Religionsphilosophie evangelischer Theologie 9783486758436, 9783486758429

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Religionsphilosophie evangelischer Theologie
 9783486758436, 9783486758429

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I. DIE AUFGABE
SCHLUSS. DIE BIBELOFFENBARUNG UND DER HEUTIGE MENSCH

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RE L I G I O N S P H I L O S O P H I E PROTESTANTISCHER THEOLOGIE VON EMIL

BRUNNER

I. DIE AUFGABE. 1. D E R S I N N E I N E R P R O T E S T A N T I S C H E N PHILOSOPHIE«.

»RELIGIONS-

hilosophie ist Besinnung auf den Zusammenhang alles einzelnen durch das Mittel streng begründenden Denkens. Da aber diese Frage nach dem Zusammenhang selbst schon einer sinnaufweisenden Begründung bedarf, m u ß die philosophische Frage näher bestimmt werden als die nach dem Sinngrund, durch die erst das Fragen selbst, ganz abgesehen von seinem Inhalt, sich seiner Notwendigkeit u n d d a r u m seines Rechtes bewußt wird. Darin ist die Frage nach dem Sinn aller Wissenschaft, aller K u l t u r u n d des menschlichen Lebens ü b e r h a u p t eingeschlossen. N u n findet aber jede Philosophie, wenn sie sich nach den bedeutsamsten Gestaltungen menschlichen Lebens umschaut, unter diesen eine Lebensform vor, die einerseits mit ihrem, dem philosophischen Problemkreis, in engster Berührung steht, anderseits von aller Philosophie charakteristisch verschieden ist oder sogar zu ihr in gegensätzlichem Verhältnis s t e h t : Die Religion. Die Verwandtschaft h a t darin ihren Grund, daß auch die Religion auf die Totalität alles Seins u n d Lebens gerichtet ist; die Gegensätzlichkeit aber besteht darin, daß die Religion die Antwort auf die entscheidende Existenzfrage nicht als Resultat methodisch gedanklicher, also v e r n u n f t i m m a n e n t e r Besinnung, sondern als Offenbarung zu haben b e h a u p t e t . D a m i t ist n u n der Philosophie das schwerste Problem gestellt : Sinn u n d Recht der Religion innerhalb des philosophisch erkannten Sinngrundes aufzuweisen. So entsteht die Religionsphilosophie als ein Teil, vielleicht als die krönende Spitze der Philosophie ü b e r h a u p t . Wenn es aber der Philosophie mit ihrem Bemühen u m die religiöse Wahrheit ernst ist, wird sie nicht u m h i n können, die Aussagen der Religion — u n d das heißt immer einer bestimmten Religion — über sich selbst zunächst anzuhören. Es könnte j a sein, daß die Religion jede solche Einreihung in einen philosophischen Zusammenhang von vornherein als eine Mißdeutung ihrer selbst ablehnen m ü ß t e ; daß das Verhältnis der beiden Größen von der Religion aus umgekehrt bestimmt werden m ü ß t e : nicht so, daß die Religion ihre Begründung innerhalb der Philosophie bekäme, sondern umgekehrt so, daß Philosophie, als ein besonderes Gebiet menschlich sinnvoller Betätigung, ihren Platz innerhalb der Offenbarungswahr-

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heit fände. Wenn eine solche Behauptung nicht ganz auf jeden Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen, kulturellen und philosophischen Bewußtsein verzichten will, so muß allerdings gefordert werden, daß die Religion jene Umkehrung des Grundverhältnisses aus ihren eigenen Voraussetzungen begründete, über die Art ihrer Begründung Auskunft gäbe, und die Möglichkeit von Wissenschaft, Kultur und Philosophie von jener anderen Voraussetzung aus klarlegte. Das wäre die Art und Weise, wie von der Religion aus das Gespräch mit der vom allgemeinen Kulturbewußtsein herkommenden Philosophie geführt werden müßte. Ein solches Unternehmen könnte nur im u n e i g e n t l i c h e n S i n n R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e heißen und dieser, im so bestimmten Sinne gebrauchte Name könnte nur zur Bezeichnung der Stelle, an der das Gespräch stattfindet, dienlich sein. Dieser Sachverhalt wird erst recht deutlich, wenn wir, wie uns geboten ist, von der allgemeinen Möglichkeit aus nach der bestimmten Situation blicken, vor die wir gestellt sind. Von einer christlichen, insbesondere von einer protestantischen Religionsphilosophie kann aus zweifachem Grunde nur uneigentlich die Rede sein. Erstens ist der christliche Glaube, ganz besonders in der bestimmten Form der protestantischen Theologie, etwas grundsätzlich anderes als jede Philosophie. Philosophie ist Besinnung auf den Sinngrund unter Voraussetzung der Letztgültigkeit des vernunftimmanenten Begründungszusammenhanges. Christlicher Glaube aber ist die Erkenntnis von der Durchbrechung dieses Zusammenhanges durch die Offenbarung. In dieser Offenbarung sind die Aussagen des christlichen Glaubens begründet. Theologie, die wissenschaftliche Form des christlichen Glaubens, könnte also nur darin ihre wissenschaftliche Qualifikation suchen, daß sie diesen von allen anderen wissenschaftlichen Instanzen verschiedenen Begründungszusammenhang klar und streng zum Ausdruck brächte, daß sie ihre sämtlichen Aussagen rein aus dieser ihrer eigenen Voraussetzung entwickelte und damit in ihm begründete und endlich von hier aus die Beziehungen positiver und negativer Art zwischen Offenbarungsglaube und vernunftimmanenter Wissenschaft aufsuchte. Gemeinsam ist ihr also mit der Philosophie die Aufweisung eines alles umfassenden Sinnzusammenhanges, der aber nicht — wie für die Philosophie — der Logos der vernunftimmanenten Reflexion, sondern der Logos der Offenbarung ist. Christliche Theologie kann also niemals die Aufgabe haben, durch die wissenschaftliche Form den Glauben vernünftig zu machen; sie soll im Gegenteil vermittelst scharfer Begriffe Offenbarung und Vernunft gehörig auseinanderhalten. Man schwächt den Gegensatz ab, vielmehr man hebt ihn auf, wenn man die Beziehung: Vernunft—Offenbarung mit der anderen: rational—irrational gleichsetzt. Was christlich Offenbarung heißt, steht zum Irrationalen in derselben Doppelbeziehung wie zum Rationalen. Das Irrationale (Gefühl, Intuition usw.) hat mit dem Paradox der Offenbarung nicht mehr, sondern weniger zu tun als der Logos der Vernunft. In den neueren irrationalistischen Religionsphilosophien ist das Irrationale durchgehends einem

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rationalen System eingefügt (bei O t t o und S c h o l z einem idealistischen, bei J a m e s einem naturalistischen Rationalismus.

Religionsphilosophie im eigentlichen Sinne kann es aber auf dem Boden der christlichen Theologie auch darum nicht geben, weil es die Theologie nicht mit der Religion, sondern mit der Offenbarung zu tun hat. Religion ist, was immer sie sonst sein mag, menschliche Lebensform; Offenbarung aber ist Selbstkundgebung Gottes. H a t es der Religionsphilosoph mit geschichtlichen Erscheinungen (mit den geschichtlichen Religionen und ihrem »Wesen«) zu tun, so der Theolog mit dem Grund aller Erscheinungen. Religion ist für den Philosophen wie für den Theologen nicht das letzte, sondern etwas, das im letzten begründet ist. Nur ist im einen Falle dieses Letztbegründende die Vernunft, im andern Falle die Offenbarung. Das, was die Theologie meint, ist also etwas ganz anderes als Religion und steht zur Religion grundsätzlich in keinem näheren Verhältnis als zu irgendeinem anderen Gebiete menschlichen Lebens. Auch das ergibt sich unmittelbar aus der theologischen Grundvoraussetzung; ihr Grund und Inhalt und ihre Norm ist nicht ein menschliches Bewußtsein, sondern die göttliche Selbstkundgebung. Der christliche Glaube — dessen wissenschaftlich begriffliche Form die Theologie ist — ist die Erkenntnis und Anerkennung der göttlichen Selbsterschließung in Jesus Christus. Dieser, der menschgewordene Logos, ist Grund, Inhalt und Norm aller Aussagen des Glaubens. Darin hat er seine Unterscheidung sowohl von aller Philosophie als auch von aller Religion. N i c h t e i n e a l l g e m e i n e W a h r h e i t und nicht ein allgemeines religiöses Erleben, s o n d e r n d i e s e s B e s t i m m t e , das sich als solches allem Allgemeinen (sei es Religion oder Philosophie) entgegensetzt, i s t i m c h r i s t l i c h e n G l a u b e n g e m e i n t . Er leugnet nicht das Vorhandensein einer gewissen allgemeinen, sowohl religiösen als philosophischen Gotteserkenntnis; vielmehr setzt er sie voraus. Aber er leugnet allerdings, daß der p e r s ö n l i c h e , l e b e n d i g e Gott allgemein, von den in der Welt und im menschlichen Geist überhaupt liegenden Möglichkeiten aus erkannt werden könne. Er behauptet, daß der lebendige, persönliche Gott nur durch die persönliche Begegnung, durch sein persönliches Wort, durch dieses besondere Geschehen erkannt werden könne, von dem die Bibel (und nur sie) Zeugnis ablegt und dessen Inhalt Jesus Christus heißt. Nicht als Illustration oder Konkretisierung oder gar als Symbol ist also dieses Bestimmte gemeint; wo so davon die Rede ist, haben wir es nicht mit dem christlichen Glauben zu tun. Vielmehr tritt dieses Bestimmte, die Offenbarung, an die Stelle des Allgemeinen, der Wahrheit überhaupt, der höchsten Instanz für gültige Aussage: der menschgewordene Logos hat hier die Stelle inne, an der sonst der Logos der Vernunft, d i e I d e e der Wahrheit steht. Das ist aber darum so, weil der persönliche Gott, der der Grund aller Wahrheit ist, nicht durch Idee, sondern nur durch persönliche, konkrete Offenbarung als der persönliche erkannt wer-

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den kann, nur dadurch, daß er selbst aus seiner Verborgenheit heraustritt und sich — den Grund alles Seins, aller Werte und aller Gedanken — kundgibt. Dieses Bestimmte, und in dieser Bestimmtheit dem allgemeinen Denken Ärgerliche, das Wunder der göttlichen Offenbarung, ist die Voraussetzung der christlichen Theologie. Daß es mit der höchsten Wahrheit diese Bewandtnis habe, darin besteht der christliche Glaube. Er hörte auf Glaube zu sein, er würde seine eigene Aussage Lügen strafen, wenn er dies als Wahrheit in einer allgemeinen Wahrheit begründen wollte. Offenbarung begründet sich selbst, oder es ist keine Offenbarung. Uber dem Deus dixit noch eine andere Begründung suchen kann nur der, der dem Deus dixit nicht glaubt, der für »Offenbarung« heimlich »Symbol« setzen will. Nicht in dieser den Glauben verfälschenden Vertauschung der Begründungsordnung kann also die Theologie ihren wissenschaftlichen Charakter dokumentieren, sondern im Gegenteil gerade nur darin, daß sie dieses Besondere, Nicht-Allgemeine in seiner Besonderheit methodisch streng zum Ausdruck bringt. Das heißt aber: Theologie ist keine voraussetzungslose, freie, sondern eine streng gebundene Wissenschaft. Sie ist gebunden an dieses Bestimmte, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Diese Gebundenheit kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß Theologie nur möglich ist innerhalb der christlichen Gemeinde oder Kirche, ihren bestimmten Inhalt und ihre bestimmte Norm h a t : die Bibel. Dadurch, daß jemand das göttliche Reden in der Schrift vernimmt, wird er ein Glaubender und nur als solcher, als Mitglied der Gemeinde der Glaubenden, ist der Denkende imstande, theologisch zu denken. D e r O r t d e r T h e o l o g i e i s t die K i r c h e , wie i h r G r u n d u n d I n h a l t die S c h r i f t o f f e n b a r u n g ist. Dies aber ist auch der Ausgangspunkt einer protestantischen »Religionsphilosophie«, das Wort nunmehr in dem modifizierten, uneigentlichen Sinn verstanden. Sie kommt von der Theologie, und noch weiter zurück: vom Glauben her; sie führt nicht erst zu ihm hin. Sie ist ein Teil der christlichen Theologie überhaupt, nämlich derjenige, in dem das Gespräch mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein, mit der Philosophie geführt wird; sie ist dasjenige »Kapitel« der christlichen Theologie, dessen Aufgabe es ist, von der bestimmt christlichen Voraussetzung aus das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunfterkenntnis einerseits, zwischen Offenbarung und Religion anderseits begründend darzustellen. Sie ist also nicht — wie es irrtümlicherweise im letzten Jahrhundert meistens angesehen worden ist — die allgemeine Wissenschaft, von der die christliche Theologie als Lehre von einer bestimmten Religion eine Unterabteilung wäre. Es hegt im Wesen des Offenbarungsglaubens, daß die Systematik von allgemein und speziell hier umgekehrt ist, weil ja ein Bestimmtes, die Offenbarung, als über allem Allgemeinen stehend erkannt wird.

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Trotzdem also die »Religionsphilosophie« f ü r uns n u r ein Zweig der Theologie ü b e r h a u p t sein kann, haben wir guten Grund, sie als besondere Wissenschaft von der Theologie loszulösen, da die Not der Zeit, die jederzeit die Proportionen der Theologie bestimmt h a t u n d bestimmen soll, f ü r dieses Problemgebiet ganz besondere Aufmerksamkeit fordert. I m Unterschied von der übrigen Theologie h a t es die »Religionsphilosophie« mit den formalen u n d allgemeinen Problemen des christlichen Glaubens zu t u n , nämlich mit dem Begründungszusammenhang der Glaubensaussagen als solchem im Unterschied zu anderen, d. h. mit dem Problem der Offenbarung. N u n ist es zwar nirgends unmöglicher als hier, das Formale u n d das Inhaltliche zu scheiden: Was christlich unter Offenbarung verstanden werden soll, k a n n n u r zusammen mit dem Inhalt dieser Offenb a r u n g klargemacht werden. Aber es ist wenigstens möglich, das Formale u n d Inhaltliche zu unterscheiden. Darauf b e r u h t die Möglichkeit, die Probleme der »Religionsphilosophie« gesondert von denen der eigentlichen Theologie zu entwickeln. Diese Besonderung bedingt n u n aber weiter, daß der H a b i t u s der »Religionsphilosophie« in noch höherem Maße als in der Theologie ü b e r h a u p t der a b s t r a k t begriffliche sein m u ß , trotzdem der Grund der Gedanken genau derselbe ganz konkrete persönliche ist, wie im schlichtesten Glaubensbekenntnis eines ungeschulten Mannes. Der »Religionsphilosoph« weiß grundsätzlich nichts mehr als jeder einfache Christ; n u r weiß er es in begrifflicher Schärfe u n d im Zusammenhang mit dem Vernunftwissen seiner Zeit. Die Kehrseite dieses Vorteils ist dies, d a ß die Abstraktheit dieses Wissens den persönlichen Charakter des Glaubens — der in dieses Wissen eingehen soll — noch mehr gefährdet als die theologische Begrifflichkeit ü b e r h a u p t es t u t . Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen theologischer und nicht theologischer christlicher Glaubensäußerung besteht nicht. Denn jedes Reden ü b e r Gott (wie persönlich-ernst es auch sein mag) ist immer theologisch-abstrakt. Auch die Gleichnisreden Jesu sind Theologie. Umgekehrt kann g e r a d e der p e r s ö n l i c h e , existentielle Glaubensernst dazu führen, in bestimmter Situation, z. B. in der Auseinandersetzung mit dem Denken der Zeit, sich der begrifflich a b s t r a k t e s t e n Form zu bedienen. Da aber nicht die Wissenschaft, sondern die persönliche Glaubensbeziehung zur Offenbarung das primäre christliche Interesse ist, ist der Glaube allerdings beständig auf möglichste Überwindung der abstrakten Begrifflichkeit gerichtet und ist darum die »Religionsphilosophie« nur als Randmöglichkeit christlicher Lehre, niemals als ihr Zentrum zu beurteilen.

Die Offenbarung t r i f f t das menschliche Bewußtsein. Es ist nicht gleichgültig, daß dieses als m e n s c h l i c h e s b e s t i m m t ist, trotzdem es anderseits nicht wesentlich ist, w i e es als menschliches bestimmt ist. Der Glaube ist wohl an die H u m a n i t ä t , aber an keine bestimmte Stufe der H u m a n i t ä t gebunden. E r setzt allerdings den Menschen als Menschen voraus, aber nicht eine bestimmte P r ä g u n g des Menschlichen, noch auch etwas Bestimmtes a m Menschen. E r p a c k t den Menschen in seiner Totalität, nicht in einem besonderen psychologisch f a ß b a r e n »Ort«. Der »Ort«,

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wo Offenbarung u n d Menschengeist zusammenstoßen, k a n n nicht positiv, sondern n u r negativ angegeben werden: Es ist die »Offenheit«. Wollen wir d a f ü r ein bestimmtes Bewußtsein setzen, so können wir sagen: es ist die » F r a g e « , wo sie die F o r m der Lebensnot gewonnen h a t . Aber so wie dies Voraussetzung ist f ü r den Glauben, ist damit nichts psychologisch Bestimmtes, sondern im Gegenteil das allgemein Menschliche bezeichnet. J a , wir können diesen »Ort« noch bestimmter angeben, ohne damit das allgemein Menschliche zu verlassen: Das Bewußtsein der Lebensnot, das zugleich Bewußtsein der Schuld ist, ist dieser negative Ber ü h r u n g s p u n k t . Es wäre d a r u m sinnvoll, diesen Sachverhalt dadurch zum Ausdruck zu bringen, d a ß der Darstellung des Offenbarungsglaubens eine solche der allgemein menschlichen Selbstbesinnung vorausgeschickt würde, die bis zu jenem P u n k t e f ü h r t e . Darauf m u ß hier aus R a u m g r ü n den verzichtet werden. Grundsätzlich ändert sich dadurch nichts, da der Offenbarungsglaube in jedem Falle ganz u n d gar aus sich selbst u n d nicht aus dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein verstanden werden m ü ß t e . Offenbarungsglaube k a n n in eben der Weise nur aus Offenbarung verstanden werden, wie ein vernünftiger Gedanke n u r aus seinem Vernunftgrund, eine Lichtempfindung nur aus dem Lichtreiz verstanden werden kann. D a r u m ist es notwendig, von der Offenbarung, so wie der Glaube davon weiß, auszugehen, wobei wir nur im Gedächtnis zu halten haben, daß Offenbarung immer Antwort auf menschliche Frage ist. Ob nicht aber die menschliche Frage — wie die H u m a n i t ä t selbst — in der Offenbarung gründet u n d n u r in ihr ihren Sinn erreicht, ob also nicht die menschliche Frage in der göttlichen Anrede ihr Prius habe, das wird erst i m Zusammenhang der Offenbarungserkenntnis zu erörtern sein. Jedenfalls ist es dem Glauben gewiß, daß erst die Offenbarung uns die Not, die Lebensunmöglichkeit, die die Voraussetzung des Glaubens ist, recht erkennen läßt u n d also selbst im entscheidenden Sinn seine Voraussetzung erzeugt. 2. D E R

REFORMATORISCHE OFFENBARUNGSGLAUBE GESCHICHTLICHER AUSGANGSPUNKT.

ALS

Als klassischer Glaubensausdruck k a n n f ü r uns nicht, wie zuerst erwartet werden möchte, die heilige Schrift oder Teile von ihr in Anspruch genommen werden. Sie k o m m t in der christlichen Theologie nicht vor u n t e r dem Gesichtspunkt »religiöse Stimmen der Völker«, nicht als religiöses D o k u m e n t , nicht als A u s d r u c k des Glaubens, sondern als sein G r u n d u n d seine N o r m . D a r u m k a n n sie nicht unser Ausgangspunkt, sondern m u ß vielmehr unser beständiger Beziehungspunkt sein. Als Ausgangspunkt, als Paradigma christlicher Offenbarungserkenntnis wählen wir denjenigen Glaubensausdruck, der, selbst außerhalb der Bibel, das Selbstbewußtsein des auf die Schrift gegründeten Glaubens am deutlichsten darlegt: das reformatorische Glaubenszeugnis. I n der alten Kirche

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war die Besinnung über den Grund des Glaubens ganz u n d gar auf den I n h a l t gerichtet, wie es auch glaubensgemäß ist. Die Reflexion über das formale Problem der Norm m u ß t e erst einsetzen, als in der Christenheit die Erkenntnis der eigentümlich christlichen Norm durch fremde Gedanken ernstlich gestört war, als sich eine geschichtlich kontinuierliche Größe an die Stelle der einmalig gegebenen Offenbarung setzte, wie dies in der Lehre von der Kirchenautorität u n d einer neben der Schrift einhergehenden gleichberechtigten Tradition der Fall war. Die Reformation ist der Protest gegen jene folgenschwere Umbildung des ursprünglich christlichen Offenbarungsprinzips, das mit der Einmaligkeit, mit dem l y äna'S der apostolischen Verkündigung unauflöslich verbunden ist. Was in Christus geschehen ist, ist — nach apostolischem Zeugnis — e i n f ü r a l l e m a l geschehen. Es gibt keine geschichtliche K o n t i n u i t ä t der Offenbarung, sondern n u r die paradoxe Einheit jenes Einmaligen mit dem J e t z t p u n k t , die Gleichzeitigkeit des Glaubens mit der Offenbarung, die eine unmittelbare, durch keine Zwischeninstanzen vermittelte ist. Zwischen dem Mittler Christus u n d dem Glaubenden gibt es keine Vermittlung, da diese j a n u r eine immer neue Fleischwerdung des Logos, also der Widerspruch gegen das apostolische »ein f ü r allemal« sein könnte. N u r Gott selbst k a n n das W o r t , das damals, ein f ü r allemal, gesprochen wurde, in jedem späteren P u n k t der Geschichte im Herzen der Glaubenden wieder sprechen, als der heilige Geist. Gott als mit sich selbst identisch in seiner geschichtlich-einmaligen Offenbarung u n d in deren »subjektiven«, aneignenden Erkenntnis, Gott als Grund, Objekt u n d Subjekt der Erkenntnis — der dreieinige Gott ist der der Vernunft u n f a ß b a r e I n h a l t des christlichen Glaubens, wie er im altkirchlichen Glaubensbekenntnis maßgebend formuliert ist. I h m entspricht, als Lehre von der formalen Norm, d a s r e f o r m a t o r i s c h e S c h r i f t p r i n z i p : d a s W o r t G o t t e s in der S c h r i f t i d e n t i s c h m i t d e m W o r t G o t t e s in der S e e l e , oder k u r z : Schrift u n d Geist in ihrer paradoxen, u n d e n k b a r e n Identität. Damit ist das christliche Normprinzip gegen zwei Seiten hin abgegrenzt: gegen die realistische Heteronomie oder A u t o r i t ä t u n d gegen die idealistische Autonomie oder Freiheit. Der Realismus m a c h t abhängig von einem Gegebenen, also von etwas, was selbst als Relatives im F l u ß der Relativitäten drinsteht. E r macht eben damit auch abhängig von etwas Äußerem, das mir fremd gegenübersteht. Durch das eine ist diese Bindung eine ungewisse, durch das andere eine »dunkle« oder »blinde«, weil sie nicht den Geist innerlich gefangen n i m m t . D a r u m m u ß der Idealismus gegen sie Protest erheben. E r will als bindend n u r das anerkennen, was nicht von außen k o m m t , sondern von innen, was also nicht gegeben sein kann, sondern zeitlos schon im Geist selbst angelegt ist u n d was m a n also in sich selbst vorzufinden vermag. Das ist sein ungemein bedeutungsvolles Prinzip der Autonomie. Aber er überspannt die Freiheit, wie der

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Realismus sie leugnet. Er anerkennt nicht das Irrationale, sowohl der Erkenntnis als des Willens: das unbegreiflich Gegebene der Wirklichkeit und das Böse. Wenn es mit dem Bösen ernst ist, ist das tiefste Ich mit seiner Idee nicht identisch, sondern im Widerspruch. Dann kann auch die Lösung des Widerspruchs, die wahre Freiheit, nicht aus dem tiefsten Ich kommen, als sein Eigenes, sondern sie muß ihm gegeben werden als ein Fremdes, das zugleich sein wahres Eigenes wäre. Das ist die göttliche Anrede, das Gotteswort, durch das wir zugleich unseren Widerspruch, die Sünde, erkennen und durch das wir wieder in die Einheit mit ihm selbst und damit in die göttliche Bestimmung aufgenommen werden. Dieses Wort aber, das nicht aus unserem tiefsten Ich stammt, das nicht ein bloß zu erweckendes oder zu entdeckendes In-uns ist, muß an uns kommen als ein von außen gegebenes Wort der Offenbarung, das uns gleichzeitig als Autorität sich unterwirft und doch den Geist innerlich als Wahrheit gefangen nimmt; d a s e w i g e W o r t d e r W a h r h e i t a l s e i n k o n k r e t p e r s ö n l i c h e s , a l s e i n G e s c h e h n i s i n d e r Z e i t ; das Urwort des Schöpfers, das der Mensch verloren und über das er darum nicht mehr verfügt, das er durch keine »Wiedererinnerung« als a priori zu sich zurückrufen kann, das Wort des Anfangs als neu geoffenbartes, das geoffenbart ist als Wort des Endes, der Erlösung. Als dieses zeitlich gegebene Ewige haben wir es in der S c h r i f t . Sein Sinn ist Jesus Christus, seine Gegebenheit ist die Offenbarung in der Geschichte, als einmalige, abgeschlossene. Das Wort ist gesprochen. Als dieses Perfektum ist es festgehalten im K a n o n , durch den erst Offenbarung und allgemeine Geschichte geschieden werden. Seine Konkretheit, sein wirkliches dort und damals Geschehensein ist nicht, wie bei allgemeinen Wahrheiten, etwas Zufälliges, sondern das Entscheidende. Dadurch erst ist es etwas anderes als Idee; es ist gegebenes, autoritatives, nicht von uns selbst vorzufindendes Wort, Offenbarungswort. Es ist ebensosehr das Wesen der Offenbarung, einmalig zu sein, als es das Wesen der Idee ist, Semper et ubique, d. h. allgemeine Wahrheit zu sein. Auf dem Perfektum: deus dixit, auf dem ¿tp änu'S der Verkündigung ruht der ganze Akzent. Aber dieses perfectum ist nicht ein perfectum praeteritum, sondern e i n p e r f e c t u m praesens: Dieses Wort von damals spricht heute. Dieses ganz und gar Äußere — der Buchstabe der Schrift — wird inneres Wort, Gewißheit, Einsicht, Anerkennung. Es hat nicht bloß die Form der autoritativen Gegebenheit, sondern zugleich die entgegengesetzte Form der evidenten Erkenntnis. Es fordert nicht blinde Unterwerfung, sondern nimmt den Geist innerlich gefangen, trotzdem es das Gegenteil einer »allgemeinen Wahrheit« ist. Das ist es, was die Reformatoren Offenbarung nennen: das Ewige als zeitlich Gegebenes, das Ideale als Reales, die unerreichbare Gerechtigkeit als wirkliche Gabe, die unzugängliche Gotteswahrheit als geschenkte Erkenntnis. Darin ist beides, das inhaltliche und das formale »Prinzip« der Reformation eins: Daß Gott selbst zum Men-

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sehen sich herabbeugt und ihn anspricht, das ist die gratia, die »Rechtfertigung« des Sünders; das ist aber auch die Offenbarung, die in der Schrift allein uns gegeben ist, beides in einem, wie es Autorität und Freiheit in einem ist. Diese rational u n f a ß b a r e Einheit von Freiheit u n d A u t o r i t ä t , von Heteronomie u n d Autonomie, von Gegebenheit u n d Nichtgegebenheit ist das Merkmal des reformatorischen Glaubens- und Schriftbegriffes. „ D a s m u ß ich so gewiß wissen, wie d a ß 3 u n d 2 5 machen; denn das ist so gewiß, wenngleich alle Concilia anders sagten, so weiß ich, d a ß sie lügen. Wer beschleußt mich da ? Kein Mensch, sondern alleine die Wahrheit, 10 die so ganz gewißlich ist, d a ß sie niemand leugnen k a n n . " Das W o r t m u ß „ f ü r sich selbst ohn alles Aufsehen der Person dem Herzen genugtun, den Menschen beschließen u n d begreifen, d a ß er gleich darinnen gefangen, f ü h l t wie wahr u n d recht es sei, wenngleich die Welt, alle Engel, alle Fürsten der Hölle anders sagten, j a wenn Gott gleich selbst anders sagte." „ D u m u ß t selber beschließen, es gilt dir deinen Hals, es gilt dir dein Leben, d a r u m m u ß dir G o t t ins Herz sagen, das ist Gottes W o r t , sonst ists ungeschlossen." „ E s m u ß ein jeglicher allein d a r u m glauben, d a ß es Gottes W o r t ist, u n d daß er inwendig befinde, d a ß es die W a h r h e i t sei, obschon ein Engel v o m Himmel oder alle Welt dawider p r e d i g t e . " ( L u t h e r ) . „ E i n e nicht weniger helle E m p f i n d u n g ihrer W a h r h e i t bringt die Schrift m i t sich, als die E m p f i n d u n g der weißen u n d 20 schwarzen F a r b e " . Der Glaube ist eine persuasio quae rationes non requirat, eine solche notitia in qua securius mens quiescit quam in ullis rationibus. „ C a r Vécriture ne monstre pas moindre évidence de sa vérité que les choses blanches ou noires de leurs couleurs" Maneat ergo hoc fixum, quos spiritus sanctus intus docuit, solide acquiescere in scripIura, et hanc quidem esse avromarov, neque demonstratione et rationibus subiici eam fas esse ( C a l v i n ) . Und doch sind die Wahrheiten der Schrift das Gegenteil von per se einsichtigen allgemeinen Wahrheiten, das »Widerspiel der Vernunft« ( L u t h e r ) u n d nur d a r u m glaubwürdig, weil Gottes A u t o r i t ä t sie v e r b ü r g t . „ W e n n d u alle Weisheit der ganzen Geschrift u n d aller V e r n u n f t h ä t t e s t , so es nicht von Gott k o m m t u n d gesandt wird, ist es alles n i c h t s " ( L u t h e r ) ; si hoc fuie ( d . h . fühle, d a ß e s W a h r 30 heit sei) tum adest spiritus sanctus, quia ista non fiunt ratione in corde humano, nec omnibus laboribus, sed per Christum adest qui fecit aliter sentire. „ W e n n m a n n u n f r a g t , woher weißt du es ? d a ß m a n a n t w o r t e t : ich weiß es daher, d a ß ichs i m W o r t u n d S a k r a m e n t u n d Absolution also h ö r e , und d a ß mirs der Heilige Geist e b e n s o i m H e r z e n s a g t , d a ß Christus f ü r mich Mensch wurde, gestorben u n d wieder a u f e r s t a n d e n s e i . , das i s t , w i e d e r h e i l i g e G e i s t e b e n i n s H e r z s c h r e i b t , s o r e i m t es s i c h m i t d e r h e i l i g e n S c h r i f t " ( L u t h e r ) .

Diese paradoxe, undenkbare Einheit ist der reformatorische Schriftglaube. Paradox ist er seinem Inhalt nach : der ewige Logos als Personleben in der Zeit, die persönliche Gerechtigkeit als eine geschenkte, die 40 Offenbarung der Gottesherrlichkeit am dunkelsten Ort der Geschichte. Aber paradox ist er auch seiner Form nach: Das Innerlichste als ein Ä u ß e r l i c h e s , die ewige Wahrheit als ein schlechthin g e g e b e n e s , als Autorität hinzunehmendes f a k t i s c h e s Wort, ein Buchstabe, eine »schlechte Tatsächlichkeit«, mit Hegel zu reden. Und nicht bloß sollen diese zwei widersprechenden Aussagen nebeneinander Geltung haben. Sie sollen als ein und dasselbe erkannt werden im Glauben. Das kann in den Formen menschlichen Denkens nicht vollzogen werden. Ein Faktisches kann nur dann die ewige Wahrheit sein, wenn es Gott selbst ist, und die Erkenntnis dieses Faktischen kann nur Gottes eigene Selbstbezeugung sein.

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Das Wort in der Schrift, Christus, ist dasselbe wie das Wort im Herzen, der heilige Geist. Dieses Geschehen als Antwort auf die menschliche Lebensfrage, an dem »Ort«, wo vom Menschen aus nur Frage ist, heißt Glaube. Der Glaube ist objectum fidei; u n d ut ita dicam in ipsa etiam nos substantiae Glaube ist insertio

ein firmus assensus quo Christus apprehenditur ita ut Christus sit n u n folgt erst der entscheidende S c h r i t t : imo non objectum, sed fide Christus adest. ( L u t h e r ) Non dubito quin. . . (Christus) ita participes faciat quo in unam cum eo vitam coalescamus ( C a l v i n ) . in Christum.

Wo das Ich nicht mehr selbst handelndes Subjekt ist, sondern nur noch Schauplatz, nicht mehr selbst redend, sondern nur noch Resonnanz für Gottes Reden, wo die Subjektivität aufgezehrt wird durch die Wahrheit, indem diese sich nicht bloß erfassen läßt, sondern selbst erfaßt: da geschieht das, was die reformatorischen Lehrer das testimonium spiritus sancti internum nennen, die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Glaube unterscheidet sich von allem sonstigen Erkennen oder Anerkennen dadurch, daß er allein völlig konkret ist. Wenn ich wahrnehme, reihe ich das Wahrgenommene in das Bild der gesamten Wahrnehmungswirklichkeit ein. Erst durch diese Einfügung wird es als wirklich gewiß. Wenn ich denke, reihe ich einen Gedanken in den Denkzusammenhang überhaupt ein. Erst dadurch wird er als wahr gewiß. Beidemal bedeutet die Einreihung ins Allgemeine eine Entspannung; die Verantwortung des einzelnen Momentes wird zugunsten aller anderen abgeschwächt. Aber im Glauben hört diese Einordnung in ein Allgemeines auf; da kann man sich auf nichts »verlassen«, weder auf allgemeine Tatsachen noch Gründe. Darum ist der Glaube vom »natürlichen« Menschen aus gesehen tollkühnes W a g n i s , S p r u n g ins Dunkle. Aber vom Glauben selbst aus ist da kein Wagnis, sondern Notwendigkeit, kein Sprung, sondern ein G e z o g e n - u n d G e t r a g e n w e r d e n . Das, was vom Menschen aus als überspannteste Verantwortlichkeitsbelastung des Momentes angesehen werden muß — Entscheidung in einem überstiegenen Maximum —, das ist vom Glauben selbst aus angesehen keine Entscheidung, sondern Geschenk, nicht übersteigerte Aktivität, sondern schlechthinige Passivität. Auch diese undenkbare Einheit unerhörten Wagnisses und ruhiger Hingabe gehört zur Paradoxie des Glaubens. Gott-Mensch, Schrift-Geist, Glaubenstat-Glaubensgeschenk: das sind die Konstitutiven des reformatorischen Offenbarungsbegriffs. 3. D E R ZERFALL D E R PARADOXEN E I N H E I T . Nichts ist begreiflicher, als daß diese paradoxe Einheit, die nur in der höchsten Glaubensspannung als solche zusammengehalten werden kann, schon von Anfang an mit Zerfall bedroht war. Zerfall aber mußte heißen: Auflösung in unparadoxe, »einlinige« Teilwahrheiten. Die Geschichte dieses Zerfalls und der Reaktionen dagegen ist die Geschichte der prote-

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stantischen Theologie seit der Reformation. Das ist der theologische Aspekt dieser Geschichtsepochen. Daß sie von einem rein humanistischen oder naturalistischen Gesichtspunkt aus sich ganz anders darstellen, versteht sich von selbst. Doch ist uns hier geboten, auf die theologische Beurteilung, die zugleich — wenn sie wahr ist — Wirklichkeit aufweist, nicht zu verzichten. a) D i e O r t h o d o x i e . So unmerklich vollzog sich die Umbildung von der reformatorischen zur orthodoxen Offenbarungsauffassung, daß bis vor kurzem die Meinung ziemlich allgemein herrschte, die orthodoxe Schriftlehre sei nichts anderes als die konsequent ausgebaute reformatorische, während sie zu ihr in scharfem Gegensatz steht. Für die Reformatoren ist der Glaube die paradoxe Einheit von Autorität und Freiheit, Unterwerfung unter ein Gegebenes und zugleich evidente Erkenntnis. Er konnte und mußte so bestimmt werden, weil Offenbarung und Glaube konkret, als lebendiges Geschehen gemeint war. Nicht weil die Schrift als Ganzes für Gottes Wort zu gelten hat, sind ihre Inhalte wahr, sondern weil und sofern dort Gott mir redend begegnet, sich mir als gegenwärtig selbst bezeugt und »mich beschleußt«, darum nennen wir die Schrift Gottes Wort. Das Geistzeugnis ist dasselbe wie die »Klarheit des Gotteswortes« (Zwingli). Aber darin, daß nicht der Bibelbuchstabe an sich, sondern erst der im Geist verstandene Gottes Wort ist, liegt ja auch schon, daß die Identität zwischen Schriftwort und Gotteswort keine direkte, sondern eine indirekte ist. E s g i b t k e i n e A n - s i c h O f f e n b a r u n g , weil Offenbarung immer dies ist, daß mir etwas offenbar wird. Offenbarung ist ein Akt Gottes, ein transitives Geschehen, kein Ding; es ist persönliche Anrede. Darum ist das Bibelwort an sich nicht Gottes Wort, sondern Menschenwort, wie die geschichtliche Erscheinung des Gottmenschen an sich die eines Menschen ist. Dieses Inkognito der bloßmenschlichen Erscheinung wird gelüftet durch den Glauben allein, durch das Zeugnis des Geistes, das aus dem bloßen Menschenwort das Gotteswort heraushören läßt. Indem es »hell« wird, wird es erst Gotteswort, und wo es nicht hell wird, ist es auch nicht Gotteswort. Diese Glaubenseinsicht hat die Orthodoxie — die reformierte wie die lutherische — mehr und mehr verloren und aus der aktuellen Gottesoffenbarung das an sich wahre Bibelbuch gemacht, dessen göttliche Autorität als kirchlicher Lehrsatz, als axiomatischer Satz, wie Sadeel es ausdrückt, von vornherein feststeht. ¿ranod'eiXTov et avTontarov i s t d a s axioma: scriptura Sacra tota D a s principium est &£0?ipsvßT0S ( S a d e e l ) . Homines qui intra ecclesiae pomoeria sunt, de scripturae auctoritate non quaerunt, est enim principium (Gerhard). Scriptura Sacra . . . per se . . divina etiam ante et extra omnem usum. Non enim illa tantum, quae fidem et salutem directe concernunt, sed quaecumque in S. litteris inveniuntur, Dei verbum sunt ( C a l o v ) .

