spezialisierung ein, die nicht den Universalgelehrten, sondern den Fachmann verlangt. Der Fachmann wird zum Prototyp des Wissenschaftlers, dessen Forschungen ebenso zielgerichtet wie wertfrei durchgeführt werden müssen. Der methodisch streng rationalisierten Forschung entspricht eine Lehre, die nicht primär auf Persönlichkeitsbildung, sondern auf Vermittlung instrumentellen Wissens und technischer Fertigkeiten angelegt ist. Die Diversifikation der Wissenschaften kommt vor allem den sog. Naturwissenschaften zugute, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts neben den klassischen Fakultäten der Theologie, Medizin, Jurisprudenz und Philosophie etablieren und progressiv von diesen emanzipieren und spezialisieren. Die Naturphilosophie tritt in den Hintergrund, um einer empirischen und experimentorientierten Wissenschaft der Natur Platz zu machen, die nicht Metaphysik, sondern Physik oder eine vergleichbare Disziplin von klar geregelter Methodik sein will. Die Empirisierung der Wissenschaft hat nicht nur deren Dynamisierung zur Folge, die in kürzester Zeit enorme Rasanz annimmt, sondern auch ihren, wenn man so will, systematischen Abschied vom geschlossenen System, an dessen Stelle der offene Prozess von „trial and error“ tritt. Doch zeigen sich auch gegenläufige Tendenzen mit der Konsequenz, dass die Wissenschaft nun selbst die Rolle der Philosophie, von deren Vorherrschaft sie sich soeben emanzipierte, zu übernehmen bestrebt ist, um die Form eines prinzipiellen Szientismus, eines Biologismus oder Psychologismus anzunehmen. Solcher Selbstideologisierung der Naturwissenschaften, der ein verbreiteter Vulgärmaterialismus entgegenkam, konnte von einer an ihrer klassischen Tradition orientierten Philosophie am ehesten durch Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik begegnet werden. Tatsächlich setzt mit dem beginnenden Siegeszug von Empirismus, Positivismus und Szientismus um die Jahrhundertmitte auch eine philosophische Rehabilitierung transzendentaler Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis ein, die häufig unter der Devise „Zurück zu Kant“ angegangen wurde. Vom Rekurs auf Kant versprach man sich indes Neokantianismus und keineswegs nur und auch nicht in erster Linie Historismus wissenschaftstheoretische Hilfeleistungen gnoseologischer Art, sondern mehr noch geisteswissenschaftliche Rettung aus dem Würgegriff der Naturwissenschaften durch die Differenzierung von Sein und SolPostidealistischer Realismus

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len, Faktizität und Geltung. Was Hegel als ein Indiz für die Entzweiung des Geistes einer Zeit deutete, galt nun eher als Vorteil. Die systematischen Gesamtdarstellungen der Wirklichkeit im Sinne des Deutschen Idealismus sind nicht zuletzt wegen der beschleunigten Spezialisierung des Wissens obsolet geworden. Insofern gilt es zu unterscheiden zwischen Wissenschaften, die es mit der Seinswelt des Faktischen zu tun haben, und solchen, welche von der Welt der Werte handeln, die Geltung beanspruchen und weltanschaulichen Sinn vermitteln. Um die defizitäre Lebensbedeutung von faktischem Sein zu kompensieren und um angesichts der sinnlichen Wirklichkeit, wie sie sich empirisch darbietet, nicht metaphysischer Sinnlosigkeit zu verfallen, bedarf es, wie man gerne sagt, der Werte und einer Geltung beanspruchenden Weltanschauung. Für die Theologie der Zeit ist insbesondere die werteethische Umdeutung des Idealismus durch Männer wie Hermann Lotze (1817–1881) einflussreich geworden, worauf unter Bezug auf Ritschl und seine Schule sogleich näher einzugehen sein wird. Theologiegeschichtlich noch stärkeren Einfluss hat daneben und im Zusammenhang damit der sog. Historismus gewonnen, der als die signifikanteste Erscheinung in der Geisteswissenschaft des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts ebenfalls einer gesonderten Behandlung bedarf und daher hier nur mit einigen Bemerkungen zu versehen ist. Neokantianismus und Historismus – nicht selten in Personalunion verbunden – teilen sowohl die Skepsis gegenüber den Großsystemen des Deutschen Idealismus als auch den Anspruch auf Freiheit der Geisteswissenschaften von naturwissenschaftlicher Prädominanz. Was den Historismus anbelangt, so stellt er, insofern er die Geschichte von der Natur unterscheidet, eine Kultursphäre menschlichen Handelns, in der Freiheit am Werke ist, einer vom Gesetz durchwalteten Sphäre der Notwendigkeit gegenüber. Dabei relativiert er allerdings die in der Kulturgeschichte der Menschheit wirksame Freiheit, indem er sie historisch bedingt und eine Vollzugsform intersubjektiv und anderweitig mediatisierter Selbstbestimmung sein lässt. Unterminiert wird im Übrigen jeder ahistorische Anspruch zeitinvarianter Geltung, der durch den Aufweis geschichtlicher Genese von Weltanschauungen und durch deren konsequente Verzeitlichung und Historisierung elegant unterlaufen wird. Der Historismus ist dezidiert undogmatisch. Er will aposteriorische, empiriebezogene Geschichtswissenschaft und gerade nicht apriorische Geschichtsphilosophie sein, welche die Geschichte der Vernunft mit der Vernunft der Geschichte koinzidieren lässt. An die Stelle der unwandelbaren Menschenvernunft des Rationalismus bzw. an die Stelle der Entwicklungsgeschichte des Geistes tritt eine Weltanschauung, die das Bewusstsein nicht nur ihres Werdens, sondern auch ihres möglichen Vergehens in sich trägt, deren Subjekt mithin weder rein transzendentaler Natur, noch der zu reinem Wissen des Wissens sich erhebende absolute Geist ist, sondern ein endliches Selbstbewusstsein, sei dieses nun ein Individualsubjekt oder mit einer geschichtlichen Kollektivgröße zu assoziieren. Das historische Bewusstsein ist das über seine eigene Historizität und über die Geschichtlichkeit seiner Welt aufgeklärte Bewusstsein. Gibt es auch Formen der Historik, die nach

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Maßgabe naturwissenschaftlicher Methodik positivistisch äußere Geschichtsdaten in ihrem bloßen Gegebensein zu erheben suchen, so wird der fortgeschrittene Historismus doch bald schon gewahr, dass Geschichte nicht anders denn als Traditionsgeschichte, nämlich in der differenzierten Einheit von Faktizität und Deutung angemessen zu erfassen ist, um schließlich sich selbst als historisch vermittelt zu begreifen und das Bewusstein des Historischen mit dem Bewusstsein sogar seiner selbst als eines historischen zu verbinden. Wird das Bewusstsein des Historischen seiner eigenen Historizität gewahr, ergeben sich Probleme sowohl für den Begriff der Einheit der Geschichte als auch für die Identität einer sich selbst als geschichtlich begreifenden Vernunft. Dieser Probleme sich anzunehmen und ein vernünftiges Selbstverständnis und intersubjektive Verständigung der Geschichte zu ermöglichen, ist Aufgabe der Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens im Allgemeinen und des geschichtlichen Verstehens im Besonderen. Menschliches Verstehen, sagt die Hermeneutik in Übereinstimmung mit der Transzendentalphilosophie, setzt Bedingungen seiner Möglichkeit voraus. Aber anders als in der Transzendentalphilosophie eines Kants sind die Möglichkeitsbedingungen menschlichen Verstehens für die Hermeneutik selbst historischer Natur und geschichtlich vermittelt. Auch sie können daher nicht von der Geschichte ausgenommen werden. In Form der Hermeneutik, so könnte man sagen, reflektiert der Historismus im Interesse eines aufgeklärten Selbstverständnisses die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit und nimmt auf diese Weise transzendentale Gestalt an, jedoch so, dass er die Transzendentalphilosophie historisiert und die Voraussetzungen historischen Verstehens der Apriorität entnimmt, um sie aposteriorisch-historisch bestimmt sein zu lassen. Beschränkt man die Hermeneutik nicht auf bestimmte Auslegungs- und Verstehenstechniken, sondern wertet sie, wie seit Schleiermachers „Allgemeiner Hermeneutik“ der Fall, als Lehre vom Verstehen überhaupt, so darf als ihr transzendentaler Grundsatz die Devise gelten, dass nicht nur das geschichtliche, sondern zuletzt alles Verstehen unter der Bedingung von Geschichte steht. In diesem Fundamentalsatz vollendet sich der Krise des Historismus und Historismus, um zugleich sein Grundproblem zu Renaissance der Metaphysik offenbaren. Es besteht in der Einsicht, dass unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins nicht nur dessen Gegenstände, sondern zuletzt dieses selbst als eine relativ-relativistische Größe ohne dauerhaften Bestand erscheinen muss. Die Krise des Historismus ist ein Implikat dieser Entwicklung und liegt in deren Konsequenz, ohne äußerlich herangetragen zu sein. Die normative Kraft der Geschichte, welche zu verstehen nach Maßgabe des frühen Historismus die Bedingung der Möglichkeit individueller Selbstverständigung war, tendiert im Laufe seiner Entwicklung dazu, sich selbst zu verzehren mit einem entweder nihilistischen Ergebnis wie bei Friedrich Nietzsche (1844–1900) und ähnlich bei Jacob Burckhardt (1818–1897) oder mit einem Resultat, welches Geschichte dezisionistisch hinter sich lässt, um alles Weitere einem lebensphilosophischen Irrationalismus zu überlassen. Nachdem sie sich in Einzelgestalten wie Ar-

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thur Schopenhauer (1788–1860) lange schon angekündigt hatte, wird die Abkehr von der Geschichte um die Jahrhundertwende herum manifest, um in der antihistoristischen Revolution, von der noch zu reden sein wird, zum endgültigen Durchbruch zu gelangen. Die Philosophie reagierte auf die Krise des Historismus und den häufig als inhaltsleer empfundenen Formalismus neukantianischer Theoriebildungen mit einer Renaissance der Metaphysik und dem Wiedererwachen ontologischer Fragestellungen, die nicht auf wandelbare Erscheinungen, sondern auf ein Immerseiendes gerichtet sind, welches sie strukturiert und die Sachhaltigkeit ihrer Phänomenalität ausmacht. Edmund Husserls (1859–1938) Phänomenologie und sein schon von Franz Brentano (1838–1917) formuliertes Intentionalitätsprinzip sind für die nachkantische, aber ihrem Selbstverständnis nach nicht vorkritische, sondern auf die Erkenntnistheorie Kants reagierende, neoontologische Tradition besonders bestimmend geworden. Denken ist nie bloß apriorische Spontaneität, sondern stets auch rezeptiv auf das bezogen, was im Denken gedacht wird. Kurz: Es ist nie bloßes Denken, sondern stets Denken von etwas. Unter den Husserlschülern hat Martin Heidegger (1889–1976) diese Einsicht zu einer existentialen Ontologie der Geschichtlichkeit des Daseins ausgearbeitet. Dass auch sie in den Zusammenhang nicht des Historismus, sondern seiner Krise bzw. der antihistoristischen Reaktion auf sie gehört, wird zu zeigen sein.

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Lit.: E. Hirsch (wie II/1). – I. Kant (wie II/2). – W. Reich, Der Offenbarungsbegriff im Supranaturalismus. Eine überlieferungs- und wirkungsgeschichtliche Untersuchung, Theol. Diss., München (maschinenschriftl.) o.J. – A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Göttingen 1870, 21882, 3 1889. Bd. 2: Der biblische Stoff der Lehre, Göttingen 1874, 21882, 31889. Bd. 3: Positive Entwickelung der Lehre, Göttingen 1974, 21882, 31888 (nach der Drittauflage wird zitiert). – Ders., Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 1875, 21881, 31886 (Studienausgabe hg.v. Chr. Axt-Piscalar, Tübingen 2002). – O. Ritschl, Albrecht Ritschls Leben, Bd. 1: 1822–1864, Freiburg i.Br. 1892; Bd. 2: 1864–1889, Freiburg i.Br./Leipzig 1896. – F.G. Süskind (Hg.), D. Gottlob Christian Storr’s Bemerkungen über Kant’s philosophische Religionslehre. Aus dem Lateinischen. Nebst einigen Bemerkungen des Übersezers ueber den aus Principien der practischen Vernunft hergeleiteten Ueberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung in Beziehung auf Fichte’s Versuch einer Critik aller Offenbarung, Tübingen 1794 (= Storr) – Ders., Ueber die Möglichkeit der StrafenAufhebung oder der SündenVergebung, nach Principien der practischen Vernunft, in: Magazin für christliche Dogmatik und Moral, deren Geschichte, und Anwendung im Vortrag der Religion, hg.v. J.F. Flatt, Erstes Stük, Tübingen 1796, 1–67 (= Süskind). – J.H. Tieftrunk, Ist die Sündenvergebung ein Postulat der praktischen Vernunft? Beantwortet, nebst einem Anhange über die absolute Erwählung, in: Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre überhaupt und der verschiedenen Glaubensarten und Kirchen insbesondere, hg.v. C.F. Stäudlin, Bd. 3, Lübeck 1797, 112–201. – G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86.

Nach Kant ist Religion „(subjectiv betrachtet) ... Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (Akad. Ausg. VI, 153). Dabei hat diejenige Religion, „in welcher ich vorher wissen muß, daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“, als geoffenbarte, diejenige dagegen, „in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (Kant, Akad. Ausg. VI, 153f.), als natürliche Religion zu gelten. Auf diese Begriffsbestimmung, mit welcher Kant den Ersten Teil des Vierten Stücks (Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips oder von Religion und Pfaffentum) seiner Religionsschrift eröffnet, folgen sogleich jene drei Klassifikationen, „unter denen fortan zwei Menschenalter lang die verschiedenen Stellungen zur Offenbarungsfrage dargestellt werden sollten“ (Hirsch V, 6). Ein Rationalist in Glaubenssachen ist nach Kant derjenige zu nennen, der sich bloß Rationalismus und Supranaturalismus

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der natürlichen Religion, also dem vernünftigen Sittengesetz moralisch verpflichtet weiß; wenn nun der Rationalist generell die Wirklichkeit einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung leugnet, hat er Naturalist zu heißen; lässt er die Möglichkeit einer Offenbarung hingegen offen, ohne sie deshalb für notwendig zu erklären, ist er als reiner Rationalist zu bezeichnen. Es versteht sich von selbst, dass theologiegeschichtlich – sieht man einmal von Außenseitern wie Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792) ab – nur die zweite Spezies der Rationalisten einflussreich geworden ist. Ihr stehen die Supranaturalisten oder Supernaturalisten (wie sie in der Regel ursprünglich hießen) gegenüber, die eine göttliche Offenbarung nicht nur zulassen, sondern zur Möglichkeitsbedingung rechter Pflichterkenntnis erklären und sonach die natürliche auf die geoffenbarte Religion gründen. Die Differenz von Rationalismus und Supranaturalismus war durch diese Bestimmungen klar fixiert und inhaltlich typisiert. Wer immer das Begriffspaar als solches, d.h. in seiner standardisierten Dioskurengestalt aufgebracht haben mag, Tatsache ist, dass die Gegenüberstellung zweier Weltanschauungen dieses Namens erst Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts üblich wurde. Der bezeichnete sachliche Gegensatz reicht freilich in bestimmter Weise bis in die Neologie zurück und war bereits in den Spannungen der Aufklärungstheologie präsent, wie denn auch der Begriff Rationalismus für sich genommen lange vor Kant begegnet. Bekanntlich verwendet ihn bereits die Scholastik; um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert taucht er dann erstmals als Schlagwort orthodoxer Polemik gegen die aristotelischen Humanisten der Helmstedter Schule sowie gegen die sozinianischen und deistischen Verstandeskritiker des Dogmas auf. Diese polemische, auf Disqualifikation zielende Verwendung findet sich auch später noch häufig. Indes kann der Begriff im Laufe der Zeit auch zum Ehrennamen und zur Selbstbezeichnung einer theologischen Richtung avancieren, für die bei allen internen Unterschieden die Tendenz zu vernünftiger Prüfung kirchlicher Autorität und ihrer dogmatischen Vorschriften gemeinsam und charakteristisch ist. Anspruch auf allgemeine Akzeptanz und Verbindlichkeit können demnach nur jene Themenbestände christlicher Offenbarungsreligion erheben, die vernünftiger Subjektivität nicht äußerlich gegenübertreten, sondern sich in deren innere Selbstwahrnehmung überführen lassen. Auf seine Weise gliedert sich der theologische Rationalismus damit in jene große Emanzipationsbewegung ein, die für die neuzeitliche Moderne charakteristisch ist. Der sog. Supranaturalismus hingegen ist zunächst und vor allem Ausdruck der Reaktion auf diese Bewegung. Das zeigt bereits die vergleichsweise junge Geschichte des Begriffs: Nach bisherigen Forschungsergebnissen ist von Supranaturalismus im Sinne eines historiographischen Sammelbegriffs erstmals in den anonym erschienenen, wahrscheinlich auf J.K. Pfenninger (1747–1792) zurückgehenden „Sokratischen Unterhaltungen über das Älteste und Neueste aus der christlichen Welt“ aus den Jahren 1786–1789 die Rede, und zwar im Zusammenhang eines Referats zu einer – wohl dem Kantschüler Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) zuzuschreibenden – Abhandlung zur Geschichte der philosophischen Gotteslehre.

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Supranaturalisten werden darin diejenigen genannt, die mit den neologischen Rationalisten zwar die Erkennbarkeit des Daseins Gottes bejahen, im Unterschied zu diesen aber leugnen, dass die Vernunft ein zureichender Erkenntnisgrund des göttlichen Wesens sei, und infolgedessen die Offenbarung als übervernünftige Erkenntnisquelle einführen. Indes hatte diese Begriffsdefinition noch keine feste Gestalt, wie Pfenningers Reinholdkritik und die schließlich von diesem selbst verwendete Nomenklatur beweisen. Eine eindeutige und allgemein sich durchsetzende Begriffsbestimmung findet sich erst in der Religionsschrift Kants von 1793/94. Nun gewinnt auch der Gegensatz von Rationalismus und Supranaturalismus sein festes begriffliches und sachliches Profil. Einige Theologiegeschichtsschreiber haben dies zum Anlass genommen, das Begriffspaar Rationalismus und Supranaturalismus überhaupt erst in Bezug auf die nachkantische Ära zu verwenden. Das trifft z.B. für Emanuel Hirschs Periodeneinteilung zu, derzufolge „etwa mit den neunziger Jahren (sc. des 18. Jahrhunderts) das Zeitalter der Neologie ... in das des Gegensatzes des theologischen Rationalismus und Supranaturalismus“ übergeht (Hirsch V, 7; bei H. teilweise gesperrt). Aber auch diejenigen Historiographien, die von einem vorkantischen Gegensatz von Rationalismus und Supranaturalismus sprechen, räumen ein, dass dieser Gegensatz mit Kant in eine neue Phase getreten ist. Negativ bestand das Neue dieser Phase zweifellos im Sturz jener Autoritäten, auf welche sich Kritiker und Apologeten des Dogmas gleichermaßen berufen hatten. Eine natürliche Theologie im Sinne Christian Wolffs und der Popularphilosophie jedenfalls kann es gemäß Kant nicht länger geben, weil die Gottesidee für die theoretische Philosophie ein bloßes, wenngleich fehlerfreies Ideal darstellt. Mutete solche Selbstbeschränkung theoretischer Vernunft zunächst als ein theologisch eher negativer Befund an, so erschien sie nicht wenigen Theologen bei näherem Zusehen in einem sehr viel günstigeren Licht und als eine angesichts der Geisteslage der Zeit gänzlich unerwartete Möglichkeit, bereits neologisch zersetzt geglaubte Offenbarungswahrheiten unangefochten von Vernunfteinwänden zu restituieren. Namentlich die Supranaturalisten waren es, die meinten, sich die Kant’sche Erkenntniskritik auf diese Weise theologisch nutzbar machen zu können. Indes war dieser Versuch zu durchsichtig angelegt und zu offensichtlich gegen Kants eigene Intention gerichtet, als dass ihm dauerhafter Erfolg hätte beschieden sein können. Im Übrigen verlagerte sich im Sog der Kant’schen Entwicklung der Schwerpunkt auch der theologischen Auseinandersetzungen mehr und mehr in die Sphäre der praktischen Vernunft. Ob ein Rationalismus des Sittengesetzes theologisch vertretbar sei, lautete alsbald die eigentliche Streitfrage. Nun tendierte Kant selbst bekanntlich dazu, die Religion aus dem Begründungs- in den Realisierungszusammenhang praktischer Vernunft zu verweisen. Allerdings ist dieser Befund keineswegs so eindeutig, wie das üblicherweise behauptet wird. Denn nicht immer hat sich für Kant das Begründungsgefälle von der Moral zur Religion so eindeutig dargestellt wie in der Religionsschrift. Wie im Religionstraktat gezeigt, hatte Kant anfangs durchaus dem Gottesgedanken eine

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konstitutive Bedeutung für die Grundlegung der Ethik zuerkannt und den Realisierungszusammenhang der Moral so hoch veranschlagt, dass ihm fundamentale Bedeutung für die Verwirklichung der Sitte unter den Bedingungen der Sinnlichkeit zukam. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ und der „Kritik der Urteilskraft“ bereits wurden die Akzente im Interesse der Autarkie der Sittlichkeit anders gesetzt, bis schließlich in der Vorrede der Religionsschrift erklärt wird, dass die Moral gänzlich autonom und weder zum Wollen noch letztlich auch zum Vollbringen der Gottesidee bzw. der Religion als Triebfeder bedürfe. Der theologische Supranaturalismus, den man gewöhnlich in eine norddeutsche Gruppe, der Storrs Annotationes F.V. Reinhard (1753–1812), G.Chr. Knapp (1753–1825), K.Chr. Tittmann (1744–1820) samt seinem Sohn Johann August Heinrich (1773–1831), J.F. Kleuker (1749–1827) und E. Sartorius (1797–1859) zugerechnet werden, und die um Gottlob Christian Storr (1746–1805) versammelte Tübinger Schule unterteilt, mochte an dieser Entwicklung bei aller sonstigen Verehrung für Kant keinen Gefallen finden. Noch im Erscheinungsjahr der Kant’schen Religionsphilosophie veröffentlichte der seinerzeit berühmte und unter den jungen Stiftsgeistern berüchtigte Storr in Tübingen seine „Annotationes quaedam theologicae ad philosophicam Kantii de religione doctrinam“, die im Jahr darauf, 1794, von seinem Schüler F.G. Süskind (1767–1829) ins Deutsche übersetzt und, wie es im Untertitel hieß, mit einigen Bemerkungen über den aus Prinzipien der praktischen Vernunft hergeleiteten Überzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung in Beziehung auf Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung versehen wurden. Dass Kant die „Annotationes“ in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift ausdrücklich begrüßte und den „gewohnten Scharfsinn“ ihres Verfassers belobigte, will zunächst nicht viel heißen, zumal da sich die folgende Bemerkung, eine Entgegnung sei in Anbetracht der Beschwerden, „die das Alter vornehmlich der Bearbeitung abstracter Ideen entgegen setzt“ (Akad. Ausg. VI, 13), wohl kaum mehr zu erwarten, wenn nicht als höhnische Abfuhr, so doch als Signal mangelnden Interesses zu verstehen gibt. Tatsächlich scheint Storrs Schrift mit konstruktivem philosophischem Geist wenig gemein zu haben. „In einer minutiösen Kleinarbeit nach dem Vorbild der dictaprobantia-Methode ... zieht Storr Grenzaussagen aus Kants Kritik der praktischen Vernunft, seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und v(or) a(llem) seiner Religionsphilosophie heran, um die Vereinbarkeit des biblisch begründeten Offenbarungsglaubens mit der kritischen Philosophie Kants als des Exponente(n) der Aufklärung darzutun.“ (Reich, 105) Die Schrift, deren historische Wahrheit weithin noch pauschal vorausgesetzt wird, vermittle allgemeingültige Belehrung über die göttlichen Dinge und ermögliche somit eine übernatürliche Erweiterung der von Kant zu Recht als beschränkt gedachten menschlichen Erkenntnis. Die Möglichkeit solcher Erkenntniserweiterung könne nicht generell bestritten werden, da es unstatthaft sei, von der menschlichen Unfähigkeit, transzendente Wirklichkeiten zu erkennen, auf deren ontisch-ontologische Irrealität zu schließen.

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Storr versucht also unter Berufung auf Kant offensichtlich jenen metaphysischen Realismus wiederzubeleben, den zu bekämpfen jener sich vorgenommen hatte. Angesichts solcher Ungereimtheiten verwundert das Ausbleiben einer Antwort des Philosophen nicht. Dennoch würde es sich lohnen, bei Storrs Auseinandersetzung mit Kant länger zu verweilen. Sowenig er nämlich Kant ein überzeugendes konstruktives System entgegensetzen konnte, so sehr entwickelte er doch ein Gespür dafür, seine Einwendungen zielsicher dort anzusetzen, wo entscheidende interne Spannungen in Kants Theorie vorliegen. Wenngleich das Sittengesetz, sagt Storr, der Begründung durch faktische Vorgaben nicht bedarf, muss doch faktische Realität notwendig aus ihm hervorgehen. Eine Sittlichkeit, die sich durch die rigide Negation physischrealen Glücks konstituieren wollte, brächte den Menschen in einen permanenten Widerspruch zu sich selbst und verewigte das unglückliche Bewusstsein. Wenn also „der Mensch unvermeidlich genöthigt ist, zu allem seinem Thun und Lassen im ganzen genommen einen Endzwek zu denken, und eigene Glükseligkeit der subjektive Endzwek vernünftiger Weltwesen, oder die nothwendige Materie ihres Wollens ist: so kann dieser nothwendige Endzwek nicht zweifelhaft gemacht oder geläugnet werden, ohne die Achtung gegen das moralische Gesez selbst zu schwächen oder gar aufzuheben“ (Storr, 34f.). Indem Storr Kant gleichsam gegen die Tendenz von dessen Entwicklung auslegt und dezidiert in der Perspektive empirischer Subjektivität gelesen hat, hat gerade er, der Supranaturalist, einen wesentlichen Aspekt des aufklärerischen Erbes unter kantischen Bedingungen zu bewahren versucht. Er hat das als entschiedener Verteidiger der Religion getan, im Bewusstsein nämlich, dass dort, wo die Religion zu einem notfalls entbehrlichen Anhängsel der Moral erklärt wird, auch die Belange des individuellen Menschen verabschiedet werden zugunsten einer Subjektivität, die sich als für die Interessen der einzelnen Subjekte nicht mehr aufgeschlossen erweist. Die Religion, welche die Sittlichkeit auf Gott, den Urheber des Gesetzes und den Herrn der Natur verweist, will damit die Moral nicht einer Fremdbestimmung unterwerfen, sie tritt vielmehr für ihre wahre Realisationsgestalt ein, indem sie dafür Sorge trägt, dass der Fortgang der Moral die individuelle Einzelheit nicht übergeht. Diese wenigen Bemerkungen müssen genügen, um deutlich zu machen, dass es sich bei dem Storr’schen Konzept nicht um eine bloße Repristination vorkritischer Orthodoxie, sondern um den zumindest im Ansatz durchaus ernst zu nehmenden Versuch der Neubegründung der Offenbarungstheologie unter Bezug auf die Erkenntnisse neuzeitlicher Philosophie handelt. Wird unter Supranaturalismus, wie dies durch Geschichte und ursprüngliche Verwendungsweise des Begriffs zumindest nahegelegt ist, eine bestimmte, namentlich durch Kant geprägte und historisch klar identifizierbare theologiegeschichtliche Größe verstanden, wird man ihm gegenüber mit Pauschalurteilen zurückhaltend sein müssen. Man besaß unter den historischen Supranaturalisten keineswegs ein von vornherein zurückgebliebenes Problembewusstsein, wie das immer dann unterstellt wird, wenn der Begriff Supranaturalismus abstrakt gefasst und seinem geschichtlichen Kontext entnommen

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wird. Nicht hinter die Aufklärung zurück, sondern über sie hinaus wollten sich die Supranaturalisten durch Kant führen lassen. Von daher erscheint denn auch, wie Kant selbst ausdrücklich bemerkte, die Differenz zwischen Rationalismus und Supranaturalismus historisch betrachtet als relativ; beide stellen bei aller gegebenen Unterschiedenheit durchaus einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang dar, dessen innere Einheit durch ein intensives gedankliches Ringen um die rechte Verhältnisbestimmung von Religion und Moral bestimmt war. Dabei begegnet auch auf Seiten der theologischen Rationalisten durchaus das Bewusstsein, dass ohne Glauben an Gott und die Wirklichkeit seiner Offenbarung die letztendliche Übereinstimmung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit zweifelhaft werden und die Moralität zwangsläufig in eine Krise geraten muss. Auch im rationalistischen Lager finden sich daher ansatzweise Versuche, die Unerlässlichkeit der Religion und die Bedeutung der Offenbarungsthematik nicht nur für die Realisierung, sondern schon für die Begründung einer kultivierten Moral und einer moralischen Kultur zu erweisen. Dabei ist es das elementare Interesse an dem Zusammenhang transzendentaler und empirischer Subjektivität und an dem in ihrem Verhältnis unveräußerlich mitgesetzten Sinnlichkeitsbezug, ohne welchen real existierende Subjekte nicht denkbar sind und die Rede von transzendentaler Subjektivität zur bloßen Abstraktion werden muss, welches das bewegende Motiv supranaturalistischer, aber auch rationalistischer Religionstheorie bildet. Man wird dieses Motiv nicht vorschnell unter den Verdacht eines unstatthaften und tendenziell unmoralischen, weil nicht ausschließlich sittlichkeitsmotivierten Sinnlichkeitsstrebens stellen dürfen. Denn die Rücksicht auf empirische Subjektivität und ihre Belange kann mit guten Gründen den Anspruch erheben, selbst sittlichkeitsgeboten und den Forderungen einer Moral überlegen zu sein, die gegenüber den Belangen empirischer Subjektivität rücksichtslos ist. Einen exemplarischen Beleg hierfür mag die signifikante Kontroverse zwischen dem Supranaturalisten Süskind und dem gewöhnlich den Rationalisten zugerechneten Johann Heinrich Tieftrunk (1759–1837) um das moralisch-religiöse Problem der Sündenvergebung bieten, die nicht nur in eine Zentralthematik reformatorischer Theologie hineinführt, sondern zugleich zeigt, dass die Lager der theologischen Kantrezipienten beider Schulen nicht allzu weit voneinander entfernt waren. Friedrich Gottlieb Süskind, bereits erwähnter Süskind über SündenverSchüler Storrs und Übersetzer von dessen „Angebung notationes“, veröffentlichte 1796 als Eröffnungsartikel der ersten Nummer des „Magazin(s) für christliche Dogmatik und Moral“, des wichtigsten Organs des Tübinger Supranaturalismus, das zunächst von Johann Friedrich Flatt (1759–1821), ebenfalls einem Storr-Schüler, später von Süskind selbst herausgegeben wurde, eine Abhandlung „Ueber die Möglichkeit der StrafenAufhebung oder der SündenVergebung nach Principien der practischen Vernunft“. Dabei weist der Titelzusatz bereits darauf hin, dass in der Untersuchung die Vernunft zunächst allein sich selbst überlassen und von allen Belehrungen durch Offenbarung abstrahiert werden soll. Es frage sich also zunächst, welchen Begriff

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der Strafe die reine praktische Vernunft aufstelle. Entschieden bekennt sich der Supranaturalist Süskind zum System des sog. moralischen Rationalismus, nach welchem Moralität ohne alle Rücksicht auf angenehme Folgen an sich unbedingten Wert habe und der Anteil an Glückseligkeit als in einem genauen Proportionsverhältnis zur Sittlichkeit gedacht werden müsse. Entsprechend sei die Strafe als Zweck an sich selbst zu bestimmen mit der Konsequenz, dass letztendlich dem Moralisch-Bösen mit sittlicher Notwendigkeit das äquivalente physische Übel zu korrespondieren habe. Den neologischen Spielarten des sog. moralischen Empirismus, in welchem Strafe nur als Mittel zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck Geltung habe, sei deshalb der Abschied zu geben und zwar selbst dann, wenn die Strafe ausschließlich in den Dienst der Besserung gestellt werde. Denn der „moralische Empirismus“ intendiere auch in seinen verfeinerten Formen Besserung nicht um der Idee des Guten willen, sondern als letztlich bloß äußerliches Beförderungsmittel der Glückseligkeit. Die Sittlichkeit aber lasse es nicht zu, auf die Perspektive empirischer Subjektivität restringiert zu werden. Aus diesen Prämissen folgert Süskind, dass aus den Anforderungen des Sittengesetzes weder die Notwendigkeit noch die Wirklichkeit von Sündenvergebung und Strafaufhebung apriorisch zu erheben sei. Bleibt die Frage, ob sich nicht wenigstens deren Möglichkeit erweisen und zeigen lasse, dass es dem moralischen Endzweck der Welt jedenfalls nicht widerspricht, wenn Sünder unter der Bedingung ihrer Besserung von Schuld und verdienter Strafe losgesprochen und von Gott zur Seligkeit zugelassen werden. Um diese Frage zu beantworten, ist es nach Süskind nötig, sich einen klaren Begriff vom Endzweck der Welt zu verschaffen. Dabei lautet die entscheidende Bestimmung wie folgt: „Nicht Unsittlichkeit und Unglükseligkeit in Harmonie, sondern Sittlichkeit und Glükseligkeit in Harmonie ist das höchste Gut; nicht jene, sondern diese ist der moralische Endzwek, welcher durch das Sittengesez à priori allen vernünftigen Wesen zu realisiren vorgeschrieben ist.“ (Süskind, 35f.) Auch die Vollziehung von Strafen habe sich an der Verwirklichung jenes höchsten Endzwecks auszurichten. So stehe zwar der Zweck der strafenden Gerechtigkeit, der Unsittlichkeit die ihr proportionale Unglückseligkeit zuzuweisen, an sich fest, er müsse aber für den Fall, dass er der Idee des höchsten Gutes, also der Idee einer schließlichen Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit widerstreite, hinter dieser zurückstehen. Wenn sich demnach „erweisen liesse, daß in der moralischen Welt, in welcher das höchste Gut realisirt werden soll, dieses höchste Gut vollständiger realisirt, d.h. ein grösseres Maas sittlicher Vollkommenheit und proportionirter Glükseligkeit der vernünftigen Wesen durch Aufhebung der Strafen unter der Bedingung der Besserung, als durch wirkliche Vollziehung derselben auch an den gebesserten, befördert werden würde; so wäre die Vernunft berechtigt, die Aufhebung der Strafen, als ein practisches Postulat, wirklich anzunehmen“ (Süskind, 40f.). Nun kann nach Süskind dieser Beweis zwar nicht dogmatisch, d.h. nach Prinzipien der bloßen Vernunft geführt werden, da der endliche Mensch nicht fähig sei, einen absoluten Begriff moralischer Wirklichkeit zu entwickeln; gleichwohl lasse es

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sich „doch als möglich denken, (problematisch annehmen), daß Sittlichkeit und proportionirte Glükseligkeit der vernünftigen Wesen in einem grösseren Maase durch, als ohne Aufhebung der Strafen befördert, d.h. das höchste Gut vollständiger durch – als ohne dieselbe realisirt werden könne“ (Süskind, 43). Die Möglichkeit dieses Gedankens werde durch psychologische Erwägungen unterstützt. Denn dem konsequent denkenden Menschen werde durch die Aussicht auf Straffreiheit der Fortschritt der Besserung wenn auch nicht erst ermöglicht, so doch sehr erleichtert. Könne deshalb die Möglichkeit der Strafaufhebung vernünftigerweise nicht bestritten werden, so sei damit „zwar sehr wenig, aber doch gerade so viel erwiesen, als wir nöthig haben. Denn damit ist wenigstens so viel gewonnen, daß, wenn nun eine als göttlich beglaubigte Offenbarung uns erklärte, die Gottheit wolle wirklich denjenigen, welche sich bessern, die Strafen ihrer Vergehungen erlassen, die Vernunft keine gegründete Einwendung dagegen machen könnte“ (Süskind, 48). Dass eine derart „authentische Erklärung der Gottheit in einer hinlänglich beglaubigten Offenbarung“ (ebd.) tatsächlich vorliege, hat Süskind in einer seiner Prinzipienabhandlungen hinterhergeschickten exegetischen Untersuchung „Ist unter der Sündenvergebung, welche das N.T. verspricht, Aufhebung der Strafen zu verstehen?“ ein Jahr später (1797) im Detail zu erweisen versucht. Noch im selben Jahr wurden seine prinzipiellen Voraussetzungen, die den exegetischen Untersuchungen ihre theologische Relevanz sichern und das Feld bereiten sollten, allerdings schon energisch in Zweifel gezogen. J.H. Tieftrunk, einer der treuesten Schüler Tieftrunk über SündenKants und von diesem nicht umsonst zum Nach- vergebung lassverwalter bestellt, veröffentlichte um 1797 die Abhandlung „Ist die Sündenvergebung ein Postulat der praktischen Vernunft?“ Zielsicher setzt er seine Kritik am „punctum saliens“ der Auffassung Süskinds an. Es sei gar nicht einzusehen, „wie ein problematischer Gedanke, dessen reelle Möglichkeit und Unmöglichkeit gleich unerweislich ist, schon so viel leiste, als wir nöthig haben“ (Tieftrunk, 130). Die Vernunft dürfe sich niemals bei einem Unentschieden beruhigen, wolle sie sich nicht ihrer Entscheidungs- und damit Handlungsfähigkeit begeben. Ebensowenig könne sie sich Lösungen von einer ihr äußerlichen Instanz vorgeben lassen. Wenn Süskind deshalb die Lücke in der praktischen Philosophie durch Offenbarung ergänze, sei das ein Surrogat, das über die Aporetik seines Systems nur oberflächlich hinwegtäusche. Wäre nämlich „ein Satz durch die blosse Vernunft auch bloß problematisch, so würde er durch die Offenbarung nie assertorisch werden; denn um dies zu werden, müßte gezeigt werden, daß der Inhalt des Satzes mit dem praktischen Gesetze durch den blossen Begriff, mithin nothwendiger Weise zusammenhänge; ein Erforderniß, worauf die Offenbarung wohl leiten, es selbst aber nicht ergänzen kann“ (Tieftrunk, 132f.). Wolle man also weiterhin sinnvoll von Sündenvergebung sprechen, müsse man deren Sinn und praktische Notwendigkeit aus dem Sittengesetz selbst herleiten, aus welchem heraus die Moralität von Schulderlass und etwaiger Strafaufhebung allein zu begründen sei.

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Den entscheidenden „Wink der Entsündigung“ (Tieftrunk, 140), den das Sittengesetz nach Tieftrunks Urteil in sich enthält, findet er in der moralisch geforderten Tatsache, dass die Selbsttätigkeit empirischer Subjektivität dessen unverzichtbares Realisierungsprinzip sei. Das Sittengesetz nimmt empirische Subjekte in unveräußerlicher Weise in Anspruch, um sich durch sie zu realisieren. Daraus folgt nach Tieftrunk mit Notwendigkeit, dass der Endzweck des Sittengesetzes als „das durch die Form der allgemeinen Gesetzlichkeit mit sich selbst übereinstimmende Wollen des Subiekts“ (Tieftrunk, 142) zu bestimmen ist. Dabei ist mit dem Begriff des Zwecks keine äußerliche Größe an das Gesetz herangetragen; vielmehr gilt, dass in der Zweckvorstellung das Gesetz sich selbst Zweck, der Endzweck mithin durch das Gesetz selbst bestimmt ist. Wenn also überhaupt zwischen dem Gesetz und seinem Zweck unterschieden wird, ist das allein Sache der Eingeschränktheit menschlicher Natur und der Diskursivität und Sukzessivität endlicher Gedankenbestimmungen. An sich selbst betrachtet ist das Gesetz hingegen die Einheit seiner selbst und seines Zweckes; Begriff (Möglichkeit) und Wirklichkeit desselben sind mithin als einziger Zusammenhang zu denken, wobei die Einheit dieses Zusammenhangs wohlgemerkt nicht in einem dritten, sondern im Gesetz selbst begründet ist. Der Zweck des Gesetzes ist somit allein dessen vollzogene Selbstentfaltung, die objektive Realität des Gesetzes nichts anderes als die Ausdifferenzierung der in ihm begründeten Möglichkeiten. Wird also Glückseligkeit als der reale Zweck des Gesetzes bestimmt, so ist unter ihr einzig die sich selbst verwirklichende Sittlichkeit, eben das durch die Form der allgemeinen Gesetzlichkeit mit sich selbst übereinstimmende Wollen des Subjekts zu verstehen. Sosehr also der Zweck des Gesetzes in der Form der Sittlichkeit seinen einzigen und unbedingten Bestimmungsgrund hat, so dass er niemals bloß materiell, d.h. „ungeformt“ vorgestellt werden darf, sowenig darf andererseits die Form des Gesetzes als differenzlose und leere Identität bestimmt werden. Sie ist vielmehr als in sich differenzierte Form, also, wenn man so will, als Einheit von Form und Geformtem, Form und Zweck, Grund und Folge, Begriff (Möglichkeit) und Wirklichkeit zu denken. Das heißt aber zugleich: Die Allgemeinheit des Sittengesetzes muss sich aufgeschlossen erweisen für seine Realisierung im Besonderen. Genau dies spricht Tieftrunk aus, wenn er feststellt, „daß ... das Gesetz nicht ohne das Dasein der Subiekte Gesetz sein kann“ (Tieftrunk, 146). Er beruft sich an späterer Stelle auf den kategorischen Imperativ selbst, um zu zeigen, dass die Idee des Gesetzes eben in jener Aufgeschlossenheit des Einzelnen für das Allgemeine und des Allgemeinen für das Einzelne besteht. Das Sittengesetz wäre als eine Abstraktion zu betrachten, würde es sich leibhaften Subjekten unvermittelt alternativ entgegensetzen. Es ist äußerst bemerkenswert und geistesgeschichtlich nicht unbedeutsam, dass Tieftrunk in diesem Zusammenhang den Gedanken der Liebe aufgreift, um seine Auffassung zu verdeutlichen. Ihrer Wichtigkeit wegen sei die grundlegende Passage vollständig wiedergegeben: „Das Sittengesetz ist ... zunächst für Subiekte, deren Wille demselben nicht ursprünglich angemessen ist, ein Gegenstand der Achtung.

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Aber in der Reflexion über ihr Verhältniß zu diesem Gesetze entdecken sie auch, daß es Gesetz ihrer Persönlichkeit ist, und der Werth ihres Selbst gänzlich durch die Angemessenheit zu demselben bestimmt wird; indem sie nur in so fern Personen sind, als sie sich das Gesetz zum Gesetze machen, und ihre Persönlichkeit in dem Maasse verwirken, als sie von dem Gesetze abweichen. Da nun die Beobachtung des Gesetzes um sein selbst willen Zufriedenheit der Person mit sich selbst zur Folge hat, so gründet es in dem Subiekte ein Erkenntniß (Begriff und Gefühl), daß seine Zufriedenheit von dem Gesetze abhängig sei; denn es erkennt, daß die Zufriedenheit mit sich selbst als einer Person ohne das Dasein eines solchen Gesetzes gar nicht möglich wäre. Dies Gefühl der Abhängigkeit der Zufriedenheit mit sich selbst von dem Dasein des Gesetzes ist nun Liebe des Gesetzes, eine Affection, deren Grund und Obiekt lediglich im Gesetze liegt, denn das Gesetz bringt sie hervor, und des Gesetzes Erfüllung ist ihr Zweck. Dabei hat diese Affection das Eigenthümliche, daß sie durch Freiheit hervorgebracht wird, und in der Natur des Subiekts dazu weiter nichts als die Empfänglichkeit vorausgesetzt wird.“ (Tieftrunk, 148f.) Wenngleich Tieftrunk des Weiteren betont, dass er den Liebesbegriff nur symbolisch gebraucht, tut das der gewonnenen Einsicht keinen Abbruch. Denn das Begriffspaar Achtung und Liebe bezeichnet hinreichend deutlich den entscheidenden Unterschied im Gesetzesverständnis, auf den es ankommt. Für beide, für die Achtung vor dem Gesetz wie die Liebe zu ihm, gilt zunächst gleichermaßen, dass sie nicht in sich, sondern in dem gründen, worauf sie sich richten. Beide Verhaltensweisen kommen also darin überein, dass sie im Gesetz und einzig in ihm ihre Identität finden. Während aber im einen Fall eine Einheit beschrieben ist, in welcher das Moment der Verschiedenheit tendenziell sich verflüchtigt, bleibt es im anderen Fall entschieden gewahrt. Ist die Liebe vom Bewusstsein getragen, sich nach vollzogener Hingabe im Anderen wiederzufinden und so zu sich selbst zu gelangen, schließt die Achtung die Möglichkeit des Verlustes von Selbständigkeit nicht aus. Es ist etwas anderes, ob man mit Tieftrunk die Liebe des Gesetzes zum höchsten Ziel der Moralität erklärt oder das Gesetz als strenge Erhabenheit vorstellt, der sich moralisch zu nähern nur mit Furcht und Zittern möglich ist, da sich dessen rigorose Allgemeinheit in abstrakter Negation aller Besonderheit durchzusetzen vermag. Geliebt werden kann das Gesetz nur, wenn es nicht nur als Forderung begegnet, der bedingungslos zu entsprechen ist, sondern wenn es sich in seiner Unbedingtheit an sich selbst als aufgeschlossen erweist für die Belange empirischer Subjektivität, deren Selbstakzeptanz zwar nicht unmittelbar von leibhafter Weltbeziehung abhängig ist, aber ohne sinnlichen Weltbezug und das grundsätzliche Recht diesbezüglicher Glückserwartung ebensowenig zu denken ist. Obwohl er keinen Zweifel daran aufkommen lässt, „daß man in der Erweisung irgend eines Postulats der praktischen Vernunft nie von der Idee der Glückseligkeit ausgehen könne“ (Tieftrunk, 145), hat Tieftrunk mit der Idee der Liebe des Gesetzes den Standpunkt Kants auf seine Weise fortgeschrieben und dem Einwand derer, die sich mit dessen Verhältnisbestimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit nicht zufrieden geben

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wollten, ein gewisses Recht eingeräumt, ohne dies ausdrücklich einzugestehen. Denn auch er bekennt, „daß im Ganzen des Weltsystems und in der Totalität der Existenz eines ieden einzelnen Subiekts die genaueste Angemessenheit der Glückseligkeit zur Sittlichkeit“ (Tieftrunk, 143) bestehe, das Dasein Gottes als des Garanten des Zusammenstimmens der Natur und der Freiheit mithin „apodiktisch das Gesetz der Vernunft“ (ebd.) sein müsse, wenn anders das Sittengesetz dem Dasein des Subjekts nicht als abstrakte, gleichschaltende Allgemeinheit, sondern als Gegenstand der Liebe entgegentreten soll. Die noch ausstehende Beantwortung der Frage, die seine Ausführungen veranlasste und ihnen als Überschrift vorangestellt ist, wird von Tieftrunk in strenger Konsequenz seiner Idee der Liebe des Gesetzes entwickelt. Zunächst gilt es zu bedenken, dass Sündenvergebung nicht ohne weiteres mit Strafaufhebung gleichzusetzen sei. Der Gebesserte würde sich gerne der verdienten Strafe unterwerfen und auf äußeren Sinnlichkeitsgenuss Verzicht tun. Das einzige, was er nicht ertragen könne, sei „die Verwerflichkeit seiner Person vor dem Gesetze selbst“ (Tieftrunk, 153). Die entscheidende Frage müsse somit lauten: „Ist die Wiederherstellung des Friedens und der Einigkeit mit dem Gesetze selbst möglich?“ (Tieftrunk, 155) Dass dies apodiktisch zu bejahen sei, liegt nach Tieftrunk in der Liebe des Gesetzes als dem höchsten und ewigen Ziel moralischer Vollkommenheit aller Vernunftgeschöpfe begründet, welches mit dem Sittengesetz unerschütterlich gegeben sei. Der Für-Bezug des Gesetzes, sein Bezug zum jeweiligen empirischen Subjekt, ist, so zeigt es sich, von Tieftrunk für das An-sich-Sein des Gesetzes selbst als konstitutiv gedacht. Das Gesetz soll um seiner selbst willen nicht allein in seiner Heiligkeit geachtet werden, es soll dies zugleich in der „Einigkeit des Herzens mit demselben“ (Tieftrunk, 156) geschehen, so dass die Anerkennung des Sittengesetzes ein ureigenstes Bedürfnis der Persönlichkeit darstellt. Dies aber ist angesichts allgemeiner Sündhaftigkeit der Menschen nur möglich, wenn unter der Bedingung der Besserung das Gesetz die Möglichkeit der Verzeihung bereitstellt, wenn also dessen FürBezug für den reuigen Sünder wiederhergestellt werden kann: „... folglich ist die Vergebung der Sünden ein Postulat der praktischen Vernunft“ (Tieftrunk, 157). Gegen ein unversöhnliches Gesetz nämlich könnte wohl scheuer Gehorsam, nie aber herzliche Liebe stattfinden. In diesem Sinne leitet sich aus dem Gesetz nach Tieftrunk auch für das Verhältnis der Menschen untereinander die Pflicht zur Versöhnung ab, „weil die Unversöhnlichkeit, als allgemeines Gesetz eines Sittenreichs gedacht, den Zweck dieses Reichs zerstört; welcher in einer durch die Form der Allgemeinheit bestimmten und bewirkten Uebereinstimmung des Willens des Einzelnen mit dem Willen Aller, und des Willens Aller mit dem Willen des Einzelnen besteht. Ein Wille aber, welcher sich die Unversöhnlichkeit zur Maxime macht, widerspricht sich selbst, weil er sie für sich nicht wollen kann; er ist also mit sich selbst uneins; er widerspricht aber eben dadurch auch dem Willen Aller, weil er eine Maxime hat, wodurch der Wille Aller mit sich uneins sein würde, wenn sie allgemeines Gesetz wäre“ (Tieftrunk, 172). Die Idee der Versöhnung ist mit dem recht verstandenen kategorischen Imperativ unmittelbar gegeben. Wenn auch

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nicht Erlass der äußeren Strafe, so ist doch die Vergebung der Sündenschuld ein Gebot, das mit der praktischen Vernunft selbst gegeben und nicht minder verbindlich ist als der kategorische Imperativ, dem es entspricht. Mit dem Gedanken der Liebe des Gesetzes, der Die erste Phase theologischer in seiner Schrift „Einzig möglicher Zweck Jesu, Kantrezeption aus dem Grundgesetz der Religion entwickelt“ von 1789 und in der „Censur des christlichen protestantischen Lehrbegriffs nach den Principien der Religions-Kritik“ der Jahre 1791ff. vorbereitet ist, hat Tieftrunk das Kant’sche System der Moralreligion an eine Grenze geführt, ohne eindeutig klarzustellen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise diese zu transzendieren sei. Auf der einen Seite weist Tieftrunk, ohne ihr freilich selbst mit auch nur ansatzweiser Konsequenz zu folgen, in eine Richtung, die Hegel beschritten hat, in dessen System die Idee der Liebe mit Mitteln der Spekulation entwickelt und die Schranken der Vernunft, die Kant dieser in theoretischer Hinsicht gesetzt hat, auch praktisch aufgehoben werden mit der Folge einer grundsätzlichen Neubestimmung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Vernunft, deren Unterschiedenheit nicht länger als unaufhebbare Differenz, sondern als von einem Zusammenhang umfasst begriffen wird. Auf der anderen Seite verbleibt Tieftrunk erkenntlich im Umkreis der Kant’schen Philosophie, wobei sein Problembewusstsein durch die Einwände der supranaturalistischen Kantrezipienten erkenntlich geschärft wurde, ohne dass er selbst dadurch zum Supranaturalisten geworden wäre. Zwar finden sich auch bei ihm supranaturalistische Komponenten: Nicht nur dass er in seiner „Censur“ mit Nachdruck darauf insistiert, dass das Ideal der gottwohlgefälligen Menschheit zum Erweis der Aufgeschlossenheit des Sittengesetzes für empirischindividuelle Subjektivität in Jesus von Nazareth tatsächlich und nicht nur dem Scheine nach vorstellig geworden sei; auch den Gedanken, dass dessen Tod ein wirkliches Versöhnungsopfer und das ein für allemal gültige Wirkmittel göttlicher Sündenvergebung darstelle, will er nicht in Abrede stellen oder als bloße Akkomodation an eine noch unterentwickelte Denkungsart abtun. Die Gesinnung, sagt Tieftrunk, welche Jesus in seiner willigen Selbsthingabe am Kreuz bezeugt habe, sei nicht weniger als der Erweis der Gesinnung Gottes in der Begnadigung des Sünders. Ob damit die konstitutive Bedeutung des Kreuzesgeschehens für die göttliche Sündenvergebung und eine entsprechende Notwendigkeit der Christusoffenbarung für die Fundierung gelebter Moralreligion behauptet ist, lässt sich freilich bezweifeln, wie überhaupt Tieftrunks Entwicklung dahingeht, supranaturalistische Anteile seiner Argumentation mehr und mehr zurückzudrängen. Das beweist bereits seine Auseinandersetzung mit Süskind im zitierten Aufsatz und mehr noch die Position, die er in dem im Jahre 1800 in zwei Bänden erschienenen Werk „Die Religion der Mündigen“ einnimmt. Diese Schrift markiert nicht nur Tieftrunks persönlichen Abschied von der Theologie, sondern bestätigt zugleich die auch bei den sonstigen rationalistischen Kantrezipienten zu beobachtende Tendenz zu einem Rückzug auf den Standpunkt der Aufklärung, mag ein Teil von ihnen auch als „Rationalisten vom halben Wege“ (Hirsch V, 57) zu qualifizieren sein. Nachdem

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der Trend zum neologischen Rekurs neben Rationalisten auch Vermittlungstheologen und schließlich die Supranaturalisten selbst erfasst hatte, neigte sich die erste Periode theologisch produktiver Kantrezeption ihrem Ende zu. Die zweite, dank der ausgewiesenen GeschichtsDie zweite Phase theologikenntnisse ihres Protagonisten bewusst auf die scher Kantrezeption erste bezogene Periode kritischer und konstruktiver Kantrezeption in der evangelischen Theologie im Deutschland des 19. Jahrhunderts hebt machtvoll mit Albrecht Ritschl (1822–1889) an. Fehlte in den Jahren von 1830 bis 1870 eine Integrationsfigur von großem Format, die eine gewisse Einheitslinie in die historiographisch kaum zu erfassende positionelle Vielfalt hätte bringen können, so lässt sich nach der Reichsgründung mit Ritschl immerhin eine schulbildende Theologengestalt benennen. Sein systematisches Konzept knüpft analog zur Philosophie, die in der Zeit nach 1870 maßgeblich wurde, an Kant an. Ritschl nutzt, so die allgemeine Annahme, den Neukantianismus, um die von allen Religionen erstrebte, aber nur in der Geistesreligion des Christentums vollends gewährleistete Unabhängigkeit menschlicher Persönlichkeit von der Natur zur Geltung zu bringen und der Theologie als einer Theorie religiös gegründeter Sittlichkeit einen eigenständigen Platz neben dem (natur-) wissenschaftlichen Materialismus und Positivismus der Zeit zu sichern. Es bei diesem Ergebnis zu belassen, auf das sich Ritschls Schüler und unter ihnen namentlich Wilhelm Herrmann (1846–1922) gerne beriefen, wäre indes in hohem Maße abstrakt. An seiner Genese lässt sich nämlich zeigen, dass das Ritschl’sche System vor allem auf exegetischhistorisch vermittelte Weise zustande kam und nicht durch Angleichung an ein Philosophiekonzept, das es sich äußerlich vorgegeben sein ließ, um seinen universalen Anspruch zu gewährleisten. Entsprechend ist Ritschls Neokantianismus durchaus ein Gebilde der besonderen Art und durch generalisierenden Zugriff nicht zu erfassen. Lässt sich der Neukantianismus einerseits der neoidealistischen Gegenbewegung gegen den Materialismus und Positivismus zurechnen, so unterscheidet er sich etwa vom (Neu-) Hegelianismus wesentlich dadurch, dass er sein Ziel, über alle Einzelerkenntnisse empirischer Erfahrung hinaus zu einer apriorischen Gesamtanschauung von Selbst und Welt zu gelangen, in dezidiert wissenschaftstheoretischer Absicht und ohne metaphysische Ansprüche zu erlangen suchte. Während die sog. Marburger Schule im Umkreis von Paul Natorp (1854–1924) und Hermann Cohen (1842–1918), zu der u.a. Ernst Cassirer (1874–1945) zu rechnen ist, im Anschluss insbesondere an Kants transzendentale Deduktion die logischen Bestimmungen der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften, aber auch die idealen Strukturen von Ethik, Ästhetik und Religion zu erhellen bestrebt war, widmete sich die Südwestdeutsche oder Badische Schule unter Führung von Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936) vor allem der Theorie einer an der Geltung kultureller Werte orientierten Geschichts- und Geisteswissenschaft. Danach ist die Naturwissenschaft methodisch durch wertfreie und generalisierende Seinsurteile bestimmt, wohingegen geschichts- und geisteswis-

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senschaftliche Werturteile individuelle Geltung für das Personleben beanspruchen. Namentlich in Gestalt der Wertphilosophie von Rudolf Hermann Lotze (1817–1881) hat die Unterscheidung zwischen dem Sein der naturwissenschaftlich erfassbaren Dingwelt und dem Geltungsbereich personaler Sinngehalte Einfluss auf das Denken von Albrecht Ritschl gewonnen. Indes beweist Ritschls Biographie und Werkgeschichte zur Genüge, dass die Orientierung an Ritschls Entwicklung Kant für ihn keineswegs von Anfang an bestimmend war. Auch von Schleiermacher zeigt er sich wenig beeindruckt, mit dem er eigenen Angaben zufolge als neunjähriger Knabe übers Land kutschiert wurde, um vom Kutscherbock aus – wie er später ironisierend vermerkte – einen freieren und weiteren Blick zu haben als dieser. Um „Hegelei zu treiben“ und spekulative Logik zu „ochsen“ (O. Ritschl I, 57) wechselt der junge Ritschl nach einem Bonner Studienaufenthalt 1841 frühzeitig an die Universität Halle, wo er durch die Hegelianer Hinrichs, Schaller und insbesondere durch Joh. Eduard Erdmann (1805– 1892) für die „Schule“ gewonnen wird. Der altersschwache Hallenser Rationalismus dagegen lässt Ritschl kalt. Aber auch für die Erweckungstheologie von Tholuck und Julius Müller kann er sich nicht erwärmen. Das Wichtigste, was Ritschl Tholuck verdankt, ist der Hinweis auf Ferdinand Baurs (1792–1860) Geschichte der christlichen Lehre von der Versöhnung, durch deren Lektüre er nach eigenem Zeugnis – man höre – „überhaupt erst einen Begriff von der Geschichte bekommen und die Bedeutung der Dogmengeschichte erkennen gelernt habe“ (O. Ritschl I, 55). Zugleich war damit dem Interesse für die Hegel’sche Philosophie „die bestimmte historische Richtung“ (ebd.) gegeben, von der dann bereits die theologischen Erstlingsarbeiten Zeugnis geben. Selbst Ritschls Examensarbeiten ließen sich derart offenkundig von den Prämissen spekulativer Geschichtsauffassung leiten, dass sich die Prüfungskommission in ihrem Gutachten bemüßigt sah, unter der Rubrik „Erinnerungen, welche ihm gegeben werden“ ihrer Erwartung Ausdruck zu verleihen, dass der Kandidat „bei einem unbefangenen Studium der heiligen Schrift die Kraft des Evangeliums immer mehr an seinem Herzen erfahren und dadurch sich immer mehr von den Fesseln der Schule (sc. Hegels) frei machen werde“ (O. Ritschl I, 88). Von einer solchen Befreiung konnte vorerst allerdings keine Rede sein: Einem universalwissenschaftlichen Theorieideal verpflichtet zieht Ritschl nach Abschluss seiner theologischen Examina 1845 über Heidelberg nach Tübingen, um seine Aufnahme in den Kreis Ferdinand Christian Baurs (1792–1860) zu erwirken. Obwohl er den Meister „recht schwäbisch blöde und ungewandt“ (O. Ritschl I, 112) fand, wusste er doch, nachdem er 1846 in Tübingen seine Schrift über „Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas“ veröffentlicht hatte, nicht nur Baurs volle wissenschaftliche Anerkennung, sondern auch dessen persönliche Zuneigung zu gewinnen. Sie blieb noch erhalten, als das Schülerverhältnis zu Baur längst in Auflösung begriffen war. Bereits in dem großen Werk über „Die Entstehung der altkatholischen Kirche“ von 1850 vertrat nämlich Ritschl – er

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hatte sich mittlerweile habilitiert und war Privatdozent in Bonn geworden – gegen Baur und Friedrich Karl Albert Schwegler (1819–1857) die These, „dass die Entstehung des Katholicismus nicht auf eine judenchristliche Grundlage, wie Schwegler behauptet hatte, und nicht auf das Gleichgewicht paulinischer und judenchristlicher Einwirkungen, wie Baur später meinte, sondern lediglich auf eine paulinische Grundlage zurückzuführen sei“ (O. Ritschl I, 164f.). Wenngleich Ritschl trotz dieser und anderer Divergenzen im historischen Urteil zunächst noch „von der durch Baur gegebenen Fragestellung abhängig (blieb), welche neben den beiden Gliedern jenes Gegensatzes keine dritte Möglichkeit der Erklärung zuließ“ (O. Ritschl I, 165), werden die Nachwirkungen der Hegel’schen Geschichtsauffassung schon jetzt nur noch mittelbar nachweisbar. „Sie reichen so weit wie seine materielle Abhängigkeit von Baur.“ (Ebd.) Denn bereits die Ausarbeitung seiner ersten exegetischen und kirchengeschichtlichen Kollegs hatte Ritschl vor die Einsicht gestellt, dass das dialektisch-evolutionäre Konstruktionsschema der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, welches der Tübinger Geschichtsforschung zugrunde lag, der geschichtlichen Wirklichkeit nicht entspricht. Deshalb ließ er sich bei dem Besuch in Tübingen im Jahre 1854, der ansonsten durchaus die alte Freundschaft erneuerte, auch Baurs Schiedsspruch nicht gefallen, Ritschl setze eben „concretere Begriffe in Bewegung ..., während er (Baur) das Bedürfnis abstracteren Denkens habe“; genau das sei „das Unrecht gegen die wirkliche Welt“ (O. Ritschl I, 260), meinte Ritschl, den Ausgleich verweigernd. Die Jahre 1855 bis 1858 brachten schließlich den offenen, auch persönlichen Bruch mit Baur. „Die Tübinger Schule“, schrieb Ritschl 1856 in einer anonymen Rezension, „ist auseinandergefallen, und ihre Anregungen werden nur in dem Maße Anerkennung verdienen, als sie zum Gegensatze gegen das von Baur und Schwegler dargestellte System der christlichen Urgeschichte führen, und als sie den Anbau der biblischen Theologie mehr fördern, als es bisher geschehen ist“ (O. Ritschl I, 274). Durch dieses harte Urteil und das anschließende Briefgefecht wurde das Verhältnis zwischen Ritschl und Baur irreversibel zerstört. Die stark umgearbeitete Neuauflage der „Entstehung der altkatholischen Kirche“ von 1857, in der Ritschl „den Mangel der Entwicklungsfähigkeit am Judenchristenthum“ (O. Ritsch I, 287) im Gegensatz zur Baur’schen Sicht noch schärfer hervorhob, ratifizierte nur noch öffentlich diesen Bruch. „Ritschl hat, wie Baur sagt, in der ‚Palinodie, welche er in der zweiten Auflage seines Werkes über die Entstehung der altkatholischen Kirche zur ersten angestimmt hat‘, die ‚Fahne des Abfalls‘ von der Tübinger Schule ‚offen aufgesteckt‘.“ (O. Ritschl I, 291) Die Frage, wodurch Ritschls Abfall von der Hegel’schen Schule verursacht war, lässt sich eindeutig beantworten: Es waren im Wesentlichen Gründe divergenter historischer Urteilsbildung, die ihn bewirkten. Die Emanzipation von Baur und die dezidierte Absetzung etwa von David Friedrich Strauß (1808–1874), dessen „Leben Jesu“ von 1835 das Vertrauen in die Historizität der gründenden Urzeit des Christentums durch ausgesprochenen Mythologieverdacht nachhaltig erschütterte, erfolgte im Namen und in der Autorität der historischen Wissenschaft, die sich

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den Herrschaftsanspruch spekulativer Geschichtsphilosophie nicht länger gefallen lassen mochte, gleich ob er nun, wie bei Strauß, dezidiert traditionskritisch oder, wie bei Baur, mit eher traditionsaffirmativer Tendenz vorgetragen wurde. Seine historiographischen Ergebnisse in ein systematisches Gesamtkonzept zu integrieren, gelang Ritschl indes lange Zeit nicht. Die Eigenständigkeit, die er sich seit den 50er Jahren den Hegelianern gegenüber als Historiker erworben hatte, blieb in dogmatischer Hinsicht zunächst aporetisch. Wie wenig Ritschl damals bereits über eine geklärte Systematik verfügte, beweisen nicht nur die laufenden Revisionen seines Dogmatikentwurfs, sondern mehr noch die Tatsache, dass er zwischen 1857 und 1870 zwar zahlreiche Aufsätze, aber kein größeres Werk publiziert hat. Lediglich in der Auswahl des historischen Stoffes, an dem er sich abarbeitet (vgl. Wenz II, 70ff.), deutet sich die Tendenz seiner systematischen Entwicklung und die Grundpolarität der auf Soteriologie und Ekklesiologie konzentrierten „elliptischen“ Theologie an, wie sie in dem in den Jahren 1870–1874 erstmals erschienenen dreibändigen Hauptwerk „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ entfaltet ist. Den für ihn als Systematiker entscheidenden Rechtfertigung und Gedanken konstitutiver Zusammengehörigkeit Versöhnung von Soteriologie und Ekklesiologie, der die im dritten Band geleistete „positive Entwickelung der Lehre“ bestimmt, hat Ritschl aus intensiver dogmen- und theologiegeschichtlicher sowie exegetischer Arbeit gewonnen. Sie ist in den beiden ersten Bänden von „Rechtfertigung und Versöhnung“ dokumentiert. Auf historischem Wege gelangt er zu der dogmatischen Einsicht, „daß die Lehre von der Versöhnung durch Christus als einer allgemeinen Wirkung durchaus reciprok ist mit der Lehre von der Gemeinde der Gläubigen als dem Ganzen, welches logisch dem Einzelnen, der gläubig und wiedergeboren wird, vorausgeht, so daß der Gedanke der Gemeinde als die Zweckbestimmung in den von der Versöhnung aufzunehmen, und die letztere als die Stiftung der Gemeinde zu begreifen ist ... Der Rechtfertigung des Einzelnen oder vielmehr seinem Rechtfertigungsbewußtsein geht aber die Versöhnung oder Rechtfertigung oder Gründung der Gemeinde so gewiß voran, als zum Opfer des Bundes die entsprechende Gemeinde gehört und Jesus sein Leben als Bundesopfer hat darbringen wollen.“ So ist es in einem Brief vom 5. Dezember 1867 (zit. n. O. Ritschl II, 47f.) an einen Freund, den damaligen Hallenser Alttestamentler L. Diestel, notiert. Und in einem weiteren Freundesbrief steht wenig später zu lesen: „Ich habe jetzt eine große Sicherheit in meinem theologischen Bewußtsein gegenüber allen Parteien, seitdem mir klar geworden, daß die Idee von der Versöhnung durch Christus und die Idee von der erwählten Gemeinde in directester Wechselwirkung stehen, daß namentlich jene nicht einmal richtig vorgestellt werden kann außer dieser Beziehung. Damit habe ich die Macht über die, welche die Kirche entweder mit der Secte oder Clique oder mit der Schule (orthodoxer oder häretischer) vertauschen, mögen sie das Wort Kirche noch so stark im Munde führen, und habe die Macht über alle, welche mit confusen Schlagwörtern in Ge-

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schichtsforschung wie Dogmatik den Sisyphusstein wälzen.“ (zit. n. O. Ritschl II, 50f.) Das geistige Machtbewusstsein, das Ritschl aus seiner Entdeckung zeitlebens geschöpft hat, spricht sich analog in dem ersten Wort seines „opus magnum“ aus, das als dessen durchgängiger Grundsatz zu gelten hat: „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, welche ich wissenschaftlich darzustellen unternehme, bildet die concrete Mitte des theologischen Systems. In ihr wird die bestimmungsmäßige directe Wirkung der geschichtlichen Offenbarung des göttlichen Gnadenwillens durch Christus entwickelt. Dieselbe besteht darin, daß die von Christus gegründete Gemeinde die Freiheit des religiösen Verkehrs mit Gott ungeachtet der Sünde ausübt, und darin zugleich die Richtung des Willens auf Gottes offenbaren Zweck innehält, welche für die religiöse Erkenntniß die sittliche Wiederherstellung des Menschengeschlechtes und die religiöse Seligkeit in sich schließt.“ (RuV I [1. Aufl.], 1) Wie Ritschl diesen Grundsatz im Einzelnen ausgeführt hat, kann hier ebenso wenig Thema sein wie das genaue Verhältnis der verschiedenen Auflagen von „Rechtfertigung und Versöhnung“ untereinander. Was letzteren Aspekt und damit die Entwicklung der Ritschl’schen Theologie seit den frühen 80er Jahren bis zu seinem Tode 1889 betrifft, sei lediglich vermerkt, dass in ihrem Verlauf die konstitutive Bedeutung von Religion und Offenbarung für die Sittlichkeit verstärkt hervortritt. Die Kantrezeption Ritschls, wie sie von der, wie gesagt, primär durch historisch-exegetische Einsicht vermittelten systematischen Grundkonzeption von „Rechtfertigung und Versöhnung“ nahegelegt wurde, gewinnt von daher ihr eigentümliches Profil. Hält man sich an die späte Gestalt seines Systems, Ritschl über Sündenvermit der er Schule machte und die nach Meinung gebung der überwiegenden Mehrzahl der Interpreten nicht nur die wirkungsgeschichtlich bedeutendste, sondern auch die ausgereifteste Systemfassung darstellt, dann gibt sich Ritschl eindeutig als theologischer Kantrezipient in der Tradition derer zu erkennen, die die konstitutive Bedeutung von Religion und Offenbarung für die Begründung und Realisierung der Moral betonten. Indes ist Ritschl, und zwar in allen seinen Systemgestaltungen, zugleich ein Beispiel dafür, dass die Kant’sche Unterscheidung von Rationalismus und Suprarationalismus theologiegeschichtlich nicht als schlichter Gegensatz aufgefasst werden darf. Anhand der 1888 erschienenen Drittauflage des dogmatischen Bandes von „Rechtfertigung und Versöhnung“ (= RuV III) soll dies in Kürze belegt werden, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Sündenvergebungsthematik, die bereits im Zentrum der Erwägungen zu Storr, Süskind und Tieftrunk stand, sowie ihres Verhältnisses zur Thematik des Reiches Gottes und seines Kommens; denn ohne Bezug auf das kommende Reich als den Zweck der Verkündigung Jesu kann die Sündenvergebung als Inbegriff der Rechtfertigung nicht verstanden werden und der Versöhnungsgemeinschaft der Kirche nicht dienlich sein. Bereits die Sünde, deren Vergebung das Rechtfertigungsevangelium um der Versöhnung willen zuspricht, wird in Ritschls System konsequent von der jesuani-

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schen Verkündigung des Reiches Gottes her verstanden, dessen Verwirklichung sie entgegen- Sünde und Reich Gottes steht. In ihrer Verkehrtheit kann die Sünde nur als das durch die Gottesherrschaft zu Überwindende und zum Verschwinden Bestimmte begriffen werden. Eine hamartiologische Orientierung an der traditionellen Lehre von Urstand und Fall lehnt Ritschl infolgedessen ab. Der Kardinalfehler der überkommenen Lehre vom „status integritatis“ liegt nach seinem Urteil in der irrigen Vorstellung des Guten als einer ursprünglichen Gegebenheit normativer Urzeit begründet. Als ursprüngliche Gegebenheit nämlich wäre das Gute naturbestimmt und indifferent gegen die willensbestimmte Geschichte, womit die Sphäre christlicher Sittlichkeit immer schon zugunsten antiken Schicksalsglaubens verlassen wäre. Des öfteren hat Ritschl in diesem Zusammenhang auf eine strukturelle Analogie zwischen vorchristlicher Mythologie und Wesensphilosophie hingewiesen und deutlich gemacht, wogegen sich seine Metaphysikkritik vor allem richtet. Zwar setze eine Metaphysik des zeitinvarianten Wesens an die Stelle des Urzeitlichen die immerseiende Essenz; gleichwohl gelte auch ihr wie dem Mythos die wahrhafte Wirklichkeit als naturhaft-geschichtslos, wohingegen sie im Geschichtlichen nur einen defizienten Modus von Wirklichkeit zu sehen vermöge. Eine Theologie nun, welche, wie die orthodoxe, sich diese Sicht zu eigen mache, indem sie „den sittlichen Zustand, der erst im Christenthum für die Menschen möglich ist, schon an den Anfang der Menschengeschichte verlegt und für den naturgemäßen Bestand des menschlichen Wesens erklärt, zieht den Uebelstand nach sich, daß die Person Christi als eine unregelmäßige Erscheinung in der Menschengeschichte aufgefaßt werden muß ... So dient die Anlage der orthodoxen Dogmatik dazu, die geschichtliche Erscheinung Christi unverständlich zu machen.“ (RuV III, 313) Lässt sich das Gute erst vom Zweck des Reiches Gottes her angemessen verstehen, auf dessen Ankunft die Sendung Christi und des Christentums ausgerichtet sind, so muss von diesem her auch der Maßstab zum Verständnis der Sünde als des Gegenteils und der negativen Voraussetzung der Versöhnung gewonnen werden. Daraus ergeben sich zwei reziproke hamartiologische Bestimmungen: formaliter ist die Sünde das dem Zwecke des Reiches Gottes Widrige; materialiter ist sie das böse Geflecht, in das sich die Menschheit als Summe aller Einzelnen zum Unwillen Gottes durch die Verkehrtheit ihres Willens und ihres widervernünftigen Tuns verstrickt hat. Was die traditionelle Kirchenlehre nicht stimmig zusammenzudenken vermochte, nämlich die Allgemeinheit der Sünde und ihre individuelle Selbstverschuldung, leistet nach Ritschl die Vorstellung eines Reiches der Sünde, welche auf ihre Weise bereits Kant und Schleiermacher vertreten hatten. Im Reich der Sünde seien „alle Menschen durch die unmeßbare Wechselwirkung des sündigen Handelns mit einander zusammengefaßt“ (RuV III, 363). Die Unermessbarkeit jener Wechselwirkung verbiete es, die Sünde auf ein Prinzip zu restringieren; weder sei in der Freiheitsanlage des individuellen Menschen ein nötigender Grund zur Sünde aufzufinden, noch dürfe die Sünde auf die Allgemeinheit eines naturhaften Erbschicksals oder gar auf eine göttliche Weltordnung zurückgeführt werden. Die

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Sünde treibe ihr Unwesen in ihrem Reich vielmehr in unauflöslichem Ineinander von Individuellem und Allgemeinem. Für mitschuldig können wir uns an demselben „nur achten, indem wir uns nicht nur die eigenen sündigen Handlungen als solche zurechnen, sondern dabei veranschlagen, daß dieselben die Sünde auch in Anderen hervorrufen, obgleich wir keine vollständige und deutliche Vorstellung von der Ausdehnung dieser Wirkungen haben. Andererseits erfahren wir auch die Rückwirkung dieser Macht der gemeinsamen Sünde nicht nur durch das Beispiel oder die Hervorrufung sündiger Gegenwirkung gegen Sünden Anderer, sondern namentlich durch die Abstumpfung unserer sittlichen Aufmerksamkeit und unseres sittlichen Urtheils.“ (RuV III, 320) Als das dem Zwecke des Reiches Gottes Widrige und Sünde und Übel der christlichen Versöhnungsgemeinde Widerstrebende ist die durch den Ungeist verkehrten Willens bestimmte Sünde nach Ritschl vom Übel als einem Naturgeschick oder einer Verletzung, die durch fremden Willen zugefügt wird, strikt zu unterscheiden. Im Unterschied zur Sünde erfahre die menschliche Freiheit im Übel zwar eine Hemmung, ohne einer unüberwindlichen Schranke ihrer selbst zu begegnen. Eine Bewahrung menschlicher Freiheit und eine entsprechende Bewährung sittlicher Selbsttätigkeit sei in Bezug auf das Üble insofern durchaus möglich. Selbst der Tod als physisches Übel sei keineswegs das reine Gegenteil eines zweckvollen Lebens, sondern in dessen Sinn sittlich zu integrieren. Das Übel als der ganze Umfang möglicher Hemmungen menschlicher Zwecktätigkeit wird demgemäß von Ritschl als das Überwindbare und zu Überwindende bestimmt. Den Anspruch, dem Übel selbsttätig zu begegnen, muss sich die menschliche Freiheit nicht nur gefallen lassen, sondern um ihrer selbst willen zumuten. Der Begriff des Übels hat folglich „an und für sich keine religiöse Beziehung“ (RuV III, 333), sondern fällt in den Zuständigkeitsbereich autonomer Sittlichkeit, wie sie sich als kultivierter Umgang mit den Widrigkeiten des Daseins realisiert. Der Begriff der Sünde hingegen ist nach Ritschl ein „religiöser Gedanke“ (RuV III, 335). Er ist dies offensichtlich deshalb, weil durch die Sünde die freie Selbsttätigkeit nicht nur eine Hemmung erfährt, sondern an eine Schranke ihrer selbst stößt, die sie aus sich heraus nicht zu überwinden vermag. Während das Übel niemals die Möglichkeit menschlicher Freiheit in Frage zu stellen vermag und deshalb immer nur relativ zu deren Voraussetzung in Betracht kommt, wird durch die Sünde das vorausgesetzte Freiheitsvermögen selbst fraglich. Insofern kann der sinnvolle Umgang mit der Sünde auch nicht in der Weise sittlichen Anspruchs, sondern nur in der religiösen Zuspruchs befördert werden. Die Rechtfertigung, zumal als Vergebung der Sünde, können sich Mensch und Menschheit durch freie Selbsttätigkeit allein nicht besorgen. Sie muss ihnen von Gott geschenkt werden, wenn das Reich real werden soll, auf welches die Versöhnungsgemeinde als auf ihren Zweck hin angelegt ist. Damit ist die Stelle markiert, an der Ritschls Denken den ethikotheologischen Rahmen transzendiert, um die moralphilosophische Unaufhebbarkeit der Religion ebenso zu behaupten wie die theologische Notwen-

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digkeit, von Offenbarung zu reden. Indes ist die auf das Rechtfertigungsgeschehen als Sündenvergebung konzentrierte Offenbarungsrede und mit ihr die These von der Nichtsubstituierbarkeit des religiösen Verhältnisses, das keine Moral zu ersetzen vermag, nicht isoliert zu verstehen, sondern auf die Wirklichkeit sich realisierender Sittlichkeit hingeordnet, der die christliche Versöhnungsgemeinde um des Reiches Gottes willen zu dienen hat. Um den Begriff der Rechtfertigung als SündenBehebung des Schuldbevergebung zu präzisieren, macht Ritschl als erstes wusstseins deutlich, dass diese im Sinne bloßen Straferlasses lediglich äußerlich-juridisch verstanden sei. Wie der Sünder des moralischen Strafcharakters der Strafe nur im Schuldbewusstsein inne werde, so liege der innere Sinn der Sündenvergebung und der Rechtfertigung des Sünders in dessen Befreiung von den destruktiven und vernichtenden Implikationen seines Schuldbewusstseins begründet. Soll es zur Versöhnung Gottes und des Menschen kommen, so ist die Aufhebung des Schuldbewusstseins schlechterdings unabdingbar, weil in ihm die Entfremdung Gottes und des Menschen am offenkundigsten und peinsamsten wahrgenommen wird. Dabei bedeutet Aufhebung keineswegs einfachhin Beseitigung. Als Moment der Rechtfertigung bleibt das Schuldbewusstsein im Vollzug der Sündenvergebung nicht nur erhalten, es ist in bestimmter Hinsicht sogar die vorausgesetzte Bedingung von deren Möglichkeit. Sich selbst überlassen indes müsste das Schuldbewusstsein dem heillosen und moralzersetzenden Abgrund einer an sich selbst verzweifelten Sittlichkeit verfallen. Aus ihm zu erretten und damit die Moral dem Sog der Selbstdestruktion zu entziehen, wie die moralische Verfehlung der Sünde sie bewirkt, ist nach Ritschl die vornehmste Gabe der Rechtfertigung, wie nur Gott selbst sie zu geben vermag. Rechtfertigung ist Sündenvergebung, und zwar nicht nur im äußeren Sinne juridischen Straferlasses, sondern im inneren Sinne der Aufhebung des Bewusstseins moralischer Schuld, in welchem der Sünder seiner Sünde und des Strafcharakters ihrer üblen Folgen recht eigentlich erst inne wird. Dies unter ausdrücklicher Berufung auf den für ihn theologiehistorisch und systematisch gleichermaßen wichtigen Kantschüler Tieftrunk zu betonen, ist Ritschl nicht müde geworden. Um genauer zu klären, wie das Sich-Wissen des Sünders als eines Schuldigen genau verfasst ist und zu welcher Gewissheit die Rechtfertigung des Sünders führt, präzisiert Ritschl den Begriff der Schuld dahingehend, dass er ihn als den bestehenden Widerspruch zwischen dem objektiven und dem subjektiven Faktor des sittlichen Willens umschreibt. Dieser geht aus der Störung des bestimmungsmäßigen Wechselverhältnisses zwischen Sittengesetz und Freiheit hervor und folgt dem gesetzeswidrigen Missbrauch der Freiheit, um durch die begleitende Unlust des Schuldgefühls zu Bewusstsein gebracht und als in sich widriger Widerspruch gewusst zu werden. Die manifeste Gestalt des Schuldbewusstseins ist die Gewissenspein. In ihr erst wird die Sünde wahrhaft als schuldhaftes Vergehen wahrgenommen und das Recht proportionierter Strafe erkannt, wohingegen ohne Schuldbewusstsein Strafe lediglich als Zufügung äußerer Übel empfunden wird.

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Obgleich im Bewusstsein der Schuld seiner Sünde innegeworden, ist der Sünder durch die Reue, die seiner Gewissenspein eignet, der Heillosigkeit seines Sündenstatus längst nicht enthoben. Es ist im Gegenteil so, dass die sich selbst überlassene Gewissenspein zwangsläufig und wider alle sittliche Vernunft, welche ihr beim besten Willen nicht mehr zu helfen vermag, in höllischer Verzweiflung endet. Aus ihr vermag nur die Rechtfertigung als Offenbarungstat Gottes zu retten, wie denn die Gewissheit der Sündenvergebung als Aufhebung der Schuld dem sittlichen Bewusstsein unerschwinglich und nur religiös zu fassen ist. Fragt man nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sündenvergebung, so wird man von Ritschl ebenso schlicht wie ergreifend auf die Liebe Gottes verwiesen. Sie und sie allein ist es, welche Vergebung der Sünden und Versöhnung bewirkt. Indes lässt sich die Liebe Gottes aus einem Allgemeinbegriff der Liebe ebenso wenig deduzieren wie aus einer allgemeinen Lehre von Gott, die von der Positivität seiner Offenbarung absieht. Der Liebesname Gottes ist „compendiarische Bezeichnung seiner Offenbarung“ (RuV III, 259) und nur aus dieser heraus in seiner Unbegreiflichkeit zu begreifen. Entschieden wird die Wesensbestimmung Gottes als Liebe in Relation auf die Sendung Jesu Christi, des Sohnes des allmächtigen Vaters, und auf die in der Kraft des Heiligen Geistes statthabende Verwirklichung des Reiches Gottes vorgenommen. In Ritschls Gotteslehre sind Christologie und Pneumatologie stets mitgesetzt, und ohne das trinitarische Beziehungsverhältnis, welches die Offenbarung erschließt, ist der Zusammenhang von religiösem Gottesgedanken und sittlicher Weltordnung, auf den Ritschl alles ankommt, nicht zu erfassen. Weil eine Würdigung der durchgeführten Lehre Kirche als VersöhnungsgeRitschls von Gott, Christus und Geist nur im meinschaft gerechtfertigter Rahmen einer expliziten Theologie, Christologie Sünder und Pneumatologie erfolgen kann, seien in Bezug auf die an gegebener Stelle vor allem interessierende Sündenvergebungsthematik nur mehr zwei Gesichtspunkte notiert: 1. Ritschl geht davon aus, dass eine schlechthinnige Aufhebung der Sündenschuld und des Schuldbewusstseins durch die Sündenvergebung unvereinbar ist sowohl mit der Wahrhaftigkeit Gottes, als auch mit der Wahrhaftigkeit des menschlichen Gewissens, welche beide begangenes Unrecht nicht einfach vergessen bzw. gut sein lassen können. Die Sündenvergebung soll also „gar nicht verstanden werden als die Ausrottung des Schuldgefühls überhaupt, sondern als die Aufhebung desselben in einer gewissen Beziehung“ (RuV III, 59). Gemeint ist die Beziehung, die das religiöse Verhältnis als solche betrifft, nämlich die Gemeinschaft des Menschen mit Gott, welche die Sünde in ihrer sinnwidrigen Verkehrtheit aufgekündigt hat. „Indem Gott die Sünden vergiebt oder verzeiht, übt er seinen Willen in der Richtung aus, daß der in der Schuld ausgedrückte Widerspruch, in welchem die Sünder zu ihm stehen, diejenige Gemeinschaft der Menschen mit ihm nicht hemmen soll, welche er aus höheren Gründen beabsichtigt. Und sofern diese Absicht auf die Sünder bestimmend einwirkt, befreit sie dieselben zwar nicht von dem SchuldbeRechtfertigung und Offenbarung

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wußtsein überhaupt, aber von dem Mißtrauen, welches als Affection des Schuldbewußtseins den Beleidiger von dem Beleidigten naturgemäß trennt.“ (RuV III, 61f.) Die göttliche Verzeihung löscht also die Sündenschuld und das mit der Erinnerung an sie verbundene Gefühl der Unlust, wie es im Schuldbewusstsein manifest ist, nicht einfachhin aus; wohl aber beseitigt sie das mitgesetzte Misstrauen und die damit verbundene Trennung und Entfremdung des Menschen Gott gegenüber. Damit aber ist der eigentliche Stachel der Sünde gebrochen und die Möglichkeit einer positiven Zustimmung des menschlichen Willens zu Gott und seinem Heilswerk wiederhergestellt; die Sünder sind mithin erneut von Gott dazu berechtigt, „in die engste Gemeinschaft mit ihm und in die Mittätigkeit an seinem eigenen Endzweck, dem Reiche Gottes einzutreten, ohne daß ihre Schuld und ihr Schuldgefühl ein Hindernis dafür bilden“ (Unterricht § 45). Die begangene Sündenschuld kann insofern in dem Sinne als vergangen betrachtet werden, als sie zwar im Gedächtnis bleibt, aber dadurch nicht mehr von jener Zukunft ausschließt, welche der Gegenwart die Möglichkeit sittlichen Fortschritts eröffnet. 2. Die Hinordnung der Sündenvergebung auf die Realisierung des Reiches Gottes als des Endzwecks göttlichen Offenbarungshandelns zeigt an, dass der Begriff der Rechtfertigung ohne den der Versöhnung und denjenigen der Versöhnungsgemeinschaft der Kirche nicht angemessen erfasst werden kann. Sündenvergebung betrifft, so sehr sie ein individuelles Geschehen ist, nicht lediglich den einzelnen Menschen, sondern diesen als Glied des Menschengeschlechts. Dieses ist Korrelat göttlicher Liebe zwar nicht unmittelbar als natürliche Größe, wohl aber als Gemeinschaft derjenigen, denen im Reich Gottes der Zweck ihres Lebens vorstellig wird. Der durch den Sohn kraft des Geistes wirksame Liebeswille, der Sein und Wesen Gottes als des Vaters seiner Menschenkinder ausmacht, lässt sich die Vergebung der Sünde, wie sie in der Rechtfertigung geschieht, um der Versöhnung willen angelegen sein, durch deren Gemeinschaft, welche die Kirche ist, die Menschheit dem Reiche Gottes zugeführt wird. Im Zusammenhang von Rechtfertigung und Versöhnung, den Ritschls Hauptwerk seinem Titel gemäß bedenkt, sind sonach individueller und sozialer Aspekt gleichermaßen inbegriffen, wobei die Zukunft des kommenden Gottesreiches als versöhnte Einheit Verschiedener zu denken ist, deren Verschiedenheit, ohne aufzuhören, dank der Gemeinschaft mit Gott ihren trennenden Charakter endgültig verloren hat. Der universale Horizont der Reich-Gottes-Theologie Ritschls ist charakteristisch für eine Religio- Theologie des Reiches Gottes sität, die sich nicht im Privaten erschöpft und nicht allein die Einzelpersönlichkeit im Blick hat, sondern Individuelles mit Sozialem und umgekehrt untrennbar verbunden weiß. So sehr Ritschl die individuellen Glaubenstugenden der Geduld, Demut und Bescheidenheit hervorhebt, in denen sich das persönliche Vertrauen auf die väterliche Vorsehung Gottes, wie es sich im täglichen Gebet erbaut, bewährt und ausspricht, so sind sie doch immer in einen Zusammenhang gestellt mit dem Dienst der Gemeinde und der Arbeit am Reiche Gottes, worin sich die christliche Vollkommenheit vollendet. In allen Auf-

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lagen seines Hauptwerks wird entschieden betont, dass sich die Sündenvergebung oder Versöhnung mit Gott als die Bedingung der Möglichkeit fortwährenden sittlichen Handelns in dem Berufe, mittels dessen „eine Totalität des Lebenswerkes als der Beitrag zu dem Reiche Gottes hervorgebracht und zugleich die Bestimmung der geistigen Persönlichkeit zu einem Ganzen in ihrer Art erreicht wird“ (RuV III, 632), nur erleben lasse in der durch Jesus Christus tatsächlich gestifteten und von seiner Wirkung beherrschten Gemeinde. Dies mit Vehemenz und gelegentlichem Sarkasmus allen Erscheinungsformen von Pietismus und Erweckungsbewegung entgegenzuhalten, ist Ritschl redlich bemüht. Wie wichtig ihm dieses Thema war, zeigt am eindrucksvollsten seine langjährige Arbeit an der in kritischer Absicht verfolgten „Geschichte des Pietismus“ (1884/86). Die Bindung des persönlichen Glaubens an die Gemeinde bedeutete für Ritschl indes keineswegs eine Auflösung der Individualität in eine Form des Allgemeinen in der Weise, dass der Einzelne durch andere ersetzt oder einem privilegierten Stand innerhalb der Kirche unterworfen werden solle. Vielmehr lebt die Gemeinde und der persönliche Glaube in ihr „durch die unmeßbare Wechselwirkung der Freiheit des Einzelnen mit den anregenden oder leitenden Eindrücken aus der Gemeinschaft mit den Anderen“ (RuV III, 557f.). Die Gemeinde Jesu Christi realisiert sich also als wechselseitige Aufgeschlossenheit des einen für den anderen, als communio, in der Abhängigkeit und Freiheit zu lebendiger Einheit kommen. Im kommunikativen Vollzug und nicht etwa im isolierten Bewusstsein individuellen Wiedergeborenseins realisiert sich der Hl. Geist, jener Geist, der von Jesus Christus herkommt und zum Reiche Gottes hinführt.

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Lit.: A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1999 (neu hg. und kommentiert v. T. Rendtorff ) (= WdChr). – Ders., Dogmengeschichte (1889/91). Tübingen 1991 (unveränd. Nachdruck der 7. Aufl.) (= DG). – W. Herrmann, Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle 1879. – K. Nowak u.a. (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlass des 150. Geburtstages, Göttingen 2003. – F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie. Aus dem Nachlass hg.v. C.A. Bernoulli, Basel 1919. – E. Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums?“ (1903), in: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 386–451. – G. Wenz, Der Kulturprotestant. Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker und Kontroverstheologe, München 2001. – A. v. Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin-Tempelhof 1936.

Der Reich-Gottes-Begriff als Zentralterminus Der jesuanische Reich-Gottesder Botschaft Jesu ist für die neuzeitliche Theolo- Begriff gie insbesondere deshalb wichtig geworden, weil er die Möglichkeit einer systematischen Verbindung zwischen religiösem Gut und sittlichem Ideal und damit eine Integration dogmatischer und ethischer Theoriebildung darbot. Das gilt in Deutschland insbesondere für die von Kant (und Schleiermacher) über Richard Rothe (1799–1867) zu Albrecht Ritschl und seiner Schule führende Traditionslinie. Dabei ging allerdings der apokalyptisch-endzeitliche Rahmen der jesuanischen Gottesreichvorstellung weithin verloren. Dessen exegetische Wiederentdeckung wird neben Albert Schweitzer (1875–1965) üblicherweise dem Schwiegersohn Ritschls, Johannes Weiß (1863–1914), zugeschrieben. In dessen 1892 erstmals erschienener Studie über „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ wird gezeigt, dass von einer kontinuierlichen Entwicklung des Gottesreiches im Gedankenkreis Jesu nicht die Rede sein kann, weil dieses als eine eschatologische Transzendenzgröße vorgestellt werde, die zur Welt in einem ausschließenden Gegensatz stehe, um in unvermittelter Diskontinuität und Plötzlichkeit in sie einzubrechen. In einer sehr viel umfangreicheren Zweitauflage von 1900 hat Weiß sein Ergebnis differenziert und gelegentlich auch abgeschwächt. Die theologiegeschichtliche Langzeitwirkung des Buches ist allerdings von der knappen ursprünglichen Fassung ausgegangen, deren Zentralthesen in den folgenden Punkten zusammengefasst werden können: 1. Jesu Wirken war beherrscht durch das Bewusstsein unmittelbarer Nähe des Gottesreiches, von dessen Gegenwart er in Momenten

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prophetischer Erhabenheit zwar schon sprechen konnte, dessen endgültigen Anbruch er ansonsten allerdings erst von einer noch ausstehenden Zukunft erwartete. 2. Die Möglichkeit einer Verwirklichung des Reiches Gottes durch menschliche Aktivität behauptete Jesus nicht nur nicht, er schloss sie vielmehr entschieden aus; die Errichtung der Gottesherrschaft erwartete er einzig und allein von einem übernatürlichen Eingriff Gottes, dessen unvermittelte Plötzlichkeit im Gegensatz steht zu allen Vorstellungen einer allmählich fortschreitenden Entwicklung. 3. Das Kommen des Reiches Gottes verhält sich antithetisch zur Gegenwart einer vom Teufel beherrschten, sündigen Welt und vollzieht sich als deren Gericht. Die neue Welt entsteht nicht kontinuierlich aus der alten, sondern setzt deren Untergang voraus. 4. Die Voraussetzungen zur Teilhabe am kommenden Gottesreich auf Seiten des Menschen werden nicht kraft sittlichen Eigenvermögens erlangt, sondern ausschließlich durch religiöses Vertrauen auf die Möglichkeiten Gottes. 5. Die geltenden Instanzen und Institutionen der Sittlichkeit (Ehe, Beruf, Staat usw.) geraten angesichts des eschatologischen Kriteriums in eine Krise ihrer Legitimität, sofern sie dem Äon der vergehenden Welt zugehören. Indes propagierte Jesus nach Weiß nicht die Revolution, weil sie nicht weniger als das restaurative Festhalten des Überkommenen einen eigenmächtigen und daher unfrommen Anschlag des Menschen auf die Souveränität Gottes und seines Reichs darstellt. Dogmatisch beeindrucken ließ sich Weiß von seiner exegetischen Entdeckung indes wenig. Unter modernen Bedingungen sei der Reich-Gottes-Begriff zwar keineswegs zu verwerfen, aber in einem anderen Sinn zu gebrauchen als in der eschatologischen Predigt Jesu und auf den Gedanken der Gotteskindschaft hin zu fokussieren, welcher der jesuanischen Botschaft auch nicht fremd sei. Ihrem bleibenden Wesen nach sei die Sendung Jesu auf präsentisches Heil hin ausgerichtet, welches der Einzelne im Innersten seiner Seele wahrnehme. Die apokalyptische Erwartung einer futurischen Weltumwandlung hingegen sei eine zeitbedingte Erscheinung, die unter neuzeitlichen Bedingungen keine dogmatische Geltung mehr beanspruchen könne. Damit waren die Weichen gestellt für die RichEschatologie der Ritschltung, in der sich die Ritschl’sche Schule nicht nur Schule bei Weiß, sondern deutlicher noch bei Wilhelm Herrmann (1846–1922) und Adolf von Harnack (1851–1930) bewegen sollte. Gab der Reich-Gottes-Gedanke bei Ritschl noch den universalen Horizont für eine Theologie ab, welche das fromme Subjekt konsequent auf seinen Weltbezug verpflichtete, ohne dabei den transmundanen Grund der Sittlichkeit zu leugnen, dessen religiöse Wahrnehmung der Moral ihr höchstes Gut erschließt, so zeichnet sich bei Weiß, Herrmann und Harnack eine Tendenz zu fortschreitender Entfuturisierung und Individualisierung der Gottesreichsidee ab, die systematisch mit der Vorstellung der Gotteskindschaft koinzidiert. Die vergleichzeitigende Einholung der Eschatologie in die Gegenwart frommen Gemütslebens hat eine Zurücknahme des Christlichen auf die Sphäre des Privaten und die weitgehende Preisgabe der gesamten Wirklichkeit außer der sittlich-religiösen Persönlichkeit an den Naturalismus

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und Positivismus der Zeit zur Folge, wie sie bei Ritschl selbst so noch nicht gegeben war. Trotz seiner religiös-theologischen Bevorzugung von Familienmetaphorik und trotz seiner innigen Anteilnahme an der Entstehung eines deutschen Nationalstaats unter Preußens Führung blieb Ritschls System universalgeschichtlich-zukunftsoffen auf die Realisierung einer übernationalen und weltumspannenden Menschheitsgesellschaft im Dienste des Reiches Gottes hin angelegt. Diese Motive, in denen der Geist der Aufklärung und des deutschen Idealismus fortlebt, schwächen sich in der Generation der Ritschlschüler erheblich ab. Angesichts wachsender Religionskritik und eines im Zuge der fortschreitenden Industriellen Revolution rasch um sich greifenden Positivismus und Materialismus erwartete man die Zukunft des Christentums nicht mehr in Form einer verchristlichten Welt, sondern in Gestalt eines tendenziell weltenthobenen persönlichen Christentums. An der Theologie Wilhelm Herrmanns, der mit Recht zum bedeutendsten Systematiker der Ritschlschule erklärt wurde, lässt sich dieser Entwicklungstrend paradigmatisch aufweisen. Doch soll stattdessen Adolf von Harnack als Beispiel bevorzugt werden, dessen kulturprotestantische Wesensbestimmung des Christentums das Herrmann’sche Werk zwar nicht an Begriffsschärfe und Gedankentiefe, aber an Breitenwirksamkeit erheblich übertroffen hat. Dem theologischen Neukantianismus eines Wilhelm Herrmann lässt sich Harnack im Unterschied zu Männern wie Julius Kaftan (1848–1926), Richard Adelbert Lipsius (1830–1892), Max Reischle (1858–1905), Friedrich Traub (1860–1939) oder auch Heinrich Scholz (1884–1956) nur bedingt zuordnen, weil sein Programm religiös fundierter Humanität auf eine integrale und, wenn man so will, neoklassische Kultursynthese hinausläuft. Am 7. Mai 1851 als Sohn des renommierten Harnacks Weg zum WissenLutherforschers und exemplarischen Vertreters schaftspapst konfessionalistischer Kirchentheologie Theodosius Harnack (1817–1889) im baltischen Dorpat geboren, schloss Harnack 1872 sein Theologiestudium an der dortigen Universität ab, um vom Herbst selbigen Jahres bis Frühjahr 1879 die Universität Leipzig zu beziehen, wo er mit Gnostizismusforschungen bald schon die venia legendi erlangte und außerordentlicher Theologieprofessor wurde. In die Leipziger Jahre fiel nicht nur die persönliche Bekanntschaft mit Albrecht Ritschl, sondern auch die von Emil Schürer (1844–1910) initiierte Gründung der „Theologischen Literaturzeitung“, an der Harnack intensiv mitwirkte; später übernahm er selbst die Schriftleitung dieses einflussreichen Rezensionsorgans. Neben Schürer zählten Julius Kaftan (1848– 1926) und Wolf Wilhelm Graf von Baudissin (1847–1926) zu den Leipziger Busenfreunden. Seit 1879 wirkte Harnack für sieben Jahre an der theologischen Fakultät zu Gießen; diese Zeit war hauptsächlich erfüllt mit der Arbeit an dem in den Jahren 1886 bis 1890 in drei Bänden erscheinenden Lehrbuch der Dogmengeschichte, das seinen wissenschaftlichen Ruhm begründete, allerdings auch den definitiven Bruch mit dem theologisch konservativen Vater zur Folge hatte. Nach einem kurzen Marburger Zwischenspiel, während dessen Harnack u.a. neben

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Wilhelm Herrmann lehrte und mit der Gründung der protestantischen Kulturzeitschrift „Christliche Welt“ eine wichtige Plattform seiner literarischen Breitenwirksamkeit bekam, wurde er 1888 gegen den erklärten Willen der Kirchenbehörden auf Fürsprache vor allem des liberalen Kulturpolitikers Friedrich Althoff (1839–1908) durch den jungen König Wilhelm II. in die Reichshauptstadt Berlin berufen. Damit hatte Harnack bereits als 37jähriger den Höhepunkt einer im damaligen Deutschland möglichen akademischen Karriere erreicht. Die Metropole des Deutschen Reiches bot ihm eine bisher nicht gekannte Fülle von Kontakten, von denen lediglich derjenige zu dem einflussreichen Wissenschaftspapst Theodor Mommsen (1817–1903) eigens genannt werden soll. Es dauerte nicht lange, da war Harnack selbst ein Papst der Wissenschaften und eine öffentliche Institution geworden. Unter seinen in die Tausende gehenden fachwissenschaftlichen Publikationen ragen zusammen mit dem bereits erwähnten Lehrbuch der Dogmengeschichte die „Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius“ von 1893, die Untersuchung über „Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten“ von 1902 sowie die 1921 erschienene Monographie über Markion hervor. Eine breitere Öffentlichkeitswirkung als durch die gelehrten Werke namentlich zur Dogmengeschichte der Alten Kirche, die er als Patristiker und Vorsitzender der Kirchenväterkommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und eifriger Protagonist der Edition des „Corpus Patrum Graecorum Antenicaenorum“ vorlegte bzw. initiierte, hat Harnack indes durch eine andere Textgattung erlangt. Es handelt sich dabei einerseits um diverse Vorträge, Essays und Gutachten, die in den Jahren 1904 bis 1930 in insgesamt sieben Sammelbänden erschienen sind, und andererseits um den größten Öffentlichkeitserfolg des an öffentlichen Erfolgen reichen Wissenschaftslebens von Harnack, nämlich um die einstündige Vorlesungsreihe, die er im Wintersemester 1899/1900 unter dem Titel „Das Wesen des Christentums“ für Hörer aller Fakultäten an der Berliner Universität hielt. An diesem Text wird sich nachfolgende Skizze der Theologie Harnacks vornehmlich orientieren. Im Unterschied zu den hundert Jahre vorher erschienenen Reden F.D.E. Schleiermachers über die Religion wandte sich Harnack nicht an deren gebildete Verächter, „sondern an die vielen suchenden Seelen, denen die evangelische Kirche nicht mehr Heimat war, und die oft ihren eigenen religiösen Besitz nicht kannten oder nicht zu werten verstanden“ (Zahn-Harnack, 241). Die frei vorgetragenen, insgesamt sechzehn Vorlesungen wurden aufgrund einer studentischen Nachschrift im Jahre 1900 publiziert; „noch im Erscheinungsjahr folgte die zweite und dritte Auflage, denen bis zum Jahre 1927 elf weitere mit insgesamt 71000 Exemplaren folgten. Außerdem wurde das Buch in das Dänische, Englische, Esthnische, Finnische, Französische, Holländische, Japanische, Isländische, Italienische, Polnische, Russische, Schwedische, Spanische und Ungarische übersetzt.“ (Zahn-Harnack, 242) Wie den Begriffen des Wesens und des Christentums liegt auch dem Kompositum „Wesen des Wesen des Christentums Christentums“ eine komplexe und im Einzelnen

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höchst differenzierte Terminologiegeschichte zugrunde. Während in die philosophisch-theologische Verwendung des deutschen Wortes „Wesen“ die Bedeutungsgehalte des griechischen „ousia“ und des lateinischen „natura“, „substantia“ und „essentia“ eingegangen sind und entsprechend vielfältige Sinnvarianten möglich machten, bezeichnet das Wort „Christentum“, welches auf das griechische „christianismos“ und auf das zunächst von „christianitas“ nicht scharf abgegrenzte lateinische Lehnwort „christianismus“ zurückverweist, in der nachreformatorischen Zeit neben dem wahrhaft Christlichen in der Regel dasjenige, was den verschiedenen Konfessionsparteien unbeschadet ihrer Bekenntnisdifferenzen gemeinsam ist und sie von anderen – nichtchristlichen – Religionen unterscheidet. Als modernitätsspezifischer Reflexionsbegriff hebt der Terminus Christentum also bereits von sich aus auf das Wesen der christlichen Religion ab, wobei nach Harnack zu gelten hat, dass die christliche Religion in ihrer reinen Wesensgestalt nicht nur eine unter anderen, sondern die Religion der Religionen darstellt. Im Wesen des Christentums ist also seinem Urteil zufolge das Wesen der Religion überhaupt thematisch. Was die Religion ihrem Wesen nach ist, sucht Harnack – wie vor ihm Wilhelm Herrmann in seiner Hauptschrift von 1879 – namentlich anhand des religiösen Verhältnisses zum Welterkennen und zur Sittlichkeit zu ergründen. Dabei stimmen beide Theologen in der Annahme überein, dass es einen direkten Weg vom Welterkennen zur Gotteserkenntnis nicht gibt und niemals geben kann. Damit reduziert sich das Problem im Wesentlichen auf die Frage, wie die Eigenart der Religion gegenüber der Sittlichkeit und das Wechselverhältnis beider zu bestimmen sei. Gemeinsames Ziel ist es, unter konstruktivem und kritischem Bezug auf Kant eine moralische Funktionalisierung der Religion zu vermeiden und deren konstitutive Bedeutung für die Sittlichkeit aufzuweisen. Zu diesem Zwecke hatte Herrmann immanente Spannungen und Widersprüche Kants im Zusammenhang des Verhältnisses von Pflicht und Neigung, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Tugendübung und Glückseligkeit aufzuweisen versucht. Bemerkenswert ist, dass zur Lösung dieser Schwierigkeiten ausdrücklich auf Schleiermacher rekurriert wird, dessen Einfluss auch in Bezug auf Adolf von Harnack nicht gering veranschlagt werden darf. Die Grundstruktur der Herrmann’schen Argumentation ist stets die, dass die geoffenbarte Religion das Verwirklichungsproblem löst, welches beim Übergang vom noumenalen zum phänomenalen Ich, vom Autonomiebewusstsein reiner Sittlichkeit zum leibhaften Individuum entsteht, insofern dieses angesichts seines natürlichen Bedürfnisses und Strebens nach Selbstbehauptung und Selbsterhaltung das Sittlich-Gute nicht zu realisieren vermag und zwangsläufig in eine sittliche Krise gerät, die es nicht allein moralisch, sondern nur mit Hilfe von Religion und göttlicher Offenbarung bewältigen kann. Der von Schleiermacher und Rudolf Hermann Lotze (1817–1881) angeregte Zentraleinwand gegen Kant moniert mithin die Unkonkretisierbarkeit sowie die schließliche Unrealisierbarkeit des vom kategorischen Imperativ proklamierten Sittengesetzes. Um individuell angeeignet und damit konkretisiert und realisiert werden zu können, bedarf die Kant’sche Ethik einer Ergänzung durch die geoffenbarte Religion. Diese Ergänzung aber ist von

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konstitutiver Bedeutung, insofern die Unrealisierbarkeit des Sittengesetzes dieses an sich selbst auflösen würde. Die These lautet: Erst die Religion als die Überzeugung von der Realität der Kraft, welche die Welt mit verborgener Macht dem höchsten Zweck des Menschen unterstellt, ermöglicht die konkrete Entwicklung des sittlichen Selbst. Religion kann daher weder auf Ethik reduziert, noch aus dieser abgeleitet werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu seReligion im Verhältnis zu hen, dass Herrmann den Begriff des Dinges-anWelterkennen und Sittlichkeit sich, statt ihn als Grenzbegriff im Rahmen der theoretischen Vernunft zu deuten, praktisch fasst und mit dem die sittliche Persönlichkeit begründenden Selbstgefühl weltüberlegener Subjektivität verbindet. Von daher erhellt der Sinn des Schlüsselsatzes der Herrmann’schen Programmschrift über „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit“: „Derjenige religiöse Glaube, welcher uns ermöglicht, uns als ein von der Welt unabhängiges Ganzes zu fühlen, so daß wir die Forderung des Sittengesetzes, uns als ein von der Welt unabhängiges Ganzes zu denken, verstehen können, ist allgemeingültig.“ (Herrmann, 275) Bleibt hinzuzufügen, dass das integre Selbstgefühl, welches der christliche Glaube vermittelt, um zugleich sittliche Werke der Nächstenliebe aus der praktischen Vernunft der Moral heraus zu ermöglichen, in seinem tiefsten Grund vom Erscheinungsbild Jesu herrührt, dessen inne zu werden die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch seiner selbst gewahr wird. Im inneren Leben Jesu ist das Wesen des Christentums inbegriffen und dieses als die Religion der Religionen offenbar. Ganz analog argumentiert Harnack, wobei ihm Historie und Geltung allein die historische Methode das rechte Mittel abgeben soll, das Wesen des Christentums als der Religion der Religionen und der irdischen Person seines Stifters als des religionsgeschichtlichen Zentralindividuums zu erschließen. Diese im Vergleich zu Herrmann erstaunlich sicher wirkende Annahme ist vielfach kritisiert worden. Harnacks historischer Positivismus sei naiv und lasse die konstruktiven Anteile seiner Wesensbestimmung von Christentum und Religion notorisch unterbelichtet. Nicht nur Alfred Loisy (1857–1940), dessen von Harnacks Wesensschrift provoziertes Buch „L’Evangile et l’Eglise“ von 1902 trotz seiner apologetischen Tendenz als Programmschrift des Modernismus auf den römischen Index gesetzt wurde, sowie der jüdische Religionsphilosoph Leo Baeck (1873–1956), der 1905 ein „Wesen des Judentums“ publizierte, argumentierten so; auch Harnacks späterer Kollege in der philosophischen Fakultät zu Berlin, Ernst Troeltsch (1865– 1923), wies darauf hin, dass die Wesensschrift keine rein empirisch-induktive Arbeit sei, sondern starke geschichtsphilosophische Voraussetzungen einschließe: „Das Wesen ist eine intuitive Abstraktion, eine religiös-ethische Kritik, ein beweglicher Entwicklungsbegriff und das für die gestaltende und neu verknüpfende Arbeit der Zukunft einzusetzende Ideal. Es ist von allem etwas und im Grunde eine eigene selbständige religiöse Idee. Die Wesenbestimmung ist die Krone und

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zugleich die Selbstaufhebung der historischen Theologie, die Vereinigung des historischen Elementes mit dem normativen oder doch dem Zukunft gestaltenden der Theologie, und das ist nicht zum mindesten der Zauber an dem Harnackschen Buch, daß es die Arbeit des ungewöhnlich erfolgreichen Historikers mit der charaktervollen Auseinandersetzung des Christen gegenüber den verschiedenen Strömungen des religiösen und irreligiösen modernen Gedankens verbindet.“ (Troeltsch, 433) Troeltsch verfolgte mit diesem Hinweis indes nicht die Absicht, einen Dualismus zwischen Historie und Geschichte aufzurichten und die historischen Tatsachen einer äußerlichen Objektivität zu überantworten, welche das innere Geschichtserleben des Subjekts nichts angeht. Gegen die Tendenz Herrmanns, die Historizität Jesu in einer inneren Erlebnisgeschichte aufgehen zu lassen, stimmt er Harnacks Auffassung in der Absicht zu, das historisches Methodenbewusstsein dergestalt fortzuentwickeln, dass das Wesen des Christentums in der differenzierten Einheit seines historischen Ursprungs und dessen geschichtlicher Wirkung in Erscheinung tritt. Ob diese Intention bei Troeltsch und Harnack verwirklicht wurde, ist eine andere Frage. Bündig zusammengefasst wird das seinen historischen Ursprung und dessen genuine ge- Das Evangelium Jesu schichtliche Wirkung vereinende Wesen des Christentums nach Harnack in einem Wort, nämlich demjenigen des Evangeliums. Dabei müsse allerdings eine schon im Neuen Testament begegnende Doppeldeutigkeit beachtet werden. Einerseits nämlich bezeichne der Terminus Evangelium die Predigt des irdischen Jesus vom nahen Gott, andererseits sei er Ausdruck der apostolischen Verkündigung von Christus als der Inkarnationsgestalt des göttlichen Logos. Auch wenn Harnack zwischen dem einen und dem anderen Evangelium nicht einfachhin trennt, so liegt ihm doch an deren dezidierter Unterscheidung, wobei sein Verständnis wesentlichen Christentums eindeutig an der ersten, nach seinem Urteil originären Gestalt des Evangeliums orientiert ist. Das Evangelium Jesu, in welchem der Verkündiger noch nicht eigentlich als Verkündigter auftritt, ist nach Harnack vor allem durch drei Inhalte bestimmt, die jeweils das Ganze zur Darstellung bringen und sich lediglich perspektivisch unterscheiden: „Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen, Zweitens, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe.“ (WdChr 87) Klare Einsicht in diese Inhalte gewinnen lasse sich auf der Basis der drei ersten Evangelien, deren Quellenwert im Unterschied zu radikalen Kritikern der Zeit nicht ungünstig beurteilt wird, da sie „noch der ersten, jüdischen Epoche des Christentums an(gehören), jener kurzen Epoche, die wir als die paläontologische bezeichnen können“ (WdChr 66). Zwar sei es nicht möglich, ein „Leben Jesu“ im Sinne einer ausgearbeiteten Biographie zu erstellen, und selbstverständlich zuzugestehen sei auch dies, dass der Reflex der Wirkungen, die Jesus bei seinen Anhängern hinterließ, in die Darstellung des Evangeliums Jesu Eingang gefunden habe, wie die Synoptiker sie geben. Dennoch bleiben die genannten neutestamentlichen Quellen in historischer Hinsicht aufschlussreich:

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„denn sie bieten uns erstlich ein anschauliches Bild von der Predigt Jesu, sowohl in Hinsicht der Grundzüge als der Anwendung im einzelnen; sie berichten zweitens den Ausgang seines Lebens im Dienste seines Berufs, und sie schildern uns drittens den Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht hat, und den sie fortgepflanzt haben.“ (WdChr 73; bei H. hervorgehoben) Was Art und Inhalt der vom „steten Bewußtsein der Gottesnähe“ (WdChr 78) durchwirkten Predigt Jesu anbelangt, so unterscheidet sie sich nach Harnack charakteristisch von derjenigen Johannes des Täufers: Weder habe Jesus „wie ein heroischer Büßer gesprochen oder wie ein Asket, der die Welt von sich gestoßen hat“ (ebd.), noch sei für seine Verkündigung der „ganze dramatisch-eschatologische Apparat“ (WdChr 80), die theokratische Geißelung der herrschenden Zustände sowie das gesetzliche Geltendmachen der absoluten Souveränität Gottes entscheidend, wie dies für die Bußpredigt des Täufers der Fall sei. „Wohl verkündete auch er (sc. Jesus), als er auftrat: ‚Thuet Buße, das Reich Gottes ist herbeigekommen‘, aber indem er so predigte, wurde es eine frohe Botschaft. Nichts ist sicherer in der Überlieferung von ihm, als daß seine Verkündigung ein ‚Evangelium‘ war und als eine selige und freudenbringende Botschaft empfunden wurde.“ (WdChr 86) Der erste Grundzug der Predigt Jesu ist, wie erwähnt, auf das Reich Gottes und sein Kommen hingeordnet, deren Begriff und Vorstellung allerdings nicht eindeutig, sondern futurisch und präsentisch, universal und individuell zugleich bestimmt sind. Der verbreiteten exegetischen Annahme, für die Reich-Gottes-Predigt Jesu „sei allein die dramatische Zukunftserwartung“ (WdChr 89) maßgebend, vermag sich Harnack nicht anzuschließen. Im Gegenteil: Ausdrücklich erklärt er die apokalyptische Prägung der „basileia“-Botschaft Jesu für zeitbedingt, um als deren eigentümlichen Kern unter Verweis namentlich auf die Gleichnisse die väterliche Präsenz Gottes in der Einzelseele herauszuschälen. „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“ (WdChr 90) Der vermeintliche Verlust ist nach Harnack in Wahrheit allerdings ein Gewinn, weil die ihrer äußeren Hülle ledige Sache nun unverhüllt und rein zutage treten kann: „Das, was den Kern in der Predigt vom Reiche gebildet hat, blieb bestehen. Es handelt sich um ein Dreifaches. Erstlich, daß dieses Reich etwas Überweltliches ist, eine Gabe von Oben, nicht ein Produkt des natürlichen Lebens; zweitens, daß es ein rein religiöses Gut ist – der innere Zusammenschluß mit dem lebendigen Gott; drittens, daß es das Wichtigste, ja das Entscheidende ist, was der Mensch erleben kann, daß es die ganze Sphäre seines Daseins durchdringt und beherrscht, weil die Sünde vergeben und das Elend gebrochen ist.“ (WdChr 95) Die Einsicht, dass das Kommen des Reiches Gottes Heilsgegenwart für den Einzelnen meint (WdChr 94: „das Individuum wird erlöst, nicht das Volk oder der Staat“), findet Harnack durch den zweiten Grundzug der Predigt Jesu bestätigt, der

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die Väterlichkeit Gottes, die Vorsehung, die Gotteskindschaft und den unendlichen Wert der Menschenseele zum Inhalt hat, in deren Gefüge sich das ganze Evangelium ausspricht. Verdeutlicht wird dies anhand von vier Sprüchen bzw. Spruchgruppen Jesu, am Vater-Unser, an Lk 10,20, Mt 10,29f. sowie an Mt 16,26. Sie enthalten für Harnack nicht nur die Summe allen Christentums, sondern zeigen ihm zugleich an, „daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, daß es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem.“ (WdChr 96) Denn in seinem Vollzug kommen Gott und die Seele in differenzierter Weise, nämlich so überein, dass Gott als väterlicher Erlöser und Versöhner manifest, die leibhafte Seele des Menschen aber ihrer erlösten und versöhnten Gotteskindschaft gewiss sein darf. Gemessen an der sinnlichen Erfahrung und dem exakten Wissen ist die Koinzidenz des Differenten, wie sie zwischen Gott und der Seele im Vollzug des Evangeliums als dem religiösen Vollzug schlechthin statthat, ein Paradox. Doch tritt eben darin das Religiöse an der Religion, deren Wesen das Evangelium erfüllt, in vollendeter Weise zutage: „(S)ie ist nun nicht mehr blos eine Begleiterscheinung des sinnlichen Lebens, ein Coeffizient, eine Verklärung bestimmter Teile desselben, sondern sie tritt hier auf mit dem souveränen Anspruch, daß erst sie und sie allein den Urgrund und Sinn des Lebens enthüllt; sie unterwirft sich die gesamte bunte Welt der Erscheinung und trotzt ihr, wenn sie sich als die allein wirkliche behaupten will. Sie bringt nur eine Erfahrung, aber läßt in ihr ein neues Weltbild entstehen: das Ewige tritt ein, das Zeitliche wird Mittel zum Zweck, der Mensch gehört auf die Seite des Ewigen.“ (WdChr 101) Bleibt zu ergänzen, dass die religiöse Einsicht in den unendlichen Wert jeder einzelnen Menschenseele, wie das Evangelium sie durch Proklamierung der Väterlichkeit Gottes und menschlicher Gotteskindschaft vermittelt, die Möglichkeitsbedingung humaner Sittlichkeit darstellt, welche der besseren Gerechtigkeit und dem Liebesgebot als dem dritten Aspekt der Predigt Jesu entspricht. Ist das jesuanische Evangelium und mit ihm das genuine Wesen des Christentums damit in Das Evangelium von Christus Grundzügen zur Darstellung gebracht, so kommt es nach dem Kreuzestod und im Zuge der Botschaft von der österlichen Verherrlichung Jesu Christi gemäß Harnack zu einer fortschreitenden Transformation der Primärgestalt evangelischen Christentums, sofern nun der Verkündiger in die Stelle des Verkündigten einrückt. Zwar setze sich in dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus zunächst nur die Anerkennung fort, dass er der maßgebende Lehrer des Evangeliums sei, welches im Leben wie auch im Sterben Bestand habe. Doch zeige sich schon bei Paulus und mehr noch im Evangelium nach Johannes und anderen neutestamentlichen Schriften eine Tendenz, das zunächst gänzlich undoktrinäre urgemeindliche Bekenntnis zum Kyrios Jesus mit Christusspekulationen zu verbinden, welche diesen als göttliche Inkarnationsgestalt vorstellig machen. In-

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dem der Gedanke des Eintritts eines göttlichen Wesens in die Welt mehr und mehr zur christlichen Hauptsache erklärt wurde, musste er nach Harnack zwangsläufig zur Bedrohung für das ursprüngliche Evangelium werden und dessen genuinen Sinn bis zur Unkenntlichkeit hin entstellen. Die hellenistisch geprägte Dogmatik der Alten Kirche, wie sie in der Trinitätslehre und der Lehre von den zwei Naturen Jesu Christi paradigmatischen Ausdruck gefunden habe, sei das Ergebnis dieses – als Prozess der Hellenisierung bzw. Katholisierung des Christentums beschriebenen – Entfremdungsprozesses. An die Stelle des ersten war nun ein zweites und anderes Evangelium getreten, nämlich das von Christus als dem inkarnierten Logos und Gottmenschen, der göttliche und menschliche Natur in seiner Person auf wundersame Weise vereint. Dem hält Harnack entgegen: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ (WdChr 154) Trotz schärfster Angriffe fand sich Harnack nicht bereit, diesen Satz zu revozieren, der seine These vom doppelten Evangelium und sein Verständnis ursprünglichen Wesens des Christentums ebenso bündig wie kritisch zusammenfasst. Er kann zugleich als Grundsatz seiner dogmengeschichtlichen Gesamtkonzeption gelten. In der Geschichte der DogmengeschichtsschreiDogmengeschichte als bung ist Adolf von Harnacks Werk nicht nur in Dogmenkritik materialer Hinsicht, sondern auch insofern epochal, als es deren Ursprungsmotiv, aus dem heraus sie sich zu einer eigenständigen, durch historisch-kritische Methodik fundierten Disziplin bildete, auf genuine und klassische Weise Gestalt annehmen ließ. Diente Dogmenhistoriographie schon bei Johann Salomo Semler (1725–1791), der ihre Anfänge wie diejenige der historisch-kritischen Bibelexegese entscheidend prägte, im Wesentlichen dazu, den zeitinvarianten Geltungsanspruch des Dogmas durch Aufweis geschichtlicher Genesen zu problematisieren, um auf diese Weise der Emanzipation religiöser Subjektivität vom angeblichen oder tatsächlichen Dogmatismus kirchenamtlicher Vorschrift dienlich zu sein, so vollendet sich Harnacks Konzeption in der kritischen Zersetzung der traditionellen Dogmen und der ihr konformen Dogmatik bzw. in deren konstruktiver Transformation in kategorial andere Verbindlichkeitsgestalten des Christentums. Das seit Mitte der achtziger Jahre in drei Bänden erschienene, häufig neuaufgelegte „Lehrbuch der Dogmengeschichte“, welches Harnack noch vor Abschluss in einem „Grundriß der Dogmengeschichte“ (1886–1890) zusammenzufassen begann, bestätigt diesen Befund in Aufbau und Durchführung. Die Basis der Konzeption, wie sie in einleitenden Erwägungen zu Begriff, Aufgabe und Geschichte der Dogmengeschichte grundgelegt wird, besteht in der Annahme, „daß das dogmatische Christentum (die Dogmen) in seiner Konzeption und seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums ist“ (DG 4) und in folgender Zielangabe: „Indem die Dogmengeschichte den Prozeß der Entstehung und Entwicklung des Dogmas darlegt, bietet sie das geeignetste Mittel, um die Kirche von dem dogmatischen Christentum zu befreien und den unaufhaltsamen

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Prozeß der Emanzipation, der mit Augustin – ohne daß er es wußte – begonnen hat, zu beschleunigen. Aber sie zeugt auch von der Einheit des christlichen Glaubens im Laufe seiner Geschichte, sofern sie nachweist, daß die zentrale Bedeutung der Person Jesu Christi und die Grundgedanken des Evangeliums niemals verloren gegangen sind und allen Anläufen getrotzt haben.“ (DG 6) Entfaltet wird die in ihren fundierenden Elementen gekennzeichnete Konzeption in vier Hauptkomplexen, die Harnack in zwei ungleiche Teile zerlegt. Zunächst wird in einem ersten Teil die Entstehung des kirchlichen Dogmas oder, wie es ebenso heißt, der apostolisch-katholischen Glaubenslehre und des ersten wissenschaftlichen kirchlichen Lehrsystems zur Darstellung gebracht. Hier entfaltet Harnack u.a. seine erwähnte Grundannahme, dass die Fixierung des Christentums als Glaubenslehre einhergeht mit dessen – als tendenzielle Überfremdung zu beurteilender – Hellenisierung bzw. Gräzisierung. Ein zweiter Teil behandelt sodann in drei Büchern die Entwicklung des kirchlichen Dogmas: zunächst wird die Entwicklungsgeschichte des Dogmas nach seiner ursprünglichen – durch die griechisch sprechende Welt des Morgenlands geprägten – Konzeption als Lehre von der Erlösung in der Person des Gottmenschen aufgrund der, wie es heißt, natürlichen Theologie expliziert. Im Zentrum des Interesses stehen die Lehren von der Homoousie des Sohnes Gottes mit Gott selbst, von der vollkommenen Gleichbeschaffenheit des menschgewordenen Sohnes Gottes mit der Menschheit sowie von der personalen Einigung der göttlichen und menschlichen Natur in dem menschgewordenen Sohne Gottes. Ein zweites Buch erörtert die anschließende – abendländisch bestimmte – Erweiterung und Umprägung des Dogmas zu einer Lehre von der Sünde, der Gnade und der Gnadenmittel aufgrund der Kirche, wie sie namentlich unter dem Einfluss Augustins und der Politik des römischen Stuhles geschah. Geschildert wird also, wenn man so will, der Übergang von dem – mit der Beendigung des Bilderstreits im Grundsatz abgeschlossenen – griechischen zum römisch-lateinischen Katholizismus. Die Gesamtkonzeption vollendet sich in der Markierung des dreifachen Ausgangs der Dogmengeschichte, wie sie im dritten Buch des zweiten Teils vorgenommen wird: Es handelt sich erstens um den Ausgang des Dogmas im tridentinisch-vatikanischen Katholizismus, dessen Prinzip in den Papstdogmen von 1870 auf die äußerste Spitze getrieben wird, zweitens im Antitrinitarismus und Sozianismus und drittens im Protestantismus. Die innere Geschlossenheit des Entwurfs lässt sich gerade daran erkennen, dass der protestantische Ausgang des Dogmas die Möglichkeit erschließt, nach vollzogenem Durchgang durch den geschichtlichen Prozess der Entstehung und Entwicklung des kirchlichen Dogmas zu den prädogmatischen Ursprüngen des Christentums zurückzukehren, um sich von dessen dogmatischer Fassung insgesamt zu emanzipieren. Mit der erneut eröffneten Einsicht in das Evangelium Jesu von der unbedingten Vaterliebe Gottes als dem reinen Verständnis des Wortes der Hl. Schrift durch die Reformation des 16. Jahrhundert „ist im Prinzip die alte dogmatische Auffassung des Christentums abgetan, während doch im einzelnen eine feste Stellung zu ihr nicht gefunden ist und Reaktionen sich gleich anfangs eingestellt

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haben und noch fortdauern“ (DG 4). „Deshalb ist es“, so Harnack, „angezeigt, die Geschichte der protestantischen Glaubenslehre aus der Dogmengeschichte auszuschließen und innerhalb unserer Disziplin nur die Position der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen, aus der sich die komplizierte spätere Entwicklung ergibt, darzulegen. Somit kann die Dogmengeschichte als eine relativ abgeschlossene Disziplin behandelt werden.“ (Ebd.) Indirekt ist damit zugleich das Programm aktueller protestantischer Glaubenslehre angezeigt, wie Harnack selbst es systematisch verfolgt, nämlich sich nach geleisteter dogmengeschichtlicher Kritik des Dogmas konstruktiv auf die „kurze Geschichte des Evangeliums im Rahmen des palästinensischen Judentums“ zurückzubesinnen, welche vom Standpunkt der Kirchen- und Dogmengeschichte aus als „eine paläontologische Epoche“ (DG 11), aus der Sicht des Protestantismus nichtsdestoweniger als „die klassische Epoche“ (ebd.) des Christentums zu gelten hat. Statt auf Details der in Grundzügen skizzierten Griechischer Katholizismus dogmengeschichtlichen Konzeption einzugehen, sei ergänzend nur noch auf die typisierende Charakteristik verwiesen, die Harnack der griechischen und der römischen Form katholischen Christentums in seiner Wesensschrift zuteil werden lässt. Die Ausführungen über den griechischen Katholizismus beginnen mit der Aufforderung an den Leser, „um viele Jahrhunderte hinunterzusteigen“ (WdChr 206), um sich der gleichsam geschichtslosen Selbigkeit der griechischen Kirche seit dem dritten Jahrhundert zu versichern. Was hat der griechische Katholizismus geleistet? Erstlich dies, dass er dem Polytheismus und der heidnischen Philosophie in den von ihm beherrschten Gebieten ein definitives Ende bereitet hat; zweitens, dass er eine innige und beständige Symbiose mit der „Volksseele“ (WdChr 207) seiner Länder eingegangen ist. Wodurch ist die griechische Kirche charakterisiert? Harnacks entschiedene Antwort lautet: „Sie erscheint nicht als eine christliche Schöpfung mit einem griechischen Einschlag, sondern als eine griechische Schöpfung mit einem christlichen Einschlag.“ (WdChr 208; bei H. hervorgehoben) Das Christentum des ersten Jahrhunderts ist ihr fremd geblieben und hat – jedenfalls in ihrer äußeren Erscheinung – keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Streng genommen handelt es sich bei ihr nicht um eine geschichtliche, sondern um eine natürliche Religion (vgl. WdChr 208f.), die – aus gewissermaßen prähistorischen Komponenten zusammengesetzt – über die Jahrhunderte hinweg einen quasi zeitinvarianten Status behauptet. Dieser ist durch strikten Traditionalismus und einen durch Konservierung der äußeren Form bestimmten Ritualismus sowie durch buchstäblichen Lehrdespotismus gekennzeichnet, der in intellektualistischer Weise Glauben und Glaubenswissen koinzidieren lässt. Materialiter besteht das orthodoxe Glaubenswissen insbesondere im Schöpfungsgedanken, mit welchem, wie Harnack zugesteht, die Kosmologie der heidnischen Antike überwunden wurde, und in der Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers als dem „Herzstück der ganzen griechischen Dogmatik“ (WdChr 213), aus welcher sich schließlich auch die Trinitätslehre herleitete. Dabei gilt nach

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Harnacks Urteil: „der ganze Bau der kirchlichen Christologie steht außerhalb der konkreten Persönlichkeit Jesu Christi“ (WdChr 214) und ist im Unterschied, ja im Gegensatz zu dieser primär nicht an der Ausbildung geschichtlicher Sittlichkeit, sondern an dem mit pharmakologischen Metaphern zu umschreibenden Prozess der Umbildung der sterblichen Natur des Menschen durch die unsterbliche göttliche Natur orientiert. Erlösung von natürlicher Sterblichkeit, die an sich „als das größte Übel und als die Ursache aller Übel“ (WdChr 215; bei H. hervorgehoben) gilt, durch Teilhabe an der göttlichen Natur, welche ewiges Leben gewährt: Um der Befriedigung dieses soteriologischen Interesses willen musste der Logos-Christus wahrer Gott sein und wahrer Mensch werden. Cur Deus homo? Die griechische Antwort auf diese Frage lautet nach Harnacks Urteil: nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, um den Sünder zu versöhnen mit Gott, sondern um durch Vergottung der Menschheit eine Art von naturhafter Erlösung zu leisten. „Von hier aus erklären sich die ungeheuren Streitigkeiten um die Natur des Logos-Christus, welche mehrere Jahrhunderte angefüllt haben. Von hier aus erklärt es sich, warum Athanasius für die Formel, der Logos-Christus sei eines Wesens mit dem Vater, so gestritten hat, als handle es sich um Sein oder Nichtsein der christlichen Religion.“ (Ebd.) Der weitere dogmengeschichtliche Gang der Dinge im griechischen Katholizismus, dessen Ergebnis in stereotypen Lehrformeln auf Dauer gestellt und im Gottesdienst symbolisch repräsentiert werde, bestätigt Harnack diesen Befund und bestärkt ihn zugleich in seinem ablehnenden Urteil, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „1. die Vorstellung von der Erlösung als Vergottung der sterblichen Natur ist unterchristlich, weil ihr sittliche Momente im besten Fall nur angefügt werden können, 2. die ganze Lehre ist unannehmbar, weil sie mit dem Jesus Christus des Evangeliums kaum zusammenhängt, und ihre Formeln auf ihn nicht passen; sie entspricht also nicht dem Wirklichen, 3. sie führt, weil sie nur durch unsichere Fäden mit dem wirklichen Christus zusammenhängt, von ihm ab: sie erhält nicht sein Bild lebendig, sondern sie verlangt, daß man dieses Bild lediglich in angeblichen Voraussetzungen erkenne, die in theoretischen Sätzen zum Ausdruck gebracht sind.“ (WdChr 217) Lediglich mangelnder Konsequenz im niederen Klerus und im einfachen Volk sei es zu danken, dass sich im System des griechischen Katholizismus und namentlich in seinem Mönchtum sowie bei den Dichtern wertvolle Restbestände originärer christlicher Frömmigkeit erhalten hätten, die freilich ständig in Gefahr liefen, vom äußerlichen Mechanismus eines mystagogischen Zeremonienrituals erdrückt zu werden, welches dem orthodoxen Traditionalismus und Intellektualismus nicht nur beigesellt sei, sondern beide letztlich beherrsche nach Maßgabe des Grundsatzes: „Religion ist Kultus, nichts anderes.“ (WdChr 219) An dem Schluss führt nichts vorbei: „Das System der orientalischen Kirchen ist als Ganzes und in seiner Struktur etwas dem Evangelium Fremdes; es bedeutet sowohl eine wirkliche Transformation der christlichen Religion als auch die Herabdrückung der Frömmigkeit auf ein viel tieferes Niveau, nämlich auf das antike.“ (WdChr 222) Ja, Harnack scheut sich nicht zu sagen: „Um diese Art von Religion aufzulösen, hat sich Jesus Christus ans Kreuz schlagen lassen; nun ist sie unter sei-

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nem Namen und seiner Autorität wieder aufgerichtet!“ (WdChr 219; bei H. teilweise hervorgehoben) Harnacks Auseinandersetzung mit dem sog. griechischen Katholizismus gehört, um das mindeste zu sagen, zu den augenscheinlich undifferenziertesten Teilen seines gesamten Oeuvres. Sie erweckt über weite Strecken den Eindruck nicht nur des Pauschalurteils, sondern des notorischen Vorurteils. Mögen dabei die antiorthodoxen Ressentiments durch Abgrenzungsbedürfnisse des Baltendeutschen Richtung Osten mitveranlasst sein, so dürfte der primäre Grund für sie in einem anderen, durch die Systematik von Harnacks Werk bedingten Zusammenhang zu suchen sein. Die Polemik gegen den sog. griechischen Katholizismus ist die Vergegenständlichung seiner Kritik an der hellenistischen Überfremdung, genauer gesagt: an der tatsächlichen oder vermeintlichen Unterwerfung der originären christlichen Religion unter die Ägide der Metaphysik, des theoretischen Welterkennens und der natürlichen Theologie. Ist Harnacks Verhältnis zum Geist der OrthodoRömischer Katholizismus xen Kirchen ein durchweg distanziertes und – ähnlich wie im Falle der Kirchenväter – ein primär historisch-wissenschaftlich bedingtes, so steht ihm der römische Katholizismus nicht nur aus raumzeitlichen Gründen, sondern auch im mentalen Sinne ungleich näher. Zwar mag für äußere Betrachtung der Anschein größter Verwandtschaft zwischen griechischem und lateinischem Katholizismus und einer Äquidistanz zum Protestantismus erweckt werden; doch verflüchtigt sich dieser Schein bei näherem Zusehen, und es wird rasch klar, dass Protestantismus und römischer Katholizismus in vielem als eine eigentümlich abendländische Größe der morgenländischen Kirche gegenüberstehen. Was hat die römisch-katholische Kirche geleistet? Weit mehr und anderes als die griechische, der sie sowohl an Differenzierungsals auch an Integrationspotential in hohem Maße überlegen ist: sie hat die ihr anvertrauten Völker nicht auf ein anfängliches Bildungsstadium fixiert, sondern ihnen „etwas Fortbildungsfähiges geschenkt“ (WdChr 224), um ihnen bis zum 14. Jahrhundert mütterliche Erzieherin und fürsorgliche Begleiterin ihres Fortschritts zu sein; sie hat fernerhin im Unterschied zu den Verhältnissen in der Ostkirche „in Westeuropa den Gedanken der Selbständigkeit der Religion und der Kirche aufrecht erhalten gegenüber den auch hier nicht fehlenden Ansätzen zur Staatsomnipotenz auf geistigem Gebiet“ (WdChr 225). Wodurch charakterisiert sich die römische Kirche? Den Katholizismus inklusive den ihn kennzeichnenden Traditionalismus, Intellektualismus und Ritualismus teilt sie mit der griechischen. Hinzukommt allerdings „der lateinische Geist und das in der römischen Kirche sich fortsetzende römische Weltreich“ (WdChr 225), wodurch eine Reihe von eigentümlichen Modifikationen des allgemein Katholischen bewirkt werden. Diese betreffen vor allem den Charakter der Kirche als einer in Kultus und Lehre rechtlich verfassten Institution in der Nachfolge des römischen Reiches und seines Rechts. Der römischen Kirche ist es „ebenso wesentlich, Regierungsgewalt auszuüben, wie das Evangelium zu verkündigen“ (WdChr 229; bei H. hervorgehoben). Himmli-

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sches und Irdisches koinzidieren in ihrer verfassten Gestalt, um an der Spitze kirchlicher Hierarchie definitiv übereinzukommen, sofern der Papst im Prinzip als infallibler Künder des Reiches Gottes und absoluter Souverän in dem kirchlichen Weltstaat zugleich fungiert. Neben dieser Tendenz und in einer bestimmten Gegenläufigkeit zu ihr hat sich nach Harnack im römischen Katholizismus bis zur Gegenwart indes noch ein drittes Element behauptet, welches durch Augustin und den Augustinismus bezeichnet ist und eine „eigentümliche Wiedererweckung der paulinischen Erfahrung und Lehre von Sünde und Gnade, von Schuld und Rechtfertigung, von göttlicher Prädestination und menschlicher Unfreiheit“ (WdChr 232; bei H. hervorgehoben) in sich enthält. Diese Wiederentdeckung habe „die innere, lebendige Frömmigkeit und ihre Aussprache“ bis zum heutigen Tage „ganz wesentlich“ (WdChr 234; bei H. hervorgehoben) geprägt, um in den großen Reformgestalten der Kirche und besonders in der Reformation, aber auch in dem Reformkonzil von Trient mehr oder minder nachhaltig wirksam zu werden. Dem gehört Harnacks Sympathie: Während der römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt mit dem Evangelium nicht nur nichts zu tun hat, sondern ihm grundsätzlich widerspricht, bleibt dieses dank der lebendigen Tradition des Augustinismus als ein Sauerteig wirksam, um im Mönchtum, in religiösen Vereinen und anderwärts herzliche Frömmigkeit und lautere Sitten zu erzeugen. Durch „die erstaunliche ‚complexio oppositorum‘ im abendländischen Katholizismus“ (WdChr 234), der „gleichzeitig cäsarisch und augustinisch geworden ist“ (WdChr 232) und das „Äußerlichste und das Innerlichste“ (WdChr 234) zu verbinden beansprucht, ist nach Harnack nicht nur die dem römischen Christentum eigene Spannung bestimmt, sondern zugleich dessen spannungsvolles Verhältnis zur Orthodoxie auf der einen und zum Protestantismus auf der anderen Seite. Mit dem griechischen teilt der römische Katholizismus den gemeinsamen Oberbegriff des Katholischen und die ihn kennzeichnenden Attribute des Ritualismus, des Doktrinarismus und des Traditionalismus – freilich in einer Weise, die spezifische Differenzen sogleich erkennen lässt. Diese Differenzen betreffen, wie bereits erwähnt, zum einen die im Vergleich zum griechischen offenkundige Fortschrittsfähigkeit des römischen Katholizismus. Die römisch-katholische Kirche hat, wie schon gesagt, „den jugendlichen Nationen die christliche Kultur gebracht, und nicht nur einmal gebracht, um sie dann auf der ersten Stufe festzuhalten – nein, sie hat ihnen etwas Fortbildungsfähiges geschenkt, und sie hat selbst diesen Fortschritt in einem fast tausendjährigen Zeitraum geleitet“ (WdChr 224). Selbst als ab dem 14. Jahrhundert die kulturelle Leitfunktion des römischen Katholizismus sich mehr und mehr abschwächte, erwies er sich nach Harnacks Urteil in der Folgezeit als „nicht so zurückgeblieben wie die griechische Kirche“ (WdChr 224). Während diese sich mit den Ursprungsmächten Volkstum und Staat symbiotisch vereinte und unter Verzicht auf nennenswerte Emanzipationsbestrebungen regressiv auf dem Status einer natürlichen Religion verharrte, kann dem römischen Katholizismus ein anfangs sehr hohes und nach wie vor nicht gänzlich erschöpftes Maß an

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Geschichtsmächtigkeit attestiert werden, was wesentlich damit zusammenhängt, dass er die Selbständigkeit des Religiösen und des damit verbundenen Sittlichen gegenüber dem Omnipotenzstreben natürlicher Herrschaft erfolgreich behauptet hat. Gleichwohl wohnt der Behauptung der Selbständigkeit von Religion und Kirche gegenüber den äußeren Herrschaftsmächten im römischen Katholizismus „eine empfindliche Schranke“ (WdChr 225), ja eine tendenziell selbstdestruktive Dialektik inne, da in der Konsequenz des lateinischen Geistes und in ungebrochener Kontinuität des römischen Weltreiches, welches sich in ihr fortsetzte, die römische Kirche sich selbst als Herrschaftsmacht und zwar als Herrschaftsmacht nicht nur des Äußeren, sondern auch des Inneren gestaltete. Die hieraus erfolgenden „eigentümliche(n) Modifikationen des allgemein Katholischen“ (WdDas Prinzip der Autorität Chr 226) markieren eine weitere spezifische Differenz des römischen zum griechischen Katholizismus. Waren und sind in diesem, dem griechischen, Traditionalismus, Doktrinarismus und Ritualismus gleichsam noch in natürlichen Grenzen gehalten, so entgrenzen sie sich in jenem, dem römischen, zu unbeschränkter Herrschaft. Das Traditionsprinzip entwickelt sich zum Autoritätsprinzip, welches die hierarchisch geordnete Rechtgestalt der verfassten Kirche durchwaltet, um in dem mit potentieller Infallibilitätskompetenz und der Vollmacht universalkirchlicher Jurisdiktion ausgestatteten Papsttum auf die Spitze getrieben zu werden. Im römisch-katholischen Autoritätsprinzip, wie es in den Papstdogmen des I. Vatikanischen Konzils zu seiner konsequenten Vollendung gelangte, kommt nach Harnack das Traditionsprinzip einschließlich des ihm innewohnenden Doktrinarismus und Ritualismus zum entwickeltsten Bewusstsein seiner selbst. „Der Traditionalismus gilt nach wie vor; wenn aber ein Element in ihm unbequem geworden ist, so fällt es, und der Wille des Papstes tritt an die Stelle: ‚Die Tradition bin ich‘, soll Pius IX. gesagt haben.“ (WdChr 231) Ähnliches treffe für die rechte Lehre zu, die zwar als solche gelten solle, im Grundsatz aber „arbiträr geworden“ (WdChr 232) und der Dezision eines „ex sese“ gültigen Richterspruchs kirchlicher Autorität anheimgestellt sei. Im überkommenen Ritualismus aber feiere die römische Kirche ihre eigene Sakramentalität, um sich in der unbefleckt empfangenen und leibhaftig zum Himmel gefahrenen immerwährenden Jungfrau selbst auf urbildliche Weise vorstellig zu werden. Kurzum: Die in der Monarchie des Papstcäsars als des absoluten theokratischen Souveräns aufgipfelnde Herrschaft der Kirche „identifiziert sich mit dem Himmelreich“ (WdChr 230). Auch dieses Äußerste noch kann Harnack in bestimmter Hinsicht als einen evolutionären Fortschritt gegenüber dem griechischen Katholizismus werten, sofern in der Selbstapotheose kirchlicher Autorität die Entelechie des Traditionalismus, Doktrinarismus und Ritualismus sich erfüllt. Doch bedeutet Vollendung im gegebenen Zusammenhang zugleich definitives Ende, in welchem die Geschichte des Katholizismus zum selbstgewirkten – antihistoristischen – Stillstand gelangt. Das abschließende Verdikt erscheint Harnack als unausweichlich: „Der römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt, hat mit dem

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Evangelium nichts zu thun, ja widerspricht ihm grundsätzlich.“ (WdChr 237) Nicht nur um Entstellungen ursprünglichen Christentums handelt es sich im Falle des römisch-katholischen Anspruchs auf göttliche Dignität kirchlicher Autorität und Regierungsgewalt, „sondern um eine totale Verkehrung“ (WdChr 235). Ohne ausgesprochen zu werden, ist der Antichristvorwurf hintergründig präsent. Aus ihm bezieht Harnacks protestantischer Protest seine schneidende Schärfe: „Einst haben die römischen Christen ihr Blut vergossen, weil sie dem Cäsar die Anbetung verweigerten und die politische Religion verschmähten; heute beten sie zwar einen irdischen Herrscher nicht geradezu an, aber sie haben ihre Seelen dem Machtgebot des römischen Papstkönigs unterworfen.“ (WdChr 236) Trotz seines kontradiktorischen Gegensatzes zu dem im Dogma von Infallibilität und universalkirchlichem Jurisdiktionsprimat des Papstes sich vollendenden und zugleich geschichtlich zugrunderichtenden Katholizismus darf sich der protestantische Protest nach Harnack nicht in einer abstrakten Alternative zum manifest gewordenen katholischen Antihistorismus und seiner prinzipiellen Geschichtslosigkeit erschöpfen. Statt sich durch bloßen Gegenreflex blind machen zu lassen für bleibende geschichtliche Zusammenhänge zwischen Katholizismus und Protestantismus, gilt es vielmehr dieselben wahrzunehmen und in das eigene Selbstverständnis zu integrieren. Dies betrifft zunächst die Tatsache, dass sich inmitten des römischen ebenso wie inmitten des griechischen Katholizismus immer schon und bis zum heutigen Tage wahre Christenmenschen befunden haben und noch befinden, die Zeugnis geben von einer ununterbrochenen Sukzessionskette apostolischer Wahrheit. Auch dass sich das Evangelium überhaupt mit politischen Formen verbunden habe, sei nicht an sich schon ein Schade; dieser liegt erst „in der Sanktifikation des Politischen und in der Unfähigkeit d(er) Kirche, das abzustreifen, was einst unter besonderen geschichtlichen Verhältnissen zweckmäßig war, nun aber zum Hemmnis geworden ist“ (WdChr 239). Im Übrigen sei es, um das Wichtigste zu wiederholen, neben Mönchtum und religiösem Vereinswesen der Augustinismus gewesen, der den römischen Katholizismus trotz der manifesten Verkehrtheit seiner ekklesiologischen Erscheinung seinem inneren Wesen nach bleibend bestimmte. Daran könne der Protestantismus anknüpfen, um sich über die Brückenköpfe Luther und Augustin kontinuierlich mit dem ursprünglichen Christentum verbinden zu lassen. Zwar habe sich Augustin anders als Paulus nur selten zum Gefühl der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes aufzuschwingen vermocht, wofür Harnack ein unterschiedliches Sündenverständnis verantwortlich macht. „‚Ich lasse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vor mir liegt‘ – diese apostolische Maxime ist nicht die Augustin’s. Getröstetes Sündenelend – diese Farbe behält sein ganzes Christentum.“ (WdChr 233) Der Empfindung getrösteten Sündenelends indes habe er so überzeugenden Ausdruck verschafft, dass sie im Katholizismus und bei vielen Protestanten (WdChr 234: „und nicht den schlechtesten“) durch die Zeiten hindurch wirksam geblieben sei. Unschwer lasse sich erweisen, „daß alle die großen Persönlichkeiten, die in der abendländischen Kirche immer wieder neues Leben entzündet und die Frömmigkeit gereinigt und

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vertieft haben, direkt oder indirekt von Augustin ausgegangen sind und sich an ihm gebildet haben“ (WdChr 234). Luther ist hierfür nur ein, wenngleich ein überragendes Beispiel. Mit dem Wittenberger Reformator hebt eine ReLuthers ursprüngliche Einsicht naissance ursprünglichen Christentums an, die desund der aktuelle Protestantissen genuines Wesen neu zu erkennen gibt. Dabei mus ist nach Harnack statt einer Vielzahl von Motiven eigentlich nur ein einziger Beweggrund bestimmend geworden für Luthers geschichtliche Bedeutung. Die ganze Triebkraft seines sittlichen Lebens sei auf den Frieden seines geängsteten Gewissens gerichtet gewesen, welchen er durch unwandelbares Vertrauen des Herzens zu dem in Jesus Christus als Vater offenbaren allmächtigen Gott aus der Vollmacht des göttlichen Geistes gewonnen habe. Solch persönliche Glaubenszuversicht aber sei das innerste Wesen des Christentums und die ganze Summe der Religion. Im Empfinden kindlicher Zuversicht zu Gott sieht Harnack die evangelische Identität des Protestantismus begründet, dessen originäre Glaubensgewissheit als eines getrosten Inneseins der Väterlichkeit Gottes im Herzen verloren wäre, würde sie durch falsches Vertrauen auf die Autorität kirchlicher Ämter und kirchlicher Institutionen ersetzt. Angesichts einer wachsenden Neigung der Zeit, zu, wie er zu sagen pflegt, kirchlicher Uniform und Polizei ruft Harnack zur Rückbesinnung auf die ursprüngliche Einsicht der Reformation auf, welche das bleibende Wesen des Protestantismus, ja evangelischen Christentums überhaupt ausmache und von Albrecht Ritschl erneut ins Zentrum theologischer Aufmerksamkeit gerückt worden sei. „Das Evangelium ist keine theoretische Lehre, keine Weltweisheit; Lehre ist es nur insofern, als es die Wirklichkeit Gottes des Vaters lehrt. Es ist eine frohe Botschaft, die uns des ewigen Lebens versichert und uns sagt, was die Dinge und die Kräfte wert sind, mit denen wir es zu thun haben. Indem es vom ewigen Leben handelt, giebt es die Anweisung für die rechte Lebensführung. Welchen Wert die menschliche Seele, die Demut, die Barmherzigkeit, die Reinheit, das Kreuz haben, das sagt es, und welchen Unwert die weltlichen Güter und die ängstliche Sorge um den Bestand des irdischen Lebens. Und es giebt die Zusage, daß trotz alles Kampfes Friede, Gewißheit und innere Unzerstörbarkeit die rechte Lebensführung krönen werden. Was kann unter solchen Bedingungen ‚Bekennen‘ anders heißen, als den Willen Gottes thun in der Gewißheit, daß er der Vater und der Vergelter ist? Von keinem anderen ‚Bekenntnis‘ hat Jesus jemals gesprochen.“ (WdChr 156f.) Dieses ursprüngliche und in seiner Ursprünglichkeit ebenso einfache wie ewig gültige Bekenntnis gilt es zeitgemäß und glaubwürdig zu bezeugen. Die Glaubwürdigkeit dieses Zeugnisses ist dabei keine Frage der Metaphysik und des Naturerkennens, weshalb Harnack die historische Verknüpfung des Evangeliums Jesu „mit einem längst überwundenen Welt- und Geschichtsbilde“ (WdChr 158) gelassen registrieren und als das Wesen des Christentums im Innersten nicht berührend qualifizieren kann. Zu bewähren hat sie sich ausschließlich im Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit, wie er vom Erlebnis der Seele mit Gott seinen Aus-

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gang nimmt, um dieses Erlebnis in der persönlichen Lebenswelt denkend und handelnd zu entfalten. Dabei rechnet auch Harnack mit einem „Zugleich von Schon und Noch nicht“. Denn einerseits ist das religiöse Erleben in sich ganz und integer und durch keine empirische Selbst- und Welterfahrung falsifizierbar: „An das Erlebnis, den Herrn Himmels und der Erde zum Vater zu haben, reicht nichts heran, und die ärmste Seele kann diese Erfahrung erleben und bezeugen.“ (WdChr 157) Auf der anderen Seite macht sich ein eschatologischer Vorbehalt durchaus geltend, „denn wir vermögen unsere raumzeitlichen Erkenntnisse mit dem Inhalt unsers Innenlebens nicht in die Einheit einer Weltanschauung zu bringen. Nur in dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, ahnen wir diese Einheit.“ (WdChr 159f.) Mit der gegebenen Skizze protestantischer Realisierung christlichen Wesens schließt sich der Kreis der Argumentation, um im Durchgang durch die katholischen Gestalten des Christentums griechischer und römischer Provenienz zuletzt wieder dorthin zu gelangen, wovon er seinen Ausgang genommen hat: zum originären Christentum, welches – von der Reformation im Grundsatz wiederentdeckt – in Harnacks Wesensbestimmung zum prä- bzw. postkatholischen Bewusstsein seiner selbst gelangt. „Das Wesen des Christentums“ kann daher auch unter dem Gesichtspunkt einer geschichtlichen Genetisierung des um 1900 vorherrschenden Protestantismus in kritischer und konstruktiver Absicht gelesen werden. Durch Harnacks Person und Werk ist in typiWesen oder Unwesentlichkeit scher Weise jene theologische Richtung im deut- des Christentums schen Kaiserreich repräsentiert, mit welcher der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begriffsgeschichtlich nachweisbare Terminus „Kulturprotestantismus“ im engeren Sinne verbunden zu werden pflegt. Als spezifische Ausprägung kulturprotestantischen Denkstils wiederum gilt der sog. Historismus. Die Kritik am Kulturprotestantismus hat sich demgemäß in der Regel auf antihistoristische Weise artikuliert. Nach einer zwischengeschalteten Skizze zu Absturz und Wiederaufschwung der bürgerlichen Moderne im Deutschland des kurzen 20. Jahrhunderts wird hierauf näher einzugehen sein. Einen Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen mag einstweilen ein abschließendes Zitatarrangement aus dem Pamphlet „Adolf von Harnack. Ein Lexikon“ des Nietzsche-Freundes Franz Overbeck (1837–1905) geben. Es findet sich in dessen – von Karl Barth mit freudigem Beifall bedachten – Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, die Carl Albrecht Bernoulli (1868–1937) mit dem Titel „Christentum und Kultur“ versehen im Nachkriegsjahr 1919 aus dem Nachlass herausgegeben hat. Der Inhalt der Harnack’schen Wesensschrift, so dekretiert Overbeck in seiner Schmähschrift, spreche dem gewählten Titel Hohn, welcher zutreffender hätte lauten sollen: „Die Unwesentlichkeit des Christentums oder auch Das Wesen, der Geist des Christentums meiner Zeit“ (Overbeck, 208). Angemessen sei der tatsächliche Titel allenfalls unter dem Gesichtspunkt, dass er an Feuerbach als seinen Inspirator denken lasse. Auch wenn Harnack diesen Zusammenhang sich selbst und seinen Jüngern geflissentlich verborgen gehalten habe, offenbare er doch die Wahrheit

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einer Schrift, deren christliches Wesen sich als bloßer Tand zu erkennen gebe. „Ein so schwächliches Ding wie das Christentum seiner Vorträge mit dem Majestätstitel des Wesens ausstatten, heißt nichts anderes, als diesem Ding den Totenschein ausstellen. Daß Harnack und andere von diesem Toten leben, beweist nichts, solange problematisch bleibt, was sie selbst unter den Lebendigen sind, was diese Gesellschaft in der Gegenwart neben der anderen, die vom Christentum entgegengesetzt denkt und sich zu seiner derzeitigen Wesenlosigkeit bekennt, bedeutet. Die Zukunft wird es entscheiden.“ (Overbeck, 208) Wie dieser Zukunftsentscheid ausfallen wird, kann nach Overbecks Erwartung nicht zweifelhaft sein: Harnack ist „eine Eintagsfliege“ (Overbeck, 237), sein Christentum wenn nicht schon tot, nichts weiter als eine „erbärmliche Philisterreligion“ (Overbeck, 217), die im Sterben liege. Seiner „produktionshastige(n)“ (Overbeck, 224) Theologie aber werde es ergehen wie der Journaille, die sie sich zum Vorbild genommen habe: Morgen schon wird sie das heutige Schicksal der Zeitung von gestern teilen.