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Aus der paradoxen E i n h e i t von Schriftwort u n d Geistwort wird schon bei Melanchthon ein k a u s a l e s V e r h ä l t n i s . Aus der W i r k u n g der Schrift wird auf ihre göttliche Wahrheit zurückgeschlossen. Aus dem testimonium spiritus sancti wurde schließlich: der Beweis der Schriftwahrheit aus ihrer moralischen Wirkung. Wie m a n aus den Wirkungen einer Medizin auf ihre Nützlichkeit schließt, eodem modo experientia spiritualis, quae consistit partim in contritione partim in vivificatione, est testimonium certitudinis doctrinae ( S t r i g e l ) . Der Schriftglaube ist ein Syllogismus. Der Obersatz h e i ß t : alles was Gott spricht, ist w a h r ; dieser Satz ist Axiom. Der Untersatz h e i ß t ; nostra (inquit Moyses et Prophetae) dicta sunt Dei dicta. Diesen minorem probamus, tum praesentibus miraculis . . tum et sequentibus eventibus poenarum . . et aliis manifestissimis testimoniis . . D a r a u s folgt dann als Schluß: also sind die Sätze der Schrift wahr ( F l a c i u s ) . Die Gewißheit von der Schriftwahrheit, das testimonium internum Spiritus sancti, ist dasselbe wie die efficacia sacrae scripturae, die vis effectiva, der effectus illuminationis, conversionis, renovationis et confirmationis. Deswegen h a t diese Gewißheit von der Schriftwahrheit die Form eines regressus demonstrativus. Ab effectu, qui est divinus et salutaris, regredimur ad probandum . . ( H o l l a z ) .

Ist einmal der fatale Schritt getan, daß die Schrift als an sich w a h r , an sich Offenbarung angesehen wird, so versteht es sich von selbst, daß dieser Charakter gleichmäßig jedem einzelnen Teil der Schrift bis ins kleinste eignet. Mit der dinglichen Auffassung ist der Atomismus notwendig v e r b u n d e n . Aus der aktuellen Anrede Gottes ist eine allgemeine, gesetzliche Wahrheit geworden: die L e h r e v o n d e r V e r b a l i n s p i r a t i o n ist d a , als Folge, nicht als Ursache der neuen geistlosen Auffassung. Die I d e n t i t ä t von Schriftwort u n d Gotteswort ist jetzt aus einer indirekten zu einer direkten geworden. Während noch ein Luther sagen k o n n t e : die Schrift ist die Krippe, darinnen Christus liegt, oder: si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam u n d daher in freiester Weise a n den Büchern der Schrift Kritik übte, heißt es j e t z t : ipsamet verba et voces omnes ac singulas individualiter . . . spiritus sanctus inspiravit et dictavit (Quenstedt). Das h e i ß t : s i e i s t j e t z t h e i l i g e s D i n g , Fetisch. Die inspiratio erstreckt sich auf alle Inhalte der Schrift. Continentur in scriptum res historicae, chronologicae, genealogicae, astronomicae, physicae et politicae, quae, licet cognitu ad salutem non sint simpliciter necessariae, sunt tarnen divinitus revelatae . . (Hollaz). Non tantum sensus aut res significatae, sed et voces tanquam signa rerum divinitus sunt inspiratae (Hollaz). Den Gipfel erreicht diese Theorie mit der Behauptung, d a ß auch die hebräischen Vokalzeichen, die der kanonische T e x t der Judenbibel nicht kennt, göttlich inspiriert seien. Demgegenüber erinnere m a n sich der freien Aussprüche Luthers über manche Bücher des alten u n d neuen Testamentes, an seine Äußerung, daß die Propheten „zuweilen von den Königen und weltlichen L ä u f t e n etwas v e r k ü n d i g t e n , welches sie auch selten übeten u n d oft auch

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DER ZERFALL

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f e h l e t e n " , daß sogar Jesaja „ v i e l e s untereinandergemengt", daß die Chronik nichts anderes sei als ein Kalender der Juden, und daß darin die Königsbücher glaubwürdiger seien als diese. Mit der neuerdings an Luther gerügten Festlegung der Offenbarung auf ein zum voraus angebbares inhaltliches Prinzip ( B a r t h ) sollte diese Freiheit Luthers nicht zusammengebracht werden. ( V g l . dazu unten, S. 76). I n d e m die Orthodoxie die Offenbarung in eine geistlose Gegebenheit verwandelt hatte, glaubte sie erst ihren Gegnern konkurrenzfähig gegenüberzustehen: der katholischen Kirche mit ihrer eindeutigen sichtbaren Autorität, den Schwärmern mit ihrem eindeutigen Geistprinzip, den Rationalisten mit ihren eindeutigen ewigen Vernunftwahrheiten. Tatsächlich aber ist diese Offenbarungslehre der T o d des Glaubens gewesen und gerade die Inspirationslehre der Punkt, an dem die Orthodoxie sehr bald und für immer zu Fall kam. b) D e r

Rationalismus.

Die Vernunft ließ sich durch die Machtsprüche der Orthodoxie nicht niederhalten. Es begann die Epoche der naturwissenschaftlichen Großtaten; das W e l t b i l d der Bibel wurde durch Kopernikus, Galilei und N e w t o n zerschlagen, ihre Chronologie durch die kritische Geschichtswissenschaft und die großartigen Erfolge der Paläontologie außer Geltung gesetzt, die Literarkritik an der Bibel brachte die Tausende v o n Widersprüchen und Menschlichkeiten, v o n denen es im A l t e n und Neuen Testament wimmelt, ans Tageslicht. Die Autorität der Bibel war dadurch völlig erschüttert. Sollte es noch absolute göttliche Wahrheit geben, so konnte diese ebensowenig mehr in der Schrift als im hierarchischen System der katholischen Kirche gesucht werden. Nur die » e w i g e n V e r n u n f t w a h r h e i t e n « blieben noch unangetastet. A u f ihnen beruhte der Fortschritt der Wissenschaft, auf ihnen, den notiones communes der stoischen Popularphilosophie, den etwas volkstümlich umgeformten platonischen Ideen, glaubte man auch eine genügende Moral und eine sie stützende natürliche Theologie aufbauen zu können. Zuerst durch die sozinianische Einzelkritik an besonders anstößigen D o g m e n und Bibelinhalten, sodann durch grundsätzlichen Rationalismus wurde die christliche Offenbarungslehre umgestürzt oder ausgehöhlt, bis schließlich nichts davon übrigblieb als die drei Aufklärungsideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die aber ihrerseits jeder Auslegungswillkür, dem rationalen Zweifel, der alles auflösenden Skepsis, offenstanden. Der letzte Rest des christlichen Offenbarungsglaubens verbarg sich in der I d e e einer allmählichen göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts, mit der Lessing v o m Aufklärungsrationalismus zum tieferen Vernunftdenken des d e u t s c h e n I d e a l i s m u s überleitete. Dieser neuen A n schauung hatte Kants Vernunftkritik, hauptsächlich die moralische und

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ästhetische, den Weg gewiesen. Der Vernunftgrund, der unserem Denken u n d Wollen i m m a n e n t ist, ist die göttliche Idee, j a wohl Gott selbst. Mit diesem Grundgedanken des Idealismus verbindet sich ein anderes: der von Leibniz erkannte Stufenbau aller Dinge als eines zu allmählicher Klarheit kommenden geistigen Seins, die aller Geschichte zugrunde liegende Vernunftteleologie. Beides zusammen f ü h r t e auf einen n e u e n O f f e n b a r u n g s b e g r i f f , der wohl geeignet erscheinen mochte, eine Synthese zwischen Reformation u n d Aufklärung zu vollziehen. Der Grund alles geistigen Lebens ist Gott selbst, u n d das allmähliche, in der Geschichte sich vollziehende Bewußtwerden dieses Grundes ist die Offenbarung. Das Z u - s i c h - s e l b e r - k o m m e n d e s M e n s c h e n g e i s t e s ist zugleich die Selbsterschließung G o t t e s , also seine O f f e n b a r u n g in der Geschichte. Das Christentum h a t diese Wahrheit, wenn auch bloß vorstellungsmäßig — u n d d a r u m an ein konkretes Geschehnis gebunden — e r f a ß t ; die absolute Philosophie ist die gereinigte u n d vollk o m m e n geistig gewordene Fassung dieser Idee. Ob dieser Geistgrund uns mehr in Akten des Willens ( K a n t , Fichte) oder des Denkens (Hegel), im Gefühl (Schleiermacher) oder in der Intuition (Schelling) sich erschließt, ist eine Frage zweiter Ordnung. Jedenfalls ist immer dies gemeint: die Überwindung des Gegensatzes von Vernunft u n d Offenbarung durch die Anerkennung der Offenbarung in der von Ewigkeit im Menschengeist angelegten Erkenntnis des eigenen Geistgrundes in Gott. Alles Geschichtliche ist dabei n u r notwendiger D u r c h g a n g s p u n k t ; g e s c h i c h t l i c h e E r e i g n i s s e spielen höchstens die Rolle von K o n k r e t i o n e n d e r a l l g e m e i n e n I d e e , die dem einzelnen als Vorbilder oder Urbilder Anlaß eigenen Erlebens werden können. Niemals aber k o m m t ihnen als solchen absolute Bedeutung zu. Das ist der Grundgedanke der neuen idealistischen Offenbarungslehre, die vornehmlich von H e r d e r , H e g e l und S c h l e i e r m a c h e r her in die protestantische Theologie eingedrungen ist und diese umgestaltet hat. Die Systematik ist diese: In der allgemeinen, grundlegenden Philosophie wird der »Ort« und das »Wesen« der Religion festgestellt. In einer allgemeinen Religionsphilosophie werden die möglichen Modifikationen dieses allgemeinen Wesens abgeleitet und geschichtlich belegt, wie sie durch die verschiedene Klarheit des religiösen Bewußtseins (Stufen) und durch ihre verschiedene Beziehung zum übrigen Bewußtsein (Arten) bestimmt sind, und endlich wird dann die christliche Religion als die der Idee am nächsten kommende (Hegel) oder sie vollkommen erfüllende (Schleiermacher) individuell geschichtliche Konkretisierung des religiösen Prinzips verstanden. In jedem Fall aber ist der Inhalt, das Wesentliche der Religion, unabhängig von etwas Geschichtlichem aus der Idee der Religion selbst zu ermitteln, wenn auch — im Unterschied zur Aufklärung — darauf Gewicht gelegt wird, daß Religion immer geschichtlich individuelle Gestalt haben müsse. Das allgemein religionsphilosophische Problem, die Frage nach dem Wesen der Religion und ihrer Wahrheit — d. h. ihrer Verankerung im allgemeinen Vernunftgrund — ist die übergeordnete, die speziell theologische Frage nach dem besonderen Inhalt der christlichen Religion ist die untergeordnete. Darum ist auch über Offenbarung vor allem allgemein, abgesehen von Bestimmt-Geschichtlichem, zu reden. Das Geschichtliche hat nur den Wert individueller Konkretion; es ist nur S y m b o l , Erscheinung des

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DER

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Allgemeinen und als solches A n l a ß des eigenen Erlebens. Die eigentliche Offenbarung aber ist gerade das Ungeschichtliche: die immer und überall identische Bewußtwerdung des tiefsten Geistgrundes, wie sie im Geist als solchem, also auch im menschlichen Geist angelegt ist. Offenbarung ist Anamnesis, letzte Stufe der immanenten Besinnung, Hervortreten dessen, was immer schon bereit lag, ins deutliche Bewußtsein. Gott kann nur durch Gott erkannt werden; das ist der gemeinsame Grundgedanke sowohl dieser idealistischen als der christlichen Offenbarungslehre. So lehrt B i e d e r m a n n , der bedeutendste Vertreter des konsequenten idealistischen Kationalismus innerhalb der protestantischen Theologie von der Offenbarung, sie sei ,,der Akt der Selbsterweisung Gottes für den Menschen . . . der actus purus des absoluten Geistes im Leben des endlichen Geistes, und zwar in realer Wechselbeziehung mit endlichen individuellen Geistesakten des menschlichen Ich selbst". Die entscheidende Differenz liegt also darin, daß für den Idealisten diese Selbsterweisung eine grundsätzlich unmittelbare, f ü r den christlichen Glauben eine grundsätzlich vermittelte ist. Zwar spricht auch B i e d e r m a n n von »Vermittlung«, aber damit ist nichts anderes gemeint als „die allgemeine und die psychische Bestimmtheit des Menschen". Von der geschichtlichen Offenbarung ist darum der Glaube grundsätzlich unabhängig. Jesus Christus ist nur in uneigentlichem Sinn Offenbarung, insofern bei ihm die Religiosität das Wesen der Religion stärker und reiner ausgeprägt ist als bei anderen. Es gibt hier kein Verhältnis der Autorität, der Mitteilung des schlechterdings nicht Wißbaren. Es gibt hier k e i n e B e s t i m m t h e i t u n d E i n m a l i g k e i t d e r O f f e n b a r u n g , sondern nur Auslösungen eines allgemein und immer Vorhandenen. Der entscheidende christliche Offenbarungsbegriff ist hier ausgeschlossen: das Wissenlassen des göttlichen G e h e i m n i s s e s .

c) D e r p i e t i s t i s c h - r o m a n t i s c h e

Subjektivismus.

Zwischen Rationalismus und Orthodoxie eingeklemmt, vermittelnd und sich abgrenzend nach beiden Seiten zugleich, behauptete sich eine Art des Glaubensverständnisses, dessen tiefste Wurzeln wohl in der mittelalterlichen Mystik gesucht werden müssen, das auch in der Reformationszeit — etwa in der Gestalt Osianders — nicht ohne bedeutsame Vertretung war, aber erst als Reaktion gegen die orthodoxe Versteinerung der Bibelwahrheit sich in vollem Maße zur Geltung zu bringen vermochte: der Pietismus. Einen Neubau der Theologie hat der Pietismus weder gewollt noch vermocht, da er ja gerade im Protest gegen die orthodoxe Hypertrophie des Theologisch-Begrifflichen sein Leben hatte. War dort das ganze Interesse auf das Was, auf den an sich gültigen Inhalt des Glaubens und die Autorität der Schrift gerichtet, so hier auf d a s W i e d e r A n e i g n u n g . Dem Schlagwort fides quae creditur wurde das andere fides qua creditur entgegengesetzt. Nachdem einmal der Glaube in ein an sich wahres Was und eine »Aneignung« dieses Was als zweites zerspalten war, mußte wohl, als Reaktion auf den falschen Objektivismus, diese Wendung zum Subjektivismus erfolgen. Die Reflexion beschäftigt sich jetzt mit dem religiösen E r l e b n i s , mit den von der Schrift bewirkten (!) Vorgängen, dem Bußkampf, dem Bekehrungsvorgang, mit der Innigkeit der Christusliebe. Haftet aber einmal das Hauptinteresse am subjektiven Erleben, so wird das Wort, das Objektive zum bloßen Anregungsmittel — denn auf die »innere Wirkung« kommt es ja an. Dieses Gottes- und Christuserlebnis H a n d b . d. Phil. I I .

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•wird mehr und mehr unabhängig von einer objektiven geschichtlichen Offenbarung. Der »Christus in uns« wird wichtiger als der »Christus für uns«. So nähert sich der Pietismus der Mystik, d. h. derjenigen Form subjektiver Religion, in der die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses, das wortlose und mittlerlose Einswerden der Seele mit dem göttlichen Urgrund, angestrebt wird. Die p r o t e s t a n t i s c h e G n o s i s •— J a k . B o e h m e , O e t i n g e r — k a n n h i e r n i c h t i n B e t r a c h t k o m m e n . D e n n sie setzt d e n G l a u b e n bereits v o r a u s , u n d z w a r d e n positiven O f f e n b a r u n g s g l a u b e n . Sie ist eine E r w e i t e r u n g , n i c h t eine B e g r ü n d u n g der Glaubense r k e n n t n i s . A n d e r s v e r h ä l t es sich m i t d e m s p ä t e r e n S c h e l l i n g , dessen Gnosis z w a r t a t s ä c h l i c h auf d e r christlichen E r k e n n t n i s f u ß t , a b e r in m e r k w ü r d i g e r U n k l a r h e i t sich b e f i n d e t ü b e r ihre eigene H e r k u n f t . S c h e l l i n g wollte a u c h in seiner »positiven Philosophie« d u r c h a u s P h i l o s o p h , n i c h t Theologe sein. Zwar s a h er die U n m ö g l i c h k e i t ein, auf d e m Wege philosophischer B e s i n n u n g z u m »lebendigen G o t t « zu k o m m e n ; er n e n n t diesen Versuch, d . h . die ganze bisherige religionsphilosophische S p e k u l a t i o n , »negative Philosophie«. A b e r d a ß m a n , o h n e v o m B o d e n d e r Philosophie auf d e n des Glaubens u n d d e r Theologie zu t r e t e n , v o m »lebendigen G o t t « a u s g e h e n k ö n n e , h a t S c h e l l i n g zwar b e h a u p t e t , a b e r n i c h t gezeigt. I m Gegenteil beweist die D u r c h f ü h r u n g seiner Gnosis, d a ß a u c h er d e n positiv christlichen G l a u b e n schon als Basis b r a u c h t , u m v o n d a aus zu seinen gnostischen S p e k u l a t i o n e n (die freilich a u c h f ü r u n s n i c h t o h n e B e d e u t u n g sind) zu g e l a n g e n . E i n e ähnliche U n s i c h e r h e i t ist a u c h in d e r a n S c h e l l i n g orientierten Gnosis T i l l i c h s w a h r z u n e h m e n , wo die schillernde V e r w e n d u n g des Begriffs S y m b o l n i c h t zur K l a r h e i t k o m m e n l ä ß t , ob m i t O f f e n b a r u n g ein Allgemeines, Semper et ubique i m G r u n d e Identisches, oder aber ein b e s t i m m t e s einmaliges u n d d a r u m entscheidendes Ereignis g e m e i n t sei.

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Selbständige theologische oder religionsphilosophische Gestaltung hat die protestantische Mystik ebensowenig gefunden, wie der Pietismus im engern Sinn. Ihre Haupttendenz wurde aber zu einem wichtigen Faktor der neuern Theologie durch ihre Verbindung mit Motiven des Idealismus und der Romantik in der Religionslehre S c h l e i e r m a c h e r s . 30 S c h l e i e r m a c h e r s religionsphilosophische S y s t e m a t i k ist i m wesentlichen die des Idealismus. A b e r er h a t i n sie, in genialer Synthese, die pietistisch-mystische Religionsa u f f a s s u n g e i n g e f ü g t . Die allgemeine idealistisch s p e k u l a t i v e G r u n d l e g u n g (in seiner „ D i a l e k t i k " ) d i e n t e d a z u , als d e n »Ort« der Beligion das G e f ü h l , also die reine S u b j e k t i v i t ä t nachzuweisen. I m »Gefühl«, als d e m I n d i f f e r e n z p u n k t v o n Wollen u n d D e n k e n , erschließt sich d a s Absolute, d a s Göttliche. D a s I n d i v i d u e l l s t e u n d S u b j e k t i v s t e ist also der »Ort«, wo sich der W e l t g r u n d o f f e n b a r t . D o r t , wo weder gewollt n o c h g e w u ß t , s o n d e r n schlechterdings grenzenlos g e f ü h l t wird, d o r t ist das Z e n t r u m sowohl des I c h als der Religion; d o r t , i m G e f ü h l w e r d e n der W e l t g r u n d u n d die Tiefe der Seele eins. D u r c h diese B e s t i m m u n g als G e f ü h l g e w i n n t n u n die Religion n e b e n W i s s e n s c h a f t ( D e n k e n ) u n d Sittlichkeit (Wollen) i h r e S e l b s t ä n d i g k e i t als m y s t i s c h e s E r l e b e n . Freilich n i c h t M y s t i k i m k ü h n e n Sinn der indischen, persischen, n e u p l a t o n i s c h e n o d e r mittelalterlichen M y s t i k . D e n n d o r t wird m i t d e m G e d a n k e n , d a ß i m m y s t i s c h e n E r leben d a s A b s o l u t e e r r e i c h t werde, voller E r n s t g e m a c h t : d e m e c h t e n M y s t i k e r wird die W e l t , die K u l t u r , die G e m e i n s c h a f t z u m wesenlosen Scheine. Diese n e u e r e M y s t i k dagegen bescheidet sich v o n v o r n h e r e i n d a m i t , »Provinz i m Gemüte« zu sein i n d e m Sinne, d a ß n e b e n ihr das R e i c h der o b j e k t i v e n V e r n u n f t seine Selbständigkeit b e h ä l t , j a sogar diesem m y s t i s c h e n E r l e b e n t h e o r e t i s c h u n d p r a k t i s c h ü b e r g e o r d n e t b l e i b t . E s ist also » K u l t u r m y s t i k « oder »Kulturreligion«. Die Religion h a t j e t z t »ihren« P l a t z i m K u l t u r g a n z e n g e w o n n e n . I h r W e s e n i s t : u n m i t t e l b a r e E i n h e i t m i t d e m W e l t g r u n d . U n m i t t e l b a r k e i t aber h e i ß t n i c h t n u r g r u n d -

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sätzliche Unabhängigkeit von allem Geschichtlichen, sondern zugleich von aller Idee. Sie ist deshalb innerhalb des Vernunftganzen das Gebiet des schlechterdings Irrationalen. N u r sekundär, durch die Reflexion über das Gefühl, wird die bestimmte Erkenntnis als Moment innerhalb der Religion sozusagen zugelassen. Grundsätzlich h a t aber Religion m i t Gedanken, auch mit dem Gottesgedanken, nichts zu t u n . Das Geschichtliche k o m m t hier n u r insofern in Betracht, als auch diese Religion des Gefühls als lebendige geschichtlich individuell ist und durch religiöse Persönlichkeiten der Geschichte in anderen angeregt werden k a n n . Das Wesen der Religion ist in jeder Religion dasselbe: d a s G e f ü h l s e r l e b n i s d e r E i n h e i t m i t dem Universum, das aber immer u n d überall individuell verschieden sich ausprägt u n d verschiedener Stufen der Klarheit fähig ist. Das ist im wesentlichen nicht nur die Religionslehre S c h l e i e r m a c h e r s , sondern auch der N e u r o m a n t i k der Gegenwart, das Grundschema all der modernen Religionsphilosophien, die im mystischen Erleben das Wesen der Religion u n d zugleich der Offenb a r u n g zu erkennen v e r m e i n e n ( T r o e l t s c h , O t t o , S c h o l z , G ö r l a n d u. a.). Gewiß ist auch dieMystik reicher Differenzierung fähig (vgl. O t t o s »West-östliche Mystik«); gewiß ist die spekulative oder erkenntnistheoretische Deutung des mystischen Erlebens keine eindeutige (vgl. die Differenz zwischen T r o e l t s c h ( O t t o ) u n d S c h o l z in ihrer Stellung zum religiösen a priori). Aber ihr Grundgegensatz zum christlichen Offenbarungsglauben l ä ß t diese inneren Unterschiede als unbeträchtlich erscheinen. Das was christliche Offenbarung heißt, h a t hier, wo grundsätzlich d a s m i t t l e r l o s e V e r h ä l t n i s z u m U r g r u n d gesucht wird, keine Stelle. Der Christus g l a u b e erscheint neben der (Christus-) M y s t i k als »statutarisches Dogmenchristentum«.

d) D e r H i s t o r i s m u s . In der Romantik hatte aber schon ein Moment angefangen sich geltend zu machen, das mit ihrem Subjektivismus in stärkste Spannung geraten mußte und schließlich v o n ihr wegführte: die Wahrnehmung und Wertschätzung des Geschichtlichen in seiner unableitbaren individuellen Konkretheit, also des geschichtlich Positiven. Von hier aus entwickelte sich immer energischer die Anschauung, daß das geschichtlich Gegebene, Positive das eigentlich Wahre und Wertvolle sei. Zu H e g e l s geschichtsphilosophischem Denken stand diese Anschauung eher im Verhältnis des Gegensatzes als der Verwandtschaft. Denn für Hegel war schließlich doch die Idee in der Geschichte alles und das Konkret-Positive als solches »schlechte Tatsächlichkeit«, wie für jeden spekulativen Idealisten. Darum glaubte er ja auch die Geschichte begreifen, d. h. — vermöge der beweglichen »Dialektik« — in Begriff verwandeln und also die in ihr liegenden Gegensätze als bloße dialektische Vermittlungen der absoluten Idee im Begriff dieser absoluten Idee selbst auflösen zu können. Anders der h i s t o r i s c h e P o s i t i v i s m u s . Er sah die Unauflösbarkeit der geschichtlichen Wirklichkeit. Ja, er erkannte in dem, worin sie der Auflösung in Idee widerstrebt, gerade das eigentlich Geschichtliche und damit zugleich das eigentlich Wertvolle: das unbegreiflich Individuelle. Auf dem Hintergrund dieses allgemeinen Geschichtspositivismus ist nun auch die letzte Phase der protestantischen Theologie, der religionsphilosophische oder theologische Historismus zu verstehen. FZ*

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Schon S c h l e i e r m a c h e r selbst h a t t e in seiner l e t z t e n E n t w i c k l u n g s p h a s e diesen Z u g der Zeit m i t g e m a c h t u n d d e r Theologie n a c h i h m d e n W e g vorgezeichnet. E r e r k a n n t e , d a ß sein m y s t i s c h e r S u b j e k t i v i s m u s n i c h t d a s W e s e n der christlichen Religion zu erschöpfen v e r m ö g e . E r v e r s u c h t e n u n , d a m i t ein geschichtliches E l e m e n t zu verb i n d e n i n d e r Weise, d a ß j e n e s M o m e n t der individuellen K o n k r e t i o n aus einer bloß t a t s ä c h l i c h e n F o r m i m m e r deutlicher zu e i n e m b e s t i m m e n d e n I n h a l t des religiösen B e w u ß t s e i n s g e m a c h t w u r d e . N i c h t n u r i s t die christliche Religion wie alles Lebendige geschichtlich-konkret, sondern es g e h ö r t zu ihr die b e w u ß t e B e z i e h u n g a u f e i n G e s c h i c h t l i c h e s , n ä m l i c h auf i h r e n geschichtlichen U r s p r u n g , die geschichtliche P e r s ö n l i c h k e i t J e s u . J a , schließlich wird sogar diese Beziehung auf ein Geschichtliches als das W e s e n t l i c h e der christlichen F r ö m m i g k e i t angesehen. D a ß d a m i t der ganze f r ü h e r e , r e i n s u b j e k t i v e Religionsbegriff, dessen Absicht gerade die Ausschließung j e d e s o b j e k t i v e n I n h a l t s war, n i c h t e r g ä n z t , s o n d e r n preisgegeben wird, ist Schleiermacher n i c h t k l a r g e w o r d e n . Seine Glaubenslehre s c h w a n k t zwischen den b e i d e n g r u n d s ä t z l i c h u n v e r e i n b a r e n Religionsbegriffen h i n u n d h e r : Religion ist v o r s t e l l u n g s l o s e G e f t t h l s e i n h e i t m i t d e m U n e n d l i c h e n ; u n d christliche Religion ist b e w u ß t e Beziehung auf die geschichtliche P e r s ö n l i c h k e i t J e s u v o n N a z a r e t h , a l s o e i n W i s s e n v o n i h m , ein Wissen a u c h d a v o n , d a ß er der A n f ä n g e r der christlichen Religion sei. Die beiden G e d a n k e n r e i h e n w e r d e n n u r scheinbar z u s a m m e n g e h a l t e n d u r c h den d r i t t e n B e g r i f f : d a ß J e s u diese B e d e u t u n g z u k o m m e , weil i n i h m das religiöse B e w u ß t s e i n (im Sinne der ersten B e s t i m m u n g ) in urbildlicher V o l l k o m m e n h e i t a u s g e p r ä g t u n d er d a r u m f ü r andere, als E r r e g e r desselben B e w u ß t s e i n s , erlösend sei. I n d e r Theologie A l b r e c h t R i t s c h i s b e k o m m t diese Beziehung auf die geschichtliche P e r s o n J e s u d a d u r c h eine a n d e r e W e n d u n g , d a ß hier n i c h t der mystische, sondern der K a n t i s c h - e t h i s c h e Religionsbegriff z u g r u n d e gelegt wird. J e s u s ist d a r u m Gegens t a n d religiöser V e r e h r u n g , weil in seiner P e r s o n die ethische I d e e der B e r u f s t r e u e oder die H i n g e b u n g a n den u n i v e r s a l e n sittlichen W e l t z w e c k oder die sittliche Ü b e r o r d n u n g der Persönlichkeit ü b e r die N a t u r v o l l k o m m e n z u m A u s d r u c k k o m m t . D a r u m , weil wir i h n in dieser einzigartigen sittlichen B e d e u t u n g e r k e n n e n , „ b e u r t e i l e n wir i h n " , wie R i t s c h i s k ü h n e F o r m e l l a u t e t , „als G o t t " . D a m i t wird allerdings der A b s i c h t n a c h eine Rückwendung zum reformatorischen Glaubens- und Offenbarungsb e g r i f f vollzogen. Glaube ist j e t z t Beziehung auf einen P u n k t in der Geschichte; die P e r s o n J e s u ist die O f f e n b a r u n g Gottes, u n d O f f e n b a r u n g h e i ß t K u n d g e b u n g des g ö t t lichen Willens. Aber so wenig a u c h diese Absicht, a n die R e f o r m a t o r e n w i e d e r u m anz u k n ü p f e n , v o n der weder bei Schleiermacher n o c h bei Hegel oder H e r d e r etwas zu v e r s p ü r e n ist, geleugnet werden d a r f , so wenig darf anderseits ü b e r s e h e n w e r d e n , d a ß diese A n k n ü p f u n g m e h r n u r b e a b s i c h t i g t als wirklich vollzogen w u r d e . D a v o n , d a ß eine geschichtliche Persönlichkeit als solche, d . h . als geschichtliche E r s c h e i n u n g , d a r u m weil sie eine sittliche I d e e angeblich v o l l k o m m e n r e p r ä s e n t i e r t , „als G o t t b e u r t e i l t " werden d a r f , ist allerdings bei d e n R e f o r m a t o r e n keine R e d e . N i c h t u m ein »Werturteil« h a n d e l t es sich bei i h n e n , d . h . n i c h t u m die Messung a n einem sittlichen Ideal, sondern u m ein Seinsurteil: wir n e n n e n J e s u s G o t t , weil er G o t t i s t . W i r n e n n e n i h n O f f e n b a r u n g Gottes d a r u m , weil er u n s das k u n d g i b t , was abgesehen v o n i h m u n d seiner K u n d g e b u n g n i c h t g e w u ß t w e r d e n k a n n : G o t t e s Gesinnung gegen u n s ; d a ß G o t t , d e r ebenso der gerechte als der gütige G o t t ist, u n s m i t t e i l t — was a u ß e r h a l b dieser Mitteilung n i c h t g e w u ß t w e r d e n k a n n — d a ß er u n s , d e n sündigen Menschen, gnädig sei u n d u n s sein L e b e n s c h e n k e n wolle. Zwischen diesen r e f o r m a t o r i s c h e n G e d a n k e n u n d d e m Ritschls c h e n : „ d i e ethische B e u r t e i l u n g Christi n a c h seinem Beruf zieht seine religiöse B e u r teilung als O f f e n b a r u n g n a c h s i c h " b e s t e h t eine u n ü b e r b r ü c k b a r e K l u f t . D a s was d e n R e f o r m a t o r e n das I n k o g n i t o Gottes in J e s u s Christus w a r , die geschichtliche Erschein u n g , ist R i t s e h l u n d d e n Seinen die O f f e n b a r u n g . W a s R i t s e h l O f f e n b a r u n g n e n n t , ist — d a r i n zeigt sich die idealistische G r u n d l a g e seines D e n k e n s — b l o ß K o n k r e t i s i e r u n g , Verwirklichung einer auch abgesehen v o n diesem Geschichtlichen b e k a n n t e n

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DER ZERFALL

DER PARADOXEN

EINHEIT

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I d e e , n u r d a ß diesmal die Idee, das Allgemeine, vermöge dessen »beurteilt« wird, das Ethische ist. Aber auch abgesehen von dieser nicht geglückten A n k n ü p f u n g bei den Reformatoren lag in diesem Historismus ein Zwiespalt, den die weitere Entwicklung der Theologie in erschreckender Deutlichkeit zum Vorschein brachte. Es erwies sich als unmöglich, das Absolute, das m a n in einem Geschichtlichen festhalten wollte, gegen die Relativit ä t des Geschichtlichen ü b e r h a u p t abzugrenzen. Es ist die neueste Phase der Theologie, die religionsgeschichtliche gewesen, die erst — in ihrem hervorragendsten Vertreter T r o e l t s c h — die Konsequenzen des Historismus bis zum bitteren Ende zog u n d damit die 10 Theologie als solche auflöste. Sie macht ernst mit dem modernen säkularen Begriff der Geschichte. Geschichte ist unendliches Fließen, K o n t i n u u m , also R e l a t i v i t ä t . Geschichtlich gibt es keine f ü r sich bestehenden isolierbaren Größen. Eine Heilsgeschichte — i m Sinne einer sozusagen k o m p a k t e n , in sich geschlossenen Sondergestalt im Weltgeschehen — k a n n es eben d a r u m nicht geben, weil die Geschichte Strom, F l u i d u m und nicht Solidum ist. Geschichte heißt unablässige Entwicklung, unaufhörliches Werden, Veränderung ohne H a l t e p u n k t e . Alles Geschichtliche geht, wie die F a r b e n des Spektrums, kontinuierlich ineinander über. Also ist auch die »biblische Geschichte« n u r eine Phase der allgemeinen, die israelitisch-christliche Religionsgeschichte nur eine Welle im großen Strom der Religionsgeschichte ü b e r h a u p t . Wohl gibt es in dieser Geschichte Höhe20 p u n k t e , aber sie sind relativ, vorläufig. Wohl gibt es Individualitäten von unerklärbarer Selbständigkeit: nicht bloß Persönlichkeiten, sondern auch Völker, Epochen, Kulturkreise, geschichtliche Wertsysteme, wie etwa die Mittelmeerkultur, die europäisch-amerikanische K u l t u r , worin alle Wertgebilde, also auch die Religionen, eingeschlossen sind. Aber dieser Gedanke der geschichtlichen Individualität k a n n nicht dazu dienen, einzelnes als absolut herauszuheben, sondern umgekehrt n u r dazu, alles Geschichtliche, weil es als individuell immer beschränkt u n d also ergänzungsbedürftig ist, grundsätzlich zu relativieren. Auch die Normen und Ideen, die uns als absolut gelten u n d vermöge derer wir den Begriff des Absoluten bilden, sind ebenfalls n u r geschichtlich relative Gebilde u n d d a r u m in stetem Wandel begriffen. So wird die „ A b 30 s o l u t h e i t d e s C h r i s t e n t u m s " , die weder von der Hegeischen noch von der Schleiermacherschen oder Kantschen Religionsphilosophie angestastet war (trotzdem der Begriff des Christlichen bei ihnen auf ein gesichertes Minimum reduziert wurde) gründlich in Frage gestellt, vielmehr: v e r n e i n t . Von Offenbarung kann d a r u m auf diesem Boden nur noch in sehr bescheidenem Sinne die Rede sein: Sie ist „die innere E m p f i n dung und Gewißheit von dem Ganzen der Dinge u n d seinem Sein, die wir religiöses Gefühl oder religiöse E m p f i n d u n g n e n n e n " . Das ist „Offenbarung, wie sie j e d e r m a n n erleben und bezeugen k a n n " . Davon ist Offenbarung im Sinne eines Besonderen nur graduell verschieden. Freilich ist »Offenbarung « auch in diesem sekundären, uneigentlichen Sinne nicht unwichtig; „ d e n n die produktive K r a f t des Individuums . . . bedarf steter 40 Anregung". Unter diesen religiösen Anregern ist die Persönlichkeit Jesu vorläufig der H ö h e p u n k t . Das Christentum „ i s t nicht die einzige Offenbarung u n d Erlösung, sondern der H ö h e p u n k t der in der Erhebung der Menschheit zu Gott wirkenden Offenbarungen und Erlösungen". Aber auch das gilt nur vorläufig und ist vielleicht — so lauten die letzten Formulierungen T r o e l t s c h s — n u r von unserem abendländischen Gesichtspunkt aus richtig. Wohin die weitere Entwicklung f ü h r t , k a n n niemand wissen, denn auch die geschichtlichen Gesetze, die wir etwa aufstellen, könnten vielleicht nur innerhalb der besonderen abendländischen Geschichtsindividualität, auf die sie begründet sind, Geltung haben.