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Lit.: F.W. Graf, Art. Nationalsozialismus. 5. Theologiegeschichtlich, RGG4 6, 86–91. – L. Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, (Frankfurt a.M. 1996) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – U. Kluge, Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, (Frankfurt a.M. 1985) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – J. Mehlhausen, Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE 24, 43–78. – D.J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, (Frankfurt a.M. 1987) Lizenzausgaben Darmstadt 1997. – D. Staritz, Geschichte der DDR 1949–1990, (Frankfurt a.M. 1985) erweiterte Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – D. Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990, Erweiterte Neuausgabe (Frankfurt a.M. 1996) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – H.-P. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, (Frankfurt a.M. 1995) Lizenzausgabe Darmstadt 1997. – H.U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde von großen Teilen der Bevölkerung begeis- Die Weltkriegskatastrophe tert begrüßt und als Konsequenz des deutschen Sonderwegs gefeiert, der in den „Ideen von 1914“ als dem Alternativprogramm und der Gegenideologie zu den „Ideen von 1789“ exemplarisch verherrlicht wurde. Die Kirchen stellten in dieser Hinsicht keine rühmliche Ausnahme dar, sondern trugen im Gegenteil das Ihre zur unrühmlichen Verhimmlung des Krieges bei (vgl. Wehler IV, 17–26). Schon bald jedoch stellte sich Ernüchterung ein. Zwar konnte der Vorstoß des russischen Heeres im Osten abgewehrt werden. Auch an der Westfront gab es Anfangserfolge. Doch kam der Vormarsch aufgrund massiver alliierter Gegenwehr schon bald an der Marne zu stehen. Der Schlieffenplan hatte sich als Fehlkalkulation erwiesen, der Bewegungs- ging in einen zermürbenden Stellungskrieg über. Als auch in den Schlachten von 1916 keine Entscheidung herbeizuführen war und die Mittelmächte Deutschland-Österreich ins Hintertreffen zu geraten drohten, setzte insbesondere zur See eine Radikalisierung der Kriegsführung ein. Das brachte eine weitere Mobilisierung der deutschen Wirtschaft mit sich. Die Kriegsproduktion stieg noch einmal erheblich an, doch nahmen zugleich die sozialen Spannungen und Konflikte in der Kriegsgesellschaft zu. Der Legitimitätsverfall des staatlichen Systems mit dem Monarchen an der Spitze, überparteilicher Beamtenregierung und kaiserlichem Militär beschleunigte sich, und der 1914 proklamierte „Burgfrieden“ der Kriegsnation wurde brüchig.

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Verantwortlich dafür waren u.a. die kontroversen Kriegsziel- und Reformdiskussionen: „Erhofften sich Sozialdemokratie und Gewerkschaften vom Krieg innere Reformen, als Preis für ihre Kriegsanstrengungen insbesondere eine Änderung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und eine Parlamentarisierung des Reiches, wollte die Rechte innerhalb wie außerhalb der Parlamente ihre politischen und sozialen Machtpositionen gerade mit Hilfe eines siegreichen Krieges behaupten. Diesen Gegensatz versuchte die Reichsleitung mit ihrer Politik der ‚Neuorientierung‘ zu überbrücken. Diese lief darauf hinaus, Reformen anzukündigen, im Krieg aber möglichst alles beim alten zu lassen.“ (Ullmann, 257) Dieses Verfahren führte zu erheblichen gesellschaftlichen Polarisierungen. Die Massenproteste namentlich der Industriearbeiter vermehrten und verstärkten sich, es kam zu Streiks und gewalttätigen Demonstrationen. Als schließlich auch der deutschen Frühjahrsoffensive des Jahres 1918 der Erfolg versagt blieb, trieb die Krise ihrem Höhepunkt zu. Die Parteien drängten – koordiniert durch einen interfraktionellen Ausschuss – auf Parlamentarisierung. Unter der Kanzlerschaft Max von Badens erfolgte schließlich die überfällige Änderung der Reichsverfassung von 1871: Das Kaiserreich wurde eine parlamentarische Monarchie. Indes kamen die Oktoberreformen viel zu spät; der Legitimitätsverfall des monarchischen Systems war – von grundsätzlichen Mängeln seiner Modernisierungsfähigkeit abgesehen (vgl. Wehler IV, 198–205) – schon zu weit fortgeschritten, als dass die revolutionäre Bewegung noch hätte aufgehalten werden können. Von einer Flottenrebellion in Kiel ihren Ausgang nehmend, stieß sie nirgendwo im Lande auf nennenswerten Widerstand. Mit der unabwendbaren Kriegsniederlage war das definitive Ende der Monarchie gekommen. Das Zweite Deutsche Reich hörte auf zu sein. Die vier Jahre, in denen es sein Dasein beschloss, hatten eine Katastrophe von ungeheurem Ausmaß erbracht. In den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, der bereits Züge eines totalen Krieges aufwies, ließen allein auf deutscher Seite rund zwei Millionen Soldaten ihr Leben, knapp eine Million galt als vermisst, weit über vier Millionen wurden verwundet (vgl. Ullmann, 235). Die Novemberrevolution von 1918 (zum Forschungsstand vgl. Kluge, 10–38 sowie Wehler IV, Die Revolution von 1918/19 148–197) lässt sich in zwei Hauptphasen und eine Nachphase einteilen. Der Terminus a quo der ersten Hauptphase ist auf den 9. November zu datieren, der den Sieg der Revolution und damit den Staatsumsturz erbrachte. Vorangegangen war der erwähnte Aufstand der Matrosen, der später den Anlass der sog. Dolchstoßlegende bot, derzufolge das im Krieg unbesiegte Heer durch Meuterei in der Heimat zu Fall gebracht wurde. In Wahrheit war die Niederlage Deutschlands seit geraumer Zeit ausgemacht und unabwendbar. Nach dem erfolgten Staatsumsturz bildeten bis zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 Soldaten- und Arbeiterräte die neuen Befehlsinstanzen und politischen Vollzugsorgane anstelle der in der Massenbewegung untergegangenen parlamentarischen Monarchie. Sie stellen insofern eine organisatorische Novität dar,

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als die von ihnen beanspruchten Exekutivfunktionen basisdemokratisch legitimiert wurden. Die Räte verstanden sich – kurz gesagt – als lokale und regionale Repräsentationsorgane der revolutionären Volksbewegung. Einen Gegensatz zur parlamentarisch-demokratischen Ordnung intendierten sie zunächst keineswegs. Vielmehr kam es vielfach zu produktiver Zusammenarbeit mit den von Sozialdemokraten der MSPD und der USPD unter dem Druck der Volksbewegung auf Reichs- und Länderebene gebildeten Koalitionsregierungen. Es dauerte freilich nicht lange, bis das Bündnis zwischen der Rätebewegung und den Mehrheitssozialdemokraten brüchig wurde. Letztere setzten unter der Führung Friedrich Eberts weniger auf Revolution als auf konstitutionelle Reform und betonten im Übrigen und vor allem den Primat der Ordnung. In einer Art von Anti-Chaos-Reflex kam es infolgedessen zu einer intensiven Zusammenarbeit von Reichsregierung und den traditionellen Ordnungskräften von Militär und Verwaltung. Das führte nicht nur zu einer Radikalisierung von Teilen der Rätebewegung, sondern auch zu einer Renaissance der rechten Kräfte innerhalb der neuen Republik. „Während die unsichere Politik der Linken ihre Zersplitterung und Marginalität unterstrich, markierte deren Niederlage gegenüber regierungsloyalen Arbeiterverbänden und eingesetzten Freikorps, deren Greueltaten in der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar endeten, den beginnenden Zusammenbruch des Bündnisses von Protestbewegung und Konstitutionellen.“ (Peukert, 43) Die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 kann in gewisser Weise als eine Bestätigung der Domestizierungspolitik Eberts gewertet werden, da ihr Ergebnis nicht nur den Arbeiterparteien keine absolute Mehrheit erbrachte, sondern „trotz einzelner Umgruppierungen generell eine beträchtliche Kontinuität des Wählerwillens zwischen Kaiserreich und Republik“ (Peukert, 44) belegte. Auf eine gut zweimonatige Erstphase der Revolution, die als „Zeit der Entscheidungen“ (Peukert, 34, vgl. 39–44) bezeichnet werden kann, folgt eine zweite revolutionäre Phase, die sich als „Zeit der Enttäuschungen“ (Peukert, 34, vgl. 44f.) charakterisieren lässt. Zwar kam es in dieser Phase zu organisatorischer Konsolidierung und struktureller Stabilisierung der Rätebewegung. Doch führten die Massenstreiks im Frühjahr 1919 nicht zu dem gewünschten Erfolg, sondern zu Regierungsmaßnahmen und militärischen Aktionen, die das Ende der zweiten Revolutionsphase einleiteten. Das Schicksal der Münchener Räterepublik ist dafür exemplarisch, auch wenn es sich dabei lediglich um eine Episode handelte. Nach der Ermordung des USPD-Politikers Eisner am 21. Februar 1919, der Rätebewegung und parlamentarische Demokratie erfolglos zum Ausgleich zu bringen suchte, und dem Zerfall einer Koalitionsregierung des Mehrheitssozialisten Johannes Hoffmann wurde am 6./7. April die Räterepublik als neue Form politischer Alleinherrschaft proklamiert. Das Experiment war allerdings nur von kurzer Dauer. Nachdem die erste Räterepublik, für die Namen wie Ernst Niekisch, Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam stehen, bereits nach sechs Tagen endete, fiel die anschließende kommunistische Räterepublik Bayern den anrückenden Frei-

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korps zum Opfer, die im Auftrag der Reichsregierung die Reichsexekution übten und dabei vor Gräueltaten nicht zurückschreckten. Ein Nachspiel hatte die Revolution von 1918/19, deren zweite Hauptphase mit der militärischen Niederwerfung der kommunistischen Münchener Räterepublik ihr dramatisches Ende gefunden hatte, im März 1920 mit dem sog. Kapp-Putsch (13.3.1920) bzw. mit dem erfolgreichen Generalstreik gegen den Rechtsputschismus, der eine linksradikale Protestbewegung hervorrief, die ihrerseits in den Aktivitäten einer „Roten Ruhrarmee“ gipfelten. Die Niederwerfung der bewaffneten Arbeiterschaft durch die Reichswehrtruppen am 3. April 1920 beendete die Revolution in Deutschland endgültig. Die konstitutionelle Richtung, der die soziale Protestbewegung zur Macht verholfen hatte, konnte sich gegen deren radikale Revolutionskräfte durchsetzen, nicht zuletzt mit Hilfe der alten Eliten in Militär und Verwaltung. Die an das Ende der Revolution anschließenden Die Weimarer Republik Jahre von 1920 bis 1923 sind kaum weniger ereignisreich als die vorhergehenden. Nachdem sich die erste deutsche Demokratie 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung eine Grundlage gegeben hatte, die als realistischer Ausdruck der gegebenen Kräftekonstellationen gewertet werden kann (vgl. Kluge, 159–180), wurde die Verfassungsordnung, für die u.a. republikanische Staatsform, parlamentarische Demokratie, föderaler Reichsaufbau sowie starke Präsidialgewalt kennzeichnend sind, durch dramatische Begebenheiten der Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik erheblichen Belastungen ausgesetzt. In letzterer Hinsicht sei nur die wachsende und schließlich eskalierende Inflation erwähnt, die 1923 zum völligen Kollaps der deutschen Währung führte. Außenpolitisch belasteten erheblich die Folgen, die sich aus der geforderten Erfüllung des Versailler Friedensvertrags ergaben. Innenpolitisch hinwiederum drohte die Republik sowohl nach links als auch nach rechts in die Defensive zu geraten. Für die rechten Umtriebe sei Hitlers sog. Marsch zur Feldherrnhalle vom 8./9. November 1923 erwähnt. Zu den von starken Polarisierungen gekennzeichneten politischen Spannungsfeldern treten solche der gesellschaftlichen Modernisierung im Allgemeinen (vgl. Peukert, 87ff.). Mit Recht wurde die Weimarer Zeit zu Höhepunkt und Krise der klassischen Moderne in Deutschland erklärt. Das lässt sich sowohl im Blick auf die enorme Beschleunigungsdynamik in Technik und Naturwissenschaften als auch hinsichtlich der Geisteswissenschaften, der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, des Erziehungssystems und nicht zuletzt hinsichtlich der Religion der Gesellschaft und ihrer Theologie erweisen (vgl. im Einzelnen Wehler IV, 227–593). In den Jahren 1924–1929 kam es zu einer zeitweiligen Stabilisierung des Systems, die sich langfristig allerdings als trügerisch erweisen sollte (vgl. Peukert, 191ff.). Stresemanns Außenpolitik hatte zu dieser Systemstabilisierung maßgeblich beigetragen, sofern sie Alternativen zum außenpolitischen Revisionismus aufwies. Innenpolitisch wirkten die bekannten Trends und Probleme fort, wobei sich die Tendenz eines fortschreitenden Ausbaus der Elemente präsidialer Vorherr-

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schaft unter dem seit 1925 an der Spitze der Republik stehenden Paul von Hindenburg als besonders verhängnisvoll auswirken sollte. Die Abwendung vom demokratischen Modell und die Hinwendung zu totalitären Mustern war an den Rändern des politischen Systems offenkundig. Auch die Rolle der staatstragenden Eliten war nicht selten auf Fundamentalopposition ausgerichtet. Die vermeintliche innere Stabilität in den zwanziger Jahren (roaring twenties) erwies sich daher als Illusion. Die Weltwirtschaftskrise Ende Oktober 1929 wirkte schließlich als „Katalysator für den Bruch mit einem politischen System, das seine Legitimation bereits verloren hatte“ (Peukert, 243). In den Jahren 1930 bis 1933 bewegte sich die Weimarer Republik kontinuierlich ihrem Ende zu. Die Konzeption der autoritären Wende, welche Reichspräsident Hindenburg und die Kanzler Brüning und von Papen verfolgten, „war bei der Zerstörung der Republik erfolgreich gewesen, konnte aber die antirepublikanische Massenströmung nicht für sich selbst nutzbar machen. Diese wurde von Hitler für die NSDAP kanalisiert. Ende 1932 waren daher alle Alternativen verschlissen: Die demokratische Alternative war seit 1930 planmäßig marginalisiert worden, die kommunistische Alternative blieb im Ghetto des eigenen Protestpotentials gefangen, den Präsidialregimes ging mangels Massenbasis der Atem aus, und ein Staatsstreich der Reichswehr hätte angesichts der hochpolitisierten Öffentlichkeit und der radikalen Wehrverbände auf den Straßen den Bürgerkrieg mit unkalkulierbarem Ausgang auslösen können. Blieb nur noch die NSDAP.“ (Peukert, 259) Als Adolf Hitler (1889–1945) am 30. Januar 1933 Kanzler wurde, war der Weg von der Machtübertragung zur Machtergreifung nicht mehr weit. Auf das revolutionäre Ende des Kaiserreichs und die Weimarer Republik folgt der nationalsozialistische Totalitarismus, der in einem zweiten, nun manifest totalen Weltkrieg enden sollte. Dass der Protestantismus, der in der Weimarer Ära noch zwei Drittel der Bevölkerung umfasste, mehrheitlich die erste deutsche Republik unterstützte, liegt weitab von der Wahrheit. Seine Eliten schwankten, von Ausnahmen abgesehen, zwischen nostalgischem Monarchismus und völkischem Nationalismus (vgl. Wehler IV, 436–445). Wie das Bildungsbürgertum insgesamt vom Untergang des Reichs traumatisiert neigten namentlich protestantische Kirchenrepräsentanten und Universitätstheologen zu einer antirepublikanischen Gesinnung verbunden mit einem ausgeprägten Nationalismus. Die „Konservative Revolution“ fand in der Schar der Theologen nicht nur Anhänger, sondern führende Vertreter, die an ihrer prinzipiellen Verfassungsopposition und Republikfeindlichkeit keinen Zweifel ließen. Der republikanische Zusammenbruch war gekommen, als Hitler nach seiner Ernennung zum Hitlers Machtergreifung Reichskanzler am 1. Februar vom Reichspräsidenten die Auflösung des Reichstages erwirkte und Nachwahlen für den 5. März ansetzte. Der Wahlkampf, der im Zusammenhang des Reichstagsbrandes vom 27. und 28. Februar manifest terroristischen Charakter annahm, erbrachte der Regierung zwar die absolute, nicht aber die für die Verabschiedung des sog. Ermächtigungsgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit. „Mit einer Mischung aus Täu-

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schung und Werbung gelang es Hitler, die Fraktionen des Zentrums, der BVP und der Parteien der bürgerlichen Mitte für das Gesetz zu gewinnen.“ (Herbst, 65) Am 23. März 1933 wurde das Ermächtigungsgesetz gegen das geschlossene Nein der durch Verhaftungen bereits dezimierten SPD-Fraktion („die kommunistischen Abgeordneten befanden sich entweder in Schutzhaft oder waren emigriert“ [ebd.]) verabschiedet: Es „gab der Reichsregierung das Recht, losgelöst vom verfassungsmäßigen Gesetzgebungsverfahren, Gesetze zu beschließen und dabei jederzeit von der Reichsverfassung abzuweichen“ (ebd.). Die Weimarer Republik hatte sich auf diese Weise selbst verabschiedet. Es folgte die umgehende Gleichschaltung von Ländern, Gewerkschaften und Parteien mit dem Ziel des „totalen“ Staates. Propaganda und skrupelloser Terror dienten der Sicherung der diktatorischen Herrschaft. Die Traditionspflege wurde im Sinne von Integration und gezielter Desintegration funktionalisiert. Beispiele für Gedächtnisfunktionalisierung im Sinne totalitärer Integration bilden der sog. Tag von Potsdam am 21. März 1933, als die Versöhnung zwischen der NS-Bewegung und den Traditionen des alten Preußens inszeniert wurde, und dann die alljährliche Feier zum 1. Mai, welche auf volksgemeinschaftsideologische Aufhebung der Traditionen der Arbeiterbewegung abgestellt war. Das Judentum und seine Überlieferungen hingegen sollten aus dem Volkskörper – einem Abfallprodukt gleich – ausgeschieden werden. Das wird bereits an Judenboykott und Aprilgesetzen des Jahres 1933 deutlich erkennbar. Der sog. Arierparagraph etwa machte die Zugehörigkeit zum Berufsbeamtentum von rassistischen Gesichtspunkten abhängig. Wer Beamter werden wollte, musste einen sog. Ariernachweis führen. Auf dem siebten Reichsparteitag in Nürnberg im September 1935 verabschiedete Gesetze radikalisierten diese Entwicklung, indem sie erstens die Ehe sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden untersagten und zweitens das Staatsbürgerrecht neu gestalteten. In bewusster Abwendung vom Gleichheitsprinzip wird zwischen drei Kategorien von Menschen in Deutschland unterschieden: „Reichsbürger mit allen politischen Rechten und Pflichten, Staatsangehörige ohne politische Rechte und Pflichten sowie Ausländer und Staatenlose.“ (Herbst, 151) Scheinlegitimiert wurde diese bewusste Negation von Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit mit einer rassistisch eskalierten Ideologie des Nationalen, welche die ursprüngliche Allianz von Nationalismus und Liberalismus längst aufgekündigt hatte. Mit dem Untergang des Liberalnationalismus und dem Aufstieg des Reichsnationalismus seit den 1870er Jahren hatte die nationale Ideologie nicht nur häufig illiberal-reaktionären Charakter angenommen, sie entwickelte sich zugleich immer mehr zum sozialen Glaubenssystem, zur Zivilreligion des Reiches. Diese Entwicklung war umso bedenklicher, als sie mit dem Aufstieg des politischen Antisemitismus vielfach eng verbunden war. Auch sozialdarwinistische, pangermanische oder dem ideologischen Arsenal des Militarismus entnommene Anleihen trugen zur Radikalisierung des Nationalismus und seiner Agitationsverbände im Kaiserreich bei. In der Weimarer Zeit wirkten die mit diversem Fremdgut versehe-

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nen Mächte des ideologischen Nationalismus fort, um im sog. Dritten Reich unter den faschistischen Bedingungen eines totalitären Massenstaates erneut und in nie gekannter Schrecklichkeit manifest zu werden. Es ist hier nicht die Aufgabe, den inneren und äußeren Formierungsprozess des nationalsozialistischen Regimes und seiner, wie H.-U. Wehler im Anschluss an M. Weber sie nennt, „charismatischen Herrschaft“ (Wehler IV, 595) in Form einer Führerdiktatur auf dem Wege zur Großmacht und zur Erringung der Hegemonie (vgl. Herbst, 119ff.) nachzuweisen. Nur einige Stichpunkte seien geliefert: Dass der NS-Staat auch gegen Seinesgleichen unter Aufkündigung rechtsstaatlicher Prinzipien vor Terror nicht zurückscheute, bewies der Schlag gegen Ernst Röhm und die SA im Sommer 1934. Was die Außenpolitik betrifft, so diente sie Hitler zunächst vor allem der Abschirmung der entschlossen ins Werk gesetzten Aufrüstung. Diese trug erheblich zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei, was als einer der größten innenpolitischen Erfolge Hitlers gefeiert wurde. Als ein Beispiel für den engen Zusammenhang von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Aufrüstung sei der Autobahnbau erwähnt, der von Anfang an unter primär wehrpolitischen Gesichtspunkten erfolgte und in materialer Bauart und Streckenführung auf den Fall der Mobilmachung ausgerichtet war. Der außenpolitische Durchbruch zur militärischen Großmacht gelang Hitlerdeutschland im Zuge von Saarabstimmung und Rheinlandbesetzung durch den Antikominternpakt mit Japan und vor allem durch den Pakt mit dem italienischen Faschismus Mussolinis im Kontext des gemeinsamen Spanienengagements. Die Achse Rom-Berlin sollte sich schließlich auch, um es mit einem damals gängigen Politwitz zu formulieren, als der Bratspieß erweisen, an dem Österreich braun gebraten wurde. Der „Anschluss“ erfolgte im März 1938. Das Münchener Abkommen vom September desselben Jahres, mit dem der englische Premier Chamberlain meinte, den Frieden gerettet zu haben, brachte Hitler fernerhin die sudetendeutschen Gebiete ein. Innenpolitisch bewirkten die Erfolge im Äußeren vor allem eine Forcierung der nationalsozialistischen Judenpolitik. Es kam zur Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft, zum Novemberpogrom von 1938 („Reichskristallnacht“) und zu einer großangelegten Vertreibung der Juden aus Deutschland. Außenpolitisch wiederum war der Weg vom Münchener Abkommen bis zu dessen mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei erfolgten Bruch nicht mehr weit. Am 1. September 1939 erfolgte – vom deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrag gedeckt – der deutsche Überfall auf Polen. Der Zweite Weltkrieg nahm seinen verheerenden Lauf. Eine militante Aufbruchsstimmung war in der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Polenfeld- Der Zweite Weltkrieg zuges, anders als 1914, kaum vorhanden. Um so mehr musste der nationalsozialistischen Führung daran gelegen sein, die Identität der Volks- und Kriegsgemeinschaft durch ideologische Homogenisierung und scharfe Abgrenzung zu stärken. Die Verschärfung der Gegnerbekämpfung war eine Folge hiervon. „Als Verbrecher war ganz im Sinne des manichäischen Weltbildes jeder anzusehen, der sich von der Volks- und Kriegsgemeinschaft durch sein Han-

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deln ausschloß oder dem die Eignung, ihr anzugehören, abgesprochen wurde.“ (Herbst, 266f.) Die Tätertypen reichen nun vom „Wehrkraftzersetzer“ bis zum „Volksschädling“. Als Volksschädling konnten dabei auch psychisch und geistig Erkrankte eingestuft und der „Euthanasie“ preisgegeben werden. Rassenhygiene galt als Rechtfertigungsgrund für Entrechtung. Die biologistisch „legitimierte“ und systematisch betriebene Judenvernichtung war im Anzug. Der infolge der Defensivstrategie Frankreichs und Großbritanniens, der Taktik des modernen Bewegungskrieges und der deutsch-sowjetischen Kooperation zu einem raschen deutschen Erfolg führende Polenfeldzug erbrachte die vierte polnische Teilung und eine Anwendung des nationalsozialistischen Lebensraumkonzepts auf die von der deutschen Armee besetzten Gebiete im Sinne des am 7. Oktober 1939 Himmler übertragenen Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volksguts. Inwieweit die Wehrmacht an den Gräueltaten im Zuge dieser volkstumspolitischen „Flurbereinigung“ beteiligt war, ist bis heute umstritten. Auf den Polenfeldzug folgten im Frühjahr 1940 die Skandinavien- und Westfeldzüge. Beide waren militärisch erneut sehr erfolgreich. Am 24. Juni 1940 unterzeichnete die Regierung Pétain, die die Kontrolle über den Süden des Landes behielt und künftig von Vichy aus regierte, den Waffenstillstand, der Frankreich matt setzte. „Der Nimbus des ‚Führers‘, dessen strategisches Talent herauszustellen die Propaganda nicht müde wurde, erreichte einen neuen Höhepunkt. Die Opposition wurde jeder Grundlage beraubt. Selbst Skeptiker konnten sich der Siegesstimmung nicht entziehen.“ (Herbst, 312) Der Sieg der Achsenmächte über Großbritannien schien in der zwangsläufigen Konsequenz dieser Entwicklung zu liegen. Er sollte Hitler für die Zukunft volle Handlungsfreiheit nach Osten eröffnen. Doch führte die am 5. August 1940 beginnende Luftschlacht um England nicht zu dem von Hitler gewünschten Erfolg. Nachdem der Krieg auf dem Balkan und in Nordafrika zu einem vorläufigen Ende geführt worden war, griff Deutschland – trotz vertraglicher Bindung – am 22. Juni 1941 die UdSSR an. Motiviert war das „Unternehmen Barbarossa“ einerseits durch strategische Überlegungen, zum anderen durch das Bewusstsein eines antibolschewistischen Missionsauftrags, der durch die Maximen Vernichtung und Ausrottung bestimmt war. Völkerrechtliche Bestimmungen wurden dabei bewusst ignoriert. Die erste Phase des Russlandfeldzuges erbrachte bemerkenswerte Vorstöße, nicht aber den erhofften Blitzsieg. Nach Anfangserfolgen verhärtete sich die Front, konnte aber gehalten werden. Begleitet wurde diese Entwicklung durch eine weitere Ausweitung des Krieges. „Am 7. Dezember 1941 überfiel die japanische Flotte die amerikanische Marinebasis Pearl Harbor auf Hawaii. Vier Tage später, am 11. Dezember, erklärten Deutschland und Italien den USA den Krieg. Der Zweite Weltkrieg, der ja von Anfang an kein rein europäischer Krieg gewesen, sondern von den überseeischen Gebieten der Westmächte und den britischen Dominions mitgetragen worden war, nahm endgültig globale Ausmaße an.“ (Herbst, 400) Im Laufe des Jahres 1942 verschob sich die Kriegslage dramatisch zuungunsten der Achsenmächte und ihrer Verbündeten. Die Kapitulation der letzten Reste der

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6. Armee in Stalingrad Ende Januar/Anfang Februar 1943 war dafür ein verheerendes Zeichen. Die sich anbahnende Niederlage zeigte sich auch im Verlust der strategischen Initiative im Krieg zur See und zur Luft. 1943 begannen Briten und Amerikaner ihre Bomberoffensive gegen Deutschland. Hunderttausende von Zivilisten fielen den Flächenbombardements zum Opfer, die in den beiden letzten Kriegsjahren ihren Höhepunkt erreichten. Die weitere Verfallsgeschichte und das Ende des nationalsozialistischen Deutschland sind bekannt: Zusammenbruch Italiens, Landung der Alliierten in der Normandie, Zusammenbruch der Heeresgruppe „Mitte“, Abfall der Verbündeten und Eroberung Deutschlands durch die Truppen der Siegerkoalition. Seit der Jahreswende 1941/42, spätestens im Verlauf des Jahres 1942, war diese Entwicklung mehr als wahrscheinlich geworden, wenngleich Hitler und sein Propagandist Goebbels durch Proklamation des totalen Krieges sich ihr mit aller Gewalt entgegenstemmten. Je näher die Niederlage Deutschlands rückte, desto umfassender und gesteigerter wurde die nationalsozialistische Verbrechenspraxis. An die Stelle der territorialen „Lösung“ des „Judenproblems“ durch Deportation trat die „Endlösung“ der „Judenvernichtung“, wie sie die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 bürokratisch in die Wege leitete. Mehr als 5,29 Mio. Juden wurden Opfer ihrer Mörder. Wahrte der Katholizismus in Deutschland geNationalsozialismus und Progenüber dem Nationalsozialismus und seiner testantismus Ideologie mehrheitlich Distanz, so war das protestantische Verhältnis hierzu weitaus ambivalenter. „Die fatale Mentalität des Nationalprotestantismus blockierte nicht nur jede entschlossene Opposition, sondern begünstigte sogar eine willfährige Öffnung gegenüber dem völkischen Programm des neuen Rechtstotalitarismus.“ (Wehler IV, 797) Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen „Deutschem Christentum“ und der „Bekennenden Kirche“, die in der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 ihr Basisdokument fand, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protestantismus in weiten Teilen das nationalsozialistische Regime wenn nicht dezidiert affirmierte, so doch in beflissener Anpassung hinnahm. Mit dem zeithistorischen Epochenbegriff „Kirchenkampf“ lässt sich die Protestantismusgeschichte in den Jahren 1933 bis 1945 daher nur sehr unzureichend umschreiben. Zwar bezeichnet dieser Begriff zutreffend die um Leitung, Ordnung und Bekenntnisstand der evangelischen Kirche geführten Auseinandersetzungen der Jahre 1933/34. Nicht verwendungsfähig ist er hingegen „als kirchengeschichtliche Epochenbezeichnung für die Gesamtheit aller die Kirchen betreffenden Ereignisse in den Jahren zwischen 1933 und 1945“ (Mehlhausen, 43). Denn einerseits fanden dem Protestantismus vergleichbare innerkirchliche Auseinandersetzungen in der katholischen Kirche Deutschlands während der nationalsozialistischen Diktatur nicht statt, andererseits war die Gesamthaltung der Kirche und namentlich der evangelischen gegenüber dem Naziregime keineswegs auf entschiedenen Kampf gestimmt. „Nur kleine bis kleinste Segmente des vielschichtigen Geschehens können als ‚Kampf‘, als ‚resistentes

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Verhalten‘, als ‚Opposition‘ oder als ‚Widerstand‘ gegen die nationalsozialistische Herrschaft bezeichnet werden.“ (Ebd.) Nach dem vergeblichen Versuch einer EhrenretKapitulation und Teilung tung der Nation, den das misslungene Attentat Deutschlands auf Hitler vom 20. Juli 1944 angesichts der beispiellosen „Konterrevolution gegen die politischen und moralischen Werte der Moderne“ (Herbst, 452) unter seiner Führung darstellte, blieb Deutschland nur noch die bedingungslose Kapitulation, wie sie am 7./9. Mai 1945 durch das Oberkommando der Wehrmacht vor den Streitkräften der Alliierten erfolgte; Unzählige auf allen Seiten waren zuvor dem Wahnsinn der letzten Kriegsmonate zum Opfer gefallen. Insgesamt forderte der 2. Weltkrieg 55 Millionen Tote, davon 20 Millionen allein aus dem Bereich der Sowjetunion. Die von Hitler Ende April in seine Nachfolge eingesetzte Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz ging am 23. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft. Hitler selbst hatte sich bereits am 30. April durch Suizid aus der irdischen Verantwortung gestohlen. Das auf die Grenzen von 1937 reduzierte Deutschland wurde unter Abtrennung der Gebiete östlich von Oder und Neiße, die teils an die UdSSR fielen, teils unter polnische Verwaltung kamen, zwischen den Siegermächten geteilt; Berlin wurde zur Vier-Sektoren-Stadt. Die Gebietsverluste brachten systematische Vertreibungen der deutschen Bevölkerung mit sich. Im Übrigen bildete der deutsche Zusammenbruch den negativen Ausgangspunkt einschneidender struktureller Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, wie sie in den unter Beiziehung Frankreichs gefassten Beschlüssen der „Großen Drei“ – Truman, Stalin und Churchill bzw. Attlee – im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 vorgesehen waren. Das Potsdamer Abkommen „war auf der Grundlage eines amerikanischen Entwurfs entstanden und verfolgte im wesentlichen eine liberal-demokratische Grundtendenz, die die Amerikaner in den fünf ‚D‘s zusammenfaßten: Demokratisierung, Denazifizierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung, Dezentralisierung.“ (Thränhardt, 22) Es kam zu Parteienbildungen auf der Basis gemeinsamen Bekenntnisses zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. CDU und CSU konstituierten sich als bürgerliche Sammlungspartei, für die nicht nur die politische Zusammenarbeit von Katholiken und Protestanten, sondern die „Union aller Stände und Klassen“ kennzeichnend sein sollte. Als zweite bürgerliche Partei etablierte sich die FDP mit einem anfangs noch starken nationalliberalen Flügel über längere Zeit. Das Profil der SPD wurde wesentlich von ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher und den Auseinandersetzungen mit der KPD bestimmt. Während in der Sowjetischen Besatzungszone die SPD mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) zusammengezwungen werden sollte, teilte die SPD unter Schumacher den für die erwähnten Parteigründungen und für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt grundlegenden doppelten – gegen Faschismus und Kommunismus gerichteten – Basiskonsens. Dieser von einer verbreiteten prowestlichen Grundstimmung getragene Basiskonsens nahm den parteipolitischen

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Konfrontationen der fünfziger Jahre nichts von ihrer Härte, formierte aber ein demokratisches Spektrum mit stabilen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich liberale Presse- und Rundfunkstrukturen und ein entsprechendes Gewerkschaftsund Verbandswesen ausbilden konnten. Der weitere Verlauf der deutschen Nachkriegsgeschichte war von einer politischen Großwetterlage bestimmt, die man mit der Wendung „Kalter Krieg“ umschrieben hat. Der frühzeitig erkennbare ideologische Widerstreit zwischen amerikanisch-britischer Besatzungsmacht einerseits (die Besatzerrolle Frankreichs in einer verhältnismäßig kleinen Zone stellt ein Sonderproblem dar) und der sowjetischen andererseits hatte schnell zum manifesten Gegensatz geführt, wie er etwa in der „Truman-Doktrin“ vom 12. März 1947 proklamiert wurde. Amerikaner und Briten entschieden sich, trotz förmlichen Festhaltens am Gedanken der deutschen Einheit Westdeutschland demokratisch zu festigen und die „Ostzone“ sowjetischem Einfluss zu überlassen. So kam es in Deutschland zu einer auf die Trennung von West und Ost hinauslaufenden Ent- Bundesrepublik Deutschland wicklung. Im Westen wurde die Basis für diese Entwicklung in dem von einem Parlamentarischen Rat konzipierten Grundgesetz gelegt, das aus dem Scheitern der Weimarer Republik verfassungsrechtliche Konsequenzen zu ziehen suchte und bei aller Kontinuität zur Weimarer Reichsverfassung zentrale institutionelle Änderungen vornahm: Sie betrafen u.a. den Status des Präsidenten, dessen Befugnisse im Unterschied zu Weimar beschnitten und weitgehend auf Repräsentationsfunktionen eingeengt wurden, aber auch die ehedem reichhaltigen plebiszitären Systemanteile: Direkte Volksabstimmungen wurden tendenziell zugunsten einer Volksvertreterdemokratie beschränkt. Neu konzipiert wurde nach den Erfahrungen mit dem totalitären System auch der Grundrechtskatalog. Grundrechte werden in einem prinzipiellen Sinne priorisiert und gelten nicht nur als Programmsätze, sondern als unmittelbares Recht. Die Verfassungsgrundsätze von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Föderalismus werden als indisponibel eingestuft. Ein eigens eingerichtetes Bundesverfassunggericht hat die Verfassung zu interpretieren und zu schützen. Es ist als einzige Instanz befugt, Parteiverbote auszusprechen. Alle diese institutionellen Entscheidungen waren von einem breiten, fraktionsübergreifenden Konsens gedeckt, der die westdeutsche Staatsgründung zu einem Erfolgsmodell werden ließ. Zwar gab es in den Fragen der Wirtschaftsordnung anfangs noch erheblichen Dissens, doch kam es auch hier bald zu einer weitreichenden Übereinstimmung im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft. Sozialisierungspläne, wie sie in ihrem „Ahlener Programm“ selbst die CDU vertreten hatte, wurden fallengelassen. Das nach erfolgter Währungsreform seit 1950 u.a. infolge des Korea-Krieges sich anbahnende „Wirtschaftswunder“ motivierte und forcierte diese Entwicklung. Zugleich wurde es – sieht man vom „Wunder von Bern“, dem Sieg der deutschen Elf bei der Fußballweltmeisterschaft unter Sepp Herberger ab! – „zum Kern des neuen deutschen Selbstbewußtseins der fünfziger und sechziger Jahre. Nach der Niederlage

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im Krieg, der Erfahrung des Nachkriegselends und der Vernichtung der traditionellen nationalen Identifikationsmuster war das ein Weg, eine neue Identifikation zu gewinnen.“ (Thränhardt, 77) Der namentlich von Konrad Adenauer (1876– 1967) dezidiert und unter bewusster Inkaufnahme des Verlustes der Einheit Deutschlands betriebenen Politik des Atlantischen Bündnisses und der westeuropäischen Integration kam dies entgegen. Um nur zwei Aspekte der Realisierungsgeschichte dieser Politik seit Amtsantritt der ersten Bundesregierung im Jahre 1949 stichwortartig zu benennen: Wirtschaftspolitisch führte der Weg von der Montanunion von 1951 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, verteidigungspolitisch über Wiederbewaffnung und militärische Westintegration zum Nato-Beitritt der Bundesrepublik im Jahre 1955. Nicht unerheblich trug zur westeuropäisch-atlantischen Akzeptanz der Bundesrepublik das sog. Wiedergutmachungsabkommen mit Israel bei. Es darf freilich – ganz abgesehen von dem mehr als bedenklichen Begriff der Wiedergutmachung – nicht übersehen lassen, dass die Schritte zur sog. Vergangenheitsbewältigung in der frühen Bundesrepublik zögerlich erfolgten. Ehemalige Nazis fanden sich bald in führenden Regierungs- und Verwaltungsämtern wieder, wofür der Fall des Bundeskanzleramtschefs Globke nur ein besonders extremes Beispiel war. Ein positiver Effekt dieser Entwicklung kann immerhin darin gesehen werden, dass die politische Eingliederung breiter Bevölkerungsschichten mit bisher nicht- oder antidemokratischer Orientierung in bemerkenswertem Umfang gelang. Rechtsradikale Wählerpotentiale wurden durch Abschöpfung weitgehend neutralisiert. Dabei fungierte der für die überwiegende Mehrheit aller bundesrepublikanischen Wählerschichten charakteristische Antikommunismus als gesellschaftliche Integrationsideologie erster Ordnung. Ein Beleg dafür ist die Entwicklung der SPD zu einer bürgerlichen Volkspartei der linken Mitte, wie sie im „Godesberger Programm“ von 1959 festgeschrieben und durch die fortschreitende Akkomodation der Oppositionsrolle an den Mehrheitswillen vorweggenommen wurde. Mit der Integration der Bundesrepublik ins westDeutsche Demokratische liche Bündnissystem, welchem diejenige der sog. Republik Ostzone in den Warschauer Pakt entsprach, war die Teilung Deutschlands zwar nicht in der Theorie, aber doch faktisch vollzogen, zumal da eine Neutralisierung Deutschlands keine realpolitische Möglichkeit darstellte. Die östliche Seite entwickelte daraufhin die Doktrin der Existenz zweier deutscher Staaten, wohingegen in der Bundesrepublik von der DDR nicht allein in den Blättern der Springer-Presse in Anführungszeichen gesprochen wurde. Ein unübersehbares Zeichen für die faktisch erfolgte Trennung war der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, der alle Hoffnungen auf kurz- oder mittelfristige „Wiedervereinigung“ desillusionierte. Zwar blieb die Vereinigungsidee auf der Basis politischer Freiheit für den neuentstehenden Staat Hauptdogma bundesrepublikanischer Politik. Doch Realisierungschancen hatte diese Idee nicht. Als realpolitisch wenig produktiv erwies sich auch die sog. Hallstein-Doktrin, derzufolge

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Bonn die Aufnahme und Beibehaltung diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten von deren Nichtanerkennung der DDR abhängig machen sollte. Nachdem sich die Einflusssphären der beiden großen Machtblöcke in Deutschland im Wesent- Das Ende der Adenauerära lichen konsolidiert hatten, flaute der Kalte Krieg ab und Möglichkeiten einer künftigen Entspannungspolitik zeichneten sich ab. Zum Symbol neuer politischer Weichenstellungen wurde der Wechsel von Dwight D. Eisenhower zu John F. Kennedy in der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten zu Beginn der sechziger Jahre. Auch in der Bundesrepublik mehrten sich die Anzeichen für eine politische Trendwende. Adenauers Kanzlerdemokratie zeigte erste Verschleißerscheinungen. Zwar blieben Westbindung, Antikommunismus und Soziale Marktwirtschaft tragende – vom Mehrheitswillen der Bevölkerung eindeutig gestützte – Säulen seiner Macht. Doch Adenauers „autoritär-demokratischer“ Führungsstil erregte mehr und mehr Missfallen selbst in den eigenen Reihen, zumal da die Vorgänge um die Heuss-Nachfolge Adenauers Prestige erheblich erschüttert hatten. Neuorientierungen lassen sich besonders in soziokultureller Hinsicht erkennen. Verstärkt meldet sich Kritik an den restaurativen Tendenzen des „nachtotalitären Biedermeiers“ der frühen Bundesrepublik, in der sich intensiver westlicher Kultureinfluss mit Eskapismus in Naturlyrik, Heimatfilm und Schnulze paarten, nachdem der neue Konsum standardisierter Waren die Gesellschaft stärker homogenisiert hatte, als das je zuvor der Fall gewesen war (vgl. Thränhardt, 136–140). Die „Spiegel-Krise“ vom Herbst 1962 wurde zu einer Art von Initialzündung, die dem diffusen Unbehagen am restaurativen Klima der Adenauerära zu unüberhörbarem Ausdruck verhalf. Allerdings kam es erst nach dem Scheitern Ludwig Erhards, der als Nachfolger von Adenauer von 1963 bis 1966 das Amt des Bundeskanzlers innehatte und in dieser Funktion insbesondere durch wiederholte Maßhalteappelle und die Proklamation der „formierten Gesellschaft“ in Erinnerung blieb, zu tiefgreifenden politischen Veränderungen. Vorangegangen waren erste Ansätze einer vom Geiste Kennedys inspirierten Entspannungspolitik der kleinen Schritte, wie sie der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, SPDParteivorsitzende und Kanzlerkandidat Willy Brandt u.a. mit seinem mit der DDR-Regierung vereinbarten Passierscheinabkommen verfolgte. Im Lager der Union trugen die enger werdenden Beziehungen der SPD zur Washingtoner Regierung dazu bei, dass sich neben der außenpolitischen Grundrichtung der sog. Atlantiker die der sog. Gaullisten formierte, deren Anhänger mit der Bindung an das Frankreich General De Gaulles ein Gegengewicht gegen die Abhängigkeit von den USA zu schaffen suchten. Die Jahre der Großen Koalition von 1966 bis 1969 können als Zeit der Krise, des Protests und der Die 68-er Revolte stabilisierenden Reformen gekennzeichnet werden (vgl. Thränhardt, 167ff.). Der Protest artikulierte sich am lautstärksten in der Studentenrevolte der 68–er Bewegung. Inwieweit diese begründeten Anlass gibt, die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte in eine restaurative Anfangsphase

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und in eine nachfolgende Aufbruchsphase zu unterteilen, ist ebenso umstritten wie Sinn und Bedeutung der Studentenbewegung überhaupt. Faktum ist, dass sie innerhalb und außerhalb der Universität einen erheblichen, antiautoritär motivierten, Traditionsabbruch bewirkte, der auf eigentümliche Weise verbunden war mit einer massiven – durch eine elitäre Mischung marxistischen und psychoanalytischen Vokabulars charakterisierten – Reideologisierung des Denkens. Diese Reideologisierung erfolgte auf der Basis eines entschiedenen Antiamerikanismus im Kontext des Vietnamkrieges. In der Ära der Großen Koalition durch Organisation des Massenprotests anfangs erfolgreich, zerfiel die Studentenbewegung kurze Zeit nach Bildung der Regierung Brandt/Scheel. Extremistische Sondergruppen verschworen sich dem Terror der RAF, bewirkten aber statt der erhofften Erschütterung des Staatswesens eher dessen Befestigung. Die im Jahre 1969 gebildete Regierung der soziSozialliberale Koalition und alliberalen Koalition – die u.a. durch die Wahl Kanzlerschaft Kohls Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten auf den Weg gebracht wurde – zeichnete sich vor allem durch eine Reihe innerer Reformen etwa im Bildungswesen sowie insbesondere durch eine neue Ostpolitik aus, wie sie bereits durch eine EKD-Denkschrift über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ von 1966 gefordert worden war. Die Bundesrepublik war von nun an „nicht mehr Hindernis, sondern treibende Kraft des Entspannungsprozesses zwischen Ost und West“ (Thränhardt, 191). Trotz folgender innenpolitischer Konflikte, die in einem – allerdings gescheiterten – Misstrauensvotum gegen Kanzler Brandt gipfelten, wurde die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung durch die Bundestagswahl von 1972 mehrheitlich bestätigt. Daraufhin forcierte man die Reformpolitik im Inneren, stieß aber bald auch auf institutionelle Grenzen, bis schließlich die Ölkrise von 1973/74 das Ende des Reformklimas und der Kanzlerschaft Brandts mit sich brachte. Die Affäre Guillaume lieferte den äußeren Anlass zum Rücktritt. Auf Brandt folgte Helmut Schmidt, der sich unter veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen um ökonomische und soziale Stabilisierung bemühte, dem krisenbeförderten Anwachsen einer reformabgeneigten Stimmung aber nur bedingt wehren konnte. Schmidt profilierte sich vor allem durch seine außenpolitische und außenwirtschaftliche Kompetenz, die ihm in den Jahren von 1974– 1982 eine weltpolitische Stellung von hohem Ansehen einbrachte. Im Inneren hingegen trug sein Image als Macher zumal in eher linksorientierten Kreisen zu einer wachsenden Entfremdung von der Regierungspolitik bei. Die Unzahl von basisdemokratisch motivierten Bürgerinitiativen kann dafür als ein Beleg gelten. Es ist zugleich die Zeit, in der sich „Die Grünen“ als neue Protestpartei etablieren konnten. Am 1. Oktober 1982 erfolgte der Wechsel von der sozialliberalen Koalition zur bürgerlichen Koalition von FDP und Unionsparteien unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls, die erst im Herbst 1998 durch ein rot-grünes Regierungsbündnis abgelöst wurde.

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Das historisch wichtigste Datum der KanzlerDie Wiedervereinigung schaft Kohls ist in deutscher, europäischer, ja in Deutschlands weltgeschichtlicher Perspektive zweifellos die im Kontext des Zusammenbruchs des kommunistischen Sowjetimperiums durch friedliche Revolution wiedergewonnene Einheit Deutschlands. Die Krise des real existierenden Sozialismus und die Erosion des SED-Regimes hatte sich insgeheim bereits abgezeichnet, als die deutsche Entspannungspolitik mit dem Besuch Honeckers in der Bundesrepublik 1987 ihren Höhepunkt erreichte. Sie wurde manifest, als am Vorabend des vierzigsten Jahrestages der DDR deutlich wurde, „daß die Grenzsicherungsgemeinschaft des Warschauer Paktes nicht mehr funktionierte und ein nur noch formal existierendes sozialistisches Lager der DDR keinen hinreichenden Schutz bot“ (Staritz, 358). Namentlich über Ungarn war es zu einem Massenexodus von DDR-Flüchtlingen nach Westen gekommen. Die bewegenden Ereignisse in den bundesdeutschen Botschaften von Warschau und Prag vom Frühherbst 1989 sind bekannt. In Leipzig hatte sich mittlerweile am 25. September von der dortigen Nikolaikirche aus die erste große „Montagsdemonstration“ formiert, die sich fortan allwöchentlich wiederholte. Proteste in Dresden und andernorts schlossen sich an. Mannigfache Initiativen wie das „Neue Forum“ etc. waren bereits vorher aktiv geworden. Am 7. Oktober wurde im Pfarrhaus zu Schwante, einem Dorf nördlich von Berlin, die SDP, die Sozialdemokratische Partei der DDR gegründet. Tags zuvor war aus dem Munde Gorbatschows, der anlässlich der Feiern zum vierzigsten Jahrestag der DDR nach Ostberlin gekommen war, der Satz zu hören: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Glasnost und Perestroijka zeitigten ihre Wirkung. Am Abend des 9. Oktober demonstrierten in Leipzig 70.000 Menschen. Dank der Besonnenheit der Demonstranten und ihrer Organisatoren und einer auf Defensive ausgerichteten Instruktion der Einsatzleitung an die Ordnungskräfte konnte eine Gewalteskalation vermieden werden. Die von vielen befürchtete „Chinesische Lösung“ blieb auch am Abend des 16. Oktobers aus, als sich mittlerweile 100.000 zur Leipziger Montagsdemonstration versammelt hatten. Am darauf folgenden Tag wurde Honecker bei der Sitzung des Politbüros als Generalsekretär der SED abgelöst und Egon Krenz zu seinem Nachfolger bestimmt. Das ZK billigte diesen Beschluss. Die Volkskammer wählte daraufhin Krenz zum Staatsratsvorsitzenden, allerdings mit je 26 Gegenstimmen und Enthaltungen. Das Volk selbst indes gab sich mit dieser Entwicklung nicht zufrieden, wie die anschwellenden Massendemonstrationen der folgenden Wochen deutlich machten. Auch durch die Demission der Regierung Stoph, als dessen Nachfolger Hans Modrow firmierte, ließ sich das Ende der DDR nicht mehr aufhalten. Es war faktisch gekommen, als Günther Schabowski am 9. November 1989 sieben Minuten vor 19.00 Uhr über das DDR-Fernsehen durch vorzeitige und im Einzelnen ungenaue Mitteilung einer neuen Ausreiseverordnung einen spontanen Run auf die Grenzen auslöste, die sich nicht länger halten ließen. „Um Mitternacht waren alle Berliner Übergänge, eine Stunde später auch alle zur Bundesrepublik offen. Ganz Ostberlin schien

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unterwegs, per pedes oder in knatternden Zweitaktern, und halb Westberlin stand zum Empfang bereit.“ (Staritz, 382) Es folgte der Tanz auf der Mauer. Doch damit war die Vereinigung noch nicht vollzogen. Die Regierung Modrow war vielmehr bemüht, die DDR im Sinne eines besseren Sozialismus zu stabilisieren. Auch westliche Regierungen zeigten sich vom Gedanken deutscher Einheit nicht erbaut. Doch war ihr Vollzug angesicht des fortschreitenden Kollapses des Ostblocks und des Drucks der DDR-Bevölkerung nur mehr eine Frage der Zeit. Von Seiten der Bundesregierung wurde der allfällige Prozess ebenso behutsam wie energisch unterstützt. Anlässlich freier Wahlen in Ostdeutschland am 18. März 1990 votierte die überwältigende Mehrheit für die baldige Einheit. Die von der Volkskammer am 12. April gewählte Regierung de Maizières verwaltete den Übergang, der gemäß Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erfolgen sollte. Nach Vollzug der Währungsunion war nur mehr eine Minderheit gegen den korporativen Beitritt der rasch wiedererstandenen Länder des ostdeutschen Territoriums. Der Einigungsvertrag regelte die künftigen Verwaltungsstrukturen des sog. Beitrittsgebiets konsequent nach bundesdeutschem Rechtsverständnis (vgl. Staritz, 406f.). Nach erfolgreichen „2+4–Verhandlungen“ zwischen Ostund Westdeutschland sowie den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs wurde das Territorium der ehemaligen DDR in Gestalt neuer Bundesländer Teil der Bundesrepublik Deutschland. Der Beitritt erfolgte am 3. Oktober 1990. Im Folgejahr zerfiel das Großreich der SowjetZusammenbruch des Sowjetunion. Die kommunistische Diktatur brach, von systems und Beginn des einigen Restposten abgesehen, flächendeckend 21. Jahrhunderts in sich zusammen, und die realpolitisch Zuspätgekommenen strafte das Leben. Der Eiserne Vorhang trennte Europa nicht länger in zwei feindliche Hälften. An die Stelle antagonistischer Blöcke und die Fundamentalopposition zweier sozialpolitischer Systeme trat eine neue „Einheitskultur“, deren Homogenität im Wesentlichen durch Akzeptanz demokratischer Regierungsformen im Sinne parlamentarischer Republiken einerseits und durch einen kontinuierlich expandierenden Kapitalismus andererseits bestimmt wird. Ein Trend zur Globalisierung ist in diesem Zusammenhang trotz bleibender Bedeutung des Nationalismus, der vielerorts im Wachstum begriffen ist, ebenso unverkennbar wie eine Renaissance der Ideenwelten des Bürgertums, deren zivilgesellschaftliche Realisierung allerdings entscheidend von der politischen Bändigung eines zur Selbsttotalisierung neigenden Kapitalismus abhängen wird: Bürgerliche Marktwirtschaft ist Soziale Marktwirtschaft! Die aufgelisteten Beobachtungen, denen sich eine Fülle weiterer Indizien unschwer hinzufügen ließen, rechtfertigen es, mit den späten 1980er und den beginnenden 1990er Jahren das zwanzigste Jahrhundert sein historisches Ende nehmen und das einundzwanzigste beginnen zu lassen. Namentlich für die Geschichte Deutschlands markieren die bezeichneten Wendejahre eine tiefe Zäsur, auch oder gerade weil sie die politische Kontinuität dieser Geschichte nicht grundlegend in Frage gestellt haben. Zwar ist mit der Vereinigung Deutschlands, die das Ende der

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Deutschen Demokratischen Republik erbrachte, auch die Geschichte der vormaligen Bundesrepublik Deutschland zu einem gewissen Abschluss gekommen, der es geraten sein lässt, im Hinblick auf die gut vierzig Jahre staatlich vereinten Bundesländer von einem Neubeginn zu sprechen: Abgesehen davon, dass die Bonner zur Berliner Republik mutierte, werden die westlichen Bundesländer nun die „alten“ genannt. Doch ist das Alte in diesem Falle insofern das Neue, als die bundesrepublikanischen Traditionen für das vereinte Deutschland in fast jeder Hinsicht maßgebend geworden sind. „Ausdruck dessen war der Beitritt der neuen Bundesländer. Die Legitimität der 1949–1989 gewachsenen politischen Ordnung und die Anziehungskraft der Wirtschafts- und Sozialordnung, die international anerkannte deutsche Form eines ‚wohltemperierten Kapitalismus‘, erwiesen sich als so stark, daß die Verfassung ebenso wie die Wirtschafts- und Sozialordnung 1990 so gut wie nicht verändert, sondern insgesamt auf Ostdeutschland übertragen wurden. Sogar der Begriff ‚Grundgesetz‘ blieb erhalten. Ursprünglich war es als Markierung eben für das Provisorische des westdeutschen Staates verwendet worden und sollte den Unterschied zu einer endgültigen Verfassung markieren. 1989 aber war das Grundgesetz zum Inbegriff der guten Ordnung und zum positiven Symbol einer konstitutionellen Identität, des ‚Verfassungspatriotismus‘, geworden.“ (Thränhardt, 9) Auch in kirchenorganisatorischer Hinsicht sind vielfach – nach anfänglichem Zögern und Nach der Wende Widerstreben – westliche Muster flächendeckend übernommen worden. Das gilt für die Struktur der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ebenso wie für diejenige etwa der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Eine bedeutende Rückwirkung auf die bundesrepublikanische Kirchenwirklichkeit muss allerdings der Tatsache zugeschrieben werden, dass sich durch den Beitritt der neuen Bundesländer der prozentuale Durchschnitt der Kirchenzugehörigkeit der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erheblich nach unten bewegt hat. Das betrifft vor allem die evangelischen Kirchen und fällt umso mehr ins Gewicht, als der bedeutende Beitrag der DDR-Kirchen zur friedlichen Revolution keine neuen Kirchenmitgliedschaften zur Folge hatte. Vielmehr kam es in den neuen Bundesländern unter bundesrepublikanischen Verhältnissen eher zu einer verstärkten Abkehr als zu einer Hinwendung zur Kirche. Der erfolgte Massenexodus wird offenkundig, wenn man sich vor Augen hält, dass bei der DDR-Volkszählung des Jahres 1950 noch 92% Christen, davon 81,6% Protestanten gezählt wurden. Selbst Ende der fünfziger Jahre bekannten sich „noch etwa zwei Drittel der Ostdeutschen zur evangelischen Kirche“ (Staritz, 179). Nimmt man die aktuellen Daten zum Themenbereich „Neue Einwanderung und alternde Gesellschaft“ (vgl. Thränhardt, 296) hinzu, dann ergibt sich für die Situation der Kirchen und ihre Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland ein durchaus dramatisch zu nennender demographischer Befund. Darauf und auf mögliche Reaktionsweisen ist in den einführenden Bemerkungen zur religiösen Lage der Gegenwart im ersten Band dieser Reihe

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bereits Bezug genommen worden. Erledigt ist das Thema damit keineswegs. Es detailliert zu verhandeln, wäre ein Kapitel für sich. Was die Erörterung der theologiegeschichtlichen Deutschsprachige evangeliEntwicklungen des kurzen zwanzigsten Jahrhunsche Theologie in der ersten derts betrifft, so unterliegt die Darstellung einer Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifachen Beschränkung: Wie bisher schon ist die Aufmerksamkeit primär auf die Geschichte der evangelischen, genauer gesagt: der deutschsprachigen evangelischen Theologie ausgerichtet. In Zeiten fortschreitender Europäischer Union und wachsender Globalisierung mag dies als ein gravierendes Defizit erscheinen. In der Tat lässt sich nicht leugnen, dass es sich um einen Mangel handelt, freilich um einen aus Umfangsgründen unvermeidbaren und in der Sache jedenfalls dann vertretbaren, wenn er einerseits durch Konzentration und Elementarisierung der Problemwahrnehmung kompensiert und andererseits durch prinzipielle ökumenische Aufgeschlossenheit ausgeglichen wird, wie sie namentlich ekklesiologisch unter Beweis zu stellen ist. Im Übrigen wird man in gebotener Bescheidenheit darauf hinweisen dürfen, dass Konzepte einer universalgeschichtlichen „Global History“ ihre eigenen Probleme und Schwächen haben. Deren Dekonstruktionsbedürftigkeit ist nicht erst durch die postmoderne Kritik erwiesen worden, die den Anspruch historischer Großerzählungen europäischen oder gar weltgeschichtlichen Formats nicht ohne Grund als anmaßend zurückwies. Indes muss man nicht der Meinung sein, der modernitätsspezifische Kollektivsingular „Geschichte“ sei in eine postmoderne Vielzahl von Geschichten aufzulösen, um die Auffassung für vertretbar zu halten, die Fokussierung der Perspektive diene der Differenziertheit der Wahrnehmung. Hinzugefügt sei, dass das Thema „Geschichte“ unter der Überschrift „Historismus und Antihistorismus“ sogleich Gegenstand erneuter und eingehenderer Reflexionen sein wird, welche erweisen werden, wie eng und untrennbar Fragen der historischen Rezeption mit solchen systematischer Konstruktion verbunden sind. Eine zweite Darstellungsbeschränkung ist chronologischer Art und durch die methodische Einsicht begründet, dass das zwanzigste Jahrhundert zwar einerseits kurz, aber andererseits doch zu lang und zudem in seinen jüngeren Ereignissen noch nicht lange genug vergangen ist, um in einem Zuge theologiegeschichtlich in Erinnerung gebracht zu werden. Die unter dem Gesichtspunkt der Offenbarungsthematik beigebrachten theologiegeschichtlichen Fallbeispiele beschränken sich daher vorzugsweise auf ausgewählte Konzepte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wohingegen die Entwürfe aus dessen zweiter Hälfte nicht theologiegeschichtlich abgehandelt, sondern der aktuellen Diskussion anheimgestellt und in Kritik und Konstruktion der systematischen Darstellung einer eigenen materialdogmatisch zu entwickelnden Position integriert werden. Als ungefährer Terminus ad quem soll dabei das Jahr 1949 fungieren: Zum einen handelt es sich dabei um das Geburtsjahr des Autors, zum anderen stellt es auch in anderer, die Individualgeschichte transzendierender Hinsicht eine wichtige Zäsur namentlich der deutschen Geschichte dar, sofern mit der Spaltung des Landes und der Gründung der

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beiden Neustaaten die Konsequenzen der 1945 erfolgten Niederlage im Zweiten Weltkrieg bis auf weiteres definitiv wurden. Nicht von ungefähr umfasst der vierte Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ H.-U. Wehlers, auf den bereits wiederholt Bezug genommen wurde, die Zeit von 1914/18 bis 1949. Diese Periodisierung ist auch in theologiegeschichtlicher Hinsicht plausibel, selbst wenn man über das Recht der Einbeziehung der ersten vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geteilter Meinung sein kann. Darauf kommt es im Folgenden aber auch nicht an. Was wiederum die durch das Jahr 1933 gesetzte Zäsur und das Verhältnis der an den Untergang des Kaiserreichs anschließenden Weimarer Republik (1918–1933) zum sog. Dritten Reich (1933–1945) anbelangt, so kann an der abgründigen Tiefe des Bruchs zwar historisch kein Zweifel sein; gleichwohl ist zu konstatieren, dass die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland eine eigene Epoche der neueren Geschichte evangelischer Theologie jedenfalls nicht in dem Sinne darstellt, dass sie Debatten völlig jenseits der überkommenen Paradigmenkämpfe provoziert hätte. Die Konstellationen der Weimarer Ära, die sich weit in die Kaiserzeit zurückverfolgen lassen, beherrschen trotz grundstürzend veränderter Verhältnisse in überraschend ungebrochener Weise den theologischen Diskurs. Registrieren lässt sich allerdings eine offenkundige Dramatisierung traditioneller Differenzen: „Modernitätsspezifische epistemologische Konflikte über hist(orische) und dogmatische Methode, aufgeklärte Vernunft und gläubige Gewißheit, kritizistische Denkformen und metaphysischen Realismus, theol(ogischen) ‚Ansatz‘ in Christologie, Geschichtstheol(ogie) oder Schöpfungstheol(ogie) sowie der Grundlagenstreit über die christl(iche) Legitimität der Neuzeit gewannen ... verstärkte Aktualität“ (Graf, 86) und nahmen die Form kirchentrennender Gegensätze an. Am Kampf zwischen „Deutschem Christentum“ und „Bekennender Kirche“ lässt sich dies beispielhaft studieren. Bestimmender noch als das Erbe der Bekennenden Kirche ist für die evangelische Theologie Protestantismus und Nation und Kirche im Nachkriegsdeutschland die Tatsache geworden, dass die nationalsozialistische Katastrophe das lange bestehende Bündnis zwischen deutschem Protestantismus und Nationalismus auflöste. Gerade in dieser Hinsicht stellt das Jahr 1945 kirchen- und theologiegeschichtlich ein Datum von einschneidender Bedeutung dar. Zwar sollte man meinen, dass ideologischer Nationalismus und Christentum sich von Haus aus ausschließen: Während Letzteres seinem Wesen nach von menschheitsgeschichtlich-universaler und damit grundsätzlich transnationaler Art ist, dient der Nationalismus, wie er seit der Französischen Revolution im modernen Europa und darüber hinaus seine historisch singuläre Geschichtsdynamik entfaltet hat, nicht nur als politisch-soziokulturelle Integrationsideologie, sondern vielfach auch als Religionsersatz. Das hinderte die christlichen Kirchen indes nicht, vielfältige Verbindungen, ja Symbiosen mit dem neuzeitlichen Nationalismus einzugehen. Namentlich in monokonfessionellen Nationalstaaten finden sich solche Neigungen bis heute. Was die verspätete

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Deutsche Nation betrifft, so war es insbesondere der Protestantismus, der anfangs vor allem in seinen liberalen, später zum Teil auch in seinen konservativen Erscheinungsgestalten nationale Orientierung theologisch zu fundieren trachtete. Höhepunkte erreichte die nationalprotestantische Bewegung im Zusammenhang der Ereignisse der Jahre 1870/71 sowie in der Kriegseuphorie von 1914. Selbst nach dem Weltkriegsdesaster blieb ein Großteil protestantischer Theologen und Kirchenmänner nationalistischen Leitvorstellungen verhaftet, so dass die „Deutsche Revolution“ von 1933 nicht nur von denen als Befreiungsakt gefeiert wurde, die sich explizit zu einem „Deutschen Christentum“ bekannten. Erst die Jahre nach 1945 leiteten in Bezug auf das Verhältnis von Protestantismus und Nation einen nachhaltigen Prozess des Umdenkens in evangelischer Theologie und Kirche Deutschlands ein und eine Neubesinnung auf den transnationalen Charakter des Christentums, welche durch die Ökumenische Bewegung nicht unwesentlich befördert wurde. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist auch der deutsche Protestantismus in sein ökumenisches Zeitalter eingetreten.

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Lit.: Th.W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a.M. 3 1967. – J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1981. – M. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte (1927), Tübingen 121972. – Ders., Gesamtausgabe II. Abt.: Vorlesungen Bd. 56/57. Zur Bestimmung der Philosophie, Frankfurt a.M. 1987. – E. Jünger, Der Arbeiter, Stuttgart 1982. – W. Küttler/J. Rüsen/E. Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, 5 Bde., Frankfurt a.M. 1993–99. – M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992. – P. Neuner/G. Wenz (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002. – Dies. (Hg.), Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2003. – O.G. Oexle/J. Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Köln/Weimar/Wien 1996. – O.G. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996. – R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien 1994. – W. Schulz, Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks. Köln/Berlin 1969, 95–139. – R. Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie, in: ders., Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1994, 104–129. – E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, Neudruck Aalen 1961 (= Gesammelte Schriften 3). – G. Wenz, Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000, 45–103.

Die Geschichte der evangelischen Theologie im Theologiegeschichtliche GrupDeutschland des 19. Jahrhunderts zu strukturie- pierungen im 19. Jahrhundert ren und in eine übersichtliche historiographische Ordnung zu bringen, ist angesichts ihrer positionellen Verfassung ein schwieriges Geschäft. Ein Blick in die einschlägigen Lehrbücher genügt, um sich von dieser Schwierigkeit zu überzeugen. Die Anordnung des Stoffs divergiert erheblich. Einheitliche Gliederungsmuster lassen sich nur ansatzweise erkennen. Dominierend ist ohne Zweifel die Stellung Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768– 1834). In den engeren Umkreis seiner Wirkungsgeschichte gehören Theologen wie August Twesten (1789–1876), der Berliner Nachfolger, oder der nationalliberale Kirchenhistoriker Karl August von Hase (1800–1890), der mit seinem „Hutterus redivivus“ die altprotestantische Glaubenslehre neu erschloss und wie Twesten zu einer Verkirchlichung der Schleiermacher’schen Theologie beitrug.

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Bewusst kirchlich orientiert war auf seine Weise auch der liberale Romantiker Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), der in großer Eigenständigkeit und in hohem Maße anregend Einflüsse Schleiermachers mit solchen Johann Gottfried Herders (1744–1803) und namentlich Jakob Friedrich Fries’ (1773– 1843) verband und auf vielen Gebieten der Theologie zu einem der produktivsten Autoren seiner Zeit wurde. Als den wohl treuesten Schüler Schleiermachers kann man Alexander von Schweizer (1808–1888) bezeichnen, der die Tradition der altreformierten Dogmatik mit dem religionstheologischen Ansatz einer modernen Glaubenslehre zu verbinden suchte und zusammen mit Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868) zu den klassischen Vertretern der Vermittlungstheologie zählt. Unter Vermittlungstheologie, als deren Hauptorgan die 1828 von Nitzsch begründeten „Theologischen Studien und Kritiken“ fungierten, versteht man in der Regel jene im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu großem Einfluss gelangte Richtung, die traditionellen Bibelglauben und modernen Geist in den Bahnen Schleiermachers zum Ausgleich zu bringen suchte, um eine Stellung jenseits der Alternative von Rationalismus und jenem restaurativen Konfessionalismus einzunehmen, in welchen die späte Erweckungsbewegung vielfach einmündete. Weder den Weg der Repristinationstheologie Ernst Wilhelm Hengstenbergs (1802– 1869) wollten die Vermittlungstheologen gehen, noch die Traditionsbestände des Christentums einem verstandesflachen Zeitgeist preisgeben. Im Übrigen blieben die Grenzen der Vermittlungspartei naturgemäß fließend und ihre internen Spannungen vielfach unausgeglichen. Ihre schwerste Probe hatte die Vermittlungstheologie, der so unterschiedliche Gestalten wie Isaak August Dorner (1809–1884) und Hans Lassen Martensen (1808–1884) zugerechnet werden, in Auseinandersetzung mit dem 1835 erschienenen „Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß (1808–1874) zu bestehen. Strauß repräsentiert in seiner Anfangszeit, wie erwähnt, den radikalkritischen Flügel der spekulativen Theologie, der die Ideenentwicklung der Historie abstrakt kontrastierte mit der Folge, dass die biblischen Geschichten einschließlich der Geschichte Jesu zu Gestalten mythologischer Gedankenbildung erklärt wurden. Auch der facettenreiche, vom Standpunkt einer spekulativen Orthodoxie zum konsequenten Religionskritiker fortschreitende Bruno Bauer (1809–1882) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Weitaus moderater ging Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) zu Werke, der die geschichtlich sich realisierende Idee des Christentums mit der historisch-kritisch zu erhebenden Entwicklung zum Ausgleich zu bringen und auf diese Weise einen Standpunkt einzunehmen versuchte zwischen sog. Linkshegelianern wie Strauß und Bauer einerseits und sog. Rechtshegelianern wie etwa Philipp Konrad Marheineke (1780–1846) andererseits, der zusammen mit Carl Daub (1765–1836) zu den typischen Vertretern spekulativer Dogmatik gezählt wird. Doch sind Klassifikationen dieser Art von nur bedingtem Erkenntniswert, weil sie die innere Differenziertheit der ihnen subsumierten Konzepte ebenso wenig zu erfassen vermögen wie die vielfältigen Bezüge zu gegenläufigen Entwicklungs-

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trends. Zum Beleg sei beispielsweise auf die „freie Theologie“ von Alois Emanuel Biedermann (1819–1885) verwiesen, dessen „Christliche Dogmatik“ von 1869 Einflüsse Kants, Hegels und Schleiermachers zu integrieren und zur Synthese zu bringen suchte. Auch das Werk eines Mannes wie Richard Rothe (1799–1867), der vor allem durch seine These vom Aufgehen der Kirche im Staat zu Berühmtheit gelangte, entzieht sich jeder einseitigen Zuweisung und Pauschalklassifikation. Gelegentlich zum originellsten Systematiker der Vermittlungstheologie erklärt, kann sein Denken ebenso gut in die Tradition spekulativer Dialektik eingereiht werden. Von beschränktem Erkenntniswert ist selbst die durch Kant verbreitete und schon genannte Unterscheidung zwischen Rationalisten und Suprarationalisten. Ersterer Gruppe, die das Erbe der Neologie radikalisierte, wurden neben älteren Kandidaten wie Heinrich Philipp Konrad Henke (1752–1809) oder Josias Friedrich Christian Loeffler (1752–1816), der zusammen mit Gabler und Teller (samt Semler) das sog. rationalistische Tischgedeck bildet, Wilhelm Traugott Krug (1770–1842), Johann Heinrich Tieftrunk (1759–1837), Johann Friedrich Röhr (1777–1848) und etwa Julius August Ludwig Wegscheider (1771–1849) zugerechnet, dessen „Institutiones theologie christianae dogmaticae“ von 1815 als klassische Dogmatik des Rationalismus gilt. Auch der Name von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) darf in dieser Reihe nicht fehlen. Den Rationalisten stehen die Suprarationalisten gegenüber, eine Tübinger Gruppe um Storr sowie eine norddeutsche, der nach üblicher Auflistung Franz Volkmar Reinhard (1753– 1812), Georg Christian Knapp (1753–1835), Johann August Heinrich Tittmann (1773–1831) oder Johann Friedrich Kleuker (1749–1827) zugerechnet werden. Doch gibt es nach gängiger Theologiehistoriographie auch rationale Suprarationalisten bzw. supranaturale Rationalisten wie Karl Friedrich Stäudlin (1761–1826), Christoph Friedrich von Ammon (1766–1850), Heinrich Gottllieb Tzschirner (1778–1828) oder gegebenenfalls auch Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), womit angezeigt ist, dass die Nomenklaturen im Schwanken begriffen sind. Ein rationaler Supranaturalist bzw. supranturalistischer Rationalist der besonderen Art war der große Albrecht Ritschl (1822–1889), dessen theologischer Kantianismus schulbildend wurde und der nach Urteil seiner Kritiker aus den Reihen der Dialektischen Theologie ideologisch wie kein anderer den Bürger der Bismarckära repräsentierte. Zu ihm, zum theologischen Neukantianismus Wilhelm Herrmanns (1846–1922) und zu anderen Gestalten der Ritschl-Schule sei hier nur noch allgemein angemerkt, dass die protestantische Theologie im Deutschen Kaiserreich zu einer gesellschaftlichen Bedeutung gelangt war, die sie seither nicht mehr annähernd zu erreichen verstand. Allerdings war der Protestantismus fraktioniert: Den liberalen Kulturprotestanten standen von Anfang an konservative Kirchentheologen entgegen, die sich zumeist auch als Antiritschlianer verstanden. Theodosius Harnack (1817–1889), Vater seines von ihm für verloren erachteten Sohnes Adolf (1851–1930), ist hier zu nennen oder etwa Martin Kähler (1835– 1912), einer der einflussreichsten konservativen Theologen des Kaiserreichs.