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Mit diesem ehrlich und konsequent durchgeführten Historismus hat denn auch die Entwicklung der protestantischen Theologie ein Ende erreicht. Ein spezifisch-christliches Offenbarungsbewußtsein kann hier nicht mehr festgehalten werden. Diese Wahrnehmung muß aber der

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RELIGIONS

PHIL OSO PH IE EVANGELISCHER

THEOLOGIE

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weiteren Frage rufen, mit wieviel Recht man die Gestaltungen der »protestantischen Theologie«, die vorwiegend vom Idealismus und der Aufklärung her bestimmt sind, also die religionsphilosophisch begründeten, neuprotestantischen Systeme der Theologie überhaupt als Formulierungen c h r i s t l i c h e n Glaubens betrachte. Sie alle, Ritsehl nicht minder als Schleiermacher, gehen von einem a l l g e m e i n e n B e g r i f f der R e l i g i o n und dementsprechend von einem a l l g e m e i n e n B e g r i f f der O f f e n b a r u n g aus und fassen die Christus Offenbarung deutlich als eine Spezifikation oder Konkretion dieses Allgemeinen auf. Gerade diese Auffassung aber steht in schärfstem Widerspruch zur eigentümlich christlichen, wie wir sie im Offenbarungsbegriff der Reformatoren kennenlernten, wie sie aber auch schon im Neuen Testament selbst und weiterhin bei den großen Kirchenvätern, wie im gemeinchristlichen Bekenntnis, explizit und implizit vorliegt. Es ist keine Frage, daß eine Theologie, für die die Christusoffenbarung nur eine individuelle Ausgestaltung der allgemeinen Religion ist, für die also zwischen Hinduismus, Buddhismus und biblischer Offenbarung nur ein Gradunterschied besteht, auf den Titel »christlich« im Sinn des klassischen Christentums keinen Anspruch erheben kann, wenn auch hinter diesen theologischen Formulierungen sehr oft ein ganz andersgerichteter persönlicher Glaube stecken mag. Die grundsätzliche Selbstunterscheidung des christlichen Offenbarungsglaubens von aller Religion außerhalb des biblischen Offenbarungskreises ist mit dem christlichen Begriff der Offenbarung selbst gegeben, wie er sich schlicht und lapidar in dem Apostelwort ausdrückt: „Es ist in keinem andern das Heil und ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollten gerettet werden." Denn für den christlichen Glauben ist j a Offenbarung kein Allgemeines, kein Semper et ubique von jedermann zu Erlebendes, sondern ein einmaliges, bestimmtes, konkretes Geschehen, und Glaube also gerade dies: die G e b u n d e n h e i t des M e n s c h e n an d i e s e s b e s t i m m t e G e s c h e h e n . Darum steht, sachlich gesprochen, der christliche Glaube in unversöhnlichem Gegensatz zum idealistischen Offenbarungsbegriff, der die neuprotestantische Theologie beherrscht. Der radikale Historismus hat das große Verdienst, diesen Gegensatz unmißverständlich deutlich gemacht und damit gezeigt zu haben, daß auf jenem Boden keine eigentliche Theologie, sondern nur noch allgemeine Religionswissenschaft, keine christliche Kirche, sondern nur noch ein Religionsverein möglich ist. Es würde aber ein falsches Bild von der Geschichte der protestantischen Theologie geben, wenn wir unser Augenmerk einseitig nur auf die genannten Richtungen lenken wollten. Die geschilderten Entwicklungsphasen sind nicht in sich geschlossene Größen, sondern nur besonders hervortretende Momente, die sich von einem schwer definierbaren allgemeinen kirchlich-christlichen Untergrund abheben. Sie ziehen aber die

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DIE

VON DER GESCHICHTE

GESTELLTE

AUFGABE

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Aufmerksamkeit d a r u m besonders an sich, weil in ihnen die Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Geistesleben am intensivsten ist. Nebenher aber läuft durch alle J a h r h u n d e r t e hindurch eine mehr auf das Bewahren gerichtete theologische Arbeit, die wesentlich von den biblischen, allgemein-kirchlichen u n d reformatorischen Gedanken genährt ist. Sie ist aber im Zeitbewußtsein d a r u m eine weniger hervortretende Größe, weil sie jeweils in den Geisteskampf der Gegenwart n u r wenig eingegriffen oder, wo sie es t a t , den E i n d r u c k einer ängstlichen konservativen, apologetischen Defensive erweckt h a t . Eine wirklich großgedachte, mit ganzem E r n s t die neugestellten Probleme durchdenkende »Religionsphilosophie« — d. h. Auseinandersetzung des christlichen Offenbarungsglaubens mit dem Zeitbewußtsein — gibt es in jenem Lager nicht, eine einzige Ausn a h m e abgerechnet: S ö r e n K i e r k e g a a r d . Da aber seine Gedanken erst anfangen, auf die Entwicklung der Theologie Einfluß zu gewinnen, soll diese große Erscheinung nicht im geschichtlichen, sondern im systematischen Zusammenhang zum Worte kommen. 4. D I E VON D E R G E S C H I C H T E G E S T E L L T E

AUFGABE.

W e n n dem Entwicklungsgang der protestantischen Theologie irgendein Sinn, d. h. irgendeine Notwendigkeit innewohnen soll, so könnte diese wohl am ehesten so verstanden werden, daß es vier Hauptgesichtspunkte gibt, die in einer christlichen Lehre von der Offenbarung zu ihrem Rechte k o m m e n müssen: Die Beziehungen von Offenbarung u n d Schrift, Offenb a r u n g u n d V e r n u n f t , Offenbarung u n d subjektivem Erleben, Offenb a r u n g u n d Geschichte. Das isolierte Hervortreten von je einem dieser Gesichtspunkte h a t je einer dieser Epochen der Geistesgeschichte ihren Charakter aufgeprägt. Aber ihr i s o l i e r t e s Hervortreten h a t auch zugleich eine Epoche von der anderen verdrängt werden lassen u n d zuletzt zur Auflösung der Theologie geführt. So stellt sich uns die Aufgabe v o m christlichen Offenbarungsglauben a u s : neu, u n d im Zusammenhang mit allen jenen vier bestimmenden Größen zugleich — damit auch im Zusammenhang mit den Problemen der Zeit — den Sinn der Offenbarung zu erfassen zu suchen. D a ß es sich dabei nicht u m eine »Synthese« jener genannten vier Richtungen handeln k a n n , versteht sich von selbst. Denn aus vier Unmöglichkeiten wird niemals durch Zusammensetzung eine Möglichkeit. Auch k a n n es sich f ü r den Glaubenden niemals d a r u m handeln, sich die Auffassung der Offenbarung von der Zeit geben zu lassen. Eine solche Theologie würde von vornherein alles andere eher als eine christliche sein. Sondern n u r d a r u m k a n n es sich handeln, aufs neue in begrifflicher Schärfe zu zeigen — was der Glaube selbst schon in schlichter Erkenntnis in sich begreift —, daß die richtige Auffassung der Offenb a r u n g den Anliegen jener vier Richtungen von selbst Rechnung t r ä g t , wenn sie n u r gehörig in die Tiefe geht. D a ß jene vier Hauptgesichtsp u n k t e übrigens nichts an den Glauben Herangetragenes sind, sondern

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EVANGELISCHER

THEOLOGIE

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sich aus ihm selbst ergeben, dürfte sich wohl schon darin zeigen, daß das allgemeinste christliche Glaubensbekenntnis, das sog. Apostolikum, den christlichen Glauben nach jenen vier Seiten hin entfaltet. Es handelt von der Schöpfung und der durch sie in Welt und Menschen gelegten » i m m a n e n t e n « göttlichen Ordnung, von der K o n t i n g e n z der Offenbarung in dem geschichtlichen Ereignis Jesus Christus; vom I n n e r l i c h w e r d e n des Wortes durch den Heiligen Geist; und von der G e s c h i c h t l i c h k e i t der Glaubensgemeinschaft, der Kirche. Die Vereinzelung, die falsche Verselbständigung je eines dieser vier »Artikel«, d. h. eines der vier Hauptmomente der Offenbarungswahrheit hat die Bildung einer jener vier einander ablösenden geschichtlichen Epochen bedingt. Es ist die Aufgabe der christlichen Theologie ihre notwendige Zusammengehörigkeit aus der Erkenntnis des Sinnes der Offenbarung selbst zu erweisen. Das ist die einzige »Apologetik«, die sie ungestraft treiben kann und ungestraft nicht unterlassen darf. Außer den bekannten älteren Werken über Geschichte der Religionsphilosophie von P ü n j e r (2 Bde., 1880—1883), P f l e i d e r e r (1893) und der protestantischen Theologie von G a ß (4 Bde., 1854—1867), D o r n e r (1867), P f l e i d e r e r (1891), F r a n k (1894,1907 4 ), sind zu vergleichen: Reinhold S e e b e r g , Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV (1917—1920'), Otto R i t s e h l , Dogmengeschichte des Protestantismus (3 Bde., (1912—1926), Ernst T r o e l t s c h , Vernunft und Offenbarung bei J o h a n n Gerhard und Melanchthon (1891), Paul A l t h a u s , Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik (1914), Karl H e i m , Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher (1911), R. H . G r ü t z m a c h e r , Alt- und Neuprotestantismus in Neue Kirchl. Zeitschr. (1915—1918), Ferd. K a t t e n b u s c h , Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher (1924 3 ), Ernst T r o e l t s c h , Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft in Zeitschr. f. wiss. Theologie (1908) und Ges. Werke, Bd. I I (1913), Werner E i e r t , Der Kampf u m das Christentum (1921), Emil B r u n n e r , Die Mystik und das Wort (1924), D e r s e l b e , Reformation und Romantik (1925). Für die neuere Religionsphilosophie: Otto S i e b e r t , Die Religionsphilosophie in Deutschland (1906), Max S c h i n z , Die Wahrheit der Religion nach den neuesten Vertretern der Religionsphilosophie (1908), E r n s t T r o e l t s c h , Religionsphilosophie inWindelband, Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts (1904). Aus der Spezialliteratur über die Reformatoren seien nur angeführt: Karl H o l l , Luther (1923 3 ), Peter B r u n n e r , Vom Glauben bei Calvin (1925), sowie das ältere, zum Teil immer noch unerreichte Werk von Theodosius H a r n ack, Luthers Theologie, Bd. I (1862).

II. DER SINN DER OFFENBARUNG. 1. DAS WAHRHEITSMOMENT D E S RATIONALISMUS: OFFENBARUNG UND VERNUNFT. Abstrakt gesprochen gibt es drei mögliche Beziehungen zwischen Offenbarungsglaube und Vernunft: daß der Glaube in der Vernunft Platz findet, daß die Vernunft im Glauben Platz findet oder daß sie beide außer einander liegen. Das letztere könnte nur ein Verhältnis unversöhnlicher Gegensätzlichkeit sein, die doppelte Wahrheit, die aber, wirklich

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DAS

WAHRHEITSMOMENT

DES

RATIONALISMUS

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ernst genommen, nicht weniger als die A u f h e b u n g der Wahrheit bedeuten würde. Denn zweierlei Wahrheit ist so viel wie keine Wahrheit. Die erste »Möglichkeit« ist der Grundgedanke des Idealismus. E r h a t den Begriff der Vernunft so zu vertiefen gesucht, daß darin auch die Wahrheit der christlichen Offenbarung enthalten zu sein schien. Sofern eine Theologie eich diesen Gedanken aneignet — wir sahen bis zu welchem Grad es im vergangenen J a h r h u n d e r t der Fall war — h a t sie aufgehört, Ausdruck des christlichen Glaubens zu sein. Die christliche Kirche weiß es seit ihrem Bestehen, daß was sie glaubt, f ü r das vernünftige Denken Torheit u n d Ärgernis ist. Gegenstand des Glaubens ist das f ü r die Vernunft Absurde, das Paradox, u n d an allen echten Glaubensaussagen h a f t e t als ihr Kennzeichen das Merkmal logischer Unmöglichkeit: der Widerspruch. Es ist in allen glaubensstarken Zeiten das vornehmste Interesse der Theologie gewesen, den Gegensatz von Vernunft u n d Offenbarung, von »natürlichem« Erkennen u n d Wollen einerseits u n d dem Glauben anderseits deutlich herauszuarbeiten, während umgekehrt die apologetische H a l t u n g die Epochen der Glaubensarmut charakterisiert. Aber anderseits h a t doch auch der Glaubende immer zugleich an der allgemeinen Kulturgemeinschaft teil, ist durch t a u s e n d Fäden mit dem allgemeinen, v e r n u n f t b e s t i m m t e n Geistesleben seiner Zeit v e r b u n d e n u n d hört auch im Glauben selbst u n d vor allem i m Ausdruck des Glaubens nicht auf, die Vernunft zu gebrauchen. Er ist also, zumal als Theologe, sich u n d seinen Zeitgenossen darüber Rechenschaft schuldig, inwiefern jener Gegensatz m i t dieser Einheit zusammenbestehen könne. Seine allgemeine Lösung ist die, daß zwar n i e m a l s d i e O f f e n b a r u n g i n n e r h a l b der V e r n u n f t , wohl aber die V e r n u n f t i n n e r h a l b d e r O f f e n b a r u n g i h r e n P l a t z h a b e , indem gerade v o m Glauben aus das Recht — freilich auch die Grenze — der Vernunft eingesehen werden könne. Den Sinn dieser zunächst unverständlichen Verhältnisbestimmung deutlich zu machen, ist unsere erste Aufgabe. a) D a s

E r k e n n t n i s p r o b l e m , die F r a g e Wirklichkeit.

nach

der

wahren

Als ein schlicht Gegebenes meint der naive Mensch die Wirklichkeit vorzufinden. E r ist sich nicht bewußt, was f ü r eine ungeheure gedankliche Arbeit in seinen Vorstellungen u n d Bildern des »Wirklichen« aufgespeichert liegt. Wir werden daran etwa erinnert, wenn wir dem m ü h s a m e n Prozeß des Lernens eines Kindes folgen, wenn wir u n v e r m i t t e l t dem Weltbild eines Primitiven gegenübergestellt werden oder wenn uns die Wissenschaft das scheinbar längst Bekannte zum schweren Problem m a c h t . Wir »sehen« tatsächlich eine ganz andere Welt als das K i n d oder der Mensch vor etlichen tausend J a h r e n ; der gedankliche E r w e r b steckt schon in unseren »Bildern«. J a , schon die Tatsache, daß wir uns überh a u p t ein »Bild« machen, d. h. daß wir eine objektive Einstellung zur

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EVANGELISCHER

THEOLOGIE

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Welt haben, ist durchaus keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Erwerb, u n d anderseits m a c h t uns der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis — ich erinnere bloß an Mikroskop u n d Teleskop — die unmerklich auch in unser »normales« Weltbild übergeht, darauf a u f m e r k s a m , d a ß auch j e t z t unser Bild der Wirklichkeit nichts weniger als ein fertiges ist. Die F r a g e nach der wahren Wirklichkeit ist, einmal erwacht, nicht mehr zum Schweigen zu bringen. E s ist vor allem der Widerspruch der vermeintlich »gegebenen«, anschaulichen Wirklichkeit mit sich selbst, die f ü r uns das Forschen u n d Denken über diese wahre Wirklichkeit unvermeidlich m a c h t . Vom inneren Widerspruch des Gegebenen selbst geht alle theoretische Erkenntnistätigkeit aus. Das Treibende ist also der Wille, den Widerspruch zu überwinden, den Z u s a m m e n h a n g herzustellen. Das bloß Einzelne als solches ist nicht erkannt, j a von einem bloß Einzelnen wissen wir gar nichts. Wir »sehen« immer teilweise Ganzheiten, Zusammenhängendes. Aber wir wollen nicht bloß Zusammenhängendes, sondern den Zusammenhang von allem erkennen. Wir wissen, d a ß wir erst dann, wenn wir ihn gefunden haben, wirklich erkannt haben. Die Frage nach dem Zusammenhang ist die Frage nach dem W a r u m . Aber diese Frage ist doppelsinnig; sie meint entweder die Ursache, oder sie meint den Grund. Fragen wir nach der U r s a c h e , so wollen wir Erklärung. Fragen wir nach dem Grund, so wollen wir Verständnis. I m einen Fall gehen wir vom Einzelnen zum Einzelnen u n d fassen das Ganze, den Zusammenhang, als Hervorbringung oder Zusammenwirkung des Einzelnen. I m anderen Fall gehen wir aus v o m Gedanken eines Ganzen, in dem das Einzelne seinen Grund h a t . Das Einzelne, von dem wir im ersten Fall ausgehen, ist ein »Gegebenes«, ein E t w a s . Wir bemerken zwar bald, d a ß nichts von dem, was wir zunächst als Einzelnes ansprechen, wirklich ein Einzelnes ist. Es ist vielmehr immer schon ein Zusammengesetztes, eine relative Ganzheit. Aber wir suchen das Letzteinzelne, u m daraus den Zusammenhang aller Letzteinzelheiten zu erklären. Die Ganzheit, der erklärbare Zusammenhang, ist d a n n gänzlich in jenen Letzteinzelnen begründet, er ist nichts selbständiges, sondern etwas abgeleitetes. Das ist der Grundgedanke des R e a l i s m u s . Der G r u n d aber, von dem wir im zweiten Fall ausgehen, k a n n nicht ein E t w a s sein, da ein E t w a s immer n u r als Einzelnes gedacht werden k a n n . Vielmehr ist das Verhältnis von Grund u n d Begründetem ganz anderer Art, nämlich ein gedankliches. Jeder Gedanke, den wir denken, ist eine Ganzheit, die nicht in Teile auflösbar ist. Diese Ganzheit ist der S i n n eines Gedankens. Der Grund eines Gedankens ist immer eine umfassendere Sinnganzheit. Der Grund von allem m u ß also der Sinn von allem Sinnhaften, der Gedanke aller Gedanken, die Wahrheit aller Wahrheiten sein. Mit dem H a u p t w o r t der griechischen Philosophie nennen wir das: Logos. Das ist der Grundgedanke des I d e a l i s m u s .

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DAS

WAHRHEITSMOMENT

DES

RATIONALISMUS

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Realismus u n d Idealismus sind philosophische Möglichkeiten. Sie gehen auf die Totalität des Seienden. Anders die Wissenschaft. Sie ist weder idealistisch noch realistisch, sondern immer beides zugleich. I h r Fortschritt b e r u h t auf dem Denken. Denn n u r weil dem Denken eine bisherige Lösung nicht genügt, wird eine neue bessere gesucht. N u r durch Denken werden die Hypothesen gebildet, die das eigentliche Leben der Wissenschaft sind. N u r dem Denken fällt der Widerspruch des anschaulich Gegebenen auf, n u r es vermag ihn zu überwinden durch Analyse u n d Synthese. Aber die Wissenschaft v e r t r a u t nie dem Denken allein. Sie will das in der Hypothese Vorausgedachte durch das Experiment, das Zeugnis der Sinne bestätigt haben. Zwar löst sie in ihrem Fortschritt immer mehr die zunächst anschaulich gegebene Mannigfaltigkeit in Gedankenzusammenhänge (Funktionsgesetze) auf. Aber auf keinem P u n k t ihrer abstraktiven Tätigkeit k a n n sie des Experimentes entraten. Nicht als ob das E x p e r i m e n t selbst verriete, was die Wirklichkeit ist. N u r die gedankliche Hypothese »sagt« etwas, das E x p e r i m e n t h a t dazu gleichsam bloß j a u n d nein zu nicken. E s ist bloß ein f ü r sich selbst nichtssagendes, aber unentbehrliches Kontrollmoment, Zeichen einer nicht restlos in Begriffe eingehenden Wirklichkeit, Kriterium, ob diese Begriffe »richtig« seien. Soweit die Wissenschaft fortschreitet, t u t sie es vermöge dieser Begriffe, aber geleitet v o m Zeugnis der Sinne. Sie rationalisiert beständig die anschaulich gegebene Wirklichkeit, u n d durch ihren Erfolg beweist sie deren rationale N a t u r ; anderseits aber zeigt die Abhängigkeit v o m Sinnenzeugnis, d a ß diese Wirklichkeit n i c h t n u r r a t i o n a l ist, sondern vielmehr ein Ineinander von Gedanke u n d gedankenfremder Gegebenheit. Die Frage ist, ob wir über die wissenschaftliche Erkenntnis, die immer i m Endlichen, Begrenzten stecken bleibt, hinauskommen können zum letzten Ganzen. Diesen Versuch m a c h t die Philosophie. Offenbar ist hier der Idealismus überlegen, da wir jenseits der Wissenschaft n u r noch m i t Gedanken weiterkommen können. Jedes Emporsteigen — sei es also: der W a h r h e i t entgegen — legt Zeugnis ab f ü r die K r a f t des G e d a n k e n s . E s ist d a r u m begreiflich, daß der Idealismus zu der kühnen B e h a u p t u n g fortschreitet: da der Grund aller Gedanken selbst Logos, d. h. der Gedanke aller Gedanken, also selbst Idee ist u n d nicht Ding, k a n n auch das Begründete, das wir durch den Gedanken erfassen, nicht Ding sein. Wir haben es immer n u r mit Gedankenwirklichkeit zu t u n . Wo immer wir Wahrheit aussagen, sagen wir Begründetheit durch den Grund aus. Alles was wahr ist, ist in der Wahrheit wahr, also im Logos. Die wahre Wirklichkeit ist also die Ideenwirklichkeit, die der Grund unseres Denkens, also auch unser selbst ist. I n d e m wir uns auf unseren tiefsten Grund besinnen, finden wir den Grund alles Seins. Der Gedanke, in dem wir den Logos als unseren Grund erkennen, ist derselbe, in dem der Logos selbst in unser Denken eintritt, also der, in dem das Gedachte u n d das Denkende eins sind.

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Der Realismus geht nicht so geradlinig weiter, denn als reiner Realismus kann er sich j a nicht zur Philosophie vollenden. Auch ihm bleibt zur Vollendung, als Mittel philosophischer Systembildung, bloß der Gedanke. Die Weiterbildung des Realismus zur Vollendung des Systems ist die Metaphysik. Die Metaphysik geht v o m wissenschaftlichen — oder auch v o m anschaulichen — Wirklichkeitsbild aus und vollendet die Seinsdeutung durch abschließende Hypothesen. D a r u m ist im Unterschied zum idealistisch-spekulativen Denken, das in den Grundzügen immer dasselbe bleibt, die Mannigfaltigkeit der Metaphysiken unübersehbar 1 ). Nur ein formaler Grundzug ist ihnen gemeinsam: sie abstrahieren von einer als bekannt vorausgesetzten Wirklichkeit gewisse allgemeine Gesetze — z. B . die aristotelische Stufenordnung der Proportionen von Stofflichkeit und ideeller F o r m — und gelangen durch Erweiterung dieser Gesetze per analogiam zu letzten Seinsprinzipien — etwa zum aristotelischen actus purus des göttlichen Seins —, falls nicht auf eine abschließende Deutung überhaupt verzichtet wird. Aber schon die T a t s a c h e , daß die metaphysischen Systeme sich in so großer Mannigfaltigkeit uns darbieten, daß anderseits einige große Systemlinien, seit dem Beginn der Philosophie tausendmal widerlegt, immer wieder auftauchen und sich Geltung verschaffen, daß jedes dieser großen Systeme ebensoviele gute Gründe für als gegen sich hat, zeigt, daß hier eine Besinnung darüber notwendig ist, inwiefern wir es hier mit Erkenntnis zu t u n haben. Diese Besinnung ist d i e k r i t i s c h e P h i l o s o p h i e . Der Kritizismus geht aus v o m Charakter desjenigen Erkennens, das durch seine Stetigkeit und durch seine Fähigkeit, im L a u f der Zeit sich allgemein durchzusetzen, sowie durch seine praktische Leistungsfähigkeit a m ehesten auf den Titel gültigen Erkennens Anspruch h a t : von der exakten Naturwissenschaft. I n ihr aber finden wir, wie gezeigt, ein realistisches und idealistisches Moment beieinander, nicht im Gleichgewicht, sondern in jenem qualifizierten Verhältnis der Uber- und Unterordnung, das durch das Zusammensein von gedanklicher Hypothese und sinnlicher Bestätigung gegeben ist. Der Kritizismus zeigt nun durch Analyse des Erkennens, daß Erkenntnis immer ein doppeltes i s t : Aufarbeitung einer anschaulichen aber widerspruchsvollen Gegebenheit in widerspruchslosen gedanklichen Zusammenhang, zugleich aber Begrenzung und Leitung dieser Rationalisierung durch ein nie in Begriff aufzulösendes X der Gegebenheit. Anschauung ohne Begriff ist blind, Begriff ohne Anschauung ist leer. Erkenntnis ist in ihrem Fortschritt und Ziel rational, aber sie geschieht immer an einem irrational Gegebenen, das der Rationalisierung den Weg weist und sie dauernd begrenzt. x ) Trotz der gegenwärtig beliebten Ineinssetzung etwa W u s t , Die Auferstehung der Metaphysik; Themen der abendländischen Metaphysik) scheint begriffsgeschichtlich und sachlich das Bichtigere zu

von Spekulation-Metaphysik (vgl. H e i m s o e t h , Die sechs großen mir diese scharfe Unterscheidung sein.

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Die W a h r n e h m u n g dieses irrational Gegebenen in seiner I r r a t i o n a l i t ä t und Mannigfaltigkeit mag m a n immerhin »irrationale Erkenntnis« heißen (vgl. etwa Müller-Freienfels: Irrationalismus, 1922). E s ist ein Wortstreit, ob m a n die zusammenhangslose sinnliche Anschauung z. B. »Erkenntnis« nennen will. Es ist aber nicht ein rationalistisches Vorurteil, wenn wir der ungeordneten Mannigfaltigkeit von Eindrücken die Qualifikation: E r k e n n t n i s aberkennen. Sobald aber Ordnung, Zusammenhang, Sinn, Bedeutung in das Gewirre k o m m t , ist der »Logos« am W e r k . Unendlich viel Verwirrung k o m m t in die Diskussion duTch den unbesonnenen Gebrauch des Begriffs Intuition, worunter sehr oft gerade das verstanden wird, was a m D e n k e n die H a u p t sache i s t : das Verständnis von Sinnganzheiten.

Daß wir der Wirklichkeit überhaupt durch gedankliches Ordnen beikommen, ist uns Anzeichen ihrer Rationalität. Daß wir aber immer nur bestimmtes, gegebenes Etwas zu ordnen vermögen, dessen Dasein und Sosein sich letztlich dem Begreifen immer wieder entzieht, ist Anzeichen ihrer Irrationalität. Darum wissen wir trotz unseres Erkennens nicht, was die wahre Wirklichkeit ist. Dieses Doppelresultat ist die Quintessenz des kritischen Idealismus.

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Der spekulative oder absolute Idealismus meint zu wissen, was die wahre Wirklichkeit ist, weil er das Rationale, das Logosmoment zum alleinwahren m a c h t : Alles ist Idee. Er glaubt eben in der Idee des Logos die letzte Wirklichkeit selbst zu erfassen, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, d a ß jene Idee leeres A b s t r a k t u m — nicht ohne höchste Bedeutung, aber ohne Fülle des Seins — ist. Der spekulative Idealismus sieht nicht, d a ß unser Denken immer begrenzt ist durch das irrational Gegebene u n d d a ß diese Begrenzung f ü r die E r k e n n t n i s gerade k o n s t i t u t i v ist, d a ß gerade d a r u m , weil diese Begrenzung ihnen fehlt, die spekulativen Ideen nicht mehr Erkenntnis heißen können. Es fehlt ihnen die »experimentelle Bestätigung«, das Zeugnis der irrationalen Wirklichkeit. Sie sind W a h r h e i t ohne Wirklichkeit, wie das Versunkensein im Sinnlichen Wirklichkeit ohne W a h r h e i t ist. D a r u m ist der spekulative Idealismus, der u n s e r e I d e e der W a h r h e i t m i t d e r W a h r h e i t identifiziert, überschwänglich oder schwärmerisch. Der relative Gegensatz zwischen der p h ä n o m e n o l o g i s c h e n u n d der k a n t i a c h e n Richtung des kritischen Idealismus k o m m t hier nicht in B e t r a c h t . Die O b j e k t i v i t ä t der Ideen, die von der phänomenologischen Richtung gegenüber K a n t so s t a r k hervorgehoben wird, f ü h r t weder über den Gegensatz des Empirischen u n d Apriorischen, noch über den des Rationalen und Irrationalen hinaus. Die »überstandpunktliche« Philosophie ist eine Selbsttäuschung. Mögen die Ideen objektiv sein, so ist doch zweierlei nicht zu leugnen: erstens d a ß sie nur im Zusammenhang miteinander e r k a n n t werden können — u n d nicht etwa wie Sterne am H i m m e l einzeln f ü r sich leuchten —, so d a ß also ihre volle Erkenntnis immer unendliche Aufgabe bleibt; und zweitens d a ß eben d a r u m zwischen dem diskursiven Denken u n d dem intuitiven Schauen kein wesentlicher Unterschied besteht. Das diskursive Denken geschieht vielmehr nie ohne »intuitive« Ganzheiten, wie anderseits das ideelle Schauen — m a n denke an das »Ausklammern« bei H u s s e r l — nie schlechthinige Gegebenheit, sondern zugleich m ü h s a m fortschreitende, aneignende Arbeit bedeutet. Solange die Phänomenologie nicht spekulativ zu schwärmen beginnt, wie bei S c h e l e r , f ü h r t auch sie über die E r k e n n t n i s a p o r i e ( H a r t m a n n ) , die vom kritischen Idealismus aufgedeckt wird, und also über einen f u n d a m e n t a l e n Dualismus im Erkennen nicht hinaus. Durch A u g u s t i n ist ein gemäßigter spekulativer Idealismus in die Theologie eingedrungen, der » O n t o l o g i s m u s « , dessen prägnantester Ausdruck der ontologische Gottesbeweis ist. Sein Nerv ist die Idee der Wahrheit. Da wir, wenigstens in der Idee, wahr u n d falsch unterscheiden können, da wir — wenn auch nicht d i e Wahrheit, so doch W a h r h e i t

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THEOLOGIE

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erkennen, so h a b e n wir also teil a n der absoluten W a h r h e i t , also an G o t t . N u r in Gott können wir wahr u n d falsch unterscheiden, n u r in i h m ü b e r h a u p t denken, n u r in i h m vollziehen wir geistige Akte. Denn jeder solche ist ein fiere/etv rov loyov, ein Teilhaben a m Logos. Gewiß, so k a n n m a n als Theologe wie A u g u s t i n sprechen. Aber der kritische Denker f r a g t nicht, ob m a n so denken k a n n , sondern ob m a n so denken m u ß , ob m a n a u s D e n k g r ü n d e n allein b e f u g t ist, das, was dem Denken als ewige Voraussetzung zugrunde liegt, Gott zu nennen. W e n n er diese Frage verneint, so s t i m m t er darin m i t dem christlichen Theologen überein, der niemals jene Logosidee oder also den platonischen Gottesgedanken als den Gott des Glaubens anerkennen würde. Denn diesem Vernunftslogos fehlt zum Gottsein: die wirkliche Bezeugung, also die Wirklichkeit, die noch mehr ist als bloß ideelle W a h r h e i t . Schöpfung u n d Offenbarung sind das, was den konkreten v o m spekulativen Gottesgedanken tTennt. Nicht weniger überschwänglich als der spekulative Idealismus ist v o m strengen kritischen Gesichtspunkt aus die M e t a p h y s i k jeder A r t . Der strenge Wissenschafter l ä ß t keine Hypothese als E r k e n n t n i s gelten, die nicht »experimentell«, d. h. durch das Zeugnis der Sinne bestätigt ist. Diese Bestätigung aber fehlt den metaphysischen Hypothesen. Sie sind rein logische Weiterbildungen oder Ergänzungen des wissenschaftlichen oder auch des naiv anschaulichen Weltbildes. Ihre Mittel: das kausale R ü c k schlußverfahren und die Analogie f ü h r e n nie zum Unbedingten, Absoluten, sondern n u r zu Maximalem. Der Gott der Metaphysik ist niemals der allmächtige, sondern n u r ein sehr mächtiger, nie der Schöpfer, sondern n u r der Demiurg (S. u . S. 41).

Man versteht die kritische Philosophie falsch, wenn man glaubt, sie wolle der Spekulation oder Metaphysik jegliches Recht bestreiten. Sie zeigt nur, daß es sich dabei nicht u m wirkliche Erkenntnis handeln könne. Metaphysik hat ihren Ursprung in einem ästhetischen Bedürfnis: i m Bedürfnis nach einer zusammenhängenden Weltanschauung, nach einer vollendeten gedanklichen Architektonik. Sie ist wirklich das Produkt des ßioQ StojQerixoq, der nicht umsonst das aristotelische Ideal ist. Die kritische Philosophie aber endet nicht mit diesem harmonischbefriedigenden Abschluß, sondern mit der höchst unbefriedigenden, tief beunruhigenden Erkenntnisverlegenheit, mit der offenen Frage. Nicht, wie man das oft auslegt, mit Skepsis oder Agnostizismus. Sie weiß zu viel v o m absoluten Logos, u m Skepsis zu sein. Aber sie ist sich zugleich bewußt, zu wenig von ihm zu wissen, u m »Theologie« werden zu können. Der wirkliche Logos müßte der sein, in dem auch das Irrational Gegebene als in seinem Grund erkannt werden könnte. Dieser Grund aber ist unserem Erkennen unerreichbar. Das Letzte, was wir erkennen, ist die Begrenztheit unseres Erkennens. D a s A b s o l u t e ist für unser Erkennen nicht mehr — auch nicht weniger! —• als ein notwendiger G r e n z b e g r i f f . Die Besinnung über die Erkenntnis stellt uns also vor die F r a g e nach dem Absoluten, ohne uns darauf Antwort geben zu können. Es ist auffallend, wie wenig m a n in der Diskussion über die Stellung der kritischen Philosophie zum Problem der Metaphysik K a n t s »Kritik der Urteilskraft« berücksichtigt f i n d e t . Es würde sich sonst zeigen, d a ß weder der Naturbegriff K a n t s so einseitig kausal — dem teleologischen abgeneigt — noch sein Verständnis f ü r die göttlichen Zweckspuren in der Geschichte so gering war, wie m a n dies üblicherweise darstellt. K a n t v e r k e n n t nicht die W a h r h e i t , die im aristotelischen Gedanken der Entelechie steckt, j a er zollt sogar in der K r i t i k der reinen V e r n u n f t dem teleologischen Gottes-

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beweis hohe Anerkennung. Aber was er allerdings nicht tut, ist ebenso bemerkenswert: er traut sich nicht zu, darauf ein solides metaphysisches Erkenntnisgebäude zu errichten. Er weiß auch, daß diese Negation nicht nur negativ ist: sie soll zugleich dem Glauben Platz schaffen. Ob das, was K a n t so nennt, wirklich Glaube ist, ist eine andere Frage, aber jedenfalls stimmt er in dieser nur sehr beschränkten Wertschätzung der theologia naturalis mit den Reformatoren zusammen, die zwar eine Erkenntnis Gottes aus der Natur nicht geleugnet haben, aber doch alles Gewicht darauf legten, daß solche von der Offenbarung unabhängige E r k e n n t n i s gänzlich unsicher und ungenügend sei. Mit dem alttestamentlichen Schöpfungsglauben sollte diese aristotelische Metaphysik unverworren gelassen werden, da es sich ja eben dort um Glauben und hier um rein theoretische Erkenntnis handelt. Über das jetzt wohl über Gebühr geschätzte opus postumum Kants siehe u. S. 33.

b) D a s

sittliche

P r o b l e m , die F r a g e Wahrheit.

nach

der

wirklichen

Das theoretische E r k e n n e n ist n i c h t das einzig mögliche Verhältnis zur Wirklichkeit. Alle Theorie ist »Anschauung«, wir sind als »theoretische« Menschen im »Theater« als »Zuschauer«. E s k ö n n t e j a wohl sein, d a ß die Wirklichkeit, die sich d e m Zuschauer erschließt, gar n i c h t die w a h r e sein k a n n , d a ß also Z u s c h a u e n (Theorie) u n d w a h r e Wirklichkeit sich ausschließen. Die Wissenschaft ist n i c h t alles. Sie ist ein Teil des L e b e n s ; der Mensch ist m e h r als seine W i s s e n s c h a f t . D e n n er ist n i c h t bloß als Zuschauer, sondern zugleich h a n d e l n d a n der Wirklichkeit beteiligt. D a s wissenschaftliche T u n ist n u r ein Teil seines T u n s ; der wissenschaftlichen F r a g e ü b e r g e o r d n e t ist also die F r a g e n a c h d e m T u n ü b e r h a u p t , die p r a k t i s c h e . Die F r a g e n a c h d e m Sinn der Wissens c h a f t ist n u r ein Teil der größeren F r a g e n a c h d e m S i n n d e s L e b e n s ü b e r h a u p t . W i r l e b e n ; a b e r die F r a g e ist, ob das, was wir u n m i t t e l b a r , v o n selbst leben, das w a h r e Leben sei. Die V e r n u n f t v e r n e i n t diese F r a g e . Mensch wird m a n erst d a d u r c h , d a ß m a n aus der u n m i t t e l b a r e n Gegebenheit des n a t ü r l i c h e n Lebens (dessen, wozu m a n geboren ist) h e r a u s t r i t t u n d n a c h d e m w a h r e n Leben f r a g t , das n i c h t gegeben ist, n a c h d e m w a h r h a f t sinnvollen, g u t e n Leben. Die Besinnung w e n d e t sich d a m i t v o n der o b j e k t i v e n W e l t weg, sie wird zur B e s i n n u n g ü b e r das h a n d e l n d e I c h . W o d u r c h werde ich der w a h r e Mensch ? I n dieser F r a g e liegt schon eine vorläufige A n t w o r t : d a ß das w a h r e I c h kein gegebenes, sondern ein a u f g e g e b e n e s sei. E s wird erst d u r c h S e l b s t b e s t i m m u n g . E s wird erst d u r c h die Beziehung auf das w a h r e I c h . W i e d a s w a h r e I c h w i r k l i c h w e r d e , das ist die ethische F r a g e . I d e e h a t hier einen a n d e r e n , gewichtigeren Sinn als im Theoretischen. I d e e ist hier n i c h t m e h r » A n s c h a u « , sondern A n s p r u c h . Ich b i n n i c h t m e h r Zuschauer, der die O r d n u n g der W e l t a n s c h a u e n m a g oder n i c h t , d e m sie also bloß hypothetisches Gesetz i s t ; sondern ich bin j e t z t Beteiligter, der v o r E n t s c h e i d u n g gestellt wird. Das h a n d e l n d e I c h d u r c h I d e e b e s t i m m e n lassen h e i ß t : gehorchen. Die sittliche Idee ist I m p e r a t i v .

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Aber welches ist n u n diese Idee ? Zunächst nichts anderes als gerade dies: die Selbstbestimmung. Durch dieses scheinbar Inhaltsleere wird aus der Gegebenheit homo, aus dem Naturwesen Mensch, der humanus. Der scheinbar inhaltsleere Gedanke der gesollten Selbstbestimmung ist in Wahrheit unendlich inhaltsreich: es ist der Gedanke der Freiheit u n d zugleich der Gedanke der V e r a n t w o r t l i c h k e i t . Dadurch denke ich nicht bloß meine, sondern die Idee des Menschen ü b e r h a u p t . Mit m e i n e m »Du sollst« ist mir zugleich das jedes Menschen gegeben. D a ß dieses Sollen ein rein formales ist, ein Wie u n d nicht ein Was, ist kein Tadel, sondern gerade die W ü r d e des Ethischen; es soll am Wie u n d nicht am Was, an der Gesinnung nicht am materialen Erfolg orientiert sein. Und n u n scheint sich von hier aus auch das Problem der wahren Wirklichkeit lösen zu lassen. Sollte nicht hinter dieser Idee des Sollens die wahre Wirklichkeit stecken ? Es enthält j a in sich nicht n u r den Grund des Sollens, sondern auch den Sinngrund der Wissenschaft. I m Guten wurzelt auch das Wahre. Das Gute ist, wie Piaton sagt, die Königin der Ideen. Sie verbürgt eine höhere Wirklichkeit; sie stellt mich durch das Sollen hinein in den mundus intelligibilis, ins Reich der Zwecke. Dieses Reich der Zwecke aber ist Einheit, »Reich « n u r durch einen konstituierenden Willen, der nicht a u s mir, sondern ü b e r mir ist. Es ist der göttliche Wille, der mich im Sollgesetz anspricht u n d mich dadurch erst zum Menschen m a c h t . H a b e n wir also hier nicht mit der Lösung des sittlichen zugleich die Lösung des Weltproblems ? Wissen wir j a doch n u n , daß jener Grund von allem, jener Logos, jene Idee der Ideen der göttlich gute Wille ist. An diesem P u n k t geschieht es, daß der kritische Idealismus überschwänglich, spekulativ wird. E s ist notwendig, zu zeigen, d a ß auch hier das Resultat strenger Besinnung n u r die »Aporie« sein k a n n . Erstens. Trotz allem, was die kritisch idealistische E t h i k dem Vorwurf, sie sei lediglich f o r m a l , mit Recht entgegenhält — daß jede philosophische, materiale E t h i k den Menschen an ein Was v e r h a f t e t u n d ihn damit aus einem Selbstzweck zu einem Mittel degradiert — so bleibt es doch eine Mißlichkeit, d a ß diese E t h i k nicht anzugeben vermag, w a s denn der Mensch eigentlich t u n soll. W e n n auch wahr ist, daß jeder philosophische Versuch, diese Frage zu beantworten, u n t e r den kritizistischen Gesichtsp u n k t hinunterfällt, so ist damit nicht mehr gesagt, als daß die Schwierigkeit offenbar philosophisch gar nicht zu lösen ist. Es ist nicht zu leugnen, daß auch ein K a n t , u m zu einem Was des Handelns zu kommen, bei dem von ihm verworfenen Eudämonismus Anleihen machen m u ß . Seine E t h i k beschreibt richtig die F o r m des guten Willens, aber sie vermag nicht aus sich selbst ohne Inkonsequenz zum konkreten Handeln zu f ü h r e n . I h r Gesetz ist allgemein, ihr Ich ist allgemein, ohne Beziehung zu einem Bestimmten, zu einem vorzuziehenden oder abzuweisenden Inhalt 1 ). *) Über materiale Wertethik s. u. S. 41 f.

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Zweitens. Die kritische E t h i k beschreibt wohl die F o r m des guten Willens. Sie kennt seine Idee. Aber wie steht es mit seiner W i r k l i c h k e i t ? Ist die Idee des guten Willens irgendwo wirklich ? Diese Frage h a t von den kritischen Philosophen n u r K a n t ernstlich gestellt. Sie f ü h r t ihn zu einer merkwürdig zwiespältigen Antwort, vielmehr zu zwei Antworten. Das eine Mal f ü h r t sie zur Unterscheidung des empirischen Menschen, der weltgebunden, unfrei, kausal determiniert ist v o m intelligiblen Willen, der vollkommen frei, ja mit der Idee des Guten identisch ist. Wo aber bleibt der Mensch, der das Gute zwar sollte u n d als gesollt erkennt, aber nicht t u t , der wirkliche Mensch ? Darauf gibt K a n t in einer zweiten Gedankenreihe Antwort, in seiner Idee vom radikalen Bösen. E r anerkennt die Tatsächlichkeit dieses unheimlichen Phänomens, den Widerspruch des Willens gegen das Gesetz. D a s B ö s e ist nicht bloß das Nichtvorhandensein des Guten, nicht Schwachheit oder Sinnlichkeit, sondern es ist ein Positives, der Widerspruch des Willens gegen das Gesetz. Diese beiden Antworten stehen miteinander so sehr im Widerspruch, daß die Philosophen gemeinhin die zweite als einen Fremdkörper i m Kantschen Denken — u n d in der Philosophie ü b e r h a u p t — keiner Beachtung gewürdigt haben. Und doch stammen sie beide aus dem Zentralgedanken der Kantschen Philosophie: seiner Lehre von der Autonomie. Gilt die sittliche Autonomie, so ist das Gesetz unser eigenes, also ist das tiefste Ich identisch mit dem Gesetz; es selbst ist der Gesetzgeber, das intelligible Ich. Anderseits: gilt die Autonomie, so ist f ü r die Nichtübereinstimmung mit dem Gesetz nichts anderes verantwortlich zu machen, als der ccörog, das tiefste Ich, das Yernunftich. Denn nur die V e r n u n f t k a n n verantwortlich handeln. Das Böse k a n n n u r aus dem vernünftigen Ich s t a m m e n . Da aber dieses Böse kein akzident e l l e s ist, sondern eine Bestimmtheit des ganzen Willens — da der Wille ein unteilbarer ist —, so ist auch der aitrog, das verantwortliche Ich als Ganzes, des Bösen schuldig, u n d zwar so vom Bösen b e h a f t e t , daß es gar nicht anders k a n n als in allem Wollen auch Böses wollen. Das tiefste Ich ist also im Widerspruch mit dem Gesetz. D i e e i n e T h e o r i e f ü h r t zur A u f l ö s u n g des Bösen, die a n d e r e zur A u f l ö s u n g der A u t o n o m i e . Eine Auflösung dieses Widerspruchs aber gibt es nicht. Dieser Widerspruch ist — da beide Gedanken Lebenswirklichkeiten des Ich ausdrücken — nicht bloß Denkverlegenheit, sondern Lebensnot, j a die tiefste Lebensnot, die Zerreißung des Ich in seinem Kern. Drittens. E s ist endlich zu fragen, mit welchem Recht hier die Idee mit der wahren Wirklichkeit gleichgesetzt werde. Die Antwort m u ß l a u t e n : diese Gleichsetzung ist nicht weniger überschwänglich als diejenige im Theoretischen. Die sittliche Idee des Guten ist ebensowenig Gott, als die theoretische Idee des Wahren Gott ist. Auch das sittliche Denken ist »Monolog«, auch hier k o m m t es nicht zu einem wirklichen Gespräch, auch hier fehlt die wirkliche irrationale Selbstbezeugung von H a n d b . d. P h i l . I I .

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der a n d e r e n Seite. Die I d e e des G u t e n ist g e n a u so »leer« — d a r u m n i c h t e t w a höchster B e d e u t u n g ermangeld — wie die theoretische Logosidee, weil a u c h sie n u r d u r c h v e r n u n f t i m m a n e n t e B e s i n n u n g erreicht wird. Die I d e n t i f i k a t i o n der sittlichen I d e e m i t G o t t ist spekulativer Idealism u s oder, wie m a n das v o n F i c h t e ö f t e r s gesagt, »ethische Mystik«. Die Gottesidee der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t ist n i c h t G o t t , sondern eben n u r Gottesidee. Geradezu ergreifend tritt einem das Ringen K a n t s mit dieser Schwierigkeit in seinem opus postumum entgegen. Nirgends zeigt sich so deutlich wie hier der Unterschied zwischen dem G l a u b e n K a n t s und seiner Philosophie, zugleich aber die Zähigkeit seines Denkwiderstandes gegen einen anderen als den Vernunftglauben — der eben kein Glaube ist. Der Denker K a n t weiß, daB die Gottesidee, auch die sittliche, keine Realität hat. Anderseits ist ihm doch die transsubjektive Realität Gottes unbedingt gewiß. So schwankt er vom einen zum anderen, und dieses Schwanken, seine Zwiespältigkeit in dieser Entscheidungsfrage, ist gerade das Auszeichnende dieses Nachlasses. „Die bloße Idee von ihm ist zugleich Beweis seiner Existenz". Anderseits: „daß ein solches Wesen existiere, kann nicht geleugnet werden, aber nicht behauptet werden, daß es außer den vernünftig denkenden Menschen existiere".

Dieser d r i t t e G e d a n k e n g a n g m u ß n u n m i t d e m zweiten z u s a m m e n gehalten w e r d e n : E n t w e d e r ist das sittliche Gesetz Gottes Gesetz: d a n n sind wir n i c h t a u t o n o m , n i c h t Gesetzgeher, a u c h n i c h t Mitgesetzgeber; oder a b e r das sittliche Gesetz ist wirklich unser selbstgegebenes Gesetz, das intelligible I c h ist unser tiefstes I c h : d a n n wissen wir weder i m E r n s t v o n einem Bösen, n o c h v o n G o t t . So ist also das P r o b l e m des Bösen der kritische P u n k t i m kritischen D e n k e n , der W e n d e p u n k t zwischen vern u n f t i m m a n e n t e r Selbstbesinnung u n d etwas ganz A n d e r e m 1 ) . Gibt es Schuld, gibt es wirklich das r a d i k a l e Böse, d a n n s t e h t u n s e r e m Willen G o t t m i t seinem Willen gegenüber, j a zu i h m i m Gegensatz. I s t a b e r G o t t n i c h t dasselbe wie der G r u n d unseres i m m a n e n t e n sittlichen Bewußtseins, so k ö n n e n wir v o n i h m a u c h n i c h t d u r c h Selbstbesinnung, d u r c h bloße V e r n u n f t wissen. Der persönliche, wirkliche G o t t m ü ß t e persönlich, m i t der k o n k r e t e n , k o n t i n g e n t e n Tatsächlichkeit des W i r k lichen als wirklich ansprechender, also in unbegreiflicher O f f e n b a r u n g u n s begegnen, d a m i t wir i h n als wirklichen, persönlichen k e n n e n k ö n n t e n . D a s wird besonders deutlich, w e n n das Böse als Schuld qualifiziert wird. Hier erst ist die »Aporie« zur i n n e r s t e n E x i s t e n z n o t geworden, aus der es eine i m m a n e n t e Lösung, d. h . eine Lösung v o n der Idee, v o m verinnerlichenden D e n k e n , aus n i c h t geben k a n n . D e n n die Lösung k ö n n t e hier n u r V e r g e b u n g heißen. V e r g e b u n g aber aus der I d e e Gottes erschlossen, Vergebung als e t w a s m i t der I d e e Gottes n o t w e n d i g V e r b u n d e n e s , ist nichts anderes als j e n e Voltairesche B l a s p h e m i e : dieu pardonnera, c'est son métier. D e r Schuld wird d a m i t j e d e r E r n s t g e n o m m e n . K a n n a b e r Vergebung n i c h t m i t N o t w e n d i g k e i t gedacht w e r d e n — n u r das N o t ') Vgl. dazu die Parallele, die T i l l i c h in seiner Schrift »Mystik und Schuldbewußtsein« (1912), für die kritische Wende in S c h e l l i n g s Philosophie aufweist.

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wendige ist im Denken gewiß —, so müßte sie, soll es sie überhaupt geben, wirklich g e g e b e n , kontingent-irrational mitgeteilt, d. h. g e o f f e n b a r t werden. Darum ist es dieser Punkt, wo es sich entscheidet: Glaube oder Selbstbesinnung, G o t t e s o f f e n b a r u n g oder Gottesidee. Es ist das Problem der Schuld und Vergebung, das im Mittelpunkt der evangelischen Verkündigung steht. Immanente Besinnung führt bis an diesen Punkt hin, aber sie muß auch immer wieder, sich selbst überlassen, davon wegführen. Im Ernst kann vom Bösen, von Schuld als einer Wirklichkeit, nur die Rede sein auf dem Boden der Offenbarung. c) Die O f f e n b a r u n g der G o t t e s g e r e c h t i g k e i t u n d der Glaube. Die Vernunft ist in der Lage, den Umkreis des Denkbaren abzustecken. Aber daß 6ie damit nicht die Wirklichkeit in sich schließt, ist ihr durch die Erkenntnis des Irrationalen als Grenzbegriff gewiß. Was j e n e r Logos ist, der nicht bloß Idee ist, sondern die irrationale Gegebenheit in sich schließt, kann sie nicht wissen, und weiß, als kritische Vernunft, daß sie es nicht wissen kann. Darum weiß sie, daß Gott als wirklicher, persönlicher, als der »lebendige Gott«1) keine Denkmöglichkeit ist. Hinter der Behauptung einer wirklichen Gottesoffenbarung kann also, von der Vernunft aus geurteilt, ebensowohl der höchste Unsinn, leere »Schwärmerei« (Kant), als die höchste Wahrheit stehen. Die Vernunft hat das Wächteramt, wo immer Menschlichkeiten, Aberglaube, Phantasterei mit dem Anspruch der Offenbarung auftreten, sie als solche zu entlarven und zurückzuweisen. Das Urteil der Vernunft, sagt Luther, ist im Negativen zuverlässig; aber, fährt er fort: im Affirmativen ist sie trügerisch (nämlich in bezug auf theologische Aussagen). Sie kann nicht selbst aus jener Aporie, die als Schuld Lebensnot, Zerspaltung des Ichs in seinem Kern ist, einen Ausweg schaffen. Sie kann nur sagen, daß, wenn es einen Ausweg gäbe, dieser ein unbegreifliches, undenkbares Geschehen sein müßte, dessen Möglichkeit nicht einzusehen — wenn auch nicht zu leugnen — ist. Ja, sie kann noch mehr: sie kann sagen, diese Lösung würde dann allein geschehen, wenn jener Logos uns als konkrete Wirklichkeit begegnen würde. Aber sie kann sich darunter schlechterdings nichts denken. Offenbarung kann, wenn es das gibt, nicht denkend erkannt, sondern nur geglaubt werden. Und sie k a n n nur geglaubt werden, wenn es sie gl bt. Über dieses Hypothetische hinaus führt keine Besinnung; darüber hinaus führt nur die Entscheidung des Glaubens, die identisch ist mit dem Wunder der Offenbarung. Es kann darum auch nicht Sache der gegenwärtigen Erörterungen sein, das Faktum der Offenbarung zu bezeugen oder also die EntscheiEs ist kein Zufall, daß dieser biblische Ausdruck erst mit S c h e l l i n g s »Philosophie der Mythologe und Offenbarung« in der philosophischen Literatur auftaucht, dort wo das Fazit der vernunftimmanenten »Theologie«, der »negativen Philosophie«, gezogen wird. F 3*

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d u n g zu vollziehen. W a s hier g e t a n werden k a n n ist n u r dies: zu zeigen, d a ß n u r u n t e r der V o r a u s s e t z u n g der O f f e n b a r u n g u n d des Glaubens — u n d zwar d e r O f f e n b a r u n g u n d d e s Glaubens, die der I n h a l t der Bibel sind — v o n einer »Antwort« auf die »Frage«, v o n einer Lösung der E x i s t e n z n o t gesprochen w e r d e n k a n n , d . h . also n i c h t allgemein— aus d e m W e s e n der V e r n u n f t oder der Religion h e r a u s —, sondern auf G r u n d jenes F a k t u m s , dessen Sinn n u r in der E n t s c h e i d u n g des Glaubens als Begegnung Gottes selbst m i t u n s e r f a ß t w e r d e n k a n n . E s b e d e u t e t aber dasselbe, w e n n wir s a g e n : d a ß n u r so v o n G o t t gesprochen werden k ö n n e . I s t G o t t etwas anderes als Idee, ist er persönliche Geistwirklichk e i t , so k ö n n e n wir v o n i h m n u r persönlich, d u r c h wirkliche A n r e d e , die etwas anderes ist als der Monolog des selbstbesinnlichen D e n k e n s , wissen. I s t er ein Selbst, ein Ich, so m u ß er sich u n s als solches k u n d g e b e n , sollen wir ü b e r h a u p t v o n i h m als solchem wissen. E r m u ß u n s selbst »seinen N a m e n nennen«. D e n n der »Name«, d e n w i r i h m geben, ist j a n i c h t s e i n N a m e . W a s wir v o n G o t t d e n k e n , ist Unsriges. W e n n wir schon den Mitmenschen als wirklich n u r d a d u r c h realisieren k ö n n e n , d a ß er n i c h t n u r u n s ü b e r ihn d e n k e n l ä ß t , sondern sich selbst u n s mitteilt d u r c h Rede, wieviel m e h r sind wir auf w i r k l i c h e M i t t e i l u n g angewiesen, u m G o t t , der j a n i c h t M i t - G o t t , n i c h t Gattungsgenosse, sondern Alleingott ist, zu e r k e n n e n . Mit d e m G o t t , den m a n bloß d e n k t , gibt es kein Gespräch. D e n G o t t , den wir denken, e r k e n n e n wir n i c h t in seinem Selbstsein u n d Wirklichsein. A u c h der sittliche I m p e r a t i v K a n t s f ü h r t aus dieser I c h e i n s a m k e i t (Ebner) n i c h t h e r a u s . A u c h er vollzieht sich in der Stille des Selbstgesprächs. D a r u m ist jenes Sittliche kein w a h r h a f t persönliches Verhältnis. E s ist n i c h t , wie der N a m e v o r t ä u s c h t , ein wirklicher, a k t u o s e r I m p e r a t i v , sondern ein allgemeines Gesetz. E r b e g r ü n d e t kein persönliches Verhältnis, d e n n er ist a b s t r a k t : D r ü b e n das N e u t r u m Gesetz, h ü b e n das N e u t r u m M e n s c h - i m - a l l g e m e i n e n . Persönliches Verhältnis gibt es n u r i m persönlich Angesprochensein. Das Allgemeine der I d e e ist a b s t r a k t u n d unwirklich. D a s K o n k r e t e — das wir gewöhnlich »Wirklichkeit« n e n n e n — ist als solches geistlos u n d u n w a h r . W a h r e Wirklichkeit gibt es n u r in der O f f e n b a r u n g : Das Absolute als persönliche Wirklichkeit, der »Logos i m Fleisch«. Daß der Kantsche Begriff der Persönlichkeit nicht wahrhaft persönlich ist — trotzdem er dem wahrhaft persönlichen von allen philosophischen am nächsten steht, ungleich näher als etwa der des romantischen Individualismus — zeigt sich vor allem darin, daß er von Menschen, von der Persönlichkeit im rein idealen Sinne, ganz abgesehen von der Sünde spricht, auch da, wo es um das ethische Handeln geht. Er setzt also, christlich gesprochen, den nichtgefallenen Menschen an die Stelle des gefallenen, die Idee des Menschen an die Stelle seiner Wirklichkeit, nicht bloß um damit den wirklichen Menschen zu normieren und zu richten, sondern vor allem, um daraus die Möglichkeit der Selbsterlösung zu gewinnen, wie dies vor allem in der „Religion innerhalb" ausgeführt ist. Die Idee des Menschen ist noch immer der tiefste innerste Kern des wirklichen Menschen und darum hat das Vorhalten dieser Idee die Kraft, den Menschen

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wirklich gut zu machen. Auf diesem Persönlichkeitsbegriff ist sein: du kannst, denn du sollst, begründet, und dieses bezeichnet den Punkt höchsten Gegensatzes zum christlichen Glauben.

Aber n i c h t n u r G o t t ist ohne die O f f e n b a r u n g unwirklich f ü r uns, sondern a u c h wir selbst. Solange wir uns n u r d u r c h Selbstbesinnung k e n n e n , k e n n e n wir uns n i c h t wirklich. E n t w e d e r beurteilen wir u n s zynisch-realistisch oder illusionär-idealistisch. A u c h i m e r n s t e s t e n sittlichen B e w u ß t s e i n — abgesehen v o m Glauben — sehen wir u n s in der bengalischen B e l e u c h t u n g der A u t o n o m i e , als Freie, die das G u t e k ö n n e n , weil sie es sollen. E s wird u n s da eine W ü r d e zugesprochen, die wir l ä n g s t verloren h a b e n . I m s i t t l i c h e n G e s e t z n e h m e n w i r u n s n i c h t w i r k l i c h w a h r , w e i l w i r u n s sub specie ideae s e h e n , a l l g e m e i n - i d e e l l , n i c h t k o n k r e t - w i r k l i c h . Merken wir etwas v o m radikalen Bösen — dieser G e d a n k e K a n t s ist das M a x i m u m der Selbsterkenntnis i n n e r h a l b der I m m a n e n z , u n d w u r d e d a r u m v o n den meisten Zeitgenossen u n d Verehrern K a n t s a b g e l e h n t — so m u ß doch sofort dieser G e d a n k e wieder zurückgewiesen werden, weil er die A u t o n o m i e , das P r i n z i p der I m m a n e n z , der selbstbesinnlichen E r k e n n t n i s , zerstört. Sich als bös e r k e n n e n w ü r d e heißen, sich i m i n n e r s t e n K e r n der Persönlichkeit gespalten sehen, u n d das k ö n n e n wir aus u n s selbst n i c h t . E s fehlt u n s d a z u der S t a n d o r t . Sind wir Sünder, so k ö n n e n wir d a v o n n i c h t aus u n s selbst wissen. D e n n S ü n d e wäre j a Losreißung v o n der W a h r h e i t . U m diesen R i ß , diesen Fall zu sehen, m ü ß t e n wir noch in der W a h r h e i t sein. W a s Verlust der U n s c h u l d ist, k a n n der, der sie verloren h a t , n i c h t m e h r begreifen. U m zu wissen, w o v o n wir gefallen sind, m ü ß t e n wir unseren ursprünglichen »Ort« n o c h sehen oder wieder sehen. E r k e n n t n i s der S ü n d e fällt d a r u m — das ist das Zeugnis des Glaubens — z u s a m m e n m i t dem W u n d e r der W i e d e r e r s t a t t u n g des Verlorenen, m i t der »Rechtf e r t i g u n g des Sünders«. E r k e n n t n i s der S ü n d e gibt es n u r »vor Gott« 1 ). W i r e r k e n n e n u n s also n u r d o r t w i r k l i c h , wo w i r G o t t w i r k l i c h e r k e n n e n . Darum weist das christliche Glaubenszeugnis auf e i n e n P u n k t hin als den O r t , wo der wirkliche G o t t d e m wirklichen Menschen begegnet, wo der Mensch sich wirklich wird, weil G o t t i h m wirklich w i r d , u n d wo das geschieht, weil er in der Begegnung Gottes m i t i h m das Verlorene wieder b e k o m m t : das K r e u z des Christus. J e n e s Unbegreifliche ist der T r e f f p u n k t der U n begreiflichkeit des wirklichen Menschen — die O f f e n b a r u n g der S ü n d e — u n d der Unbegreiflichkeit Gottes — das Geheimnis der Versöhnung. D o r t , wo unsere u n w a h r e Wirklichkeit e n t l a r v t wird, wird uns die w a h r e Wirklichkeit e n t h ü l l t u n d u n s als wirkliche W a h r h e i t , als »Gerechtigkeit« geschenkt. D o r t , wo »Idee« u n d »Erfahrung« a m weitesten a u s e i n a n d e r sind, v i e l m e h r : einander widersprechen als göttlicher S p r u c h u n d menschliche Wirklichkeit, dort ist a u c h der ewige Logos als Wirklichkeit Vgl. dazu K i e r k e g a a r d , Die Krankheit zum Tode, S. 73—129.

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da im Geheimnis der Offenbarung, das zugleich, das Geheimnis der Versöhnung ist. Dort ist die Wahrheit als Wirklichkeit gegeben. Aber was heißt hier »geben«? Wo n u r gegeben wird, da sind wir bloße N a t u r , rein passiv einem Eindruck hingegeben, Gefäß, Masse. Geistiges k a n n uns nicht wirklich »gegeben« werden. D a r u m bezeichnet schon der platonische Sokrates sich, den Lehrer, als H e b a m m e der E r kenntnis. Wahres E r k e n n e n ist S e l b s t t ä t i g k e i t . Unser eigenes Urteilen u n d Entscheiden ist aufgeboten, das »Gegebene« ist dazu bloß Anlaß, die Mitteilung ist d a r u m eine i n d i r e k t e . J e indirekter, desto geistiger. Aber der Offenbarung gegenüber sind wir weder n a t u r h a f t passiv, noch geistig aktiv. Denn Offenbarung ist nicht n a t u r h a f t e Gegebenheit, sondern Logos, Sinn, W o r t . Aber d i e s e r Sinn ist wirklich g e g e b e n ; wir sind nicht aufgerufen zum Selberbeurteilen, zum verifizierenden P r ü f e n an i m m a n e n t e n logischen oder ethischen Normen. Wir können nicht „ J e s u s als Gott beurteilen". W o r a n sollten wir prüfen, was Gottes Geheimnis ist ? Wie sollten wir selber den Maßstab der P r ü f u n g in uns haben, ob Gott uns vergibt, ob er uns unbegreiflicherweise sein Leben schenken will ? Diesen Logos, dieses W o r t haben wir als sein »Wohlgefallen«, sein Machtwort schlechterdings hinzunehmen — oder aber es abzulehnen. G ö t t l i c h e O f f e n b a r u n g k ö n n e n w i r w e d e r e r f a h r e n n o c h v e r s t e h e n , s o n d e r n — e b e n n u r g l a u b e n . Glaube ist, im Unterschied zur n a t u r h a f t e n Rezeptivität u n d zur ideellen Spont a n e i t ä t die F o r m der persönlichen Existenzempfängnis. Diese aber ist zugleich persönlichste Entscheidung. Glaube ist das Schlichte, d a ß m a n zur göttlichen Anrede s a g t : ich glaube u n d gehorche; u n d das Unbegreiflich-Wunderbare, d a ß m a n dies n u r d a r u m sagen k a n n , weil G o t t es selbst in uns als die Wahrheit bezeugt u n d mit seiner A u t o r i t ä t verb ü r g t ; d a ß er selbst das J a in uns sagt. d) D i e O f f e n b a r u n g u n d d i e P r o b l e m e d e r

Vernunft.

Unlösbar ist auf dem Boden der V e r n u n f t , der Philosophie, der alte Gegensatz von Idealismus u n d Realismus. Denn der Idealismus, der zwar die überlegene Wahrheit h a t , weil er von der Möglichkeit des E r kennens ü b e r h a u p t ausgeht, scheitert immer a n der Konkretheit des tatsächlich Gegebenen, die sich nie begrifflich •— d. h. in Allgemeines — auflösen l ä ß t . Der Realismus aber, der immer wieder daraus die K r a f t seines Widerstandes gegen den ihm überlegenen Gegner gewinnt, scheit e r t auch immer wieder an der unmöglichen Aufgabe, ein von der Einheit des Denkens losgelöstes An-sich zu finden, wo doch »finden« immer die A u f n a h m e in die Einheit des Bewußtseins wäre. E r ist sich nicht bewußt, wieviel »Idealismus« schon im bloßen Erkenntnissuchen steckt. Der kritische Idealismus endlich k a n n wohl diesen Dualismus des Erkennens aufweisen, aber nicht überwinden. E r k a n n wohl zeigen, daß jede sich als definitiv gebende Lösung des Erkenntnisproblems erschlichen i s t ;

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aber er selbst k a n n gerade d a r u m keine bieten. Wie, wenn die Lösung d a r u m unmöglich wäre, weil die Frage falsch gestellt, vielmehr weil die A n t w o r t beidemal in einer falschen Richtung gesucht würde ? Idealismus u n d Realismus suchen beide eine theoretische, objektive Lösung des Erkenntnisproblems, der Frage nach der wahren Wirklichkeit. Wie, wenn die w a h r e W i r k l i c h k e i t ü b e r h a u p t k e i n e in diesem Sinn » o b j e k t i v e « wäre, darum, weil sie eine persönliche i s t ? E s liegt j a schon v o m gemeinmenschlichen Bewußtsein u n d Verhalten her die Frage nahe, ob nicht die künstliche Distanzierung von der Welt, die f ü r eine »objektiv-theoretische« Erkenntnis Voraussetzung ist, den offenkundigen Gewinn, den sie einbringt, m i t einem weniger offenkundigen, aber d a f ü r desto tieferreichenden Verlust bezahlt. E s b r a u c h t j a nicht bloß Mangel an Abstraktionsvermögen oder wissenschaftlichen Qualit ä t e n daran schuld zu sein, daß ganze große Völker u n d sogar Kulturkreise die wissenschaftlich-philosophische Frage, dieses rationale W a r u m ü b e r h a u p t nicht kennen, u n d daß sie, auch wo sie daraufgestoßen werden, sie wie aus einem I n s t i n k t f ü r Gefahr ablehnen. Die realistische wie die idealistische, die wissenschaftliche wie die philosophische R a t i o b r a u c h t nicht bloß ein Plus gegenüber einem nicht rationalen Verhalten zur Welt u n d zum Leben zu sein, so wenig auch auf die Dauer die Abschließung vor der Beunruhigung durch die grundstürzende rationale Frage möglich oder lebenfördernd sein wird. K ö n n t e es nicht sein, d a ß die Vernunftemanzipation ü b e r h a u p t (an der jede Philosophie u n d Wissenschaft beteiligt ist) eine tragische oder, v o m Glauben aus beurteilt: eine sündige Notwendigkeit wäre, so daß also in dieser unverkennbaren geistigen Freiheitsbewegung zugleich etwas Unwahres u n d Unrechtes u n d d a r u m Unheilvolles sich auswirkte, aber so, daß auch die Nichtbeteiligung a n dieser Bewegung — sofern sie ü b e r h a u p t möglich ist — nicht etwa Vermeidung der Unwahrheit, des Unrechts u n d Unheils bedeutete ? Das ist in der T a t die einzig mögliche Antwort v o m christlichen Glauben aus. Das ganze Vernunftstreben ü b e r h a u p t ist nicht n u r geistige Befreiung, sondern z u g l e i c h V e r t i e f u n g e i n e r d e m g e s c h i c h t l i c h e n M e n s c h e n w e s e n i n n e w o h n e n d e n V e r k e h r t h e i t . Es ist nicht bloß Emanzipation von d u m p f e r Naturgebundenheit, sondern zugleich Emanzipation von Gott. Der Gegensatz von Idealismus u n d Rationalismus ist darin begründet — u n d f ü r uns u n a u f h e b b a r gesetzt —, d a ß wir, rational, entweder Dinge a n sich oder Idee a n sich suchen müssen, s t a t t Ding u n d Idee als Bezeugung der einen persönlichen Geistwirklichkeit Gottes zu verstehen. Diese Einheit ist unserem Denken unzugänglich. D a r u m ist sie von keiner Philosophie zu erreichen. Denn diese Einheit ist e i n e p e r s ö n l i c h e u n d k a n n d a r u m n u r durch persönlich konkrete Beziehung, d. h. durch Offenbarung u n d Glaube gegeben werden. E s k a n n n u r auf Grund des Glaubens — u n d das heißt nur

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auf Grund persönlicher Offenbarung Gottes — ausgesprochen werden, d a ß Gott der Schöpfer der Welt sei, d a ß also wirklich „die Welt als Wille und Vorstellung" — nämlich als Gottes Wille u n d Vorstellung zu denken sei u n d d a ß darin der Gegensatz von Idealismus u n d Realismus wegfalle. Die wahre Wirklichkeit ist Gott. Aber nicht als theoretische Lösung des Erkenntnisproblems ist das gemeint. Das wäre das aristotelisch-thomistische Mißverständnis. Theoretisch bleibt das Erkenntnisproblem nach wie vor unlösbar, u n d wo eine Philosophie sich, innerhalb ihrer gedanklichen Kompetenz, des Schöpfungsgedankens bemächtigt, da ist es immer zu beider Schaden. Schöpf u n g u n d Gott der Schöpfer sind keine Theoreme, keine Philosophumena, so wenig als Mythologumena. Der strenge Denker weiß, daß solange ü b e r h a u p t g e d a c h t wird, von Schöpfung u n d Schöpfer nicht die Rede sein kann. Schöpfung u n d persönlicher Gott bedeuten das Ende des Denkens. Auf dem Denkwege zu ihnen zu k o m m e n ist eine contradictio in adjecto. Denn Schöpfung u n d Persönlichkeit bedeuten das Aufhören aller Denkkontinuität. Schöpfung ist das radikale Denkärgernis der creatio ex nihilo; „so er spricht so geschieht's" u r s a c h l o s , g r u n d l o s . Der Realismus begreift nie, wie Realität aus Geist oder Wille werden soll; der Idealismus begreift nie, wie es eine vom Geist aus sich herausgestellte »wirkliche« Wirklichkeit geben soll. Der eine kennt nur die Ursache, das Prinzip des Erklärens, der andere k e n n t n u r den Grund, das Prinzip des Verstehens. Eine Kategorie aber, die Erklären u n d Verstehen zur Einheit zusammenfügte, haben wir nicht. Weder unser idealistisches noch unser realistisches Denken k a n n mit »Schöpfung aus nichts« das geringste anfangen. Schöpfung ist weder idealistisch noch realistisch zu begreifen. Denn der persönliche Wille Gottes, das W o r t Gottes als »Prinzip« aller Dinge, ist weder Ursache noch Grund, oder sowohl Ursache als Grund. Es ist jenes Zusammen des »Realen« u n d »Idealen«, von dem wir n u r ein Analogon k e n n e n : die menschliche Persönlichkeit. N u r daß diese analogia entis (Przywara) gerade im entscheidenden P u n k t zur D e u t u n g der göttlichen Wirklichkeit v e r s a g t : wir können nicht aus nichts schaffen. Der göttliche Geist, Gedanke, Wille als die einzig an sich seiende Wirklichkeit, Macht, die decreta Dei, als die einzigen »letzten Ursachen«, u n d anderseits die wirkliche Welt in ihrer außer dem Geist gesetzten Wirklichkeit als die Ausdrucksweise der göttlichen »Ideen«, das ist der Schöpfungsgedanke des Glaubens, den kein Mensch je einsichtig gedacht, sondern den »denken« immer zugleich aufhören zu denken heißt 1 ). Der bloße Logos ohne die göttlich-persönliche Wirklichkeit ist die abstrakte Idee, der Logos der Philosophen, der Sinngrund, von dem aus nie die ') Der Idealismus hat deshalb von jeher an die Stelle des Schöpfungsgedankens den pantheistischen oder »panentheistischen « Gedanken der ewigen Koexistenz oder der Emanation gesetzt.