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In Kählers Denken ist nicht nur das erweckungstheologische Erbe eines Tholuck oder Julius Müller, sondern auch das Erbe der älteren Bibeltheologie eines Johann Tobias Beck (1687–1752) präsent, der die Tübinger supranaturalistische Tradition unter veränderten Bedingungen fortführte. Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang ferner die Erfahrungstheologen des Erlanger Luthertums, neben dem ebenfalls von Beck beeinflussten Heilsgeschichtler Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) vor allem Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894), dessen Theologieprogramm in einem „System der christlichen Gewissheit“ (1870/73) grundgelegt und in einem „System der christlichen Wahrheit“ (1878/80) und einem „System der christlichen Sittlichkeit“ (1884/87) expliziert ist. Fortgeführt wurde die Frank’sche Systematik von Ludwig Ihmels (1858– 1933), der zur Vermittlungsgestalt zwischen der alten und der neuen Erlanger Schule eines Paul Althaus und Werner Elert werden sollte. Für alles weitere sei auf die theologiegeschichtlichen Lehrbücher verwiesen; um eine ökumenische Perspektive sind die Sammelbände bemüht, die ich mit Peter Neuner zu Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts herausgegeben habe. Wie immer man die evangelische TheologiegeExegetische Entwicklungen schichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts gruppieren und das interne und externe Beziehungsgeflecht von liberalen, spekulativen, restaurativen, vermittelnden und sonstigen Theologiekonzepten ordnen mag: Die Gruppierung wäre defizitär, bliebe neben der Entwicklung der dogmatischen diejenige der biblischen und historischen Theologie unberücksichtigt. Denn offenkundig waren die zu bestehenden Herausforderungen auf dem Gebiet der alt- und neutestamentlichen Exegese und Kritik sowie der Kirchen- und Dogmengeschichte keineswegs geringer als auf dem weiten Feld der systematischen Theologie. Erneut ist auf die Zäsur der 30er Jahre zu verweisen: 1835 erscheint nicht nur das „Leben Jesu“ von Strauß, sondern auch das auf seine Weise epochale Buch von Johann Karl Wilhelm Vatke (1806–1882) über „Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt“, das die traditionelle Ansicht über das Alte Testament in vergleichbar grundstürzender Weise revolutionierte wie Straußens Werk diejenige über das Neue. Die historisch-kritischen Konsequenzen aus Vatkes Ansatz zog auf der Basis der ReussGraf ’schen Hypothese zu den Quellen des Penta- bzw. Hexateuch am deutlichsten Julius Wellhausen (1844–1918). Das in der später so genannten Priesterschrift des Pentateuch am reinsten ausgeprägte mosaische Gesetz gehört, so Wellhausen, nicht an den Anfang der Geschichte des alten Israel und ist keine Einrichtung der vordavidischen und königlichen Ära, sondern eine ins hebräische Altertum lediglich zurückprojizierte Institution aus sehr viel späterer Zeit, als Israel aufgehört hatte, ein eigenständiges Gemeinwesen zu sein. Die Tora gehört recht eigentlich nicht Israel, sondern dem Judentum an, das sich durch die historisch unzutreffende Verbindung des Gesetzes mit der gründenden Urzeit seines Volkes die geschichtliche Basis religiösen Überlebens und geistlicher Identität unter heidnischer Fremdherrschaft schuf.

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In der neutestamentlichen Wissenschaft hat neben Strauß vor allem Ferdinand Christian Baur Epoche gemacht, bis schließlich Ritschl aus einem Anhänger zu einem Gegner der Tübinger Schule wurde und der Diskussion eine neue Richtung gab. Davon ist hier ebenso wenig zu handeln wie von den Entwicklungen auf dem Gebiet der Kirchen- und Dogmengeschichte, für die nach C. v. Hase und F.Chr. Baur vor allem A. v. Harnack bestimmend wurde. Angezeigt sei lediglich, dass der Streit um die Berechtigung und Reichweite der historischen Theologie alle wichtigen Auseinandersetzungen der Zeit beständig begleitete. Dieser Streit nahm seit den 70er Jahren an Schärfe zu, um immer aggressiver geführt zu werden. Veranlasst war dies insbesondere durch die sog. Religionsgeschichtliche Schule, deren Kerngruppe sich in den späten 80er und frühen 90er Jahren an der Göttinger Fakultät herausgebildet hatte. Ihre Repräsentanten, darunter herausragende Exegeten wie der Alttestamentler Hermann Gunkel (1862–1932) oder der Neutestamentler Wilhelm Bousset (1865–1920), unterschieden sich nicht nur von konservativen Theologen, sondern auch von der breiten Mittelgruppe der Ritschlianer, aus der sie hervorgingen. Die frühe Auseinandersetzung zwischen dem Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule, Ernst Troeltsch (1865–1923), und Julius Kaftan (1848–1926), dem seinerseits führenden Dogmatiker der Ritschlschule, bietet hierfür einen Beleg. Charakteristisch für den Kreis der Religionsgeschichtler um Troeltsch ist die radikale Historisierung der theologischen und religionsphilosophischen Reflexion. Es in dieser Hinsicht an der nötigen Konsequenz fehlen zu lassen, ist der Vorwurf nicht nur gegen Haupt und Glieder der Ritschlschule, sondern auch gegen die sog. Liberalen, selbst wo diese, wie im Falle etwa Otto Pfleiderers (1839–1908), um ein religionsgeschichtliches Verständnis des Christentums bemüht waren. Das in der Religionsgeschichtlichen Schule verDas historische Bewusstsein folgte Programm konsequenter Historisierung und seine Selbsthistorisierung von Religion und Theologie markiert nicht nur einen Fluchtpunkt der Entwicklungslinien moderner Theologiegeschichte, sondern zugleich einen Dreh- und Wendepunkt, der zum Ausgang einer dem Trend des langen 19. in vieler Hinsicht gegenläufigen Bewegung am Beginn des kurzen 20. Jahrhunderts werden sollte. Namentlich im Werk von Ernst Troeltsch verdichten sich die Hinweise auf eine bevorstehende Epochenscheide, wobei es in bestimmter Weise der Historismus selbst ist, der sich seine Krise bereitet. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, bedarf es zunächst einiger terminologiegeschichtlicher Erwägungen. Charakteristisch für den bei Novalis und Schlegel erstmals begegnenden Historismusbegriff ist die Differenz zum Naturalismus oder Naturismus, wie gelegentlich gesagt wird. Sie hält sich in der Begriffsgeschichte verhältnismäßig stabil durch. Während der Naturalismus im Wesentlichen auf gegebene Raumgrößen und universale Seinsdaten bezogen ist, hat es der Historismus mit individuellen Hervorbringungen des menschlichen Geistes zu tun, dessen naturunterschiedene Eigentümlichkeit er im Medium der Geschichte zu erfassen bemüht ist. Sucht der Naturalismus durch Abstraktion von der Einzelgestalt das

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zeitinvariant Gleichbleibende in allgemeingesetzlicher Form zur Geltung zu bringen, strebt der Historismus nach Erkenntnis einmaliger Ereignisse und unwiederholbarer Geschehensabläufe. Methodologisch spricht man in diesem Zusammenhang seit Wilhelm Windelband (1848–1915), der die Kunstausdrücke geprägt hat, von nomothetischen und idiographischen Erkenntnisweisen und Wissenschaftsdisziplinen. Abgesehen von der für ihn kennzeichnenden Abgrenzung von naturalistischen Denkweisen und Erkenntniszielen ist der Historismus begrifflich und der Sache nach nicht eindeutig zu fixieren. In einem sehr weiten Sinn kann er erstens jede methodisch geregelte Unternehmung bezeichnen, Erscheinungen, Strukturen und Prozesse in ihrer jeweiligen geschichtlichen Bedingtheit und ihrer wechselseitigen Bezogenheit, Varianz und Aufeinanderfolge zu thematisieren. Der Historismus ist dann ein allgemeines Aufklärungsphänomen. In einem engeren Sinne kann der Historismusbegriff zweitens jener Epoche vorbehalten werden, in der sich Geschichte als eigenes Wissenschaftsfach etabliert und die Gestalt institutioneller Historik mit entsprechenden Professionalitätsstandards angenommen hat. Eine noch sehr viel weitergehende Spezifizierung erfährt der Begriff drittens, wenn man ihn auf die Bezeichnung einer Phase manifester Selbsthistorisierung des historischen Bewusstseins einschränkt. In dieser Bedeutung hat sich der Historismusbegriff in den Jahrzehnten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und insbesondere nach Ende des Ersten Weltkriegs ausgebildet. Seine Verwendungsweise bei Ernst Troeltsch ist hierfür paradigmatisch. Das geht insbesondere aus dem 1922 – ein Jahr vor Troeltsch’s Tod – veröffentlichten Band über den „Historismus und seine Probleme“ hervor, der neben der 1902 erschienenen Schrift über die „Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ sowie den 1911 publizierten Forschungen über „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ als herausragendes Hauptwerk zu gelten hat. Dass er sich auch als Theologe einer von der Bedeutung und Krise des dogmatischen zu unterscheidenden konsequent Historismus bei Troeltsch historischen Methode verpflichtet fühlte, hat Troeltsch stets betont. Als integraler Ausdruck für eine von allen zeitinvarianten Geltungsansprüchen sei es eines kirchlichen, sei es eines rationalistischen Dogma abgerückten und darin konsequent geschichtlichen Denkungsart war für ihn der Historismus Programm. Indes verhehlte sich Troeltsch die Probleme nicht, die dem Historismus nicht nur äußerlich anhaften, sondern wesensmäßig zugehören. Indem er von einer „grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ (Troeltsch, 102) ausgeht, ist er nicht nur kritisch, sondern krisenhaft insofern verfasst, als er, dem alles als geschichtlich relativ erscheint, zuletzt auch sich selbst als eine relative Geschichtsgröße erscheinen muss. Historismus und Krise bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Präzise auf diese Ambivalenz sind Troeltschs Analysen abgestellt. Einerseits diene der Historismus in konstruktiver Weise der Selbstverständigung eines von dogmatischen Heteronomieansprüchen befreiten Geistes und fördere dessen Unterschie-

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denheitsbewusstsein vom Zwangsdeterminismus der Natur; andererseits sei von einer dem Historismus eigenen und von ihm selbst bewirkten Krise deshalb zu reden, weil dieser in der Folge seines konsequenten Selbstvollzugs „in jene relativistische Skepsis (geführt hat), die nicht notwendig metaphysische, aber jedenfalls relativistische Wertskepsis und Zweifel an der Erkennbarkeit wie an dem Sinn des Historischen ist“ (Troeltsch, 108). Es bedürfe daher neuen Mutes „zu einer das historische Material bewältigenden Kultursynthese“ (Troeltsch, 109); nur so lasse sich der Historismus konstruktiv und ohne einem prinzipiellen Antihistorismus zu verfallen aus seiner Krise herausführen. Unter den zahlreichen Beteiligten an der durch Troeltsch’s unvollendetes Werk über den Historismus und seine Probleme veranlassten Debatte sei lediglich Friedrich Meinecke (1862–1954) erwähnt und zwar insbesondere deshalb, weil er in mehreren Stellungnahmen seit 1923 sowie abschließend in seiner Studie über „Die Entstehung des Historismus“ von 1936 nicht unerhebliche terminologische Umakzentuierungen vorgenommen hat, die bis heute in der Geschichtswissenschaft und darüber hinaus fortwirken. Meinecke will unter Historismus primär eine nationenspezifische Form historischen Denkens verstanden wissen, wie sie die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet und in Leopold von Ranke (1795–1886) ihren wirkungsvollsten Vertreter gefunden habe. Obwohl dieses Historismusverständnis gegenwärtig von nicht wenigen Forschern geteilt wird und zwar unabhängig davon, ob es sich um Rankeverehrer oder Rankekritiker handelt, dürfte aus Gründen größerer Problemhaltigkeit dem durch Troeltsch geprägten Historismusbegriff der Vorzug zu geben sein. Im Sinne des Begriffs, den Troeltsch von ihm hat, ist der Historismus nicht lediglich eine Form historischen Denkens, sondern dessen selbstbezügliche Reflexionsgestalt, die Einsicht in die eigene Historizität und damit in die historische Relativität historischen Denkens genommen hat. Dabei setzt die Krise des reflex gewordenen diejenige eines Historismus der Ranke’schen Art insofern voraus, als im Zuge konsequenter Verwissenschaftlichung historischer Methodik die Relikte traditioneller Geschichtsmetaphysik fortschreitend beseitigt wurden wie etwa die Annahme, wirkungsmächtige geschichtliche Individualitäten seien Manifestationsgestalten eines göttlichen Weltgeistes. So wie sich nach Max Weber (1864– 1920) der moderne Fortschritt okzidentaler Wissenschaft als Prozess der Entzauberung beschreiben lässt, so entzaubert der Historismus im Sinne seines bei Troeltsch begegnenden Begriffs die klassische Geschichtsmetaphysik, indem er auch noch die Restbestände ihrer Tradition im Namen der Wissenschaft ausmerzt. An die Stelle eines geschichtlichen Sinnganzen tritt ein prinzipiell nicht behebbarer Pluralismus und Relativismus, dem alles einschließlich der Werte unterliegt, bis schließlich das historische Denken seiner eigenen Historizität und Relativität gewahr wird und selbst in eine Sinnkrise gerät. Nicht immer pflegte die historische Kritik einen derart historisch-kritischen Umgang mit sich selbst wie im Historismus nach Maßgabe des Troeltsch’schen Begriffs. Ein kurzer Blick in die Geschichte geschichtlicher Theologie kann davon ei-

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nen exemplarischen Eindruck verschaffen. Die Anfänge historisch-kritischer Theologie, wie sie sich beispielsweise bei Johann Salomo Semler finden, stehen im Dienste der Emanzipation des – in der Regel durchaus frommen – Subjekts von zeitinvarianten Geltungsansprüchen sowohl des biblischen Kanons als auch des kirchlichen Dogmas. Für Theorien, die darauf ausgerichtet sind, ihrem Gegenstand zeitloses Ansehen zu verschaffen, muss bereits der Aufweis der geschichtlichen Genese dieses Gegenstandes zersetzend wirken. Was geworden ist, war nicht immer und muss deshalb nicht für alle Gegenwart und Zukunft verbindlich bleiben. Die Geschichte des Kanons, die Geschichte des Dogmas ist, um mit David Friedrich Strauß zu reden, seine Kritik. In der Konsequenz dieser Entwicklung beginnt sich der historische Traditionsprozess als das Ensemble zeitvarianter Geschehnisse allmählich aus dem Zusammenhang der biblischen Geschichte des Kanons und der dogmatischen Überlieferung der Kirche zu lösen, wobei sich der Mensch selbst zunehmend als Beweggrund geschichtlicher Veränderungen begreift. Die Geschichte wird, wenn man so will, enttheologisiert, entsakralisiert und säkularisiert mit der Folge, dass sich die Geschichtswissenschaft von der Theologie und entsprechend von der philosophischen Metaphysik zu emanzipieren und als eigene Disziplin zu etablieren beginnt. Damit stellt sich eine fortschreitende Verwissenschaftlichung der Geschichtsbetrachtung im dezidierten Sinne von Forschung ein. Der Historiker betreibt sein Geschäft nicht länger als Geschichtsmetaphysiker, auch nicht mehr als aufgeklärter Pragmatiker, der aus wiederholten Geschichtserfahrungen bleibende Lehren zu ziehen gewillt ist, sondern als Forscher einer spezifischen Fachdisziplin. Dabei bleibt die Erwartung geraume Zeit durchaus erhalten, dass sich aus dem Verlauf der Geschichte etwas Allgemeines und Einheitliches in Erfahrung bringen lasse, wenn auch möglicherweise nicht über Gott, so doch über das Wesen des Menschen und der Menschheit, deren kollektive Subjektivität dem Kollektivsingular der Geschichte korrespondiert. Man hielt an der Annahme fest, dass sich in der Geschichte bestimmte anthropologische Konstanten durchhalten und zu erkennen geben, welche die Wahrnehmung geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten ermöglichen. Je mehr man indes auf die Individualität des Einzelmenschen und die Pluralität menschheitsgeschichtlicher Erscheinungsgestalten aufmerksam wurde, desto schwieriger wurde es, zu universalen Geschichtsgesetzen und Wesenseinsichten zu gelangen. Stattdessen kam es zu einem enormen Spezialisierungsschub mit entsprechender wissenschaftlicher Komplexitätssteigerung. Der Fachhistoriker gefällt sich von nun an in dem Hinweis, dass geschichtlich alles noch komplexer und differenzierter war, als man dies ohnehin vermutet hatte. Solche ins Grenzenlose ausgreifende Differenzierungssteigerung konnte nicht ohne Rückwirkungen auf den Gegenstand der Geschichtswissenschaften bleiben, dessen Identifizierung nun zum Problem wird. Korrespondierte der ursprünglichen Ausbildung des modernen historischen Denkens in begriffsgeschichtlicher Perspektive die Entstehung und Verbreitung des Kollektivsingulars „Geschichte“, der Einzelgeschichten zu eiUrsprungsmotive und Professionalisierung historischkritischer Theologie

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nem universalen Ereignis-, Wirk- und Bedeutungszusammenhang bündelte, so wird die Einheit der Geschichte nunmehr fraglich und die geschichtliche Synthese zur beständigen Aufgabe. Der Historismus im Troeltsch’schen Sinne ist Ausdruck und Reflex dieses Sachverhalts. Er macht Ernst mit der historischen Betrachtung der Wirklichkeit, indem er auch das Wesen des Menschen konsequent historisiert und auf die durchweg historische „Natur“ des Menschenwesens aufmerksam macht. Sein geschichtliches Erkenntnisinteresse richtet sich infolgedessen weder auf die Legitimation (oder Delegitimierung) soziokultureller Geltungsgrößen, noch auf jenes strukturell Zeitinvariante oder zeitlich Wiederholbare, aus dem sich prinzipielle Lehren ziehen lassen, sondern auf das weite und grundsätzlich offene Feld einer unüberschaubaren Fülle individueller Gestaltungen. Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung sind die den Historismus charakterisierenden Kennzeichen, in deren Folge sich nicht nur ein allgemeiner Relativismus, sondern auch die Krise oder jedenfalls das Problem der Selbstrelativierung einstellt im Sinne der Zurücknahme des Eigenen auf eine individuelle historische Gestalt, die einen universalen Geltungsanspruch zu erheben nicht mehr ohne weiteres bereit und in der Lage ist. Ein Lehrbeispiel für diesen Sachverhalt bietet die Geschichte der Religionsgeschichtlichen Religionsgeschichtliche Schule Schule, die paradigmatisch für die in den Jahren 1880 bis 1920 erfolgte Eroberung der Theologie durch den Historismus steht (vgl. M. Murrmann-Kahl, 1ff.): Im Zuge ihrer Entzauberung der Heilsgeschichte lässt sie an die Stelle von deren Einheit differenzierte religionsgeschichtliche Detaileinsichten treten, in denen sich die fortgeschrittene Spezialisierung namentlich der historischen Fachdisziplinen der theologischen Wissenschaft reflektiert. Auf ihren religionsgeschichtlichen Kontext hin bezogen zerfällt die biblische Geschichte in eine Unzahl von Einzelgeschichten und die religiösen Selbstverständlichkeiten des eigenen Kulturkreises werden auf Fremdes hin relativiert. Die Historie im Sinne des Historismus geht nicht in einer einzigen Geschichte auf, sie nimmt ihren Verlauf vielmehr in der Sphäre unabgeschlossener und prinzipiell unabschließbarer Differenz. Erinnerungsrückgriffe und Erwartungsvorgriffe auf Totalität stehen unter grundsätzlichem Fiktionsverdacht. Vom Ganzen der Geschichte kann allenfalls im Sinne einer regulativen Idee gesprochen werden. Auch das schlechterdings Einmalige und absolut Singuläre scheiden aus dem Geschichtszusammenhang aus, dessen historische Wahrnehmung vom Prinzip der Analogie bestimmt ist. Alles wird zu einer Frage der Perspektive. Am Ende aber muss eine radikale historische Perspektivierung des historischen Bewusstseins selbst erfolgen. In ihrem Vollzug treten Kraft und Krise des Historismus simultan zutage. Wie hat man sich zu diesem Sachverhalt zu verhalten? An der Beantwortung dieser Frage schieden sich die Geister. Männer wie Troeltsch und Harnack, um aus dem sog. kulturprotestantischen Lager nur diese zu nennen, suchten die Krise des Historismus aus diesem heraus und mit seinen Mitteln zu bewältigen. Ihr Ziel war es, Geschichte durch Geschichte zu überwinden und einen kultursynthetischen

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Ausgleich zu schaffen zwischen dem dynamisch Bewegten einerseits und dem normativ Begrenzten andererseits. Ohne den Grundansatz preiszugeben, sollte der Historismus gegenüber seinen selbstdestruktiven Tendenzen immunisiert werden. Dem kontraveniert eine Gegenbewegung, die man seit geraumer Zeit als Antihistorismus und antihistoristische Revolution zu bezeichnen gewohnt ist. Tendenzen in dieser Richtung lassen sich weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen. Erinnert sei nur an Franz Overbeck, der schon Anfang der 70er Jahre heftig gegen den historistischen Relativismus polemisierte und wie sein Freund und Meister Friedrich Nietzsche weniger den Nutzen als vielmehr den Nachteil der Historie für das Leben beschwor. Zum revolutionären Durchbruch gelangte der Die antihistoristische RevoAntihistorismus allerdings erst in der Zeit nach lution dem Ersten Weltkrieg. Dessen Erfahrung erst machte die Krise der historischen Weltorientierung in einer Weise evident, welche die Historismuskritik zu einer intellektualgeschichtlichen Massenbewegung werden ließ, in deren revolutionärer Dynamik eine Grundlagenkrise der modernen Kultur offenbar wurde. Für die Antihistoristen koinzidierte die Geburt des Historismusbegriffs, der im Grunde erst in der Debatte nach 1918 eine klar profilierte, gewissermaßen durch den Gegensatz bestimmte Bedeutung annahm, mit dem Tod der von ihm bezeichneten Erscheinung. Trägt die Selbsthistorisierung des historischen Bewusstseins für den Historismus von Troeltsch noch die Verheißung in sich, dessen Schranke auf historische, also auf selbsttranszendierende Weise beheben zu können, setzt der antihistoristische Historismusbegriff der bezeichneten Erscheinung eine grundsätzliche Grenze, um sie einer untergegangenen Vergangenheit zuzuweisen, deren Erinnerung keine Zukunftshoffnungen mehr zu befördern vermag. Wie sein Begriff dies besagt, ist der Antihistorismus primär eine alternative, durch den Gegensatz bestimmte Bewegung. Die Leittermini des antihistoristischen Diskurses bestätigen dies: Sie bezeichnen auf die eine oder andere Weise allesamt ein „totaliter aliter“. Dabei waren es keineswegs nur Theologen, welche vom ganz Anderen sprachen, wenngleich sich die semantischen Potentiale der Gotteslehre als besonders geeignet erwiesen, der Radikalalternative Ausdruck zu verleihen. Es überrascht daher nicht, dass sich auch die Nichttheologen unter den Antihistoristen gerne theologienaher Sprachmittel bedienten, wobei die Eschatologie sich besonderer Beliebtheit erfreute. In einer ausführlichen Studie zur Krisenliteratur der Weimarer Ära (Wenz, 45–103) habe ich dies dargelegt. Unter dem Titel „Eschatologie als Zeitdignose“ werden etwa der Geistutopist Ernst Bloch (1885– 1977) und der Apokalyptiker der Gegenrevolution Carl Schmitt (1888–1985) mitsamt der sonstigen Mannschaft der sog. Konservativen Revolution eingehend behandelt, daneben Oswald Spenglers (1888–1936) Beschwörung des untergehenden Abendlandes oder Sigmund Freuds (1856–1939) psychoanalytisches Unbehagen in der Kultur sowie eine Reihe weiterer Krisenzeugnisse der Jahre zwischen Weltkriegskatastrophe und Hitlers Machtergreifung. Auch der Stoßtrupp-

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führer, Schmetterlingsjäger und Käferspezialist Ernst Jünger (1895–1998) kommt eigens zu Wort, der in seiner, von Heidegger einer Seminarveranstaltung gewürdigten Programmschrift „Der Arbeiter“ von 1932 die schneidige Endparole ausgab: „Die beste Antwort auf den Hochverrat des Geistes gegen das Leben ist der Hochverrat des Geistes gegen den ‚Geist‘; und es gehört zu den hohen und grausamen Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein.“ (Jünger, 43) Den Hintergrund der sonstigen Analysen, die auf Thomas Manns „Zauberberg“ (1925), genauer: mit dem Schneekapitel desselben enden, bildet Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926. Unter Bezug auf sie werden auch die soziokulturellen Implikationen der eschatologisch gestimmten Weimarer Endzeit detailliert zur Darstellung gebracht. Ergänzt werden sollen die in dem Beitrag „Eschatologie als Zeitdiagnostik“ gegebenen Analy- Heideggers Jahrhundertbuch sen nur noch durch einige Bemerkungen zum Werk eines Autors, dessen Jahrhundertbuch „Sein und Zeit“ ein Jahr nach Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 erschienen ist: Martin Heidegger (1889–1976). Dass ein Denker seines Formats nicht ohne weiteres dem Stichwort „Antihistorismus“ subsumiert werden kann, steht außer Zweifel. Unbezweifelbar ist freilich auch, dass erkennbare Zusammenhänge zwischen Heideggers Philosophie und der antihistoristischen Revolution innerhalb und außerhalb der Theologie nach dem Ersten Weltkrieg bestehen. Sie sollen im Folgenden nicht durch zeitgeschichtliche Bezüge, sondern durch systemimmanente Rekonstruktion des Kontextes aufgewiesen werden, innerhalb dessen die „antihistoristische“ Grundthese Heideggers zustande kommt, derzufolge die Geschichtlichkeit des Daseins fundamentaler und originärer ist als die historische Geschichte. Werde deren abkünftiger Wirklichkeitsmodus verkannt, sei dies ein evidentes Indiz einer Verfallserscheinung. Als solche ist nach Heidegger nicht zuletzt der Historismus zu qualifizieren, der das Dasein seiner eigenen Geschichtlichkeit entfremde und philosophisch als ein Phänomen nicht einer geschichtlichen, sondern einer ungeschichtlichen, geschichtsvergessenen Epoche zu beurteilen sei. In Robert Spaemanns Vortrag über „Die kontroverse Natur der Philosophie“ anlässlich des Stuttgarter Hegelkongresses von 1981 wird eingangs folgende Episode erwähnt: „Nicolai Hartmann fragte in den vierziger Jahren einen Studenten, der von Freiburg nach Berlin kam, wo er bisher Philosophie studiert habe. Auf die Antwort: ‚Bei Professor Heidegger‘, erwiderte Hartmann: ‚Ich habe Sie gefragt, wo Sie Philosophie studiert haben!’“ (Spaemann, 105). Dass es sich bei seinem Denken nicht um Philosophie im landläufig akademischen Sinne handelte, musste Heidegger nicht erst gesagt werden: Er wusste es selbst und, wie er meinte, besser als jeder andere. In einer dezidiert zu nennenden Weise hat er die Abkehr von schulmäßigem Philosophieren zum philosophischen Programm erhoben. Der urbane Neukantianismus eines Windelband, Natorp, Rickert und Cohen, der noch bis zum Ersten Weltkrieg eine mächtige philosophische Strömung war, konnte die erstrahlende Provinzleuchte von Anfang an nicht begeistern; er bestätigte dem jungen

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Heidegger lediglich die für ihn ohnehin offenkundige Tatsache, dass die Tage einstiger Schulphilosophenherrlichkeit definitiv vergangen und die Geisteswissenschaften längst in die Defensive gegenüber einem naturwissenschaftlich bestimmten Positivismus, Empirismus und Sensualismus geraten waren. Befreiung von dem nach seinem Urteil oberflächlichen Realismus eines materialistischen und meHusserls Phänomenologie chanistischen Zeitalters, das in den Jahren nach Hegels Tod seinen Anfang genommen hatte, schien am ehesten die sog. Lebensphilosophie zu verheißen, deren hervorragende Protagonisten vor 1914 neben Friedrich Nietzsche Wilhelm Dilthey (1833–1911), Henri Bergson (1859–1911) und Max Scheler (1874–1928) waren. Doch verhält sich der junge Heidegger zumindest den drei Letztgenannten gegenüber eher spröde und sucht und findet stattdessen Belehrung bei Franz Brentano (1838–1917), durch den er zu Edmund Husserl (1859–1938) geführt wird, dessen „Logische Untersuchungen“ für ihn zu einem Erlebnis der besonderen, der phänomenalen Art werden. Den Weg zur Phänomenologie hatten bereits Brentanos „intentionale Objekte“ gewiesen, deren Konkretheit die abstrakte Differenz von subjektiver Innerlichkeit und gegenständlicher Äußerlichkeit zum Verschwinden brachte und den Blick dafür erschloss, die Wesensordnung der Bewusstseinserscheinungen zu erschauen und zu ergründen. Bewusstsein ist nie gegenstandslos, sondern immer gegenstandszugewandtes Bewusstsein von etwas. Seiendes ist nie bloßes Ding an sich, sondern wesentlich Bewusstseinserscheinung, deren Phänomenalität aufmerksam wahrzunehmen und sorgfältig zu beschreiben Aufgabe der hiernach benannten Wissenschaft der Phänomenologie ist. Indem sie durch, wie Husserl sagt, phänomenologische Reduktion den Vorgang der Wahrnehmung nicht blind ablaufen lässt, sondern wahrhaft wahrzunehmen vermag, wird sie der Gegebenheitsweise der Phänomene schauend inne. Das Ansichhalten („epoche“), welches als erster Akt phänomenologischer Betrachtung die Konventionalität des Alltäglichen unterbricht, bewirkt weder Welt- noch Selbstverlust, sondern jene Besonnenheit, in welcher sich die Welt des Selbst erst wahrhaft erschließt. Der Ort, welchen sich die Phänomenologie philosophisch zuweist, liegt erkenntlich jenseits der Alternative von Naturalismus und Idealismus. Denn „phänomenal“ wird die Welt nie ohne Selbstwahrnehmung erfahren wie umgekehrt ohne Welt und Weltbezug von Subjektivität und Selbstheit nicht die Rede sein kann. Das Selbst zum weltlosen Subjekt zu verklären ist nach phänomenologischer Einsicht ebenso falsch wie die Annahme einer selbst-losen, rein objektiven Dingwelt. Als Schlüssel zum Verständnis phänomenologischer Intention und Intentionalität kann der Lebensweltbegriff dienen, dessen inflationärer Gebrauch seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht über die präzise Bedeutung hinwegtäuschen darf, die er bei Husserl hat. Welt bezeichnet nach ihm keinen wie auch immer gearteten Gegenstand, sondern den universalen Horizont der unter einer speziellen Lebensperspektive zu Bewusstsein kommenden Gegenstände. Die gegebenen Gegenstände sind also immer schon an einen bestimmten Gesichtskreis

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innerhalb des umfassenden Welthorizonts gebunden, ohne welchen sie nicht vorhanden sind. Die Gegebenheitsweise der Gegenstände ist lebensweltlich bestimmt. In seiner natürlichen Alltagseinstellung ist dem Bewusstsein die lebensweltliche Perspektive seiner Gegenstandswahrnehmung indes nicht eigens bewusst: Das Alltagsbewusstsein ist ganz dem Sein hingegeben und kein Bewusstsein von sich als Bewusstsein. Die Gegenstände können ihm daher als gleichsam bewusstlos gegeben erscheinen. Dieser Schein wird durchschaut, wenn die Gegebenheitsweise von Gegenständen im Gegenstandsbewusstsein eigens zu Bewusstsein gebracht wird. Dies zu leisten ist die wesentliche Aufgabe der Phänomenologie. Sie thematisiert die Weise, in der Gegenstände dem Bewusstsein gegeben sind, und macht daher die Subjektrelativität der Gegenstände ebenso bewusst wie die intentionale Elementarausrichtung des Bewusstseins auf sie. Indem die phänomenologische Wesensschau die Perspektivität der Erfahrungshorizonte erfasst, wehrt sie der Lebensweltvergessenheit, wie sie das konventionelle Alltagsbewusstsein ebenso kennzeichnet wie eine am Abstraktionsideal subjektloser Wirklichkeitswahrnehmung orientierte Wissenschaft, welche die Welt im Interesse ihrer objektiven Betrachtung radikal entperspektiviert, um sie insgesamt auf rein gegenständliche Weise erscheinen zu lassen. Diese Entperspektivierung der Erfahrungswelt ist eine produktive wissenschaftliche Abstraktion, solange sie sich auf einen Aspekt von Weltwahrnehmung beschränkt und damit der Perspektive, innerhalb deren sich die Entperspektivierung vollzieht, bewusst bleibt: Ein solcher Gesichtspunkt ist etwa derjenige der Effektivität methodischen Operierens, wie er für technische Formen des Weltumgangs unentbehrlich ist. Gerät die Perspektivität wissenschaftlicher Entperspektivierung indes in Vergessenheit, droht sich der Gesichtspunkt formalen Funktionierens zu entschränken und zu totalisieren, was zwangsläufig zu einer, mit Jürgen Habermas zu reden, „inneren Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas II, 522) führen muss. Indem sie die moderne Wissenschaft reperspektiviert und die lebensweltliche Perspektivität aller Gegenstandswahrnehmung zu Bewusstsein bringt, gebietet die Phänomenologie solcher Kolonialisierung Einhalt und erweist damit die gerade unter wissenschaftlichen Bedingungen unverzichtbare Notwendigkeit philosophischer Besinnung. Die Wirkung der Wesenswissenschaft der Phänomenologie, deren Sammelpunkt in Deutschland Ontologie der Lebenswelt das von Edmund Husserl (1859–1938) gegründete „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“ (1913– 1930) wurde, ist schwer zu überschätzen, und sie reicht, wie der Hinweis auf Namen wie Jean-Paul Sartre (1905–1980) oder Maurice Jean-Jacques Merleau-Ponty (1908–1961) beweist, weit über Deutschland, aber auch über den engeren Bereich der Phänomenologie selbst hinaus: Die Rezeption und Weiterbildung des Lebensweltbegriffs in der Kritischen Theorie bzw. in der Theorie kommunikativen Handelns bei Habermas ist dafür ein Beleg. Was Heidegger betrifft, so sah er seine primäre Aufgabe darin, die von Husserl erhobene, aber von diesem selbst nur ansatzweise durchgeführte Ontologie der Lebenswelt philosophisch zu entwi-

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ckeln. Der Freiburger Privatdozent betritt den Hörsaal und sieht das Katheder: „Was sehe ‚ich‘? Braune Flächen, die sich rechtwinklig schneiden? Nein, ich sehe etwas anderes: eine Kiste, und zwar eine größere, mit einer kleineren daraufgebaut. Keineswegs, ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinen Erlebnis auch kein – wie man sagt – Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, so daß ich das Kathederhafte gleichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das ist schlechte, mißdeutete Interpretation, Abbiegung vom reinen Hinschauen in das Erlebnis. Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend ..., ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund. ... In dem Erlebnis des Kathedersehens gibt sich mir etwas aus einer unmittelbaren Umwelt. Dieses Umweltliche ... sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, ‚es weltet‘.“ (GA II 56/57, 71–73) Um zu einer Sachlichkeit zu finden, die sich von der dumpfen Konvention einer Alltagsobjektivität ebenso unterscheidet wie vom artifiziellen Realismus besinnungslos operierender Wissenschaften, sucht der junge Heidegger seinen Hörern die Lebenswelt des Selbst phänomenologisch zu erschließen und sie in jene Urhaltung des Erlebnisses einzuweisen, im Vergleich zu der sich jede Subjekt-ObjektSpaltung als abstrakt und abkünftig zu erkennen gibt. Bewegt er sich insoweit in den von Husserl vorgezeichneten Bahnen, so wird eine gravierende Differenz zum Lehrer spätestens dort deutlich, wo dieser seine Analyse der Lebenswelt auf ein transmundanes Ich hin zu überschreiten suchte, um durch dieses den Welthorizont transzendental konstituiert sein zu lassen. Dieser transzendentalphilosophischen Wende Husserls, deren Anfänge bereits seit etwa 1913 erkennbar sind, ist Heidegger nicht gefolgt. Er hat die These einer den Welthorizont transzendental konstituierenden Subjektivität vielmehr mit dem Hinweis auf die unhintergehbare Faktizität leibhaften Situiertseins des Ich in der Welt entschieden abgelehnt. Nach seinem Urteil kann dem phänomenologisch erschlossenen Prozess intentionalen Gegenstandsbewusstseins kein Ego zugrundegelegt werden, das seinen Verlauf beständig begleitet und so als Bedingung seiner möglichen Einheit fungiert. Denn das Sein des Ich ist immer schon und auf unhintergehbare Weise Dasein in der Welt. Die phänomenologische Schau der Bewusstseinserscheinungen ist entsprechend nie reines Zusehen im Sinne transzendentaler Reflexion, sondern selbst von wesenhaft weltbezogener Intentionalität. Ist damit für Heidegger der Ausweg verstellt, das intentionale Bewusstsein transzendentalphilosophisch zu hintergehen, muss die künftige philosophische Aufga-

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be entscheidend darin bestehen, dessen Seinsverfassung an sich selbst und auf ursprüngliche Weise zu erfassen. Um originärer Philosoph zu sein, muss man mit dem genuinen Beginnen bewussten Erlebens etwas anzufangen wissen und das Dasein selbst auf gleichsam infantil-dadaistische Weise als – mit Martins Bruder Fritz Heidegger zu reden – Da-da-dasein durchzubuchstabieren lernen. In dem Jahrhundertwerk „Sein und Zeit“ schickt sich Martin Heidegger an, eben dieses zu leisten. Im Wesentlichen geht es darum, den Augenblick zu erfassen, in welchem Sein sich zeitigt, um da zu sein. Die Zeitlichkeit des Seins als die elementare Seinsverfassung des Daseins ist manifest, will heißen: in selbsttranszendenter Weise präsent im Innesein eigener Endlichkeit, wie sie in Todesangst und Vergänglichkeitsbesorgnis gegenwärtig ist. Beide, Angst und Sorge, sind für waches und einsichtiges Dasein charakteristisch, welches nicht dumpf vor sich hin brütet, sondern für sich selbst erschlossen und in sich selbst zu sich selbst entschlossen ist. Insofern das Sein im Dasein in ein bewusstes Verhältnis zu sich selbst tritt, wird es augenblicklich seiner Endlichkeit, seiner selbst als eines Endlichen und Vorbeigehenden gewahr. Die unheimliche Gewissheit eigener Vergänglichkeit bestimmt das Sein des Daseins, dessen ontische Auszeichnung nach Heidegger darin liegt, ontologisch zu sein. Diese ontologische Auszeichnung muss einer Betrachtung zwangsläufig entgehen, die das Dasein lediglich ontisch und auf seinsgegenständliche Weise in den Blick nimmt. Ihr bleibt die existentiale Verfassung des Daseins verborgen, welche doch das Wesen seiner Erscheinung ausmacht. Wird das Dasein nicht lediglich äußerlich, sondern so erfasst, wie es sich selbst erscheint, dann treten Angst und Sorge als deren existentiale Grundbefindlichkeiten sogleich zutage und Zeitlichkeit erschließt sich als der Grundsinn eines entschlossenen Vollzugs des Daseins, das als geworfener Entwurf zu existentieller Eigentlichkeit gelangt. Man hat die Abhandlung „Sein und Zeit“, die erstmals im Frühjahr 1927 im 8. Band des von Adornos Heideggerkritik Husserl herausgegebenen „Jahrbuchs für Phänomenologie und phänomenologische Forschung“ sowie als Sonderdruck erschienen ist, als einen Reflex der allgemeinen Krisenstimmung der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und als Beleg dafür gedeutet, „wohin es den dunklen Drang der intelligentsia vor 1933 trieb“ (Adorno, 8). Im geschwollenen „Jargon der Eigentlichkeit“ werde die Autorität des Absoluten von verabsolutierter Autorität gestürzt und einer Bindung das weihevolle Wort geredet, deren Verbindlichkeit allein im hohlen Pathos der Entschiedenheit gründe. Im Kultus selbst-entschiedener und im Übrigen zu allem entschlossener Eigentlichkeit, die Heidegger zelebriere, feiere sich in sagenhafter Weise eine Denkungsart, der originäre Religiosität bei aller gesuchten Nähe zu theologischen Klängen längst abhanden gekommen sei. An die Stelle eines inhaltlich Bestimmten, auf welches das religiöse Verhältnis konstitutiv bezogen sei, trete die Unbestimmtheit schierer Dezision, deren Ursprünglichkeitsgerede in Wahrheit nur sich selbst bzw. der Führergestalt verpflichtet sei, der sie sich in blindem Gehorsam hingebe. „Subjektivität, Dasein selber wird aufgesucht in der absoluten Verfügung des Einzelnen über sich, ohne Rücksicht auf die Bestimmungen

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der Objektivität, in die er eingespannt ist, in Deutschland limitiert durch die ganz abstrakte und darum je nach Machtverhältnissen zu konkretisierende ‚Bindung an den Befehl‘, wie in dem Wortfetisch ‚soldatisch‘.“ (Adorno, 107) War, so Theodor W. Adorno (1903–1969), Philosophie, die ihrem Begriff genügte, stets sachhaltig, gesteht der Jargon, ob vulgär oder, wie bei Heidegger, in hohem Tone gehalten durch die Gehaltlosigkeit seiner gewundenen Rede wider Willen seine innere Leere ein, deren Blut- und Bodenlosigkeit durch Blut- und Boden-Gerede ebenso mühsam wie grausam kompensiert werden sollte. Was sich in dem von Heidegger meisterhaft gepflegten „Jargon der Eigentlichkeit“ verbreite bzw. fortsetze, ist nach Urteil von Adornos gleichnamigem Beitrag „Zur deutschen Ideologie“, der – ursprünglich als Teil seiner „Negativen Dialektik“ – in den Jahren 1962ff. geschrieben wurde, nicht weniger als die faschistische Machtergreifung im Modus raunender Sage. Ein gewisser Reger in der Komödie „Alte Meister“ von Thomas Bernhard hat dieses Verdikt später spöttisch dahingehend gesteigert, dass er den „Schwarzwaldphilosophen“ zum „nationalsozialistischen Pumphosenspießer“ und „Voralpenschwachdenker“ erklärte: „Heidegger ist der Kleinbürger der deutschen Philosophie, der der deutschen Philosophie seine kitschige Schlafhaube aufgesetzt hat, die kitschige schwarze Schlafhaube, die Heidegger ja immer getragen hat, bei jeder Gelegenheit. Heidegger ist der Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts weiter.“ (Th. Bernhard, Alte Meister. Komödie, Frankfurt a.M. 31985, 87ff., hier: 90) Als zusätzliche Beispiele literarischer Heideggerpersiflage lassen sich Passagen des Romans „Hundejahre“ von Günter Grass oder das Schauspiel „Die Wacht am Sein“ von Gabriel Marcel anführen. Ohne darauf einzugehen oder gar Tragödien leichtfertig in Satyrspiele verwandeln zu wollen, sei zu Adornos Heideggerparodie nur mehr angemerkt, dass ihre höhnende Schärfe über verwandte Anliegen beider Denker nur äußerlich hinwegtäuschen kann. „Man gewinnt den Eindruck“, schreibt Rüdiger Safranski, „daß die zeitweilige Verstrickung Heideggers in den Nationalsozialismus Adorno gelegen kam: so konnte er, der sonst überaus behutsam vorging, Heidegger gegenüber mit dem Hammer philosophieren und einen Abstand herstellen, der in der Sache des Denkens so groß nicht war.“ (Safranski, 478) Die Gefahr mit dem Hammer zu philosophieren Grundgedanken von „Sein und Heideggers Denken vorweg und ohne eigeund Zeit“ ne Prüfung zu einer bloßen Zeitgeistfunktion herabzusetzen, ist am besten durch den Versuch zu wehren, die Grundgedanken von „Sein und Zeit“ anhand des Werkes selbst zu benennen. Das soll im Folgenden in gebotener Kürze geschehen und zwar so, dass mit dem philosophiegeschichtlichen Ort des „Jahrhundertbuches“ zugleich die Horizonte erkennbar werden, die es für die Theologie seiner Zeit eröffnet hat. Auf diese Weise vermag sowohl der geschichtliche Kontext des Werkes als auch sein Anspruch Berücksichtigung zu finden, die Geschichtlichkeit des Daseins sei nicht Folge, sondern der existentiale Ursprung der Historie und der Welt-Geschichte. Was heißt Dasein? Jenes Sein, sagt Heidegger in der Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, die sein Werk

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einleitet, welches auf sich selbst bezogen dessen Sinn erfragt. Das Sein des Seienden, das wir je selbst sind, kann nicht nach der Seinsart der Dinge bestimmt und vorstellig werden; denn Daseiendes ist eine Entität, die ontisch dadurch ausgezeichnet ist, als Seiendes nicht nur äußerlich, sondern in sich auf Sein bezogen zu sein. Das Seinsverhältnis, welches dem Dasein wesentlich eignet, wird darin manifest, dass dieses seinsverständig ist. „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist.“ (SuZ § 4) Fundamentalontologie muss daher bei der existenzialen Analytik des Daseins ihren Anfang nehmen, sofern Dasein die „ontisch-ontologische Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien“ (ebd.) und das vor allem anderen Seienden ontologisch primär zu Befragende darstellt. Was die Aufgabe existenzialer Analytik des Daseins, deren Möglichkeit und Notwendigkeit in der ontischen Daseinsverfassung angelegt und vorgezeichnet ist, näherhin betrifft, so besteht sie im Aufweis des inneren Zusammenhangs der Seinsverhältnisse, welche das Dasein in seiner Existenz bestimmen, nämlich der sog. Existentialien. Existentiales Verstehen richtet sich primär nicht auf ein bestimmtes Existenzverständnis, sondern auf das Verständnis des Zusammenhangs jener Strukturen, die als Existentialität Existenz konstituieren. Da uns das Dasein, obwohl wir es je selbst sind, aus Gründen, die im Einzelnen noch zu erörtern sein werden, im konventionellen Alltag in aller Regel uneinsichtig und verborgen bleibt, bedarf es, um dessen Strukturen zu erhellen und den Horizont für eine Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt freizulegen, der phänomenologischen Methode, welche zu verstehen vermag, was sich am Dasein selbst vernehmen lässt und zu verstehen gibt. Phänomenologie besagt: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ (SuZ § 7) Die hermeneutische Aufgabe einer phänomenologischen Fundamentalontologie besteht mithin darin, durch Analytik der Existenzialität der Existenz die Grundbestimmungen des Daseins zu kohärenter Einsicht zu bringen, um auf diese Weise das Sein des Seienden und dessen Sinn zu erhellen. Gemäß seinem ursprünglichen Plan wollte Heidegger diese Aufgabe in zwei Werkteilen angehen: 1. Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein; 2. Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität. Unter dem Titel „Sein und Zeit“ sind allerdings nur die ersten beiden Abschnitte (1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins; 2. Dasein und Zeitlichkeit) des ersten Teils publiziert worden, wohingegen dessen dritter Abschnitt (Zeit und Sein) und der gesamte zweite Teil (1. Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität. 2. Das ontologische Fundament des „cogito sum“ Descartes’ und die Übernahme der mittelalterlichen Ontologie in die Problematik der „res cogitans“. 3. Die Abhandlung des Aristoteles über die Zeit als Diskrimen der phänomenalen Basis und der Grenzen der antiken Ontologie) nicht erschienen sind bzw. inhaltlich anderwärts bearbeitet werden.

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Das Thema einer Fundamentalanalytik des Daseins, deren Aufgabe zu Beginn des ersten Teils von „Sein und Zeit“ exponiert wird, ist, wie gesagt, die Analyse desjenigen Seins, das wir je selbst sind. Das Sein des Seienden, welches das Dasein ist, ist je meines. Der Charakter der Jemeinigkeit ist dem Dasein in keiner Weise äußerlich, da es an sich selbst und als solches durch Jemeinigkeit bestimmt ist. Würde die Analytik des Daseins von dessen Jemeinigkeit abstrahieren, würde sie mit dieser das Daseinsphänomen selbst verkennen und seine ontologische Bedeutung verfehlen. Dasein ist eine Seinsform sui generis und eine Entität, die „nicht und nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur Vorhandenen“ (SuZ § 9) hat. Das Sein des Daseins in der Weise des Vorfindens von Vorhandenem strukturell erfassen zu wollen, ist ontologisch unmöglich. Dazu bedarf es einer aller Biologie, Psychologie und Anthropologie vorangehenden und diese fundierenden Existenzialanalytik. Während die Kategorien die apriorischen Bedingungen des Wasseins benennen, erheben die Existenzialien die Existenzstrukturen des Werseins, die aller existenziellen Erfahrung zugrunde liegen. Obwohl Dasein als ein, um es im Anklang an Kierkegaard zu sagen, sich zu sich verhaltendes Seinsverhältnis nicht auf welthaft-kategoriale Weise erfasst werden kann, ist es existential und damit in unveräußerlicher Weise als In-der-Welt-Sein verfasst. Das In-der-Welt-Sein als Grundverfassung des Daseins, durch welche alle Selbst- und Welterkenntnis fundiert ist, lässt Heidegger zunächst nach der Weltlichkeit der Welt, sodann nach Mit- und Selbstsein und schließlich nach dem InSein als solchem fragen, welches die existentiale Konstitution des Da ausmacht. Die Weltlichkeit der Welt, auf welche sich zu beziehen dem Dasein niemals äußerlich ist, weil In-der-Welt-Sein eine existentiale Grundbestimmung seiner selbst ausmacht, ist ursprünglich auf umwelthafte Weise präsent. Welt ist dem Dasein primär als Umwelt gegenwärtig. Das inner-umweltlich begegnende Sein wiederum hat den Seinscharakter von zuhandenem Zeug, dessen Zusammenhang ein Ganzes bildet, in welchem zu sein die urtümliche Weise des In-der-Welt-Seins des Daseins ausmacht. Stellt sich die umgebende Welt, in welcher das Dasein ist, ursprünglich als geordnetes Ganzes von zuhandenem Zeug und nicht als ein mit dinglich vorhandenen „res extensae“ gefüllter Raum dar, so geht die Räumlichkeit des Daseins gleichwohl aus dem Umhaften der Umwelt schrittweise hervor. Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen umschreibt Heidegger zunächst als Gegend, um über das, was er Entfernung und Ausrichtung nennt, das Sein des Raumes als durch das Phänomen der Welt bzw. das Sein-in-der-Welt, welches Dasein ist, hervorgerufen und erschlossen zu erweisen. Weil Dasein als In-derWelt-Sein räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori, wobei Apriorität die Vorgängigkeit des Begegnens von Raum im jeweiligen Begegnen des Zuhandenen besagt. Dem wesenhaft durch Räumlichkeit bestimmten Die Macht des Man In-der-Welt-Sein des Daseins sind das Mitsein und Mitdasein strukturell gleichursprünglich. Existentiale Daseinsanalytik

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Dasein in der Welt ist Mitsein und Mitdasein. Das Dasein ist als Dasein mit anderen da. Dabei ist das Mitdasein anderer, ohne welches das Dasein nicht da ist, mit dem Sein von umweltlich Zuhandenem oder weltlich Vorhandenem nicht gleichzusetzen. Mitdaseiendes ist im Unterschied von Zuhandenem und Vorhandenem, welchem nichtdaseinsmäßiger Seinscharakter eignet, Seiendes von daseinsförmiger Seinsart. Das Seiende, zu welchem sich das Dasein als Mitseiendes verhält, ist diesem entsprechend nicht als zuhandenes Zeug und dinglich Vorhandenes, sondern als daseiendes Dasein zugegen. Aus dem Zusammenhang des Miteinanderseins von Daseiendem, der aus der existenzialen Verfassung des In-der-Welt-Seins als Mit- und Selbstsein hervorgeht, entwickelt Heidegger in § 27 seine berühmte Lehre vom „Man“. Sie besagt, dass das Dasein unter der Bedingung alltäglichen Miteinanderseins und als solches nicht zu eigentlichem Selbstsein gelangt, sondern in der Botmäßigkeit der Anderen steht, die als amorphe Masse und damit ihrerseits in der Form uneigentlicher Existenz als Man über das Dasein befinden. Im Man neutralisiert sich, wenn man so will, das Wer des Daseins, um tendenziell zu einem Was zu werden. „Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins. Diese Anderen sind dabei nicht bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht.“ (SuZ § 27) Um die Macht des Man zu brechen und das Dasein zu sich selbst und zu eigentlichem Selbstsein zu erheben, reicht es nach Heidegger nicht hin, ein Ich – und sei es auch das eigene – solipsistisch über alle anderen und alles andere zu erheben. Ein elitäres Verfahren dieser Art wäre im Gegenteil kontraproduktiv, weil ein durch die tendenzielle Negation alles dessen, was es nicht unmittelbar selbst ist, bestimmtes Ich in Wahrheit nichts anderes wäre als ein leeres Allgemeines ohne jede Besonderheit. Die unverwechselbare Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst, das Heidegger signifikanterweise auch von der Identität eines in der Erkenntnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich ontologisch strikt geschieden wissen will, ist nicht durch Ichüberhebung, sondern nur durch konsequente Vertiefung des Daseins in sein In-Sein als solches zu erlangen. Die Explikation des In-Sein als solchem, in dessen Zusammenhang nach Heidegger das Man als eine Verfallsform und als ein abkünftiger Modus des Daseins allererst durchsichtig wird, bedenkt mit Befindlichkeit und Verstehen die beiden gleichursprünglichen und in ihrer Gleichursprünglichkeit gleichermaßen durch Rede bestimmten konstitutiven Weisen, das Da zu sein, welches Dasein in seiner Erschlossenheit ist. An den Phänomenen des Geredes sowie der Neugier und der Zweideutigkeit werden sodann Modi jener Grundart des Seins des Da sichtbar gemacht, die Heidegger als Verfallen interpretiert. Im Gerede gibt sich das Dasein der Öffentlichkeit des Man hin, um sich durch Aufgehen im Miteinander zu erhalten. Durch Aufgabe seines Selbstseins sucht es sein Dasein zu ermöglichen. Das macht den Fall des Daseins in seiner Alltäglichkeit und unerheblichen Durchschnittlichkeit aus. Der Welt der Anderen verfallen, die

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selbst zu seinem Sein gehört und seine eigene Welt ist, stürzt sich das Dasein in den Alltag und seine geschäftige Betriebsamkeit, um nicht zu sich kommen und eigentlich es selbst sein zu müssen. Das „peccatum originale“ des Falls des Daseins besteht deshalb darin, nicht es selbst sein und als solches Nicht-Sein sein zu wollen, wobei hinzuzufügen ist, dass solches Wollen als in sich verfehlt zu gelten hat. Die von Heidegger durchaus als Bekehrung verstandene Abkehr von der Verfallsform des Daseins, in welcher dieses sein eigentliches Sein schuldig bleibt und sich selbst verfehlt, nimmt ihren Ausgang bei der Angst, deren Analyse überleitet von der vorbereitenden zur ursprünglichen existenzialen Interpretation des Daseins in seiner möglichen Ganzheit, wie es in dessen Sein zum Tode in Erscheinung tritt. In der Grundbefindlichkeit der Angst als einer ausgezeichneten Erschlossenheit des Daseins, die von der Furcht als einem abkünftigen Angstmodus präzise zu unterscheiden ist, ängstet sich das Dasein nicht vor Bestimmtem, sondern vor völlig Unbestimmtem. Gegenstand der Angst ist nichts Zu- oder Vorhandenes, sondern recht eigentlich Nichts bzw. das Sein des Daseins in der Welt überhaupt. Solchermaßen sich um sein In-der-Welt-sein ängstigend wird dem Dasein die Möglichkeit entzogen, sich aus der Welt der Anderen heraus zu begreifen und zu leben, wie man eben lebt: Die Angst „wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.“ (SuZ § 40) Bevor die existenziale Analyse der Angst, welche Angst und Sorge das Dasein radikal vereinzelt und es so als „solus ipse“, will heißen: in seiner Eigentlichkeit erschließt, im berühmten Todeskapitel zu Beginn des zweiten Teils von „Sein und Zeit“ ihre Fortsetzung findet, beendet Heidegger den ersten, phänomenologisch primär an den Modi des uneigentlichen Seins des Daseins orientierten Teil mit einer alles Bisherige zusammenfassenden Kennzeichnung des Seins des Daseins als Sorge. Auf die Komplexität des Phänomens der Daseinssorge, welche dem Besorgen von Zuhandenem und der mitdaseienden Fürsorge zugrunde liegt, ohne sich in beiden Phänomenen zu erschöpfen, weist u.a. der vorontologische Doppelsinn des lateinischen Begriffs der „cura“ hin, der sowohl ängstliche Bemühung als auch Sorgfalt und Hingabe bezeichnen kann. In seiner rein ontologisch-existenzialen Verwendung soll der Sorgebegriff das Sein des Daseins als „Sich-vorweg-schonsein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (SuZ § 41; fast wortgleich etwa auch in § 64) charakterisieren. Existierend ist das erschlossene Dasein als Geworfenes seiner Faktizität überantwortet, was es ängstet: „Hat je Dasein als es selbst frei darüber entschieden, und wird es je darüber entscheiden können, ob es ins ‚Dasein‘ kommen will oder nicht?“ (SuZ § 44; bei H. kursiv) Dasein ist sich vorweg schon in der Welt und zwar als ein Sein bei innerweltlich begegnenden Seienden, in deren Zusammenhang aufzugehen den Alltag des Da-

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seins ausmacht. Die Grundstruktur des in seiner konkreten Existenz gleichursprünglich seiner Faktizität überantworteten und dem Verfall preisgegebenen Daseins fasst Heidegger im Begriff der Sorge zusammen, deren Phänomenalität einen Einblick verschafft in die strukturelle Verfassung des Daseins als Ganzem. Als verstehendes Seinkönnen und mithin als ein Sein, zu dessen Grundverfassung im Unterschied zu den Seinsmodi der Zuhandenheit, der Vorhandenheit und der Realität Seinsverständnis und mithin Wahrheit im Ursprungssinn der Erschlossenheit gehört, ist die konkrete Existenz des Daseins in Sorge begriffen. Dasein ist als Sorge. Hat die existenziale Analyse des Daseinsphänomens der Sorge abschließenden Einblick ver- Sein zum Tode schafft in die konkrete Verfassung der Existenz in ihrer Alltäglichkeit, so ist der „Dasein und Zeitlichkeit“ überschriebene zweite Teil von „Sein und Zeit“ von Anfang an darauf bedacht, das Sein des Daseins in seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit, die seiner alltäglichen Verfassung abgeht, ans Licht zu bringen. Die Erleuchtung schafft folgende Einsicht: „Im Dasein steht, solange es ist, je noch etwas aus, was es sein kann und wird. Zu diesem Ausstand aber gehört das ‚Ende‘ selbst. Das ‚Ende‘ des In-der-Welt-seins ist der Tod. Dieses Ende, zum Seinkönnen, das heißt zur Existenz gehörig, begrenzt und bestimmt die je mögliche Ganzheit des Daseins. Das Zu-Ende-sein des Daseins im Tode und somit das Ganzsein dieses Seienden wird aber nur dann phänomenal angemessen in die Erörterung des möglichen Ganzseins einbezogen werden können, wenn ein ontologisch zureichender, das heißt existenzialer Begriff des Todes gewonnen ist. Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein zum Tode.“ (SuZ § 45) Die Analyse des Seins zum Tode, welches das Ganzsein des Daseins eröffnen soll, findet Anhalt am Phänomen der Sorge insofern, als diese strukturell auf die ständige Unabgeschlossenheit und Unganzheit des Daseins verweist. Ist das Dasein da, ist es mit einem Ausstand behaftet, der es hindert, ganz es selbst zu sein. Ist der Ausstand hingegen behoben, ist das Dasein nicht mehr da und in seinem Sein vernichtet. Das nichtende Nichts seines Endes ängstet das Dasein. Dabei ist es nicht eigentlich die Erfahrung des Sterbens Anderer, sondern die Wahrnehmung der unveräußerlichen Jemeinigkeit des eigenen Todes, welche die Unheimlichkeit der Angst in sich birgt. Im Enden des Daseins gibt es keine Vertretung. Jeder stirbt für sich allein. „Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Jemand kann wohl ‚für einen Anderen in den Tod gehen‘. Das besagt jedoch immer: für den Anderen sich opfern ‚in einer bestimmten Sache‘. Solches Sterben für ... kann aber nie bedeuten, daß dem Anderen damit sein Tod im geringsten abgenommen sei. Das Sterben muß jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er ‚ist‘, wesensmäßig je der meine. Und zwar bedeutet er eine eigentümliche Seinsmöglichkeit, darin es um das Sein des je eigenen Daseins schlechthin geht. Am Sterben zeigt sich, daß der Tod ontologisch durch Jemeinigkeit und Existenz konstituiert wird.“ (SuZ § 47) Eben dieser ontologische Charakter ist es, welcher Tod und Sterblich-

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keit zu existenzialen Phänomenen macht, die von Begebenheiten des Ablebens grundsätzlich zu unterscheiden sind. Daher darf auch die Angst vor dem Tode mit einer Furcht vor dem Ableben nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden. Wird die Todesangst im alltäglichen Dasein mit Zu sich selbst entschlossenes dem Hinweis beruhigt, dass das Ende des Lebens Dasein noch aussteht und das Sterben längst nicht begonnen hat, zeichnet sich nach Heidegger das eigentliche Dasein dadurch aus, dass es sein Sein zum Tode entschlossen ergreift, um durch entschiedene Affirmation seiner Endlichkeit zu existenter Ganzheit zu gelangen. Als Daseinsende ist der Tod nach Heidegger die eigenste, unbezügliche, unüberholbare, gewisse und in ihrer Gewissheit unbestimmte Möglichkeit des Daseins, die es daseiend zu ergreifen gilt, damit das endliche Dasein im Vorlauf zu seinem Ende ganz werde und von der Knechtschaft des Man befreit. Das Sein zum Tode als eigenste Möglichkeit des Daseins erschließt diesem sein eigenstes Seinkönnen, beansprucht es als Einzelnes von unverwechselbarer Singularität, um es für sich frei werden zu lassen und zur Gewissheit unüberholbarer Ganzheit zu führen. Indes kann das Dasein Sein zum Tode nur sein unter Integration der Angst, die ihm die Todesgewissheit in ihrer Unbestimmtheit vergegenwärtigt und ihm zumutet, sich mutig dem bevorstehenden Nichts der eigenen Existenz zu stellen. Dass die Möglichkeit, die mögliche Unmöglichkeit seiner Existenz zu integrieren, dem Dasein gegeben ist, setzt Heidegger ontologisch voraus. Daseinsmäßig als eigentliches Seinkönnen bezeugt findet er diese Möglichkeit im Phänomen des Gewissens, in dessen Stimme das Dasein seine Bestimmung vernimmt und zur Wahl und Realisierung dessen aufgerufen ist, was es sich selbst schuldig ist, nämlich: zu sich selbst entschlossen zu sein. Ohne auf die existenzial-ontologischen Fundamente des Gewissens, seinen Charakter als Ruf der Sorge sowie das Anrufverstehen und den existenzialen Begriff des Schuldigseins näher einzugehen, sei zum Stichwort der Entschlossenheit nur mehr vermerkt, dass mit ihr nach Heidegger das Dasein in seiner ursprünglichsten und eigentlichsten Wahrheit erschlossen ist. Die phänomenologische Analyse von „Sein und Zeit“ vollendet sich in der vorläufigen Einsicht, dass das ursprüngliche Phänomen der Zeitlichkeit der ontologische Sinn der Sorge und damit der Sinn des Daseins überhaupt ist, der dessen Sinnganzheit konstituiert und zur Einheit bringt. Vermerkt sei, dass die Sorge sowenig wie das Dasein, das sie begründend strukturiert, nicht der Fundierung in einem Selbst bedarf, dass vielmehr umgekehrt das Phänomen der Selbstheit in der begriffenen Sorgestruktur inbegriffen ist. Nicht nur aus diesem Grund lehnt es Heidegger ab, als Existenzialanalytiker Subjektphilosoph genannt zu werden. Hinzu kommt nach seiner Einsicht, dass der ontologische Begriff des Subjekts nicht die Selbstheit des Ich qua Selbst charakterisiert, „sondern die Selbigkeit und Beständigkeit eines immer schon Vorhandenen“ (SuZ § 64). Als Subjekt lässt sich das Ich selbst demnach nicht fassen. Denn weder ist dieses eine „res cogitans“, noch ein reines Ich denke, das sich als denkendes Ich von einem gedachten Etwas isolieren und von seinem In-der-Welt-Sein abheben ließe. Um das Ich qua Selbst in seiner Selbstheit zu erfassen, bedarf es daher der

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Einsicht in jenes umgreifende Strukturganze des Daseins, welches die Sorge ist. Deren strukturelle Verfassung, die auf die bereits erwähnte Formel des Sichvorweg-schon-sein-in-als-Sein-bei gebracht wurde, findet in der Zeitlichkeit ihre begründende Einheit. „Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-Seinin ... bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei ... wird ermöglicht im Gegenwärtigen.“ (SuZ § 65) Zum genaueren Verständnis dieser Wendung sei auf den Text des § 65 von „Sein und Zeit“ verwiesen, an dessen Ende Heidegger seine bisherige Analyse der ursprünglichen Zeitlichkeit thetisch zusammenfasst. Aus der Wahrnehmung des ElementarphänoDie Zeitlichkeit des Daseins mens der Zeitlichkeit des Daseins entspringt die und die Historie Aufgabe einer ursprünglicheren Wiederholung der im ersten Teil von „Sein und Zeit“ erbrachten existenzialen Analyse. Der Text kehrt daher zum alltäglichen Dasein als seinem Ausgangspunkt zurück, um die von ihm her erschlossenen Phänomene des Verstehens, der Befindlichkeit, des Verfalls und der Rede sowie des umsichtigen Besorgens in seinem Verhältnis zum theoretischen Entdecken des innerweltlich Vorhandenen bis hin zur Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins des Daseins von der Zeitlichkeit her erneut in Erscheinung treten zu lassen. Aus dem Verständnis der Zeitlichkeit wird ferner ein ontologisches Verständnis der Geschichte gewonnen, wobei die Geschichtlichkeit des Daseins im Unterschied zum vulgären Geschichtsbegriff ursprünglicher angesetzt wird als das historische Geschehen. In dem Paragraphen über den existenzialen Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins kann Heidegger daher die These vertreten, dass die Geschichtlichkeit des Daseins nicht notwendig der Historie bedürfe, sondern dass, wofür der Historismus ein Beispiel biete, Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit auch entfremden könne: „Unhistorische Zeitalter sind als solche nicht auch schon ungeschichtlich.“ (SuZ § 76) Um der Seinsgeschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins gewahr zu werden, bedarf es im Gegenteil des Abschieds vom Historismus, der als Reflex einer ungeschichtlichen Epoche zusammen mit dieser zu verabschieden sei. Nach Entlassung aus dem Jesuitennoviziat und Abbruch der Priesterausbildung hatte Hei- Die Kehre degger sein Freiburger Theologie- und Philosophiestudium mit einer Dissertation zur Lehre vom Urteil im Psychologismus (1913) und einer Habilitationsschrift zur Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915) abgeschlossen. Anfang 1919 erfolgte der definitive Bruch mit dem „System des Katholizismus“, wie es hieß. Von 1918 an wirkte der geborene Meßkircher als Privatdozent und Assistent von Edmund Husserl in Freiburg; 1923 wird er nach Marburg berufen, wo er sich mit Rudolf Bultmann befreundet. Durch Aristotelesinterpretationen und seine Ontologievorlesung bereits zu interner Berühmtheit gelangt, verschaffte Heidegger das 1927 erschienene Werk „Sein und Zeit“ den öffentlichen Durchbruch. Im Jahr darauf wird er Nachfolger Husserls in Freiburg. Keiner von Heideggers späteren Schriften war eine vergleichbare Wirkung beschieden wie dem Frühwerk „Sein und Zeit“. Das gilt auch für die

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Theologie. Die existentiale Interpretation der biblischen Botschaft, wie der erwähnte Bultmann sie im Anschluss an Heideggers Bestimmungen der Geschichtlichkeit des Daseins durchführte, ist dafür ein paradigmatischer Beleg. Gleichwohl darf, auch wenn auf ihre inhaltliche Explikation nicht näher eingegangen werden kann, die mögliche theologische Relevanz jener vielbeschworenenen „Kehre“ nicht gänzlich unbedacht bleiben, die Heideggers Denkweg von der Daseinsanalytik zum Andenken des Sein selbst hinführte, durch welches die Destruktion der überkommenen Metaphysik mit Hilfe Hölderlins eine Wendung ins Konstruktive zu nehmen sich anschickte. Vollzieht sich in jener Kehre in analoger Weise nicht just diejenige Entwicklung, die, wenn man so will, in umgekehrter Richtung den Gang der Theologiegeschichte von den Anfängen der Dialektischen Theologie, deren Beginnen allein Karl Barth konsequent weiterverfolgte, hin zu Bultmann, Emil Brunner u.a. bestimmte? Nun wird man zwar erstens die Frage nach dem Sein des Seienden, die Heidegger als das Grundanliegen seiner Philosophie exponiert, nicht umstandslos in den Dienst theologischer Antworten stellen und zweitens die fundamentaltheologische Analyse des Daseinsvollzugs, wie sie „Sein und Zeit“ vornimmt, der späteren Philosophie nicht undifferenziert entgegensetzen dürfen, welche primär die Selbsterschließung des Seinsinnes zur Sache des Denkens erklärt. Heideggers Denkbewegung ist unbeschadet ihrer vollzogenen Wende kontinuierlicher als es äußerer Betrachtung erscheinen mag, und zu dieser Kontinuität gehört eine durchgängige Reserve gegen jedwede theologische Funktionalisierung der Philosophie. Gleichwohl dürfte es kein völliger Fehlgriff sein, mit der Rede von dem sich lichtenden Seinsereignis, welches allein der gerade die traditionelle Metaphysik beherrschenden Seinsvergessenheit Einhalt zu gebieten vermag, Assoziationen an den strikt offenbarungstheologischen Ansatz Karl Barths zu verbinden, wohingegen „Sein und Zeit“ theologisch nicht von ungefähr an Rudolf Bultmann denken lässt. Das Sein des Seienden, sagt Heidegger 1927, erschließt sich im Vollzug des Daseins, ohne den es nicht zugänglich ist. Nichtsdestoweniger ist, wie in späteren Phasen betont hervorgehoben wird, das sich im Denken erschließende Sein durch den geschichtlichen Daseinsvollzug mitnichten gesetzt, sondern dessen Voraussetzung, die sich selbst voraussetzt, um sich von sich aus zu verstehen zu geben dergestalt, dass die Schickung der Seinsgeschichte über das Daseinsgeschick befindet, das es in seinsgelassenem Gehorsam hinzunehmen gilt. Auch wenn ein Übergang vom Seinsdenken zur Gottesthematik für Heidegger nicht vollziehbar ist, wird man doch nicht in Abrede stellen können, dass die fundamentalontologische Kehre von der Daseinsanalyse zu einer Philosophie, die im vernehmenden Hören des Zuspruchs des Seins selbst ihre letzte Erfüllung sucht und findet, Parallelen zu theologischen Problemlagen und theologiegeschichtlichen Konstellationen der Zeit aufweist.

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10. Die Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung: Barths Theologie der Krise

Lit.: K. Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, hg.v. H. Schmidt, Zürich 1985 (K. Barth, Gesamtausgabe II. Akademische Werke). – Ders., Der Römerbrief, München 2 1922. – Ders., Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Christliche Welt 36 (1922), 858–873; jetzt in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, München 1962, 197–218. – Ders., Die kirchliche Dogmatik, Zürich 1932–1967. – Ders., Die Menschlichkeit Gottes. Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweiz. Ref. Pfarrvereins in Aarau am 25.9.1956 (ThSt 48). – K. Barth/E. Thurneysen, Briefwechsel. Bd. 2: 1921– 1930, hg.v. E. Thurneysen, Zürich 1974 (Barth-Gesamtausgabe V. Briefe). – U. Barth/ W. Gräb (Hg.), Gott im Selbstbewusstsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993. – D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg.v. C. Grenck u.a. in Zusammenarbeit mit I. Tödt; in: Dietrich Bonhoeffer Werke. Bd. 8, Gütersloh 1998. – R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Bd. 1, Tübingen 81980, 1–25. – Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, 1977. – A. Jülicher, Ein moderner Paulus-Ausleger, in: Christliche Welt 34 (1920), 453–457; jetzt in: J. Moltmann (Hg.), a.a.O., 87–98. – E. Jüngel, Art. Barth, Karl, in: TRE 5, 251–268. – H. Lübbe, Die philosophischen Ideen von 1914, in: ders., Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, 1963, 173–238. – T. Rendtorff, Radikale Autonomie Gottes. Zum Verständnis der Theologie Karl Barths und ihrer Folgen, in: ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 161–181. – F. Wagner, Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth, in: T. Rendtorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975, 10–43.