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Wirklichkeit gefunden werden kann. Das bloß Gegebene, das Ding in seiner Selbständigkeit, der harte Widerstand, die Realität, die Dinglichkeit als solche, ist das, was übrigbleibt, wenn man von der Gottesschöpfung Gott wegdenkt, darum ein geistloses X , das deshalb v o m Geist gar nicht wirklich angetroffen werden kann. Das »Ding« des Materialisten — des extremsten Realisten — ist ebenso abstrakt, wie die Idee des Idealisten. Die S c h ö p f u n g , von der der Glaube spricht, ist etwas ganz anderes als die »Welt«, von der wir durch natürliche oder wissenschaftliche Erfahrung wissen. Und doch bezieht sich die Schöpfung (creatio) auf diese Welt. I m Glaubensgedanken der Schöpfung, wie er nur in der Christusoffenbarung der Schrift gegeben ist, ist die uns bekannte anschauliche, vorgefundene Welt erfaßt als die verhüllte, unkenntlich gemachte, aus ihrer Einheit mit dem Schöpfer losgerissene, und also die wahre Schöpfung als eine unbekannte, unanschauliche. Die bekannte W e l t ist dem Glauben nicht weniger P r o b l e m als der Philosophie und Wissenschaft, sondern mehr. Denn sie ist ihm existenzielles, persönliches, nicht bloß theoretisches Problem. Er hat es zu tun mit »falscher« Welt, die der Lüge der Sünde entspricht. Wie die wahre Schöpfung wäre, das wissen wir nicht, gerade wie wir nicht wissen, wie der wahre Mensch wäre. Sie im Glauben erkennen, heißt sie nur im Yerheißungswort der Offenbarung, also durchaus nicht anschaulich erkennen, wissen, daß sie das ganz Andere ist, das erst in der Wiederherstellung uns nach seiner Wahrheit erkennbar sein wird (vgl. besonders Luthers und Calvins Ausführungen über die imago Dei der ursprünglichen Menschennatur in ihren Kommentaren zu Gen. 1 und 3). D i e B i b e l , auch das Alte Testament, ist n i c h t r e a l i s t i s c h im Sinne des modernen oder überhaupt eines rationalen Realismus. Sie weiß von einer Wirklichkeit nur als einer Wirklichkeit Gottes, einer Welt, die, bildlich gesprochen, in allen Teilen offen ist für die göttlich persönliche Wirksamkeit, die »Gott in seiner Hand« h a t . Luther, der gelegentlich die Kreaturen als »Mummereien« Gottes bezeichnet, dürfte wohl darin dem biblischen Gedanken getreuen Ausdruck geben. Es ist ganz irrtümlich, wenn man glaubt, sich für einen Monismus auf den biblischen Schöpfungsglauben berufen zu können, während allerdings zugestandermaßen der biblische Erlösungsgedanke dualistisch sei. Die Welt der Schöpfung ist j a im Alten Testament deutlich genug von dieser jetzigen Wirklichkeit getrennt durch den Sündenfall und d a r u m wird, je deutlicher der Gedanke der Erlösung ausgesprochen wird, auch das Wort von einem »neuen Himmel« und einer »neuen Erde« laut. Die geistlose Selbständigkeit, die der moderne Realismus der Dinglichkeit u n d Naturgesetzlichkeit gibt, kennt die Bibel nicht. D a r u m ist aber auch die biblische Schöpfungslehre etwas ganz anderes als die der aristotelischen Metaphysik. Die aristotelische Lehre weiß weder vom persönlichen Gott noch von der creatio ex nihilo. Der aristotelische Gott ist die Weltvernunft, »Schöpfer« ist dort nicht eigentlich Schöpfer, sondern Demiurg, W e l t m a c h e r , Weltf o r m e r , und darum ist denn auch ihr Gottweltverhältnis der Prototyp aller deistischen Systeme. Das kann gar nicht anders sein, da die ganze aristotelische Metaphysik rein theoretisch orientiert ist; sie ist reinste Äußerung des ßios &etüQenxoi, Typus aller Welta n s c h a u u n g , darin gerade so echt griechisch, ein grandioses ästhetisches Gebilde. Sie ist ein dem anschauenden Denken wohlgefälliges Gebilde; darum gerade geht es

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hier nicht u m das, was in der Bibel Schöpfung heißt. Denn diese ist das D e n k ä r g e r n i s . Die aristotelische Gottweltlehre ist durchaus i m Interesse der Welterklärung ganz v o n der Welt aus gedacht. Gott ist eine plausible Hypothese zur E r k l ä r u n g jenes Zusammenseins von Stoff u n d F o r m , das f ü r Aristoteles den auffallendsten Zug der Weltbeschaffenheit bildet. U m die Bindung des Menschen an die unbedingte, alles beherrschende, souveräne Gottpersönlichkeit, u m den Gedanken, d a ß der Mensch wie die Welt nichts ist ohne Gott, geht es bei Aristoteles nicht i m geringsten. D a r u m ist die Verbindung des christlichen Glaubens m i t Aristoteles eine unnatürliche, die gerade d u r c h den Schein der Übereinstimmung den Wahrheitssinn gefährdet.

Weil der Glaube keine T h e o r i e über die Welt hat, sondern in seinem Weltverständnis ganz und gar e x i s t e n t i e l l gerichtet ist, gibt es für ihn nicht zwei Probleme: ein Weltproblem und ein Menschenproblem, oder ein theoretisches und ein praktisches. Es ist vielmehr das eine Wort Gottes, das auf die Erkenntnisfrage und auf die persönlich praktische Frage Antwort gibt. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die realistische Philosophie ganz besonders in der E t h i k versagt. Die einzig konsequente realistische Ethik ist der Epikuräismus. Jede andere Ethik — und das heißt jede Ethik, die etwas anderes ist als Klugheitslehre — muß beim Idealismus heimlich Anleihen machen, sei es — wie Aristoteles — durch die Vertauschung des empirischen Begriffes Mensch mit einem Idealbegriff, sei es durch die heute besonders gangbare Yertauschung der Sympathieinstinkte mit altruistischer Pflicht. Das ist auch ohne weiteres verständlich. Denn Ethik gibt es nur als Bewußtsein des Sollens, d. h. als Beziehung auf Nichtgegebenes, auf Aufgegebenes, auf Idee-Norm. Darum ist es vor allem die Ethik — viel mehr als die Erkenntnisreflexion —, aus der immer wieder der philosophische Idealismus erwächst. Die realistische E t h i k k a n n entweder v o m Bios, von der Psyche oder von der K u l t u r ausgehen. Sie m a c h t d a m i t den Menschen z u m Mittel f ü r bestimmte Zwecke. Nicht anders verhält es sich m i t jeder sog. materialen W e r t e t h i k , von der i n der letzten Zeit so viel die R e d e war. W a s der S c h e l e r sehen und der a n Scheler angelehnten ( H a r t m a n n ) E t h i k das Bestechende gibt, das ist der Schein einer apriorischen Materialität. Dieser Schein entsteht dadurch, d a ß von den wirklich materialen W e r t e n (die nicht apriorisch, sondern psychologisch-biologisch sind) durch den Mittelbegriff der Persönlichkeitswerte ein Übergang zum Apriorischen vorgetäuscht wird. I n Wirklichkeit sind diese Persönlichkeitswerte nichts anders als der in seine Momente zerlegte Begriff der Persönlichkeit. Der Persönlichkeitsbegriff S c h e l e T S ist allerdings reicher, »persönlicher« als der K a n t s ; aber er ist i m selben Grade weniger philosophisch. E r ist — wie die ganze (damalige!) Philosophie S c h e l e r s — eine Mischung aus Glaubens- u n d philosophischer Erkenntnis. Die heute übliche Bevorzugung des Begriffes W e r t gegenüber N o r m oder Gesetz h a t ihren Grund im Biologismus u n d Ästhetizismus der Gegenwart. D a ß dem christlichen D e n k e n eine strenge Gesetzesethik, wie die K a n t s c h e , näher s t e h t als jede ästhetisch erweichte W e r t e t h i k , sollte sich von selbst verstehen.

Und doch muß, wie wir sahen, auch die strengste idealistische Ethik, die den Wert der Person, der Freiheit und des unbedingten Gesetzes entdeckt hat, sich v o m Realismus daran erinnern lassen, daß sie immer nur von der Form des guten Willens handle, aber nie dazu komme, dem

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Menschen in concreto sein Handeln vorzuschreiben. Das Suchen nach einer M a t e r i a l e t h i k erweist sich als ebenso unvermeidlich wie vergeblich. Denn die Konkretisierung, die den Menschen nicht zum Mittel einer bloßen Sache, zum bloßen Werkzeug für Kultur erniedrigte, und anderseits nicht bloß zur ideologischen Verabsolutierung einer bestimmten Kultur diente, könnte kein allgemeiner Wert, kein abstraktes Wertgesetz, nicht irgendwelche Rangordnung von Gütern sein. Sie müßte absolut und zugleich konkret, sie müßte ganz persönlich und doch zugleich ganz sachbestimmt, sie müßte ganz geschichtsrelativ, d. h. ganz auf den geschichtlichen Moment zugespitzt und doch zugleich ganz ewiggültig sein. Davon aber kann die Ethik, kann überhaupt eine mit abstrakten Prinzipien allein rechnende Wissenschaft nichts wissen. Cerade das, was ihre wissenschaftliche Qualität bestimmt: die zeitlose Allgemeingültigkeit der Idee, des Wertes, der Norm, steht dieser Konkretheit entgegen. Geht die philosophische Ethik von der Strenge des allgemeinen Gesetzes ab, so verfällt sie einem romantischen Individualismus. Aber anderseits vermag ihr Gesetz, das ihre Würde ist, immer nur den Menschen im allgemeinen, nie diesen bestimmten, in dieser bestimmten Lage, hic et nunc zu bestimmen. Weil das sittliche Gesetz, wie wir sahen, immer nur Monolog bleibt, bleibt es ichbezogen. Sein letztes höchstes Motiv ist doch: die Selbstachtung. Es kommt nie zu einer wirklich konkreten Beziehung zum anderen, zu einem Hinübergehen aus dem Ich zum Du. J a , an ihrem P r i n z i p d e r S e l b s t a c h t u n g , der Selbstgesetzgebung, des Aufsichselberstehens hängt schließlich alles: es ist ihr Grundprinzip, die Autonomie. Gerade dieses Prinzip aber verdeckt die eigentliche menschliche Wahrheit, daß der Mensch ein Sünder ist, daß das tiefste Ich nicht das Gute, sondern Wille im Widerspruch gegen das göttliche Gute ist. Sünde ist nicht Widerspruch gegen das eigene Gesetz. Sehen wir das Böse so, so nehmen wir es nicht ernst. Wir schmeicheln uns, daß uns das Böse im tiefsten gar nichts angehe und anhabe. Sünde, ernstlich erkannt, ist W i d e r s p r u c h g e g e n d e n g ö t t l i c h e n W i l l e n , so daß das tiefste Ich und das Gute wirklich auseinander und widereinander geraten sind, Loslösung vom Existenzgrund und darum nicht bloß eine Gesinnungs-, sondern zugleich eine E x i s t e n z s a c h e . Das Ich hat seinen Grund in der göttlichen Anrede. Das Wort Gottes als ein persönliches ist sowohl der Erkenntnis- wie der Realgrund des Ich. Außerhalb dieses Grundes gibt es weder ein wirkliches Ich noch eine Erkenntnis des Ich. Darum ist Sünde als die (versuchte) Loslösung vom Existenzgrunde zugleich die Urlüge, Emanzipation von Gott. Ihr tiefster Grund ist gerade der Wille zur Selbständigkeit — nämlich das unbedingte Selbständigseinwollen statt des bedingten. Der Gegensatz der Sünde ist darum nicht die Tugend — schon das ist ein ganz der rationalen Emanzipation angehöriger Begriff — sondern der Glaube, die Tiefe der Sünde der Unglaube, die kleinmütige und zugleich hochmütige Überlegung, der Mensch müsse auch Gott gegen-

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EVANGELISCHER

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über auf seine Rechte bedacht sein (vgl. f ü r alle diese Züge die Geschichte v o m Sündenfall). E r s t so ist das Böse p e r s ö n l i c h verstanden, als Herauslösung aus einem persönlichen Urverhältnis. N i c h t d i e S t e l l u n g zu e i n e m a b s t r a k t e n Gesetz m a c h t g u t o d e r bös, sond e r n d i e S t e l l u n g z u G o t t . Ob m a n sich von ihm wolle das Leben geben lassen, oder ob m a n es aus sich selber h a b e n wolle. Der Sündenfall ist die Abkehr v o m Schöpfer u n d Geber des Guten, die falsche — n ä m lich gegen den Schöpfer s t a t t gegen das Geschöpf gewendete — Selbständigkeit u n d Positivität, Überhebung, Wille, der mehr sein will als er k a n n u n d n u n in dieser Überhebung sich überschlägt; Freiheit, die in Übersteigerung ihrer selbst zur Knechtschaft wird, da außerhalb Gottes keine Freiheit möglich ist. D a r u m — das ist das sozusagen Metaphysische a m Bösen — ist S ü n d e z u g l e i c h U n f r e i h e i t zum Guten, »Erbsünde«. »Wer Sünde t u t , ist der Sünde Knecht«. Ist der Mensch von Gott abgekehrt, so h a t er nicht m e h r die göttliche Lebenseinheit vor sich, sondern ein Zwiegespaltenes, eine g e i s t l o s e K o n k r e t h e i t u n d eine a b s t r a k t e G e i s t i g k e i t , die Sinnlichkeit a n sich u n d das Gesetz oder die Idee a n sich. I n der Idee spiegelt sich i h m n u n , wenn auch v e r k r ü m m t , der göttliche Gedanke u n d Wille. Das Gesetz, die Idee ist Gott, so wie er n u n , nach der Verkehrung, dem Menschen noch erkennbar ist. Die Idee ist d a r u m ävcc/irijcric, Wiedererinnerung an die verlorene Ursprünglichkeit — u n d doch nicht Wiedererinnerung an den persönlichen Gott. Die Idee ist gebrochenes Gotteslicht, auseinandergelegter Lichtstrahl der Wahrheit. Der Idee-Gott ist nicht der lebendige Gott. Das Grundverhältnis erweist sich gerade in der Idee als ein u m g e k e h r t e s : aus dem ersten ist Gott das zweite, aus dem Vorhergewissen das Gesuchte, aus dem, der das gute Leben gibt, ist er der geworden, der das gute Leben fordert, u n d d a r u m aus dem K ö n n e n in Gott u n d durch Gott, das Können unabhängig v o n Gott aus sich selbst. Der P u n k t , in dem beides, die Sünde u n d die göttliche Reaktion gegen sie im Gesetz zusammentreffen, ist, von der einen Seite gesehen: d i e A u t o n o m i e , von der anderen Seite gesehen: d i e S c h u l d . Der doppelte Sprachgebrauch unseres Wortes »schuld« deutet das a n : d a ß uns das Gute als Pflicht b e k a n n t ist (Schuldigkeit), ist schon Anzeichen der Verk e h r u n g : Schuld. D a r u m treffen hier die emanzipierte V e r n u n f t e t h i k u n d der Glaube in ihren schärfsten Spitzen aufeinander. W e n n ich weiß, daß ich soll, so weiß ich, daß ich W ü r d e h a b e u n d k a n n — sagt der Idealismus. W e n n ich weiß, d a ß ich soll, so weiß ich, daß ich vom Ursprung getrennt bin u n d also nicht kann, sagt der Glaube. Die Tatsache, daß wir das Gute s o l l e n , daß es uns als ein bloß gesolltes, also fremdes, vor Augen steht, ist der entscheidende Ausdruck unserer Get r e n n t h e i t vom göttlich Guten. E r s t diesseits des Sündenfalles liegt das Wissen von Gut u n d Bös. »Christ u n d der Teufel haben keine Konszienz«.

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Es geht selbstverständlich nicht an, sich der oben (S. 32) aufgewiesenen Schwierigkeit und der hier gezogenen Konsequenz dadurch zu entziehen, daß man »Autonomie« nur der »falschen Heteronomie« gegenüberstellt und sie von vornherein mit Theonomie gleichsetzt. Theonomie ist sowohl der Autonomie wie der Heteronomie gegenüber etwas Neues, gerade wie der Glaube über dem Gegensatz von Realismus und Idealismus steht. Man kann aus derAutonomie das autos-nomos nicht wegschaffen. Wie es eine Möglichkeit gebe, der »falschen Heteronomie« zu entfliehen ohne der falschen Autonomie zu verfallen, das ist eben das Problem des Glaubens, das in einer Weise gelöst wird, die mit nicht mehr Recht »autonom« genannt werden kann, als der lebendige Gott der Offenbarung der platonischen Idee gleichgesetzt werden kann.

Die E m a n z i p a t i o n d e r V e r n u n f t , wie sie sich i m Prinzip der A u t o n o m i e a m deutlichsten a u s s p r i c h t , ist also wirklich, wie H a m a n n s a g t , das »Mißverständnis der V e r n u n f t m i t sich selbst«, das n i c h t Vern e h m e n - W o l l e n der V e r n u n f t . Aber es ist R o m a n t i k zu glauben, es gebe einen a n d e r e n besseren Menschenweg, als d e n dieser V e r n u n f t a u t o nomie, der in sich r u h e n d e n Vernunftgesetzlichkeit. Die R o m a n t i k wird zwar i m m e r als P r o t e s t gegen »das a b s t r a k t e Gesetz«, gegen die »allgemeine Geistigkeit« ihr geschichtliches R e c h t h a b e n , aber sie wird nie v e r m ö g e n d sein, das zu sagen u n d zu geben, was sie eigentlich m e i n t ; sofern sie es a b e r zu geben v e r m e i n t , wird sie in eine noch gefährlichere Ideologie h i n e i n f ü h r e n als die rationalistisch-idealistische es ist. D e n n ihr f e h l t die Möglichkeit der n ü c h t e r n e n Selbstbesinnung, die die R a t i o i m Kritizism u s h a t . D e m geschichtlichen Menschen in seiner geschichtlichen E x i s t e n z ist die R ü c k k e h r z u m U r s p r u n g v e r w e h r t . D i e S ü n d e der Loslösung v o m U r s p r u n g ist n i c h t b l o ß T a t , sondern — das ist der K e r n der Lehre v o n der E r b s ü n d e — sofern diese T a t sich ü b e r h a u p t ereignet, n u n m e h r z u g l e i c h V e r h ä n g n i s . D a s Gesetz als selbständige P o t e n z ist allerdings »zwischenhineingekommen«, als ein Provisorium 1 ), a b e r n u n ist es d a u n d d r ü c k t d e m geschichtlichen Leben seinen S t e m p e l a u f , so sehr, d a ß H u m a n i t ä t u n d Gesetz gleichgesetzt werden k ö n n e n . Aber m i t diesem V e r n u n f t g e s e t z u n d d a r u m m i t d e m geschichtlichen L e b e n u n d der H u m a n i t ä t ist zugleich die U n f r e i h e i t d a ; zugleich m i t d e m B e w u ß t s e i n der V e r a n t w o r t l i c h k e i t ist i m m e r schon das Bewußtsein der Schuld d a , u n d zwar der unausweichlichen — wie sogar K a n t s a g t : »angeborenen« — Schuld, das peccatum originale, das a priori aller Geschichte. D a s G e s e t z b e s t i m m t z u g l e i c h m i t d e r S ü n d e d e n Charakter dieser Zwischenwirklichkeit, deren drittes Merkm a l der T o d ist. E s m u ß deutlich sein, v o n woher wir das sagen. W i r sagen es v o m selben »Ort« aus, v o n wo aus wir die Wirklichkeit der S ü n d e u n d die W i r k 1 ) Das Gesetz als selbständige Potenz ist etwas anderes als die Substanz des Gesetzes, der ewige Gotteswille. In der Bibel und in der christlichen Lehre heißt dieses in seiner Einheit mit der Offenbarung der Gnade Gottes: der Bund. Durch diesen Begriff ist ebenso deutlich die »Gesetzlichkeit« ausgeschlossen als die Verpflichtung, der göttliche Anspruch auf Gehorsam als Moment des Glaubens eingeschlossen.

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THEOLOGIE

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lichkeit des persönlichen Schöpfergottes aussagen k ö n n e n ; von der Offenbarung der Schrift, v o n d e r C h r i s t u s o f f e n b a r u n g a u s . Der Glaube k a n n Autonomie, Gesetz u n d Sünde in dieser engen Beziehung sehen, weil er das gesetzliche Verhältnis selbst als Sünde durchschaut h a t , vielmehr: weil es ihm selbst als Sünde k u n d g e t a n ist in der Offenb a r u n g des wirklichen Gottes als dessen, der das Gute, das Leben, j a sich selbst s c h e n k t . Ist der schenkende Gott der wirkliche Gott u n d der von ihm mit dem Leben beschenkte Mensch der wahre Mensch, so ist also die Selbständigkeit, die Autonomie des Menschen die Urlüge; aber freilich d i e Tiefe der Lüge, die ganz n a h e bei der Tiefe der W a h r h e i t liegt. Denn n u r »vor Gott« k a n n der Mensch wirklich, sozusagen vollwertig lügen, wie er n u r vor Gott w a h r sein k a n n . D a r u m ist auch der »Ort«, wo die Krisis des Sittlichen geschehen ist, diejenige geschichtliche Stelle, an der der Gedanke des sittlichen Gesetzes u n d des gesetzlichen Verhältnisses zu Gott a m energischsten gedacht worden i s t : die jüdischpharisäische Religion. D a r u m ist aber auch die Botschaft von der Offenb a r u n g Gottes, die seine Versöhnung ist, zugleich K a m p f gegen die Gesetzlichkeit: die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Hier, in dem W o r t , das als W o r t v o m alleinigen g ö t t l i c h e n H a n d e l n (sola gratia) fern scheint v o m ethischen Problemkreis, erkennt der christliche Glaube die n e u e G r u n d l a g e d e s H a n d e l n s , die jenseits des Gegensatzes von Realismus u n d Idealismus, von Sollen u n d Sein liegt, u n d wo es d a r u m zu einem wirklich konkreten Ethos kommen k a n n . Konkret-ethisch k a n n n u r da gehandelt werden, wo der wirkliche Gott den wirklichen Menschen bestimmt anspricht. Konkret-ethisch handeln hieße: leben im Glauben, der zugleich Gehorsam u n d im Gehorsam, der zugleich Glaube ist. »Der Gerechte wird seines Glaubens leben«, leben als ein Beschenkter, ein Begnadeter, als einer, der in der Zufälligkeit u n d Sündigkeit seines konkreten Daseins vor Gott steht, den G o t t dieser »Zufälligkeit« zurückgibt u n d die er, eben d a m i t , ihrer Zufälligkeit e n t h e b t . Die Welt, den Menschen, das Leben ansehen als die von Gott gesehenen, u n d in u n d trotz ihrer sündigen Zufälligkeit »gerechtfertigten«, die gerade so wie sie sind ihm Gehörigen: das ist die neue E t h i k , das E t h o s d e r » L i e b e « . Aber diese »Ethik« k a n n d a r u m , weil diese Liebe — im Unterschied zu allem anderen was auch so heißt — kein Prinzip, sondern die in jedem Augenblick neue R i c h t u n g auf die göttliche Begnadigung ist, ebenso die A u f h e b u n g aller E t h i k heißen. Denn diese Liebe ist ihrem Wesen nach kein Sollen mehr, ebensowenig als sie an einem bestimmten Erfolg h a f t e t , t r o t z d e m sie als Gesinnung wie als K r a f t zur Leistung alles andere Handeln u n t e r sich läßt. Es ist aber an diesem P u n k t e ganz besonders notwendig in Erinnerung zu rufen, daß der G l a u b e k e i n B e s i t z ist, über den der Mensch verfügt, sondern ein aktuelles, v o m Menschen aus nie zu bewerkstelligen-

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des, f ü r ihn auf keine Weise verfügbares Reden u n d Geben Gottes. Als Mensch, als geschichtlich-sichtbare Erscheinung hört der Glaubende nicht auf, Sünder u n d d a r u m »unter dem Gesetz« zu sein. Das gilt f ü r die Erkenntnisfrage wie f ü r die praktische. Der Glaube k a n n beide Fragen n u r als in der Verheißung gelöst ansehen. »Wir leben im Glauben u n d nicht im Schauen«. Wir b l e i b e n also in der Welt, wo es Wissenschaft b r a u c h t , wo der Gegensatz von Idealismus u n d Realismus unüberwindlich ist, wo das sittliche Leben durch das Gesetz zu normieren ist, wo es sich auch immer wieder gegen alle gesetzliche Normierung auflehnen wird — u n d mit dieser Auflehnung nie bloß Unrecht haben wird (Romantik). Aber durch den Glauben t r i t t dieses Leben u n t e r einen anderen Gesichtsp u n k t . Es ist in seiner Yorläufigkeit erkannt, das Gesetz ist nicht mehr letztes Prinzip, die gesetzliche Stellung ist aufgeoben, das Mißverständnis der V e r n u n f t mit sich selbst ist durchschaut, wenn auch d a m i t nicht beseitigt. E s gibt d a r u m keine christliche Wissenschaft, christlichen Staat, christliche K u l t u r , sondern n u r eine M i t w i r k u n g der christlich Glaubenden, an S t a a t , K u l t u r u n d Wissenschaft, die nicht mehr in jenen ihr Prinzip h a t u n d d a r u m eine indirekte ist, eine solche, die sich der Vorläufigkeit all dieses geschichtlichen Lebens deutlich bewußt ist. Eben d a r u m gibt es auch keine andere G o t t e s e r k e n n t n i s als die paradoxe des Glaubens. Der Widerspruch, der unserer ganzen Existenz a n h a f t e t , drückt sich darin aus, daß uns auch die göttliche Wirklichkeit n u r in der Gebrochenheit, als das durch die Lügenwirklichkeit gebrochene Licht erreichen u n d von uns nur in dieser Gebrochenheit gesehen werden k a n n . Diese Gebrochenheit ist der Widerspruch, das Vernunftärgernis. Aber noch einmal gilt es hier zu unterscheiden. Ä r g e r n i s ist die Offenb a r u n g n u r f ü r d i e Vernunft, die sich selbst als letzte Instanz auch G o t t gegenüber ausgibt, also nicht so sehr f ü r die V e r n u n f t selbst, als f ü r den Vernunftstolz, die S e l b s t g e n ü g s a m k e i t i n d e r V e r n u n f t . Dieser Vernunftstolz aber ist nicht eine Untugend besonderer Menschen; die V e r n u n f t , die wir Menschen haben, ist immer schon diese v o m Autonomiew a h n erfaßte. D a r u m ist f ü r uns alle' der Riß auch in der E r k e n n t n i s ein vorhandener u n d unheilbarer. Wir können aus dem Gegensatz: Vernunft-Sinnlichkeit, Realismus-Idealismus, Vernunft-Offenbarung nicht mehr heraus, zur Einheit. Auch dem Glaubenden bleibt die Offenbarung unbegreiflich, auch er steht immer wieder vor der Möglichkeit des Ärgernisses. Die Lösung der Rätsel, die der Glaube »hat«, ist nicht »einsichtig«; wir sehen nicht hindurch, sondern »in einen dunklen Spiegel«; die Glaubenssätze sind samt u n d sonders P a r a d o x i e n , an denen der »natürliche« Mensch Anstoß n i m m t , Geheimnisse, in denen sich Gott als der Unbegreifliche offenbart. Sie sind nie u n d nimmer »einleuchtend«, sondern bleiben zeitlebens b l o ß g l a u b w ü r d i g , n u r dem Glauben gewiß. E s k o m m t nie zur Beruhigung des Schauens, die der Ewigkeit vorbehalten ist. Also nicht der Glaube ist die Lösung, sondern der Glaube weiß u m

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die Lösung, als ein von Gott her in die Gegenwart vorausleuchtendes Zukünftiges. Der Glaube unterscheidet sich von allem anderen, z. B. v o m mystischen Erleben gerade dadurch, daß er u m die Lösung, die Erlösung weiß, ohne sie zu besitzen. Dieses Wissen u m das Zukünftige ist der gegenwärtige Glaubensbesitz u n d die Glaubensfreudigkeit; das Wissen u m jenes Geschehen, auf das die Offenbarung h i n d e u t e t : wo alles Stückwerk aufhören wird, wo auch der Gegensatz von Wirklichkeit u n d Wahrheit, von Idee u n d Konkretheit aufhören wird, dem der Glaube schon j e t z t den letzten E r n s t zu nehmen vermag.

Schöpfung der Welt u n d des Menschen, das ist das eine große Thema der Theologie. Weil d i e W e l t e i n S p i e g e l des göttlichen Geistes ist, d a r u m k a n n sie ü b e r h a u p t e r k a n n t werden. Ohne das wäre sie dunkles Chaos, von dem wir nichts wissen könnten. Gott ist sichtbar in seinem Werk als Geist u n d K r a f t . Wäre das allein wahr, so würde wohl der Mensch in der N a t u r Gottes Angesicht sehen wie in einem Spiegel. Aber n u n ist es bloß die eine Seite der Wahrheit. Die Welt ist auch Verhüllung Gottes, z e r s c h l a g e n e r S p i e g e l , Gemisch von Sinn u n d Unsinn; der Mensch ist aus der Heimat entlaufen u n d lebt von Schweinet r ä b e r n . Die V e r n u n f t , zum Spiegel Gottes geschaffen, ist verzerrt u n d zerspalten. Die analogia entis reicht zu keiner wirklichen Gotteserkenntnis (cognitio salutaris) hin. Wer meint, aus dieser Welt Gott erkennen zu können, t ä u s c h t sich entweder über die eigentlichen Gründe seines Glaubens, oder aber er erkennt vielleicht jenen Welt-iVous, den Aristoteles Gott nennt, aber auch ihn nur ungewiß u n d u n b e s t i m m t . Vom Glauben, von der Offenbarung aus gibt es nicht n u r f ü r die Vernunft Rätsel; d a s g r ö ß t e R ä t s e l i s t v i e l m e h r d e r v e r n ü n f t i g e M e n s c h s e l b s t , in seinem unüberwindlichen Schwankenzwischen Erkennen u n d Nichterkennen, 'zwischen Gottähnlichkeit u n d Widergöttlichkeit, zwischen Skepsis u n d Schwärmerei; der Mensch, das Irrationalste, Antirationalste — gerade in seinem Rationalismus. Die Geschichte belegt tausendfach, was der Glaube aussagt: d a ß der Mensch selbst, außerhalb des Glaubens, unfähig ist, sich selbst so zu sehen, wie er ist. E r k a n n die W a h r h e i t des Zynismus u n d des Enthusiasmus nicht zusammenbringen, sondern pendelt von der einen zur anderen, oder aber, das schlimmste von allem, er schafft sich einen Ausgleich, der dieses Zwischendrin normalisiert. So, in dieser Doppelheit ist er zugleich M a n i f e s t a t i o n der Schöpferherrlichkeit und ihrer Verk e h r u n g . Und wegen dieser Verkehrung k a n n er aus sich selbst von ihr nicht wissen; denn erkennen k a n n er sie nur dort u n d insofern, als ihm die ursprüngliche Wahrheit wieder gegeben wird.

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Dieser Mensch, als ganzes, gerade in dieser Fragwürdigkeit und mit einem gewissen, wenn auch nie klaren Bewußtsein von ihr, ist der sogenannte Anknüpfungspunkt der Offenbarung. Nicht ein besonderes Sensorium, sondern das Bewußtsein von sich selbst als Humanus; diese Zwiespältigkeit, so wie sie sich auch im Bewußtsein reflektiert, das ist die »Anlage«, die offenbar dem göttlichen Schöpfer genügt, um daran »anzuknüpfen«. Es gibt aber freilich einen deutlichsten Punkt dieses Bewußtseins der Zwiespältigkeit auch im »natürlichen« Menschen, das zugleich das Zentrum seines geschichtlichen Lebens ist: das religiöse Bewußtsein. 2. DAS WAHRHEITSMOMENT D E S S U B J E K T I V I S M U S : OFFENB A R U N G UND R E L I G I Ö S E S E R L E B N I S . Es gibt zwei Formen des radikalen Subjektivismus, die einander zwar der Absicht nach diametral gegenüberstehen, aber oft genug ineinander übergeflossen sind: die radikale (sophistische) Skepsis und die radikale (indische) Mystik. Durch den Rationalismus des Kulturlebens und der Kulturgemeinschaft abgeschwächt, heißt die Skepsis: sensualistische Philosophie; die Mystik: romantischer Individualismus. Der echt sophistische Satz »der Mensch ist das Maß aller Dinge« führte, völlig ernst genommen, zur Aufhebung jeglichen Wahrheitsbegriffs, also auch zur Aufhebung seiner selbst. Aber die S k e p s i s lebt, obschon durch dieses Argument tausendmal widerlegt, immer wieder davon, daß es nicht möglich ist, ihr eine bestimmte Grenze zu setzen. Ihr Relativismus ist zwar als Prinzip leicht zu widerlegen — da jedes Prinzip, auch das relativistische, »wahr« sein will; aber allen einzelnen Aussagen gegenüber, die sich als wahr geben, ist allerdings der Skepsis keine Grenze zu setzen. Denn auch die »reine Vernunft« ist nie rein, sondern, sofern wir sie darstellen, zugleich menschlich-relativ. Es gibt keine absolut gültigen Inhalte der Erkenntnis, auch nicht die Denkformen, sofern wir um sie wissen. Aber auch die M y s t i k ist nicht eigentlich zu widerlegen; darum kehrt sie immer wieder. Sie zieht ihre Kraft aus dem Identitätsbewußtsein, das jedem als wahr gemeinten Satz, d. h. dem gesamten geistigen Leben zugrunde liegt (vgl. das augustinische verlies-Argument). Nur unter der Voraussetzung, daß wir »teilhaben am Logos«, ist überhaupt geistiges Leben möglich. Aber die Mystik weist mit Recht darauf hin, daß dieser Punkt der Identität, weil er allem Bestimmten zugrunde liegt, und also nie selbst bestimmter Gedanke werden kann, sondern Ursprung jeder bestimmten Setzung ist, selbst nur in der Form des unmittelbaren Einsseins, d. h. des Gefühls, wirklich sei, jenes Gefühls also, in dem Ichheit und Allheit identisch sind. Aber so unwiderleglich die Mystik ist, solange sie bloß in diesem Hinweis besteht, so sehr verstrickt sie sich mit sich selbst in Widerspruch, sobald sie aus diesem Handb. d. Phil. II. F 4

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Ursprung — zwar nicht ein bestimmtes Denken, das wäre Spekulation wohl aber — ein bestimmtes, zeiterfüllendes E r l e b e n m a c h t ; u n d n u r so, ist Mystik Lebensform. Skepsis u n d Mystik vermögen sich selbst nie treu zu bleiben. Die einzig konsequente Skepsis wäre die lno%tj, das Ansichhalten, das Nichtswagen, weder im T u n noch im Denken. Das aber wäre der völlige Stillstand des Lebens, d a r u m eine Unmöglichkeit. Die einzig konsequente Mystik — der sich die radikale Mystik Indiens beträchtlich n ä h e r t — wäre das völlige Versinken im Alleinen, ohne das geringste Interesse am »zerspaltenen«, scheinwirklichen Leben, an K u l t u r u n d Gemeinschaft. Durch die Teilnahme am geschichtlichen Leben u n d am K a m p f u m die Wahrheit verraten beide einen tiefen Unglauben an sich selbst. M a n k a n n n i c h t k o n s e q u e n t e r M y s t i k e r o d e r S k e p t i k e r s e i n , weil Konsequenz im Leben das Gegenteil sowohl von Mystik als von Skepsis wäre. Konsequenz heißt Folgerichtigkeit, Gesetzmäßigkeit; Gesetz aber ist der Gegensatz zu beidem, Skepsis u n d Mystik. So sind sie beide nicht ohne Wahrheit, u n d doch ohne wahre Lebensmöglichkeit. Eine Überwindung der Skepsis, die ihre Wahrheit enthielte, wäre n u r möglich u n t e r Voraussetzung einer absoluten Wahrheitsmitteilung, die den Menschen als Subjekt ausschaltete, d. h. eine Wahrheit, die, ohne sich damit mit sich selbst in Widerspruch zu setzen, den Satz enthielte, daß »alle Menschen Lügner sind«, d. h. d a ß keine menschliche B e h a u p t u n g als solche das P r ä d i k a t »wahr« verdient. Eine solche A u f h e b u n g des Menschen wäre aber nicht v o m menschlichen Bewußtsein aus zu vollziehen, sondern eben nur als W a h r h e i t s m i t t e i l u n g , als göttliche O f f e n b a r u n g , durch die sich Gott selbst als die einzige Wahrheit setzte. Ebenso wäre eine A u f h e b u n g der Mystik, die ihre Wahrheit enthielte, n u r möglich durch Einswerden mit dem göttlich Absoluten auf Grund eines D a t u m s , das selbst der geschichtlichen Welt angehörte u n d d a r u m dauernd a n das geschichtliche Leben bände, also U n m i t t e l b a r k e i t a u f G r u n d v o l l k o m m e n s t e r M i t t e l b a r k e i t . Das aber ist es, was christlich mit Offenbarung gemeint ist. Aber wohlverstanden: nicht die Idee der Offenbarung h a t diese lösende K r a f t . Denn als unsere Idee k ä m e dieser Wahrheit weder das eine noch das andere zu. Sondern n u r wirkliche, geschehene Offenbarung, Offenbarung in der wirklich jenes Gericht u n d diese Einigung s t a t t f i n d e t , u n d die n u r gedacht werden k a n n , weil sie geschehen ist, könnte diese Lösung sein. I m christlichen Glauben b e k o m m t die Verneinung alles Menschlichen eine Schärfe, die nicht mehr bloß kritisch, aber auch nicht bloß skeptisch ist, weil sie nicht bloß theoretisch, sondern existentiell i s t : Die Verzweiflung. Und in ihm bek o m m t die Einheit mit Gott eine Tiefe, die nicht bloß Gesinnungseinheit, noch auch mystisches Sichverlieren i s t : jenes »Mystische«, das die Alten die insertio in Christum n a n n t e n , die persönliche Lebenseinheit mit dem Erlöser, die das Wesen der im Glauben gehofften Erlösung ist.