In einer Frühlingsnacht des Jahres 1924 hatte Karl Barth (1886–1968) einen Traum. „... einmal Barths Traum letzthin“, so berichtet er den Freunden, „erwachte ich mitten in der Nacht jählings, weil ich soeben sehr plastisch von dieser unerhörten Subjektivität (sc. Gottes) in der Offenbarung geträumt hatte, die irgendwie wesenhaft (also doch leider objektiv!!) auf mich zukam, wobei der Wind plötzlich die Zimmertür aufriß und das Fenster zuwarf (in Wirklichkeit), so daß Spektakel und dogmatische Vision wunderlich ineinandergingen“ (K. Barth, Briefwechsel, 254). Tagsüber war Barth damals gerade mit der Ausarbeitung seiner ersten Dogmatikvorlesung beschäftigt und dabei insbesondere mit der Lehre von der Trinität,

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die er justament „als das Problem der unaufhebbaren Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung“ (ebd.) zu verstehen gedachte. So ungeklärt ihm dieser Zusammenhang im Einzelnen auch noch erscheinen mochte, das Grundthema seiner Theologie war Barth 1924 gleichsam schon im Schlaf präsent: die These von der absoluten Subjektivität des offenbaren Gottes. Mit der ganzen Theologengeneration, die nach dem Ersten Weltkrieg beherrschenden Einfluss Das Ende der Neuzeit gewann, teilte Karl Barth, – gemäß Eberhard Jüngel „der bedeutendste evangelische Theologe seit Schleiermacher“ (Jüngel, 251) – das Bewusstsein einer fundamentalen und irreversiblen Autonomiekrise des neuzeitlichen Menschen. Rudolf Bultmann, der Weggefährte Barths, hat dieses Bewusstsein 1924 auf die programmatische Formel gebracht: „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat.“ (Bultmann, GV I, 2) Indes war die Kritik der frühen Dialektischen Theologie keineswegs nur gegen die eigenen theologischen Lehrer, gegen das Denken etwa eines Wilhelm Herrmann oder Adolf von Harnack, gerichtet. Der Zusammenbruch der liberalen Theologie und ihres sogenannten Kulturprotestantismus galt vielmehr nur als ein Beispiel dafür, dass die moderne Theologie, ja dass der Geist der Moderne in all seinen Gestaltungen gescheitert sei. An epochaler Selbsteinschätzung hat man es dabei in den Reihen der Dialektischen Theologen nicht fehlen lassen: Man empfand sich gewissermaßen als Zeuge und Agent des, wenn man so sagen darf, Endes der Neuzeit und des Beginns der Postmoderne. Auch die Vorliebe für die Theologie der Reformatoren und der altprotestantischen Orthodoxie, auf die man sich in hohem theologiegeschichtlichen Bogen zurückbesann, erklärt sich aus diesem Bewusstsein, an einem geschichtlichen Epochenbruch zu stehen: Die Favorisierung der reformatorischen Väter indiziert nicht so sehr den restaurativen Willen, in die Vorneuzeit zurückzukehren, viel eher den revolutionären Wunsch, die Neuzeit hinter sich zu lassen. Eine Neubegründung der Theologie und einer ihr gemäßen Wirklichkeit schien Barth und den Seinen nur möglich in Kritik und Negation (Stichwort: Theologie der Krise) jener selbstmächtigen, autonomen menschlichen Subjektivität, die man für den Inbegriff des modernen Geistes und den Epochenindex der Neuzeit hielt. Dass diese Charakteristik der Neuzeit global und Der Geist der Moderne in gewisser Weise auch pauschal ist, ist sicher richtig, hebt aber dennoch ihren Erkenntniswert nicht auf. Gewiss hat eine detaillierte historische Darstellung die Vielfalt der einzelnen Strömungen innerhalb der Moderne differenzierter darzustellen, dennoch ist ein übergreifender typischer Richtungssinn offensichtlich. Die Grundtendenz des modernen Geistes, so wurde gesagt, ist durch die Hinwendung von einer primär hinnehmenden zu einer aktiv wirksamen und gestaltenden Vernunft bestimmt. Erfahrungen werden nicht lediglich empfangen, um auf diese Weise einen Eindruck zu hinterlassen, sie werden vielmehr durchaus selbsttätig gemacht. Der neu-

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zeitliche Mensch versteht sich nicht lediglich als Weltgegenstand bzw. dem Kosmos eingeordnete Größe, sondern als das Organisationszentrum der Wirklichkeit, die er seinem Willen gemäß zu formen sucht. Der immerseiende Charakter des Wesens der Dinge wird in seiner Zeitinvarianz in Frage gestellt und durch Neues schaffende Tat historisch dynamisiert. Das zum Bewusstsein seiner selbst gelangte Subjekt verlässt den geschlossenen Raum geschichtsloser Natur und problematisiert die durch kirchliche Autorität sanktionierten Wertvorgaben. Der substantielle Gehalt hat ohne subjektive Form nicht länger Bestand. Das Ich denke avanciert zum Einheitsprinzip aller Vorstellungen gemäß der Devise, dass alles unter der Bedingung steht, gewusst werden zu können. Auch in Anbetracht der Entwicklung moderEntwicklungstendenzen neuner protestantischer Theologie fällt sogleich ins zeitlicher Theologie Auge, wie eng sich ihre Theorie und Praxis der neuzeitlichen Subjektivitätskultur verbunden wusste. Ohne Innewerden des gegebenen Glaubensgehalts und ohne entsprechende subjektive Gewissheit gibt es nach pietistischem und erweckungstheologischem Urteil keine wahre Frömmigkeit. Die Verfassung des Herzens macht den Theologen, dessen Rechtgläubigkeit sich durch tätige Orthopraxie zu bewähren hat. Die Wahrheit der Lehre hängt konstitutiv an der Entschiedenheit wahrhaftiger praxis pietatis. Die fromme Erfahrung sucht sich durch biographische und autobiographische Reflexion ihrer selbst zu versichern. In ihrer Subjektorientierung konvergieren Pietismus und Erweckungsbewegung tendenziell mit der theologischen Aufklärung, in der sich die Subjektivität des Menschen primär im Medium der Kritik Geltung verschafft, wobei es in der Regel durchaus Frömmigkeitsgründe sind, die als Motiv hierzu fungieren. Der Aufweis historischer Genese von Kanon und Dogma dient zwar einerseits, um ein Beispiel zu geben, der Destruktion ihrer zeitinvarianten Ansprüche; diese erfolgt aber mit dem konstruktiven Ziel, die aktuelle Religiosität vor Fremdbestimmung zu bewahren und die nötigen Freiräume zur Entfaltung individueller Frömmigkeit zu eröffnen. Einem vergleichbaren Emanzipationsinteresse dient die Differenzierung zwischen allgemein relevanten Fundamentalartikeln und allein für kirchliche Amtsträger verbindlichen Lehren sowie zwischen verfasster Kirche und freiem Christentum, das sich durch persönliche Zustimmung und herzliche Anerkennung, nicht durch autoritätsbestimmten Gehorsam konstituiert. Die bewusste Unterscheidung zwischen Religion und Theologie, wie sie für die neuzeitliche Christentumsgeschichte kennzeichnend ist, gehört ebenso in diesen Zusammenhang, wobei auch in einer durch konfessionelle Kirchlichkeit geprägten Tradition der Theologe sich nicht selten in seiner Eigenschaft als frommer Christ zum urtümlichen Gegenstand seiner Betrachtung wählt. Die biblische Geschichte kann so theologisch in den Dienst genetischer Rekonstruktion eigener Frömmigkeit gestellt werden mit der Folge, dass Schriftexegese und religiöse Selbstauslegung tendenziell übereinkommen. Für Karl Barth und seine theologischen Freunde ergab sich aus solchen und vergleichbaren theologiegeschichtlichen Befunden die feste Überzeugung, dass in

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neuzeitlicher Theologie von Gott und seinem Christus nur noch im Horizont menschlicher Selbstexplikation gehandelt wurde. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, der sogenannte Kirchenvater des 19. Jahrhunderts und von Barth gerne und mit Bedacht zu seinem großen Antipoden stilisiert, galt hierfür als das typische Beispiel schlechthin. Er habe das Werk der Moderne vollendet und die Anthropologie an die Stelle der Theologie treten lassen. Dass die anthropologische Konzentration der Schleiermacher’schen Theologie keineswegs die Aufhebung der Lehre von Gott in diejenige vom Menschen intendierte, sondern in der Absicht geschah, Gott als die unumgängliche Grundlage aller menschlichen Selbstverhältnisse und Religion als ein in menschliche Denk- und Handlungsvollzüge nicht aufhebbares Universal- und Fundamentaldatum zu erweisen, beeindruckte Karl Barth wenig. Aufs große und ganze ist Schleiermacher für ihn ebenso wie auf ihre Weise auch Kant, Hegel und Konsorten Vorläufer von Feuerbach und Bestätiger von dessen These, dass die religiösen Vorstellungsgehalte des modernen Menschen im Grunde nichts anderes seien als subjektive Projektionen. Mit eherner Konsequenz hat Barth demgegenüber in immer neuen Variationen die Grundaussage seiner Theologie der absoluten Subjektivität Gottes in der Offenbarung geltend gemacht. „Daß einzelne Lieblingsgedanken des Verfassers gar zu oft wiederkehren“, hatte Adolf Jülicher in einer Rezension in der „Christliche(n) Welt“ denn schon an der ersten Auflage des Römerbriefkommentars von Barth auszusetzen (Jülicher, 89). Aber das dürfte aufs Engste damit zusammengehören, was selbiger Rezensent abschließend so sagte: „Der Barthsche Paulinismus ist ein Merkzeichen auf dem Weg der Kirchengeschichte, der Wert dieser Erörterungen durchaus kirchengeschichtlich ... Viel, möglicherweise sehr viel wird man einst aus diesem Buch für das Verständnis unsrer Zeit gewinnen, für das Verständnis des ‚geschichtlichen‘ Paulus kaum irgend etwas Neues.“ (Jülicher, 97) In der Tat war es Karl Barths Sache nicht, die vielfältigen Gedanken des Apostels polyphon und in historischkritischer Differenziertheit aufzunehmen, sondern den einen Gedanken, der seiner Meinung nach an der Zeit war, monoton und tautologisch zur Sprache zu bringen, dies war seine Absicht: Gott ist frei – und zwar unbedingt, Gott ist Subjekt – und zwar absolutes, Gott allein ist selbstverständlich, weil er sich im Unterschied zu Mensch und Welt von selbst versteht; kurz: Gott ist der Herr oder: Gott ist Gott. Mit dieser Proklamation radikaler Autonomie Gottes (T. Rendtorff ) war für Karl Barth nicht Die Ideen von 1914 nur eine Absage an die neuzeitliche Theologie, sondern eine Elementarkritik der gesamten Subjektivitätskultur der bürgerlichen Welt der Moderne unlösbar verbunden. Das Bewusstsein der totalen Krise und die Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns bestimmte nicht nur die Theologie, sondern mit ihr das gesamte geistige Klima im Deutschland der frühen zwanziger Jahre. So unterschiedlich die Alternativvorstellungen im Einzelnen auch ausfallen Wider den Anthropozentrismus

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mochten, weitgehend einig war man sich doch in der Diagnose: Der Zusammenbruch der alten Welt wurde identifiziert mit dem Scheitern des individuellen Selbstbestimmungswillens des neuzeitlichen Subjekts. Von dieser Argumentation sind etwa schon die sogenannten „Ideen von 1914“ geleitet, die Beiträge der deutschen Philosophie zum Ersten Weltkrieg. Dabei konnte man, indem man die Opposition gegen Individualismus und Subjektivismus zu einem politischen Gegensatz erklärte, die Erwartung von deren Untergang in den Dienst kriegsideologischer Propaganda stellen. Die Kriegsphilosophie Rudolf Euckens (1846–1926) etwa (vgl. Lübbe, 178–188) folgt diesem Schema, wenn sie die wesenhafte, substantielle Innerlichkeit der deutschen Seele von einer durch die Äußerlichkeit individueller Liberalität geprägten westlichen Zivilisation abhebt. Als ein vergleichbarer „Denker deutschen Wesens“ (Lübbe, 188) kann Paul Natorp (1854–1924) mit seinem Traktat „Der Tag des Deutschen“ von 1915 gelten: „Unter Berufung auf Fichte“ beschreibt er den „Sozialismus einer Gemeinschaft sittlichen Wollens“, der dem Deutschen nicht weniger im Blut liege als der Militarismus, „als die Freiwilligkeit einer Gesinnung zur Unterordnung unter das gemeinsame Ganze, als die Bereitschaft, sich in leistungsadäquater Position in eine Befehls- und Gehorsamshierarchie einzupassen, welche die Sache erzwingt.“ (Lübbe, 191) Indem sich das Subjekt ans Ganze hingibt, überwindet es den antagonistischen Pluralismus, der nach Natorp kennzeichnend ist für die politisch-sozialen Ordnungssysteme der deutschfeindlichen westlichen Welt. Demgemäß stellt er „dem ‚kapitalistischen‘ System einer desintegrierten Pluralität individueller und kollektiver Subjekte ... die moralisch-pädagogische Totalität eines idealistischen ‚Sozialismus‘ gegenüber, in dem der universelle Zweck einer Gemeinschaftskultur der Humanität nicht von partikularen Interessen gesellschaftlich-materieller Art verdrängt ist. Zugleich wird dieser Gegensatz politisiert, indem er zur Quintessenz des deutschen Kampfes gegen die übrige Welt erklärt wird.“ (Lübbe, 193) Es lag in der Logik solcher Argumentation, dass sie, was ihr „an analytischer Einsicht in die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen fehlte“, durch die „Kraft des Entschlusses“ ersetzte (Lübbe, 206). So konnte jene Philosophie des totalen, dezisionistischen Engagements entstehen, wie es entsprechend auch im Bereich der positivistischen Jurisprudenz und Politikwissenschaft sich aufweisen ließe und vom frühen Ernst Jünger (1895–1998) konsequent ins Literarische übersetzt wurde. Krieg und Kampf gelten nunmehr nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck ihrer selbst, da der Mensch erst in ihnen, also in der radikalen Gefährdung und Krise seiner selbst und in der Hingabe an das Gemeinschaftsganze, als dessen Funktionsorgan der Einzelne allein Wert besitze, recht eigentlich zu sich selbst komme. Was Lübbe im Blick auf Werner Sombart (1863– 1941) konstatiert, gilt in durchaus analoger Weise für Ernst Jünger: „Im Resultat tritt bei ihm an die Stelle des Glücks und des Wohlergehens als des Ziels menschlichen Strebens das steile Pathos einer Pflicht, die im Grunde schon zur ‚Einsatzbereitschaft‘ korrumpiert ist, zu jenem leeren Heroismus, der Entschlossenheit zu sich selbst als Lebensform ist: ‚Umrungen von Gefahr: das ist der ‚Weisheit letzter

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Schluß‘‘. In diesen Romantizismus des Gefährlichlebens löst sich die kalkulierende, abwägende Vernunft auf.“ (Lübbe, 213) Dass die Mythisierung des Kampfes für bestimmte antidemokratische und bewusst irrationale und illiberale Denkströmungen der zwanziger Jahre durch den tatsächlichen Verlauf des Ersten Weltkriegs eher als bestätigt denn als überwunden gelten konnte, vermag nur auf den ersten Blick zu überraschen; allzu nahe lag es, die Niederlage jenen vermeintlichen Restbeständen eines vergangenen und fremden Zeitgeistes im eigenen Lande zuzuschreiben, von welcher Schuldzuweisung die berühmt-berüchtigte Dolchstoßlegende nur eine Version ist. So konnten die „Ideen von 1914“ nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs in den antidemokratischen Strömungen der Weimarer Republik radikalisiert fortwirken, um schließlich vielfach im Faschismus der Nationalsozialisten aufzugehen. Karl Barth und die Dialektische Theologie in einem Atemzug mit solchem Radikalismus zu nennen oder auch nur in seine Nähe zu rücken, verbietet sich aus prinzipiellen Gründen nicht minder denn aus historischen. Was das Historische betrifft, so stehen Barths Haltung zum Ersten Weltkrieg, seine grundsätzliche Loyalität gegenüber der Weimarer Republik sowie sein Widerstand gegen das sogenannte Dritte Reich außer Frage. Prinzipiell aber gilt Folgendes: Barth verweigerte sich dem in den beginnenden und ausgehenden zwanziger Jahren des Jahrhunderts auftretenden Radikalismus nicht etwa deshalb, weil er ihm zu radikal, sondern weil er ihm nicht radikal genug erschien. Was ist damit gesagt? Einerseits ist unbestreitbar, dass Barth und die Die radikale Autonomie mit ihm befreundeten Dialektischen Theologen Gottes mit den geschilderten Denkströmungen das Bewusstsein teilten, zwischen den Zeiten zu leben, wobei man unter „Zwischenzeit“ nicht nur äußerlich den vorübergehenden Zeitraum zwischen zwei Epochen, sondern – den Epochenbruch gleichsam auf Dauer stellend – die bestimmende Signatur der eigenen Zeit, ja aller Zeit bezeichnet fand. Der Titel der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ (1923–1933) ist dafür paradigmatisch. Unbestreitbar ist weiterhin, dass die Kritik an der untergehenden Welt des 19. Jahrhunderts auch bei Barth und seinen theologischen Freunden sich zentriert in der Kritik am Subjektivismus und Individualismus als ihrem Prinzip. Das auf sich selbst bezogene Subjekt und seine Wirklichkeit, so die vielfach variierte These, scheitern weniger an einer misslichen gesellschaftlich-politischen Situation, als vielmehr an ihrem eigenen Prinzip unmittelbarer Selbsterhaltung und Autonomie. Das selbstbestimmende Subjekt bereitet sich durch die seiner Selbstbestimmung notwendig folgende antagonistische Konkurrenz den Untergang gewissermaßen selbst. Dass Karl Barth und die frühe Dialektische Theologie diesen Untergang des bürgerlichen Subjekts und seiner Welt aufhalten oder auch nur hemmen wollten, lässt sich kaum behaupten. Eher schon könnte man vom Bemühen um eine Forcierung des Untergangs sprechen. Dies geschieht nun freilich – und das ist der entscheidende Unterschied zu zunächst vergleichbar erscheinenden Denkströmungen der Zeit – weder im Interesse an nationaler Identität und einem organischen Gemeinschaftsganzen, noch

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im Interesse am Aufbau eines in reiner Entschiedenheit sich selbst erschlossenen neuen Menschen oder aus welchem Interesse auch immer, sondern um Gottes, allein um Gottes willen. Gott ist das revolutionäre Subjekt der Dialektischen Theologie und niemand sonst! Damit ist der Radikalismus der anderen Denkströmungen zugleich überboten und beschränkt. Denn die kritische Negation der Selbstbehauptungsansprüche singulärer bzw. kollektiver Subjekte wird in den alleinigen Dienst der absoluten Freiheit Gottes gestellt und so erneuter Partikularisierung entzogen. Gerade die Totalisierung der Kritik nämlich verhindert, dass sie angeeignet und zur Besitzkategorie wird. Von daher erklärt sich auch die konsequente Skepsis des frühen Barth gegen alle politischen Aktionsprogramme, welcher Provenienz sie auch sein mochten. So lange politische Handlungsanweisungen auf die unmittelbare Realisierung von Wahrheit zielen, sind sie nach Barth verkehrt in sich. „Das Christentum“, so schon der erste Römerbriefkommentar unter der Überschrift „Überlegenheit“ zu Röm 12,16c–13,10, „eignet sich nicht zu einer Kampfparole neben andern: es hebt alle andern auf, indem es sie in sich schließt ...“ (Barth, Römerbrief [1919], 506/379) Gleichwohl sollen die Christen in einem emphatischen Sinne tätig werden, indem sie nämlich gerade „nicht irgend eine Bewegung ..., sondern in christlichem Hochmut die Bewegung Gottes selber“ (Barth, Römerbrief [1919], 491/368) vertreten. Die Frage, wie das zugehen soll, verdrängt Barth zunächst appellativ: „Aber ihr dürft das Göttliche nicht ungöttlich, ihr müßt es göttlich vertreten.“ (Barth, Römerbrief [1919], 492/368) Das allerdings, so möchte man meinen, ist eben die Schwierigkeit, die Barth selbst in anderem Zusammenhang so umschreibt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles Andere ist daneben Kinderspiel.“ (Barth, Wort Gottes, 199) Damit ist das Problem angesagt, das als Theologie der Krise im Grundfrage jeder Barthinterpretation zu gelten Wandel hat, weil sich an ihm das Urteil über den Barth’schen Ansatz und seine Durchführung entscheiden muss: Ob sich nämlich mit der absoluten Subjektivität und Selbstbestimmung Gottes die Freiheit endlicher Subjekte überhaupt zusammendenken lässt oder anders, ob am Ort des Bedingten überhaupt in unbedingter Weise vom Unbedingten die Rede sein kann. Barths gesamtes Werk ist der Versuch der Antwort auf diese eine Frage. Im Zuge der Lösung des in ihr beschlossenen Problems trennten sich schließlich auch die ursprünglich vereinten Wege der Dialektischen Theologen (vgl. Gestrich, 1ff.): Während Barth die absolute Selbstbestimmung und Souveränität Gottes unmittelbar theologisch, d.h. direkt zu explizieren gedachte, schlugen im Grunde alle übrigen Dialektischen Theologen den anderen, von Barth selbst mehr oder minder als Abfall bzw. Rückfall disqualifizierten Weg ein und versuchten je auf ihre Weise, die göttliche Autonomie am Ort menschlichen Bestimmtseins, also indirekt und „anthropologisch“ zur Geltung zu bringen. Dies lässt sich an Friedrich Gogarten

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(1887–1967), Emil Brunner (1889–1966) und Rudolf Bultmann (1884–1976) ebenso verdeutlichen wie etwa an Paul Tillich (1886–1965), der sich ursprünglich durchaus Barths Anliegen verbunden wusste, sich von ihm aber abwandte, als er eingesehen zu haben glaubte, dass das unmittelbare Insistieren auf Gottes absoluter Selbstbestimmung jede Möglichkeit menschlicher Freiheit zunichte macht. Im Jahre 1956 hielt Karl Barth im Schweizer Aarau in einem Saal, in dem er 36 Jahre zuvor seinem Lehrer Adolf von Harnack – kritisch, versteht sich – gegenübergestanden hatte, einen Vortrag mit dem bezeichnenden Titel „Die Menschlichkeit Gottes“. Zu Beginn dieses Vortrags bezog er sich ausdrücklich auf seinen zurückliegenden theologischen Entwicklungsgang, wobei er einräumte, er wäre wohl in eine gewisse Verlegenheit geraten, wenn man ihn im Jahre 1920 „aufgefordert hätte, über die Menschlichkeit Gottes zu reden. Wir hätten Arges vermutet hinter diesem Thema. Wir waren jedenfalls nicht mit ihm beschäftigt. Daß es uns heute gestellt ist und daß ich mich heute nicht weigern konnte, etwas dazu zu sagen, ist ein Symptom dafür, daß jene frühere Wendung kein letztes Wort war.“ (Barth, Menschlichkeit Gottes, 4) Barths eigene Entwicklung spricht also für das Recht der Annahme, dass es christlicher Theologie, die in der Menschwerdung Gottes ihre innere Mitte hat, sinnvollerweise nicht darum zu tun sein kann, die notwendige Unterscheidung von Theologie und Anthropologie zu einer intransigenten Alternative zu erklären. Die an Barths Entwicklung wahrzunehmende Tendenz ist im Übrigen bestimmend geworden für den gesamten theologiegeschichtlichen Prozess der letzten Jahrzehnte. Bezeichnenderweise halten sich auch jene Theologen der Gegenwart, die sich bewusst in einen kontinuierlichen Zusammenhang mit der Theologie Barths stellen, vorzugsweise an dessen Spätwerk, um ihn gegen den Vorwurf zu verteidigen, in seinem Denken sei für die Freiheit des Menschen kein Platz. Es zeigt sich, dass die gegenwärtige Theologie weitgehend in dem sachlichen Interesse übereinstimmt, die Aufgeschlossenheit des in Jesus Christus offenbaren Gottes für die Freiheit des Menschen zur Geltung zu bringen, welches Interesse zunächst ganz unabhängig davon ist, ob es in Kritik oder in Zustimmung zur Barth’schen Theologie wahrgenommen wird. Damit ist schließlich auch wieder die VoraussetKritik und Konstruktion zung dafür gegeben, den Konzeptionen neuzeitlicher Theologie jene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihnen sachlich gebührt. So wenig man bruchlos an sie anknüpfen kann, so wenig dürfen sie doch der Vergessenheit überlassen werden. Wer als Theologe allzu forsch das definitive Ende der Neuzeit und ihrer Subjektivitätskultur proklamiert, verliert mit den verabschiedeten Traditionszusammenhängen Einsichten, die für christliche Theologie unentbehrlich sind. Will sie nämlich ihrem zentralen Gehalt entsprechen, dann darf christliche Theologie weder einem Regress in die vermeintliche Harmonie subjektloser Natur das Wort reden, der mit gutem Grund infantil genannt zu werden verdient, noch der Rückkehr in eine angeblich präsubjektive Objektivität fragloser Vorgegebenheiten, die dem modernen Bewusstsein autoritär zugemutet werden müssten. Es sollte zu denken geben,

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dass sich die Kritik an der Subjektivitätskultur des neuzeitlichen Menschen bei Karl Barth im Unterschied zu anderen, in ihren fatalen Folgen nur allzu bekannten kulturkritischen Strömungen der damaligen Zeit niemals etwa im Interesse an einem organischen Gemeinschaftsganzen, in welchem das Subjekt aufgehen müsste, vollzogen hat, sondern allein um der – wie Barth bezeichnenderweise sagt – Subjektivität Gottes willen. Wenn anders aber Gott derjenige ist, der in Jesus Christus zum Heile des Sünders Mensch geworden ist, dann muss sich die Subjektivität Gottes mit der Freiheit endlicher Subjekte nicht nur zusammendenken lassen, sondern dann hat zugleich zu gelten, dass die Subjektivität Gottes die wahre Selbstbestimmung menschlicher Subjekte und die Fülle ihrer geschichtlichen Realisationsgestalten allererst wirklich freisetzt. Die wesentliche, durch die Gabe der Offenbarung begründete und dem Zeugnis des Glaubens entsprechende Aufgabe gegenwärtiger Theologie besteht demgemäß darin, menschliche Theorie und Praxis vor jener Überanstrengung zu bewahren, die eine Folge ihrer Selbstbegründungsversuche ist und zwangsläufig in Überheblichkeit oder Selbstlähmung endet; die Theologie genügt dieser Aufgabe nur dann, wenn sie die Gabe menschlicher Identität und Freiheit, wie sie durch den Geist des in Jesus Christus offenbaren Gottes gegeben ist, so thematisiert, dass mit der Einsicht in die Sinnwidrigkeit und Sündigkeit aller unmittelbaren Selbstbestimmungs- und Selbstdurchsetzungsbestrebungen des Menschen zugleich solche kommunikativen Lebensgestalten eröffnet werden, in denen die Verschiedenen als Verschiedene in der Freiheit des Denkens und Handelns eins sein können. Weist nicht auch der Entwicklungsgang des Barth’schen Denkens in diese Richtung? In Basel als Sohn eines Theologieprofessors Der Weg zur „Kirchlichen geboren und in Bern aufgewachsen, beginnt Dogmatik“ Barth an der dortigen Universität zu studieren. Weitere Studienorte waren Berlin, wo er vor allem bei Adolf von Harnack in die Schule ging, Tübingen, wo er nicht ohne Widerstreben Adolf Schlatter (1852– 1922) hörte, und schließlich Marburg, wo er in Wilhelm Herrmann seinen eigentlichen Lehrer fand. Nach kurzem Vikariat und 1908 erfolgtem Examen kehrte er als Redaktionsassistent der „Christlichen Welt“ für ein Jahr nach Marburg zurück, bis er nach einer Genfer Zwischenzeit 1911 Pfarrer in Safenwil wurde. Der Beginn von Barths Freundschaft zu Eduard Thurneysen (1888–1977), der seine theologische Entwicklung am konsequentesten mitvollzog, z.T. auch motivierte, fällt ebenso in diese Zeit wie die Abkehr von der liberalen Theologie und der bestimmende Einfluss der Reich-Gottes-Theologie der beiden Blumhardts, nämlich Johann Christoph (1805–1880) und Christoph Friedrich (1842–1919). Dezember 1918 lag, auf 1919 datiert, die Erstauflage des Römerbriefkommentars vor, die Barth einen Ruf auf eine Honorarprofessur für reformierte Theologie in Göttingen einbrachte, dem er 1921 folgte. Im Jahr darauf erschien die völlig umgearbeitete 2. Auflage der Römerbriefauslegung, „die zum wirksamsten Text der neuen theologischen Bewegung wurde“ (Jüngel, 253). Auch die Gründung der Zeitschrift „Zwi-

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schen den Zeiten“ fällt ins Jahr 1922. In den Jahren 1925–1929 lehrte Barth als Professor für Dogmatik und Neutestamentliche Theologie in Münster, wo die 1927 erschienene „Christliche Dogmatik im Entwurf“ entstand; 1930 nahm er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie in Bonn an. Dort wurde der erste Band der „Kirchlichen Dogmatik“ geschrieben. Es folgt die Zeit des „Kirchenkampfs“, an dem Barth maßgeblich beteiligt war, insbesondere durch die am 31. Mai 1934 auf der ersten Bekenntnissynode in Barmen angenommene Theologische Erklärung. 1935 vom Reichswissenschaftsministerium in den Ruhestand versetzt, erhält Barth einem Ruf nach Basel, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrt. Dort entstehen in unregelmäßigen Abständen die weiteren Bände der Kirchlichen Dogmatik. Am 10. Dezember 1968 stirbt Karl Barth in seiner Geburtsstadt. Was die werkinterne Entwicklung von Barths Theologie im Einzelnen betrifft, so legt sich folgende Periodisierung nahe: Eine bis zur Erstauflage des Römerbriefkommentars von 1919 reichende Anfangsphase ist theologisch von den Problemkonstellationen des Neuprotestantismus, philosophisch vom Neukantianismus namentlich Cohens und Natorps bestimmt. Die Abkehr von den liberaltheologischen Traditionenen erfolgt in der Konsequenz ihrer kritischen Rezeption, so dass weder einfachhin von einem Bruch mit der Theologie der Lehrer, noch von deren bruchloser Fortsetzung die Rede sein kann. Kontinuität und Diskontinuität bilden vielmehr einen Zusammenhang, der erfasst sein will, wenn Barths Beginnen angemessen gewürdigt werden soll. Die zweite Entwicklungsphase umfasst die Zeit bis zum ersten dogmatischen Entwurf, wie er in der Göttinger Dogmatikvorlesung von 1924/25 und dann in der „Christlichen Dogmatik im Entwurf“ vorliegt, von der allerdings nur die der Lehre vom Worte Gottes gewidmeten Prolegomena erschienen sind. In dieser Zeit formiert sich Barths Denken zu einer exemplarischen Theologie der Krise, die zum Fokus der sog. Dialektischen Theologie werden sollte. Von der Religion des Christentums kann nur radikalkritisch die Rede sein, da der Christ, um es unter Bezug auf Titel und Grundsatz des legendären Tambacher Vortrags von 1920 „Der Christ in der Gesellschaft“ zu sagen, das in uns ist, was nicht wir sind, sondern Christus in uns. Die zweite Auflage des Römerbriefkommentars bewegt sich exakt auf dieser Argumentationslinie. Für die Theologie insgesamt aber ergibt sich die Aufgabe, sich von ihrer Bestimmung, von Gott reden zu sollen, und von ihrem Unvermögen, eben dies von sich aus leisten zu können, gleichermaßen Rechenschaft zu geben. Die gemeinsame Wahrnehmung dieser nach menschlichem Ermessen unlösbaren Aufgabe verband die Theologen, die sich um Barth und die erwähnte Zeitschrift mit dem signifikanten Titel „Zwischen den Zeiten“ sammelten. Es kam zur einflussreichsten theologischen Schulbildung seit Schleiermacher. Der von einem dezidiert dogmatischen Denkstil geprägten dritten Periode der Barth’schen Entwicklung gehört sein Hauptwerk, die „Kirchliche Dogmatik“ an. Aufschlussreich für die in ihr vollzogene Denkbewegung ist das 1931 erschienene Buch „Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms“. Binnenmodifikationen des dogmatischen Systems treten vor allem in der Versöhnungslehre von

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KD IV zutage, in der sich das Ganze des in seinen Teilen unvollendet gebliebenen Werkes in christologischer Konzentration abschließend zur Darstellung bringt. Die „Kirchliche Dogmatik“ (= KD) als die Summe Barth’scher Theologie ist von 1932 an in vier Hauptteilen und 13 Teilbänden erschienen. Sie umfasst 16 Kapitel mit insgesamt dreiundsiebzig Paragraphen. KD I/1 und 2 enthält neben einer Einleitung, welche die Aufgabe der Dogmatik im Allgemeinen und diejenige der Prolegomena im Besonderen behandelt, die Lehre vom Worte Gottes, die in vier Kapiteln entfaltet wird: 1. Das Wort Gottes als Kriterium der Dogmatik; 2. Die Offenbarung Gottes; 3. Die heilige Schrift; 4. Die Verkündigung der Kirche. Thema von KD II/1 und 2 ist die Lehre von Gott, die vier weitere, laufend durchgezählte Kapitel umfasst: 5. Die Erkenntnis Gottes; 6. Die Wirklichkeit Gottes; 7. Gottes Gnadenwahl; 8. Gottes Gebot. Es folgt die Lehre von der Schöpfung in KD III/1–4: 9. Das Werk der Schöpfung; 10. Das Geschöpf; 11. Der Schöpfer und sein Geschöpf; 12. Das Gebot Gottes des Schöpfers. Der vierte Hauptteil KD IV/ 1–3 ist der Lehre von der Versöhnung gewidmet: 13. Der Gegenstand und die Probleme der Versöhnungslehre; 14. Jesus Christus, der Herr als Knecht; 15. Jesus Christus, der Knecht als Herr; 16. Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge. Das Fragment gebliebene Werk endet mit der in der Taufe vollzogenen Begründung des christlichen Lebens (KD IV/4). Einen ersten Eindruck von Architektur und Inhaltsreichtum des gewaltigen Werkes können am ehesten die den Gesamtzusammenhang strukturierenden Leitsätze und die Überschriften der einzelnen Paragraphen bieten, von denen im Folgenden nur einer genauer ins Auge gefasst werden soll, nämlich derjenige, welcher Offenbarung zur Aufhebung von Religion erklärt. Lassen sich die religionskritischen StrömunOffenbarung als Aufhebung gen, die seit der Schwelle der 30er Jahre des 19. der Religion Jahrhunderts nach Hegels, Goethes und Schleiermachers Tod den Geist der Zeit beeinflussten, im Wesentlichen dem außertheologischen Bereich zuweisen, so wird Religionskritik im Zeitalter nach dem Ersten Weltkrieg zu einer theologischen Angelegenheit, jedenfalls zu einer Angelegenheit jener Theologie, die als diejenige der Krise in die Geschichte eingehen sollte. „Wenn ich“, so Barth im Vorwort der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars aus dem Jahre 1922, „ein ‚System‘ habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard den ‚unendlichen qualitativen Unterschied‘ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. ‚Gott ist im Himmel und Du auf Erden‘. Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus.“ (K. Barth, Der Römerbrief, XII) Während nach Barths Urteil die Religionstheologen des 19. Jahrhunderts, allen voran Schleiermacher, die Gotteserkenntnis durch die religiöse Subjektivität des Menschen mediatisiert sein ließen und damit zu deren Funktion, letztlich zu deren Produkt herabsetzten, sollte nun allein die Selbsterschließung Gottes in seiner Offenbarung die

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Theologie bestimmen, deren Verhältnis zur Religion infolgedessen primär dasjenige der Kritik zu sein hatte. Ein möglicher Anschluss an moderne Formen philosophischer Religionskritik war dabei insofern gegeben, als diese, so Barth in Übereinstimmung mit Feuerbach, die Anthropologie als Wahrheit neuzeitlicher Religionstheologie erwiesen hatten. Nur scheinbar sei in der Religionstheologie der Neuzeit von Gott die Rede; tatsächlich verberge sich unter dem Schein der Religion allein das Streben des Menschen nach Selbstbegründung und Selbsterhaltung sowie der Drang, dem Egoismus seines Ich durch Selbstapotheose unendliche Geltung zu verschaffen. Kurzum: Auch und gerade der religiöse Mensch betreibe im Verborgenen eben dies, wozu der Übermensch bei Nietzsche sich offen bekenne. Mit der philosophischen Religionskritik der Moderne teilt der Offenbarungstheologe Karl Barth die Überzeugung einer grundstürzenden Aporie des religiösen Bewusstseins, deren Aufklärung das Ende der Religion bedeuten müsse. Denn der Grund, in welchem das religiöse Bewusstsein zu gründen sich selbst und anderen vorgibt, ist in Wahrheit von diesem bedingt und damit nicht wirklich fundierend, sondern selbst von anderwärts fundiert. Der Grund dependiert vom Begründeten. Er erweist sich somit als bloßer Schein. Denn die Voraussetzung des religiösen Bewusstsein, von welcher dieses sich abhängig weiß, ist eine gesetzte Voraussetzung und damit kein göttlich Unbedingtes, sondern ein von menschlicher Selbsttätigkeit Bedingtes. Um sich der Logik dieser Argumentationen entwinden zu können, muss, so Barth, der fundierende Grund des religiösen Bewusstseins als Voraussetzung zur Geltung gebracht werden, die sich selbst voraussetzt und sich als sich selbst voraussetzende Voraussetzung von selbst erschließt. Der Begriff Gottes und seiner Offenbarung haben hier ihren systematischen Ort. Während der Religionsbegriff, statt absolute Entfaltung des Absoluten zu sein, auf die Erörterung eines Binnenverhältnisses fixiert bleibt, insofern sich das religiöse Bewusstsein immer nur so darstellen kann, dass es das, worauf es sich bezieht, darstellt, macht der Offenbarungsbegriff das Absolute im Sinne unbedingter Selbstbegründung und damit als Absolutes im Sinne sich selbst setzender Setzung geltend. Als sich selbst setzende Setzung ist die Offenbarung Urhandlung radikaler göttlicher Selbstbestimmung und Autonomie, die allen Vollzügen menschlichen Bewusstseins, einschließlich des auf seinen Grund gerichteten religiösen, zuvorkommt, um sie beständig zu transzendieren. Zumindest in formaler Hinsicht sind damit Funktion und Stellenwert des Offenbarungsbegriffs in Barths theologischem System umschrieben. Kennzeichnend ist seine strenge Fassung im Sinne göttlicher Selbstoffenbarung, die sich von der Vielschichtigkeit der religionsgeschichtlichen, aber auch der biblischen Offenbarungsvorstellungen her nicht ohne weiteres von selbst versteht. Denn dass jede Form von Offenbarung Gott nicht nur zum Autor, sondern auch zum Inhalt hat, kann ebenso wenig selbstverständlich in Anschlag gebracht werden, wie der ein für allemal gültige, uneingeschränkte und universale Charakter eines Offenbarungsgeschehens. Tatsächlich hat der Gedanke der Selbstoffenbarung erst im Laufe der

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neuzeitlichen Geistesgeschichte, näherhin im Kontext des deutschen Idealismus, wie oben ausgeführt, die zentrale Bedeutung erhalten, die ihm bei Barth zukommt. Nun wird Gottes Offenbarung im Sinne strenger Identität von Subjekt und Objekt des Offenbarens gedacht und zur Basis der Behauptung der Wirklichkeit Gottes überhaupt. Gibt sich Gott nicht von sich aus zu erkennen, so wird er nicht nur nicht erkannt, sondern verkannt. Erschließt er sich aber von sich her als der, welcher er ist, so erweist sich seine Wirklichkeit als alles Menschenmögliche, einschließlich der Religion, übersteigend. Barths These, Offenbarung sei Aufhebung der Religion, erklärt sich von hierher. Im 17. Paragraphen seiner Kirchlichen Dogmatik, dessen Überschrift sie bildet, ist sie im Einzelnen entfaltet und zwar in folgenden Unterabschnitten: 1. Das Problem der Religion in der Theologie; 2. Religion als Unglaube; 3. Die wahre Religion. Ein Problem in der Theologie stellt die ReligiDas Problem der Religion in on nach Barth vor allem deshalb dar, weil ihr in der Theologie neuzeitspezifischer Weise generalisierter Begriff dazu verleitet, ihm die Offenbarungswahrheit in neuprotestantischer Manier zu subsumieren und zu subordinieren. „Es war“, so heißt es, „hier wie an anderen Punkten die am Anfang des 18. Jahrhunderts moderne Richtung der sog. ‚vernünftigen Orthodoxie‘, in der die Katastrophe sich ereignete und der Neuprotestantismus seine eigentliche und öffentliche Geburt erlebte.“ (KD I/2, 313) Während der mittelalterlichen Theologie eines Thomas von Aquin „der Begriff Religion als ein Allgemeinbegriff, dem die christliche Religion als eine neben anderen unterzuordnen wäre“, noch „ganz fremd gewesen“ (KD I/2, 310) sei und die reformatorische Rede von religio christiana, wie sie z.B. im Titel von Calvins Hauptwerk begegne, einen „offenkundig aus der heiligen Schrift abgelesene(n) Normbegriff (voraussetze), in welchem das Allgemeine im Besonderen, also die Religion in der Offenbarung aufgehoben ist, und nicht umgekehrt“ (KD I/2, 310), gebe es zwar in der altprotestantischen Orthodoxie erste Ansätze zu einem Allgemeinbegriff von Religion, aber das Ganze bleibe doch „ein apologetisches Zwischenspiel“ (KD I/2, 312). Erst mit der sog. vernünftigen Orthodoxie am Anfang des 18. Jahrhunderts komme es zu jener verhängnisvollen „Wendung, die grundsätzlich von allen führenden Theologen jener Zeit mitgemacht wurde“ und die in ihrer grundsätzlichen Bedeutung und „geschichtlichen Folgenschwere gar nicht ernst genug genommen werden“ könne (KD I/2, 315): „die menschliche Religion, das Gottesverhältnis, das der Mensch auch ohne Offenbarung haben kann und tatsächlich hat, ist gar keine unbekannte, sondern eine formal und inhaltlich höchst bekannte, und sie ist als solche eine höchst interessante, für das ganze theologische Denken zentral wichtige Größe. Sie bildet nämlich die Voraussetzung, das Kriterium, den notwendigen Rahmen zum Verständnis der Offenbarung. Sie bedeutet die Frage, auf die neben den anderen positiven Religionen auch die Religion der Offenbarung antwortet und als deren angemessenste Beantwortung sie, die christliche Religion, den Vorzug vor jenen und eben damit auch ihren Charakter als Religion der Offenbarung verdient. Das Christliche ist jetzt – der seit der Renaissance so naheliegende theo-

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logische Neuansatz ist nun gemacht – tatsächlich zu einem Prädikat des neutral und allgemein Menschlichen, die Offenbarung ist nun zu einer geschichtlichen Bestätigung dessen geworden, was der Mensch auch ohne Offenbarung von sich selbst und damit von Gott wissen kann.“ (KD I/2, 315) Alles weitere ergibt sich daraus im Grunde von selbst, so dass es Barth erklärtermaßen für überflüssig hält, „die ganze weitere Trauergeschichte der neueren protestantischen Theologie im einzelnen zu entrollen“ (KD I/2, 315). Die im Folgenden noch genannten Namen von Wolff zu Troeltsch, von Kant zu Ritschl und von Schleiermacher zu Hegel und Feuerbach bezeichnen für ihn im Wesentlichen nur mehr das Gefälle der schiefen Ebene, auf welcher der Neuprotestantismus beschleunigt dem Abgrund des „Deutschen Christentums“ zueilt, durch dessen Bodenlosigkeit „es zu dem tumultuarischen Durchbruch natürlicher Religion in den Bereich der Kirche und Theologie kommen (konnte), dessen staunende Zeugen“, so Barth, „wir in unseren Tagen geworden sind“ (KD I/2, 316). Die Häresie der sog. Deutschen Christen ist nach Barths Urteil die letzte Konsequenz des in der Theologie seit langem wirksamen Prinzips der Subsumierung und Subordination der Offenbarungswahrheit unter die Ansprüche der Religion des Menschen. Ihr verkehrtes Wesen ist Unglaube. Stärker als mit dem Verdikt, ihr Wesen sei UnReligion als Unglaube glaube, kann ein Theologe die Religion schwerlich kritisieren. Gleichwohl wäre es verfehlt, die Radikalität der Religionskritik Barths mit derjenigen Feuerbachs gleichzusetzen oder auch nur zu vergleichen. Zwar konnte ersterer die Religionskritik von letzterem gelegentlich als ein im Grunde positives Ereignis werten, was zu dem nicht unerheblichen Missverständnis Anlass gab, Barth habe statt der Religion die Religionskritik zur Basis seiner Offenbarungstheologie erklärt. Doch kritisierte er die Religionskritik offenbarungstheologisch nicht minder als die Religion, indem er die Offenbarung zur Krisis beider erklärte. Weit davon entfernt, den Gegensatz von Religion und Religionskritik zu verabsolutieren, relativiert ihn die Theologie der Krise vielmehr entschieden, um mit der Religion zuletzt auch die Religionskritik offenbarungstheologisch aufzuheben. Dass die „Krisis“ der Religion, wie sie in der Begegnung mit der Offenbarung statt hat, nicht gleichzusetzen ist mit dem, was man üblicherweise Religionskritik nennt, hat Barth wiederholt betont. Religionskritik gehört für ihn, wie es ausdrücklich heißt, zur „immanente(n) Problematisierung der Religion, die als solche zu verstehen und die von ihrer Aufhebung durch die Offenbarung wohl zu unterscheiden ist“ (KD I/2, 343). Die immanente Problematik der Religion wiederum, wie sie in der Differenz von Religion und Religionskritik manifest wird, hat nach Barth ihren wesentlichen Grund darin, dass Religion „immer ein sich selbst widersprechendes, ein in sich selbst unmögliches Unternehmen“ (KD I/2, 343) ist. Der interne Selbstwiderspruch der Religion ist es, der zwangsläufig Religionskritik hervorruft, ohne von dieser überwunden werden zu können: Denn auch die Kritik der Religion beinhaltet einen Selbstwiderspruch, sofern sie die Religion nicht los wird,

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sondern im Grunde selbst religiös verfasst ist, so dass von einer Religion der Religionskritik nicht nur gesprochen werden kann, sondern gesprochen werden muss. Dass die Religionskritik keinen absoluten Gegensatz zur Religion zu begründen in der Lage ist, weil sie sich nur relativ von dieser unterscheidet und ansonsten von der gleichen Nichtnotwendigkeit und Schwäche gekennzeichnet ist wie diese, steht für Barth außer Zweifel und tritt nach seinem Urteil offen zutage, wo beide in Form einer atheistischen Mystik bzw. eines mystischen Atheismus koinzidieren. Jener Koinzidenzpunkt markiert die sowohl der Religion als auch der Religionskritik zugrundeliegende Indifferenz des Menschen, in welcher dieser in vermittlungsloser Unmittelbarkeit mit sich selbst und seiner Welt identisch sein will und sich, wie Barth sagt, der Entelechie seines Ichseins zu vergewissern sucht. Eben in dieser seiner Indifferenzidentität, welche als Ursprungsort sowohl der Religion als auch der Religionskritik zu gelten hat, erfährt sich der mit der Offenbarung konfrontierte Mensch als gerichtet. Gerade in dieser Beziehung gilt das Urteil: Religion ist Unglaube. Warum? Nun offenbar deshalb, weil es nach Barth jene unmittelbar selbstinsistente Indifferenzidentität des Menschen ist, in, mit und durch welche sich dieser zum „Mittelpunkt, Maß und Ziel aller Dinge“ (KD I/2, 319) macht, welche Selbstapotheose des Menschen der Inbegriff jenes „Religionismus“ (KD I/2, 321) ist, den auf ihre Weise auch noch die Religionskritik in allen ihren Spielarten bestätigt und bekräftigt. Und eben weil und nur weil dies so ist, gilt das den Gegensatz von Religion und Religionskritik transzendierende Offenbarungsurteil: „Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen.“ (KD I/2, 327) Man kann das dann auch so ausdrücken: Religion als der aller menschlichen Theorie und Praxis zugrundeliegende Vollzug der Selbstvergewisserung des Menschen ist das „peccatum originale“, die Ursünde des Menschen, welche ihm die Offenbarung in einer ihn selbst und alle seine eigenmächtige Theorie und Praxis zugrunderichtenden Weise offenbart. Genau dies und nichts anderes sagt Barth selbst: Der im göttlichen Offenbarungsurteil über die Religion als einem „göttliche(n) Urteil über alles Menschliche“ (KD I/2, 328) als ebenso universale wie originäre Sünde gerichtete Unglaube des Menschen ist stets – selbstapotheotischer – Glaube des Menschen an sich selbst. „Und dieser Glaube besteht immer darin, daß der Mensch das Geheimnis seiner Verantwortung zu seinem eigenen Geheimnis macht, statt es das Geheimnis Gottes sein zu lassen. Eben dieser Glaube ist die Religion. Ihr widerspricht die im Neuen Testament bezeugte Offenbarung, so gewiß sie mit Jesus Christus als dem für uns und an uns handelnden Gott identisch ist. Sie charakterisiert die Religion als Unglauben.“ (KD I/2, 343) Sofern die Theologie „nicht die Religion von der Offenbarung, sondern die Offenbarung von Die wahre Religion der Religion her“ (KD I/2, 309) zu begreifen sucht, ist sie wie diese durch Unglauben gekennzeichnet. Ihre Bestimmung, Reflexionsgestalt wahrer Religion zu sein, erfüllt sie nur im Bedenken des Offenba-

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rungsglaubens, welcher deren Wesen ausmacht. Dabei darf die wahre Religion mit der christlichen, sofern sie in ihrem Verhältnis zu nichtchristlichen Religionen in Betracht kommt, keineswegs undifferenziert gleichgesetzt werden. Wie der Unterschied zwischen Religion und Religionskritik, so ist nach Barth auch der Unterschied zwischen christlicher und nichtchristlicher Religion (vgl. KD I/2, 357ff.) ein relativer. Denn das Urteil, nach dem Religion Unglaube ist, gilt für Christen und Nicht-Christen gleichermaßen. Am Anfang der Erkenntnis der Wahrheit der christlichen Religion muss daher nach Barth die Anerkennung des Urteils „Religion ist Unglaube“ und die Anerkennung dessen stehen, „daß sie (sc. die christliche Religion) nicht durch die innere Würdigkeit, sondern allein durch Gottes, in seiner Offenbarung verkündigte und wirksame Gnade von diesem Urteil freigesprochen ist“ (KD I/2, 358). Zwischen Offenbarung und Offenbarungsreligion ist daher dezidiert zu unterscheiden. Ja, es gilt, dass „das Gericht der Offenbarung über die Religion als solche nun gerade die Offenbarungsreligion trifft“ (KD I/2, 360), und zwar in besonderer Weise. Offenbarung bedeutet in diesem Sinne „Krisis auch und gerade der Offenbarungsreligion“ (KD I/2, 362) und damit des Christentums, dessen Gemeinschaft mit Israel nicht zuletzt in dieser Hinsicht gegenüber allen unstatthaften Versuchen, Altes und Neues Testament zu trennen, nachdrücklich zu behaupten ist. Ihre konsequente Bewährung findet diese Einsicht darin, dass sie – um es auf die Gefahr der Redundanz hin noch ein Mal zu sagen – auch und gerade dort in Geltung steht, wo die christliche Offenbarungsreligion gleichsam zum entwickeltsten Bewusstsein ihrer selbst fortgeschritten ist, nämlich in ihrer reformatorischen Gestalt als einer Gestalt expliziter und konzentriertester Gnadenreligion. Es bleibt bestehen, dass zwischen der Gnade Gottes als dem Geheimnis der Wahrheit der christlichen Religion und deren – reformatorischer – Gestalt als Religion der freien Gnade streng unterschieden werden muss. Infolgedessen bleibe die christliche Religion nicht zuletzt in ihrer geschichtlichen Gestalt als Gnadenreligion eine relative Größe. „Es ist ja“, sagt Barth ausdrücklich, „auch das geschichtliche Gesicht einer Gnadenreligion, auch das einer konsequenten Gnadenreligion in seinen entscheidenden Zügen von dem anderer Religionen nicht verschieden.“ (KD I/2, 371) Als willkommener Beleg für diese Annahme dient ihm der Verweis auf den, wie es heißt, „‚japanischen Protestantismus‘ des Genku und des Shinran“ (KD I/2, 375), in welchem der Buddhismus die Form einer konsequenten Gnadenreligion angenommen habe (vgl. KD I/2, 372ff.). Eine providentielle Fügung erkennt Barth in dieser tendenziellen Parallelität christlicher und buddhistischer Entwicklung deshalb, weil sie uns „so überaus lehrreich“ vor Augen führt: „die christliche Religion in ihrer geschichtlichen Gestalt, als Form der Lehre, des Lebens und der Ordnung als solche kann es nicht sein, der die Wahrheit an sich zu eigen ist – auch dann nicht, wenn diese Gestalt die reformatorische sein sollte. Ihre Gestalt, auch ihre reformatorische Gestalt, ist offenbar nicht als einwandfrei original nachzuweisen.“ (KD I/2, 375) Der geschichtliche Sachverhalt bestätige sonach „mit relativ größter Dringlichkeit“ (KD I/2, 376), woran theologisch ohnedies kein Zweifel gehegt

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werden könne, dass nämlich die Wahrheit der christlichen Religion nicht durch ihre eigentümliche Gestalt als Offenbarungs- und Gnadenreligion bewährt werde, sondern allein durch die offenbare Gnade Gottes selbst, für deren Verifikation allein der sich kraft göttlichen Geistes selbstbewährende Name Jesus Christus einsteht. In dem einen und einzigen Namen Jesus Christus, „in der ganzen formalen Simplizität dieses Namens als des Inbegriffs der göttlichen Offenbarungswirklichkeit“ (KD I/2, 376) ist, so Barth, die Wahrheit des Christentums beschlossen, an welche sich der christliche Glaube allein und ausschließlich zu halten hat und tatsächlich hält, wenn er ist, was er ist. Wie der christliche Glaube, so will auch die theologische Religionskritik Barths in nichts anderem gründen als in der ebenso singulären wie prinzipiellen Faktizität des Offenbarungsereignisses. Allein von der in ihrer Singularität prinzipiellen und in ihrer Prinzipialität singulären Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung her gelangt sie zu jener Radikalität, die sie den Gegensatz von Religion und Religionskritik unterlaufen und eine Stellung jenseits der durch Affirmation und Negation der Religion gekennzeichneten Alternative einnehmen lässt. Daran haben auch die z.T. durchaus weitreichenden Modifikationen nichts geändert, welche der 17. Paragraph in der Durchführung der Kirchlichen Dogmatik erfahren hat, etwa durch den 69. Paragraphen, der das zwar kritische, aber als kritisches durchaus auch positive Verhältnis des einen Lichtes des Lebens – Jesus Christus – zu den Lichtern behandelt, die Gott der Schöpfer seinen Geschöpfen gegeben hat. Es bleibt bei der Annahme absoluter Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung und bei dem Grundsatz, „daß wir Feuerbach verfallen, indem wir uns seiner zu erwehren versuchen“ (KD IV/3,1, 79). Unter den diversen Interpretationen von Tendenzen aktueller BarthBarths ebenso religionskritischer wie die Religi- interpretation onskritik kritisierender Offenbarungstheologie verdienen diejenigen besondere Aufmerksamkeit, welche den Ansatz der Kirchlichen Dogmatik nicht im Sinne repristinatorischer Wiederherstellung eines vorneuzeitlichen Theologiebegriffs, sondern aus einer modernitätsspezifischen Problemlage zu verstehen suchen. Folgt man dieser Deutung, dann hat Barth den Offenbarungsbegriff im Sinne göttlicher Selbstoffenbarung darum als Schlüsselbegriff ins Zentrum gerückt, weil er dem Gedanken absoluter Selbstbestimmung und radikaler Autonomie (T. Rendtorff, 161–181) theologischen Ausdruck verleihen und eben dadurch auf eine Grundaporie des religiösen – und analog des religionskritischen – Bewusstseins hinweisen wollte. Zwar bezieht sich das religiöse Bewusstsein auf Gott als den Grund, in dem es zu gründen beansprucht; insofern setzt es Gott voraus, um sich von ihm her zu begreifen. Aber die Voraussetzung steht in dem Verdacht, eine gesetzte und nicht eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung zu sein, da der göttliche Grund, auf welchen sich das religiöse Bewusstsein bezieht, nur so gewusst wird, wie er diesem erscheint. Zwar weiß sich, um es zu wiederholen, das religiöse Bewusstsein als nicht durch sich selbst, sondern durch seinen göttlichen Grund gesetzt; als in sich selbst gründenden Grund vermag es

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Gott aber nur unter Voraussetzung seiner selbst als eines Gegründeten wahrzunehmen. Die Frage bleibt, ob es sich bei dem religiös vorausgesetzten göttlichen Grund nicht um eine lediglich gesetzte Voraussetzung handelt, die das religiöse Bewusstsein als nichtgesetzt setzt und als nichtkonstruiert konstruiert, um auf diese Weise sich selbst als gesetzt zu setzen. Die gewählte Terminologie, die auf den frühen Fichte und auf die Anfänge idealistischer Philosophie zurückverweist, lässt den Geist des geschichtlichen Kontextes unschwer erkennen, innerhalb dessen sich die skizzierte Barthinterpretation entfaltet. Sie versteht Barths Offenbarungskonzept als mehr oder minder konsequent verfolgtes Programm, den göttlichen Grund der Religion an sich selbst und d.h. theo-logisch zu denken. Mag Barth dann auch vorgehalten werden, er habe die absolute Subjektivität und Souveränität Gottes in seiner Offenbarung in der dem christlichen Geist des Lebens und der Liebe unangemessenen Logizität unmittelbarer Selbstbestimmung und nicht wahrhaft trinitarisch als Selbstexplikation im Anderen gedacht (F. Wagner, 10–43); am spekulativen, metaphysisch orientierten Charakter der gegebenen Barthinterpretation ändert das nichts. Grundsätzlich jedenfalls sieht sie Barths offenbarungstheologische Religionskritik auf eine begrifflich zu leistende Aufhebung des religiösen Bewusstseins hin angelegt, auf eine Theologisierung der Religion, die mit Hegels spekulativem Aufhebungsprogramm zumindest prinzipiell vergleichbar ist. Hier wie dort, so die Grundannahme, soll der Ausgang beim religiösen Bewusstsein in den Ausgang vom göttlichen Grund und Religion in diesem Sinne in Offenbarung aufgehoben werden mit dem Ziel, den Gedanken des Absoluten konsistent an sich selbst zu denken, so dass sich das Absolute aus sich selbst heraus als das Absolute erweist. Der Streit zwischen Hegel und Barth wäre dann darauf zu beschränken, ob das Absolute gemäß der tautologischen Devise, Gott sei Gott, unmittelbar an sich selbst und im Sinne radikaler Autonomie oder als vermittelte Selbstbestimmung dergestalt zu denken ist, dass sich die Beziehung des religiösen Bewusstseins auf das Absolute aus dessen als Einheit von Einheit und Andersheit zu denkender Selbstbeziehung ergibt. So gravierend die Unterschiede zwischen dem Konzept Barth’scher Offenbarungstheologie und demjenigen spekulativer Philosophie diesbezüglich sein mögen, der Anspruch, Gott an sich selbst zu denken und an der Denkbarkeit und Denknotwendigkeit der Gottesidee festzuhalten, ist, so will es scheinen, beiden gemeinsam. Während die an Schleiermacher anschließenden religionstheologischen Auslegungen des Gottesbewusstseins der Kant’schen Kritik des Erkenntnisanspruchs traditioneller Ontotheologie dadurch Rechnung zu tragen suchten, dass sie den Zugang zur Gottesthematik auf kognitive, voluntative und emotive Akte des religiösen Bewusstseins gründeten, ist nach Maßgabe der vorgestellten Lesart Barth’scher Offenbarungstheologie deren – bei allen möglichen Mängeln ihrer Durchführung – epochale Bedeutung nachgerade darin zu suchen, an der metaphysischen Denkbarkeit und Denknotwendigkeit der Gottesidee mittels des von demjenigen der Religion bewusst abgesetzten Begriffs göttlicher (Selbst-)Offenbarung dezidiert festgehalten zu haben.

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Eine der gekennzeichneten spekulativen Barthinterpretation gegenläufige Auslegungstendenz betont demgegenüber mit Nachdruck die Differenz zwischen metaphysischer Spekulation und christlichem Glauben. Statt den Gott der Philosophen mit dem Vater Jesu Christi zu identifizieren, sei es wesentliche Aufgabe theologischer Reflexion, die Nichtidentität beider und die gedanklich unableitbare Kontingenz der Offenbarungstat Gottes in der einmaligen und einzigartigen Geschichte Jesu Christi geltend zu machen. Der entscheidende theologische Grund dafür, dass Gottes Offenbarung nie mit Religion zu identifizieren sei, bestehe in prinzipieller Positivität, welche aus philosophisch erschwinglichen allgemeinen Grundsätzen nicht einsichtig zu machen sei. Den religionskritischen Verdacht des Illusionismus könne christliche Offenbarungstheologie nicht unter Berufung auf allgemeine Vernunfteinsicht, sondern nur durch bekennendes Zeugnis und in dem gewissen Vertrauen begegnen, dass das Wort der Offenbarung den Beweis seiner Realität direkt und unmittelbar von sich aus zu führen vermag. Solch unter sog. Barthianern verbreitetes apologetikabstinentes Insistieren auf der kontingen- Zeitgenössische Barthkritik ten Positivität der Offenbarung sah sich freilich bisweilen auch in den eigenen Reihen dem Verdacht eines restaurativen Offenbarungspositivismus ausgesetzt. Besonders wirksam ist dieser Verdacht von Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) vorgetragen worden, und zwar im Kontext seiner Überlegungen zu einem religionslosen Christentum, die ihrerseits einen wichtigen Beitrag theologischer Religionskritik im 20. Jahrhundert darstellen. Danach hat Religion lediglich als eine kulturgeschichtlich bedingte, unter den Bedingungen konsequenter Säkularisierung mittlerweile überholte Form des christlichen Glaubens zu gelten, von der dessen Inhalt nicht länger abhängig gemacht werden dürfe; auch die eingangs referierten Untersuchungen E. Feils zur Geschichte des Religionsbegriffs finden in dieser These Bonhoeffers ihre systematische Pointe. Zu fordern sei angesichts einer seit langem offenkundigen Krise der überlieferten Religion eine nichtreligiöse Interpretation biblischer Texte und eine kirchliche Existenz, die ihre Wesensbestimmung als Dasein-für-Andere in Gerechtigkeit und Liebe begreift mit der Folgeaufgabe, sich einer religionslosen Zeit und einer säkularen Welt durch konsequente Selbstanwendung von Religionskritik als solidarisch zu erweisen und religiösen Missbrauch des Evangeliums ideologiekritisch zu verhindern. Letzteres schließt es nach Bonhoeffer aus, mit Barth unmittelbar auf der Selbstwirksamkeit der Offenbarung Gottes zu insistieren und deren Gegebenheit lediglich vorauszusetzen, ohne sie auf ihr eigenes Wahrheitsrecht kritisch zu befragen. Auch unabhängig von Bonhoeffer kam es in den ursprünglich relativ geschlossenen Reihen der Anhänger Barths zu Anfragen an dessen Offenbarungskonzept, die schließlich zur Spaltung der Dialektischen Theologie führen sollten. Den Hauptbeweggrund bot, wie erwähnt, das Problem, ob die radikale Autonomie und Unbedingtheit Gottes mit Barth direkt und unmittelbar theologisch oder indirekt und am Ort des religiösen Bewusstseins als Theorie endlicher Freiheit zu explizieren sei. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben F. Gogarten, E. Brunner

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und R. Bultmann namentlich Paul Tillich. Als sein Grundanliegen lässt sich das Bemühen identifizieren, das krisentheologische Nein gegen jede Form religiöser Gleichsetzung eines Bedingten mit dem Unbedingten mit der Notwendigkeit religiöser Gestaltung zusammenzudenken, um auf diese Weise dem kritischen Paradox zugleich eine positive Fassung zu geben. Programmatischen Ausdruck hat Tillich seiner zugleich religionskritischen und religionsbegründenden theologischen Intention u.a. in Wendungen wie dieser gegeben, dass Kultur die Form der Religion sei und Religion die Substanz der Kultur, welche alle kulturellen Sinnformen einschließlich derjenigen spezifisch religiöser Gestaltung permanent transzendiere, ohne sie deshalb überflüssig zu machen. Darauf sowie auf die Barthkritik in den lutherisch geprägten Theologien eines Althaus, Elert oder auch Hirsch wird im Folgenden in Form von Fallstudien ausführlich einzugehen sein, deren Interesse weniger im Aufweis zeitgeschichtlicher Bezüge als vielmehr in Fragen der dogmatischen Organisation begründet liegt. Einstweilen genügt der Hinweis, dass bereits innerhalb der Dialektischen Theologie der Religionsbegriff wieder für theologische Reflexionen fruchtbar gemacht werden konnte. Das geschah in der Regel so, dass die Unausweichlichkeit des Religiösen und die Unableitbarkeit der Offenbarung zugleich zur Geltung gebracht wurden. Namentlich bei Tillich lassen sich dabei Zusammenhänge mit der Verhältnisbestimmung von negativer und positiver Philosophie in Schellings Spätwerk unschwer entdecken, wie denn auch umgekehrt die Schelling’sche Philosophie der Mythologie und Offenbarung explizite Bezüge zur traditionellen Gesetz-Evangelium-Thematik enthält, mit deren Hilfe die erwähnten Theologen die Beziehung von Religion und Offenbarung nicht selten strukturierten. Dabei wird der Nachweis der Unausweichlichkeit des Religiösen insonderheit in anthropologischer Hinsicht erstrebt, wohingegen kosmologische Perspektiven eher zurücktreten; sie gewannen innerhalb der Theologie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder erhöhte Relevanz. Das Insistieren auf der konstitutiven und unverDie Unaufhebbarkeit der äußerlichen Bedeutung der Religionsthematik Religion für das Menschsein des Menschen und die Annahme, dass Religion ein anthropologisches Universale sei, muss im Übrigen, wie sich an einer Reihe von Barthkritikern zeigen ließe, die Einsicht in die Zweideutigkeit des Religiösen ebenso wenig ausschließen wie die evangelische Überzeugung, dass religiöse Zweideutigkeit eindeutig dem Verkehrten zuneigt, wenn Religion nicht in Beziehung gebracht wird zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie der Geist sie erschließt. Die wesentliche Aufgabe der Theologie angesichts moderner Religionskritik kann demgemäß dahingehend bestimmt werden, die Religion in ihrer Unausweichlichkeit und das Evangelium in seiner Unableitbarkeit im Sinne eines zwar nicht abschließend synthetisierbaren, aber gleichwohl unauflöslichen Verhältnisses in Beziehung zu setzen. Mit dieser Bezugnahme, welche Offenbarung weder als supranaturalen Fremdkörper ohne religiöse Gestalt begreift, noch in direkter Kontinuität aus den Konstellationen des religiösen Bewusstseins ablei-

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tet, ist zugleich die Möglichkeit eröffnet, in einen ebenso kritischen wie konstruktiven Dialog zwischen philosophischer Religionskritik und theologischer Philosophiekritik einzutreten, wie er etwa von Paul Tillich beispielhaft geübt wurde. Bei Tillich lässt sich im Übrigen auch ein entwickeltes Problembewusstsein erkennen für die vom Religionsbegriff nicht wirklich zu behebende, weil ihm selbst innewohnende Alternative, sich entweder auf subjektive Gewissheit oder auf objektive Wahrheit zu gründen. Zwar kann nicht nur unter präreflexiven Bedingungen religiöser Unmittelbarkeit, sondern im Zusammenhang binnenreligiöser Perspektiven insgesamt angenommen werden, dass objektive Wahrheit und subjektive Gewissheit eine ungeteilte Einheit darstellen. Das gilt umso mehr, als davon auszugehen ist, dass jede Art von religiösem Bewusstsein von sich weg verweist und einen externen Grund intendiert, in dem es gründet. Spätestens nach explizit erfolgter Religionskritik jedoch gerät das religiöse Bewusstein unter einen Rechtfertigungsdruck, welcher besagte Alternative zur Folge hat, als deren paradigmatische Belege nicht selten Schleiermachers und Hegels gegensätzliche Weisen, den Religionsbegriff handzuhaben, angeführt werden: Während Schleiermacher die Inhalte der Religion zum funktionalen Implikat der Gewissheit erkläre, insistiere Hegel auf der in ihrer Unterschiedenheit vom religiösen Bewusstsein gegebenen und erfassbaren Objektivität religiöser Wahrheit. Es verdient bedacht zu werden, ob die Herausforderung dieser zwischen Hegel und Schleiermacher spielenden Alternative tatsächlich darin liegt, „noch einmal die bereits von den Urhebern beanspruchte Überbietungsleistung des einen Zugangs durch den anderen zu wiederholen“, oder ob sie nicht in der grundsätzlicheren Aufgabenstellung besteht, „das Verhältnis der beiden konzeptionell unvermittelbaren Ausgangsannahmen so zu begreifen, daß es zur Problementfaltung des Religionsbegriffs selbst gehört“ (D. Korsch, in: U. Barth/W. Gräb [Hg.], 91). Der Religion wäre unter diesen Bedingungen abverlangt, die Einsicht ihrer Ambiguität, welche Religionskritik einseitig gegen sie geltend macht, in das Bewusstsein und den Begriff ihrer selbst dergestalt zu integrieren, dass ihr das Wissen des Absoluten untrennbar verbunden ist mit dem Bewusstsein eigener Endlichkeit und Unterschiedenheit von Gott, dessen offenbarer Begriff derjenige seiner Unbegreiflichkeit ist, genauer: seiner unbegreiflichen Aufgeschlossenheit für die Endlichkeit von Mensch und Welt in ihrer Gottunterschiedenheit.

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Lit.: P. Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik. 2 Bde., Gütersloh 1947/ 48. – E. Brunner, Dogmatik I. Die christliche Lehre von Gott, Zürich 31960; Dogmatik II. Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung, Zürich 21960; Dogmatik III. Die Lehre von der Kirche, vom Glauben und von der Vollendung, Zürich/Stuttgart 21964. – R. Bultmann, Glaube und Verstehen. Bde. Iff., Tübingen 1954ff. – Ders., Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hg.v. E. Jüngel, München 1985. – Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, Tübingen 1977. – F. Gogarten, Gericht und Skepsis. Eine Streitschrift gegen Karl Barth, Jena 1937. – T. Rendtorff, Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972.