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Auf die vielen abgeschwächten Formen des sophistischen Subjektivismus, die heute eine große Rolle spielen, einzugehen, ist hier nicht möglich. Solche Mischformen sind alle sensualistischen, fiktionistischen und pragmatistischen Philosophien. Rationalismus sind sie dadurch, daß sie von einer wissenschaftlich rational erkannten »Wirklichkeit« ausgehen, z. B. von einer wissenschaftlichen Psychologie oder Biologie, so daß sie alle, so antirationalistisch sie sich übrigens gebärden, immer das n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Weltbild voraussetzen. Ihr Subjektivismus kontrastiert denn auch in komischer Weise mit der Zuversichtlichkeit, mit der diese Philosophen ihre Theorie als »richtig«, d. h. allgemeingültig vertreten und — beweisen! Den Übergang zur Romantik, also zu einer mystik-ähnlichen Auffassung der Welt, bilden diejenigen Systeme, die mit diesem Pragmatismus einen Intuitionismus verbinden, wie etwa B e r g s o n e s tut. Es ist interessant zu sehen, wie Bergson dort, wo er von der Intuition spricht, ganz zum spekulativen Idealisten wird. An die Stelle des Pragmatismus tritt dann der Neuplatonismus. Wir haben darum keinen Anlaß, uns mit dieser Gruppe besonders auseinanderzusetzen.

D e n Religionsphilosophen interessiert aber weder die Skepsis als solche, n o c h die Mystik in ihrer r a d i k a l s t e n F o r m , d a beide die Möglichkeit einer Religionsphilosophie — die eine die Religion, die a n d e r e die Philosophie — a u f h e b e n . Vielmehr gilt i h r Interesse j e n e r a b g e s c h w ä c h t e n F o r m der Mystik, die sich einem rationalen S y s t e m der K u l t u r u n d Wiss e n s c h a f t einordnen l ä ß t : die Mystik als » r e l i g i ö s e s E r l e b n i s « , u n d dieses m y s t i k ä h n l i c h e religiöse E r l e b e n als Prinzip der Religion. Seit die a u f k l ä r e r i s c h e R e d u k t i o n der Religion auf einige moralische oder m e t a p h y s i s c h e Gemeinplätze d u r c h Schleiermacher m i t R e c h t in Mißk r e d i t g e k o m m e n ist, h ä l t sich die Religionsphilosophie v o r n e h m l i c h a n die v o n i h m gebotene Ersatzlösung, die das »Wesen der Religion« e b e n in diesem »religiösen Erlebnis« e r k e n n t . Dieses ist seinerseits — v o m Religionsphilosophen auf seine N o r m a l f o r m gebracht — eine A r t mystischer Gefühlseinheit des S u b j e k t s m i t d e m All oder der G o t t s e i t , aber v o n der A r t , d a ß da6 r a t i o n a l e Gefüge v o n Wissenschaft u n d K u l t u r d a d u r c h n i c h t zersprengt wird, also die irrationale Seite oder »Provinz« i n n e r h a l b der G e s a m t v e r n u n f t . Diese A u f f a s s u n g h a t mit der der A u f k l ä r u n g — u n d d e m Idealismus (s. o. S. 15) — das E n t s c h e i d e n d e gemein, d a ß Religion e t w a s allgemein zu B e s t i m m e n d e s sei, d a ß es ein »Wesen der Religion« gebe. Sie u n t e r s c h e i d e t sich von ihr n u r d a d u r c h , d a ß sie dieses »Wesen« b e s t i m m t e r v o m o b j e k t i v e n V e r n u n f t l e b e n a b h e b t . Aber n u r d u r c h S u b s u m t i o n u n t e r einen Oberbegriff: V e r n u n f t , ist v o n hier aus eine Religionsphilosophie möglich. Gerade d a m i t aber setzt sich die Religionsphilosophie, die doch das Wesen der w i r k l i c h e n Religion v e r s t e h e n will, m i t aller wirklichen Religion in W i d e r s p r u c h . W e n n alle Religionen der Welt e i n Gemeinsames h a b e n , so ist es dies, n i c h t auf ein Allgemeines sich zu g r ü n d e n , sondern auf ein B e s t i m m t e s , nämlich auf F a k t a d e r O f f e n b a r u n g . Die Religionsphilosophie e r k l ä r t n u n freilich, dieses B e s t i m m t e sei n u r der auslösende A n l a ß , n i c h t der eigentliche G r u n d der b e s t i m m t e n Religion. E s wurzele d a r i n n i c h t d a s Wesentliche, sondern das Zufällig-Individuelle

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THEOLOGIE

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der b e s t i m m t e n Religion. A b e r die Religionsphilosophie sagt d a m i t nichts Geringeres aus, als d a ß das, worin sie u n d das, worin alle Religionen selbst das Wesentliche sehen ein grundverschiedenes sei. Die O f f e n b a r u n g , a n die die Religionen glauben, ist S e l b s t t ä u s c h u n g , u n d v o n der Offenb a r u n g , a n die die Religionsphilosophie g l a u b t , wissen die Religionen nichts. D e n wirklichen Religionen ist das Wesentliche die Wirklichkeit, die e r f a h r b a r e Gegenwart wirklicher G ö t t e r , also das k o n t i n g e n t e , zeith a f t e H e r e i n t r e t e n v o n E t w a s , was n i c h t i m Geist des Menschen selbst liegt, in seinen o b j e k t i v e n Lebensbereich. Während die Schleiermachersche und Hegeische Religionsphilosophie diesen Gegensatz deutlich hervortreten lassen, wird in neueren Systemen, etwa bei O t t o oder S c h o l z , der Eindruck erweckt, als sei es wirklich u m die Erfassung solch konkreter Offenbarung zu tun (vgl. etwa den Anfang von O t t o s »Das Heilige«, wo zunächst in Anlehnung an J a m e s ' Realismus die Wirklichkeit des Offenbarungsfaktums hervorgehoben wird, S. 11). Aber in der entscheidenden Deutung des religiösen Phänomens wird dann bald auf die immanenten Kategorien des kritischen (a priori) oder des spekulativen Idealismus (der tiefste Grund des Ich) zurückgegriffen, so daß wir denn bei O t t o Formulierungen finden wie: »Religion wurzelt in den Trieben und Tiefen des vernünftigen Geistes selber« (Vishnu Narayana, S. 153). Ea ist e i n e Anlage und e i n »Trieb der Gestaltung, . . . der allerorten die Gestaltung religiösen Vorstellungsund Gefühlslebens in Gang setzt« und e i n e A n l a g e , »die, weil sie einheitlich ist, auf verschiedenen Gebieten Ähnliches hervorbringt« (ebenda, S. 150). Mit solcher Auffassung ist das, was die Religionen und auch das, was der christliche Glaube Offenbarung nennen, unvereinbar.

Die E n t s c h e i d u n g d a r ü b e r , ob t r o t z d e m W i d e r s p r u c h der Religionen die Religionsphilosophie m i t i h r e r D e u t u n g der »Offenbarung« doch das Richtige t r e f f e oder n i c h t , wird d a r i n gesucht w e r d e n müssen, ob sich wirklich jenes v o n der Religionsphilosophie b e h a u p t e t e »Wesen der Religion« als gemeinsamer G r u n d aller Religionen, oder vorsichtiger a u s g e d r ü c k t , m i n d e s t e n s als ihr »Sinn«, als das was sie eigentlich meinen, aufgewiesen werden könne. Die sorgfältige P r ü f u n g an der t a t s ä c h l i c h e n S t r u k t u r des religiösen Bewußtseins zeigt, d a ß dies n i c h t der F a l l ist. W i r n e h m e n das R e s u l t a t als These v o r a u s : E s g i b t k e i n g e m e i n s a m e s » W e s e n d e r Religion«. Vielmehr zeigt uns die geschichtliche Wirklichkeit eine Mannigfaltigkeit v o n Religionserscheinungen v o n grundverschiedener S t r u k t u r . Einerseits gibt es j e n e Religionen, v o n d e n e n m a n n u r in der Mehrzahl sprechen k a n n , weil j e d e v o n i h n e n das ist, was sie ist d u r c h die Beziehung auf k o n k r e t Gegebenes, auf O f f e n b a r u n g s t a t s a c h e n , i n denen sich d e m Menschen ein Anderes-als-Welt in a k t i v e r Selbstmanif e s t a t i o n k u n d z u t u n scheint. E s sind die Religionen, in d e n e n m a n a n G ö t t e r g l a u b t u n d G ö t t e r n d i e n t . Die Religion h a t d a r u m hier einen d u r c h a u s o b j e k t i v e n , i n h a l t b e s t i m m t e n C h a r a k t e r . Sie bezieht sich auf außermenschliche, f ü r sich reale u n d m e h r oder weniger individuell geprägte Gottpersönlichkeiten. V o m Göttlichsein ist hier das M e r k m a l des Personseins u n a b t r e n n b a r . J a , auf i h m r u h t gerade das ganze Interesse.

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DAS WAHRHEITSMOMENT

DES SUBJEKTIVISMUS

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D a s V o r h a n d e n s e i n der G ö t t e r ist das p r i m ä r e D a t u m dieser Religionen. N i c h t a n e r k e n n u n g , L e u g n u n g der E x i s t e n z dieser selbständigen P e r sönlichkeiten ist hier das M a x i m u m der Gottlosigkeit, wie u m g e k e h r t die A n e r k e n n u n g dieser G ö t t e r als wirklich u n d m ä c h t i g die eigentliche F r ö m m i g k e i t ist, der der K u l t u s A u s d r u c k verleiht. N i c h t erst der K u l t u s m a c h t die Religion, s o n d e r n das religiöse P r i u s alles K u l t u s ist hier die A n e r k e n n u n g der G ö t t e r r e a l i t ä t . D a ß diese t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e E x i s t e n z S e t z u n g i m K u l t u s a u s g e d r ü c k t wird, m a c h t i h n z u r zentralreligiösen E r s c h e i n u n g . D a r u m ist a u c h dieser K u l t u s selbst o b j e k t i v , wirkliches H a n d e l n . E r b r i n g t die R e s p e k t i e r u n g des G ö t t e r willens z u m A u s d r u c k , er ist ein Versuch, zwischen d e n beiden Realit ä t e n Menschen u n d G ö t t e r ein f ü r d e n Menschen günstiges u n d f ü r die G ö t t e r ehrenvolles Verhältnis herzustellen. E r vollzieht sich d a r u m als Leistung u n d Gegenleistung, als wirklicher A u s t a u s c h . Deshalb ist Religion — hier — V e r m i t t l u n g zwischen zwei Willens- u n d M a c h t s p h ä r e n , die selbst n i c h t Zweck, sondern Mittel ist. Man will n i c h t Religion, sondern d u r c h Religion E t w a s . Der G o t t s c h e n k t n i c h t Religion, sondern u m der Religion willen E t w a s . E s gibt d a r u m hier realen K o n f l i k t , auf dessen Abstellung die Religion, der K u l t u s gerichtet ist. Seine wichtigsten E l e m e n t e s i n d ; das den G o t t e s n a m e n a n r u f e n d e , d. h . seine persönliche M a c h t u n d E x i s t e n z a n e r k e n n e n d e G e b e t u n d das seine G u n s t beschaff e n d e oder wiederherstellende (Sühn-) Opfer. D a s ist die Religion, die wir als die » o b j e k t i v e R e l i g i o n « bezeichnen wollen. I h r s t e h t , völlig w e s e n s f r e m d , die »subjektive« Religion oder M y s t i k gegenüber. S u b j e k t i v ist sie sowohl in i h r e m B e z i e h u n g s p u n k t als a u c h in der A r t der Beziehung. Hier g l a u b t m a n n i c h t a n Götter, a n P e r s o n e n m i t b e s t i m m t e m Willen, sondern hier s p ü r t m a n eine allgemeine göttliche S p h ä r e v o n n e u t r a l e m C h a r a k t e r . Die Religion h a t E s f o r m , d a s Heilige, d a s Göttliche. D e m e n t s p r e c h e n d ist F r ö m m i g k e i t hier n i c h t R e s p e k t i e r u n g eines a n d e r e n Willens, sondern i m Gegenteil d a s A n s i c h z i e h e n d i e s e s g ö t t l i c h e n E s , oder das s i c h Hineinb e g e b e n in die göttliche Zone, also nicht die Realitätsbeziehung des Vorstellens u n d Wollens, sondern die subjektivierende der Ichidentifik a t i o n , das Gefühl. Die Absicht ist n i c h t A b g r e n z u n g (Respekt), sondern die V e r s c h m e l z u n g (Liebe), n i c h t das G e g e n ü b e r h a b e n , sondern das Drinnensein. Sofern es a u c h hier R e s t e v o n religiöser H a n d l u n g gibt (Tanz, Schwirrholzschwingen, B e r a u s c h u n g , asketische Praxis), sind sie n i c h t o b j e k t i v , sondern s u b j e k t i v g e r i c h t e t : sie sollen das I c h in einen b e s t i m m t e n Z u s t a n d v e r s e t z e n , n i c h t dem G o t t etwas d a r b r i n g e n . J e n e r Z u s t a n d aber ist der der möglichsten I d e n t i f i k a t i o n m i t der göttlichen Es-Wirklichkeit. Religion ist also hier keine V e r m i t t l u n g , s o n d e r n S e l b s t z w e c k , sie will n i c h t E t w a s , sondern sich selbst, d e n n in j e n e n religiösen Z u s t ä n d e n h a t m a n das Göttliche selbst. D a r u m k a n n dieses Göttliche k e i n e P e r s o n sein. D e n n Person h e i ß t Grenze meiner E x i -

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Stenz, Begrenzung meiner Machtwirklichkeit. Das Gesuchte ist hier umgekehrt die A u s t i l g u n g d e r P e r s o n e n g r e n z e , d i e U n m i t t e l barkeit. Diese beiden Religionstypen sind so verschieden, daß sie nicht einmal einander als religiöse Erscheinungen anerkennen könnten. Gerade das, was dem einen das Wichtigste ist, gilt dem anderen als das zu Beseitigende. Dem einen ist wichtig die E h r u n g der Gottperson in ihrer Selbständigkeit durch vermittelnde Handlung, u n d der außerhalb liegende Zweck. Der anderen ist wichtig das Fallen aller Personschranken u n d der unmittelbare Genuß des religiösen Erlebnisses als Selbstzweck. Die objektive Religion wird den Mystiker als Atheisten, die subjektive den anderen als Weltmenschen abschätzen. Sie können sich gegenseitig nicht als religiöse Erscheinungen wahrnehmen. Dieser Gegensatz bleibt sich im wesentlichen gleich, ob wir bei den objektiven Religionen an lediglich »kultische« oder aber an sittliche, u n d bei den anderen an wesentlich naturhaft-orgiastische oder verfeinerte spiritualistische Mystik denken. I n der sittlichen Religion wird jene Grenze noch verschärft durch das Bewußtsein der Schuld u n d in der höheren Mystik jene Unmittelbarkeit noch erhöht bis zum Bewußtsein ereignisloser I d e n t i t ä t . Eine Vermittlung dieses Gegensatzes aber k a n n es n u r geben als scheinbare, d . h . als Abschwächung, oder Abwechslung. E s könnte eine wahre Vermittlung beider n u r in einem Geschehen geben, das nicht mehr Religion heißen könnte, nämlich in einer persönlichen Selbstmitteilung Gottes, die weder mystisches Erleben noch kultische oder sittliche Leistung des Menschen, weder unpersönliche Grenzaufhebung noch menschliche Sühnehandlung wäre, sondern göttliche Sühnehandlung als göttliche Selbstmitteilung. D a v o n aber k a n n die Religion nichts wissen, weil darin die Religion — in beiderlei Sinn — aufgehoben würde. Es ist das Wesen der C h r i s t u s o f f e n b a r u n g , d a ß in ihr die Grenze, der Abstand zwischen Mensch u n d Gott zugleich in unerhörter Weise aufgedeckt wird in der Offenbarung des göttlichen Zorns über die menschliche Sünde, u n d zugleich aufgehoben wird in der Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes gegen den Sünder, der durch göttlichen Spruch, trotz seiner Sünde, als mit Gott geeint erklärt wird, in der sühnenden Mittlertat Gottes selbst. Wir können n u n wohl darlegen, wie das, was die subjektive u n d die objektive Religion, jede im Gegensatz zur anderen, meinen, im christlichen Offenbarungsglauben in p a r a d o x unbegreiflicher Weise ausgesagt ist; aber ob diese Aussage wahr ist u n d was sie anders als begrifflich, nämlich existentiell-persönlich bedeutet, das können wir allerdings nicht wissenschaftlich zeigen. Wenn es ein gemeinsames »Wesen der Religion« ü b e r h a u p t nicht gibt, wie k o m m t es denn, daß wir t r o t z d e m diese beiden Erscheinungen u n t e r den gemeinsamen Begriff »Religion« zu subsumieren v e r m o c h t e n ? Es ist kein Zufall, daß das Problem »Wesen der Religion« auf christlichem

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Boden erwachsen ist. Denn nur vom christlichen Glauben aus, der über dem Gegensatz der subjektiven und objektiven Religion liegt und — wie noch gezeigt werden soll — nicht mehr unter den Begriff Religion fallen kann, können, allerdings indirekt, jene zwei disparaten Erscheinungen zusammengefaßt werden, aber freilich nur so, daß die E i n h e i t n i c h t in i h n e n , sondern in einem a n d e r n Hegt, während zwischen ihnen ein Verhältnis gegenseitiger Ausschließung statthat. Wir können den Gegensatz von mystischer und objektiver Religion verstehen als Spaltung, als Zerfall der Wahrheit, aber wir können dies nicht von uns aus, nicht durch einen spekulativen oder empirischen Allgemeinbegriff von Religion, sondern nur von einem Standort aus, der nicht der unsere ist, sondern der der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus. Die subjektive wie die objektive Religion sind »Teilwahrheiten«, die, weil sie zugleichDef o r m a t i o n e n der Wahrheit sind, nicht zusammengesetzt werden können. Die Deformation der objektiven Religion — wir sprechen nun vom christlichen Glauben aus, als dem einzigen Punkt des Verstehens — ist das falsche Gegenüberverhältnis, die P a r t n e r s c h a f t von Gott und Mensch, die sich vor allem darin ausdrückt, daß das Handeln nicht an Gott selbst, sondern an einem von ihm abhängigen Zweck orientiert ist. Diese Deformation ist nicht etwa bloß die kultische; sie ist in der sittlichen Religion nicht geringer, sondern noch größer als in der kultischen. Darum ist der christliche Glaube an dem Unterschied von kultischer und sittlicher Religion nicht interessiert 1 ). Daß die s i t t l i c h e Leistung verdienstlich sei, daß das Heil vom Tun des Menschen abhängig sei, ist keine geringere Yerkehrung der Wahrheit als das Abstellen auf kultische Leistungen, sondern, gerade in der Annäherung an die Wahrheit, desto gefährlichere Unwahrheit. Die Deformation der subj ektiv mystischen Religion istdasNichtsehen der w i r k l i c h e n Grenze zwischen Gott und Mensch, der Grenze zwischen der sündigen Kreatur und dem heiligen Schöpfer. Die Mystik überspringt beides durch ihre Unmittelbarkeit. Sie gleicht darin dem spekulativen Idealismus, der ja überhaupt ihr gedankliches Korrelat ist. Sündenschuld, ernst verstanden, heißt unwiderbringlich zerstörte Unmittelbarkeit, die nur durch göttliches Eingreifen, göttliche Mittlertat wieder hergestellt werden könnte. In beiden Fällen ist also die Deformation in der Religion — der objektiven wie der subjektiven — der V e r s u c h des Menschen, von sich aus d a s , was dem Leben f e h l t , zu e r g ä n z e n , sei es durch Inanspruchnahme der Götter, oder durch Sichhineinversetzen in die göttliche Zone. In beiden Fällen handelt es sich um ein Nichternstnehmen der wirklichen Existenznot, der realen Kluft zwischen Gott und Mensch. Diese Kluft ist erst dort erkannt, wo 1 ) Man denke etwa an den Hebräerbrief, in dem Christus gerade als Erfüllung der k u l t i s c h e n Religion erscheint.

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man eingesteht, daß diese » I n t e g r a t i o n « n u r d u r c h g ö t t l i c h e T a t geschehen könne, durch eine reale Beseitigung des als real erkannten Hindernisses, dadurch, daß Gott selbst das tue, was der Mensch tun sollte. Also kann dies auch nur da zur Erkenntnis kommen, wo dieses Selbertun Gottes wirklich geschieht — da j a eine bloße Idee eine Lösung vom Menschen aus wäre — und wo es umgekehrt erst vermöge dieses Geschehens zur rechten Erkenntnis jener wirklichen L a g e zwischen Mensch und Gott kommt. Erst hier ereignet sich der Glaube an die göttliche R e c h t f e r t i g u n g d e s S ü n d e r s , von der keine Mystik weiß, weil sie die Gnade n i c h t g l a u b e n , s o n d e r n e r l e b e n will, oder — was dasselbe ist — weil sie nichts weiß vom Mittler. Hier aber, im Glauben an die Rechtfertigung, h ö r t a u c h d i e R e l i g i o n a u f , weil der Mensch auch seine Frömmigkeit, seine Religiosität, alles was er empirisch auch als Frommer ist, tut und hat, unter das göttliche Gericht gestellt weiß und nicht von ihm das Heil erwartet — wie der Mystiker von seinen Gnadenerlebnissen, oder der Religionsmann von seiner guten Gesinnung —, sondern trotz ihnen von Gott. Das ist d i e K r i s i s a l l e r R e ligion. Zugleich auch ihre E r f ü l l u n g . Denn nach dieser Lösung — nach der wirklich göttlichen Hilfe — ruft alle Religion. Daß in der Religion dieses Bewußtsein des Mangels, den nur Gott selbst ausfüllen könne, vorhanden ist, das ist trotz aller Verunstaltung dieses Bewußtseins die ungeheuer Bedeutung der Religion für das menschliche Leben. Religion als G o t t e s s e h n s u c h t ist das größte Menschliche, was es gibt. Religion aber als S t i l l u n g der Gottessehnsucht ist Flucht vor Gott, erschlichene Lösung, Umgehung des Gottesernstes und der eigenen Kapitulation. Darum ist Religion immer zugleich Trotz gegen Gott. Die höchste Religion hat ihn zum entscheidungsvollen Ausdruck gebracht. Der Offenbarer der Gottesgerechtigkeit ist das Opfer des R e l i g i o n s t r o t z e s geworden. Wenn irgendwo, so wird hier das zwiespältige »Wesen der Religion« offenbar: n u r i n d i e s e r K r i s i s w i r d i h r S i n n e r k a n n t . Da, wo der Mensch sich in seiner Gottesferne erkennt, da, wo er seiner humanitas in Wahrheit bewußt wird als seiner verlorenen Gottesnähe, dort, wo er erkennt, daß auch sein Bestes, seine Religion ihm nicht helfen kann, sondern ihn erst recht in die Not hineinbringt, dort wird das andere wieder vernehmbar, das wahrhaft Rettende. Und umgekehrt: nur wo dieses wahrhaft Rettende sich selbst ihm vernehmbar macht, ereignet sich auch jene Selbsterkenntnis. Darum geschieht es allerdings »im Innersten« des Menschen als etwas ganz und gar I n n e r l i c h e s . Auch der Christ kann sagen: die Subjektivität ist die Wahrheit (Kierkegaard), aber er weiß, daß diese Subjektivität nicht mehr die seine ist. E s ist jenes Geschehen, das nicht sittliche Gesinnung und nicht mystisches Einswerden ist und doch als neue sittliche Gesinnung und als Bewußtsein der Einheit mit Gott sich auswirkt: das inwendige Reden des

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»äußerlichen« Gotteswortes, der Heilige Geist. Die Lehre v o m Heiligen Geist ist die christliche A n t w o r t auf die F r a g e n a c h der W a h r h e i t des S u b j e k t i v i s m u s , die L e h r e v o n d e r Innerlichkeit, die ganz u n d gar n i c h t unser Eigenes ist. 3. D A S W A H R H E I T S M O M E N T D E S H I S T O R I S M U S : OFFENBARUNG UND RELIGIONSGESCHICHTE. D a ß unser J a h r h u n d e r t , vielleicht m e h r als irgendein anderes, so sehr des Geschichtlichen b e w u ß t ist, h a t wohl seinen G r u n d d a r i n , d a ß die Neuzeit u n t e r d e m Zeichen der G e s c h i c h t s e m a n z i p a t i o n s t a n d . D e r H i s t o r i s m u s d ü r f t e , psychologisch b e t r a c h t e t , vor allem R e a k t i o n sein gegen die A b s t r a k t h e i t , gegen den geschichtslosen R a t i o n a l i s m u s u n d I n d i v i d u a l i s m u s der letzten J a h r h u n d e r t e . E s gibt einen n a t u r h a f t e n oder i n s t i n k t i v e n Historismus d o r t , wo die Geschichte n o c h gar n i c h t als P r o b l e m gesehen wird, weil m a n ganz u n d gar i m Geschichtlichen, d . h . in der T r a d i t i o n der Vergangenheit u n d der B i n d u n g a n die G e m e i n s c h a f t l e b t . V o n diesem H i s t o r i s m u s , der erst i m Z u s a m m e n s t o ß m i t d e m rationalistischen I n d i v i d u a l i s m u s eine gewisse S e l b s t b e w u ß t h e i t erhält — in der Gestalt des »konservativen« P r o t e s t e s gegen allen »Radikalismus« —, soll hier n i c h t die R e d e sein. E s gibt eine zweite F o r m des Historismus, der n i c h t p r i m ä r T r a d i t i o n a l i s m u s ist, sondern das M o m e n t der T r a d i t i o n n u r i m Z u s a m m e n h a n g m i t einem a n d e r e n , ganz u n d gar n i c h t - i n s t i n k t h a f t e n , bewußt-geistigen w e r t s c h ä t z t : d e n absolutistischen Historismus der k a t h o l i s c h e n K i r c h e . I h r Prinzip ist n i c h t T r a d i t i o n u n d Geschichte, sondern die C h r i s t u s o f f e n b a r u n g . Sie ist vor allem eine Gestalt des christlichen Glaubens. Zwischen Katholizismus u n d P r o t e s t a n t i s m u s b e s t e h t zuerst f u n d a m e n t a l e E i n h e i t u n d gemeinsamer G e g e n s a t z : F u n d a m e n t a l e E i n h e i t i m B e k e n n t n i s zur einmaligen G o t t e s o f f e n b a r u n g in J e s u s Christus u n d Gegensatz gegen allen b l o ß idealistischen oder mystischen oder allgemein religiösen Offenb a r u n g s g l a u b e n . E r s t i n n e r h a l b dieser Gemeinsamkeit t u t sich der Gegensatz der beiden Konfessionen a u f , u n d das Prinzip dieses Gegensatzes i s t : der Historismus, das Traditionsprinzip. Die katholische Kirche stellt n e b e n die m i t dem P r o t e s t a n t i s m u s i h r gemeinsame N o r m , die Schrift, eine zweite: die T r a d i t i o n , d. h . n e b e n die einmalige die kontinuierliche O f f e n b a r u n g . Diese geschichtliche Größe ist realiter die Kirche. Sie wird d a d u r c h , d a ß sie (letztlich der P a p s t ) alleiniger Ausleger der Schrift ist, der p r i m ä r e n O f f e n b a r u n g s n o r m ü b e r g e o r d n e t . Die kontinuierlich-geschichtliche A u t o r i t ä t ist die t a t sächlich m a ß g e b e n d e ; das historische Prinzip h a t ü b e r das O f f e n b a r u n g s prinzip gesiegt. A u c h v o n diesem Historismus k a n n hier n i c h t weiter die R e d e sein. Vielmehr h a b e n wir es hier m i t d e m j e n i g e n Historismus zu t u n , d e m das geschichtliche W e r d e n die entscheidende T a t s a c h e f ü r alle W e l t - u n d

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Lebensdeutung geworden i s t : mit dem modernen r e l a t i v i s t i s c h e n H i s t o r i s m u s . Nicht aus der Geschichte als solcher, sondern aus einer b e s t i m m t e n Geschichtsauffassung erwächst dieser Historismus. Wir können diese Geschichtsauffassung 1 ) kurz dadurch bezeichnen, d a ß wir als ihre Erzeuger den romantischen Individualismus u n d den naturalistischen Evolutionismus nennen. Von der R o m a n t i k her h a t der moderne Historismus die Erkenntnis alles lebendigen Geschehens als eines individuellen. Nicht bloß einzelne Menschen, sondern auch Völker, Kulturen, Epochen, große Kulturkreise sind Individualitäten mit ihrer inneren organischen Einheit u n d Gesetzmäßigkeit, die zugleich ihr schöpferisches Wesen ist. Mit diesem romantischen Gedanken verbindet sich der durch das modern kausale Denken umgeformte heraklitische: alles Seiende, auch alles Lebendige ist in unablässiger V e r ä n d e r u n g begriffen, die selbst kausal zu erklären ist u n d vielleicht eine gewisse Richtung ( » E n t w i c k l u n g « ) innehält. Gelegentlich ist damit noch ein dritter Gedanke verbunden, der aber den Tendenzen des Historismus entgegenwirkt: die idealistische Auffassung vom Werden als S e l b s t e n t f a l t u n g der I d e e , die H e g e i s c h e Geachichtsphilosophie. Da eine solche nur in Verbindung mit — oder vielmehr als Ausfluß — der idealistisch absolutistischen Spekulation durchführbar ist, da nur von der Erkenntnis des absoluten Geistes aus die Geschichte als Entfaltung dieses Geistes gedeutet werden kann, und also mit einem relativistischen Historismus grundsätzlich unvereinbar ist, sehen wir von dieser Linie hier gänzlich ab.

Beide, der Individualismus u n d der Evolutionismus, f ü h r e n auf einen P u n k t h i n : auf die r e l a t i v i s t i s c h e S k e p s i s . Wenn alles fließt u n d wenn alles n u r individuell ist, wie sollte es da ü b e r h a u p t zu absoluten, allgemeingültigen Aussagen kommen ? Freilich ergeht es auch dieser Skepsis wie jeder a n d e r e n : sie m u ß es sich gefallen lassen, auf den in ihr liegenden Widerspruch a u f m e r k s a m gemacht zu werden. W e n n alles fließt, wenn nichts, was im Lauf der Geschichte a u f t a u c h t , absolute Gültigkeit h a t , so gilt das wohl auch von dieser Geschichtsauffassung — womit diese in sich zusammenfällt. Man k a n n auch diese Skepsis nicht l e h r e n , ohne komisch zu werden, da Lehre Gültigkeit u n d überindividuelle Wahrheit, die von der Zeit unabhängig ist, voraussetzt. W e n n alles fließt, k a n n auch kein Fließen mehr festgestellt werden. Das P r o b l e m der Geschichte k a n n nur von einem übergeschichtlichen P u n k t aus ü b e r h a u p t gesehen werden. Aber mit diesen allgemeinen Erwägungen über die Unmöglichkeit des Relativismus als Prinzip ist freilich das Problem des relativistischen ') Leider hat T r o e l t s c h in seinem großen Werk über den Historismus dieses Wort — entgegen dem Sprachgebrauch, der mit . . . ismus immer ein P r i n z i p bezeichnet — zur Bezeichnung aller um die Geschichte sich mühenden A r b e i t , also der Geschichtsforschung und der Geschichtsphilosophie, verwendet. Von dem, was wir Historismus nennen, d. h. vom Problem der Geschichtsrelativität aller Ideen, Werte und Glaubenserkenntnisse, handelt das Tröltschsche Werk nicht ausdrücklich, da der Historismus als P r i n z i p für T r o e l t s c h sozusagen axiomatische Geltung hatte.

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Historismus nicht gelöst. Denn der »Historist«1) wird allen abstrakten Überlegungen immer wieder das anschauliche Zeugnis der sich tatsächlich immer individuell und veränderlich darstellenden Geschichtswirklichkeit entgegenhalten. Es ist deshalb unvermeidlich, daß wir unserseits die Frage nach dem Wesen der G e s c h i c h t e stellen. Diese Überlegung wird für viele zu der überraschenden Entdeckung führen, daß hinter dem einfachen Wort: Geschichtstatsache, die schwierigsten Probleme stehen. Gehen wir aus von der Arbeit des Historikers, von dem wir in erster Linie Belehrung über Geschichtstatsachen erwarten, so sehen wir, daß er sich als erste Aufgabe stellt, den vollständigen »Film « und die vollständige »Grammophonplatte« der Vergangenheit zu rekonstruieren. (Daß schon diese Aufgabe nicht lösbar ist ohne beständige Anleihen in den »Wertgebieten«, möge hier außer acht gelassen werden.) Aber mit dieser Rekonstruktion des Erscheinungsbildes gibt sich kein Historiker zufrieden. Er will diese Erscheinungen auch sozusagen physiognomisch deuten: Er fragt nach ihrem Warum. Dieses Warum ist auch hier doppeldeutig: das Warum des Erklärens und das Warum des Yerstehens, das ursachund das sinnmeinende. Wenn alle Wissenschaften vom Astronomen und Geographen bis zum Religionssoziologen das ihrige zur E r k l ä r u n g eines geschichtlichen Phänomens, z. B. Piatons, beigetragen hätten, so wäre damit noch nichts geschehen zu seinem V e r s t ä n d n i s . Was man ursächlich erklärt, versteht man nicht — wie man umgekehrt das, was man versteht, nie erklären kann. Wir verstehen, was wir nicht zu »Ursache«, sondern zu »Sinn« in Beziehung zu setzen vermögen. Was Piatons Ideen z. B. »meinen«, bedeuten, verstehen wir nur, wenn wir von allen kausalen Veranlassungen absehen, ja sogar nur, wenn wir von der Person Piaton absehen, wie wir, um dem Vortrag eines Mathematikers folgen zu können, von allem Persönlichen, Psychologischen absehen müssen. Das Absehen von den Ursachen sowohl als von der Person bedingt das Wahrheitverstehen. Schon damit ist ein Element in unser Geschichtsbild eingetreten, das außerhalb jenes Kreises des Individuellen sowohl als des Veränderlichen liegt. Sofern wir überhaupt Geschichtliches verstehen, stehen wir außerhalb des Stromes, haben wir zu ihm ein übergeschichtliches, zeitloses Verhältnis. Aber das eigentlich Geschichtliche haben wir damit noch nicht getroffen. Was uns den Vorstellungskomplex erklärt »Piaton« (Ursachen, z. B. Rasse, Volk, Zeit usw.) ist ein A l l g e m e i n e s , der Ursachenzusammenhang, also gerade nicht Piaton. Was uns Piaton verstehbar macht, ist ein Allgemeines, der Sinnzusammenhang, die von der Person unabhängige Idealität, also nicht Piaton. Was ist denn Piaton, sein Reden und Handeln als das seine ? Die Romantik gibt hier die Ant*) Es versteht sich wohl von selbst, daß der Historist, der Vertreter des Historismus-Prinzips und der Historiker an sich miteinander nichts zu tun haben, wenn auch der Historismus unter Historikern vielleicht besonders häufig anzutreffen ist.