Ist Religion das – Intersubjektivität in sich schließende – Verhältnis eines Subjekts zu einem fundierenden Grund von Selbst und Welt, so bezeichnet der Offenbarungsbegriff jenes Erschließungsgeschehen, in welchem der Grund des religiösen Verhältnisses als er selbst und von sich aus vorstellig wird. Indem sie die offenbare Religion allen Bedingungsverhältnissen entnimmt und ganz und gar aus der Unbedingtheit ihres von keiner Voraussetzung abhängigen, sondern schlechterdings sich selbst voraussetzenden Grundes heraus begründet, ist Barths Theologie Offenbarungstheologie im emphatischen Sinne. Offenbarung als die sich selber setzende Setzung ist allem vorausgesetzt – das religiöse Verhältnis eingeschlossen; denn das religiöse Verhältnis eines Subjekts zu einem fundierenden Grund von Selbst und Welt ist, wenn es denn in Wahrheit ein Verhältnis zu jenem Grund und nicht lediglich ein Selbst- bzw. Welt-Verhältnis ist, ganz und nur von diesem und seiner Selbsterschließung her konstituiert. Offenbarung bezeichnet sonach jenes Konstitutionsgeschehen, durch welches mittels der Selbsterschließung seines Grundes das religiöse Verhältnis erschlossen wird. Karl Barths theologischer Denkweg führte von Barth versus Gogarten der Offenbarung zur Religion, wohingegen der Weg von der Religion zur Offenbarung als ungangbar, ja als in die Irre führend abgewiesen wurde. „Es gibt einen Weg von der Christologie zur Anthropologie. Es gibt aber keinen Weg von einer Anthropologie zur Christologie.“ (KD I/1, 135) Mit dieser Feststellung, in der sich seine Verhältnisbestimmung von Religion und Offenbarung reflektiert, reagierte Barth auf die in einer Rezension der Erstauflage seiner Dogmatik von Friedrich Gogarten in kritiReligion und Offenbarung

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scher Absicht erhobene Forderung nach einer anthropologischen Hinführung zur Theologie. Die Erstellung einer Anthropologie in fundamentaltheologischer Absicht hält Barth nicht nur nicht für nötig, sondern für überflüssig und schädlich. Er lehnte daher das Ansinnen Gogartens in der ihm eigenen Schärfe als kontraproduktiv ab. Dieser revanchierte sich in seiner Streitschrift „Gericht und Skepsis“ von 1937 mit dem Hinweis, Barths Offenbarungstheologie sei, indem sie alle Zusammenhänge ihrer Vermittlung kappe und in vermittlungsloser Unmittelbarkeit einsetze, durch die abstrakte Negation und den Gegensatz zu aller als natürlich disqualifizierten Theologie bestimmt und damit selbst eine Form von natürlicher Theologie. Denn ihr Beginnen verdanke sich einer Setzung, die wegen ihrer Unmittelbarkeit nicht als Setzung Gottes als des sich selbst voraussetzenden Grundes von Theologie und Religion gelten könne, sondern als willkürlicher Einsatz zu werten sei, welcher allein im subjektiven Belieben des Theologen gründe. Paul Althaus sekundierte Gogarten später mit dem Hinweis, es sei nicht eigentlich „eine theolo- Gogarten versus Barth gische Nötigung, sondern eine bestimmte philosophisch-weltanschauliche Haltung – also eine Art natürliche Theologie negativen Inhalts –, nämlich das Ja zu dem modernen Relativismus und Skeptizismus, der keine Begegnung mit dem Unbedingten in der Wirklichkeit unseres Lebens mehr kennt“ (Althaus I, 67), welches Barth zu seinem Ansatz veranlasst habe. Auch nach Gogartens Urteil ist es eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der gesamten Menschenwelt, die abstrakt und undifferenziert dem göttlichen Gericht ausgeliefert werde, durch welche Barths Denken in Wahrheit vermittelt sei. Gogarten motivierte diese Bemerkung zu der Mitteilung an seine Leser, Barth und er seien unbeschadet der gemeinsamen Gründung der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“, wie sie aus der Besinnung auf das Wort Gottes als dem eigentlichen Thema der Theologie heraus erfolgt sei, von Anfang an wenn nicht getrennte, so doch sehr verschiedene Wege gegangen. „Barth beschäftigten, je länger um so ausschließlicher, spezielle theologische Fragen. Er ließ sich seine Fragen stellen und suchte Antwort auf sie zu geben, indem er sich mit Theologiegeschichte und Dogmatik beschäftigte. Mich nahm dagegen die Auseinandersetzung mit der Moderne in Anspruch. Mit dem an Luther geschärften Blick für das Eigentümliche des christlichen Glaubens habe ich nach den letzten Voraussetzungen des modernen Denkens gefragt und nach seinem Recht, sich offen oder heimlich zum Meister des christlichen Glaubens zu machen.“ (Gogarten, 7) In der Konsequenz dessen habe ihn Barth in dem Abschied von „Zwischen den Zeiten“ mit dürren Worten des vollzogenen Verrats am Evangelium beschuldigt. Gogartens Gegenattacke spitzt sich in dem für einen Offenbarungstheologen ruinösen Vorwurf zu, Barth wisse von Gott und seiner Freiheit recht eigentlich „nicht aus der Offenbarung, sondern aus einem Jenseits der Offenbarung“ (Gogarten, 27), das er sich begrifflich vorgegeben sein lasse. Seine Grundidee sei dabei diejenige radikaler Autonomie und Herrschaft Gottes. Aus ihr ergebe sich alles Weitere und insbesondere seine prinzipielle Skepsis gegenüber der geschichtlichen

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Bestimmtheit alles menschlichen Seins, welches grundsätzlich relativiert und auf den Generalnenner „Vergänglichkeit“ gebracht wird. Zuletzt vergleichgültige Barth alles, was Gott nicht unmittelbar selbst ist und was seiner selbstherrlichen Freiheit nicht entspricht. „Von dieser Theorie aus“, so das Schlusswort der Gogarten’schen Streitschrift, „muß man allerdings notwendig der Meinung sein, daß ein theologisches Denken, für das die Gegenwart nicht leer bleibt, sondern das gerade aus der konkreten geschichtlichen Bestimmtheit der Gegenwart und aus der Verantwortung ihr gegenüber nach der Offenbarung fragt, eine zweite Offenbarungsquelle voraussetze und ‚natürliche Theologie‘ treibe. Denn in demselben Augenblick, wo die geschichtliche Gegenwart für diese Theorie bedeutungsvoll würde und nicht mehr ein ‚leerer Raum‘ bliebe, würde offenbar, daß sie selbst nichts ist als – natürliche Theologie.“ (Gogarten, 156) Gogartens These, Barths Offenbarungstheologie sei in Wahrheit eine von der Idee unmittelbarer Die Rendtorffthese Selbstbestimmung und entsprechender Negation bestimmte natürliche Theologie, ist in einem Beitrag von Trutz Rendtorff zum Verständnis der Theologie Karl Barths und ihrer Folgen modifiziert aufgegriffen worden. Der Protagonist der Dialektischen Theologie habe, so Rendtorff, weit davon entfernt, einen vergangenen Begriff von Theologie zu repristinieren, diese als Theorie radikaler Autonomie konzipiert, um ein seit den Anfängen der Neuzeit bestehendes Dauerproblem einer Lösung zuzuführen. Während jedes endliche Subjekt in Theorie und Praxis an dem Versuch, Selbstbestimmung radikal zu realisieren, zwangsläufig scheitere, ist mit der absoluten Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung die an sich selber erfasste Selbstbestimmung thematisch, auf der jede bestimmte Selbstbestimmung als auf ihrem unbedingten Bestimmungsgrund basiert. Mit dem Gedanken Gottes und seiner absoluten Souveränität denkt Barth den Gedanken der Autonomie radikal zu Ende, indem er das selbstbestimmende Selbstbewusstsein nicht mehr vermittels seiner geschichtlichen Realisierungsgestalten, sondern unmittelbar an sich selbst thematisiert. Barths Theologie ist damit Theologie in emphatischer Weise, insofern sie den Gedanken der Selbstbestimmung nicht mehr über seine verschiedenen Bestimmtheitsweisen, sondern unbedingt, mithin das Unbedingte als solches zu erfassen sucht. Just an diesem Punkt stellt sich indes die alte Frage aufs neue ein, ob mit dem einen Gedanken der Selbstbestimmung des absoluten Subjekts die Selbstbestimmung empirischer Subjekte und die Fülle ihrer geschichtlichen Realisierungsgestalten freigesetzt werden oder ob durch ihn nicht zuletzt die Selbstbestimmung menschlicher Subjektivität suspendiert und verabschiedet wird. Im letzteren Fall müsste das radikale Zuendedenken von Autonomie in dem einen Gedanken absoluter, göttlicher Selbstbestimmung das tatsächliche Ende all dessen bedeuten, was der neuzeitlichen Welt als Autonomie galt. Im anderen Fall wäre die Theorie absoluter Selbstbestimmung als der Versuch zu lesen, das Gegebensein von Selbstbewusstsein zu thematisieren, „das als es selbst durch keine wie immer geartete Anstrengung des kritischen Bewusstseins aufgezeigt ..., sondern nur vorausgesetzt

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werden kann“ (Rendtorff, 195f.), und „Freiheit theologisch so zu identifizieren, daß sie als Voraussetzung unserer Welt herausfordernd bewußt wird“ (Rendtorff, 200). Dass sich in diesen Oppositionen stets die strittige Frage nach dem Verhältnis von absoluter Subjektivität Gottes und endlicher, menschlicher Subjektivität reflektiert und variiert, versteht sich. Sie kann als die eigentliche Streitfrage jeder möglichen Barthdeutung identifiziert werden. Dass diese Frage nicht äußerlich herangetraDie Spaltung der Dialekgen ist, zeigt der historische Entwicklungsgang tischen Theologie sowohl der Dialektischen Theologie im Allgemeinen als auch von Barths eigener Theologie im Besonderen. In einer eingehenden Untersuchung, die das Verhältnis der Dialektischen Theologie zum neuzeitlichen Denken am zentralen Problem der sog. natürlichen Theologie exemplifiziert, hat Christof Gestrich überzeugend nachgewiesen, dass die Spaltung der Dialektischen Theologie zuletzt auf die unterschiedliche Beantwortung der bezeichneten Streitfrage zurückzuführen ist. „Blieben sich die dialektischen Theologen auch in ihrem Gegensatz zur Theologie des 19. Jahrhunderts (welche vornehmlich erst durch sie zur ‚Theologie des 19. Jahrhunderts‘ qualifiziert wurde) relativ einig, so doch keineswegs in ihrem Gegensatz zum sog. Geist der Moderne.“ (Gestrich, 4) Die Differenzen in dessen Beurteilung, die unterschwellig schon von Anfang an gegeben waren, mussten spätestens zu dem Zeitpunkt offenkundig werden, als die kritische Absage mit der Forderung konstruktiver Neugestaltung konfrontiert wurde. Als dies der Fall war, zerfiel die Bewegung alsbald in konkurrierende Standpunkte, um auf ihre Weise die Positionalität der Theologie des 19. Jahrhunderts zu reproduzieren. Das soll, nachdem Gogarten schon eingangs Erwähnung gefunden hat, im Folgenden an zwei herausragenden Beispielen exemplifiziert werden: an Emil Brunner und Rudolf Bultmann. Auch die anschließenden Studien zu Elert, Althaus und Hirsch sowie zu Paul Tillich gehören in diesen Zusammenhang. Im Laufe der historischen Entwicklung der Dialektischen Theologie kehrten Probleme und Fragen wieder, von denen man anfangs der Meinung war, sie bereits souverän und endgültig verabschiedet zu haben. Tatsächlich „erweist sich die folgenschwere Spaltung der dialektischen Theologie in ihrem Kern als Folgeerscheinung eines allzu abrupten, nicht hinreichend reflektierten und durchsichtig gemachten Durchschneidens von Zusammenhängen, die gleichwohl für die eigene Fragestellung von konstitutiver Bedeutung waren. Sie erweist sich also nicht zuletzt als eine Folge neuer Verdrängungen und der dann unvermeidlichen Wiederkehr des Unbewältigten.“ (Gestrich, 129) Indes darf dieses Diktum nicht als abstrakter Einwand gegen das von der Dialektischen Theologie angestrengte Unternehmen gelesen werden. Beabsichtigt ist einzig und allein, sie nicht eilfertig aus der Problemgeschichte der Neuzeit zu entlassen, sondern sie bei ihrem Anspruch zu behaften, die auf deren eigentümlicher „Ambivalenz und Dialektik beruhende Selbstblockierung und Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Gestrich, 7) durch den Gedanken göttlicher Freiheit überwinden zu helfen. In diesem Sinne ist der Streit der Dialektischen

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Theologie mit sich selbst „als der Streit um die Folgeprobleme solcher radikalen Autonomie anzusehen“ (Rendtorff, 188). Obwohl Emil Brunner (1889–1966) als MitbeWahrheit als Begegnung gründer der Dialektischen Theologie den religionstheologischen Ansatz Schleiermachers dezidiert ablehnte, wie die zu Beginn seiner Züricher Lehrtätigkeit im Jahre 1924 erschienene Studie „Die Mystik und das Wort“ dies belegt, und obwohl er sich von jedem Anthropozentrismus in der Theologie scharf distanzierte, unterstrich er beizeiten die Notwendigkeit anthropologischer Erwägungen, welche die wesenhafte Ansprechbarkeit des Menschen für das in der Offenbarung gründende Wort Gottes gewährleisten sollten. Dabei bediente er sich schon in den 20er Jahren der Mittel des dialogischen Personalismus eines Martin Buber (1878–1965) und Ferdinand Ebner (1882–1931), um das durch Offenbarung erschlossene religiöse Verhältnis als personale Begegnung zwischen dem göttlichen Du und dem frei antwortenden Ich des Menschen zu erfassen. In seinem Werk „Wahrheit als Begegnung“ von 1938 hat Brunner dies im Einzelnen entfaltet und das christliche Wahrheitsverständnis im Verhältnis zum philosophisch-wissenschaftlichen näher zu bestimmen versucht. Der christliche Wahrheitsbegriff steht danach im Gegensatz sowohl zum naturalistisch-positivistischen als auch zum idealistisch-spekulativen, weil er weder ein durch Vergegenständlichung Fassbares, noch ein zeitloses Wesen zum Inhalt hat, sondern ein geschichtliches Personereignis. Wahrheit ereignet sich nur im Modus geschichtlicher Personbegegnung und lässt sich daher nur personalgeschichtlich erfassen. Wahrheit vollzieht sich als Begegnung. Diese Einsicht ist auch für alle sonstigen Werke des reifen Brunner zentral. Erwähnt sei neben der Christologie von 1927 (Der Mittler. Zur Besinnung auf den Christusglauben) die Ethik von 1932 (Das Gebot und die Ordnungen; vgl. ferner: Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Grundsätzen der Gesellschaftsordnung, 1943) sowie vor allem die Anthropologie von 1937 (Der Mensch im Widerspruch). Zusammengefasst ist Brunners Theologie in seiner dreibändigen Dogmatik, die in den Jahren 1946– 1960 erschien, aber in ihren Grundzügen bereits geraume Zeit vorher konzipiert wurde. Wie Barth ist Brunner erklärter OffenbarungsBrunners Offenbarungstheologe. Seine Dogmatik versteht sich durchtheologie weg als Lehre von der Selbstmitteilung Gottes. Nachdem in Prolegomena Grund und Aufgabe der Dogmatik bestimmt worden sind, bedenkt ein erster Teil in zwei Abschnitten über das Wesen Gottes und seine Eigenschaften sowie über den Willen Gottes den Grund der göttlichen Selbstmitteilung. Die geschichtliche Verwirklichung der göttlichen Selbstmitteilung wird in einem zweiten Teil schöpfungstheologisch-christologisch entfaltet. Ein dritter Teil begreift in ekklesiologisch-soteriologischer Hinsicht die Selbstmitteilung Gottes als seine Selbstvergegenwärtigung durch den Heiligen Geist. Beschlossen wird das Werk mit einem vierten Teil zur eschatologischen Vollendung der göttlichen Selbstmitteilung in der Ewigkeit. Brunner folgt mit diesem Aufriss, wie er selbst

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sagt, „unter Verzicht auf alle Eigenheiten, im großen ganzen der Ordnung der Loci theologici, die seit Petrus Lombardus das Gerüst der christlichen Dogmatik bildet und die auch, im wesentlichen, vom Meister reformierter Theologie, von Calvin, übernommen wurde. Sie hat sich mir immer wieder als in der Sache begründet erwiesen.“ (Brunner I, 8) Gott wird nur erkannt und kann nur erkannt werden, wo er sich selbst und von sich aus zu erkennen gibt. Offenbarung als Selbstmitteilung und Selbstenthüllung Gottes ist Voraussetzung aller Gotteserkenntnis. Dabei ist die Offenbarung Gottes nach Brunner in sich different, also eins und vielfältig zugleich. „Es ist beides wichtig: zu wissen, daß Gott sich schon von Anfang an in seiner Schöpfung geoffenbart hat, daß wir das aber erst und einzig durch seine Offenbarung in Jesus Christus recht zu erkennen vermögen. Es ist wichtig, zu wissen, daß wir Menschen von allem Anfang an in und zu diesem Bilde geschaffen sind und daß durch keine Sünde diese ursprüngliche Bestimmung des Menschenwesens ausgetilgt werden kann. Aber ebenso wichtig ist das andere: daß wir nur in Jesus Christus diese unsere ursprüngliche Bestimmung erkennen und daß nur durch ihn dieses Bild in uns verwirklicht wird, jetzt unvollkommen, dann aber vollkommen.“ (Brunner I, 31) Es ist nach Brunner kennzeichnend für die Offenbarung als persönliche göttliche Offenbarung in Jesus Christus, dass es Selbstmitteilung Gottes sich bei ihr nicht, jedenfalls nicht primär um Lehrmitteilung oder Mitteilung von Sachverhalten, sondern um persönliche Selbstmitteilung handelt. Nicht „etwas“ wird in der Christusoffenbarung mitgeteilt, sondern das göttliche Du teilt sich auf personale Weise selbst mit. Im Wort Gottes, das Jesus Christus in Person ist, offenbart sich Gott als er selbst. „Gott selbst ist jetzt da, nicht mehr nur ein Wort von ihm.“ (Brunner I, 33) In der personhaften Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus Christus ist das alttestamentliche Verheißungswort in Erfüllung gegangen, indem es personale Gestalt annahm und eben dadurch ein personales Gottesverhältnis ermöglichte. „Die Beziehung ist jetzt ebenso personal geworden wie der, dem sie zugewendet ist, eine Person ist. Es geht jetzt nicht mehr um ein Wortverhältnis, sondern um ein Personverhältnis, nicht mehr um ein ‚es Glauben‘, sondern um ein ihm Vertrauen, zu ihm Kommen, mit ihm Verbundensein, sich ihm Hingeben. Offenbarung und Glaube hat jetzt den Charakter der Person-begegnung, der Person-gemeinschaft.“ (Brunner I, 36) Weil es in ihm um ein personales Geschehen geht, kann über das Ereignis der Offenbarung nach Brunner recht eigentlich nur im Modus der Erzählung gelehrt bzw. so gelehrt werden, dass die Doktrin aus der narrativ präsenten Offenbarungsgeschichte hervorgeht. „Das Wort Gottes verkünden, das heißt im Neuen Testament in erster Linie von Jesus, von seinem Leben und Reden, von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen berichten. Solange das Bewußtsein für diesen Sachverhalt lebendig ist, ist der Begriff ‚Wort Gottes‘ nicht in Gefahr, intellektualistisch-orthodox mißverstanden zu werden. Umgekehrt, wo die Lehre die biblische Erzählung verdrängt, da ist das orthodox-intellektualistische Mißverständnis bereits geschehen.“ (Brunner I, 45f.) Missverstanden wäre das Tatwort des Offenbarungsgeschehens nach Brunner in-

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des ebenso, wenn die Geschichte dieses Geschehens in erster Linie in Faktizitäten und historisch zu vergegenständlichenden Tatsachen gesucht würde; Geschichte bedeutet für Brunner primär nicht Historie, sondern die Geschichtlichkeit des Personalen, in welchem sich ein Du einem Ich erschließt, um ihm Antwort und Verantwortlichkeit zu ermöglichen. Ansprechbarkeit lautet demgemäß ein zentrales Stichwort von Brunners offenbarungstheologischer Anthropologie. Was es bedeutet, ist in Bezug auf den zweiten Teil von Brunners Dogmatik zu erörtern, welcher der geschichtlichen Verwirklichung der göttlichen Selbstmitteilung gewidmet ist und Schöpfungslehre, Sündenlehre und Christologie umfasst. Wie für die Dogmatik insgesamt, so ist auch für Brunners Lehre von der Schöpfung die OffenbaBrunners Schöpfungslehre rungslehre grundlegend. Da aber Jesus Christus die vollendete Offenbarungsgestalt Gottes ist, hat die Schöpfungslehre sich primär am Neuen Testament und erst sekundär an der alttestamentlichen Genesis zu orientieren. „In Jesus Christus begegnen wir dem, der uns als der unbedingte Herr, darum als der Schöpfer aller Dinge anredet: Ich, dein Herr, der Schöpfer.“ (Brunner II, 19) Damit ist nach Brunner „nicht gesagt, daß die Erkenntnis meines Geschaffenseins der des Geschaffenseins der Welt vorangehe. Mein Herr – das ist der Schöpfer schlechthin, nicht nur der Schöpfer meiner Existenz. Indem ich in Jesus Christus meinem Herrn begegne, begegne ich dem, der aller Welt Herr ist. Indem er sich mir als ‚mein‘ Herr offenbart, offenbart er sich als der, der alles bedingt und von nichts bedingt ist.“ (Ebd.) Insbesondere durch die Lehre von der „creatio ex nihilo“ wird das unbedingte Herrsein des Schöpfergottes unterstrichen. Die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts macht zugleich deutlich, dass die von Gott geschaffene Welt samt aller Kreatur als bedingtes Sein vom Sein Gottes grundverschieden ist. „Alle Unterschiede innerhalb des geschaffenen Seins, lebendig und tot, frei und unfrei, menschlich und nichtmenschlich, sind geringfügig im Vergleich zu dem Unterschied zwischen dem ungeschaffenen Sein Gottes und dem geschaffenen Sein, zwischen Gott und Welt. Jene Unterschiede sind relativ, dieser absolut. Und doch ist diese Kreatur als Werk des Schöpfers, der sich in ihr verherrlichen und mitteilen will, nicht ohne Ähnlichkeit mit dem göttlichen Sein.“ (Brunner II, 32) Diese – unbeschadet anzunehmender Grundverschiedenheit gegebene – Ähnlichkeit göttlichen und kreatürlichen Seins namhaft zu machen, ist der festzuhaltende Sinn der Lehre von der „analogia entis“ und ihr bleibendes Eigenrecht gegenüber einer „analogia fidei“. „Das Prinzip der analogia entis ist, nachweisbar, die stets in Anspruch genommene Voraussetzung auch derjenigen Theologie, die dies und die das Analogieprinzip selbst leugnet und die darum, weil sie dies leugnen will, auch die biblisch bezeugte Schöpfungsoffenbarung leugnen muß. Die analogia fidei kann nicht die analogia entis ersetzen, weil sie diese in jedem Punkt voraus-setzt.“ (Brunner II, 35) Es sei ein Grundschaden der Theologie Karl Barths, dies übersehen bzw. konsequent ignoriert zu haben. In dem ihm eigenen chirurgischen Temperament habe er mit dem Krebsgeschwür einer von der Offenbarungstheologie abgehobenen und

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isolierten „theologia naturalis“ „auch noch viel gesundes Gewebe (herausgeschnitten), um nur ja sicher zu gehen“ (Brunner II, 55). Barth verkenne, dass auch derjenige Gebrauch, den seine „analogia-fidei“-Lehre vom Analogieprinzip mache, die Gleichnisfähigkeit des geschaffenen für das ungeschaffene Sein in Anspruch nehme. „Wir können von einem ‚Wort‘ Gottes, von einem ‚Denken‘ oder ‚Wollen‘ Gottes nur darum reden, weil das göttliche Reden – bei aller Unähnlichkeit – eben doch dem menschlichen Reden ähnlich ist, ebenso wie das göttliche Personsein dem menschlichen Personsein – bei aller Unähnlichkeit – ähnlich ist, so daß wir beidemal dasselbe Wort, ‚Reden‘, ‚Person‘ gebrauchen dürfen.“ (Ebd.) Brunners Lehre von den Schöpfungsordnungen und von der natürlichen Schöpfungserkenntnis in ihrem Verhältnis zur Offenbarungserkenntnis unterstreicht dies. Auch unter hamartiologischen Bedingungen bleibt die „cognitio Dei naturalis“ ein vorausge- Formale und materiale Imago setztes Implikat der Schöpfungserkenntnis. Man kann, wie es heißt, „die durch die Sünde bewirkte Verdunkelung der Erkenntnis sowohl überschätzen als unterschätzen. Es ist ein unberechtigter Pessimismus, wenn man behauptet, der sündige Mensch könne als solcher überhaupt nichts recht erkennen. Ein solcher Sündenpessimismus entspricht weder dem biblischen Zeugnis noch der Erfahrung. Ebenso ist es ein unberechtigter Optimismus, wenn man in Sachen der Erkenntnis die Bedeutung der Sünde überhaupt ignoriert oder leugnet. Eine undifferenzierte generalisierende Aussage ist im einen wie im andern Fall unrichtig.“ (Brunner II, 38) Richtig hingegen ist, dass die Offenbarungserkenntnis die sog. natürliche Schöpfungserkenntnis einerseits voraussetzt, andererseits in sich aufhebt. Ohne diese Aufhebung müsste die Schöpfungserkenntnis allerdings als lediglich formal und abstrakt beurteilt werden. Brunners Imago-Lehre versucht dies genauer zu verdeutlichen: Auch unter, wenn man so will, postlapsarischen Bedingungen bleibt der Sünder Gottes Kreatur und als solche mit einer strukturell-formalen Gottebenbildlichkeit ausgestattet. Diesen strukturell-formalen Imago-Begriff, wie er im alttestamentlichen Zeugnis überwiege und im Neuen Testament explizit in 1 Kor 11,7 und Jak 3,9 begegne, steht der inhaltlich-materiale gegenüber, wie er im Neuen Testament bestimmend sei und in Röm 8,29, 2. Kor 3,18, Eph 4,24 und Kol 3,10 ausdrücklich werde. Der strukturell-formale Imago-Begriff soll als Bezeichnung für etwas gelten, „was den Menschen immer, unverlierbar auszeichnet, was vom Gegensatz Sünde–Glaube nicht betroffen ist“ (Brunner II, 89). Mit dieser Annahme will Brunner nicht eine in sich bestehende Vernunftnatur des Menschen assoziiert wissen, sondern allein die in der unverlierbaren kreatürlichen Gottesbeziehung gründende Verantwortlichkeit des Menschen, sein verantwortliches Personsein als solches. Zu ergänzen ist, „daß das Bestehen einer bloß formalen Verantwortlichkeit ohne gleichzeitige materiale Erfüllung durch die Gottesliebe als Folge des Sündenfalls aufgefaßt wird“ (Brunner II, 91). Die Rede von einem postlapsarischen Imago-Rest lehnt Brunner infolgedessen als bloße Verlegenheitslösung ab, welche mit einer rein quantitativen Größe rechne und der qualitativen Unterscheidung von formaler

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und materialer Gottebenbildlichkeit nicht gerecht werde. Recht begriffen sei dieser Unterschied nur dann, wenn die menschliche Gottebenbildlichkeit als eine Relationsstruktur erfasst und aus der menschlichen Gottesbeziehung bzw. der Beziehung Gottes zum Menschen heraus begriffen werde. Es fällt uns schwer, sagt Brunner, „Struktur und Relation in eins zu setzen. Und doch ist eben dies gerade das Einzigartige des Menschseins, daß seine Struktur eine Relation ist: Verantwortliches Sein, responsorische Aktualität. Das biblische Zeugnis aber ist in diesem Punkte unerbittlich konsequent; es kennt keinen anderen Menschen als den, der ‚vor Gott‘ steht, auch dann, wenn er ein Gottloser ist. Daß der Mensch, seine Freiheit mißbrauchend und seine Verantwortlichkeit leugnend, Gott den Rücken kehrt, bedeutet keineswegs, daß er dann nicht mehr ‚vor Gott‘ steht. Im Gegenteil, er steht dann vor Gott als Sünder, er steht dann verkehrt vor Gott und darum ‚unter dem Zorn Gottes‘.“ (Brunner II, 72) In diesem Sinne hebt „der Verlust der Imago im materiellen Sinn nicht die Verantwortlichkeit, also nicht das vor Gott Stehen und also auch nicht das Menschsein auf ... Nur Menschen können Sünder sein; zum Sündersein ist durchaus das erforderlich, was den Menschen vor dem Tier auszeichnet. Der Verlust der Imago im materialen Sinne setzt die Imago im formalen Sinne voraus. Sündersein ist der negative Modus des Verantwortlichseins.“ (Brunner, ebd.) Damit ist zugleich gesagt, dass die Differenz von formaler und materialer Gottebenbildlichkeit ein hamartiologisches Datum ist, das von Gott aus nicht besteht. „Die formale Freiheit, von der materialen Freiheit, vom Sein in Gottes Liebe, losgelöst, ist bereits eine Folge der Sünde. Der Mensch sollte von seiner Freiheit nicht anders wissen als in der Gestalt der freien Gottesliebe. Daß er von ihr als Wahlfreiheit weiß, ist bereits Wirkung der Sünde, der Loslösung von der Gebundenheit Gottes.“ (Brunner II, 73) Kurzum: Die Scheidung formaler und materialer Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht theologisch nicht zu Recht. „Aber sie besteht – zu Unrecht.“ (Brunner, ebd.) Die Sündenlehre Brunners bestätigt diesen Sachverhalt, der recht eigentlich kein Sachverhalt, sondern eine Elementarwirklichkeit personaler Gott-Mensch-Beziehung ist. Brunners Hamartiologie ist, wenn man so will, Theorie der mit der Differenz von formaler und materialer Imago gesetzten Scheidung des Menschen von Gott. Als hamartiologischer Grundsatz gilt: Sünde ist Gesetz und Evangelium Personsünde. Als solche wird sie in ihrer abgründigen, die Gottesbeziehung verkehrenden Verkehrtheit erst in der personalen Christusbegegnung und nicht schon unter prächristologisch-alttestamentlichen Bedingungen erkannt, welche lediglich die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld gewährleisten. Eben darauf ist – wie seine Lehre von der formalen Imago – auch Brunners Gesetzeslehre abgestellt (vgl. Brunner II, 231–248 sowie 131–133). Die Scheidung des Gesetzes vom Evangelium ist heillos, weil im vom Evangelium geschiedenen Gesetz der Wille Gottes wesentlich als richtender Unwille begegnet. Die Gesetzeslehre ist sonach eine Funktion der Hamartiologie, in der die Schöpfungslehre nur mehr im Modus des

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Vergehens vorhanden ist. Dass die Schöpfung auch im Modus des Vergehens noch gegenwärtig ist, wie dies der vom „usus elenchticus“ zu unterscheidende „usus politicus legis“ voraussetzt, ist zwar wahr und theologisch festzuhalten, ohne deshalb einen beständigen soteriologischen Anhalt zu gewähren. Denn der „usus politicus legis“ bringt nichts anderes zur Geltung als die Formalität der formalen Imago, welche zwar die Zurechnungsfähigkeit menschlicher Sünde als Schuld, nicht aber ein reales Heilsvermögen des sündigen Menschen bezeichnet. Heilsames Schuldbewusstsein, welches Sündenerkenntnis zum Sündenbekenntnis werden lässt, kann entsprechend nur das Evangelium eröffnen, welches, indem es die Realität materialer Imago als die wahre Bestimmung des Menschengeschöpfes erschließt, zugleich die Einsicht in die Verkehrtheit einer bloß formalen Imago und deren Überwindung bewirkt. Das Wesen des wirklichen Menschen ist nicht Der Mensch im Widerspruch nur widersprüchlich, sondern Widerspruch ge- und das Heil in Jesus Christus gen Gott. Die Aufhebung dieses Widerspruchs, welcher zugleich einen Widerspruch zwischen dem wirklichen und dem wahren Menschsein darstellt, ist – wie schon sein angemessenes Begreifen – nur vom Evangelium her möglich, welches Jesus Christus in Person ist. Im Anschluss an seine Lehre von Gottes Vorsehung, Welterhaltung und Weltregierung sowie an zwischengeschaltete Passagen u.a. zu Geschichte und Heilsgeschichte, die je auf ihre Weise die mit dem differenzierten Zusammenhang formaler und materialer Imago gegebenen Folgeprobleme bedenken, entwickelt Brunner seine Christologie auf der Basis jenes doppelten Zeugnisses, auf welcher der Christusglaube nach seinem Urteil gründet: „ein Bild des Lebens Jesu, ungewiß in manchen Einzelheiten, deutlich in der Hauptsache, und ein Bestand an Lehren über Jesus, den Christus, von Jesus selbst anhebend bis zur vollen Christologie des Neuen Testamentes und deren weiterer Interpretation in der Kirche. Dieses doppelte Zeugnis ist der objektive Grund des Glaubens. Ohne dieses Zeugnis wird kein Mensch ein Christ, und zwar ohne dieses doppelte Zeugnis. Es ist beides gleich falsch, sich nur an das Lebensbild, den sogenannten historischen Jesus, halten zu wollen, als auch das entgegengesetzte, die Christuslehre allein als entscheidend gelten zu lassen.“ (Brunner II, 271) Die innere Einheit des doppelten Zeugnisses, auf welchem der Christusglaube gründet, gilt Brunner als ausgemacht: „Der Jesus des Neuen Testaments ist kein anderer als der Christus des Glaubens. Das geschichtliche Bild Jesu stimmt mit dem Apostelzeugnis vom Christus zusammen. Nicht der, der diesem Anspruch Jesu zustimmt und gehorsam ist, sondern der, der ihm widerspricht, muß Gründe angeben, und seine Gründe sind niemals wissenschaftliche, sondern lediglich weltanschauliche.“ (Brunner II, 274f.) Als Kriterium rechter Christuserkenntnis fungiert dabei das Bewusstsein der Sündenschuld. „An diesem Punkt entscheidet sich der Christusglaube. Nur dieses eine ist, letztlich, maßgebend dafür, ob man an ihn glaubt oder nicht glaubt: ob man sich als Sünder weiß, der der Vergebung der Sünden bedarf, oder ob man selbst mit seiner Sünde fertig zu werden glaubt. Wer an Jesus den Christus nicht glaubt, tut es darum, weil er letzten Endes ohne einen

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Erlöser auskommt, weil er sich selbst genug ist. Wer aber erkennt, daß er ein Sünder ist, der eines Erlösers bedarf, der anerkennt den Anspruch Jesu, dieser Erlöser zu sein.“ (Brunner II, 275) Indem er sich selbst verkennt, verstellt sich der Unglaube die Erkenntnis Christi, durch welchen der Glaube zur rechten Selbsterkenntnis geführt wird. „Jesus kann als die Personoffenbarung Gottes nur darum mit voller persönlicher Gewißheit erkannt werden, weil er nicht nur Gottes wahres Sein enthüllt, sondern zugleich die Wirklichkeit und Wahrheit des menschlichen Seins. Christuserkenntnis ist zugleich Selbsterkenntnis. Jesus offenbart nicht nur, was Gott ist und will, sondern er offenbart zugleich, daß wir Sünder sind, daß wir mit unserem Ursprung und unserem gottgeschaffenen Wesen im Widerspruch stehen. Jesus offenbart in seiner Person beides, den wahren Gott und den wahren Menschen; und indem er den wahren Menschen offenbart, deckt er unsere unwahre Wirklichkeit, unser Sein-inder-Unwahrheit, unser Sündersein auf. Jesus offenbart das wahre Menschsein als Sein in der Liebe Gottes. Darum erkennen wir ihn als den wahren Menschen, als den Menschen, der so ist, wie wir sein sollten. Die Liebe Gottes, die sich immer als Liebe zum Menschen manifestiert, ist das, was Jesu Leben formt. Aber diese Liebe Gottes, die das Prinzip, die Kraft ist, die sein menschliches Leben formt und bestimmt, schenkt er uns in göttlicher Vollmacht. Darin offenbart er sich als der, der aus dem Geheimnis Gottes zu uns kommt und uns das Geheimnis Gottes auftut. Er offenbart Gottes Liebe als schenkende Liebe, als un-bedingte, unbegründete Liebe, als Agape. Daß Gott diese Liebe ist, das ist der Kern der Gottesoffenbarung, die in der Person Jesu stattfindet – eine Erkenntnis, die außerhalb der Bibel völlig unbekannt ist, und die einem Plato oder Aristoteles als barer Unsinn hätte erscheinen müssen. Darum aber, weil Jesus, indem er Gott offenbart, uns uns selbs(t) offenbart, uns uns selbst so erkennen läßt, wie wir uns von uns aus nie erkennen könnten, macht er uns seine Offenbarung Gottes zur eigenen Gewißheit. Durch ihn ist unsere Selbsterkenntnis und unsere Gotteserkenntis eins.“ (Brunner II, 276f.) Die Durchführung der Christologie ratifiziert diese Einsicht, wobei Brunner entgegen der traditionellen Abfolge mit der Lehre vom „munus triplex Jesu Christi“ als der „ratio cognoscendi“ seiner Wirklichkeit beginnt, um sodann das Persongeheimnis des Erlösers als die „ratio essendi“ seines Wirkens zu thematisieren. Ob er damit der Komplexität der christologisch-trinitätstheologischen Traditionsbestände genügt, steht auf einem anderen Blatt und ist hier ebenso wenig zu erörtern, wie die Pneumatologie und Eschatologie in Brunners Dogmatik. Zur Eschatologie sei lediglich vermerkt, dass sie in der Monographie „Das Ewige als Zukunft und Gegenwart“ von 1953 eigens bearbeitet worden ist. Rudolf Bultmann (1884–1976), dem die zweite Bultmanns OffenbarungsFallstudie zum Thema Wort Gottes und menschtheologie liche Existenz gewidmet sein soll, war wie Brunner ein Offenbarungstheologe aus dem unmittelbaren Umkreis der Dialektischen Theologie, zu deren Grundsätzen er sich beizeiten bekannte. „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, dass sie

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nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat.“ (Bultmann, GV I, 2) So steht es, wie schon einmal zitiert, geschrieben in dem 1924, drei Jahre nach Beginn der Marburger Lehrtätigkeit Bultmanns erschienenen Vortrag über „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung“. Gott, heißt es weiter, ist die radikale Verneinung und Aufhebung des Menschen; Theologie, die Gott zum Inhalt hat, bedeutet für den Menschen daher einen Skandal. Dies sei von der liberalen Theologie sträflich verkannt und von der namentlich von Karl Barth motivierten Bewegung wiederentdeckt worden. Bultmann war Neutestamentler, womöglich der einflussreichste im 20. Jahrhundert: Berühmt sind seine „Geschichte der synoptischen Tradition“ (1921), das Jesusbuch (1926), der Kommentar zum Evangelium des Johannes (1941), die Studien zum Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen (1949) sowie das krönende Werk der Theologie des Neuen Testaments (1953). Doch lässt sich das Schaffen des historisch-kritischen Exegeten von dem des Systematischen Theologen nicht trennen. Bultmann war beides und zwar durchaus zugleich und in einem, wobei den dialektisch-theologischen Anfängen die Basisbedeutung zukam. Die Relevanz der „Dialektischen Theologie“ für die neutestamentliche Wissenschaft, die er in Forschung und Lehre hauptsächlich vertrat, hat Bultmann in einem 1928 erschienenen Beitrag (vgl. Bultmann, GV I, 114–133) eigens thematisiert. Dabei wird betont, dass mit „Dialektischer Theologie“ nicht ein theologisches System gemeint sein kann, „das bestimmte dogmatische Sätze enthält, die für die neutestamentliche Wissenschaft relevant wären, etwa Sätze über Sünde und Gnade, über Offenbarung und Christus, die aus einem dogmatischen Prinzip abgeleitet wären. Solche Sätze würden die neutestamentliche Wissenschaft nichts angehen, sofern diese nichts weiter will, als verstehen, was das Neue Testament sagt.“ (GV I, 114) Auch wird durch die Wendung keine Forschungsmethode bezeichnet. Worum es in einer für die neutestamentliche Wissenschaft bedeutsamen „Dialektischen Theologie“ ausschließlich gehen kann, ist das Verständnis des Wortes, welches besagt, dass der wirkliche Gott wirklichen Sündern, also dir und mir, wirklich gnädig ist. Mit anderen Worten: „Blicke ich auf mich, so sehe ich nie etwas anderes als Sünde; Gnade sehe ich nur, wenn ich auf Gott blicke, aber nicht wenn ich einen richtigen Gottesgedanken denke, sondern wenn ich mich vor und unter Gottes Gnadentat stelle.“ (GV I, 117) Damit ist umschrieben, in welcher Weise BultDas Kerygma von Gericht und mann den Ansatz der Wort-Gottes-Theologie als Gnade der, mit dem Aufsatztitel von 1924 zu reden, jüngsten theologischen Bewegung, rezipiert. Gottes Wort richtet und rettet, und es tut das eine, indem es das andere tut. Entsprechend ist das Wesen des Glaubens durch Gericht und Gnade zugleich bestimmt: „Was Gnade ist, kann nur der Mensch wissen, der sich als Sünder weiß. Als Sünder weiß er sich nur, sofern er vor Gott steht; er kann also auch von Sünde nur wissen, wenn er von Gnade weiß. Der Blick auf Gottes Gericht und Gottes Gnade in einem macht das Wesen des Glaubens aus. Es gibt keine Gnade als für den Sünder, keine Gnade als im Gericht. Und

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wie der Mensch nur sinnvoll von Sünde reden kann, wenn er sich vor Gott sieht, so auch von Gnade nur als von Gnade für den Sünder. Es gibt keinen Standpunkt auf einer einmal erreichten Einsicht, in einer einmal errungenen Haltung. Denn immer bleibt der Mensch ein Sünder und immer ist er ein Gerechtfertigter in Gottes Urteil.“ (Bultmann, GV I, 23) Im Sinne dieser – nach seinen Worten – paradoxen, weil unpositionellen Position hat sich Bultmann in den 20er Jahren der damals jüngsten theologischen Bewegung angeschlossen und die liberale Theologie vor allem im Blick auf ihre Geschichtsauffassung sowie ihre Beurteilung der praktischen Stellung des Menschen in der Welt scharf kritisiert. Das Wort Gottes als Wort vom Kreuz bewirke sowohl eine radikale Krise des sittlichen Bewusstseins als auch das Ende eines liberalen, in historischen Relativitäten sich ergehenden Geschichtsverständnisses. Es zeitige diese Wirkung indes nicht in der Weise supranaturalistischer Lehre, sondern im Modus kerygmatischen Anspruchs und Zuspruchs. Was damit gemeint ist, lässt sich der Antwort entnehmen, die Bultmann 1925 auf die selbstgestellte Frage gegeben hat: „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ Von Gott als ihrem Grund redet die Theologie, „indem sie redet vom Menschen, wie er vor Gott gestellt ist, also vom Glauben aus“ (Bultmann, GV I, 25). Theologisch von Gott zu reden heißt, seinem Gott und Existenz Wort zu entsprechen, welches den Menschen tötet und lebendig macht, indem es ihn in seiner Selbstbezogenheit zugrunde richtet, um ihn durch alleinige Beziehung auf Gott, welche der Glaube ist, aufzurichten und zurecht zu bringen. Alle andere Rede von Gott ist nicht nur Irrtum und Wahn, sondern Sünde, mittels derer der Mensch seines Grundes habhaft und mächtig zu werden gedenkt. Um in einer Weise von Gott zu reden, die ihm entspricht, muss der Mensch mit reuigem Gewissen die Nichtigkeit seiner selbst bekennen und zum Glaubenszeugen der alles bestimmenden Wirklichkeit Gottes werden, die nicht nur aus dem Nichts ins Sein zu rufen, sondern von den tiefsten Tiefen der Hölle in die Höhe des Himmels zu erheben vermag. Die Glaubensrede ist ein je Doppeltes in einem: Sie ist Rede von Gott als dem ganz Anderen, mit dem konfrontiert der Mensch sich als Sünder bekennen muss, der – in verzweifelter Selbstsorge begriffen – sich an Gottes Stelle zu setzen bestrebt ist; und sie ist genötigt, von Gott als demjenigen zu sprechen, der den Sünder rechtfertigt und ihm damit eine entsprechende Annahme seiner selbst als Sünder ermöglicht. Worauf beruht der Glaube und die ihm implizite Nötigung, von Gott zu reden? Auf der im Glauben statthabenden Bejahung des Tuns Gottes an uns, in der Antwort auf sein an uns gerichtetes Wort: „Denn wenn es sich im Glauben um die Erfassung unserer Existenz handelt, und wenn unsere Existenz in Gott gegründet, d.h. außerhalb Gottes nicht vorhanden ist, so bedeutet die Erfassung unserer Existenz ja die Erfassung Gottes.“ (Bultmann, GV I, 36) Doch lässt sich das Tun Gottes, welches den Glauben begründet und die Möglichkeit erschließt, von Gott und von uns selbst zu reden, nicht objektiv und abgesehen von der Betroffenheitssituation und der mit ihr verbundenen Entschiedenheit verob-

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jektivieren. Es tritt als ein Ereignis völlig zufällig und völlig kontingent an uns heran, als Botschaft des Glaubens, die den Anspruch erhebt, geglaubt zu werden (vgl. Bultmann, GV I, 37). Konkretes Ereignis, das mir aktuell begegnet, ist Gottes Gnadentat in der Geschichte Jesu, die Eschatologie und Geschichte nur dann recht verstanden wird, wenn ihre Historizität nicht zu einem vorliegenden Geschehen vergegenständlicht, sondern als eschatologisches Ereignis wahrgenommen wird. Neutestamentlich präformiert fand Bultmann sein Verständnis eschatologischer Geschichtlichkeit bei Paulus und insbesondere im Johannesevangelium, dessen Eschatologie in einem 1928 in der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ erschienenen Aufsatz analysiert wird (vgl. Bultmann, GV I, 134–152). Offenbarung, so das Johannesevangelium, ist „krisis“. Im Augenblick des eschatologischen Jetzt vollzieht sich die Entscheidung zwischen Tod und Leben. „Es ist die Stunde, die kommt und im Angesprochensein da ist.“ (Bultmann, GV I, 144) Das eschatologische Jetzt stellt sich ein im Augenblick der Verkündigung, die den Menschen in seiner Situation betrifft. Sie, die Verkündigung, ist die echte und einzige theologische Form der Vergegenwärtigung des geschichtlichen Faktums Jesus, das in ihr jene eschatologische Bedeutung hat, ohne welche sie theologisch bedeutungslos wäre. Als historisches Faktum ist die Geschichte Jesu zweideutig. „Man kann im Aorist von ihm reden, d.h. als von einem Präteritum, und man kann im Perfektum von ihm reden, d.h. als von einer Gegenwart. Dadurch daß Jesus gekommen ist, ist er da. Aber dies perfektische Präsens seines Da-seins wird vom Unglauben zum Präteritum des Vergangenseins, des Vorhandenseins in der Vergangenheit, gemacht.“ (Bultmann, GV I, 146) Im evangelischen Glaubenskerygma hingegen ist die Geschichte Jesu als eschatologisch vollendetes Perfekt da. Als das, was er ist, nämlich der Herr und Grund des Glaubens, ist Jesus gegenwärtig allein in seinem Wort, das auf gehorsames Gehör aus ist, in welchem sich geschichtliches Verstehen ereignet. So sei es bei Johannes bezeugt, und auf dieses Zeugnis hin ist nach Bultmann das ganze Neue Testament ausgerichtet und auszulegen. Man vergleiche hierzu den Beitrag in den „New Testament Studies“ von 1954 „Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament“ (Bultmann, GV III, 91–106); der mit der Feststellung endet: „Das Paradox von Geschichte und Eschatologie besteht darin, daß sich das eschatologische Geschehen in der Geschichte ereignet hat und sich überall in der Predigt wieder ereignet. Das heißt: Eschatologie in ihrem echten christlichen Verständnis ist nicht das zukünftige Ende der Geschichte, sondern die Geschichte ist von der Eschatologie verschlungen. Von nun an kann die Geschichte nicht länger als Heilsgeschichte, sondern nur noch als Profangeschichte verstanden werden. Aber die Dialektik des menschlichen Seins als geschichtlicher Existenz ist ans Licht gebracht, und infolgedessen kann die Geschichte des Menschen als Person nicht länger als Funktion der Weltgeschichte verstanden werden, sondern liegt jenseits der Weltgeschichte.“ (Bultmann, GV III, 106) Der in der zitierten Passage explizit angesprochene Zusammenhang von Keryg-

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matheologie und existentialer Interpretation ist nicht erst für den Bultmann der 50er Jahre charakteristisch, sondern kennzeichnend schon für seine Anfänge. Kerygmatisches Gotteswort ist das biblische Zeugnis, indem es von Grund und Abgrund menschlicher, zutreffender gesagt: meiner menschlichen Existenz spricht. Unter dem Aspekt des Offenbarungsverständnisses und des dem Verständnis der Offenbarung nach Bultmann impliziten Vorverständnisses soll dies genauer verdeutlicht werden. Was ist Offenbarung? Allgemein gesprochen: die Erschließung von Verborgenem und die Entdeckung von Verhülltem in dem zweifach differenzierten Sinne der objektiv belehrenden Wissensvermittlung und eines Geschehens, durch welches ich in eine existentiell neue Lage versetzt und zu einem veränderten Bewusstsein meiner selbst geführt werde. Nur in letzterem Sinne könne dem Neuen Testament entsprechend von Offenbarung die Rede sein (vgl. Bultmann, GV III, 1–34). Denn nach neutestamentlichem Verständnis habe das Offenbarungsgeschehen auch und gerade als Wortgeschehen, das es Bultmann zufolge in erster Linie ist, nicht den Charakter einer belehrenden Mitteilung über Sachverhalte, sondern eines Erschließungsgeschehens, durch welches der in sich verkehrte und verschlossene Mensch für Gott und sich selbst samt Mitmensch und Welt erschlossen wird. Die Offenbarung, wie sie im Christusereignis geschieht, spricht den Menschen direkt auf sein Menschsein an und ist daher primär nicht Aussage, sondern Anrede. Angesprochen wird der Mensch konkret auf seine Begrenztheit, wie sie äußerlich durch die Sterblichkeit und den ständig drohenden Tod, innerlich durch die Verkehrtheit der Sünde gegeben ist, welche den Menschen nicht nur von außen, sondern von innen her beschränkt, verrückt macht und seiner Bestimmung zuwider sein und handeln lässt. Darauf und auf ein entsprechendes Wissen des Menschen von sich selbst ist die Anrede des neutestamentlichen Kerygmas bezogen. Dass es sich bei dem vom Kerygma in Anspruch genommenen Wissen des Menschen um sich selbst nicht um ein sicheres, sondern um ein gänzlich ungesichertes Wissen handelt, unterstreicht Bultmann ausdrücklich. Er spricht von „einem eigentümlichen nichtwissenden Wissen“ (Bultmann, GV III, 6), wobei hinzuzufügen ist, dass solch nichtwissendes Wissen sowohl in verzweifelter Ungewissheit als auch in besinnungsloser Ignoranz bestehen kann. In solch haltloser Zweideutigkeit „besteht“ das Wissen des Menschen um sich selbst, auf das hin die Offenbarung ihn anspricht. Man muss diese Ambivalenz namhaft machen, wenn man verstehen will, was nach Bultmann mit den Stichwörtern Vorverständnis und Anknüpfungspunkt genau gemeint ist. Insofern sie sich auf ein gewisses Wissen um die Ungewissheit menschlicher Existenz bezieht, deren in den Dienst der Selbstbehauptung gestellte Sicherung nach neutestamentlichem Zeugnis Sünde ist, knüpft die christliche Offenbarung an ein Vorverständnis an, welches aufzuklären nach Bultmann gemeinsame Aufgabe philosophischer und theologischer Existenzanalyse ist. Dabei kann die gemeinsame Aufgabe von Philosophie und Theologie nach theologischem Urteil Bultmanns nur differenziert wahrgenommen werden, weil das theoAnknüpfung und Widerspruch

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logisch zu bedenkende Offenbarungszeugnis in Bezug auch auf das philosophisch am höchsten und am weitesten entwickelte menschliche Selbstverständnis nur in „Anknüpfung und Widerspruch“ (vgl. Bultmann, GV II, 117–132) zugleich zur Geltung gebracht werden kann. Denn nur im zugrunde richtenden Widerspruch gegen das menschliche Streben, die existentielle Ungewissheit, an deren mehr oder minder gegebenes Bewusstsein die Offenbarung als an ihr Vorverständnis anknüpft, in Selbstsicherheit zu überführen, kommt das aufrichtende und lebendig machende Wort der Gnade, welches die Heilsgewissheit des Glaubens schafft, entsprechend zur Sprache. „Ist voraussetzungslose Exegese möglich?“ lauDas Vorverständnis elementete die Überschrift eines Bultmann-Aufsatzes, tarer Fraglichkeit der 1947 erschien und lange Jahre zur Standardliteratur neutestamentlicher Proseminare gehörte. Dass Exegese vorurteilslos sein müsse und ihre Erkenntnisse nicht axiomatisch voraussetzen dürfe, versteht sich nach Bultmann von selbst. Trotz der berechtigten Forderung ihrer Vorurteilslosigkeit kann es eine schlechterdings voraussetzungslose Exegese dennoch nicht geben, weil jeder Exeget „mit bestimmten Fragen bzw. einer bestimmten Fragestellung an den Text herangeht und eine gewisse Vorstellung von der Sache hat, um die es sich im Texte handelt“ (Bultmann, GV III, 142). Eine zwar unabdingbare, aber eher noch äußerliche Voraussetzung stellt die historische Methode dar, welche die weitere Voraussetzung einschließt, „daß die Geschichte eine Einheit ist im Sinne eines geschlossenen Wirkungs-Zusammenhangs, in dem die einzelnen Ereignisse durch die Folge von Ursache und Wirkung verknüpft sind“ (Bultmann, GV III, 144). Indes gehört die Übersetzung in die Gegenwart ebenfalls zu den Aufgaben der historischen Wissenschaft, und damit ist das hermeneutische Problem unausweichlich gestellt. „Zum historischen Verständnis gehört das sachliche Verständnis.“ (Bultmann, GV III, 146). Ein sachliches Verständnis aber ist nur möglich, wenn ein Verhältnis des Interpreten zur Sache vorausgesetzt werden kann, die in den Texten direkt oder indirekt zur Sprache kommt. Dieses Verhältnis ist nach Bultmann durch den Lebenszusammenhang begründet, in dem der Interpret steht. Das damit gegebene Sachverständnis nennt Bultmann Vorverständnis. Ohne solches Vorverständnis gibt es kein angemessenes Sachverständnis und zwar gerade in der geschichtlichen Wissenschaft nicht, für deren Verstehen die Spaltung von Subjekt und Objekt nicht gelte, welche nur für die beobachtende Naturwissenschaft Gültigkeit habe. Auch und gerade die biblischen Texte können ohne ein – im vorgängigen Lebensverhältnis zu ihrer Sache gründendes – Vorverständnis nach Bultmann nicht verstanden werden. Dieses Vorverständnis ist existentiell im individuellen Selbstverständnis des einzelnen Menschen und existential, will heißen: in Form einer allgemeinmenschlichen Daseinsstruktur darin gegeben, dass der Mensch als Mensch sich selbst fraglich ist, noch bevor er Daseinsfragen von bestimmter Art überhaupt stellt. Die elementare und alternativlose Fraglichkeit menschlicher Existenz, welche nach Bultmann die Frage nach Gott zumindest latent in sich enthält,

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macht im Wesentlichen das Vorverständnis aus, an welches das Offenbarungszeugnis anschließt. Dieses Vorverständnis zu klären und in der Weise sachgemäßer Ausgelegtheit menschlicher Existenz ins allgemeine Bewusstsein zu heben, ist eine unaufgebbare Aufgabe der Philosophie und namentlich der existentialen Analyse des menschlichen Seins, an welche sich der Theologe Bultmann besonders gewiesen wusste. Die persönliche Beziehung zu Martin Heidegger hat hier ihren systematischen und sachbegründeten Ort. Die Grenze der Existenzphilosophie, einschließlich der Heidegger’schen, sieht Bultmann darin gegeben, dass sie die Verfallenheit des Menschen an Selbst und Welt nicht in der radikalen Abgründigkeit des Falles der Sünde wahrzunehmen vermag, sondern denkend und handelnd bewältigen zu können beansprucht. Damit aber werde die Eigenmächtigkeit als die Grundhaltung des Menschen in äußerster Konsequenz bestätigt: Das aber sei frevelhaft. Im Werk Heideggers werde solcher Frevel darin manifest, dass die Annahme der Geworfenheit menschlichen Daseins in der Todesentschlossenheit dem Vermögen des Menschen überantwortet wird, der sich eben dadurch zu radikaler Eigenmächtigkeit ermächtigt sieht. Methodisch nötigt diese Feststellung zu der EinWort Gottes und existentiale sicht, dass das Verständnis dessen, was Bultmann Interpretation Vorverständnis nennt, der offenbarungstheologischen Vermittlung bedarf, um aus seiner zur Zweideutigkeit neigenden und tendenziell irreführenden Uneindeutigkeit herausgeführt und eindeutig identifiziert zu werden. Ohne Offenbarung kann der Mensch wohl zur Einsicht in die Fraglichkeit seines Daseins gelangen, nicht aber einsehen und einsichtig bekennen, dass er in all seinem Tun und Trachten dem „peccatum originale“ selbstverkehrter Eigenmächtigkeit verfallen ist. Zu solcher Einsicht und einem entsprechenden Bekenntnis der Sünde kann ihn nur das rechtfertigende und versöhnende Kerygma der Sündenvergebung befreien, welches das Evangelium Jesu Christi zuspricht und der Glaube empfängt. Indes erfolgt dieser Glaubenszuspruch des Kerygmas nicht in vermittlungsloser, sondern in vermittelter Unmittelbarkeit, nämlich dergestalt, dass er auf die, wie Bultmann sagen kann, vorgläubige Existenz Bezug nimmt und insofern an sie anknüpft. Der offenbarungstheologisch solchermaßen vorauszusetzende Anknüpfungspunkt ermöglicht keinen fundamentaltheologischen Unterbau der Dogmatik im Sinne traditioneller natürlicher Theologie (vgl. Bultmann, GV I, 294–312). Gleichwohl impliziert nach Bultmann die Tatsache, dass die christliche Verkündigung, wenn sie einen Menschen treffe, von diesem verstanden werden könne, ein bei diesem gegebenes Vorverständnis. „Denn etwas verstehen, heißt, es in seinem Bezuge auf sich, den Verstehenden, verstehen, sich mit oder in ihm verstehen. Verstehen setzt den Lebenszusammenhang voraus, in dem der Verstehende und das Verstandene von vornherein zusammengehören.“ (Bultmann, GV I, 295f.) Ist der Glaube ein Ereignis im geschichtlichen Leben, so steht er, wie das Wort, woran er glaubt, in einem durch Verstehen charakterisierten Lebenszusammenhang: „Und ist im Glauben ein alles frühere Verstehen verwerfendes und es ersetzendes Verstehen gegeben, so enthält eben jenes frühere Verstehen ein Vor-

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verständnis. Es müßte denn sein, daß durch Offenbarung und Glaube der alte Mensch völlig vernichtet würde und ein neuer ohne Kontinuität an seine Stelle träte. ... Aber gerade dieses bestreitet der Glaube, wenn er das Offenbarungsgeschehen als Vergebung der Sünde bezeichnet, denn in der Annahme der Vergebung übernimmt der Mensch seine Vergangenheit; die Vergebung setzt gerade die Kontinuität des Gläubigen als des neuen mit dem alten Menschen voraus. Er, der Mensch, ist es, der glaubt: simul peccator, simul iustus; der Sünder ist der Gerechtfertigte.“ (Bultmann, GV I, 296). Deshalb beinhaltet der Glaube ein Wissen um die vorgläubige Existenz, welches in ihm aufgehoben bleibt, um als universalanthropologischer Bezugspunkt zu fungieren, an den das Glaubenszeugnis als aktuelle Gestalt des Offenbarungskerygmas anknüpfen kann. Die Objektivität des Offenbarungskerygmas besteht nach Bultmann vor allem darin, dem Subjekt zu einem neuen Verständnis seiner selbst zu verhelfen, welches eigenmächtig zu erlangen nicht nur nicht möglich, sondern eine möglichkeitsdestruierende Unmöglichkeit ist, weil Eigenmächtigkeit samt ihren Implikationen wie verzehrende Selbstsorge und hybride Selbstvergottung das Urfaktum menschlicher Verfallenheit, ja den Fall der Sünde selbst ausmacht. Dem Urfaktum des „peccatum originale“ begegnet die Offenbarung, indem es die Sünde identifiziert und richtet, um den der Sünde verfallenen Sünder durch von ihm selbst nicht zu leistende Unterscheidung von Sünder und Sünde von und aus seiner Sünde zu erretten. In dieser Wirkung besteht die absolute Faktizität ihrer Wirklichkeit, die nach Bultmann nicht anders denn als reines Dass zu erfassen ist. In der Kontingenz ihrer Ereignung als Sündenvergebung, wie sie im Augenblick kerygmatischer Glaubenskonstitution statthat, ist die Christusoffenbarung unter Aufhebung ihrer Historizität eschatologisch manifest. Von einer anderen als der im Dass seines Gekommenseins zur Rechtfertigung des Sünders beschlossenen Christusgeschichte will Bultmann theologisch nichts wissen. Das Programm der Entmythologisierung biblischer Texte erweist sich nicht zuletzt in christologischer Hinsicht als das Komplement existentialer Interpretation. Mythologisch nannte Bultmann in seinem beDas Entmythologisierungsprorühmt-berüchtigten Vortrag von 1941 über gramm „Neues Testament und Mythologie“ jede „Vorstellungweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint“ (Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 23 Anm. 20). Gemäß dieser Bestimmung gilt ihm die christologische Vorstellung des auf die Welt gekommenen und menschgewordenenen Gottessohnes als Mythos, von welchem sich die „theologia crucis“ zu verabschieden hat, wobei hinzuzufügen ist, dass die überkommenen Deutungen des Kreuzestodes Christi als Opfer und Satisfaktion ebenso als mythologisch zu gelten haben wie die Annahme, das Osterereignis sei im Sinne einer empirischen Tatsache fassbar. Nicht als Aussage über einen objektiven Sachverhalt, der gegenständlich fassbar wäre, sondern als Wortgeschehen, welches in Gericht und Gnade, Gesetz und Evangelium die Rechtfertigung des Sünders ereignet, gibt sich das Osterkerygma zu verstehen, in

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welchem der auferstandene Gekreuzigte eschatologisch lebendig und als der Offenbarer Gottes manifest ist. Gottes österliche Offenbarung ist kein Mirakel – und doch und gerade deshalb das Wunder aller Wunder, ja das einzige Wunder überhaupt, das diesen Namen verdient, da es zu schaffen vermag, was weder Welt noch Selbst zu verschaffen vermögen: Dass nämlich der Mensch freikommt von sich selbst und seiner Sorge um sich, um Fürsorge üben zu können in der Liebe, welche dem Glauben folgt. In diesem Erschließungsgeschehen erweist sich die Offenbarung als absolutes Datum, dessen Gegebensein auf kein Weltfaktum und keine Menschentat zu reduzieren, sondern allein auf Gott zurückzuführen ist. Dass dabei mit Gott nichts anderes gemeint sein kann als das schlechterdings unableitbare Woher der Neukonstitution menschlichen Selbstverständnisses, welches diese Neukonstitution ermöglicht, liegt in der Konsequenz von Bultmanns Argumentation und ist ein notwendiges Implikat seines Programms der Entmythologisierung. Einen anderen Begriff Gottes als den seiner Unbegreiflichkeit vermittelt die Offenbarung daher nicht bzw. nur insofern, als das unvordenkliche Sein Gottes im unvergleichlichen Namen dessen, den Christen Christus nennen, in versöhnender Neuheit den Geist der Liebe erschließt, gegen welchen sich verschlossen zu haben das Unwesen der Sünde des Menschen ausmacht. Letzteres zur Einsicht zu bringen ist die FunkGesetz und Evangelium tion dessen, was nach Bultmann herkömmlicherweise Gesetz genannt wurde. Insofern aber die Neuheit des Evangeliums vermittelt ist durch den Bezug auf das Alte, aus dem es befreit, ist das Sein unter dem Gesetz die Voraussetzung für das Sein unter der Gnade. „Gewiß ist Christus des Gesetzes Ende; aber gerade deshalb, damit er als des Gesetzes Ende verstanden werden kann – sonst würde er ja überhaupt nicht verstanden –, muß auch jeder, der von Christus hört, vom Gesetz gehört haben. Ja, noch mehr: er muß es immer wieder hören. Denn wohl ist der Glaubende ein für allemal frei vom Gesetz und steht unter dem Geist. Aber der Glaube als stets neuergriffene Möglichkeit christlichen Seins ist stets nur in der Überwindung des alten Seins unter dem Gesetz wirklich.“ (Bultmann, GV I, 319) So wie das Evangelium nur Evangelium zu sein vermag in einer durch die Differenz vom Gesetz, von dem es sich unterscheidet, vermittelten Weise, so lässt sich die Christusoffenbarung in ihrer neues Selbstverständnis konstituierenden Positivität nur erfassen im Unterschied zu jenem alten Selbstverständnis, das sie als ein zu Überwindendes voraussetzt.

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Lit.: P. Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik. 2 Bde., Gütersloh 1947/ 48. – K. Barth, Evangelium und Gesetz, München 1935. – W. Elert, Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Berlin 1940. – E. Hirsch, Christliche Rechenschaft (Werkausgabe III/1, 1 u. 2), Berlin/Schleswig-Holstein 1978. – W. Pannenberg, Gesetz und Evangelium, in: ders., Beiträge zur Ethik, Göttingen 2004, 185–201.

Wer Gottes Wort verstehen will, muss Gesetz und Evangelium unterscheiden und als einen Evangelium und Gesetz? Zusammenhang nicht von Menschen, sondern nur vom göttlichen Geist synthetisierbarer Differenz begreifen lernen. So lautet die hermeneutische Grundregel der Wittenberger Reformation. Nach Zeiten weitgehender Vernachlässigung hat die Lehre von Gesetz und Evangelium, deren kriteriologische Funktion die „Epitome“ der „Formula Concordiae“ von 1577 „als ein besonder herrlich Licht“ (BSLK 790, 22) rühmte, im Kontext der sog. Theologie der Krise nach dem Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Die kontroversen Debatten um das Programm der Dialektischen Theologie und die Weisen seiner Durchführung wurden von lutherischen Theologen vielfach unter dezidiertem Bezug auf die Gesetz-Evangelium-Thematik geführt. Ein zentrales Interesse war dabei die kritische Abgrenzung zum Ansatz namentlich der Theologie Karl Barths, dessen Neuordnung der alten Lehre zu derjenigen von „Evangelium und Gesetz“, wie sie im Jahre 1935 erfolgte, nach dem Urteil vieler Lutheraner zu einer christomonistischen Umpolung aller theologischen Themen und zu einer Suspendierung der traditionellen hermeneutischen Kriteriologie der Wittenberger Reformation geführt hatte. Dass das gegen Barth gerichtete Bestehen auf der Unterscheidung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium nicht identisch sein musste mit einer Annäherung an die von einigen prominenten Vertretern des Luthertums in der aufkommenden nationalsozialistischen Periode vertretenen (kirchen)politischen Positionen, zeigt zum einen die Tatsache, dass aus solchem Insistieren auch andere, durchaus gegenläufige Konsequenzen gezogen werden konnten, und zum anderen das Vorhandensein strukturanaloger Argumente im engsten Umkreis der Dialektischen Theologie, etwa bei Emil Brunner und Rudolf Bultmann oder bei dem ehemaligen Freund Hirschs, Paul Tillich, der sich in diesem Zusammenhang ebenfalls nennen ließe. Auf solche Strukturanalogien und damit auf die Bedeutung der Gesetz-Evangeliums-Thematik für das Problem der systematischen Gesamtorga-

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nisation der Dogmatik soll in den folgenden – eingangs jeweils mit kurzen biographischen und werkgeschichtlichen Bemerkungen versehenen – Fallstudien zu Werner Elert, Paul Althaus und Emanuel Hirsch die Aufmerksamkeit konzentriert werden. Dabei wird sich einerseits zeigen, dass die „Repristination einer an eine vergangene geschichtliche Situation gebundenen Begriffsbildung“ teilweise zu „abenteuerlichen Identifikationen“ (Pannenberg, 199) führte, in jedem Fall aber erhebliche Sachverschiebungen gegenüber der Reformationszeit mit sich brachte. Andererseits lässt sich nicht übersehen, welch hohe systematische Relevanz dem Thema für die kritische und konstruktive Organisation der Dogmatik und die Zuordnung ihres Stoffs auch unter neuzeitlichen Bedingungen zukommt. Das belegt nicht zuletzt der erwähnte, 1935 in der „Theologischen Existenz heute“ publizierte Beitrag Barths über „Evangelium und Gesetz“. Dass der Titel des Textes programmatisch verBarths Stellung standen sein will, sagt Barth vorweg: „Über ‚Gesetz und Evangelium‘ würde ich nach der unter uns fast selbstverständlich gewordenen Formel zu sprechen haben. Ich möchte aber sofort darauf aufmerksam machen, daß ich nicht über ‚Gesetz und Evangelium‘, sondern über ‚Evangelium und Gesetz‘ sprechen werde. Die traditionelle Reihenfolge ‚Gesetz und Evangelium‘ hat an ihrem Ort, den wir noch bezeichnen werden, ihr gutes Recht. Richtunggebend für das Ganze der hier zu umreißenden Lehre darf sie gerade nicht sein.“ (Barth, 3) Gegliedert ist die folgende Argumentation durch die Unterscheidung zwischen der Wahrheit des Evangeliums und der des Gesetzes in ihrem gegenseitigen Verhältnis einerseits und der Wirklichkeit beider in ihrem Verhältnis zueinander andererseits. Für die Wahrheit des in Frage stehenden Verhältnisses ist es nach Barth, wie gesagt, konstitutiv, zunächst nicht vom Gesetz, sondern vom Evangelium zu reden. „Das Evangelium ist nicht Gesetz, wie das Gesetz nicht Evangelium ist; aber weil das Gesetz im Evangelium, vom Evangelium her und auf das Evangelium hin ist, darum müssen wir, um zu wissen, was Gesetz ist, allererst um das Evangelium wissen und nicht umgekehrt.“ (Ebd.) Um hinwiederum zu wissen, was das Evangelium ist, muss von dessen Inhalt, nämlich von der Gnade Gottes die Rede sein. Diese Gnade Gottes heißt und ist Jesus Christus. Er selber und er ganz allein ist die Gnade Gottes. „Er selber und er ganz allein ist also der Inhalt des Evangeliums.“ (Barth, 7) Ist dieses gesagt, so kann und muss im Anschluss daran, nämlich an zweiter Stelle, auch vom Gesetz geredet werden und zwar als von demjenigen, welches durch Jesus Christus, die Gnade Gottes in Person, erfüllt ist. Von dieser seiner Erfüllung her wird aus der Gnadenoffenbarung zugleich das Wesen des Gesetzes offenbar. Barth führt dies zu folgendem Schluss: „das Gesetz ist nichts anderes als die notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist. Gerade dieser Inhalt erzwingt diese Form, die Form, die nach Gleichform ruft, die gesetzliche Form. Gnade heißt, wenn sie offenbar, wenn sie bezeugt und verkündigt wird, Forderung und Anspruch an den Menschen. Gnade heißt, wenn an Jesus Christus, den Kommenden oder den Gekommenen geglaubt, wenn sein Name gepredigt wird: das

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Amt des Mose und Elia, des Jesaia und Jeremia, das Amt des Täufers, des Paulus, des Jakobus. Gnade heißt, indem sie zum Aufruf zur Gnade wird: Kirche, die es wagt und wagen muß, mit Autorität zu reden.“ (Barth, 11) In dieser Weise ist im Evangelium das Gesetz beschlossen, und es ist zu sagen: „Wir würden, obwohl das Gesetz nicht das Evangelium ist, ohne das Gesetz tatsächlich auch das Evangelium nicht haben.“ (Barth, 12) Das hebt allerdings nicht die Voraussetzung auf, sondern bestätigt sie, dass der Inhalt des Evangeliums die Bedingung der Form des Gesetzes ist. „Das Gesetz bezeugt ja die Gnade Gottes; darin ist es die Form des Evangeliums; darin ist es Anspruch und Forderung, Bußruf und Prophetie.“ (Barth, 13) Komprimiert zum Ausdruck gebracht sind Anspruch und Forderung des das Evangelium bezeugenden Gesetzes im ersten Gebot, welches gebietet, an Jesus Christus und die in ihm offenbare Gnade Gottes zu glauben. Von der Wirklichkeit des Evangeliums und des Gesetzes in ihrem gegenseitigen Verhältnis unter der Voraussetzung ihrer erfassten Wahrheit zu reden, bedeutet davon zu reden, „daß das Evangelium sowohl wie das Gesetz – oder also: der Inhalt und die Form des Evangeliums in unsere, der Sünder Hände gegeben sind“ (Barth, 15). Unsere Sünde, wie sie durch Gottes Offenbarung in Evangelium und Gesetz zutage tritt, besteht darin, „daß wir für uns selbst zwar nicht eintreten können, wohl aber eintreten wollen. Die Sünde besteht in der Eigenmächtigkeit ... und insofern in der Gottlosigkeit, als Gott wesentlich gnädig ist, eben unsere Eigenmächtigkeit aber, unsere Abwehr der Gnade und unsere Selbstbehauptung gegenüber Gott unsere Gottesferne bezeugt und bedeutet.“ (Barth, 16) Trotz der Verkehrtheit unserer Sünde legt Gott seine Gabe dennoch in unsere Hände und „sie ist und bleibt trotzdem, trotz der mehr als fragwürdigen Reinheit unserer Hände, seine Gabe“ (ebd.). Was das negativ und positiv bedeutet, expliziert Barth wie folgt: Negativ bedeutet die Tatsache, dass Gottes in unsere, der Sünder Hand gelegte Gabe seine Gabe bleibt, dass sie die Verkehrtheit unserer Sünde und unseres sündigen Begehrens in der Wurzel aufdeckt. Das geschieht wesentlich im Aufdecken dessen, dass der Mensch Gott selbst zum Anlass und Vorwand der Sünde macht, indem er Gott in den Dienst seiner Selbstrechtfertigung stellt. „Eben dieses unser Begehren, dieses unser Eifern – um Gott? nein, mit Hilfe und zur Ehre Gottes um unsere eigene Gottlosigkeit – hat Christus ans Kreuz gebracht und bringt ihn mitten im Christentum (Hebr. 6,6) immer wieder ans Kreuz.“ (Barth, 20) Ihrem abgründigsten Unwesen nach ist die Sünde gegen die Form des Gesetzes Hass der Gnade, welche der Inhalt des Evangeliums ist. Welche Kraft soll unter diesen Bedingungen die von uns verschmähte und verachtete, ja gehasste Gnade haben? „Darauf ist zu antworten: Gott ist Gott. Kraft, die Kraft der Auferstehung (Phil. 3,10) hat auf alle Fälle gerade und erst die von uns verschmähte und verachtete, ja gehaßte Gnade, der bis auf diesen Tag in die Hände der Sünder gegebene, der gekreuzigte, gestorbene und begrabene Christus.“ (Barth, 26f.) Er und er allein steht für den Sieg des Evangeliums, der Sieg der Gnade Gottes über die wirkliche Sünde, über die Sünde unseres Missbrauchs des Gesetzes, über die Sünde unseres Unglaubens ist.