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w o r t : das ist das Geheimnis der Individualität. Aber es b r a u c h t n u r den Hinweis darauf, d a ß alles Lebendige, j a alles Seiende individuell ist, d a ß zwischen dem Individuum-Sein eines Baumes oder Vogels u n d dem eines Piaton n u r ein Grad-, nicht ein Wesensunterschied besteht, u m zu sehen, d a ß wir mit dem Begriff der Individualität gerade an das eigentlich Geschichtliche nicht herankommen. I n d i v i d u a l i t ä t i s t e i n N a t u r b e g r i f f ; Individualität ist grundsätzlich: Gegebenheit. E s mag schwer, vielleicht unmöglich sein, dieses Gegebene völlig zu entdecken, aber es ist doch, grundsätzlich, entdeckbar, v o r f i n d b a r , N a t u r . Der L e i b n i z s c h e Individualitätsbegriff ist allerdings ein wesentlich anderer, tieferer als der der Romantik, z. B. S c h l e i e r m a c h e r s . Für S c h l e i e r m a c h e r gilt der Satz principium individuationis est materia, und er spricht es immer wieder aus, daß auch geistige Individualität nur dadurch entstehe, daß der allgemeine Geist ins materielle Dasein eintrete und sich darin sozusagen breche. Für L e i b n i z dagegen ist Individualität im Schöpfungsakt Gottes begründet und schließt deshalb Ewigkeit nicht aus, sondern geradezu ein. Aber da diese Individualität metaphysisch, also nicht von der Anrede Gottes und der auf sie antwortenden Selbstbestimmung des Menschen her gedacht ist, ist auch sie ein — wenn auch geistig •— Gegebenes, Geistnatur. Sofern sie erkannt werden kann, kann auch sie deshalb nur aus dem Allgemeinen erkannt werden, als K o n k r e t i o n d e s A l l g e m e i n e n , wenn auch im Unterschied zur romantischen, als Konkretion von metaphysisch ewigem Bestand. So weit sie verstanden werden kann und nicht als Geheimnis des Gerade-so-Seins jenseits alles Verstehens bleibt, ist sie aus dem Allgemeinen der Idee, als deren Spezifikation, nicht aber als »Tathandlung« oder S e l b s t b e s t i m m u n g zu verstehen. Geschichte ist darum auch von hier, von Leibniz aus, anschauliche Fülle geistigen S e i n s , wenn auch in der Zeit ausgebreiteten Seins. Es fehlt auch hier das Wesentliche der Geschichte: die Tat, die Entscheidung, das Ich als eines, das sich selbst bestimmt in Beantwortung des göttlichen Du, von dem es durch Anruf geschaffen wird. Auch bei Leibniz ist darum der Mensch nicht wesentlich als Mensch, sondern nur als Konkretion des Allgemeinen erfaßt. Wir wissen jetzt (nach dem S. 40 Ausgeführten), warum: weil er a u c h h i e r m e t a p h y s i s c h , n i c h t g l a u b e n s m ä ß i g erfaßt ist.

Piaton ist noch etwas ganz anderes als Individuum. Als Individualität ist er erst q u a n t i t a t i v b e s t i m m t . E r ist das große Genie, das mehr Elemente der Wahrheit, der Schönheit, der geistigen K r a f t usw. in sich schloß als andere Menschen der A n t i k e ; er ist erst eine ganz e i n z i g a r t i g e M i s c h u n g dessen, was alle anderen auch sind, in ganz einzigartigen Proportionen. Aber er ist d a m i t ü b e r h a u p t noch nicht als Mensch, d. h. als Geschichtssubjekt b e s t i m m t . Piaton ist mehr als I n d i v i d u u m , er ist Mensch, P e r s ö n l i c h k e i t , e r e n t s c h e i d e t s i c h . Nicht das Individuelle, sondern das Persönliche ist erst das w a h r h a f t Geschichtliche. Dieses aber ist nicht, wie die Individualität, eine — wenn auch schwer zu erfassende — Gegebenheit, sondern d a s g r u n d s ä t z l i c h N i c h t g e g e b e n e . Persönliche Entscheidung ist nicht wie Individualität geheimnisvolle Kombination von Seinselementen, sondern von allem, was wir so als Allgemeines uns denken können, grundsätzlich verschieden: göttliche Schöpferanrede u n d menschliche Entscheidungsantwort. Individualität wird v o m Schöpfer g e m a c h t , sie ist E t w a s . Persönlichkeit

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wird v o m Schöpfer angesprochen als D u . Der Mensch wird ins Dasein g e r u f e n . U n d d a r u m vollzieht sich sein Leben nach seiner spezifisch menschlichen, w a h r h a f t geschichtlichen Qualität als e n t s c h e i d u n g s v o l l e A n t w o r t auf diesen Ruf 1 ). Höher als alle Individualität steht die Verantwortlichkeit, die in ihr gegründete Freiheit, die jeden Moment des Lebens zur Entscheidung m a c h t . Dieses w a h r h a f t Geschichtliche aber wird von keinem Historiker mehr erfaßt. Zwar sucht auch er das w a h r h a f t Geschichtliche in jener Richt u n g . E r deutet als guter Physiognomiker die Erscheinungen der Geschichte nicht als individuelle Gegebenheiten, sondern als facta, res gestae, T a t e n . J e nachdem Historie diesem P u n k t sich n ä h e r t oder f e r n b l e i b t , ist sie »tief« oder »oberflächlich«. Aber das eigentlichGeschichtliche fällt außerhalb auch der tiefsten Historie. Was der Historiker sieht, ist nie das eigentlich Geschichtliche, die Entscheidung selbst, sondern immer n u r die jener Entscheidung mehr oder weniger n a h e N a c h g e s c h i c h t e . E r sieht, im Gleichnis gesprochen, den v o m Blitz getroffenen, vielleicht den u n t e r dem Blitzschlag zusammenkrachenden B a u m , aber niemals den Blitzschlag selbst. E r sieht die Rauchwolken u n d den Lavastrom, aber nicht den ausbrechenden K r a t e r . Was wir Geschichte nennen, ist immer bloß Außenseite, immer noch Mimik, die erst der D e u t u n g h a r r t , auch f ü r den Historiker, der den Genius Shakespeares mit dem Wissen Rankes verbände. D e n n d i e E n t s c h e i d u n g ist grundsätzlich Geheimnis, das niemand v e r r ä t , w e i l n i e m a n d es k e n n t — auch nicht der Autobiograph. Denn wir selbst sind uns in unserer Entscheidung Rätsel. Wir wissen, daß die Entscheidungen, die unser persönliches Leben ausmachen, nicht die letzte persönliche Realität sind. Wir wissen — schon als kritische Philosophen (vgl. K a n t ! ) können wir etwas davon wissen —, daß das Leben, als T a t aufgefaßt, nicht aus Stücken besteht, sondern eine Einheit ist. Die sittliche Persönlichkeit ist, auch in ihrem widerspruchsvollen Char a k t e r , eine Tat-Einheit. J e d e ihrer Entscheidungen fließt aus einer tieferen grundlegenden Entscheidung her. Sie sind, ohne aufzuhören E n t scheidungen zu sein, zugleich Folgen einer einzigen Entscheidung, die nicht in einem zeithchen Sukzessionsverhältnis, nicht als zeitliches prius zu ihnen gefaßt werden kann, u n d doch ihr prius, ihr Grund ist. Wie die Tausende von Noten einer P a r t i t u r e i n e n musikalischen Gedanken ausdrücken, so sind alle unsere Einzelentscheidungen zugleich Ausdruck einer Urentscheidung, die sie alle t r ä g t oder erzeugt — als Entscheidungen —; eine Urentscheidung, die eben d a r u m , weil sie in kein zeitliches Schema eingefangen werden k a n n , auch außerhalb aller psychologischen W a h r n e h m u n g , auch der Selbstwahrnehmung, liegt. Denn jene Entscheidung, die unsere tiefste Wirklichkeit ist, ist zugleich unsere tiefste U n w a h r h e i t . Wir tragen alle eine Maske. Wir Siehe mein »Die Mystik und das Wort« (S. 94f.).

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wissen es, aber wir wissen n i c h t m e h r , was eigentlich h i n t e r der Maske w ä r e . Die Geschichte in d e m u n s b e k a n n t e n Sinn ist die Maskerade, wo j e d e r seine R o l l e spielt. Keiner, der ohne Maske über die W e l t b ü h n e schreitet — a u c h n i c h t der Ehrlichste, u n d keinesfalls der Verfasser v o n K o n f e s s i o n e n ! K e i n e r , der sich die Maske a b n e h m e n k ö n n t e . E s gehört z u m C h a r a k t e r j e n e r U r e n t s c h e i d u n g — i n der wir alle gleich u n d d u r c h die wir alle so elend ungleich geworden —, d a ß m a n sie, n a c h d e m sie e i n m a l geschehen ist, n i c h t m e h r sehen k a n n . D e n n sie ist Lüge u n d s c h a f f t Finsternis, wie sie a u c h zugleich z u m Schicksal wird — n ä m l i c h zur N o t w e n d i g k e i t , sich f o r t a n ihr e n t s p r e c h e n d entscheiden zu müssen. E s ist die E n t s c h e i d u n g , die n u r als A n t w o r t auf j e n e göttlich gnädige A n r e d e R e a l i t ä t h a t — in der also unsere h ö c h s t e S c h ö p f u n g s w ü r d e z u m A u s d r u c k k o m m t — u n d die doch zugleich den Verlust dieser göttlichen N ä h e u n d W ü r d e b e d i n g t : die Sünde. Die Loslösung v o m U r s p r u n g des Lebens ist zugleich Loslösung v o n der Freiheit u n d von der W a h r h e i t : die n i c h t m e h r zu beseitigende M a s k e als unsere »persona«. N u r v o n hier, v o n der »Urgeschichte« aus, ist der allgemeine C h a r a k t e r der Geschichte ü b e r h a u p t zu e r k e n n e n . Der K e r n aller Geschichte ist diese »Urgeschichte«, deren raumzeitliche E r s c h e i n u n g das ist, was der H i s t o r i k e r als »Geschichte« u n s e r z ä h l t . Ein unmißverständliches Wort für das hier Gemeinte gibt es nicht. Wenn wir es mit »Urgeschichte« bezeichnen und damit die Verwechslung mit der Urgeschichte im chronologischen Sinn heraufbeschwören, so glauben wir dafür doch gute sprachgeschichtliche und sachliche Rechtfertigung zu haben. In ähnlichem Sinn hat Goethe von der »Urpflanze« gesprochen und damit etwas gemeint, was, obwohl Wirklichkeit, nicht in das kausal-zeitliche Entwicklungsschema einzuordnen ist. Die Entstehung der Formen ist im wesentlichen kein empirisches, sondern ein »Ur-geschehen«; ja es scheint, daß auch die exakte Wissenschaft auf ein Geschehen jenseits der raumzeitlichen Kausalwelt, also auf Ur-tatsachen, als letzte Data aller physikalischen Vorgänge rekurrieren muß. Von U r - g e s c h i c h t e können wir aber nur dort sprechen, wo es sich um persönliche Entscheidung, und das heißt: u m Antwort auf die göttliche Anrede handelt. Von jenen anderen » U r t a t s a c h e n « können wir als von E t w a s metaphysisch reden; von U r g e s c h i c h t e nur als Mitbeteiligte, selbst Angesprochene, d. h. im Glauben. Darum kann das »Urgeschichtliche« nicht historisch-psychologisch wahrgenommen, sondern nur g e g l a u b t werden.

Die Geschichte ist ein Mittleres zwischen S i n n h a f t i g k e i t u n d Sinnlosigkeit, zwischen Vergänglichkeit u n d E w i g k e i t . Die N a t u r h a t keine Geschichte; es ist ein M i ß b r a u c h des W o r t e s , v o n N a t u r g e s c h i c h t e zu r e d e n . Geschichte ist das Gebiet der H u m a n i t ä t ; n u r der humanus ist geschichtsfähig. H u m a n i t ä t aber ist v e r d e r b t e Gottesebenbildlichkeit, wissendes Nichtwissen, sehnsüchtiges Fliehen. Alle K u l t u r — i m t i e f s t e n wie im oberflächlichsten Sinne — h a t dieses Doppelgesicht: Ewigkeitsf l u c h t u n d Ewigkeitssehnsucht. D a r u m ist die zynisch-realistische Auff a s s u n g der Geschichte — e t w a der Geschichtsmaterialismus — ebenso w a h r u n d ebenso falsch, wie die ideologisch-idealistische. Die eine sieht in der Geschichte bloßes K a u s a l g e s c h i e b e , also »Zufall«, die

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andere lauter Teleologie, Sinnganzes. In Wahrheit besteht die Geschichte aus Sinnfragmenten, wobei das Wort Fragment wörtlich mit B r u c h - s t ü c k zu übersetzen wäre. Geschichte ist nur zu verstehen als Losbruch v o m wirklichen Sinn. Nur so gewinnen wir den Zugang zu ihren Zentralproblemen, zu jenem v o r allem, das tiefer liegt als alle anderen, das das eigentliche Geschichtsproblem ist: das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Durch den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Geschlecht — und zugleich: durch die Trennung des Einzelnen v o m Geschlecht — gibt es Geschichte. Es ist das Spezifische des Wesens humanus, daß dasselbe, was ihn zum Angehörigen seiner Gattung (humanitas) macht, ihn zugleich zum Einzelnen und Selbstzweck macht. A n der humanitas teilhaben, heißt an der Bestimmung teilhaben, Person, nicht Gattungswesen zu sein. Die Geschichte zeigt uns ein weder aus biologischen Ursachen noch aus ideellen Zwecken begreifliches sich Suchen und Fliehen von Einzelnem und Gemeinschaft. Alle Geschichte ist der Versuch einer Integration (Redintegration) des Desintegrierten und zugleich eine fortschreitende Desintegration (man denke an die rationale Emanzipation). Es scheint dem geschichtlichen Menschen unmöglich zu sein, sein Verhältnis richtig zu bestimmen ohne falsche Losreißung und ohne falsche Bindung an die Gemeinschaft. Darum besteht die Geschichte vornehmlich in einer beständigen Herstellung und Auflösung von Gemeinschaftsgebilden, die immer zugleich Leben und Tod bedeuten. Das alles ist »Vordergrund«, »Nachgeschichte«, nicht »Urgeschichte«. Wir wissen gar nicht mehr um das rechte, das »ursprüngliche« Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. So wie wir uns gegenüberstehen, ist Einzelheit und Kollektivität immer schon deformiert und darum nie mehr zusammenzusetzen ohne Vergewaltigung des einen oder anderen. Die Urentscheidung, die das Real-a priori aller Geschichte ist, die wahrhaft fatale Urgeschichte, die Loslösung v o m Lebensgrund, ist auch Zerstörung der Urgemeinschaft, Loslösung v o m Gemeinschaftsgrund, Zerfall in falsch-selbständige Einzelfiguren. Auch das Einzelfigursein im jetzt uns bekannten Sinn gehört zur Maskerade der Geschichte, wofür besonders unsere Zeit, die nun ein Jahrhundert lang die Persönlichkeit als das »höchste Glück der Erdenkinder« verehrt hat, nachgerade einiges Verständnis gewonnen haben dürfte. Darum gibt es k e i n e E i n h e i t d e r G e s c h i c h t e und keine Möglichkeit, sie aus der Einheit zu verstehen, d. h. k e i n e m ö g l i c h e G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . Philosophie ist Deutung aus der Einheit, aus dem Allgemeinen, aus dem Prinzip. Der Begriff der Weltgeschichte als Einheit ist ein Bastard aus christlichem Glauben und Rationalismus. Der christliche Glaube weiß nichts von Weltgeschichte im Sinn einer Einheit. Seine Einheit ist nicht die geschichtliche, sondern die »urgeschichtliche«, die zugleich die »endgeschichtliche« ist: d. h. die Geschichte nicht in ihrer

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immanenten Selbstbewegung, sondern in ihrer — ins profane Geschichtsbild gar nicht einreihbaren — Beziehung zum Schöpfer- und Erlösergott. Nicht der Verlauf der Geschichte als solcher ist von Interesse, nicht die in ihm waltende, sei's kausale oder teleologische, immanente Gesetzmäßigkeit, sondern das Aufblitzen des Hintergeschichtlichen in der Geschichte, das sich Geltendmachen dessen, was seinem Wesen nach die Geschichte aufhebt: der göttlichen Offenbarungsrealität. Es ist dieser dritte »mittlere« Punkt der Urgeschichte, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, dieses nicht wahrnehmbare, sondern nur glaubbare Geschehen zwischen Schöpfung und Fall einerseits und der Erlösung aus der Geschichte anderseits, durch welches uns das Reden von »Urgeschichte« überhaupt möglich ist. Der christlich Glaubende sieht die Geschichte als ein Zwischenreich, ein Gemisch von unbestimmbarem Charakter, das aber durch die Ur-End-Geschichte, die in der Mitte aufleuchtet, blitzartig erhellt wird. Dort, im Christus, ist der Sinn und der Unsinn der Geschichte, dort ihre Schöpfungseinheit und sündige Zerfahrenheit, dort ihre Gottbezogenheit und Gottesferne, dort ihr Anfang und ihr Ende außerhalb der Geschichte sichtbar. Darum ist auch einzig von dort aus ihre innerste Linie, die R e l i g i o n s g e s c h i c h t e , zu verstehen. Die Religionsgeschichte ist darum die innerste, die Religionen sind darum die Seele jeder Kultur, weil in der Religion dem Menschen etwas vom Sinn-Unsinn des Lebensganzen und der geschichtlichen Existenz aufgeht, weil er dort am deutlichsten den Riß im Dasein, die offene Wunde, das Leid und Unrecht der jetzigen Existenz empfindet. Dort merkt der Mensch etwas davon, daß er an Gott krank ist und daß in Gott allein die Heilung läge. Die Religion als das Gottesbewußtsein ist die Stelle am Menschheitsleib, die der ursprünglichen Gotteseinheit, aber auch der »Bruchstelle« am nächsten liegt. Darum ist die Religion in ihrer Geschichte dasjenige Menschliche, das mit der Offenbarung in der engsten Beziehung steht. S ö d e r b l o m hat als Vertreter des modernen historischen Denkens den Satz aufgestellt: die allgemeine Religionsgeschichte sei für uns an die Stelle der theologia naturalis getreten. Wir glauben allerdings, daß das Problem der alten theologia naturalis: Vernunft und Offenbarung, noch das theologische Zentralproblem sein wird, wenn das andere: Religionsgeschichte und Offenbarung längst aufgehört haben wird uns zu brennen, da es kein wirklich existentielles, sondern ein rein theoretisches ist — es sei denn etwa im Kampf zwischen christlichem Glauben und Mystik. Aber soweit dürfte S ö d e r b l o m recht haben: daß im gegenwärtigen Moment das Problem der Religionsgeschichte allerdings im Vordergrund der Diskussion steht. Die Neuheit dieser Fragestellung beruht vor allem darauf, daß erst neuerdings der christliche Glaube mit den höchsten Religionsbildungen des Orientes in stärkere Berührung gekommen ist, während die Theologen älterer Zeit sich nur mit den relativ niedrigstehenden Religionssystemen der klassischen Antike und mit den zwar geistig hochstehenden, aber religiös wenig kraftvollen Gestaltungen der spätantiken Religionsphilosophie sich auseinanderzusetzen hatten. Ferner ist uns durch die moderne Religionswissenschaft eine solche Fülle religiöser Tatsachen bekannt geworden, daß sich die Idee einer mehr oder weniger lückenlosen Kontinuität der Religionsstufen aufdrängt, die die Möglichkeit bietet,

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einerseits dem Christentum den höchsten Rang zu sichern, anderseits es doch ganz in den allgemeingeschichtlichen Zusammenhang hineinzurücken. Seit H e r d e r , H e g e l und S c h l e i e r m a c h e r ist dieses Schema einer allgemeinen Geistesentwicklung, in die auch »die christliche Religion« eingereiht wird, zu einer Art wissenschaftlichem Axiom geworden, das der, der auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erhebt, einfach zu akzeptieren habe. Der Theologie ist diese idealistische These dadurch mundgerecht gemacht worden, daß der Begriff der Religionsindividualität auch »die Eigenart« des christlichen Glaubens zu ihrem Recht kommen zu lassen schien.

Mit dem christlichen Offenbarungsglauben ist die moderne r e l a t i v i s t i s c h e S t u f e n t h e o r e t i e , gemäß der die »christliche Religion« lediglich eine Phase, vielleicht auch der Gipfel der allgemeinen Religionsgeschichte wäre, ebenso unvereinbar wie die religionsphilosophische Deutung der Offenbarung überhaupt, die ihr zugrunde liegt. Mit Offenbarung meint der christlich Glaubende etwas grundsätzlich anderes als eine individuell-eigenartige Ausprägung des allgemeinen Wesens der Religion. Der romantische Begriff der Individualität, den erstmalig Schleiermacher mit dem der Offenbarung identifiziert hat, steht zu dem der Offenbarung nicht im Verhältnis der Gleichheit oder auch nur der Verwandtschaft, sondern des Gegensatzes. Der christliche Glaube ist unzertrennlich von dem dem heutigen Bildungsmenschen schwer erträglichen Bekenntnis, daß die Christusoffenbarung aller Religion gegenüberstehe, nicht wie eine Individualität den anderen Individualitäten derselben Spezies, sondern als ein a n d e r e s Genus, nämlich wie die Gotteswahrheit dem Wahrheitssuchen des Menschen, wie die Antwort der Frage gegenübersteht. Darum ist mit dem christlichen Glauben, also mit dem theologischen Standpunkt im Unterschied zum religionsphilosophischen, ohne weiteres die Behauptung gesetzt, daß die Christusoffenbarung ihrer Offenbarungsqualität nach — nicht etwa als profangeschichtlich wahrzunehmendes Phänomen — ebenso außerhalb der Religionsgeschichte stehe als außerhalb der Vernunft, wobei von vornherein zu vermuten ist, daß auch hier dieses »außerhalb« eine nur dialektisch zu fassende Doppelbeziehung bedeute. Man kann von der Christusoffenbarung nicht aussagen was der Glaube aussagt, ohne damit zugleich diese Abgrenzung vollzogen zu haben, wie schon im ältesten christlichen Zeugnis mit dem Christusbekenntnis das andere verbunden ist: es ist in keinem andern das Heil (s. o. S. 21). Nur im Glauben selbst ist jenes Bekenntnis und darum auch diese Abgrenzung begründet. Eine wissenschaftliche Begründung dafür zu fordern, wäre ebenso töricht, als einen wissenschaftlichen Beweis für die Offenbarung selbst zu fordern. Daß Jesus etwas anderes sei als ein großer Religionsstifter wie Buddha, Zarathustra oder Mohammed, kann wissenschaftlich ebensowenig bewiesen werden, als daß er der Gottessohn sei. Würde es bewiesen, so würde damit etwas ganz anderes bewiesen als der Glaube meint. Was aber von einer wissenschaftlichen Untersuchung gefordert werden kann und soll, ist der Nachweis, daß allerdings die Struktur, der Handb. d. Phil. II.

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innere Sinn u n d Zusammenhang der religionsgeschichtlichen Erscheinungen eine derartig v o m christlichen Offenbarungsglauben verschiedene ist, d a ß schon aus wissenschaftlichen Gründen jene B e h a u p t u n g einer K o n t i n u i t ä t sich als eine willkürliche, den Tatsachen nicht entsprechende Konstruktion erweist. E s k a n n vielleicht im weiteren wenigstens ein Versuch einer christlich theologischen D e u t u n g dieser religionsgeschichtlichen Phänomene erwartet werden, der zwar v o m Wissenschafter wegen seiner besonderen Voraussetzungen nicht ohne weiteres a n e r k a n n t , aber jedenfalls auch nicht aus wissenschaftlichen, sondern n u r aus allgemeinen Weltanschauungsgründen abgelehnt werden k a n n . Wenn wir dabei a n die alte Lehre v o m Logos aneqiianxoi; in gewisser Weise anknüpfen, so ist vor allem nötig, d a ß wir den Sinn, in dem das geschehen soll, von dem Gebrauch, den die Aufklärung u n d der Idealismus von diesem Begriff gemacht haben, deutlich u n d grundsätzlich unterscheiden. Wir nehmen den Ausgangspunkt von vornherein in der Christusoffenbarung. Von ihm, dem fleischgewordenen Logos aus allein, können wir die »Teilwahrheiten« der Religionen u n d den »Teilsinn« der religionsgeschichtlichen Entwicklungen erkennen, wie m a n allein von der Spitze einer P y r a m i d e aus ihre sämtlichen P u n k t e überschauen k a n n . C h r i s t u s — das wäre die erste These — ist d i e E r f ü l l u n g aller Religion. Aber diese erste, f ü r sich allein genommen, wäre falsch, wenn sie nicht sogleich durch eine zweite ergänzt w ü r d e : Christus ist auch d a s G e r i c h t aller Religion u n d ihrer Geschichte. An ihm wird ebenso wie die Wahrheit auch die Falschheit aller Religion erkennbar, wie nirgends sonst. Es gibt keine stetige Annäherung an i h n ; vielmehr bedeutet alle A n n ä h e r u n g z u g l e i c h e i n e E n t f e r n u n g . Gerade d a f ü r zeugt die Religionsgeschichte, auch wenn m a n sie bloß phänomenologisch-neutral mit dem christlichen Glauben vergleicht. Sie zeigt nicht bloß eine Hinentwicklung zur »christlichen Religion«, sondern gerade auf ihren Höhep u n k t e n eine ebenso entschiedene Wegentwicklung. Das neuerdings aufgestellte »Gesetz der Parallelen« erweist sich bei näherer P r ü f u n g ebensosehr als eine leere Konstruktion wie der Begriff »Wesen der Religion«. Nirgends ist der G e g e n s a t z gegen den christlichen Glauben — zugleich mit einer unverkennbaren Annäherung — so stark wie auf den anerk a n n t e n H ö h e p u n k t e n der allgemeinen Religionsgeschichte. J e n e Frage des Apostels: »ist denn Christus zerteilet?« m u ß in der T a t f ü r die Religionsgeschichte b e j a h t werden. Jawohl, gerade das ist der SinnUnsinn der Religionsgeschichte, daß in ihr Christus so »zerteilet« ist, d a ß diese Teile niemals zu einem Ganzen zusammengesetzt werden können. Wir greifen n u n m e h r auf das im vorigen Kapitel Ausgeführte zurück; n u r legen wir diesmal nicht einen Querschnitt, sondern einen Längsschnitt durch die Religionsgeschichte. Sind wir einmal a u f m e r k s a m geworden auf den unüberwindlichen Gegensatz zwischen der »objektiven« u n d der »subjektiven« Religion, so stellt sich uns die ganze Religions-

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geschichte d a r u n t e r d e m Bild eines B a u m e s m i t zwei S t ä m m e n , die wenig ü b e r d e m B o d e n aus einer gemeinsamen W u r z e l — d e m historischen A n f a n g der Religion — a u s e i n a n d e r s t r e b e n u n d sich i m H ö h e r w a c h s e n i m m e r weiter v o n e i n a n d e r e n t f e r n e n . Die F r a g e n a c h d e m historischen U r s p r u n g der Religion s t e h t , seitdem die naturalistisch-positivistische Theorie sich ü b e r l e b t h a t , n i c h t m e h r i m Z e n t r u m des Interesses. F ü r die F r a g e n a c h einem »Wesen der Religion« ist o f f e n b a r aus den p r i m i t i v e n A n f ä n g e n der Religionsgeschichte n i c h t viel Belehrung zu e r w a r t e n . Dagegen gewinnt gerade diese F r a g e v o m christlichen Glauben aus paradoxerweise wieder ein höheres I n t e r e s s e : I n gewisser Weise s t e h t der christliche Glaube den p r i m i t i v e n Religionen n ä h e r als j e d e r der »höher« entwickelten. D a s Kindliche s t e h t a u c h hier als Gleichnis — w e n n a u c h n u r als Gleichnis! — der göttlichen W a h r h e i t a m n ä c h s t e n . H i e r , auf der p r i m i t i v e n Stufe, ist alles noch beieinander, was in der w e i t e r e n E n t w i c k l u n g a u s e i n a n d e r g e h t . Auseinandergehen m u ß — sagt der optimistische I d e a l i s m u s ; auseinandergehen m u ß u n d doch nie ause i n a n d e r g e h e n sollte — sagt der christliche Glaube. Hier i m primitivreligiösen Bewußtsein ist n o c h keine Scheidung des R a t i o n a l e n u n d I r r a t i o n a l e n , des Religiösen, Sittlichen, Rechtlichen, Kulturellen u n d N a t ü r l i c h e n . Das m a c h t den Z a u b e r des P r i m i t i v e n aus, d a ß d a derMensch »noch« E i n h e i t ist. D u r c h diese — wie sehr a u c h kindliche, untergeistige — E i n h e i t ist das P r i m i t i v e vielleicht das b e s t e Gleichnis des »Ursprünglichen«, das zugleich das E n d g ü l t i g e ist, das in keiner geschichtlichen E n t w i c k l u n g , d u r c h keine i m m a n e n t e Geschichtslogik wiedergewonnen w e r d e n k a n n . Hier w o h n t d e n n a u c h allem Religiösen eine »numinose Realität«, ein f u r c h t b a r e r Wirklichkeitsernst inne, der i m L a u f der H ö h e r e n t w i c k l u n g i m m e r m e h r v e r d ü n n t wird. W i r sehen das nirgends deutlicher als in der E n t w i c k l u n g der G ö t t e r v o r s t e l l u n g e n . I n d e m sie, aus n a t u r h a f t e r Unpersönlichkeit sich herausentwickelnd, a n persönlicher Geistigkeit gewinnen, verlieren sie zugleich a n »numinoser R e a l i t ä t « . I n d e m die G ö t t e r aus ihrer sinnlichen Bes c h r ä n k t h e i t h e r a u s g e h o b e n werden — das wichtigste S y m b o l d a f ü r ist ihre Versetzung in den H i m m e l — werden sie a u c h ferner u n d u n w i r k licher. Das klassische Beispiel d a f ü r ist die homerische G ö t t e r w e l t , wo die »Vergeistigung« deutlich eine E i n b u ß e an realer L e b e n s m a c h t , a n » F u r c h t b a r k e i t « i m religiösen S i n n b e d e u t e t . D a r u m k a n n sich hier der mythologische Spieltrieb ihrer b e m ä c h t i g e n u n d sie i m m e r m e h r aus der religiös-existentiellen auf die ästhetisch-imaginäre S t u f e herabziehen. Dasselbe zeigt sich aber a u c h i m K u l t u s . E r verliert seine irrationale P o s i t i v i t ä t . Die G ö t t e r werden zu H ü t e r n bürgerlicher O r d n u n g e n , der G ö t t e r k u l t zu einem Teil des bürgerlichen Lebens. Der I n h a l t des K u l t u s — der zu befolgende Wille der G o t t h e i t — wird d e m bürgerlich Nützlichen a n g e n ä h e r t . E r verliert seine F r e m d h e i t , in der sich f r ü h e r v o r allem das »Ganz Andere« des Götterwillens a u s d r ü c k t ; er wird h u m a n F 5*

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u n d immer mehr identisch mit den Gesetzen des sozialen Zusammenlebens. Die Entwicklung strebt deutlich jenem P u n k t e zu, der in der Religion der A u f k l ä r u n g erreicht i s t : daß der göttliche Wille mit den sittlichen u n d natürlichen Gesetzen zusammenfällt. Sünde ist nicht mehr Frevel am göttlichen Eigentum, sondern Verstoß gegen bürgerliche Ordnungen. Der Gedanke des »Zornes Gottes« wird als anthropopathisch e m p f u n d e n ; die Gottheit verliert ihren Eigenwillen, sie wird zum Weltgesetz, der gute Bürger u n d der F r o m m e sind k a u m mehr zu unterscheiden. Jenes Gefühl, das in der primitiven Religion so mächtig i s t : d a ß das göttliche Leben ein Fremdes, Unbegreifliches, Gefährliches sei, weicht der Vereinerleiung von göttlichen u n d weltlichen Ordnungen. Vergeistigung heißt also hier: Rationalisierung im Sinn der Vernunftgesetzlichkeit oder Naturgesetzlichkeit. Sie bedeutet zugleich d a m i t Sicherung des geschichtlichen Bestandes. Das heißt a b e r : Vergeistigung ist E n t f e r n u n g v o n d e r O f f e n b a r u n g s r e a l i t ä t der göttlich-anderen, fremden Welt, Übergang zum rationalen I m m a n e n z b e w u ß t s e i n . Es ist d a r u m begreiflich, d a ß die Forschung, die nicht die rationalisierte, sondern die »eigentlich religiöse« Religion zu erkennen sucht, sich mit Vorliebe dem anderen Zweig, der M y s t i k als dem Gebiet des Irrationalen zugewandt h a t . Zunächst scheint j a hier der Verlauf ein ganz entgegengesetzter zu sein. J e höher die Mystik, desto deutlicher das Bewußtsein des Gegensatzes zum »Weltlichen«. Das Heilige ist Nicht-Welt, Nicht-Mensch, Nicht-Kultur, Nicht-Vernunft, j a sogar Nicht-Etwas. Es t r i t t also in schroffen Gegensatz zu allem gestalteten, bes t i m m b a r e n Sein, zu der Welt der Erscheinungen. Die Unterscheidung dieses » T h e o p a n i s m u s « vom »Pantheismus« h a t zunächst guten Sinn. Sie drückt den eigentlichen Sinn der Mystik aus, sofern diese sich gedanklich aussprechen will. Wenn R. O t t o , der auf die Unterscheidung zwischen Pantheismus und Theopanismus besonderes Gewicht legt, behauptet, daß diese beiden Größen die denkbar größten Gegensätze seien, so hat er recht und unrecht zugleich. Logisch sind sie es, tatsächlich aber gehen sie fiberall ineinander über. So nennt er z. B. S p i n o z a einen entschiedenen Theopanisten, B r u n o einen ebenso entschiedenen Pantheisten, und doch weiß jedermann, was Brunos Gedanken für Spinoza bedeuteten. Ganz dasselbe gilt auch für Indien. In der Bhagavadgita gehen die »theopanistischen« Gedanken unvermerkt in pantheistische über, man denke nur an jene berühmte Stelle: „Ich bin der Geschmack in den Wassern, das Licht in Mond und Sonne . . . der Wohlgeruch der Erde . . . das Leben in allen Wesen" usw. Das ist auch nicht verwunderlich. Der Satz beider Anschauungen lautet gleich, nur ist der Akzent verschieden: G o t t ist das All. Daraus ergibt sich der andere: a l l e s (was ist) ist »im Grunde« Gott.