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Nach dem Urteil Werner Elerts (1885–1954), dem sich auf ihre Weise auch Althaus und Hirsch angeschlossen haben, stellt Karl Barths Umkehr der Wendung „Gesetz und Evangelium“ eine dogmatisch grundstürzende Verkehrung dar, welche mit dem Hinweis auf die Nähe zum Gesetzesverständnis Calvins zwar zu erklären, nicht aber zu entschuldigen ist. Wahre lutherische Lehre habe demgegenüber den realdialektischen Gegensatz von Gesetz und Evangelium zu bekräftigen und den Grundsatz zu verwerfen, demgemäß das Gesetz nichts anderes sei als die Form des Evangeliums und seines Inhalts, der Gnade. Denn die Meinung, dass es nur ein gnädiges Handeln Gottes gebe und das Gesetz eine Form der Gnade sei, ist nach Elert ein ebenso schriftwidriger Irrtum wie die Annahme, aus der Singularität des in Jesus Christus gesprochenen Gotteswortes folge dessen Exklusivität. In der Konsequenz dessen muss nach Elerts Urteil deshalb auch der offenbarungstheologische Ansatz, wie er für Barths Systemkonzept kennzeichnend sei, der Kritik unterzogen werden. Werner Elert war ein perspektivenreicher Gelehrter, der sich in seinem Studium neben Theologie mit Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie Psychologie und Jurisprudenz beschäftigte. Vom spätromantischen Pessimismus Rudolf Rocholls (1822–1905), dessen spekulativer Geschichtstheorie seine philosophische Dissertation gewidmet war, ebenso beeinflusst wie von Oswald Spengler (1880–1936) und Rudolf Otto (1869–1937) gewann für Elert die Einsicht in die diastatisch-dialektische Struktur von Gottes richtendem Zorn und versöhnender Erlösung systembildende Bedeutung. Durch die Verbindung mit der traditionellen Gesetz-Evangeliums-Lehre gab er dieser Einsicht eine spezifische Prägung im Sinne dessen, was der 1923 als Professor für Kirchen-, Dogmengeschichte und Symbolik nach Erlangen Berufene für „Die Lehre des Luthertums“ – so der Titel eines im Jahr darauf erschienenen Abrisses – hielt. 1931/32 erschien das gewichtige Werk zur „Morphologie des Luthertums“, dessen erster Band der lutherischen Theologie und Weltanschauung hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert gewidmet war, während ein zweiter die Soziallehren und sozialen Wirkungen des Luthertums behandelte. Nach dem 1932 erfolgten Wechsel auf den Erlanger Lehrstuhl für Systematische und Historische Theologie wurden eine Dogmatik (Der christliche Glaube, 1940) und eine Ethik (Das christliche Ethos, 1949) publiziert. Als Dogmengeschichtler hat sich Elert durch eine Reihe von Einzelstudien u.a. zu christologischen und abendmahlstheologischen Themen einen Namen gemacht. Zu den bedenklichen Kapiteln in seiner theologischen Vita gehört das zusammen mit Althaus verfasste Gutachten der Erlanger Fakultät zur Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu kirchlichen Ämtern vom 25. September 1933 sowie die (später allerdings zurückgezogene) Unterzeichnung des sog. Ansbacher Ratschlags vom 11. Juni 1934, eines von einem fränkischen Pfarrerkreis entworfenen Textes, der neben Familie auch Volk und Rasse als Schöpfungsordnungen Gottes und Hitler als frommen Führer und Retter aus der Not anpries. Für Aufbau und Organisation der lutherischen Dogmatik, wie Elert sie in seiElerts Verdikt

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nem Werk „Der christliche Glaube“ vorgelegt Die Zwiespältigkeit der Offenhat, kommt dem Offenbarungsbegriff lediglich barung eine marginale Bedeutung zu. Dies ergibt sich konsequent aus dem, wie es heißt, realdialektischen Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Formal zeigt sich die Sekundärstellung des Offenbarungsbegriffs bereits daran, dass er in den die Gesamtkonzeption strukturierenden Abschnitts- und Kapitelüberschriften im signifikanten Unterschied zur Dogmatik von Karl Barth, aber etwa auch von Paul Althaus, nicht auftaucht. Der Sachgrund für diese Reserve liegt in der strikten Zurückweisung jedes Versuchs, „den Gegensatz von Gesetz und Evangelium in dem übergeordneten Begriff der Offenbarung aufzulösen“ (Elert, 191). Nicht dass die Dogmatik nach Elert auf den Offenbarungsbegriff verzichten wollte oder könnte: Indes ist dieser „ohne weiteren Zusatz ... ein ganz formaler Begriff, der mit den verschiedensten Inhalten gefüllt sein kann“ (Elert, 169). Wird er in seiner Formalität belassen und entsprechend in Gebrauch genommen, nivelliert er Inhalte nicht nur, sondern verstellt von vornherein jede Einsicht in die ihnen eigene Bestimmtheit. Dem gilt Elerts entschiedener Widerspruch: „Die Art der Verbindlichkeit der Offenbarung richtet sich immer nach ihrem jeweiligen Inhalt.“ (Ebd.) Theologisch angemessene Verwendung kann der Offenbarungsbegriff also nur dann finden, wenn er von Anbeginn inhaltlich verwendet wird. Wird dies bedacht, dann verliert er nach Elert zwangsläufig seine Stellung als zumindest momentan inhaltsindifferenter univoker Oberbegriff über Gesetz und Evangelium. Denn seine inhaltliche Wahrnehmung nötigt zur Anerkennung nicht nur seiner internen Differenziertheit, sondern seiner Zwiespältigkeit. Der inhaltlich verwendete Offenbarungsbegriff enthält einen Widerspruch, der die Identität seines Begriffs selbst betrifft und sich daher begrifflich nicht bzw. nur dann beheben lässt, wenn begriffen ist, dass er auf unvordenkliche Weise behoben ist. Der Widerspruch, der an dem inhaltlich bestimmten Offenbarungsbegriff in der Weise eines Zusammenhangs nichtsynthetisierbarer Differenz zutage tritt, ist gemäß Elert derjenige von Gesetz und Evangelium. Eine inhaltlich orientierte dogmatische Argumentation hat sich nach seinem Urteil daher primär an der mit der Gesetz-Evangeliums-Thematik gegebenen Zwiespältigkeit auszurichten und den Offenbarungsbegriff als Funktion der ihn bestimmenden Inhalte zu begreifen. Hingegen ist „der Versuchung einer einfachen Koordination von Gesetz und Evangelium unter Überordnung des Offenbarungsbegriffes entgegenzutreten“ (Elert, 162), weil ein Nachgeben an dieser Stelle eine Formalisierung und inhaltliche Entleerung, ja Fehlbestimmung der dogmatischen Argumentation unvermeidlich mit sich führen und nicht zuletzt eine Verkennung dessen zur Folge haben müsste, was dogmatisch Offenbarung heißt. Hält man sich an den biblischen Befund, dann wird nach Elert unzweifelhaft deutlich, „daß der Begriff der Offenbarung selbst dann, wenn darunter ausschließlich ein Offenbarwerden Gottes verstanden wird, den Gegensatz von Evangelium und Gesetz nicht aufheben und nicht einmal überbrücken kann. Es ist nur sinnvoll, beide darunter zusammenzufassen, wenn man dadurch die ganze Schärfe des Gegensatzes ausdrücken, nicht aber, wenn man

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ihn dadurch verschleiern will. Seine Schärfe kann dadurch fühlbar werden, daß man sowohl das Gesetz wie das Evangelium als Offenbarwerden desselben Gottes versteht, daß man also seinen Ursprung in einer zwiespältigen Selbsterschließung Gottes erblickt. Aber daß die eine Offenbarung so und die andre anders gilt, ist nicht darin begründet, daß beiden das formale Merkmal des Geoffenbartseins anhaftet, sondern nur darin, daß die eine das Gesetz Gottes und die andre sein Evangelium ist. Die Frage, ob das Merkmal des Geoffenbartseins die Geltung des Gesetzes Gottes und seines Evangeliums erhöht, ist also selbstverständlich zu verneinen.“ (Elert, 169) Noch einmal deshalb: „Offenbarung ohne weiteren Zusatz ist ein ganz formaler Begriff, der mit den verschiedensten Inhalten gefüllt sein kann. Die Art der Verbindlichkeit der Offenbarung richtet sich immer nach ihrem jeweiligen Inhalt.“ (Ebd.) Die Offenbarungsinhalte, von denen die Dogmatik zu handeln hat, lassen sich, so Elert, im Sinne des Neuen Testaments in zwei Hauptkategorien mit jeweils zwei Unterkategorien differenzieren. „Der erste Unterschied besteht darin, daß die einen auf Gott, die andern auf den Menschen Bezug haben.“ (Elert, 170) Der zweite Unterschied betrifft die interne Differenzierung des solchermaßen Unterschiedenen: „An Gott wird Zorn und Gnade, am Menschen Sünde und Glaube offenbar. Diese vier Unterkategorien entsprechen einander paarweise. Dem Offenbarwerden des Zornes Gottes entspricht das Offenbarwerden der Sünde des Menschen, dem Offenbarwerden seiner Gnade das Offenbarwerden des Glaubens. Das führt unmittelbar zurück auf das Verhältnis von Evangelium und Gesetz. Das Offenbarwerden der Gnade Gottes geschah durch Christus, der den demonstrativen Inhalt des Evangeliums bildet. Auf der andern Seite dient sein Gesetz dazu, daß die Sünde offenbar werde. Damit wird aber zugleich der Zorn Gottes über die Sünde offenbar. Das geschieht teils durch das geschriebene Gesetz, also durch Worte Gottes ..., teils durch seine Werke ..., teils durch Bezeugung ‚in den Herzen‘ und ‚Gewissen‘ .... So oder so stehen alle Menschen unter dem Gesetz Gottes, das über alle, auch über die Unwissenden, verhängt ist ..., folglich auch unter seinem Zorn, und damit sind sie alle als Sünder und vor Gott als unentschuldbar offenbar geworden.“ (Elert, 170f.) Der neutestamentliche Offenbarungsbegriff ratifiziert also den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, statt ihn in sich aufzulösen. „An Gott werden ebenso wie am Menschen zwei Sachverhalte offenbar, die einander widersprechen, an Gott Zorn und Gnade, am Menschen Sünde und Glaube. In beider Hinsicht muß demnach von einer zweifachen Offenbarung gesprochen werden.“ (Elert, 171) Die Zweifachheit oder besser: Zwiespältigkeit Der realdialektische Gegender Offenbarung Gottes lässt sich nach Elert satz von Gesetz und „nicht etwa dadurch auflösen, daß man ihre GelEvangelium tung auf zwei verschiedene Abschnitte der Weltgeschichte verteilt“ (ebd.) oder vergleichbare äußerliche Aufteilungen vornimmt. Sie ist nur in einer theologischen Dialektik wahrzunehmen, die das Bewusstsein des Paradoxalen in sich enthält, das sich rein begrifflich nicht beheben lässt. Das ist

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deshalb der Fall, weil in der Offenbarung der Gegensatz von Gesetz und Evangelium bestätigt und aufgehoben zugleich ist. Bestätigt, weil das Evangelium die Gültigkeit des Gesetzes nicht negiert, sondern voraussetzt; aufgehoben, weil das Evangelium das in seiner Gültigkeit bestätigte Gesetz erledigt: „das Evangeliums gilt uns, oder jetzt deutlicher: es nötigt uns zum Glauben, weil uns das Gesetz Gottes gilt. Erst so wird die Paradoxie ganz fühlbar: gerade das Evangelium bestätigt die Geltung des Gesetzes – desselben Gesetzes, dessen Geltung vom Evangelium aufgehoben wird.“ (Elert, 172) Elert fährt fort: „Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist demnach in doppeltem Sinne dialektisch. Einmal, weil wir auf beide den Begriff der ‚Offenbarung‘ Gottes anwenden können und müssen, obwohl diese Anwendung auf beide in sich widerspruchsvoll ist. Sodann, weil beide unzweifelhaft gelten, obwohl die Geltung des einen die des andern aufhebt und umgekehrt.“ (Ebd.) Einen sinnvollen Zusammenhang vermag dieser begrifflich nicht zu synthetisierende Widerspruch nur darzustellen, insofern er auf den zurückgeführt und von dem her erfasst wird, „auf dessen absoluter Autorität sowohl die Geltung des Gesetzes wie die des Evangeliums und folglich auch der Widerspruch der Geltung beider beruht“ (Elert, 173f.): auf Gott, wie er im Gekreuzigten und Auferstandenen in der Kraft seines Geistes offenbar ist. „Das dialektische Verhältnis von Gesetz und Evangelium, d.h. der in der Form von Rede und Gegenrede zwischen ihnen obwaltende Widerstreit ist ... in der Person Christi, in seinem Leben, Sterben und ... Auferstehen zum Austrag gekommen. Das Offenbarwerden Christi ist Offenbarwerden der Geltung des Gesetzes und der Geltung des Evangeliums. Nur hier, nur in der Person Christi kann deshalb auch die Lösung ihres Widerstreits erfolgen. ‚Gott war in Christo‘, lautet der Demonstrativ des Evangeliums. Deshalb kann er nicht nur wie jeder andere die Stimme des Gesetzes vernehmbar machen, sondern wie kein anderer zum Schweigen bringen. Er allein kann ihr Schweigen gebieten, weil er im Unterschied von allen andern das Gesetz vollkommen erfüllte und vollkommen erlitt. Nur bei ihm ist daher die Aufhebung der Todesordnung des Gesetzes kein Aufstand gegen Gott, der sie verhängte. Er hebt sie auch nicht für sich auf – er selbst hat sie ja vollkommen erlitten –, sondern für die andern. Indem der Bericht von ihm dieses ‚Für euch‘ hinzufügt, wird der Demonstrativ des Evangeliums zum Adhortativ .... Für alle, die den Adhortativ glaubend vernehmen, ist daher das Offenbarwerden Christi das Offenbarwerden der Gnade Gottes und die Verhüllung seines Zornes. Jene paradoxe Tatsache, daß Gottes Zorn sowohl geoffenbart wie verhüllt ist, kann demnach nur im Glauben an Christus, in dem sie offenbar geworden ist, vernommen und verstanden werden.“ (Elert, 175f.) Damit sind die argumentativen Grundlinien der Elert’schen Dogmatik im Wesentlichen skiz- Abskondität Gottes und Kontingenz der Heilserscheinung ziert. Sie lassen sich, wie unter einigen Aspekten Christi ergänzend gezeigt werden soll, in allen Teilbereichen des Werkes identifizieren und verifizieren. Elerts Eingangserwägungen über „Das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes“ zielen dar-

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auf, die Grenzen aller denkbaren und tatsächlichen Selbstverständnisse des Menschen im Hinblick auf eine mögliche Gottesbeziehung zu ermitteln. Die Erörterungen enden in einer Aporie, die mehr und anderes ist als eine gedankliche Schwierigkeit, nämlich theologische Ausweglosigkeit schlechthin. Menschliches Selbstverständnis hat es in jeder seiner Formen mehr oder minder bewusst mit Gott, aber immer nur mit dem verborgenen Gott zu tun, den man nicht lieben, sondern nur hassen kann. Es waltet das Gesetz schicksalhaften Verhängnisses, welches zugrunde richtet. Evangelische Anknüpfungsmöglichkeiten bieten sich nicht. Es ist im Gegenteil so, dass vom Evangelium, wenn überhaupt, nur im Modus strikter Entgegensetzung gegen das Gesetz die Rede sein kann. „Auch die Dogmatik kann diesen Zusammenstoß nicht abschwächen.“ (Elert, 138) Sie hat ihn im Gegenteil als einen Zusammenstoß Gottes mit Gott im Menschen geltend zu machen. Ist doch die Verborgenheit Gottes „paradoxerweise Inhalt seiner eigenen Offenbarung“ (Elert, 190), wie sie im Gesetz statthat, durch welches der Mensch in seinem Menschsein ausweglos vor Gott behaftet ist. Die Abskondität des im Daseinsgesetz des Menschen offenbaren verborgenen Gottes „ist Unerkennbarkeit im furchtbarsten Sinne des Wortes. Das Erkennen im tieferen Sinne ist immer auf ein anderes Du gerichtet. Es ist immer liebendes Erkennen .... Wenn wir das Du eines andern erkennen, ... dann wird unser Auge hell und unser Herz froh. Richten wir aber unser Erkennenwollen auf diesen Gott, dann wird unser Auge dunkel und unser Herz erstarrt. Wir erkennen hier keine Verwandtschaft mit uns, keine Liebe, kein Erbarmen, sondern von allem nur das Gegenteil.“ (Elert, 190f.) Und weiter: „Der Deus absconditus ist keine Hypothese, weder eine Illusion noch Zerstörung einer Illusion. Er ist der absolute Gegensatz zu allem, was wir von uns selbst wissen, haben, denken, sind, wollen, sollen und können. Er ist der absolute Fremde, zu dem es keine Brücke, keinen Weg, keine Verständigungsmöglichkeit gibt. Wir wissen nur, daß er uns entgegensteht. Ihm gegenüber sind wir absolut einsam. Es ist der, welcher uns töten wird. – Das ist es, was durch das Gesetz ‚geoffenbart‘ wird. Es war hier noch einmal mit aller Schärfe auszusprechen, um jeden Versuch, den Gegensatz von Gesetz und Evangelium in dem übergeordneten Begriff der Offenbarung aufzulösen, unmöglich zu machen.“ (Elert, 191) Der Gegensatz von Gesetz und Evangelium ist abgründiger als derjenige von Tod und Leben und in seiner Alternativität so unvergleichlich wie derjenige von Hölle und Himmel. Vom Daseinsgesetz des Menschen her lässt sich die Ankunft des Evangeliums in Jesus Christus daher mitnichten plausibel machen. Die historisch-kritische Unvermitteltheit von Elerts Erörterungen zur Geschichtlichkeit Jesu Christi bestätigen dies auf signifikante Weise, sofern sie ihren unvermittelten Einsatz systematisch dadurch als sachgemäß zu erweisen suchen, dass sie die Zufälligkeit der Erscheinung Christi in der vermittlungslosen Unmittelbarkeit ihrer historischen Kontingenz als offenbarungstheologisch notwendig und wesentlich herausstellen. Durch die historische Zufälligkeit, in der Christi Person begegnet, erhält sie „eine Dringlichkeit, die eine Vernunftwahrheit niemals haben kann. Über Wahr-

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heiten, wie Lessing sie im Auge hat, kann man, wie es heute heißt, ein ‚Gespräch führen‘. Man kann sie sich allmählich aneignen. Man kann sie auch wieder vergessen. Das alles gibt es bei der persönlichen Begegnung nicht.“ (Elert, 195) Um eine persönliche Begegnung, die aus keinem vorgefassten Welt- und Selbstverständnis zu deduzieren ist, sondern sich kontingent ereignet, handelt es sich nicht nur bei der Geschichte, von der das apostolische Christuszeugnis berichtet, welches historisch zu hintergehen Elert für theologisch unmöglich hält, sondern ebenso bei jenem Geschehen, durch welches sich Christus in der Kraft des göttlichen Geistes heute ereignet, ohne dass dadurch das Praeteritum seiner irdischen Existenz nach Weise abstrakter Vergleichzeitigung übersprungen werden sollte. Wie immer das Verhältnis von damals und heute geschichtstheologisch-christologisch-pneumatologisch präzise zu fassen ist: In beiden Fällen handelt es sich um ein Ereignis kontingenten Betroffenwerdens. Auch was die Lehre von der Heiligen Schrift anbelangt, so geht es letztlich darum, dass der Leser und Hörer des Worts betroffen sei: „Um die Heilige Schrift zu verstehen“, sagt Elert, „muß man ... nicht nur ermitteln, was gemeint ist, sondern auch, wer gemeint ist, nämlich kein andrer als der Leser und Exeget selber. Die Bereitschaft, sich selbst gemeint zu wissen, ist der Glaube .... Mit andern Worten: Die Schrift wird nur als Wort Gottes richtig verstanden, wenn der Exeget bereit ist, sich selber dem hier redenden Herrn auszuliefern, d.h. aus dem, was er verstehen will, das Urteil Gottes über sich selbst zu empfangen.“ (Elert, 238) Von „Gott selbst“, näherhin von der DreifalDer dreieinige Gott im Widertigkeit sowie vom Wesen und Wirken Gottes streit von Gericht und Gnade handelt Elert im dritten Abschnitt seiner Dogmatik. Dabei kann es sich nach seinem Dafürhalten nicht darum handeln, ein Ansichsein Gottes zu bedenken, das nicht als solches immer schon Für-uns- bzw. Für-mich-Sein wäre. Aus der Betroffenheitssituation kann und darf sich die Theologie auch und gerade in der Gotteslehre nicht entfernen. Denn auch und gerade von der Wirklichkeit des trinitarischen Wesens und Wirkens Gottes kann nur in der Gestalt von Gesetz und Evangelium die Rede sein, „d.h. so, daß der Mensch auf Tod und Leben davon betroffen wird. Glaube ist nicht ein Urteil über Gott, sondern Empfang des Urteils Gottes über den Menschen. Dieses Urteil wird aber nur als Gottes Urteil empfangen, weil hier ‚Gott selbst‘ urteilt. Es kann nicht unter Vorbehalten empfangen werden, auch nicht unter dem Vorbehalt, daß ‚Gott an sich‘ möglicherweise ein anderer ist als der in seinem Urteil offenbare Gott.“ (Elert, 277) Was Elert im Folgenden über Gott, den Schöpfer und Erhalter, Gott, den in Jesus Christus wirksamen Versöhner, und über Gott, den Heiligen Geist, sowie den pneumatologischen Prozess des Existenzwandels zu sagen weiß, sagt er unter der Voraussetzung dieses Grundsatzes. Wie der Offenbarungsbegriff ist auch die Lehre von der Trinität, die ihm sein theologisches Format gibt, nach Elerts Urteil unverzichtbar. Aber beide werden lediglich formal und damit zuletzt gegen ihren eigentümlichen Sinn gebraucht, wenn sie nicht auf die Gesetz-Evangeliums-Thematik konzentriert werden, die ihre inhaltliche Bestimmtheit ausmacht. Der als der drei-

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einige offenbare Gott ist als „deus absconditus“ und „deus revelatus“ offenbar. Sein Wirken in der Geschichte erscheint – und man wird wohl sagen müssen: ist – ein gänzlich anderes im Lichte des Gesetzes als im Lichte des Evangeliums. Im Lichte des Gesetzes gilt: „Der Gott, der mich und alle für etwas verantwortlich macht, was wir gar nicht leisten oder nicht vermeiden können, weil wir keine andre Freiheit als die zum Widerspruch gegen ihn haben, ist für uns der verborgene Gott. Weil er der Herr der Geschichte ist und weil es vor seinem Gesetz kein Entrinnen gibt, darum vollzieht sich in der Geschichte das Verhängnis des Schuldigwerdenmüssens aller.“ (Elert, 341) Im Lichte des Evangeliums hingegen tritt in der Unheilsgeschichte unvermittelt das Heil zutage, um durch den Glauben in einer Betroffenheit empfangen zu werden, die nur mit derjenigen, die Verzweiflung wirkt, verglichen werden kann. Zugleich ist sie von unvergleichlich anderer Art als diese, nämlich nichts als reine Freude, welche kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat. Elerts Lehre von den letzten Dingen im siebten und letzten Abschnitt seiner Dogmatik findet die eschatologische Erfüllung entsprechend in einer Vollendung, in der Hören und Sehen definitiv vergangen sind. Die Organisationsprinzipien der Elert’schen Dogmatik sind mit der Offenbarungs- und Trinitätslehre sowie der Gesetz- und Evangeliumsthematik gegeben. Wie sich die zwiespältige Offenbarung des dreieinigen Gottes so wahrnehmen lässt, dass kein Dualismus sein trinitarisches Wesen zersetzt, ist die entscheidende Frage, die sich mit Elerts Systementwurf verbindet. In dessen christozentrischer Mitte tritt das Problem am deutlichsten zutage: Warum der durch das Gesetz zugrunde gerichtete Gekreuzigte der Auferstandene ist, weiß keiner zu sagen – es sei denn der Auferstandene selbst und derjenige, dem Gottes Heiliger Geist ebenso unvorhersehbare wie unerhörte Ostergewissheit erschließt: „Glauben wir dem Evangelium, so empfangen wir die Erlösung vom Gesetz – ohne daß damit das Gesetz als Gottes Wille und Offenbarung bestritten werden darf. Wir wissen nur, daß der Widerstreit die Einheit des göttlichen Du im Verhältnis zu uns nicht aufhebt. Wir bekennen das im Glauben an Gottes Heiligkeit, die den Widerstreit von Zorn und Gnade in sich begreift wie auch begrenzt ... Wir können aber gerade aus diesem Grunde auch nicht sagen, durch das Versöhnungswerk seines Sohnes sei die Spannung von Heiligkeit und Liebe gelöst. Eine andere Liebe als heilige Liebe ist in Gott nicht vorstellbar. Wir müssen es daher bei dem Glauben bewenden lassen, daß die Liebe, die ihn zur Sendung des Sohnes, zum Empfang der Sühne aus seinem Opfergang, zur Versöhnung mit der Welt bewegte, eben diese heilige Liebe gewesen ist.“ (Elert, 426f.) Werner Elerts Lehre von der Zwiespältigkeit der Ur- und Heilsoffenbarung bei Offenbarung findet sich auch bei seinem ErlanAlthaus ger Kollegen Paul Althaus (1888–1966), wenngleich in abgemilderter Form. In einem hannoverschen-lutherischen Theologenhaus geboren – sein Vater Paul Althaus d. Ä. war Theologieprofessor in Göttingen und Leipzig – studierte Althaus in Tübingen und Göttingen, wo insbesondere A. Schlatter und C. Stange auf ihn einwirkten. Ansonsten waren vor allem Martin

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Kähler und Karl Heim prägend. Seine akademische Erstlingsarbeit widmete Althaus den Prinzipien der reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik, namentlich ihrer Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung (1914). Nach gut eineinhalb Jahrzehnten Lehrtätigkeit in Rostock erfolgte 1925 der Wechsel nach Erlangen, wo Althaus trotz mehrerer Rufe blieb und in Kontrastharmonie mit Werner Elert wirkte. Im Zuge der sog. Entnazifizierung wurde er kurzzeitig seines Amtes enthoben. Wesentlich veranlasst war dies durch – im Kontext seiner Ordnungstheologie vertretene – Thesen über „Obrigkeit und Führertum“ (1936) sowie durch andere Schriften zur politischen Ethik aus den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Erwähnt seien, wie schon bei Elert, das „Theologische Gutachten über die Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu den Ämtern der deutschen Evangelischen Kirche“ von 1933 sowie der sog. Ansbacher Ratschlag zur Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Akademisch ist Althaus als Lutherforscher, als Neutestamentler sowie als Dogmatiker und Ethiker hervorgetreten. Die erst wenige Jahre vor seinem Tod 1962 bzw. 1965 erschienenen Studien über die Theologie und Ethik Martin Luthers sind samt ihren vielfältigen Vorarbeiten durch ein von Karl Holl (1866–1926) geprägtes theo- und staurozentrisches Verständnis der Lehre von der Rechtfertigung bestimmt, die als Mitte des Glaubens und als Vorzeichen alles christlichen Handelns verstanden wird. An der lutherischen Reihenfolge von Gesetz und Evangelium wird gegen Barths Umkehrung dezidiert festgehalten, wobei die von Elert abweichende Annahme eines „tertius usus legis“ die Verpflichtung und Befähigung des Glaubens zu neuem Gehorsam und zum Fortschritt auf dem Wege der Heiligung unterstreicht (vgl. u.a. Paulus und Luther über den Menschen, 1938). Unbeschadet seiner entschieden lutherischen Ausrichtung hat Althaus die Unterschiede zwischen Wittenberger und Genfer Reformation eher relativiert und mit seiner Abendmahlsauffassung (Die lutherische Abendmahlslehre in der Gegenwart, 1931) den Arnoldshainer Thesen und damit letztlich der Leuenberger Konkordie zugearbeitet. Seine Ekklesiologie hat er monographisch in der Schrift „Communio Sanctorum. Die Gemeinde im lutherischen Kirchengedanken“ von 1929, die Eschatologie in seinem Werk über „Die letzten Dinge“ entwickelt, das seit der vierten Auflage von 1933 neben dem Aspekt individueller Verewigung auch einen endgeschichtlichen enthält. Als Neutestamentler hat sich Althaus besonders um die Auslegung der paulinischen Hauptschriften bemüht. Gegen Emanuel Hirsch’s psychologische Erklärung suchte er in einer Schrift von 1940 „Die Wahrheit des kirchlichen Osterglaubens“ zu verteidigen. Die Ostererscheinungen seien in einem wirklichen Geschehensgrund fundiert, der das Gemeindekerygma zugleich an den historischen Jesus rückbinde. Das Kerygma sei nicht bloß Wort, sondern Zeugnis von überlieferten Tatsachen. Damit ist die Position markiert, die Althaus im Streit um Bultmann einnahm und neben seiner Dogmatik vor allem in einer Schrift über „Das sogenannte Kerygma und der historische Jesus“ von 1958 im Detail ausgearbeitet hat. Was das Verständnis der göttlichen Offenbarung betrifft, so teilt Althaus mit Elert

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die These ihrer Zwiespältigkeit, die er allerdings anders akzentuiert. Die Offenbarung geschieht ihm zufolge in der Doppelheit von Ur- und Heilsoffenbarung. Die Notwendigkeit dieser insbesondere in Auseinandersetzung mit Karl Barth (aber auch mit Karl Heim) seit jeher vertretenen Annahme hat Althaus in dem 1929/32 (21936) in zwei Teilen erschienenen „Grundriß der Dogmatik“ und sodann in dem ebenfalls zweiteiligen Werk „Die christliche Wahrheit“ als der ausgereiften Form seiner Dogmatik von 1947/48 detailliert begründet. Dabei legt er Wert auf die Feststellung, dass die Uroffenbarungslehre von einer „offenbarungslosen natürlichen Theologie“ (Althaus I, 45), der Althaus mit massiver Kritik begegnet, strikt zu unterscheiden sei. Der theologische Grund der Notwendigkeit christlicher Lehre von der Uroffenbarung sei wesentlich in der Rückbeziehung der Heilsoffenbarung auf diese zu finden. Als Botschaft von der Schuldvergebung ist das Evangelium seinem eigenen Wesen nach auf vorgegebene Wahrheit bezogen, die sie bestätigt, an der sie sich bewährt und die sie erfüllt. „Das Evangelium ist also durch und durch ‚Anknüpfung‘ – zwar nicht einfach an die Religion des Menschen, an seine ‚natürliche Theologie‘, aber an die in ihr trotz allem wirksame Ur-Offenbarung.“ (Althaus I, 51) Hinzuzufügen ist, dass die Vorsilbe Ur- bzw. das Beiwort „ursprünglich“ nicht im historischen, sondern im prinzipiellen Sinn verstanden werden wollen. „Sie sagen von der gemeinten Offenbarung nicht, daß sie ihren Ort am Anfange der menschlichen Geschichte hatte, daß sie nur an das erste Geschlecht der Menschen geschah; sondern, daß sie von der Heils-Offenbarung Gottes schon vorausgesetzt wird, daß sie ihr zugrunde liegt, daß diese sich auf sie wesentlich zurückbezieht. Nicht von einem Präteritum ist die Rede, sondern von einem Präsens, das aber dem Perfectum präsens der Heils-Offenbarung wesentlich immer schon voraufgeht. Wir suchen die Ur-Offenbarung nicht am Anfange der Geschichte der Religion, sondern überall ‚hinter‘ ihr, in diesem Sinne natürlich auch am Anfange. Die Frage nach dem Anfange als historische ist kein theologisches Thema. Die Dogmatik hat nicht die historische Geschichte der Menschheit zu erzählen oder zu konstruieren, sondern die Existenz des Menschen und der Menschheit vor Gott zu verstehen. Sie hat es immer mit dem gegenwärtigen Menschen zu tun, mit dem vergangenen, sofern er mit mir, dem gegenwärtigen, einer und derselbe ist.“ (Althaus I, 50) Die ursprüngliche Selbstbezeugung Gottes, wie Schöpfungsordnung und er sie gegen den nach seinem Urteil „engen chrisDaseinsnot tomonistischen Offenbarungsgedanken“ (Althaus I, 67) namentlich Karl Barths und in Aufnahme Brunner’scher Tendenzen lehrt, findet Althaus in der Existenz des Menschen (vgl. Althaus I, 73–85), im geschichtlichen Leben (vgl. Althaus I, 85–90), in Bezug auf das theoretische Denken (vgl. Althaus I, 91–95) und die Wahrheitbeziehung des Geistes (vgl. Althaus I, 95– 98) sowie in der Natur (vgl. Althaus I, 99–107). In diesen Zusammenhang gehört auch die Lehre von den sog. Schöpfungsordnungen wie Ehe, Volkstum, Recht, Staat und Wirtschaft (vgl. Theologie der Ordnungen, 1934), welche die Ethik von Althaus entscheidend bestimmen. In der schlechthinnigen Gewirktheit und unbe-

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dingten Beanspruchung unseres Daseins, in der Wahrnehmung menschlicher Verantwortung und der Ahnung übermenschlicher Führung, in dem Bedürfnis theoretischer und praktischer Vernunft, einen fundierenden Grund ihrer selbst zu erkennen, im geistigen Bewusstsein verbindlicher Wahrheit etc., schließlich in dem geheimnisvollen Dasein extrahumaner Natur und ihrer Ordnung bezeugt sich ein Ursprüngliches, das die Theologie im Lichte des Evangeliums als Grundoffenbarung Gottes zu deuten und mit der Einsicht zu verbinden hat: Religion ist anthropologisch unvermeidbar, weil zur „conditio humana“ unveräußerlich hinzugehörend. Zu differenzieren ist diese Einsicht auf zweifache Weise: Religion transzendiert die Sphäre des bloß Humanen und lässt sich daher nicht rein humanistisch, sondern nur theologisch recht begreifen; Religion im eigentlichen Sinne ist dort gegeben, wo das religiöse Verhältnis als solches bewusst und explizit wird. „Religion ist das bewußte Verhältnis des Menschen zu dem ihm sich bezeugenden Gott: der Mensch anerkennt die Wirklichkeit Gottes in Beugung und Hingabe und sucht bei ihm die Heilung der ihm gegenüber erfahrenen, sonst unaufhebbaren Daseins-Not.“ (Althaus I, 111f.; bei A. gesperrt) Die Daseinsnot menschlicher Existenz ist keineswegs die abstrakte Negation von deren Würde, sondern der erfahrene Widerspruch zu ihr, der sich in seiner Tiefe nur im Bewusstsein der Menschenwürde und damit der geschöpflichen Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit erfassen lässt. Die Uroffenbarung offenbart indes nicht nur den Menschen im Widerspruch, sondern lässt auch Gott selbst als widersprüchlich erscheinen. Das uroffenbarungstheologisch zu bedenkende religiöse Wissen von Gott erweist sich so an sich selbst als jenes Nichtwissen, das es zugleich ist. Der in der Offenbarung sich bezeugende Gott ist der verborgene, der „deus absconditus“. „Die Erfahrung und Not der Verborgenheit Gottes setzt seine Selbstbezeugung voraus. Sie entsteht an ihr. Denn diese und nichts anderes setzt den Widerspruch unseres Daseins, durch den Gottes Wille über uns fraglich wird und verborgen bleibt. Die Dogmatik kann also nicht mit der Verborgenheit Gottes einsetzen, sondern muß, gerade wenn sie als das letzte Wort über die Existenz des Menschen ohne Christus das von der heillosen Verborgenheit Gottes zu sagen hat, mit der Selbstbezeugung Gottes beginnen. Nur weil wir um Gott wissen, erleiden wir die Not seiner Verborgenheit. Weil er sich uns nicht unbezeugt gelassen hat, bedrängt uns die Frage, auf die wir keine Antwort bekommen. Nur als der Deus revelatus – im Sinne unseres Begriffes der Selbstbezeugung – ist Gott für uns der Deus absconditus, nämlich der, dessen Wille über uns verborgen ist.“ (Althaus I, 111) Die Uroffenbarungslehre endet also mit der Wahrnehmung einer manifesten Aporie, deren Erkenntnis ihre theologische Bestimmung ist. Heilsam kann diese Erkenntnis eo ipso nicht sein. Heil kann nur von einer zweiten, auf die erste zwar rückbezogenen, aber gänzlich anderen Offenbarung kommen: von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Heilsoffenbarung Gottes, welche sein Wort an Israel, das die Uroffenbarung vollendet Das Heil in Christus und zugleich über sie hinausweist, vorbereitet

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(vgl. Althaus I, 113–120), ist in der „Gottes-Vollmacht Jesu zur Versöhnung und Erlösung der Menschheit“ (Althaus I, 121) inbegriffen, welche das Evangelium zum Inhalt hat und geistesmächtig in seiner Wahrheit bewährt. Historische Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit der Geschichte Jesu lassen sich dabei nicht trennen, sondern bilden einen differenzierten Zusammenhang, wobei es für die Christologie von Althaus durchaus kennzeichnend ist, dass er die Frage nach der Gegenwärtigkeit der Geschichte Jesu für uns derjenigen nach ihrer historischen Tatsächlichkeit vorangehen lässt. Indes wird doch darauf insistiert, dass die vergangene einmalige Geschichte Jesu, wie sie kraft des Heiligen Geistes in der kirchlichen Verkündigung des Evangeliums wirksam ist, in Form eines eindeutigen Bildes seines Personlebens historisch fassbar ist und von sich auf das Osterkerygma der Gemeinde verweist. Methodisch muss die Christologie daher, wie Althaus namentlich gegen Emil Brunners „Mittler“ von 1937 einwendet, zunächst den Weg „von unten nach oben“ gehen, um erst dann „von oben nach unten“ fortzuschreiten. Auch kann sie den Grund des Glaubens an Jesus Christus nicht in der Weise des Rückschlusses von dessen Wirkung im Menschen erreichen, sondern nur im Blick auf dessen personale Vollmacht. Aus diesem Grund folgt die Soteriologie bei Althaus erst auf die Christologie im engeren Sinn, sosehr Christi Werk mit seiner Person untrennbar verbunden ist. Inhalt der Soteriologie ist die staurologisch konzentrierte Versöhnungslehre, welche die Lehre von der Erlösung impliziert, sowie die Lehre von Höllen- und Himmelfahrt bzw. Erhöhung Jesu Christi. Der erhöhte Jesus Christus ist kraft des göttlichen Geistes heilsgegenwärtig in seiner Kirche. Die diesbezüglichen Paragraphen beinhalten die Pneumatologie als Lehre vom Heiligen Geist, die Ekklesiologie, in der vom Wesen der Kirche, vom kirchlichen Amt, von Kirche als Gemeinde, von Kirchentum und Kirche gehandelt wird und sodann von Verkündigung, Schlüsselamt, Wort und Sakrament, Taufe und Abendmahl. Erörterungen über die Wirklichkeit des Heils im Glauben mit den Themen von Rechtfertigung, Erwählung und Heilsgewissheit, Prädestination, Sinngebung der Schicksale, Glaube als neues Leben und dessen Bedeutung schließen sich an. Argumentationsleitend ist der Rechtfertigungsbegriff in diesem Zusammenhang insofern, als in ihm „Gesetz und Evangelium in ihrer Einheit und in ihrem Widerstreite so wie in keinem anderen Ausdrucke für die Sache eng und hart zusammen(treten)“ (Althaus II, 403). Es gilt: „a) Das Evangelium setzt die Gültigkeit des Gesetzes voraus und bestätigt sie.“ (Ebd.; bei A. kursiv) „b) Zugleich durchbricht das Evangelium das Gesetz als Ordnung des Verhältnisses Gottes und des Menschen.“ (Althaus II, 404; bei A. kursiv) Da aber auch der Glaube, der seinem Wesen nach Rechtfertigungsglaube ist, in der Dialektik von Gesetz und Evangelium seinen Grund und sein Wesen hat, kann deren rechtes Verständnis als das Zentralproblem Althaus’scher Theologie identifiziert werden. Als begrifflich bestimmte kritische Darstellung Heilsgeschichte und Eschatoder in Gottes Offenbarung dem Glauben sich logie erschließenden Erkenntnis durch die Prolegomena nach Ursprung, Inhalt sowie theologischer und eschatologischer Grenze funda-

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mentaltheologisch gekennzeichnet (vgl. Althaus I, 285–310), ist die Dogmatik in ihrem Durchführungsteil darauf angelegt, Gottes gnädiges Handeln mit der Menschheit zur Gemeinschaft mit ihm in seinem Reiche im Dienste aktueller kirchlicher Verkündigung im Einzelnen darzulegen. Der Inhalt der materialen Dogmatik gliedert sich nach Maßgabe dieses Grundsatzes, der ihr in verknappter Form voransteht, „nach den Hauptmomenten der Geschichte Gottes mit der Menschheit, zwischen denen sie sich spannt“ (Althaus I, 308). Gehandelt wird von Welt und Mensch als Kreatur Gottes, von menschlicher Sünde und Gottes Gericht, von Jesus Christus als Versöhner und dem Anbruch der neuen Schöpfung sowie von den letzten Dingen. Zu bedenken ist dabei die doppelte Spannung, welche durch die Geschichte Gottes mit der Menschheit geht: „Die ursprüngliche der Schöpfung auf die Vollendung, die durch die Sünde erst entstandene der Schöpfung auf die Erlösung. Beide finden ihre Lösung in Christus, dem Gekommenen und dem Kommenden; beide im Reiche Gottes, das nicht nur Erlösung, sondern auch Vollendung durch neue Schöpfung ist – Vollendung, bezogen nicht allein auf den Anfang der Erlösung im Christenleben, sondern auch auf die ursprüngliche Schöpfung, den Urstand.“ (Althaus I, 310) Nach Maßgabe der Gesamtanlage der Althaus’schen Materialdogmatik wird das Gesetz-EvangeliumThema somit in eine heilsgeschichtliche Perspektive gerückt und damit temporalisiert und, wenn man so will, eschatologisiert. Strukturell wird es fernerhin dadurch differenziert, dass Althaus den – wohlgemerkt nicht schon vollendeten, sondern auf Vollendung hin angelegten – sog. Urstand mit dem Begriff des Gebotes assoziiert, auf welchen die soteriologisch bestimmte Paränese zurückkommt, wohingegen das mit Christus zu Ende gekommene Gesetz – mit dem Gebot materialiter identisch, aber formaliter gegensätzlich zu ihm – auf den „status corruptionis“ des gefallenen Sünders bezogen wird. Analog zur inneren Verfasstheit der Uroffenbarungslehre in ihrem differenzierten Zusam- Die Abgründigkeit der Sünde menhang mit der Lehre von der Heilsoffenbarung stehen bei Althaus Schöpfungs- und Sündenlehre in einem untrennbaren Beziehungszusammenhang, der seinerseits in einem Unterscheidungen erfordernden und Trennungen verbietenden Bezug zur Christologie und zur Pneumatologie steht. Was den Beziehungszusammenhang von Schöpfungs- und Sündenlehre anbelangt, so tritt seine Verfassung in Sonderheit an der Imagolehre bzw. an dem Problem zutage, wie über die Gottebenbildlichkeit des sündigen Menschen zu urteilen sei. Althaus spricht unter Verweis auf die Doppelheit des biblischen Sprachgebrauchs vom Menschen als Ebenbild Gottes im zweifachen Sinne wesenhafter Bestimmung des Menschen für Gott und der Erfüllung dieser Bestimmung an ihm. Damit verbindet sich eine entsprechende hamartiologische Differenzierung: „Unverloren und unverlierbar ist die wesensmäßige Bestimmung des Menschen für Gott, in der er verfaßt ist, das Sein vor Gott als personhafte und verantwortliche Willentlichkeit. Verloren ist die Freiheit für Gott als Kraft der Hingabe an ihn, verloren das Sein für Gott als Erfüllung der Bestimmung.“ (Althaus II, 100) Ver-

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möge seiner personhaften und verantwortlichen Willigkeit ist der Mensch auch als gefallener Sünder Gottes Geschöpf, dem die Schuld seiner Sünde zuzurechnen ist, wobei zu gelten hat, dass die Sünde als radikale Personsünde zugleich Menschheitssünde, also eine nicht nur individuelle, sondern menschheitlich-universelle Wirklichkeit ist. Das Unwesen dieser Wirklichkeit, in welche auf ihre Weise auch die extrahumane Kreatur verstrickt ist und deren bodenlose Abgründigkeit auf eine übermenschliche Macht des Bösen verweist (vgl. Althaus II, 152–161), besteht im Widerspruch gegen Gott, der immer auch Widerspruch gegen die geschöpfliche Bestimmung des Menschen ist. Der sündige Mensch hat dabei nicht nur als in sich widersprüchlich, sondern als Widerspruch in sich zu gelten, mit all den widrigen Folgen, die dieser Widerspruch für Selbst und Welt zeitigt. Die verheerendste Folge der Sünde, die nichts anderes ist als die Hölle selbst, lässt sich dabei so umschreiben: Dem gottwidrigen Menschen ist Gott zuwider und zwar nicht nur scheinbar, sondern in einer vom widrigen Wesen der Sünde und ihrem falschen Schein selbst hervorgerufenen Tatsächlichkeit. „Sünde und Gottes Gericht“ ist entsprechend die Hamartiologie von Althaus überschrieben; auf einen ersten Abschnitt „Der Mensch wider Gott“ folgt ein zweiter: „Gott wider den Menschen“. „Gott antwortet der Auflehnung des Menschen gegen ihn mit seinem Widerstande. Der Mensch steht wider Gott. Gottes Antwort ist, daß er wider den Menschen steht. Der Mensch versagt sich dem Anspruch Gottes, der in dem Angebote seiner Liebe liegt. Gott hält dennoch an seinem Anspruch fest. Wird er nicht in der freien Hingabe des Menschen verwirklicht und erfüllt, so muß der Anspruch an und auf den Menschen sich nun wider ihn geltend machen. Das ewige Ja der Liebe Gottes zum Menschen muß dessen Nein gegenüber zum Nein Gottes wider des Menschen Nein werden.“ (Althaus II, 162) Als drittes Fallbeispiel sei schließlich noch EmaDie antithetische Gestalt des nuel Hirsch (1888–1972) und sein OffenbaOffenbarungsbegriffes bei rungsverständnis angeführt: Im BrandenburgHirsch ischen als Pfarrerssohn geboren, studierte Hirsch von 1906–1910 an der Berliner Theologischen Fakultät, um nach einer kurzen Hauslehrertätigkeit seit 1912 als Inspektor am Theologischen Stift der Göttinger Theologischen Fakultät tätig zu sein. Mit einer Arbeit zu Fichtes Religionsphilosophie 1914 in Göttingen promoviert und mit einer Schrift zu Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie 1920 in Bonn habilitiert, wurde Hirsch 1921 auf einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte nach Göttingen berufen. 1936 wechselte er das Fach und wurde Nachfolger von Georg Wobbermin (1869–1943) auf dem Lehrstuhl für „Systematische Theologie und Geschichte der Theologie“, wo er bis zu seiner Versetzung in den frühzeitigen Ruhestand im Jahre 1945 lehrte. Der anfänglich freundliche Kontakt zu Karl Barth in Göttingen wurde zunehmend von politischen Kontroversen überlagert, die auch den Bruch der Freundschaft mit Paul Tillich bewirkten. Im sog. Dritten Reich ist Emanuel Hirsch für das – so der Titel einer 1933 erschienenen Schrift – kirchliche Wollen der deutschen Christen eingetreten. Auch nach seinem Ausschluss vom akademischen Lehramt war er

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trotz seiner fast völligen Erblindung bis zu seinem Tode literarisch außerordentlich produktiv. Sein Werk umfasst Editionen zu Luther und Schleiermacher, Übersetzungen namentlich zu Kierkegaard, Textbücher wie das „Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik“ von 1937, neutestamentliche Untersuchungen, historische Arbeiten zur reformatorischen Theologie und insbesondere zur neuzeitlichen Theologieund Philosophiegeschichte, welche die Umformungskrise des christlichen Denkens in der Neuzeit zum Inhalt haben. Hervorzuheben ist dabei besonders sein „opus magnum“ über die „Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens“, das – 1946 abgeschlossen – in den Jahren 1949–1954 in fünf Bänden erschien. Für das systematisch-theologische Werk von Hirsch, das von zahllosen kirchenpolitischen Stellungnahmen und Predigten samt einem homiletischen Werk begleitet ist, wurde neben dem Studium Fichtes und der Philosophie des Deutschen Idealismus vor allem Luther wichtig, der ihm besonders durch Karl Holl zugänglich wurde. Zentral bestimmt ist das systematische Denken von Hirsch durch die in der nachreformatorischen Zeit sich vorbereitende, im 20. Jahrhundert zum Durchbruch gelangende Krise im Verhältnis von christlichem Glauben und allgemeinem Wahrheitsbewusstsein. Grundzüge einer Neugestaltung der Theologie unter den Bedingungen des modernen Wahrheitsbewusstseins, wie sie ihm vorschwebte, hat Hirsch in seinem „Leitfaden zur christlichen Lehre“ von 1938 entwickelt. Diesen Leitfaden hat er zur Vorbereitung seines Kollegvortrags zwischen Oktober 1938 und Februar 1940 mit Erläuterungen und zwischen Februar 1940 und September 1945 mit präzise datierten Ergänzungen versehen. Im Verein mit den Erläuterungen und Ergänzungen ist der „Leitfaden zur christlichen Lehre“ in der Werkausgabe von Hirsch (III/1, 1 und 2) unter dem Titel „Christliche Rechenschaft“ 1978 wieder abgedruckt worden. Auch bei Hirsch nimmt der Offenbarungsbegriff antithetische Gestalt an, wobei es das Verhältnis von Gesetz und Evangelium als Zusammenhang begrifflich nicht synthetisierbarer Differenz ist, welches die gesamte dogmatische Argumentation strukturiert und bestimmt. Formal wird das dadurch erkennbar, dass die Dogmatik des Hirsch’schen „Leitfadens der christlichen Lehre“ in zwei Teile zerfällt. Der erste ist dem Selbstverständnis des Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit, der zweite der Erkenntnis der christlichen Wahrheit gewidmet, wie sie im Glauben an das Evangelium empfangen wird. Im ersten entwickelt die sog. philosophische Dogmatik aus christlich vertiefter und begrenzter Humanität heraus Basisaussagen über die Wahrheit, über Gott und Mensch, die in der, wenn man so will, theologischen Dogmatik sodann unter den Gesichtspunkten von Wort, Glaube und christlicher Gemeinschaft ihrer evangelischen Bedeutung und Sinnbestimmung zugeführt werden. Bevor auf die Inhalte beider Teile näher einzugehen ist, sei zunächst das Problem ihrer Zuordnung erörtert, weil sich in diesem Zusammenhang am besten erkennen lässt, wie Hirsch’s Offenbarungstheologie von der Gesetz-Evangeliums-Thematik strukturiert ist.

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Die entscheidende oder, wie Hirsch auch sagen kann, letzte Offenbarung ist die der Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen zum Schicksal werdende Begegnung mit dem Menschen Jesus und dem Sein Gottes in ihm. Diese Offenbarung ereignet sich unbedingt, aber nicht voraussetzungslos. Sie setzt vielmehr voraus, „daß Gott im menschlichen Leben als solchem allenthalben gegenwärtig offenbar ist, aber mit einer Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit, die im Menschen die Frage nach ganzer, vollkommner Offenbarung wachruft .... Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich das Verhältnis des Humanen und des Christlichen so verstehen, daß das Humane wahrhaftig bleibt, wenn es gläubig im Christlichen die Wahrheit erkennt, und daß das Christliche dem Humanen sich bietet nicht als der Pflicht begründende Anspruch eines fremden Gottes, sondern als Erlösung aus Selbstentfremdung und Gefangenschaft zu dem hin, dazu es angelegt ist.“ (Hirsch II, 9) Hirsch verdeutlich dies durch die formelle Unterscheidung zwischen einer das Gewissen vertiefenden und einer es verwandelnden Offenbarung: „die erste hellt mir das Gottesverhältnis auf, in dem ich schon bin, die andre gibt mir ein irgendwie gegensätzlich zu dem bisherigen bestimmtes Gottesverhältnis. Es fragt sich, ob diese Unterscheidung einer inhaltlichen Bestimmung fähig ist, vermöge der die Aussage, die Begegnung des Gewissens mit dem Menschen Jesus sei die entscheidende Offenbarung und als solche dem Gläubigen die regierende Mitte aller Offenbarung, sinnhaft wird.“ (Hirsch II, 10) Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, welche zugleich als die inhaltliche Bestimmung der formellen Differenzierung einer das Gewissen vertiefenden und es verwandelnden Offenbarung zu gelten hat. Um deutlich zu machen, inwiefern der differenzierte Zusammenhang von Gesetz und Evangelium der Schlüssel zum rechten Verständnis des Verhältnisses von vertiefender und verwandelnder Offenbarung ist, grenzt sich Hirsch zunächst vom alten Lehrschema ab, welches zwischen natürlicher und übernatürlicher, vernünftiger und übervernünftiger bzw. allgemeiner und besonderer Offenbarung unterscheidet. Dem wird im Anschluss an Kierkegaard entgegengehalten, „daß Offenbarung immer ein durch Gott bestimmtes menschliches Sein in uns setzt“ (Hirsch II, 14). „Wir können in dem Sein mit Gott, das wir schon haben, durch Offenbarung vertieft werden ..., oder durch Offenbarung verwandelt werde(n), was dann eine das Menschsein betreffende Entgegensetzung in sich schließt.“ (Ebd.) Das Maß, an dem der christliche Glaube Vertiefung und Verwandlung unterscheidet, ist dasjenige von Gesetz und Evangelium. Das ist deshalb der Fall, weil es für einen sich klar verstehenden christlichen Glauben eigentümlich ist, „Gottes Sich-offenbaren als in antithetischer Zweigestalt geschehend gegenwärtig zu haben. In der rätselhaften und widersprüchlichen Gottesbeziehung, die jeder Mensch in seinem geschichtlichen Dasein erfährt, indem er es nach dem darin an ihm waltenden Gesetz des Lebens und der darin ihm gewährten Bestimmung vor Gott im Gewissen durchlebt, erkennt christlicher Glaube Gottes Gesetzesoffenbarung. Ihr stellt er die dem Gewissen in der Begegnung mit dem Menschen Jesus sich schenkende Vertiefende und verwandelnde Offenbarung

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Gewißheit Gottes als des, der die mir ewig das Leben tragende, mich zu ihrem Kinde grundlos nehmende Liebe ist, gegenüber als Gottes den Menschen unter dem Gesetz vom Gesetz freimachende Evangeliumsoffenbarung.“ (Hirsch II, 16) Damit ist der Sachgrund für die Unterscheidung von Dogmatik I und Dogmatik II in Hirschs System im Wesentlichen benannt. Was nach traditioneller Nomenklatur Gesetzesoffenbarung heißt, beschreibt Dogmatik I als Gesetzesoffenbarung menschliches Gottesverhältnis nach allen seinen lebendigen inneren Beziehungen und zwar unter Konzentration auf das Selbstverständnis des Menschen der abendländischen Moderne. Dass es sich dabei um ein Offenbarungskapitel handelt, ist Hirsch ebenso wenig zweifelhaft wie die Tatsache, dass die feste Bestimmung von Gesetzesoffenbarung in Bezug auf das in Dogmatik I Behandelte erst mit der im Glauben verstandenen Evangeliumsoffenbarung entsteht, welche Dogmatik II bedenkt. Kann die Gesetzesoffenbarung ihre Tiefenwirkung also nur in Zusammenhang mit der Evangeliumsoffenbarung recht und heilsam erzielen, so bleibt ihr gleichwohl ihre Unterschiedenheit von dieser erhalten, sofern sie das Humane nicht verwandelt, sondern in sich selbst vertieft. Die von der Gesetzesoffenbarung geförderte Vertiefung des Humanen in sich selbst erreicht ihr Äußerstes in der erschlossenen Einsicht menschlicher Selbstbezogenheit, ja Selbstverschlossenheit, durch welche der Mensch sich selbst ganz und gar fraglich wird bis hin zur Verzweiflung an sich selbst. Um es am Wahrheitsbewusstsein des Menschen als dem Gewissenszentrum seines Selbstverständnisses zu verdeutlichen: „Das menschliche Wahrheitsbewußtsein, wo es sich selbst bis ins Letzte versteht, hat sein Verhältnis zur Wahrheit allein in der Antinomie, daß es das Absolute zugleich als seinen Grund und seine Grenze weiß.“ (Hirsch I, 167) Und weiter: „Jeder Versuch, empirisch oder spekulativ, kritisch oder anerkennend, einen Grund aufzuweisen, in dem der antinomische Zusammenhang unsers Wahrheitsbewußtseins mit dem Absoluten durchschaut und beherrscht werden kann, verfällt als an Form und Bewegung des Denkens teilhabend seinerseits der Antinomie. So gewiß nun aber das menschliche Wahrheitsbewußtsein seine Tiefe darin hat, Selbstverständnis des ganzen Menschen in seinem Verhältnis zur Wahrheit zu sein, so gewiß drückt diese Antinomie das Verhältnis nicht bloß des Denkens, sondern des ganzen menschlichen Wesens und Lebens zum Absoluten aus. Sie ist also Erkenntnis des den Inhalt und die Richtung alles lebendigen Menschseins bedingenden Grundgesetzes, das Verhältnis zum Absoluten als Widerspruch im Lebensgrunde zu besitzen. Eine unbefangne Analyse der Grundlagen des abendländischen Wahrheitsbewußtseins endet in der Aufdeckung, daß das menschliche Denken und Leben am Verhältnis zu Gott seinen es zugleich tragenden und verzehrenden Grund hat, in dem ihm Wahrheitsmacht und Daseinserfüllung in unvollendbarer Bewegung zweideutig schweben.“ (Ebd.) Hirsch verbindet diese Feststellung mit Merksätzen, die für seine eigene Stellung in der Geistesgeschichte des Abendlandes höchst charakteristisch sind. Zum einen wird betont, dass es die kantisch-idealistische Philosophie gewesen sei, die das Ver-

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hältnis zum Absoluten als das entscheidende Fragmal menschlichen Wahrheitsbewusstseins aufgedeckt habe. Ihr weiß sich Hirsch begrifflich verpflichtet, auch wenn seine Analyse dem Sachgehalt nach gemäß eigenem Bekunden auf dem Boden der dialektischen Kritik Kierkegaards an der kantisch-idealistischen Philosophie steht. Mit dieser verbindet sich eine Absage an Hegels Begriff des absoluten Geistes und dessen Versuch, die Antinomie menschlichen Wahrheitsbewusstseins spekulativ zu meistern. Aber auch eine positiv-materialistische Absage an das Grundproblem menschlichen Daseins kommt für Hirsch nicht in Frage. Gegenüber dem Positivismus und dem Materialismus hat die kantisch-idealistische Philosophie den bleibenden Vorzug, eine Einsicht in das antinomische Grundgesetz menschlichen Denkens nicht von vornherein zu verstellen. Hirsch legt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass sich seine Idealismuskritik grundlegend „von den theologischen Kindereien (unterscheidet), die 1918– 33 gegen den deutschen Idealismus so gern ins Feld geführt wurden: dieser theologische Kinderkreuzzug hat das Denken nur in die Sklaverei Afrikas, d.h. des Nihilismus geführt.“ (Hirsch I, 169) Die größte geistesgeschichtliche Nähe empfindet Hirsch zweifellos zu Kierkegaard, dem er auch in der These folgt, die Antinomie sei die einzige Möglichkeit, vom Absoluten vernünftige Aussagen menschlichen Wahrheitsbewusstseins zu machen. Das Absolute ist ein Grenzbegriff, zu dem wir uns als dem letzten unserer Erkenntnis im Widerspruch dergestalt verhalten, als uns dieses Letzte als zugleich stets erkannt und nicht erkannt gelten muss. „Der Idealismus verleugnet, wenigstens als System, die eine Seite des Widerspruchs, der agnostische Positivismus die andre.“ (Hirsch I, 170) Der durch äußerste Selbsterkenntnis, wie die Gesetzesoffenbarung sie bewirkt, in sich vertiefte Evangeliumsoffenbarung Mensch nimmt Gott als Grund und Abgrund seiner selbst und sich selbst in offenbarer Verborgenheit als sich gegeben und entzogen zugleich wahr. Von dieser Antinomik, die es wirksam werden lässt, kann das Gesetz nicht befreien, sondern nur die Offenbarung des Evangeliums, deren unaufhebbaren Unterschied zur Gesetzesoffenbarung Hirsch mit Nachdruck betont. „Die Doppelheit von Evangeliumsoffenbarung und Gesetzesoffenbarung ist ein so unerhörtes Paradoxon, daß immer wieder der Versuch gemacht wird, die Zurückführung auf eine Seite vorzunehmen. Dies kann dann aber nur die Gesetzesoffenbarung sein.“ (Hirsch, II, 20) Eine solche Reduktion ist heillos und zwar auch und gerade dort, wo das Evangelium als Umweg zur Erfüllung des Gesetzes und als bloße Bedingung von deren Realisierungsmöglichkeit verstanden wird. Dem wird entgegengehalten, dass die Evangeliumsoffenbarung die Wahrheit der Gesetzesoffenbarung gerade darin bestätigt, dass sie ihr als ganzer die Macht nimmt. „Sie bestätigt die an der Heiligkeit Gottes aufgehende Wahrheit der Selbsterkenntnis, aber sie verneint, daß Gott Zornes- und Verderbensmacht sei nach seinem wahren letzten Wesen, und sie verneint, daß wir die Scheidung von ihm durch unser uns Heiligen im Tun des Gesetzes überwinden sollen.“ (Ebd.) Ist das der Fall, „dann kann die Evangeliumsoffenbarung nicht dem Kreise

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menschlich-geschichtlichen Lebens zugehören“ (ebd.). Sie ist nicht lediglich vertiefende, sondern verwandelnde Offenbarung, und als verwandelnde Offenbarung nicht lediglich eine Idee, sondern eine Wirklichkeitsmacht, welche der Wirklichkeitsmacht des Gesetzes mächtig ist. „Von dem allen her ist das ‚Doppelte‘ der Evangeliumsoffenbarung zu interpretieren: a) Sie hat den einfachen Inhalt, daß Gott der Vater ist, der uns in sich umsonst hinschenkender Liebe an seinem Leben und seiner Wahrheit Teil haben läßt, und dies, im Kontrast zur Selbsterkenntnis, die bestätigt wird, und im Gegensatz zum Teufelskreis, der durchbrochen wird, ist das Ganze. b) Sie ist verknüpft mit der Begegnung mit Jesus: er ist der, in dem diese göttliche Vaterliebe für uns da ist; mit ihm ergreift uns das das Gewissen verwandelnde, unser menschliches Sein vor Gott uns in die Gnade stellende Licht der neuen Gotteserkenntnis.“ (Hirsch II, 21) Einen Beweis, dass dem so ist, kann und will Hirsch nicht geben. „Wenn man fragt, wie willst du alle diese Behauptungen beweisen?, so antworte ich: gar nicht. Ich will eine Wirklichkeit vernehmlich machen, die dem Glauben aufgeht, und damit gut. Es muß geschehen. Ich kann nur deutlich den inneren Zusammenhang klar machen, den mein Verständnis von Gott, Mensch, Welt und mir selbst in mir hat, wenn ich an das Evangelium glaube.“ (Hirsch II, 21) Dieser innere Zusammenhang ist, wie einDie Gewissensgewissheit des gangs gesagt, ein Zusammenhang nicht synthetiGlaubens sierbarer Differenz, deren Antithetik begrifflichlehrhaft nicht zu beheben, sondern als von Gott behoben nur in der Gewissensgewissheit des Glaubens einen einigen Sinn ergibt. Das menschliche Leben als widersprüchliches Verhältnis zum Absoluten ist Leben im Widerspruch zu sich selbst. Dieses wird durch das Gesetz offenbar, wobei gilt, dass zwischen Schöpfung und Sünde theologisch wohl zu unterscheiden, aber faktisch nicht zu trennen ist, weil der Mensch, wie er sich vorfindet, das Verhältnis beider realiter nicht als Differenz festhält und festzuhalten in der Lage ist. In Bezug auf den Menschen zwischen Geschöpf und Sünde beständig und heilsam zu differenzieren, vermag nur das Evangelium, welches den Sünder aus Gnade um Christi willen durch Glauben rechtfertigt und einen Prozess der Heiligung eröffnet, der zwar die Dialektik von Gesetz und Evangelium grundsätzlich keineswegs hinter sich lässt, ihrem Vollzug aber einen eindeutigen, eben evangelischen Richtungssinn gibt. „Gericht ist das den Menschen im sich Vernehmen vor Gott mit der Gewalt des ausschließenden Nein erschütternde göttliche Wort, das ihm die Entzweiung mit Gott in der Schuld zum Lebensstande macht: es vollzieht sich mit der Gesetzesoffenbarung. Gnade ist das den Menschen im sich Vernehmen vor Gott mit der Vollmacht des annehmenden Ja aufrichtende göttliche Wort, das ihm die Geborgenheit bei Gott in der Vergebung zum Lebensgrunde macht: sie schenkt sich mit der Evangeliumsoffenbarung. Echte Versöhnung kann nun darinnen dem Herzen und Gewissen nicht anders gegenwärtig sein als so, daß es in der nie vollendbaren Bewegung von der Gnade Gottes durch das Gericht Gottes hindurch zur Gnade Gottes sich dennoch ganz mit Gott versöhnt findet: denn das Evangelium gibt die

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Freiheit vom Gesetz zugleich mit der Vertiefung in die vom Gesetz erwirkt werdende Durchsichtigkeit des Menschseins vor Gott .... Und tatsächlich wird mit jener Bewegung trotz ihrer Unvollendbarkeit das Nein, das die Gottes- und Selbsterkenntnis unter dem Gerichte hat, insofern mit in den von der Gnade gewährten Versöhnungsglauben hineingenommen, als die Gnade das Gericht gleichsam von rückwärts her als heimliche Güte des mich in sich bergenden Gottes enthüllt und es damit in seinem Sinne aus einer todbringenden zu einer dem Leben den Weg bereitenden Macht verwandelt.“ (Hirsch II, 35f.)

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Lit.: Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt a.M. 1947. – W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. – J. Ringleben, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs, Münster 2003. – P. Tillich, Gesammelte Werke, hg.v. R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959– 1975 (= GW). – Ders., Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken I-VI, Stuttgart 1971ff.; VIIff., Berlin/New York 1994ff. – Ders., Main Works/Hauptwerke, 6 Bde., hg.v. D.H. Ratschow, Berlin/New York 1987ff. – Ders., Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart (1955ff.) 21956ff. (= STh). – G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979 – Ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000.

Theologie zu studieren ist faustische Tradition. Es in Halle zu tun, dafür gibt es, wie jeder Kenner Tillich und Kähler weiß, seit alters gute Gründe. Es zeugt daher nicht nur von ehrwürdigem Geschmack, sondern von gediegenem Urteilsvermögen, wenn Thomas Mann Adrian Leverkühn, den Helden seines „Doktor Faustus“ in die Stadt an der Saale schickt, damit er sich dort dem Studium jener Disziplin unterziehe, in welcher – mit Leverkühns Chronisten Dr. phil. Serenus Zeitblom zu reden – „die Königin Philosophie selbst zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft, akademisch gesprochen zum ‚Nebenfach‘ wird, und das ist die Theologie“ (Mann, Kap. X). Was Zeitblom selbst betrifft, so hatte er seinen Beschluss, „die Brust der Alma Mater Hallensis anzunehmen“ (Mann, Kap. XI), ungeachtet seiner katholischen Herkunft vor allem mit dem Hinweis begründet, diese besitze „für die Einbildungskraft den Vorzug der Identität mit der Universität Wittenberg ...; denn mit dieser wurde sie bei ihrer Wiedereröffnung nach den Napoleonischen Kriegen zusammengelegt.“ (Ebd.) Dass der Geist der Wittenberger Reformation und namentlich derjenige Martin Luthers in Halle über die Jahrhunderte hinweg lebendig erhalten wurde, wird man ohne Übertreibung sagen können. Dass dies auf zum Teil recht eigenwillige Weise geschah, dafür steht im „Doktor Faustus“ exemplarisch der Theologieprofessor Ehrenfried Kumpf, der bei studentischen Visiten im trauten Familienkreis in Lutherimitation und unter gitarrebegleitetem Absingen altdeutschen Liedguts Brötchen nach den Mächten der Finsternis zu schleudern pflegte. Man hat Kumpf mit Martin Kähler (1835–1912) in Verbindung gebracht, jenem berühmten systematischen Theologen und Schriftgelehrten, der seit 1860 mit kurzen Unterbrechun-

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gen in Halle lehrte. Nahegelegt wird dieser Bezug durch einen Brief, den Paul Tillich – vom WS 1905/06 bis zum SS 1907 als Student in Halle begeisterter Hörer Kählers – am 23. Mai 1943 im gemeinsamen amerikanischen Exil an Thomas Mann (1875–1955) schrieb, nachdem dieser ihn aus Anlass seiner Vorstudien zum „Doktor Faustus“ um Informationen über den üblichen Werdegang eines deutschen Theologen um die Jahrhundertwende gebeten hatte. Im XII. Kapitel des Mann’schen Faustbuches ist Tillichs Schreiben in teilweise wörtlicher Aufnahme, teilweise aber auch angereichert durch ironische Verfremdungen, verarbeitet worden, wobei der Tillich’sche Kähler flugs in Kumpf transformiert oder besser: transsubstantiiert wurde – denn mit dem historischen Kähler hat Kumpf aufs ganze gesehen nur noch Akzidentelles gemein. Im Detail hingegen befindet sich der Dichter z.T. in weitgehender Übereinstimmung mit den geschichtlichen Realitäten, etwa wenn er im Anschluss an Tillich Kähler-Kumpf als einen herausragenden Repräsentanten eines „VermittlungsKonservativismus mit kritisch-liberalen Einschlägen“ schildert und hinzufügt: „In seiner Jugend war er, wie er uns in seinen peripatetischen Extempores erzählte, ein hellicht begeisterter Student unserer klassischen Dichtung und Philosophie gewesen und rühmte sich, alle ‚wichtigeren‘ Werke Schillers und Goethes auswendig gewußt zu haben. Dann aber war etwas über ihn gekommen, was mit der Erweckungsbewegung der Mitte des vorigen Jahrhunderts zusammenhing, und die Paulinische Botschaft von Sünde und Rechtfertigung hatte ihn dem ästhetischen Humanismus abwendig gemacht. Man muß zum Theologen geboren sein, um solche geistigen Schicksale und Damaskus-Erlebnisse recht würdigen zu können. Kumpf (alias Kähler) hatte sich überzeugt, daß auch unser Denken gebrochen ist und der Rechtfertigung bedarf, und eben hierauf beruhte sein Liberalismus, denn es führte ihn dazu, im Dogmatismus die intellektuelle Form des Pharisäertums zu sehen.“ (Mann, Kap. XII) „Die Rechtfertigung des Zweiflers“: ein LeitmoRechtfertigung des Zweiflers tiv Tillich’scher Theologie klingt in diesen Zeilen an. Zum Schwingen gebracht hat es der Hallenser Lehrer Kähler. „Ich verdanke seinem Einfluß“, bekennt Tillich in den autobiographischen Notizen „On the Boundary“ von 1936, „vor allem die Einsicht in den alles beherrschenden Charakter des Paulinisch-Lutherischen Rechtfertigungsgedankens, durch den jeder menschliche Anspruch vor Gott und jede auch verhüllte Identifizierung von Gott und Mensch zerbrochen wird; der aber zugleich in der Paradoxie des Urteils, das den Sünder gerecht spricht, einen Punkt zeigt, von dem aus der Zerfall der menschlichen Existenz in Schuld und Verzweiflung überwunden werden kann. Die Interpretation des Kreuzes Christi als der anschauliche Ort dieses Nein und Ja über die Welt wurde und blieb der Inhalt meiner Christologie und Dogmatik im engeren Sinne. Von da aus war es mir leicht, die Verbindung zur Barthschen Theologie und zur Kierkegaard-Heideggerschen Analyse der menschlichen Existenz zu finden. Schwer dagegen, ja unauffindbar blieb mir der Zugang zur liberalen Dogmatik, für die an die Stelle des gekreuzigten Christus der histori-

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sche Jesus tritt und die Paradoxie der Rechtfertigung durch moralische Kategorien aufgelöst wird.“ (Tillich, GW XII, 32) Dem „protestantische(n) Prinzip der sola gratia, sola fide, das Kähler gegen alle Versuche verteidigte, den Glauben auf Moral oder historische Wissenschaft zu gründen“ (Tillich, GW XIII, 28), verdankte Tillich nach eigenem Bekunden schließlich die Einsicht, „daß auch unser Denken gebrochen ist und der ‚Rechtfertigung‘ bedarf, und daß darum Dogmatismus die intellektuelle Form des Pharisäismus ist.“ (Tillich, GW XIII, 24) In der Einleitung zu dem Werk „The Protestant Era“ ist hierzu unter ausdrücklicher Berufung auf Kähler Folgendes zu lesen: „Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt. Die Situation des Zweifelns, selbst des Zweifelns an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen. In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche, sogar dann, wenn die einzige Wahrheit, die wir ausdrücken können, unser Mangel an Wahrheit ist. Aber wird dies in seiner Tiefe und als etwas, das uns unbedingt angeht, erlebt, dann ist das Göttliche gegenwärtig; und der, der in solch einer Haltung zweifelt, wird in seinem Denken ‚gerechtfertigt‘. So ergriff mich das Paradox, daß der, der Gott ernstlich leugnet, ihn bejaht. Ohne dies hätte ich nicht Theologe bleiben können.“ (Tillich, GW VII, 14) Paul Tillich (1886–1965) war nach eigenem Bekunden ein Denker auf der Grenze: der Tem- Auf der Grenze peramente, von Stadt und Land, der sozialen Klassen, von Wirklichkeit und Phantasie, von Theorie und Praxis, Heteronomie und Autonomie, Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft, Religion und Kultur, Luthertum und Sozialismus, Idealismus und Marxismus, Heimat und Fremde. „Das ist das Dialektische der Existenz, daß jede ihrer Möglichkeiten durch sich selbst zu ihrer Grenze und über die Grenze hinaus zu ihrem Begrenzenden treibt.“ (Tillich, GW XII, 57) Am 20. August 1886 als Pfarrerssohn in der damaligen Provinz Brandenburg geboren (Starzeddel, heute Starosiedle/Polen), studierte Paul Johannes Tillich an den Universitäten Berlin, Tübingen, Halle und Breslau Theologie und Philosophie. Zur geistigen Heimat wurde Halle, wo M. Kähler die reformatorische Rechtfertigungslehre erweckungstheologisch nahebrachte und W. Lütgert und der Privatdozent F. Medicus ihn mit dem Denken des Deutschen Idealismus vertraut machten. Dessen Vollendung fand Tillich in der Philosophie des späten Schelling vor: 1910 wurde er Doktor der Philosophie an der Universität Breslau mit einer Dissertation über „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien“, 1912 erfolgte in Halle die Promotion zum Lizentiaten der Theologie mit einer Arbeit über „Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung“. Die nur teilweise veröffentlichte Hallenser Habilitationsschrift, die Tillich während seiner Zeit als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg erarbeitete, galt dem Thema „Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher“.

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Nach der Katastrophe des Krieges, dessen letzte Monate er als Garnisonsgeistlicher in Spandau verbrachte, lehrte Tillich nach erfolgter Umhabilitation als Privatdozent an der Universität Berlin. In dieser von äußeren und inneren Unruhen geprägten Zeit entstand das 1923 veröffentlichte „System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden“, Tillichs erste größere selbständige Arbeit. Sein polittheologisches Kairos-Programm einer theonomen Gesellschaft skizzierte er in dem 1919 vor der Berliner Kantgesellschaft gehaltenen Vortrag „Über die Idee einer Theologie der Kultur“. Nach drei Semestern in Marburg, wo er Kontakt zu R. Bultmann, M. Heidegger und namentlich zu R. Otto fand, erstmals Dogmatik las und „Die religiöse Lage der Gegenwart“ – so der Titel seines 1926 erschienenen erfolgreichen Buches – analysierte, wurde Tillich 1925 zum Ordinarius für Religionswissenschaft an die Technische Hochschule Dresden und 1927 zugleich zum Ordinarius für Systematische Theologie an der Universität Leipzig ernannt. Größere Veröffentlichungen erfolgten in dieser Zeit nicht; doch machte sich Tillich mit zahlreichen Gelegenheitsschriften als scharfsinniger Zeitanalytiker einen Namen. 1929 wurde er als Nachfolger Max Schelers Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main, wo er bis zu seiner Beurlaubung 1933 und schließlichen Entlassung 1934 lehrte und zwar in enger Verbindung mit führenden Theoretikern der Zeit wie Karl Mannheim, Max Horkheimer und Theodor Adorno, welcher sich bei Tillich mit einer Kierkegaardarbeit habilitierte. Als letztes großes Tillichwerk, das zuerst in deutscher Sprache publiziert wurde, erschien 1933 „Die sozialistische Entscheidung“; das Buch wurde umgehend konfisziert. In den Vereinigten Staaten fand er nach geraumer Zeit u.a. mit moraltheologisch-soziokulturellen Analysen, dem Ausbau seiner Protestantismusstudien und seiner Symboltheorie sowie insbesondere mit dem Traktat „Courage to Be“ von 1952 und „Religiösen Reden“ (The Shaking of Foundations, 1948; The New Being, 1955; The Eternal Now, 1963) breite Beachtung. In seiner Eigenschaft als Professor of Philosophical Theology am Union Theological Seminary in New York bzw. als University Professor in Harvard und Chicago fasste Tillich schließlich den Ertrag seines philosophisch-theologischen Denkens in der dreibändigen „Systematische(n) Theologie“ zusammen, die er von 1951 bzw. 1955 an in englischer und deutscher Sprache herausgab. Grundzüge des Werkes deuten sich bereits in den Arbeitsheften „Systematische Theologie“ von 1913 sowie in der zu Lebzeiten Tillichs ebenfalls unveröffentlichten Dogmatik an, die anlässlich einer Marburger Vorlesung von 1925 konzipiert wurde (hg.v. W. Schüßler, Düsseldorf 1986). Das schließliche „opus magnum“ folgt in Aufbau und Durchführung der Methode der Korrelation: „Sie gibt eine Analyse der menschlichen Situation, aus der die existentiellen Fragen hervorgehen, und sie zeigt, daß die Symbole der christlichen Botschaft die Antworten auf diese Fragen sind.“ (Tillich, STh I, 76) Auf diese Weise werden folgende Themenkomplexe, die zugleich die Gesamtgliederung bestimmen, in Beziehung gesetzt: 1. Vernunft und Offenbarung, 2. Sein und Gott, 3. Existenz und Christus, 4. Leben und Geist, 5. Geschichte und Reich Gottes.

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Dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott der Philosophen der gleiche Gott Vernunft und Offenbarung sei, hat Paul Tillich gegen Blaise Pascal und zeitgenössische theologische Verächter der Philosophie stets und mit Nachdruck betont. Sein ebenso programmatisches wie biographisch ausweisbares Anliegen, Grenzgänger und Vermittler im Reich der Wissenschaften zu sein, musste sich daher speziell am Verhältnis von Philosophie und Theologie bewähren. Entsprechend stellt die Frage der rechten Bestimmung ihres Zusammenhangs eines der zentralen Probleme Tillich’schen Denkens dar. Dabei ist das systematische Bemühen zweifellos auf die Überwindung alternativer Gegensätze ausgerichtet; gleichwohl will die intendierte Integration gegebene Unterschiede nicht nivellieren und das Faktum bestehender Desintegrationen nicht überspielen; angestrebt wird vielmehr eine spannungsvolle Einheit, in der zwar gegenseitige Ausschließlichkeit vermieden, nicht aber die Differenziertheit der Perspektiven und Erfahrungsweisen erledigt wird. Das gilt um so mehr, als Tillich mit der gesamten Theologengeneration, die nach dem Ersten Weltkrieg beherrschenden Einfluss gewann, das Bewusstsein einer fundamentalen und irreversiblen Autonomiekrise des neuzeitlichen Menschen teilte. In diese Krise war auch die Philosophie, näherhin ihr Anspruch auf Autarkie und unmittelbare Selbstbegründung theoretischer und praktischer Vernunft hineingezogen. In Tillichs frühen Arbeiten zu Schelling deutet sich dies bereits an. Auch später bleibt die Neigung insbesondere zur Spätphilosophie Schellings erhalten, mit welcher die Anfänge des existentialistischen Protests gegen den idealistischen Essentialismus assoziiert werden. Ein theologischer Sachgrund für diese Affinität ist sicherlich darin zu suchen, dass der späte Schelling im Unterschied zu den Systemkonzeptionen Kants und des Deutschen Idealismus der religiösen Symbolik des Mythos und namentlich der christlichen Offenbarung nicht nur eine die theoretische und praktische Vernunft illustrierende Funktion zuerkannte, sondern sich um den Aufweis ihrer unersetzbaren konstitutiven Funktion für das Denken bemühte und sich folgerichtig gegen eine moralische bzw. metaphysische Funktionalisierung und philosophische Aufhebung von Religion und Theologie aussprach. Dieser – bei Schleiermacher in vergleichbarer Weise begegnenden – Einsicht ist Tillich trotz verbleibender Vorbehalte gefolgt. Der Einfluss des späten Schelling lässt sich entsprechend bis hin zur Methode der Korrelation unschwer erkennen. Die Grundannahme ist beide Male die gleiche: Während der Versuch, sich selbst zu konstituieren, in Entfremdung und Selbstverlust endet, vermag sich der Mensch in seiner gegebenen Lebenswelt produktiv zu realisieren nur im Bewusstsein seiner Fundierung in einem für menschliche Subjektivität zwar aufgeschlossenen, aber gleichwohl aus ihr nicht apriorisch deduzierbaren, sondern nur durch Selbstoffenbarung erfassbaren göttlichen Grund, wie er in Jesus als dem Christus vollendet manifest ist. Indes soll damit keiner heteronomen Bevormundung des menschlichen Selbstbestimmungswillens, keiner theologischen Fremdbestimmung der Phi-

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losophie das Wort geredet sein. Ziel der Argumentation ist vielmehr die Aufhebung von Heteronomie und abstrakt-autonomer Selbstbestimmung in ein theonomes Konzept. Dieses Ziel ist auch für die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung ausschlaggebend, wie Tillich sie in seiner „Systematischen Theologie“ vornimmt. In der Offenbarung begegnet der Vernunft, deren lediglich instrumentelles Verständnis im Sinne einer technischen Fertigkeit Tillich scharf kritisiert, der Grund ihrer selbst, ohne dessen Wahrnehmung sie ihre Vernünftigkeit nicht zu realisieren vermag. Zwar vermittelt der offenbare Grund der Vernunft keine wie auch immer geartete supranaturale Information. Von einer Anreicherung realen Wissens durch Offenbarung kann also keine Rede sein: Weder löst sie bestehende Denkrätsel noch unterminiert sie die Logizität rationaler Wissenschaftlichkeit. Vielmehr begegnet das Denken in der Offenbarung dem Mysterium seiner selbst, insofern es des aus keiner Welt- und Selbsterfahrung ableitbaren, weil immer schon vorausgesetzten Datums eines Fundamentes von Selbst und Welt sowie einer gegebenen Basis von deren differenzierten Zusammenhang gewahr wird. Dieses Gewahrwerden ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass das Denken nicht in den Schranken des Endlichen vergeht, sondern dessen Grenzen zu transzendieren und zur Erkenntnis des Unendlichen im Endlichen zu gelangen vermag. Dabei gilt, dass grundsätzlich jede Entität zum Medium der Offenbarung des Unendlichen werden kann. „Es gibt keine Wirklichkeit, kein Ding und kein Ereignis, das nicht Träger des Seinsgeheimnisses werden und in die Offenbarungskorrelation eintreten kann. Nichts ist prinzipiell von der Offenbarung ausgeschlossen, weil sie nichts enthält, was auf besonderen Eigenschaften beruht. Keine Person und kein Ding sind als solche würdig, das zu repräsentieren, was uns unbedingt angeht. Andererseits hat jede Person und jedes Ding teil am Sein selbst, d.h. am Grund und Sinn des Seins. Ohne solche Partizipation hätte es keine Seinsmöglichkeit. Das ist der Grund, warum fast jede Seinsgestalt irgendwann einmal zum Medium der Offenbarung geworden ist.“ (Tillich, STh I, 142) Trotz der infiniten Zahl potentieller Offenbarungsmedien rechnet Tillich mit einem Kriterium aktueller Manifestationen des Seinsgeheimnisses und einer letztgültigen Offenbarung, die er mit der Erscheinung Jesu als des Christus verbindet. Als Kriterium aktueller Offenbarung fungiert die Einsicht, dass das Unbedingte zwar nur in den Formen des Bedingten zu erfassen ist, aber zugleich alles Bedingte übersteigt. Von Offenbarung kann infolgedessen nur symbolisch die Rede sein. In Entsprechung zur klassischen Lehre von der Analogie als der Aufhebung des Gegensatzes von Äquivokation und Univokation konzipiert Tillich seine Symboltheorie der Offenbarung nach Maßgabe des Grundsatzes, dass sich im Vollzug der Offenbarung Medium und Gehalt identisch und different zugleich verhalten. Wie die Symbole, in denen sie ihre Ausdrucksgestalt finden, sind die Medien der Offenbarung sowohl durch Selbstmächtigkeit als auch durch Uneigentlichkeit gekennzeichnet. In Jesus als dem Christus ist dies endgültig darin manifest, dass er seinen Endlichkeitscharakter ganz hingibt an seine göttliche Sendung und auf diese Weise

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völlig transparent wird für das Unendliche. In diesem Sinn ist das Kreuz das Symbol aller religiösen Symbole und der Gekreuzigte der Mittler, in welchem alle Offenbarungsmedien aufgehoben, will heißen: negiert, bewahrt und vollendet sind. Gemäß Tillichs Wissenschaftslehre von 1923 ist jeder Wissensvollzug durch zwei Momente Sein und Gott bestimmt, durch den Wissensakt selbst, das Denken, und durch das, worauf er sich richtet, das Sein. Der differenzierte Zusammenhang beider Momente ist im Geist als Identität von Denken und Sein manifest. Mit dieser Klassifikation ist die Grundeinteilung von Tillichs System der Wissenschaften gegeben. Die Denkwissenschaft ist im Wesentlichen repräsentiert durch Logik und Mathematik, in denen das Sein als in reine Denkbestimmungen aufgelöst erscheint. Umgekehrt ist das Denken in der Seinswissenschaft mit ihrer pluralen Fülle von Untergruppen ganz dem Sein hingegeben. Die Geisteswissenschaft schließlich ist gekennzeichnet durch wechselseitige Vermittlung von Denken und Sein. Als die dialektische Synthese von Denken und Sein steht der Geist nach Tillich zugleich für die Einheit von intendierter Allgemeinheit und individuellem Gestaltcharakter, womit Schöpfung als die individuelle Verwirklichung des Allgemeinen zur grundlegenden Kategorie des Geistigen erklärt ist. Die höchste Form des Schöpferischen wiederum ist die geisttragende Gestalt, in der Idealität und Realität, Form und Stoff, Besonderes und Allgemeines sinnvoll und sinnvollziehend sich vereinen. Was die Sinnfunktionen geisttragender Gestalten betrifft, so unterscheidet Tillich zwischen theoretischen Sinnakten der Wirklichkeitswahrnehmung und praktischen Sinnakten der Wirklichkeitsgestaltung. Beide Sinnakte sind ihrerseits danach zu differenzieren, ob sie auf das jede einzelne Sinnerfüllung begründende Unbedingte oder auf Bedingtes gerichtet sind. Im ersten Fall ist von fundierenden, im zweiten Fall von fundierten Sinnfunktionen zu sprechen, wobei die fundierten Funktionen entweder als form- oder als gehaltsbestimmt zu gelten haben. Die Sachgesichtspunkte der Tillich’schen Gliederung der Geisteswissenschaften sind damit benannt: „In der theoretischen Sphäre ist die formbestimmte fundierte Funktion die Wissenschaft, die gehaltsbestimmte fundierte Funktion die Kunst, während die fundierende Funktion für beide die Metaphysik ist. In der praktischen Sphäre ist die formbestimmte fundierte Funktion das Recht, die gehaltsbestimmte fundierte Funktion die Gemeinschaft, während die fundierende Funktion für beide die Sittlichkeit ist.“ (Tillich, GW I, 230; bei T. teilweise kursiv) Mit dieser Sacheinteilung verbindet sich ein methodischer Gliederungsaspekt: Er unterscheidet zwischen Sinnprinzipienlehre bzw. Philosophie, welche zum einen die Aktrichtungen, in denen die geisttragende Gestalt ihr Wirklichkeitsverhältnis in gültiger Weise vollzieht und dadurch eine sinnvolle Wirklichkeit aufbaut, zum anderen die in jedem Sinngebiet den Gegenstand konstituierenden Sinnformen kritisch-analytisch zu bestimmen hat, der Sinnmateriallehre bzw. Geistesgeschichte, welche die konkreten Verwirklichungen des Geistes in der Geschichte rezeptiv-typisierend behandelt, sowie der Sinnnormenlehre oder Systematik, welche Sinnprinzipien-

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und Sinnmateriallehre zu einem lebendig-aktuellen Geltungsanspruch zusammenfügt. Als Sinnnormenlehre im bezeichneten Sinne lässt sich trefflich auch Tillichs eigene „Systematische Theologie“ bezeichnen, die ihrem Begriff nach im Wesentlichen Entfaltung des Gottesgedankens zu sein hat, wie ihn die Offenbarung zur Erkenntnis bringt. Damit ist bereits gesagt: Gott als Inbegriff dessen, was uns unbedingt angeht, kann nur durch sich selbst erkannt werden. Gotteserkenntnis ist mithin ohne freie Selbsterschließung Gottes nicht denkbar. Indes betrifft die göttliche Offenbarung, wie sie in Jesus als dem Christus vollendet gegeben ist, den Menschen nicht äußerlich; sie lässt ihn vielmehr erst eigentlich zu sich kommen und bringt ihn zur Vernunft und zum rechten Verständnis seiner selbst, indem sie ihn durch die Zusage göttlicher Anerkennung, wie sie im Gottmenschen manifest ist, von dem sündigen Zwange befreit, sich aus sich selbst heraus zu begründen. Wo dieser Zusage in gläubigem Realismus entsprochen wird, ist nach Tillich der Kairos angebrochen, die erfüllte Zeit theonomen Lebens, in welcher die Zwangsherrschaft der Heteronomie ebenso vergangen ist wie die Willkür und unmittelbare Selbstbehauptung abstrakter Autonomie. Als das theonomes Leben erschließende Jenseits des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie kann Gott nach Tillich nur dann gelten, wenn sich sein Sein zum Seienden transzendent und immanent zugleich verhält. Auf diese Einsicht ist der theologische Zentralbegriff Gottes als des Seins selbst konzentriert: Gott ist kein Seiendes unter Seiendem. Einen Gott, der als eine Entität unter anderen Entitäten existiert, gibt es nicht. Gottes Seinstranszendenz ist aber ebenso wenig durch den Gegensatz zu allem Seienden bestimmt; vielmehr ist Gott als das Sein selbst derjenige, der allem Seienden sein Sein gibt und erhält. Tillichs Verständnis Gottes als des Lebendigen schließt unmittelbar daran an: „Das Leben hört auf, wenn Trennung ohne Vereinigung und Vereinigung ohne Trennung erfolgt. Sowohl völlige Identität als auch völlige Trennung vernichten das Leben. Wenn wir Gott den ‚lebendigen Gott‘ nennen, verneinen wir damit, daß er die reine Identität des Seins als Sein ist und zugleich, daß es eine endgültige Trennung eines Seienden von seinem Sein geben kann. Wir behaupten, daß er der ewige Prozeß ist, in dem sich fortgesetzt Trennung vollzieht und durch Wiedervereinigung überwunden wird. In diesem Sinne lebt Gott.“ (Tillich, STh I, 280) Als der Lebendige ist Gott zugleich der beständig Schaffende. Schöpfung bedeutet für Tillich daher nicht nur und nicht in erster Linie einen uranfänglichen Akt, durch welchen Gott das Sein aus dem Nichts ruft, sondern die Tatsache, dass alles, was ist, und namentlich alles menschliche Beginnen vom zuvorkommenden Handeln Gottes lebt. Bleibt hinzuzufügen, dass Tillichs Begriff von Gottes schöpferischem Leben bereits die Grundstrukturen der Trinitätslehre enthält. Gott umfasst in seiner Gottheit auch den Unterschied zu dem, was er nicht unmittelbar selbst ist; Gott ist die lebendige Einheit von Identität und Differenz. Damit sind die grundlegenden Trinitätsprinzipien erfasst: Einheit, Unterschiedenheit, Einheit von Einheit und Unterschiedenheit; oder: Schöpfergott, Logos und Geist. Mit Tillich zu

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reden: „Eine Betrachtung der Trinitäts-Prinzipien ist nicht schon christliche Trinitätslehre. Es ist Vorbereitung dafür, mehr nicht. Das Trinitätsdogma selbst kann nur erörtert werden, wenn zuvor das christologische Dogma entwickelt worden ist. Aber die Prinzipien der Trinität werden sichtbar, wo immer man sinnvoll von Gott als dem Lebendigen spricht.“ (Tillich, STh I, 290) Ontologie, sagt Tillich, fragt nach dem Sein des Seienden oder anders formuliert: sie fragt im Existenz und Christus Anschluss an Parmenides, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Diese Frage zu stellen, ist der Mensch als endliches Selbstbewusstsein ebenso genötigt, wie er nicht umhin kann, sich angesichts seiner Stellung zwischen Sein und Nichtsein zu ängstigen. „Die Angst“, heißt es in Tillichs Schrift „The Courage to Be“, „ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins.“ (Tillich, GW XI, 35) Indem das Endliche seiner Endlichkeit als solcher gewahr wird, ängstigt es sich und wird vom nihilistischen Schauder drohenden Nichtseins erfasst. Dabei kann die Frage nicht sein, ob man sich ängstigt oder nicht. Diese Alternative steht nicht zur Wahl, denn Angst ist mit dem Bewusstsein des Endlichen als eines Endlichen alternativlos verbunden. Um es nicht bei der abstrakten Behauptung der Angst als eines zeitlosen Existentials zu belassen, unterscheidet Tillich entsprechend den Formen, in denen das Nichtsein das Sein des Menschen bedroht, drei Typen der Angst, um diese sodann als Charakteristika einzelner Epochen der abendländischen Kulturgeschichte auszuweisen. Das Nichtsein bedroht zum einen die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes. Dieser mit dem menschlichen Bewusstsein der Sterblichkeit gegebene Haupttyp der Angst, in welchem sich das Endliche von seinem physischen Nichts bedroht weiß, ist nach Tillich kennzeichnend für die Spätantike und damit für den soziokulturellen Kontext des frühen Christentums. Das Nichtsein bedroht zum zweiten die moralische Selbstbejahung des Menschen als eines die bloße Natur transzendierenden sittlichen Subjekts, relativ in Form der Schuld, absolut in Form der Verdammung. Dieser mit dem menschlichen Bewusstsein sittlicher Verkehrtheit gegebene Haupttyp der Angst, in welchem sich das Endliche von seinem moralischen Nichts bedroht wisse, sei in der mittelalterlichen Lebenswelt vorherrschend gewesen und habe auch noch das Zeitalter der Reformation bestimmt, was sich u.a. an Luthers theologischer Leitfrage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ erkennen lasse. Die dritte Bedrohung des endlichen Seins durch das Nichtsein schließlich betrifft die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit. Sie und der mit ihr gegebene Haupttyp der Angst sind nach Tillich in der Neuzeit epochal geworden. „Die Angst vor der Sinnlosigkeit ist die Angst vor dem Verlust dessen, was uns letztlich angeht, dem Verlust eines Sinnes, der allen Sinngehalten Sinn verleiht. Diese Angst wird durch den Verlust eines geistigen Zentrums erzeugt, durch das Ausbleiben einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wie symbolisch und indirekt diese Antwort auch sein

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mag.“ (Tillich, GW XI, 43) Dabei sind in der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit die beiden anderen Haupttypen, nämlich Todesangst und Angst vor sittlicher Verdammung, immer mitenthalten. Aber sie sind nicht ausschlaggebend oder zutreffender gesagt: sie sind in die Angst der Sinnlosigkeit eingegangen, die in bestimmter Weise abgründiger ist als die beiden vormaligen Ängste, wobei mit Abgründigkeit weniger die Vorstellung der Tiefe als jene der Bodenlosigkeit zu assoziieren ist. Denn zeigt sich in der Todesangst noch ein vitales Interesse am eigenen Leben und seinem Erhalt, in der Angst vor Schuldverdammnis ein entwickeltes Bewusstsein des moralisch Geschuldeten, so droht in der Sinnlosigkeitsangst auch dieses beides zugrunde zu gehen und schlechterdings alles im nihilistischen Nichts aufgelöst zu werden. Gerade die Sinnlosigkeitsangst neigt daher zwangsläufig dazu, im Zuge von Verdrängungsmechanismen latent oder manifest pathologische Gestalt anzunehmen: „Die pathologische Angst“, sagt Tillich, „tritt auf, wenn das Selbst nicht fähig ist, seine Angst auf sich zu nehmen.“ (Tillich, GW XI, 64) Wo solches geschieht, tritt Furcht auf, wo nichts zu fürchten ist, wohingegen waghalsige Risiken eingegangen werden, wo Vorsicht am Platze wäre; da wird eilfertig Schuld aufgedeckt, wo keine ist, und nachsichtig entschuldigt, wo offenkundig Böses ins Werk gesetzt wird; da werden schließlich – um von den pathologischen Formen der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zu sprechen – ideologische Festungen unbezweifelbarer Gewissheit in den Sand gesetzt, um den tragenden Grund des Verlässlichen und Bewährten mutwillig zu sprengen. Was kann angesichts solcher pathologischer Ängste helfen und heilen? Nach Tillich allein der Mut, der die Angst in ihrer ontischen, moralischen und geistigen Erscheinungsform zu integrieren vermag und auf diese Weise ihre Pathologisierung verhindert. Doch wie kann solcher Mut begründet werden? Tillichs Antwort lautet: durch die Offenbarung des „Gott(es) über Gott“ (Tillich, GW XI, 137), welcher theistische Verendlichungen ebenso hinter sich lässt wie atheistische Nihilismen, um sich als das Sein selbst zu erweisen, welches dem Seienden auch unter der Voraussetzung drohenden Nichtseins Bestand verheißt und damit eine Anerkennung eigener Endlichkeit ermöglicht, welche zwar nicht Zweifel, wohl aber Verzweiflung verhindert. Diese göttliche Offenbarung ist in Jesus als dem Christus manifest. In ihm ist, wie Tillich sagt, die Essenz, also die wesentliche Bestimmung alles Endlichen und namentlich des endlichen Selbstbewusstseins, unter den Bedingungen der Existenz als der Bedrohung eines Seienden durch das Nichtsein realisiert. Als die Realisierung der Essenz unter den Bedingungen der Existenz ist Jesus, was er ist, nämlich der Christus, in welchem Gott als der Urgrund alles Seienden real präsent ist. Dabei bedeutet die Präsenz Gottes in Jesus als dem Christus freilich keine Vergegenständlichung. Eine unmittelbare Gleichsetzung der Gottheit Gottes mit der irdischen Erscheinungsgestalt Jesu von Nazareth behauptet Tillich nicht nur nicht, er schließt eine solche Identifikation vielmehr kategorisch aus. Denn die Gegenwart Gottes ist Jesus Christus nur in der Weise konsequenter Selbstunterscheidung seiner Endlichkeit von der göttlichen

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Unendlichkeit. Anders gesagt: Personaler Träger des Neuen Seins und Erlöser und Versöhner des Menschengeschlechts ist Jesus Christus als der, welcher seine Endlichkeit auch im Äußersten der Bedrohung durch Tod, Sündenschuld und Sinnlosigkeit in der Unendlichkeit Gottes gut aufgehoben weiß. In dieser und nur in dieser Weise ist sein Erscheinungsbild, das in untrennbarer Weise historisches Faktum und wirkungsgeschichtliche Rezeption in sich enthält, Urbild des Glaubens und gläubigen Mutes zum Sein, in welchem die Entfremdung von Gott als dem Sein selbst überwunden ist. Mut zum Sein im Sinne ontischer Selbstbejahung des Menschen, in welcher die Angst vor Leben und Geist Schicksal und Tod überwunden ist, vermittelt der Geist der Inkarnation, wie er von dem im Menschensohne Jesus offenbaren göttlichen Vater ausgeht, der Himmel und Erde erschaffen hat. Was heißt das? Es heißt in Sonderheit dies, dass es Mut zum Sein unter der Bedingung einer vom Nichtsein bedrohten Endlichkeit nur geben kann in der Gewissheit, dass der Schöpfergott seiner endlichen Kreatur ein unvergängliches und unveräußerliches Gedächtnis gestiftet hat in ihm selbst. Die Unendlichkeit des allmächtigen Schöpfergottes ist nicht durch den Gegensatz zur Endlichkeit seiner Geschöpfe und seiner Schöpfung bestimmt, sondern erweist sich darin in ihrer göttlichen Wahrheit, dass sie das Endliche bergend umfängt. Entsprechend ist die gewisse Hoffnung, in Gott verewigt zu werden, die Voraussetzung dafür, die irdische Zeitlichkeit segnen zu können. Wo uns und unserer Zeit der Glaube entschwindet, für den der inkarnierte Jesus Christus als lebendiges Wirkzeichen einsteht, dass nämlich Gott ins Endliche eingegangen ist und selbst den Tod nicht scheute, um seiner mächtig zu werden, da verlässt uns auch der Mut zum Sein angesichts unserer endenden Endlichkeit. Das Christentum schuldet der Welt daher das beständige Weihnachtszeugnis von der Menschwerdung Christi. „Viel grosser ist schuld denn peyn, sund denn todt“ (WA 10 I/1, 718), heißt es bei Luther. Die Höllenangst schuldiger Verdammnis ist abgründiger als die Angst vor dem Grab. Um sie zu überwinden und zu einem Mut der Selbstbejahung angesichts eigener Verkehrtheit und schuldigen Versagens zu finden, bedarf es des Geistes, welcher von dem im Gekreuzigten offenbaren Gott der Gerechtigkeit ausgeht, der uns am Kreuz trotz unserer Sündenschuld versöhnt hat mit sich selbst. Wo die Verkehrtheit der Sünde als Schuld wahrgenommen wird und das Bewusstsein der Schuld das Gewissen peinigt und ängstigt, da kann nur der Crucifixus helfen, in dessen Zeichen sich das ganze Christentum zusammenfasst. Wo uns und unserer Zeit der Glaube entschwindet, dessen Sakrament der gekreuzigte Gottmensch ist, dass nämlich Gott seine verlorenen Menschenkinder nicht lassen, sondern sie in die Geistgemeinschaft des Sohnes mit seinem göttlichen Vater reintegrieren will, da verlässt uns auch der Mut zum Sein angesichts unserer in der Verkehrtheit der Sünde sich selbst zugrunde richtenden Endlichkeit. Das Christentum schuldet der Welt daher das beständige Passionszeugnis vom Kreuz Jesu Christi.

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Kein heilsames Passionswort vom Kreuz, keine weihnachtliche Frohbotschaft der Inkarnation ohne Ostern! Nur im österlichen Geiste, der sich an Pfingsten eine Kirche schafft, ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth als der Christus lebendig, welcher – auferstanden und gen Himmel gefahren – zur Rechten Gottes sitzt und wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Nur wo die eschatologische Zukunft des Gekommenen im lebendigen Geiste Osterns und Pfingstens zur Gewissheit wird, weichen die Trauergeister der Vanitas, weicht der Ungeist der Sinnleere, und an die Stelle unserer Geistlosigkeit und Geistwidrigkeit tritt jene Begeisterung, welche der Glaube bedeutet, der sich – exzentrisch – auf Gott in Christus verlässt. Es ist die Aufgabe der Pneumatologie, die dreifaltig gefügte Wahrheit der Erscheinung des Neuen Seins in Jesus als dem Christus zu entfalten und die differenzierte Zusammengehörigkeit von Christologie und Soteriologie zu erweisen. Tillich ergreift diese Aufgabe dergestalt, dass er die Zweideutigkeiten des zu Selbstintegration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung bestimmten, aber von Desintegration, Zerstörung und endlichem Vergehen bedrohten Lebens auf die Frage nach unzweideutigem Leben hin fokussiert, um diese Frage sodann mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Wirksamkeit göttlichen Geistes im menschlichen Geist und in der geschichtlichen Menschheit zu beantworten. Ohne die heilende Macht des göttlichen Geistes in der (psycho)somatischen Dimension gering zu veranschlagen, konzentriert sich Tillich vorzüglich auf die pneumatologische Behebung der Zweideutigkeiten des Lebens in der Sphäre der Religion, der Kultur und der Moralität. Dabei greift er auf Einsichten zurück, die sich bereits früh in seinem Werk abzeichnen, etwa auf diejenige, wonach Kultur die Ausdrucksform der Religion und Religion der Gehalt der Kultur sei. Ohne Zusammenhang mit Kultur als dem Inbegriff einer durch humane Selbstbestimmung gekennzeichneten Wirklichkeit verkommt Religion zur Sekte, welche ihre Separation durch Fundamentalismus zu kompensieren sucht. Umgekehrt verliert eine Kultur, die der religiösen Basis entbehrt, ihre Substanz und verflacht zu bloßer Konvention. Es ist der lebendige Geist, der von dem in Jesus Christus offenbaren Gott ausgeht, der beides verhindert, und religiöse Substanz kulturelle Form annehmen sowie kulturelle Form religiöse Substanz finden lässt. Analog stellt sich der pneumatologische Prozess in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Moral dar. Eine moralische Funktionalisierung der Religion, welche diese zum bloßen Vehikel der Sittlichkeit herabsetzt, erweist sich in der Konsequenz auch in sittlicher Hinsicht als kontraproduktiv, insofern sie der Moral ihre Letztverbindlichkeit raubt. Die Transmoralität der Religion kann sich indes ebensowenig in der Weise heteronomer Vorschrift verwirklichen, sondern nur so, dass sie moralische Autonomie mit theonomem Gehalt erfüllt. Auf diese Weise wirkt der Geist sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen des individuellen Falls jenes Heils, das den Begriff seiner Heiligkeit ausmacht, und schafft einen Gemeingeist, in welchem Individualität und Sozialität gleichursprünglich und paritätisch in Geltung stehen. Das Wesen der Kirche ist damit bündig umschrie-

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ben. Entspricht ihre Realität dem entwickelten ekklesiologischen Begriff, dann ist das Reich Gottes nicht fern. Tillichs Ontologie ist geschichtliche Daseinsanalyse. Nicht bei gleichsam objektiv vorgege- Geschichte und Reich Gottes benen kosmischen Sachverhalten setzen seine Argumentationen ein, sondern mit der Selbstwahrnehmung eines bewusstseinsbegabten Wesens, das der Welt zwar zugehört, aber gleichzeitig von ihr geschieden ist. Dieser dezidiert anthropologische Ansatz bestimmt nicht nur die an der Subjektivitätsproblematik des transzendentalen Idealismus orientierten Anfänge, sondern auch noch die seinsmetaphysische Konzeption der Spätzeit. Die Prävalenz des Ontologischen in den späteren Jahren bedeutet keineswegs die Verabschiedung der Subjektivitätsproblematik; vielmehr zielt die pneumatologische Gesamttendenz der Gedankenfolgen eindeutig auf das Zusichkommen des Seins im Subjekt. Die Seinsmetaphysik der Tillich’schen Spätzeit bleibt also darin neuzeitlich, dass sie menschliche Selbstfindung zu ihrem zentralen Thema macht. Entscheidendes Problem ist dabei, dass der Mensch als das vollzentrierte personale Selbst zugleich in der Welt und ihr gegenüber steht. Der in Selbsterkenntnis begriffene Mensch findet sich einerseits vor als Teil der gegebenen Welt, als ein empirisches Einzelding, als eine Entität unter vielen, und er nimmt sich andererseits und simultan wahr als einheitsstiftendes Subjekt, auf dessen Selbstbewusstsein die Welt in ihrer Totalität durchweg bezogen ist. Als ein selbstbewusstes Ich gehört der Mensch der Welt mithin nicht nur an, sondern ist immer auch von ihr geschieden. Tillich ist nachdrücklich darum bemüht, beide Aspekte, Weltimmanenz und Welttranszendenz des Menschen, gleichermaßen festzuhalten. Gegenüber der idealistischen Annahme, der Mensch könne sich nach Weise eines absoluten Subjekts unmittelbar sein Weltdasein setzen, wird auf die alternativlose und elementare Weltgebundenheit aller menschlichen Selbstvollzüge verwiesen. Die nachidealistische Wende des Denkens im Zusammenhang etwa der Erkenntnis biologisch-evolutionärer Bedingtheit des Menschen sowie der Entdeckung der Bedeutung des Unbewussten für die menschliche Psyche erscheint Tillich als schlechterdings unhintergehbar. Gleichwohl wird das Wesen des Menschen nach seinem Urteil nicht minder verkannt, wenn dieser in naturalistisch-materialistischer Externperspektive als bloß welthaftes Objekt beschrieben wird, weil einer solchen Außenbetrachtung die für das menschliche Sein charakteristische Selbstbeziehung zwangsläufig entgehen muss. Tillich zieht daraus den Schluss, dass Selbstbeziehung und Weltbeziehung wechselseitig vermittelt sind, der polare Zusammenhang von Selbst und Welt von keiner Seite her aufgelöst werden darf. „Das Selbst ohne Welt ist leer, die Welt ohne Selbst ist tot.“ (Tillich, STh I, 202) Ist mit der Polarität von Selbst und Welt die ontologische Grundstruktur umschrieben, so repräsentieren die Polaritäten von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal die ontologischen Elemente, welche die Grundstruktur des Seienden konstituieren. „In diesen drei Polaritäten drückt das erste Element die Selbstbezogenheit des Seienden aus, seine Macht, et-

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was für sich zu sein, während das zweite Element die gegenseitige Abhängigkeit des Seienden, seinen Charakter, Teil eines Universums des Seienden zu sein, ausdrückt.“ (Tillich, STh I, 195) Ist damit die existentielle Verfassung des geschichtlichen Daseins des Menschen in einer gegebenen Welt umschrieben, so ist die faktische Existenz nicht durch Integration der bezeichneten Polaritäten, sondern durch deren Desintegration gekennzeichnet. Freiheit und Schicksal depravieren zu Willkür und Zwangsnotwendigkeit, Dynamik und Form zu Maßlosigkeit und Starre, Individualisation und Partizipation zu solipsistischer Atomisierung und einer Vergesellschaftung, in welcher der Einzelne zum bloßen Funktionsmoment eines vermeintlich Ganzen herabgesetzt wird. Die Zweideutigkeiten des Lebens in der geschichtlichen Dimension lassen sich als Folge derartiger Depolarisierungen begreifen, deren Behebung des Prozesses sog. Essentifikation und der Manifestation des Reiches Gottes bedarf, wie es in spezifischen Kairoi innergeschichtlich zum Vorschein kommt, um am Ziel der Geschichte eschatologisch sich zu vollenden. Tillich selbst war der festen Überzeugung, in eiTheologie des Kairos ner vom Ewigen bewegten Zeit des Kairos zu leben und zu denken. Das motivierte ihn zu gleichsam seismographischer Aufmerksamkeit für den Entwicklungsgang seiner Zeit und zu einer Offenheit und Weite des Horizonts, die in den theologischen Disziplinen bis hin zur Religionspädagogik, aber darüber hinaus im religiös interessierten öffentlichen Bewusstsein überhaupt nachhaltige Wirkung hervorrief und noch heute zu beeindrucken vermag. Auch wenn seine Kairostheologie in vielen ihrer Aspekte der Vergangenheit angehört, lässt sich an Tillichs Denken noch heute exemplarisch verdeutlichen, „worin im Rahmen der Geschichte christlicher Theologie der besondere Beitrag der neueren deutschen evangelischen Theologie seit Gottlob Christian Storr und Friedrich Schleiermacher bestanden hat: In einem kulturellen Klima, in welchem die Institutionen der öffentlichen Kultur und die Begriffe von Recht, Staat und Religion zunehmend auf die Natur des Menschen begründet worden waren und in welchem mit der Philosophie Kants der Begriff des Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt gerückt war, haben die Theologen in Auseinandersetzung mit der Philosophie Gott als den Konstitutionsgrund menschlicher Subjektivität dargetan und damit eine Neubegründung christlicher Theologie und ihres Anspruchs auf allgemeingültige Wahrheit verbunden.“ (Pannenberg, 350)

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14. Entwicklungstendenzen nachdialektischer Theologie seit 1945

Lit.: A. v. Harnack, Reden und Aufsätze. Erster Band, Gießen 21906. – W. Härle/E. Herms, Deutschsprachige protestantische Dogmatik nach 1945. Teil I, in: VuF 27 (1982), 2–100; Teil II, in: VuF 28 (1983), 1–91. – J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997. – G. Wenz, „... der Unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herlich Licht“ (BSLK 790, 21f.). Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts, in: R. Rittner (Hg.), Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche, Hannover 2004, 104–163. – Ders., Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003.

Die Titelbegriffe der beiden Traktate über ReligiTransformation reformatorion und Offenbarung enthalten einen indirekten scher Theologie Hinweis auf zwei Zäsuren in der Entwicklungsgeschichte evangelischer Theologie nach der Reformation. Im Zuge einer fortschreitenden Krise der Dogmatik altprotestantischer Orthodoxie im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert kam es zu weitgreifenden Umorientierungen, die man gelegentlich mit der Kennzeichnung „Neuprotestantismus“ versehen hat. Trotz ihrer Pauschalität verweist diese Charakteristik zutreffend auf eine einschneidende Veränderung der konzeptionellen Gesamtanlage evangelischer Theologie unter den aufgeklärten Bedingungen der Neuzeit. In den Religionsphilosophien Kants und Hegels sowie in der Religionstheologie Schleiermachers erreichte dieser Transformationsprozess einen Gipfelpunkt. Entwürfe von vergleichbarer systematischer Dichte und integrativer Kraft sind im deutschsprachigen Protestantismus des 19. Jahrhunderts nicht mehr hervorgebracht worden. Selbst Ritschl und seine Schule machen diesbezüglich keine Ausnahme. Vielmehr mehren sich in ihrem Kontext die Indizien für eine erneute Krise, deren Anfänge sich mit dem Ende der idealistischen Großsysteme abzuzeichnen beginnen, um in vielerlei Hinsicht erkenntlich und spätestens im Zusammenhang mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs definitiv manifest zu werden. Karl Barths „Theologie der Krise“ ist dafür ein signifikantes Beispiel. In ihr reflektiert sich nicht nur eine allgemeine Autonomiekrise der Neuzeit, sondern auch eine Radikalkrise des religiösen Bewusstseins der Moderne, wie es den sog. Neuprotestantismus in all seinen Formationen geprägt haben soll. Das Zurücktreten des Religionsbegriffs als eines Grundparadigmas theologischer Selbstverständigung zugunsten des Offenbarungsbegriffs kann hierfür als zentraler Beleg gelten. Der Aufbruch der Dialektischen Theologie nach Weltkriegsende bestimmte trotz

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Nachdialektische Theologie seit 1945

bald erkennbarer innerer Spannungen und Zerfallserscheinungen die theologiegeschichtliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend. Er wurde begleitet von einem „anderen Aufbruch“ (H. Assel), der ersterem auf seine Weise korrespondierte und durch eine konzentrierte Neubesinnung auf den reformatorischen Rechtfertigungsglauben gekennzeichnet war: die sog. Lutherrenaissance, die ebenfalls in den zwanziger Jahren einsetzte, um für zwei Jahrzehnte und darüber hinaus in hohem Maße einflussreich zu werden. Wie die Dialektischen Theologen um die Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“, so sammelte sich der Kreis der durch Karl Holl inspirierten Lutheradepten vor allem um die seit Frühjahr 1923 erscheinende „Zeitschrift für Systematische Theologie“. Neben Elert, Althaus und Hirsch sind der Gruppierung eine Reihe von Kählerschülern oder der mit dem gleichnamigen Ritschlianer Wilhelm nicht zu verwechselnde Rudolf Hermann zuzurechnen. Zum Scheidedatum der Aufbruchsbewegung, die wie diejenige der Dialektischen Theologie durch ein gemeinsames Bewusstsein der Krise der überkommenen Theologiekonzepte motiviert war, wurde das Jahr 1933, sofern in den Monaten nach der Machtergreifung Hitlers die Gruppierung in Anhänger und Gegner eines sog. deutschen Christentums zerfiel. Nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes Die Krise der Theologie der und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkten Krise die Impulse der Lutherrenaissance in, wenn man so will, gereinigter Form weiter; ihre für die nationalsozialistische Ideologie anfälligen Anteile wurden korrigiert oder systematisch abgestoßen, ohne deshalb den Kontinuitätsanspruch zur Ursprungsintention preiszugeben. Dabei kam es einerseits zu Verschmelzungen genuin lutherischer Traditionselemente mit dem Ansatz der Barth’schen Theologie, die sich durch die politischen Entwicklungen bestätigt und als theologische Basis bekennender Kirche und bekennenden Christentums legitimiert sah. Andererseits wurden auch barthkritische Bestände weitergepflegt mit der Begründung, dass etwa die traditionell lutherische Lehre von den zwei Regimenten sowie von Gesetz und Evangelium oder der von den reformierten spezifisch unterschiedene Ansatz der Wittenberger Reformation in Christologie und Abendmahlslehre von der erfolgten Kompromittierung einer Theologie deutschen Christentums im systematischen Kern nicht betroffen sei. Diese Begründung gewann durch den Hinweis an Plausiblität, dass sich auch innerhalb der Dialektischen Theologie im Zusammenhang des mit dem Kürzel „natürliche Theologie“ nur sehr unzureichend bezeichneten Problembereichs schon beizeiten Tendenzen einer Umorientierung geltend gemacht hatten, ohne deshalb zwangsläufig ins Fahrwasser einer völkisch-nationalsozialistisch infiltrierten Theologie zu führen. Die Fallstudien zu Brunner und Bultmann, die bei allen Unterschieden mannigfache systematische Parallelen zu Elert, Althaus und Hirsch zu erkennen gaben, haben das grundsätzliche Recht dieses Hinweises bestätigt und zugleich deutlich gemacht, dass keineswegs jede Form theologischer Barthkritik durch das Die Krise des Neuprotestantismus

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Verdikt einer manifesten oder latenten Ideologieanfälligkeit desavouiert werden kann. Auch Paul Tillich bietet hierfür ein Beispiel. Sein Ansatz kann zugleich paradigmatisch für Das liberale Erbe eine weitere Hauptgruppierung stehen, die neben der durch Barth bestimmten, durch Theologen wie Brunner und Bultmann repräsentierten sowie neben der Gruppe derjenigen, welche die Lutherrenaissance kritisch und konstruktiv fortsetzten, die Lage der deutschsprachigen evangelischen Theologie nach 1945 nicht unwesentlich mitprägte: für den Kreis der liberalen Theologen, welche unter gewandelten Voraussetzungen das Erbe des Neuprotestantismus anzutreten sich anschickten. Zwar war auch die neuprotestantische Erbengemeinschaft von den Erfahrungen des Kirchenkampfes nicht unberührt geblieben; doch wirkte sich diese Prägung in ihren Kreisen aus Gründen nicht zuletzt einer starken internationalen Verflechtung weniger gravierend aus als bei den drei anderen Gruppierungen. Tillich etwa, um bei seinem Beispiel zu bleiben, kam zu seinem in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren anhebenden großen Einfluss in Deutschland auf dem „Umweg“ über die Vereinigten Staaten, wohin er sich bereits 1933 begeben hatte, um der nationalsozialistischen Repression zu entgehen. Andere führende Repräsentanten des neuprotestantischen Liberalismus wie Fritz Buri (1907–1995) oder Martin Werner (1887–1964) entfalteten ihre Wirksamkeit ohnehin primär von einem außerdeutschen, im gegebenen Fall Schweizer Standort aus. Auf beider Konzeptionen ist hier ebenso wenig einzugehen wie auf sonstige Neuansätze liberaltheologischer Tradition nach 1945. Auch zu den Dogmatikentwürfen im direkten Gefolge Barths werden keine weiteren Ausführungen gegeben; unter den älteren Schülern seien lediglich Hermann Diem (1900–1975) und Otto Weber (1902–1966), unter den Barthianern der jüngeren Generation etwa Klaus Schwarzwäller oder Friedrich Mildenberger genannt (vgl. Härle/Herms I, 27–40, 75–88). Eine bemerkenswerte Wirksamkeit wurde unter den dialektischen Theologen der ersten Gene- Der neue Gogarten ration in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal Friedrich Gogarten (1887–1967) zuteil. Geriet seine theologische Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren fortschreitend in den Schatten politischer Romantik (Th. Strohm), so gründete sich sein Einfluss in der Nachkriegszeit vor allem auf die intensive Beschäftigung mit dem Thema der Säkularisierung, die er vom Säkularismus als ihrer Entartungsgestalt kategorisch unterschieden wissen wollte. Einschlägig hierfür ist insbesondere die Schrift „Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit“ von 1953. Die Monographie „Der Mensch zwischen Gott und Welt“ von 1965 dient sodann dem großangelegten Versuch, die Aktualität der Lehre von Gesetz und Evangelium, die unter Bezug auf das Alte Testament, hinsichtlich der jesuanischen und paulinischen Verkündigung und in ihrer Gestalt bei Luther geschichtlich erörtert wird, im Sinne einer Theorie theonomer Konstitution von Freiheit zu erweisen. Hinter die neuzeitliche Autono-

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mie gibt es nach Gogarten keinen Weg zurück. Die Aufgabe von Christentum und Theologie bestehe im Wesentlichen darin, menschliche Autonomie vor ihrer Verkehrung in abstrakte Selbstbestimmung zu bewahren und sie auf diese Weise zu konkreter Freiheit zu bestimmen. Das könne nicht gegen die säkulare Welt geschehen, wie sie in Wissenschaft, Kultur und Geschichte Realität geworden sei, sondern nur in ihr, und zwar dergestalt, dass ihre ideologische oder nihilistische Entartung in Säkularismus verhindert werde. Dass der Säkularismus der Neuzeit nicht zum Verhängnis wird, ist nach Gogarten im Entscheidenden davon abhängig, dass die Moderne – statt der Ideologie oder dem Nihilismus zu verfallen – sich in freier geschichtlicher Verantwortung des Menschen vor Gott säkular gestaltet, was ohne den christlichen Glauben angemessen nicht möglich ist. Eine weitere Rezeptionsform der traditionellen Hermeneutische und andere Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Ansätze neben der Gogarten’schen und anderen in der Nachkriegszeit einflussreich wurde, habe ich in anderem Zusammenhang am Fallbeispiel der dreibändigen „Dogmatik des christlichen Glaubens“ von Gerhard Ebeling (1912–2001) aus dem Jahr 1979 exemplifiziert (Wenz, Fallbeispiele, 156– 163). Der Name Ebeling kann zugleich beispielhaft für jene Richtung deutschsprachiger evangelischer Theologie stehen, die man die hermeneutische genannt hat und die zum Teil vom Denken Hans-Georg Gadamers (1900–2002) und seiner Schule geprägt wurde (vgl. Härle/Herms II, 1–29). Ernst Fuchs (1903–1983) wäre in diesem Kontext ebenfalls zu nennen. Einen Bultmann’sche und andere Traditionselemente integrierenden hermeneutischen Barthianismus der eigenen Art repräsentiert Eberhard Jüngel, dessen Mitte der 70er Jahre erschienenes Werk „Gott als Geheimnis der Welt“ nicht nur in Deutschland großen Anklang fand. An nationaler und internationaler Breitenwirkung übertroffen wurde Jüngel von seinem Tübinger Fakultätskollegen Jürgen Moltmann, der die Wort-Gottes-Theologie wie auf andere Weise auch Walter Kreck (1908–2002), Hans-Joachim Kraus (1918–2000) oder Gerhard Sauter konsequent eschatologisch zu konzipieren trachtete. Der Publikumserfolg seiner „Theologie der Hoffnung“ von 1964 initiierte einen alle Themenbereiche der Dogmatik umfassenden Systementwurf. Die große Öffentlichkeitsresonanz des MoltZäsuren und Gemengelagen mann’schen Werkes hat nicht wenig damit zu tun, dass sich in ihm ein Zeitgeistwandel widerspiegelt, für den im Blick auf die deutschen Verhältnisse das Jahr 1968 symbolisch wurde. Stellen die von neuaufgelegter Blochmusik und anderen schrillen Klängen begleiteten Studentenunruhen zwar keineswegs einen epochalen Einschnitt dar, so markieren sie doch eine nicht unerhebliche Veränderung des geistigen Klimas der Republik. In Theologie und Kirche von den einen als Traditionsabbruch und soziokulturelles Desaster beklagt, begriffen die anderen die Revolte als Chance für eine antirestaurative Reformbewegung und begrüßten sie mehr oder minder verhalten als Impuls eines zeitgemäßen Modernisierungsschubs. Insofern bietet sich in bundesrepublikanischer Hinsicht das Datum 1968 als möglicher Gliederungs-

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gesichtspunkt der zweiten Hälfte des – vom ersten Weltkrieg einerseits und den Umwälzungen in den ausgehenden 80er Jahren andererseits begrenzten – kurzen 20. Jahrhunderts auch unter theologiegeschichtlichen Aspekten an. Aus größerer historischer Distanz betrachtet wird vermutlich dennoch weniger der Eindruck einer einschneidenden Zäsur als der einer verhältnismäßig kontinuierlichen Entwicklung überwiegen. Bereits der Zweite Weltkrieg markiert theoloExemplarische Entwickgiegeschichtlich einen weitaus geringeren Ein- lungstendenzen schnitt als der Erste. Anders als in den Jahren nach 1918 kam es nach 1945 zu keinem Kontinuitätsbruch. Die Positionen der Vorkriegszeit wirken fort, um sich durch wechselseitige Abgrenzung und Verknüpfung zu differenzieren und zu pluralisieren und eine Lage herbeizuführen, die sich am besten mit der selbst bereits traditionell gewordenen Wendung „Neue Unübersichtlichkeit“ umschreiben lässt. In das komplexe Konstellationengeflecht auch nur der aktuellen Systematischen Theologie hierzulande eine klare historiographische Ordnung bringen zu wollen, ist ein aussichtsloses Unternehmen, das sich um so weniger realisieren lässt, als sich seit geraumer Zeit verstärkt Theorieeinflüsse nicht nur aus dem kontinentaleuropäischen Kontext, sondern aus aller Welt geltend machen: Marxismus und Neomarxismus, Existenzialismus, Strukturalismus und Poststrukturalismus, analytische Philosophie, kritischer Rationalismus, Phänomenologie in unterschiedlichen Spielarten, Prozesstheologie, Transzendentalpragmatik usw. usf. – die Reihe der Stichwörter zur Bezeichnung von Einflüssen, die mehr oder minder intensiv die theologiegeschichtlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik mitbestimmten, ließe sich unschwer verlängern. Gesteigert würde dadurch weniger die Ordnung als die konstatierte Unübersichtlichkeit. Kann allenfalls die Geschichte der Theologie in der DDR als ein verhältnismäßig abgeschlossenes Kapitel beschrieben werden, so ist, was die Zäsur der Jahre 1989ff. für die gesamtdeutsche, europäische und globale Theologieentwicklung bedeutet, in einem tieferen Sinn bis heute so wenig begriffen wie die territorial- und welthistorische Bedeutung dieser Zäsur selbst. Auch diesbezüglich bestätigt sich die Richtigkeit der Hegel’schen Sentenz, dass die Eule der Minerva erst in der Dämmerung zum Flug anhebt. Als eine Verlegenheitslösung des Problems, die Entwicklung der deutschsprachigen evangelischen Theologie nach 1945 unter einen Oberbegriff zu bringen, ist ihre Bezeichnung als nachdialektische Phase angeboten worden. Dieser Charakteristik ist zumindest insofern zutreffend, als in der Nachkriegsentwicklung spätestens seit den 60er Jahren die Impulse der Dialektischen Theologie allmählich verblassen. In gewisser Weise zeichnet sich diese Wendung bei Karl Barth selbst ab. Als er im Jahr 1956 bei einer Pfarrervereinstagung im Schweizerischen Aarau einen Vortrag mit dem signifikanten Titel „Die Menschlichkeit Gottes“ zu halten hatte, nahm er diese Gelegenheit zum Anlass, die Wende der Zwanziger Jahre zu historisieren und eine neue Wende anzuzeigen, in der man im Unterschied, wenn auch nicht im Gegensatz zu der ersten heute begriffen sei. Ein mildes Licht umhüllt die

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Aarauer Szene. Der Geist Adolf von Harnacks wird zwar nicht zum Zwecke später Verherrlichung beschworen, aber auch nicht länger in den Orkus der Theologiegeschichte verbannt. Im Übrigen räumt Barth kommenden Generationen freimütig einen Platz und eine Aufgabe in der Theologiegeschichte ein, damit sie jene Wendung vollziehen, in der er selbst sein Denken bereits begriffen sieht. Es entbehrt von daher nicht der Konsequenz, dass die meisten Theologen, die sich bewusst in einen Kontinuitätszusammenhang mit der Barth’schen Theologie stellten, dessen Spätwerk bevorzugen. Als charakteristische Grundtendenzen der nachdialektischen Entwicklungsphase der deutschsprachigen Systematischen Theologie lassen sich u.a. folgende namhaft machen: Neben einer mehr oder minder ausgeprägten Emanzipation Ethischer Theologie von der Dogmatik, der die Ethik im Barth’schen System integriert war, insbesondere eine weitreichende Rehistorisierung des theologischen Bewusstseins verbunden mit einer Neubesinnung auf die Themen der Anthropologie, die – gelegentlich verbunden mit kosmologischen Interessen – zur fundamentaltheologischen Leitwissenschaft avanciert, womit eine Neubewertung der Religionsthematik und insbesondere der Religionsgeschichte einhergeht. Hinzukommt eine überkommene konfessionelle Fixierungen transzendierende Horizonterweiterung in der Absicht, die traditionellen Themenbestände in der globalen Perspektive ökumenischen Christentums zu erfassen. Kann als prominentes Beispiel für die Emanzipation der Ethik von der Dogmatik die 1980/81 in zwei Bänden publizierte ethische Theologie von Trutz Rendtorff gelten, so sind – um im Rahmen der 1968 gegründeten Münchener Evangelisch-Theologischen Fakultät als dem akademischen Sitz im Leben der vorliegenden Texte zu verbleiben – die im Übrigen benannten Tendenzmomente in der Theologie Wolfhart Pannenbergs zu einer eindrucksvollen Synthese gebracht. Mit dessen Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ von 1961 kündigte sich innerhalb des deutschen Protestantismus ein neuer theologischer Gesamtentwurf an, der sich von den beiden herrschenden Gestalten der WortGottes-Theologie, der existentialen Hermeneutik der Bultmannschule und dem religionskritischen Offenbarungsdenken des Barthianismus, gleichermaßen abgrenzte. Der antihistorische Glaubenssubjektivismus, welcher diese beiden Spielarten der Dialektischen Theologie nach Pannenbergs Urteil kennzeichnet, sollte überwunden werden durch Wiederentdeckung der Geschichte als des umfassenden Mediums der Offenbarung Gottes und durch Nachweis einer allem Irrationalismus und Dezisionismus überlegenen Vernünftigkeit des Glaubens. Intendiert wurde vornehmlich eine Rekonstruktion der Geschichte des Christentums, die dessen Ursprünge mit der christlichen Gegenwart vermittelt. Als durch die Christentumsgeschichte selbst nahegelegte Leitkategorie sollte der das künftige Geschehen einschließende und daher eschatologisch ausgerichtete Gedanke der Universalgeschichte fungieren, welcher der Bedingtheit jedes Einzelgeschehens durch das künftige Ganze Rechnung trägt und mit der Einsicht in die Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Verlaufs das Bewusstsein der Vorläufigkeit allen historischen Geschehens und seiner Darstellung verbindet.

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Die universalgeschichtliche Orientierung der Hermeneutik suchte die Auflösung der Theologie in eine bloße Sprachlehre des Glaubens zu vermeiden und forderte statt dessen die Ausarbeitung einer religionsgeschichtlichen Theologie, welche die Offenbarungsgeschichte mit den wissenschaftlichen Mitteln der historisch-kritischen Forschung untersucht. Das Christentum mit seiner eschatologischen Botschaft von der kommenden und in Jesus von Nazareth bereits angebrochenen Gottesherrschaft wurde verstanden im Kontext der geschichtlichen Überlieferungen Israels, insbesondere der jüdischen Apokalyptik. Als Spezifikum des christlichen Glaubens galt dabei die Annahme, dass sich das Ende der Geschichte und die Zukunft der Welt in der Auferweckung Jesu Christi als der Bestätigung seines Vollmachtsanspruches durch Gott vorwegereignet habe. Pannenbergs Theologie stellt einen Versuch dar, diese Annahme vor dem Forum des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins zu rechtfertigen. Anthropologisch sollte die Vernünftigkeit des Glaubens vor allem anhand der Struktur der Gottoffenheit des Menschen aufgewiesen werden. Zugleich wurden die Aussagen des christlichen Glaubens selbst als eine den universalen Sinnzusammenhang thematisierende Hypothese begriffen, deren endgültige Verifikation noch aussteht, womit die Theologie eine Fundierung im Rahmen der allgemeinen Wissenschaftstheorie erhielt und sich so als rationale Theologie gestalten konnte. Besondere Erwähnung verdient, dass Pannenberg gegenüber einer individualisierten Verengung des christlichen Glaubens stets den in der Botschaft Jesu vom kommenden Gottesreich implizierten Zusammenhang von Glaube und Gesellschaft betont hat, der die Christentumsgeschichte auch noch in ihrer modernen, einer mehr oder minder säkularen Welt ausgesetzten Gestalt charakterisiert. Der Überwindung isolierter Privatheit der Frömmigkeit, wie sie durch die neuzeitliche Konfessionalisierung des Christentums zumindest mitverursacht ist, dienten dabei nicht zuletzt seine Bemühungen um die Einheit der Kirchen, ohne welche nach Pannenbergs Auffassung auch die Einheit einer auf dem Boden christlich geprägter Kultur begründeten Gesellschaft langfristig nicht zu erhalten ist. In diesem Sinne stellt sein Denken nicht nur eine sich an den allgemeinen Kriterien von Rationalität orientierende wissenschaftliche Theologie, sondern ebenso eine durch Ökumenizität ausgezeichnete kirchliche Lehre dar. Mit der in den Jahren 1988 bis 1993 erschienen dreibändigen „Systematischen Theologie“ liegt Pannenbergs „opus magnum“ vor. Meinem einführenden Bericht in dieses Werk sind neben den nötigen inhaltlichen auch weiterführende Hinweise zu den theologiegeschichtlichen Rahmenbedingungen der Zeit des angehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu entnehmen (Wenz, Bericht, 9ff.). Die soziokulturelle Welt der euro-amerikanischen Gegenwart ist durch einen beschleunigten Wandel überkommener Lebensformen charakterisiert. Dieser Wandel wird in erheblichem Maße auch in der Welt des Religiösen wirksam. Daher mag es als verfehlt erscheinen, den an der Entwicklung der Neuzeit orientierten Traktaten zu Religion und Offenbarung einen Kirchentraktat beizugeben, der in wesentlichen Teilen auf Überlieferungen und traditionale Gegebenheiten der Re-

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formationszeit bezogen ist. Trotz solcher Bedenken, die nicht von der Hand zu weisen und ekklesiologisch zu berücksichtigen sind, ist die Kenntnis des Konfessionalisierungsprozesses des 16. Jahrhunderts die elementare Voraussetzung dafür, nicht nur die spezifische Verfassung reformatorischen Christentums und seiner Kirchentümer hierzulande im Kontext aktueller Ökumene zu erfassen, sondern zugleich eine angemessene Beurteilung der Moderne und ihrer Genese zu leisten. Erinnerung ist der Modus von Geistesgegenwart, wurde eingangs gesagt. Dabei bleibt es: Ohne ein ausgebildetes kulturelles Gedächtnis kann es eine zukunftsfähige Einschätzung der gegenwärtigen religiös-kirchlichen Lage nicht geben. Adolf von Harnack war ein Theologe, den man kaum unter die Antimodernisten rechnen wird. Dennoch sah sich der Gründungspräsident der „Kaiser-Wilhelm-“ und späteren „Max-Planck-Gesellschaft“ bereits vor einem Jahrhundert veranlasst, vor kurzatmiger Innovationssucht in den Wissenschaften zu warnen und für das Prinzip wissenschaftlicher Nachhaltigkeit zu plädieren. Die Anlässe zu einem warnenden Plädoyer dieser Art dürften in Anbetracht der gegenwärtigen Hochschullandschaft und ihrer politisch-ökonomischen Umgestaltung nicht geringer geworden sein. „Ein König fragte einst einen seiner Gelehrten: ‚Was gibt es Neues in Ihrer Wissenschaft?‘ und erhielt darauf die Gegenfrage: ‚Kennen Majestät schon das Alte?‘“ (Harnack, 315)

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Register erstellt von Dr. Miriam Rose

Namensregister Abraham 261 Adenauer, K. 162f. Adorno, Th.W. 185f., 260 Althaus, P. 41, 80, 174, 214, 217, 219, 236, 238f., 244f., 246ff., 272 Althaus, P. d.Ä. 244 Althoff, F. 134 Ammon, Chr.F. v. 173 Andronikos von Rhodos 86 Anselm von Canterbury 204 Aristoteles 86, 187, 226 Athanasius 143 Attlee, C.R. 160 Augustin 34, 63, 65, 141, 147f. Baden, Max v. 152 Baeck, L. 136 Barth, K. 28, 37, 41f., 79ff., 149, 194ff., 227, 235ff., 246, 250, 258, 271, 275f. Baudissin, W.W. Graf v. 133 Bauer, B. 172 Baur, F. 121ff., 172, 175 Beck, J.T. 174 Bergson, H. 182 Bernhard, Th. 186 Bernoulli, C.A. 149 Bethmann Hollweg, T. v. 59 Biedermann, A.E. 173 Bismarck, O. von 54, 56ff. Bloch, E. 180 Blumhardt, Chr.F. 203 Blumhardt, J.Chr. 203 Bonhoeffer, D. 213 Bousset, W. 175 Brandt, W. 163f.

Brentano, F. 107, 182 Bretschneider, K.G. 173 Brüning, H. 155 Brunner, E. 41, 80, 194, 202, 213, 219ff., 235, 246, 248, 272f. Brunner, O. 11 Buber, M. 220 Bülow, B. v. 59 Bultmann, R. 41, 70, 80, 193f., 196, 202, 214, 219, 226ff., 235, 245, 260, 272f., 276 Burckhardt, J. 106 Buri, F. 273 Calvin, J. 207, 221, 238 Caprivi, L. v. 59 Cassirer, E. 120 Chamberlain, A.N. 157 Churchill, W. 160 Cohen, H. 120, 181, 204 Conze, W. 11 Daub, C. 37, 74, 172 De Gaulles, Ch. 163 De Maizière, L. 166 Descartes, R. 187 Diem, H. 273 Diestel, L. 123 Dilthey, F.N.W. 182 Dönitz, K. 160 Dorner, I.A. 172 Duns Scotus 193 Ebeling, G. 274 Ebert, F. 153

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Register

173, 182, 198, 205, 208, 212, 215, 271, 275 Heidegger, F. 185 Heidegger, M. 42, 107, 181ff., 258, 260 Heim, K. 245f. Heinemann, G. 164 Heinrich, J.A. 111 Hengstenberg, E.W. 172 Henke, H.Ph.K. 173 Herberger, S. 161 Herder, J.G. 172 Feil, E. 213 Hermann, I. 103 Feuerbach, L. 149, 198, 206, 208 Fichte, J.G. 36, 39f., 49, 87ff., 91, 93, 103, Hermann, R. 272 Herrmann, W. 69, 120, 132ff., 173, 196, 111, 199, 212, 250f. 203, 272 Flatt, J.F. 113 Heuss, Th. 163 Frank, F.H.R. 174 Himmler, H. 158 Franz II 48 Hindenburg, P. v. 155 Freud, S. 180 Hinrichs, H.F.W. 32, 121 Friedrich 58 Hirsch, E. 41, 80, 110, 214, 219, 235f., Friedrich Wilhelm IV. 53 238, 245, 250ff., 272 Fries, J.F. 30, 172 Hitler, A. 154ff., 238, 272 Fuchs, E. 274 Hoffmann, J. 153 Hofmann, J.Chr.K. v. 174 Gabler, J.Ph. 173 Hohenlohe-Schillingfürst, Fürst C. zu 59 Gadamer, H.-G. 274 Hölderlin, F. 194 Gestrich, Chr. 219 Holl, K. 245, 251, 272 Globke, H. 162 Honecker, E. 165 Goebbels, J. 159 Horckheimer, M. 260 Goethe, J.W. 205, 258 Hume, D. 29 Gogarten, F. 201, 213, 216ff., 273f. Husserl, E. 107, 182ff., 193 Gorbatschow, M.S. 165 Grass, G. 186 Ihmels, L. 174 Grillparzer, F. 57 Isaak 261 Guillaume, G. 164 Jacobi, F.H. 29ff. Gunkel, H. 175 Jakob 261 Jakobus 237 Habermas, J. 183 Jeremia 237 Hamann, J.G. 29 Jesaja 237 Harnack, A. v. 17, 21, 25, 42, 132ff., 173, Johannes 100 175, 179, 196, 202f., 276, 278 Jülicher, A. 198 Harnack, Th. v. 133, 173 Jüngel, E. 196, 274 Hartmann, N. 181 Jünger, E. 181, 199 Hase, C. v. 175 Hase, K.A. v. 171 Kaftan, J. 133, 175 Hegel, G.F.W. 18f., 24f., 28, 31ff., 42, 49, Kähler, M. 69f., 79f., 173f., 245, 257ff., 61f., 73ff., 87ff., 100, 105, 119, 121f., 272 Ebner, F. 220 Eisenhower, D.D. 163 Eisner, K. 153 Elert, W. 41, 80, 174, 214, 219, 236, 238ff., 272 Elia 237 Erdmann, J.E. 121 Erhard, L. 163 Eucken, R. 199

Namensregister

Kant, I. 18, 24f., 28ff., 33, 35f., 40, 42, 51, 61, 66ff., 71, 76, 86ff., 91f., 104, 106ff., 117, 119ff., 125, 131, 135, 173, 187, 198, 208, 212, 261, 270f. Karl August 48 Kennedy, J.F. 163 Kierkegaard, S. 77ff., 84f., 189, 205, 251f., 258, 260 Kleuker, J.F. 111, 173 Knapp, G.Chr. 111, 173 Kohl, H. 164 Koselleck, R. 11, 38 Kotzebue, A. 50 Kraus, H.-J. 274 Kreck, W. 274 Krenz, E. 165 Krug, W.T. 173

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Metternich, C.W.L. 50, 52 Mildenberger, F. 273 Modrow, H. 165f. Moltke, H.J. Graf v. 56 Moltmann, J. 274 Mommsen, H. 11 Mommsen, Th. 134 Montgelas, Graf 48 Mose 237 Mühsam, E. 153 Müller, J. 67ff., 71ff., 79, 82ff., 121, 174 Mussolini, B. 157 Napoleon 47ff. Natorp, P. 120, 181, 199, 204 Niebuhr, B.G. 30 Niekisch, E. 153 Nietzsche, F. 106, 149, 180, 206 Nitzsch, C.I. 172 Novalis (F. v. Hardenberg) 175

Laktantius 34 Landauer, G. 153 Leibniz, G.W. 86 Origenes 68 Lessing, G.E. 243 Otto, R. 238, 260 Liebknecht, K. 153 Overbeck, F. 149f., 180 Lipsius, R.A. 133 Locke, J. 47 Pannenberg, W. 41, 276f. Loeffler, J.F.Chr. 173 Papen, F. v. 155 Loisy, A. 135, Pascal, B. 261 Lotze, R.H. 105, 121, 135, Paulus 100, 147 Lübbe, H. 199 Paulus, H.E.G. 173, 198, 229, 237 Ludwig XIV. 56 Pétain, H.Ph. 158 Ludwig XVI. 46 Petrus 100 Lütgert, W. 259 Luther, M. 40, 147f., 217, 245, 251, 257, Pfenninger, J.K. 109f. Pfleiderer, O. 175 273 Philo von Alexandrien 38 Luxemburg, R. 153 Plato 226 Plotin 38 Mann, Th. 181, 257f. Mannheim, K. 260 Ranke, L. v. 177 Marcel, G. 186 Reinhard, F.V. 111, 173 Marheineke, P. 37, 172 Reinhold, K.L. 109f. Markion 121, 134 Reischle, M. 133 Marquard, O. 76 Rendtorff, T. 218, 276 Martensen, H.L. 172 Rickert, H. 120, 181 Max Joseph 48 Ritschl, A. 24, 42, 62, 105, 120ff., 148, Medicus, F. 259 173, 175, 208, 271 Meinecke, F. 177 Robespierre, M. d. 47 Merleau-Ponty, M.J.-J. 183

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Register

Rocholl, R. 238 Röhm, E. 157 Röhr, J.F. 173 Rössler, D. 20 Rothe, R. 131, 173 Rousseau, J.-J. 47 Safranski, R. 186 Sand, K.L. 50 Sartorius, E. 111 Sartre, J.-P. 183 Sauter, G. 274 Schabowski, G. 165 Schaller, J. 121, Scheel, W. 164 Scheler, M. 182, 260 Schelling, F.W.J. 25, 37, 42, 62, 74, 76f., 79, 87ff., 100ff., 214, 259, 261 Schieder, T. 11 Schiller, F. 258 Schlatter, A. 203, 244 Schlegel, A.W. 175 Schleiermacher, F.D.E. 9ff., 19ff., 28, 30ff., 42, 44, 49, 61, 69f., 82ff., 91, 106, 121, 125, 131, 134f., 171ff., 196, 198, 204f., 208, 212, 215, 220, 251, 259, 261, 270f. Schmidt, H. 164 Schmitt, C. 180 Scholz, H. 133 Schopenhauer, A. 107 Schumacher, K. 160 Schürer, E. 133 Schwarzwäller, K. 273 Schwegler, F.K.A. 122 Schweitzer, A. 131 Schweizer, A. v. 172 Semler, J.S. 140, 173, 178 Sombart, W. 199 Sozzini, F. 65 Spaemann, R. 181 Spengler, O. 180, 238 Stalin, J.W. 160

Stange, C. 244 Stäudlin, K.F. 173 Stein, von und zu K. 48 Steinbart, G.S. 63f. Stoph, W. 165 Storr, G.C. 24, 62, 111ff., 124, 173, 270 Strauß, D.F. 122f., 172, 174f., 178 Stresemann, G. 154 Süskind, F.G. 111, 113ff., 119, 124 Teller, W.A. 173 Tholuck, F.A.G. 69f., 73, 75f, 121, 174 Thomas von Aquin 17, 34, 207 Thurneysen, E. 203 Tieftrunk, J.H. 113, 115ff., 124, 173 Tillich, P. 41, 70, 80, 89ff., 181, 202, 214f., 219, 235, 250, 258ff., 273 Tittmann, K.Chr. 111, 173 Toller, E. 153 Töllner, J.G. 64 Traub, F. 133 Troeltsch, E. 13, 42, 136f., 175ff., 208 Truman, H.S. 160 Twesten, A. 171 Tzschirner, H.G. 173 Vatke, J.K.W. 174 Weber, M. 13, 157, 177 Weber, O. 273 Wegscheider, J.A.L. 173 Wehler, H.-U. 12, 14, 157 Weiß, J. 131f. Weiße, H.C. 103 Wellhausen, J. 174 Werner, M. 273 Wette, W.M.L. d. 69, 172 Wilhelm I. 56, 58 Wilhelm II 58, 134 Windelband, W. 120, 176, 181 Wobbermin, G. 250 Wolff, Chr. 86, 110, 208

Sachregister

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Sachregister Absolutes, absolut 87ff., 92, 94f., 97, 101, 206, 212, 253ff. Analogie 222f., 262 – analogia entis 222 – analogia fidei 222f. Angst 190, 265ff. Ansbacher Ratschlag 238, 245 Arierparagraph 156 Arnoldshainer Thesen 245 Augsburger Religionsfrieden 16

Evangelium siehe auch Gesetz und Evangelium 137ff., 147f., 213f., 224f., 236, 246ff., 254ff. Existentiale Interpretation 230ff. Französische Revolution 46f. Freiheit, frei 65ff., 73, 77f., 79, 81, 84, 126f., 201ff., 213, 219, 224, 270, 273 Frömmigkeit, fromm 82, 85 Fundamentalontologie 187

Gefühl 19, 24f., 28, 30f., 117, 128f., 147 – Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit 19, 31ff., 38, 83 Gericht Gottes 227f., 243 Geschichtsschreibung 12ff., 168ff. Geschöpf, Geschöpflichkeit 99, 255 Christentum 134ff., 140ff., 148ff., 169f., Gesetz 43, 67, 80, 245, 254f. 210f. – Gesetz und Evangelium 43, 80, 92, 224f., – Christentumsbegriff 17 234ff., 248f., 251ff., 273f. – religionsloses Christentum 213 – tertius usus legis 245 Christologie, christologisch 143, 216, Gewissen 192, 267 224f., 241, 248, 266ff. Gleichschaltung 156 – Christologie und Anthropologie 216f. – göttliche und menschliche Natur Christi Gnade 227f., 236ff., 240 Gottebenbildlichkeit 99, 223ff., 247, 249 140f. Gotteskindschaft 132, 139 Creatio ex nihilo 98, 222 Gründerzeit 59 Dasein 186ff. Hamartiologie siehe Sündenlehre Deus absconditus 242ff., 247 Deutsche Demokratische Republik 162ff. Hellenisierung 140f. Dialektische Theologie 196ff., 200ff., 214, Hermeneutik 106, 231f., 276f. Historismus 12, 42, 105ff., 149, 175ff., 193 218ff., 227, 235, 271f. – Antihistorismus 42, 147, 168, 177, 180f. Dogmengeschichte 140ff. Dreieinigkeitslehre 97f., 100, 102, 243, Industrielle Revolution 54f., 103f. 264f. Intellektuale Anschauung 90 Intersubjektivität 8f. Entmythologisierung 233f. Judenvernichtung 158f. Erbsünde 77, 209, 232f. Erfahrungstheologie 174 Kairos 264, 270 Erlanger Schule 174 Kalter Krieg 161ff. Erster Weltkrieg 59, 151f., 199f., 261 Erweckungstheologie 70, 79, 82, 121, 174, Kategorischer Imperativ 18, 35, 116, 118f., 135 197 Katholizismus 144ff. Eschatologie, eschatologisch siehe auch Reich Gottes 131f., 229, 244, 268, 274 Kerygma 228ff., 245 Barmer Theologische Erklärung 159, 204 Böses, böse 73ff., 76f., 79ff., 250 – Radikales Böse 67f., 76 Bundesrepublik Deutschland 161ff.

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Register

– Offenbarung und Religion 38f., 42, 101, 205ff., 212f., 214ff., 271 – Offenbarung und Subjektivität 10,32 – Offenbarung und Sünde 42ff., 70, 76f., 79ff., 237 – Offenbarung und Vernunft 32f., 35f., 38, 91, 101f., 108ff., 245, 261f. – Offenbarungsbegriff der katholischen Theologie 36f. – Offenbarungsphilosophie 89ff., 95ff. – Offenbarungspositivismus 213 Lebensphilosophie 182f. – Offenbarungsreligion 77, 210f. Lebenswelt 182ff. – Offenbarungstheologie 25, 41f., 112, Liebe 116ff., 128f., 226, 244 208, 211ff., 216ff. Lumen naturale 30ff., 35 – Offenbarungswahrheit 110, 207f. Lutherrenaissance 272f. – Schöpfungsoffenbarung 222f. – Selbstoffenbarung 37f., 40f., 101, 206, Marburger Schule 120 211f., 261 Metaphysik, metaphysisch 86ff., 90f., 107, – Subjektivität Gottes in seiner Offenba125 rung 195ff., 203, 211f., 218f. Moderne 15, 196, 198, 271 – Uroffenbarung 244ff. – Sattelzeit der Moderne 38 – vertiefende und verwandelnde OffenbaMythos 99, 261 rung 252f. – Zwiespältigkeit der Offenbarung 239ff. Nationalsozialismus 155ff. Ökumene, ökumenisch 168, 170, 278 Naturalismus (bezogen auf Religion) Orthodoxie 142ff. 109ff. Neologie 109f., 173 Papsttum 146f. Neukantianismus 105, 107, 120, 181 Peccatum originale siehe Erbsünde Neuprotestantismus 271ff. Personalismus 220f. Neuzeit, neuzeitlich 7, 26, 64f., 196ff., Phänomenologie 107, 182ff., 187 202f., 207, 218f., 265, 271, 274 Philosophie, negative und positive 92ff., Novemberrevolution 152ff. 99ff., 102f., 214 Protestantismus, protestantisch 21, 23, 26f., Offenbarung 61, 141f., 144f., 147ff., 155, 159, 169, – antithetische Gestalt der Offenbarung 173, 208 250ff. – Protestantismusbegriff 17 – Christusoffenbarung 119, 221, 233f. – Evangeliumsoffenbarung 253ff. Rationalismus (bezogen auf Religion) 18, – Gesetzesoffenbarung 252f., 255 108ff., 113f., 120, 124, 173 – Grundoffenbarung 247 Rechtfertigung 124, 126ff. – Heilsoffenbarung 42f., 244ff., 249f. Reformation 16 – Offenbarung als Begründung von SittReich Gottes 124ff., 129ff., 132f., 138f., lichkeit 18, 42, 113ff., 119, 124 269f. – Offenbarung als Erschließungsgeschehen Reichsdeputationshauptschluss 48 31ff., 230, 234 Reichsgründung 1871 55ff. – Offenbarung als Geschichte 276 – Offenbarung und Rechtfertigung 128f. Religion 9, 18f., 22f., 25, 34, 39, 75, 100, Kirchenkampf 159, 204, 273 Konfessionalisierung 16, 21, 278 Konkupiszenz 65 Konservative Revolution 155, 180 Konzil von Trient 16f. Korrelationsmethode 260f. Kritische Theorie 183 Kulturprotestantismus 21, 25f., 149, 179, 196

Sachregister

108ff., 135f., 139, 143, 197, 205ff., 246f., 268, 271 – natürliche Religion 108ff., 142 – Religion und Kultur 214, 268 – Religionskritik 133, 172, 205f., 208ff. Religionsgeschichtliche Schule 175, 179 Revolution von 1848/1849 52ff. Säkularisierung 273f. Schöpfung 98f., 222f., 264, 267 – Schöpfungsordnungen 223, 246f. Schuld 66, 70, 85, 127 – Schuldbewusstsein 128f. Seele 86, 139 Selbstbewusstsein 7ff., 43f., 64ff., 82, 90, 93, 99, 269 Sinn 263, 265f. Sittengesetz 18, 71, 109f., 112ff., 116ff., 127, 136 Sittlichkeit, sittlich 73f., 112ff. Strafaufhebung 113ff., 118 Subjekt 64ff., 73, 82, 88f., 103, 197 Subjektivität 7ff., 17, 19, 66f., 75, 80, 88ff., 98, 103, 112f., 116f, 136, 196ff., 218f., 261, 269 – Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung 195ff., 203, 211f., 218f. Südwestdeutsche Schule 120 Sühne 66 Sünde 42ff., 62ff., 65ff., 76ff., 82ff., 99, 113f., 118f., 124ff., 128f., 147, 223ff., 233f., 237, 240, 249f., 255, 267 – Erbsünde 77, 209, 232f. – Sündenbewusstsein 82ff., 128f. – Sündenfall 77 – Sündenlehre 42ff., 62ff., 67, 70, 76, 79f., 83, 85, 249 – Sündenvergebung 113ff., 118f., 127, 128ff., 255 Supranaturalismus (bezogen auf Religion) 18, 109ff., 119f., 124, 173

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Symboltheorie 262f. Theologie 22f., 168f. – Erfahrungstheologie 174 – Erweckungstheologie 70, 79, 82, 121, 174, 197 – historisch-kritische Theologie 178f. – natürliche Theologie 217ff., 223, 272 – positionelle Theologie 20ff. – Theologie der Krise siehe Dialektische Theologie – Vermittlungstheologie 172 Theologiegeschichte, theologiegeschichtlich 11, 14, 20ff., 61f., 168ff., 171ff., 197ff., 270ff. Theosophie 95 Tod 191f. Transzendentalphilosophie 87f., 106, 184 Trinitätslehre siehe Dreieinigkeitslehre Tübinger Schule 175 Übel 83, 114, 126f., 143 Urstandsgerechtigkeit 65 Vergottung 143 Vermittlungstheologie 172 Vernunft 93ff., 102, 110, 115, 119 Versöhnung 70, 125, 127, 129f., 255f. Wahrheit 11, 17, 36f., 90ff., 110, 197, 200f., 208, 210f., 213, 215, 220, 251ff., 259, 267f., 270, 277 Weimarer Republik 154ff. Weltanschauung 105 Wiedervereinigung Deutschlands 165ff. Wissenschaft 104, 175ff. Wort-Gottes-Theologie 217, 220ff., 227f., 232, 274 Zorn Gottes 224, 240 Zweiter Weltkrieg 157ff.

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Studium Systematische Theologie Bei Abnahme der Reihe 10% Ermäßigung

Band 1 der evangelischen Dogmatik von Gunther Wenz erörtert im Kontext der neueren evangelischen Theologie in Deutschland Aspekte des modernen Begriffs der Religion und ihrer Theorie. Wenz geht davon aus, dass die Spaltung der westlichen Christenheit ein Ereignis mit epochalen Fragen für Begriff und Verständnis von Religion ist. Nach einer Skizze der nachreformatorischen Entwicklung entfaltet Wenz die Religionstheorien der Sattelzeit der Moderne unter Konzentration auf Kant, Hegel und Schleiermacher. Auch religionskritische Strömungen finden Berücksichtigung. Eingeleitet wird der Band mit einer an Niklas Luhmann und Jürgen Habermas orientierten Analyse zur religiösen Lage der Gegenwart.

Band 1: Gunther Wenz

Religion Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit 2005. 279 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-56704-9

Band 3: Gunther Wenz

Kirche Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht 2005. 284 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-56706-5

In Vorbereitung: Band 4: Gott ISBN 3-525-56707-3

Band 5: Christus ISBN 3-525-56708-1

Band 6: Geist ISBN 3-525-56710-3

Im Mittelpunkt von Band 3 steht die Entwicklung von Grundzügen evangelischer Ekklesiologie. In Zusammenhang mit der ökumenischen Bewegung skizziert Wenz Geschichte und gegenwärtige Verformung unter Bezug auf den Ökumenischen Rat der Kirchen, die Konfessionellen Weltbünde, die Leuenberger Kirchengemeinschaft sowie auf die EKD und die VELKD. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Lehre vom Kirchlichen Amt und dem Dialog mit der römisch-katholischen Kirche.

Band 7: Schöpfung ISBN 3-525-56711-1

Band 8: Sünde ISBN 3-525-56712-X

Band 9: Versöhnung ISBN 3-525-56713-8

Band 10: Vollendung ISBN 3-525-56714-6

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Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts Diese umfassend und interdisziplinär angelegte Darstellung protestantischer Theologiegeschichte im deutschsprachigen Raum verbindet problemorientierte und historische Darstellung. Der erste Band umfasst den Zeitraum von 1870 bis 1918. Im Blick auf die Periode 1870–1890 stellt sich die Frage nach »Theologie als Wissenschaft«, im Blick auf die Periode 1890–1918 das Thema »Religion als Problem der Theologie«. In beiden Teilen werden zunächst die maßgeblichen Ansätze erörtert, wobei der Ritschl’schen und der positiven Theologie bzw. der religionsgeschichtlichen Schule und der modern-positiven Theologie besondere Bedeutung zukommen. Der zweite Band umfasst den Zeitraum von 1918 bis 1945. Der erste Teil behandelt die Theologiegeschichte während der Weimarer Republik mit ihren wichtigsten Vertretern sowie die Entwicklung in den theologischen Einzeldisziplinen. Ein Exkurs über die Theologie und die Anfänge der ökumenischen Bewegung beschließt diesen Teil. Der zweite Teil führt in die Theologien, die während der Zeit des Kirchenkampfs entstanden. Er behandelt die theologischen Kontroversen der Zeit, wie das Problem der Schöpfungsordnung, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, das Bekenntnisproblem.

Eckhard Lessing

Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart Band 1: 1870-1918 2000. 493 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56196-2

Band 2: 1918-1945 2004. 528 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56954-8

In Vorbereitung: Band 3: 1948-1965 ISBN 3-525-56955-6

Band 4: Seit 1965 ISBN 3-525-56956-4 Bei Abnahme des Gesamtwerks 10% Ermäßigung

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Religionstheorien im Überblick Das Verständnis von Religion und von Kultur kann in der Moderne nur in ihrer Bezogenheit aufeinander erschlossen werden. Erstmalig umfassend bietet dieses Kompendium einen Überblick über die Klassiker der Religionstheorie und das Religionsverständnis in den klassischen Kulturtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Die 30 Darstellungen (von Friedrich Schleiermacher über Sigmund Freud bis zu Michel Foucault) umfassen je einen religionstheoretischen Ansatz im Rahmen des kulturhermeneutischen Gesamtentwurfs. Jeder Beitrag integriert einen kurzen biographischen Abriss und ausgewählte Literaturangaben. Die Herangehensweisen und dargebotenen Perspektiven sind interdisziplinär und allgemein verständlich dargestellt. Das Material ist übersichtlich gegliedert und studierendenfreundlich aufbereitet.

Volker Drehsen / Wilhelm Gräb / Birgit Weyel (Hg.)

Kompendium Religionstheorie UTB 2705 S 2005. 373 Seiten, kartoniert ISBN 3-8252-2705-7