Praktisch entspricht dieser theoretischen H a l t u n g die Abkehr von der Welt, die Indifferenz dem geschichtlich - kulturellen Leben gegenüber. Wie die Gottheit das Alleine ist, in dem alle besondere Wirklichkeit verschwindet, so ist die Frömmigkeit j enes mystische Erlebnis, das Gefühl des Versinkens im All, das als einziger Selbstzweck allen anderen Lebensformen gegenüber gleichgültig macht. Zur Mystik gehört d a s » d e r W e l t E n t w e r -

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d e n « des Einsiedlers, des Asketen, des Heiligen. Die Vergeistigung aus den r o h e n F o r m e n der N a t u r m y s t i k m i t ihren Rauscherlebnissen aller A r t hinaus zur sublimen G e i s t m y s t i k vollzieht sich einerseits in der Loslösung der Göttlichkeitsvorstellung v o n allem Zufällig-Einzelnen, in der H e r a u s b i l d u n g j e n e r m e h r u n d m e h r a b s t r a k t e n G o t t h e i t s i d e e , die n u r n o c h den s p e k u l a t i v V e r a n l a g t e n zugänglich ist. D a r u m ist geistige Mystik i m m e r hoch aristokratisch, wie die ihr v e r w a n d t e philosophische S p e k u l a t i o n , in die sie n a c h ihrer gedanklichen Seite m e h r u n d m e h r ü b e r g e h t . A b e r a u c h das »Erleben« wird sozusagen a b s t r a k t e r , losgelöst v o n zufälligen Rauschreizen, v o n ekstatischer E r r e g u n g . E s geht ü b e r in ruhige Mediation, V e r s e n k u n g in den G e d a n k e n oder die A n s c h a u u n g d e s A l l e i n e n . D e r E n d p u n k t der reinen Mystik ist die indisch-akosmistische A n s c h a u u n g s - u n d L e b e n s f o r m m i t ihrer K u n s t der W e l t e n t w e r d u n g , m i t ihrer völligen Abschließung v o m sozial-geschichtlichen Leben. Aber a u c h die n e u p l a t o n i s c h e , die persisch - arabische u n d sogar die — v o m kirchlichen L e b e n u n d D o g m a in ihrer reinen E n t f a l t u n g i m m e r g e h e m m t e — mittelalterliche Mystik zeigen grundsätzlich dieselben Züge. Sie h a t k e i n e g e m e i n s c h a f t s b i l d e n d e K r a f t u n d k a n n d a r u m i m m e r n u r geschichtlich w e r d e n als S c h l i n g p f l a n z e am S t a m m e i n e r o b j e k t i v e n R e l i g i o n . Sie ist die Religion einiger Weniger, die wegen ihres entsagungsreichen Lebens v o n den a n d e r e n als Heilige v e r e h r t werden, solang sie n i c h t d u r c h i h r e n »Atheismus« oder ihre Gleichgültigkeit gegen die o b j e k t i v e Religion v e r d ä c h t i g w e r d e n . Sie bleiben R a n d f i g u r e n i n n e r h a l b der Religionsgeschichte; n u r d u r c h die K l o s t e r b i l d u n g , also d u r c h einen gewissen K o m p r o m i ß m i t der W e l t , gewinnen sie größere geschichtliche W i r k u n g . Aber a u c h wo dieser W i r k u n g s k r e i s d u r c h Bildung eines d r i t t e n Standes, eines H a l b m ö n c h t u m s , n o c h v e r g r ö ß e r t wird, bleibt das Ideal die W e l t a b g e k e h r t h e i t u n d als Beziehung z u m W e l t l i c h e n : die b l o ß e D u l d u n g . D e r Gegensatz dieser E n t w i c k l u n g zu der der o b j e k t i v e n Religionen ist also d e u t l i c h : D o r t Vergeistigung als R a t i o n a l i s i e r u n g m i t der R i c h t u n g auf die Verwischung der weltlich-kulturellen u n d sakralen Zone, hier u m g e k e h r t die A u f s a u g u n g a l l e s R a t i o n a l - K u l t u r e l l e n d u r c h das Alleinheitsgefühl. D o r t die T e n d e n z auf das Gesetz u n d die geschichtliche Gestalt, hier die T e n d e n z auf das U n e n d l i c h - U n b e g r e n z t e . D o r t Verweltlichung der Religion, hier das Verschlungenwerden alles Lebens v o n der Religion, d o r t die K u l t u r u n d der S t a a t als religiöse Beziehungsp u n k t e , hier das Einsiedlerleben des Heiligen u n d das Kloster. Diese gegensätzliche E n t w i c k l u n g s r i c h t u n g wird a b e r erst vollends deutlich, w e n n wir z u m Vergleich i m besonderen n o c h diejenigen h ö c h s t e n B i l d u n g e n i n n e r h a l b der Religionsgeschichte herbeiziehen, bei d e n e n dieser Zug z u m E x t r e m g e h e m m t erscheint u n d die sich d a r u m d e m , der Belege f ü r ein »Gesetz der Parallelen« m i t der christlichen Religion s u c h t , in besonderem Maße a u f d r ä n g e n . Als solche d ü r f t e n ernst-

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lieh nur in Betracht kommen : die sogenannte theistische Mystik Indiens und die prophetische Religion Zarathustras. Erst in weiterem Abstand kämen noch der östliche Buddhismus (Amida Buddha) und eventuell hellenistische Religionen der Spätantike in Frage. Wir müssen uns hier auf die zwei erstgenannten beschränken 1 ). In der T a t weht in der B h a k t i - L i t e r a t u r des Hinduismus eine andere L u f t als in den Upänishaden. Oft schon hat wohl ein Leser der Bhagavadgita, des wichtigsten Religionsbuches dieser Gruppe, etwas von dem ehrfürchtigen Staunen erlebt, mit dem Wilhelm von Humboldt diese neue Welt erstmalig betrat. Ob diesem wirklichen Höhep u n k t der Religionsgeschichte, wie m a n neuerdings annimmt, ein volkstümlicher Monotheismus aus dem nordöstlichen Indien zugrunde liegt — von dem wir übrigens nur indirekt wissen — bleibe dahingestellt. Zum Verständnis der Bhaktireligion trägt diese Theorie wenig bei. Denn von einem siegreichen, bestimmten Monotheismus, der die Selbständigkeit der göttlichen Persönlichkeit zugleich mit der Realität der Welt als seiner Schöpfung lehrte, kann hier keine Rede sein. Immer kippt der formelle Theismus u m in eine Gedankenbildung, von der schwer zu sagen ist, ob m a n sie als theopanisch, naturpantheistisch o d e r p o l y t h e i s t i s c h ansprechen soll. Die Wirklichkeit der vielen Yolksgötter wird nicht bestritten, von ihrer Verehrung nicht abgeraten. Ein Kampf gegen den Polytheismus wie in Persien oder Israel findet nicht statt. Selbst der Gelehrte, der das »Gesetz der Parallelen« aufgestellt h a t und sich dafür vor allem auf die Bhaktimystik beruft, sieht sich gezwungen zuzugestehen: „Überall schaut der Theopanismus noch durch seinen Theismus hindurch". Sogar derjenige unter diesen Theisten, der sich vom allgemeinindischen Theopanismus am weitesten entfernt, „ h ä l t daran fest, daß die Welt der Leib Isvaras sei und behauptet eine Art Einheit der Seele m i t der Gottheit". „ U n d a l l e b l e i b e n M y s t i k e r " ( O t t o ) . Dieser indische »Theismus« vertritt in oft überraschend »christlicher« Form die Lehre von der Nähe und Liebe Gottes, von der Gnade, die allein selig macht, von der Zugehörigkeit der Seele zu Gott usw. Aber von der paradoxen Einheit dieser Begriffe mit ihrem Gegensatz: Gericht, Zorn, Unnahbarkeit Gottes, von seinem »Eifer« für seine »Ehre«, die er keinem anderen überlassen will, von seiner absoluten Unterschiedenheit von aller Kreatur, von seinem Willen, die gefallene Schöpfung wiederherzustellen durch Gericht u n d Neuschaffung, von einer Versöhnungstat und Offenbarungstat des Mittlers, der als der göttliche, aber wirkliche Mensch Gottes Sache auf Erden f ü h r t , als agnus dei qui tollit peccata mundi, von einem Endziel Gottes f ü r die geschichtliche und natürliche Welt — von all diesen Zentralthemata der Bibel vernehmen wir hier nichts. D a r u m steht im Mittelpunkt nicht Gottes vergebendes u n d erlösendes Tun, sondern die religiösen Erlebnisse der Heiligen, die freilich auch als Gnade beschrieben werden, aber nie den begnadeten S ü n d e r , den freigesprochenen Angeklagten meinen, der dauernd unter Gericht und Gnade bleibt, sondern den werdenden Heiligen, der durch die e i n g e g o s s e n e G n a d e wirklich so h e i l i g w i r d , daß er schließlich des Ewigen teilhaftig werden muß. (In diesem P u n k t kommt der Amida Buddhismus dem christlichen Rechtfertigungsglauben bedeutend näher. Aber die Gegensätze sind im übrigen hier noch tiefer. Von Gott dem Schöpfer und dem Aufrichter seiner Herrschaft kann 1 ) Die hier gegebene Darstellung stützt sich außer auf die bekannten Werke über den Hinduismus nur auf die in Übersetzung zugänglichen Texte (englische in der Sammlung: sacred books, deutsche in der von R . O t t o herausgegebenen Sammlung, sowie die Übersetzungen der Bhagavadgita von D e u ß e n und G a r v e ) . Doch ist bei dem Interesse, das besonders R . O t t o s Auswahl beherrscht, k a u m zu erwarten, daß m i t Hinsicht auf unser Problem die Kenntnis der gesamten Originalliteratur zu anderem Urteil nötigte. Auch die Darstellungen von G r i e r s o n und G l a s e n a p p ergeben kein anderes Bild.

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im östlichen Buddhismus noch viel weniger die R e d e sein.) D a s P r o b l e m d e r S c h u l d im christlichen Sinne k e n n t Indien nicht. D a r u m auch nicht die Versöhnung, die als W o r t , als Spruch Gottes a n den Menschen k o m m t u n d von i h m schlechterdings zu glauben i s t ; die Versöhnung, die ebenso real wie die Schuld selbst in einem wirklichen Geschehnis ihren Grund h a t . Es gibt in Indien wohl einen K a m p f gegen »Pelagius«, aber nicht gegen »Oslander«, gegen die sündige Weltlichkeit, aber n i c h t g e g e n d i e sündige Heiligkeit. Die parallelisierende Unterscheidung wäre noch lange fortzusetzen: Indien k e n n t wohl I n k a r n a t i o n e n , aber es ist ihnen wesentlich, in der Mehrzahl vorzukommen, während im christlichen Glauben gerade die Einmaligkeit das Entscheidende ist. — I n Indien zielt alle Religion auf den Heiligen als die Verkörperung dessen, was die Religion meint, in der Bibel gibt es keine Heiligen. Der Gottesmann t r i t t als Person gänzlich in den Hintergrund, der größte aller P r o p h e t e n ist ein Anonymus, von dem wir nicht die geringsten persönlichen Nachrichten haben, den wir deshalb m i t einem Verlegenheitsnamen, »Deuterojesaja«, kenntlich machen. Der P r o p h e t will nichts selber sein, nichts können, nichts haben, als ein W o r t Gottes, in dessen Ausrichtung sein Leben sich verzehrt u n d das er in alle Welt hinausschreit. — D e m modernen Menschen fällt die Toleranz der indischen gegenüber der Intoleranz der christlichen Religion angenehm auf. Sie ist tolerant, weil sie Mystik ist, weil sie nichts weiß von einem Herrscherwillen Gottes u n d einer Gottesgeschichte. Alle Mystik ist tolerant, weil sie rein subjektiv ist. D a ist kein P l a t z f ü r das »der Eifer u m dein H a u s h a t mich verzehrt«. Der Gott der Mystik eifert selbst nicht, weil er nicht Wille ist. Es gibt hier keinen K a m p f , weil es kein Ziel gibt. Wir zitieren z u m Schluß die W o r t e eines hervorragenden Kenners: »Überhaupt ist es verfehlt, in dem indischen Theismus u n d der Bhaktireligion eine dem Christentum verwandte Erscheinung zu sehen. Der indische B h a k t a steht auf dem Boden der ererbten Lebensanschauung. Die Welt ist gleichzeitig wirklich u n d als Manifestation des Alleinen eine Illusion, die vielen Götter existieren u n d sind gleichzeitig bloße Erscheinungen des Einen. Selbst im Götterbild blickt er in die Allmacht hinein und das Grundlegende in der B h a k t i ist die Herzensliebe, die nach einem persönlichen Gegens t a n d der Liebe verlangt, die aber d a n n ohne Grenzen wird u n d sich auch in das Qualitätslose u n d Unpersönliche versenken kann.« ( S t e n K o n o w in C h a n t e p i e d e l a S a u s s a y e ' s Lehrbuch, 1925). Freilich, wo der christliche Glaube selbst mit mystischem Erleben verwechselt wird, wo die konkrete Gottesbegegnung, die einmalige Gottesoffenbarung in Jesus Christus, das irp úna\ der apostolischen Verkündigung als eine bloße individuell-zufällige Sondergestaltung des allgemeinen Religionstriebes aufgefaßt wird, wird es auch möglich, indische Mystik u n d biblischen Glauben ineinander überfließen zu lassen. H a t m a n erst den christlichen Glauben in Mystik umgedeutet, so b r a u c h t es keine große K u n s t mehr, u m ein »Gesetz der Parallelen« aufzustellen, da in der T a t die Mystik sich allerorts, wenn auch nicht vollkommen gleich, so doch in der H a u p t s a c h e ähnlich entwickelt h a t . Viel ernsthafter scheint mir d a r u m die Möglichkeit zu erwägen, eine Parallele zwischen der R e l i g i o n Z a r a t h u s t r a s 1 ) u n d der biblischen, namentlich der alttestamentlichen aufzustellen. Den Z a r a t h u s t r a der Gathas können wir uns unschwer in der Gesellschaft etwa des P r o p h e t e n Elia denken. Hier ist an der P e r s ö n l i c h k e i t u n d E i n z i g k e i t G o t t e s u n d seiner souveränen Herrscherstellung über die Welt *) Trotz des Pessimismus einzelner Philologen in bezug auf einwandfreie Interpret a t i o n der ältesten Avesta-Literatur darf u n d m u ß der Versuch gewagt werden, die Religion Zarathustras gesondert darzustellen. „Le sens général des Gotha est connu et il y a maintenant accord entre les savants qui les étudient" (A. M e i l l e t , Trois conférences sur les G a t h a d e r A v e s t a , 1925). Unserer Darstellung liegt vor allem die Übersetzung von B a r t h o l o m a e zugrunde. Die Zitate von G e l d n e r u n d L e h m a n n s t a m m e n aus ihren Darstellungen in R . G . G . und Chantepie de la Saussaye.

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— die wirklich ist — nicht zu zweifeln. Ahura Mazda ist Herr u n d König der Welt und der Menschen. E r ist heiliger Wille. E r will d a r u m auch persönlich respektiert sein, wie er sich durch seinen P r o p h e t e n (wir müssen hier strikte in der Einzahl sprechen) persönlich offenbart d u r c h sein Wort, das die heilige Regel des Lebens ist. Die Religion der Gathas ist s i t t l i c h e R e l i g i o n , d a r u m auf ein Volk bezogen; sie h a t einen geschichtlichen Willen. Es ist ein K a m p f im Gang zwischen Gut u n d Bös, und der Endsieg Gottes ist gewiß. D a r u m gibt es hier auch einen K a m p f gegen den »lügnerischen« Polytheismus u n d seine Priester und die Aussicht auf ein u n t e r moralisch religiösen Prinzipien geführtes göttliches Endgericht. Es gibt eine E s c h a t o l o g i e — lauter Züge, die im Bild der indischen Religion fehlen. Diese Religion ist Glaube u n d Gehorsam, von Mystik nicht eine Spur. Es gibt hier persönliches Gebet, keine Meditation. I c h wage das Urteil, d a ß nirgends in der ganzen Religionsgeschichte der Vergleich m i t dem biblischen Glauben sich so wie hier a u f d r ä n g t — wie d e n n auch hier die Blutsverwandtschaft in der geschichtlichen Assimilationsfähigkeit sich erweist (vgl. das persische Vorstellungsmaterial in der christlichen Eschatologie). Aber — sollte es Zufall sein, d a ß die Religion Zarathustras eine Episode in der Weltgeschichte blieb, d a ß schon kurze Zeit n a c h dem Tode dieses Großen der Kompromiß mit dem Polytheismus u n d wirrem Kultwesen geschlossen wurde, der die edle Religion Zarathustras unter einem Religionswust begrub ? Z a r a t h u s t r a ist aus der Welt verschwunden ohne eine eigentliche E r b s c h a f t zu hinterlassen. Doch soll diese Reflexion nicht eine P r ü f u n g ersetzen. Die Religion Zarathustras ist sittliche Religion. Wir können noch genauer sagen: g e s e t z l i c h e R e l i g i o n . „ D i e Religion wird im Avesta Gesetz genannt und die Perser k o n n t e n zwischen diesen Begriffen sprachlich nicht unterscheiden" ( L e h m a n n ) . I n dieser strengen sittlichen Gesetzlichkeit b e r u h t ihre K r a f t u n d Größe. Der Gegensatz, den dieser Gottesmann deutlicher als sonst einer im Gebiet der Religionsgeschichte gesehen h a t als den Gegensatz des heiligen guten Gottes zur Verderbnis in der Welt, ist von der Art, d a ß er auch die Menschen scheidet in Gute und Böse. Auf der einen Seite stehen die Guten, die d a r u m , weil sie g u t sind, Gottes F r e u n d e sind, auf der anderen die Bösen, die Gottesfeinde. D a ß der Gegensatz durch jeden Menschen hindurchgeht, d a ß „vor dir kein Lebendiger gerecht" ist, d a ß kein Mensch würdig ist, im Heer des Lichtes zu k ä m p f e n , davon verraten die Gathas keine Spur. Die Guten bestehen im Gericht, weil sie gut gewesen sind. Der Mittelp u n k t der biblischen B o t s c h a f t : die Gnade des gerechten Gottes, seine N ä h e bei denen, die zerschlagenen Herzens sind, seine Treue gegen die Untreuen ist hier völlig unbekannt. „ Z a r a t h u s t r a k e n n t d i e B e g r i f f e S ü n d e n e r l a ß , S ü n d e n v e r g e b u n g nicht" (Geldner). „Von Gnade oder Milde ist keine R e d e " (Lehmann). Der Wille Gottes u n d das sittliche Gesetz oder das Gesetz des Lebens fallen zusammen. Gott steht nicht frei über seinem Gesetz, er ist nicht der geheimnisvoll lebendige Gott der Bibel, der zürnt u n d vergibt, der f e r n ist und nahe, der unerbittlich streng ist u n d doch sich barmherzig herabbeugt zum Schwachen u n d Gefallenen. D a ß Gott sich offenbaren könnte im Tod, gar im Kreuzestod des Gerechten, d a ß die Gotteswahrheit ebensosehr die Krisis des Sittlichguten wie des Sittlichbösen sei, d a ß es eine Gottlosigkeit nicht bloß im Bösen, sondern auch im Guten gebe, davon wird m a n in den Gathas vergeblich eine Andeutung suchen. Die tiefste N o t des Menschen, die Schuld dessen, der Gott gehören möchte, ist nicht e r k a n n t . Gott steht nicht über, sondern u n t e r s e i n e m G e s e t z . „ K r a f t dieser E r k e n n t n i s h a t Mazda sich f ü r die Reinheit u n d das Leben entschieden, während der Teufel Tod u n d Unreinheit vorzog. Diese W a h l h a t ihn sozusagen zu dem wahren Gott gemacht u n d i h m seine Gewalt verliehen" ( L e h m a n n ) . Weil Gott so m i t s e i n e m G e s e t z i d e n t i s c h ist, k a n n es keine Vergebung geben. Von hier f ü h r t keine Linie zu Jesus Christus dem Gekreuzigten. Die Idee des stellvertretenden Leidens m ü ß t e diese Religion der starren Gesetzlichkeit zersprengen, sie ist d a r u m nicht wie der Prophetismus Israels »Weissagung auf Christum hin«. D a m i t erübrigt sich auch die Frage, inwiefern etwa der sittliche T h e i s m u s d e r S p ä t a n t i k e als Parallele zum christlichen Glauben gelten könnte. Der Gottesglaube

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eines Epiktet etwa ist vom biblischen noch viel weiter entfernt als der Zarathustras. Er ist ganz Aufklärungsreligion, ethischer Rationalismus mit religiöser Deutung. Noch viel ferner aber stehen dem biblischen Glauben die s y n k r e t i s t i s c h e n R e l i g i o n s g e b i l d e des Hellenismus, die die geschichtliche Umwelt des Urchristentums bilden und ihm einen beträchtlichen Teil der sprachlichen Ausdrucksmittel, vielleicht auch andere Formen geliefert haben, Die Frage nach den kausalen Beziehungen soll im nächsten Kapitel erörtert werden; hier haben wir es lediglich mit der phänomenologischen Frage nach der inneren Verwandtschaft, der Strukturähnlichkeit zu tun. Wer einmal die Bedeutung der konkreten Offenbarung, der Einmaligkeit, für den christlichen Glauben erfaßt hat, wird nicht mehr in Versuchung kommen, ihn mit den vorderasiatischen oder ägyptischen Mythologien (z. B. dem Mythos vom sterbenden und wieder auferstehenden Gottheiland) in Beziehung zu setzen, wo ja gerade das immer Wiederkehrende dieses »Pseudoereignisses« das Charakteristische ist •—• ganz abgesehen von den grundverschiedenen Auffassungen von Sünde und Versöhnung.

Bei Licht besehen löst sich das Gesetz der Parallelen — sofern es auf den christlichen Glauben angewandt werden soll —, aber auch die Idee von e i n e r kontinuierlichen religionsgeschichtlichen Entwicklung in Schein auf. Dieser Schein k a n n n u r so lange mit der W a h r h e i t verwechselt werden, als Religion — ü b e r h a u p t mit Mystik identifiziert u n d auch der christliche Glaube unter diesen Begriff subsumiert wird, da Mystik in der T a t im wesentlichen — bei aller Mannigfaltigkeit der Nuancen — immer u n d überall dieselbe ist, weil sie losgelöst ist u n d sein will v o m konkreten Geschehen. Ein eigentümlich widerspruchsvolles Verhältnis zeigt sich also zwischen der Religionsgeschichte u n d der allgemeinen Geistesgeschichte. Die Religion n i m m t an ihr Anteil; sie wird selbst »vergeistigt« durch die Entwicklung des Geistes. Aber sie wird dadurch nicht »religiöser«. Die Vergeistigung geschieht entweder in der R i c h t u n g : Gesetz s t a t t Willkür, Einheit s t a t t Vielheit; oder aber in der R i c h t u n g : Unendlichkeit s t a t t Endlichkeit, Unbegrenztes s t a t t Begrenztes. Auf der einen Linie f ü h r t sie über den Personalismus in die allgemeine W e l t v e m u n f t , auf der anderen Linie in die akosmistisch-theopanische Mystik. B e i d e s aber heißt: d a s s p e z i f i s c h R e l i g i ö s e , d a s B e w u ß t s e i n w i r k l i c h e r Offenbarung, konkreter göttlicher Selbstmanifestation vers c h w i n d e t . Es wird daraus, in beiden Fällen, ein Zeitloses u n d d a r u m Unwirkliches. Zwar wirkt auch die Religion immer in die allgemeine Geistesgeschichte hinein; aber in dieser d ü r f t e doch wohl eine zunehmende Emanzipation der K u l t u r von der Religion das Kennzeichnende sein. Der erwachenden Ratio hält der primitive Wirklichkeitscharakter der in den Religionen b e h a u p t e t e n Offenbarungen nicht stand. Die rationale K u l t u r k a n n sich n u r mit den abgeschwächten Formen der Religion, mit der Aufklärungsreligion einerseits, mit der rationalisierten oder K u l t u r m y s t i k anderseits verbinden, weil weder der massive Personalismus der Götterreligionen, noch der absolute geschichtslose Subjektivismus der kühnen Mystik den Ansprüchen des Kulturlebens im weitesten

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THEOLOGIE

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Sinn genügen können. Selbstbewußter Kulturwille kann nur eine ganz »spiritualisierte« Religion brauchen. E s ist darum nicht schlecht beobachtet, wenn der Positivismus in der Geschichte ein zunehmendes Zurücktreten der Religion wahrnimmt. Und doch stammt alle Ratio, alle Kultur aus der Religion, und muß ohne sie verdorren. Ohne sie, in der völligen Emanzipation von ihr, entleert sie sich zur bloßen Zivilisation mit einer art pour Part und science pour la science. Neue Kulturherde sind noch nie entstanden ohne Zusammenhang mit starken religiösen Eruptionen. Die Kultur selbst hat keine Kraft der Selbsterneuerung. Erneuern müßte sie sich aus der Religion — und kann es doch nicht. Denn jene spiritualisierte Religion, die kulturgerecht geworden ist, hat diese K r a f t nicht. Der lebendigen kraftvollen Religion aber kann der Kulturmensch kein Vertrauen mehr schenken. Er erkennt darin zu viel bloß Numinoses und zu wenig Logos, zu viel »zufällige Wirklichkeit« und zu wenig Sinnotwendigkeit oder Wahrheit. Nicht aus der Religion und was ihre Geschichte hervorbringt, könnte die Erneuerung menschlich-geistigen Lebens kommen, ohne das es zuletzt in bloße Zivilisation und schließlich in Lebensüberdruß sich auflösen muß, sondern einzig von dort, wo sich der ewige Logos selbst, die Wahrheit selbst als Wirklichkeit offenbart. Das aber wäre nicht mehr Religions- und nicht mehr Geistesgeschichte, sondern die Offenbarung ihres Ursprungs und ihres Endes. Religionsgeschichte ist, so sagten wir anfangs, das Innerste der Menschengeschichte, der »Ort«, wo es dem Menschen am deutlichsten zum Bewußtsein kommt, daß das Leben eine Totalität ist und daß ihm etwas Totales — nicht dies und das — fehlt. Und doch kommt gerade das, weil es bloß R e l i g i o n s g e s c h i c h t e bleibt, nie recht zum Bewußtsein. Sonst müßte j a Religion letztlich auch über sich selbst hinausgreifen, sich selbst preisgeben, und das könnte nur dann geschehen, wenn etwas, was mehr ist als Religion, erschiene. Und umgekehrt: daß es nicht zum Bewußtsein der K r i s i s d e r R e l i g i o n selbst kommt, ist das Merkmal bloßer Religionsgeschichte. Offenbarung ist jene Krisis, nicht bloß über das menschlich-geistige Leben überhaupt, sondern vor allem über sein Zentrum: die Religion selbst. Weder im gesetzlichen Bewußtsein der höchsten »objektiven« oder Gottreligion, noch in der Mystik kommt es je zu dieser Krisis. Beide, der gesetzliche Fromme und der Mystiker wissen sich in ihrer Religion geborgen und sicher. D i e K r i s i s , d i e S e l b s t a u f h e b u n g d e r R e l i g i o n e r e i g n e t s i c h n i r g e n d s in d e r R e l i g i o n s g e s c h i c h t e . Sie ist das spezifische Merkmal der biblischen Offenbarung, vollendet in der Kreuzigung des Gottesmenschen durch das frömmste Volk der Weltgeschichte. Darum ereignet sich aber dort nicht bloß die Krisis der Religion, sondern d e r G e s c h i c h t e ü b e r h a u p t . Gewiß ist Jesus von Nazareth eine geschichtliche Erscheinung und sein Leben ein geschichtliches

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Ereignis. Aber sofern es dies ist, ist es n i c h t die O f f e n b a r u n g Gottes. Dieses Geschichtliche ist »das Inkognito« der göttlichen O f f e n b a r u n g , das n u r v o m Glauben, u n d das h e i ß t : n u r v o n G o t t selbst g e l ü f t e t w e r d e n k a n n . W e r in j e n e m Geschehen G o t t e r k e n n t , n i c h t bloß so, wie m a n in j e d e m Geschehen G o t t e r k e n n e n k a n n , sondern so, wie m a n n u r in j e n e m Geschehen G o t t e r k e n n e n k a n n , als O f f e n b a r u n g seiner selbst, der ist m i t j e n e m Ereignis gleichzeitig. U n d u m g e k e h r t : n u r d u r c h Gleichzeitigkeit, n u r d a d u r c h , d a ß das W o r t , das d o r t als P e r f e k t u m geredet ist, j e t z t als Präsens r e d e t , k a n n er in j e n e m Geschehen G o t t e r k e n n e n . »Es k a n n n i e m a n d C h r i s t u m seinen H e r r n n e n n e n a u ß e r d u r c h den Heiligen Geist.« Die B e d e u t u n g jenes »Ereignisses« ist n i c h t Geschichte, s o n d e r n das E n d e der G e s c h i c h t e , R ü c k k e h r z u m U r s p r u n g aller Geschichte, U r - E n d - Geschichte. Freilich, sofern sich dieses E r k e n n e n ereignet, wird a u c h g e s c h i c h t l i c h etwas. Dieses Urgeschichtliche des Glaubens w i r f t a u c h in die Geschichte seine Wellen. Die u n s i c h t b a r e Gemeinschaft derer, die j e n e n N a m e n als den ihren k e n n e n , wird a u c h eine geschichtlich sichtbare Größe, sogar eine der großen geschichtlichen P o t e n z e n : die Kirche, das C h r i s t e n t u m als Gestalt der Geschichte. T r o t z seinem Wissen u m das i m Glauben gem e i n t e E n d e der Geschichte wird der Glaubende n i c h t geschichtslos wie der Mystiker. Geschichte u n d K u l t u r bleiben der Boden, auf d e m er seinen G l a u b e n auszuwirken h a t , der S c h a u p l a t z f ü r die ecclesia militans, die Möglichkeit ihres intensiven u n d extensiven W a c h s t u m s . D e n n es ist die v o n G o t t geschaffene, wirkliche W e l t , die als gefallene in Christus die Verheißung ihrer E r l ö s u n g b e k o m m t ; es ist der in der Geschichte stehende t ä t i g e Mensch, der v o n G o t t als sein E i g e n t u m angesprochen w i r d ; es ist die geschichtliche Kirche, die ihrer Vollendung i m Gottesreich gewiß ist. So n i m m t d e n n a u c h der Glaube u n d die Kirche teil a m geschichtlichen W e r d e n , t r o t z d e m er in der Beziehung a u f das b e s t e h t , was jenseits aller Geschichte liegt. Dieses geschichtliche W e r d e n aber ist kein eindeutiges. E s gibt ein geistiges E r w a c h e n des Menschen, das allem w a h r e n F o r t s c h r i t t z u g r u n d e liegt. Aber dieses E r w a c h e n ist n i c h t , wie der optimistische Idealismus es a u f f a ß t , ein Zu-sich-selbst-kommen des Menschen i m Sinn der allmählichen Erlösung, sondern ein Zu-sichselbst-kommen des z w i e s p ä l t i g e n Menschen, ein E r w a c h e n zu seiner E r l ö s u n g s b e d ü r f t i g k e i t u n d zur E i n s i c h t darein, d a ß niemals die E r lösung i n n e r h a l b der Geschichte liegen könne. E s gibt aber a u c h das U m g e k e h r t e : die rückläufige Bewegung, die E n t f e r n u n g v o n der W a h r heit d u r c h Illusion oder A b s t u m p f u n g . Wie der Anteil der geschichtlichen Wirklichkeiten, M ä c h t e u n d Ereignisse in Hinsicht auf d i e s e s Plus oder Minus zu beurteilen seien, ist eine ganz andere F r a g e als die n a c h d e m F o r t s c h r i t t . E t w a s , das alle Welt F o r t s c h r i t t n e n n t , k a n n auf der Minus-

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THEOLOGIE

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u n d etwas, das alle Welt Rückschritt heißt, k a n n auf der Plusseite stehen. Dieses „ B u c h des L e b e n s " ist vor Gott allein aufgeschlagen. I n dieses Auf u n d Ab der Geschichte ist auch die Kirche hineingestellt u n d n i m m t t ä t i g u n d leidend an beidem Anteil. D a r u m ist das v o m Glauben ausgesagte W a c h s t u m des Gottesreichs ein verborgenes, ein sozusagen unterirdisches, wie j a die wahre Kirche die unsichtbare ist, t r o t z d e m sie auch als solche nie ohne sichtbare Verkörperung ist. Der Glaube weiß von ihr nur, d a ß sie aus diesem Auf u n d Ab nicht h e r a u s k o m m t , bis das Andere geschieht, das nicht mehr der Geschichte angehört. 4. DAS W A H R H E I T S M O M E N T D E R O R T H O D O X I E : D I E B I B E L A L S DAS W O R T G O T T E S . a) B i b e l u n d

Offenbarung.

Der christliche Glaube ist Bibelglaube. Spricht der Christ von der Offenbarung Gottes schlechthin, so meint er die Heilige Schrift Alten u n d Neuen Testamentes. Das ist die Wahrheit der protestantischen Bibelorthodoxie. Sie hält damit das Prinzip der Unterscheidung des christlichen Glaubens von allem Rationalismus (philosophische Gottesu n d Offenbarungslehre) v o m Subjektivismus (mystisches Gotterleben als Offenbarung) u n d v o m Historismus (Ineinssetzung von Geschichte, speziell Religionsgeschichte u n d Offenbarung) fest. D a r u m , weil die christliche Theologie sich a n dieses einmalig-konkret Gegebene gebunden weiß, läßt sie sich keiner allgemeinen Religionsphilosophie ein- oder unterordnen. I h r H a u p t s a t z l a u t e t : die E r k e n n t n i s G o t t e s ist a u s d e r S c h r i f t zu schöpfen. Die E r k e n n t n i s Gottes aber ist keine Spezialerkenntnis, die einem größeren Inbegriff von Erkenntnis einzuordnen wäre. Vielmehr ist sie die E r k e n n t n i s des Grundes aller Wahrheit, sie ist das in allem Erkennen letztlich Gemeinte. I n ihr h a t d a r u m alle Erkenntnis ihre Norm u n d ihr Kriterium, ob der an ihr Beteiligte sich dessen n u n bewußt sei oder nicht. Nicht an der Vernunft messen wir das Wort Gottes in der Schrift, sondern am W o r t Gottes in der Schrift messen wir die Vernunft, jegliche Wissenschaft. Diese allgemeine These h ä l t die Orthodoxie mit Recht als Grundthese des christlichen Glaubens fest. Aber in ihrer I n t e r p r e t a t i o n dieser These weicht sie v o m wahren christlichen Glauben ebensoweit ab, als die drei anderen Richtungen. Die ungeheure Verschiedenheit zwischen diesen beiden, scheinbar einander so ähnlichen, Auffassungen der Bibelautorität ist der Christenheit erst durch die E r s c h ü t t e r u n g der Orthodoxie seitens der modernen Wissenschaft deutlich zum Bewußtsein gekommen. Aber die Unterscheidung besieht nicht etwa erst seit der modernen Wissenschaft. Latent ist sie immer in der christlichen Kirche vorhanden gewesen; im reformatorischen Schriftprinzip haben wir sie

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bereits in scharfer theologischer F o r m u l i e r u n g vor u n s , w e n n a u c h bei den R e f o r m a t o r e n die beiden Prinzipien, das o r t h o d o x e u n d das »reformatorische« n o c h o f t n e b e n e i n a n d e r w i r k s a m sind. E r s t die wissenschaftliche E n t w i c k l u n g seit der A u f k l ä r u n g h a t die endgültige u n d u n m i ß v e r s t ä n d l i c h e U n t e r s c h e i d u n g beider d e m christlichen Glauben zur L e b e n s n o t w e n d i g k e i t g e m a c h t . Der entscheidende Gegensatz zwischen der o r t h o d o x e n u n d der r e f o r m a t o r i s c h e n Schriftlehre ist bereits im geschichtlichen Teil d a r gestellt worden. F ü r die Orthodoxie ist das Bibelbuch a n sich die göttliche O f f e n b a r u n g s w a h r h e i t . E s ist also O f f e n b a r u n g s d i n g . F ü r den unverfälscht e n christlichen G l a u b e n ist die Schrift O f f e n b a r u n g n u r i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m gegenwärtigen Gottesgeist. Beides, das testimonium spiritus sancti u n d die K l a r h e i t des Gotteswortes sind eins u n d dasselbe. D a r u m ist das Schriftprinzip die p a r a d o x e E i n h e i t v o n A u t o n o m i e u n d A u t o r i t ä t , v o n Gegebenheit u n d Nichtgegebenheit. Glaube ist Begegnung m i t d e m absoluten v e r b o r g e n e n G o t t , der als wirklich, d. h . in einem Wirklichen sich uns persönlich o f f e n b a r t . Dieses Wirkliche ist die Schrift, sofern sie Z e u g n i s ist v o n der G o t t e s o f f e n b a r u n g in J e s u s C h r i s t u s . „ D i e Schrift ist die K r i p p e , d a r i n n e n Christus l i e g t " ( L u t h e r ) . Wie ein S a t z viele W ö r t e r , aber einen Sinn h a t , so h a t die O f f e n b a r u n g Gottes in der Schrift, i m A l t e n u n d N e u e n T e s t a m e n t , in Gesetz u n d E v a n g e l i u m n u r einen S i n n : J e s u s Christus. Christus rex et dominus scripturae (Luther). „ S u c h e t in der S c h r i f t , d e n n . . . sie ists, die v o n m i r z e u g t " ( J o h . 5, 39). U m dieses I n h a l t e s willen ist die Schrift Gottes W o r t ; d e n n er, Christus, ist das W o r t . N i c h t sie a n sich ist die Offenb a r u n g , sondern insofern u n d weil sie diesen Sinn h a t , ebenso wie die W ö r t e r eines Satzes n i c h t a n sich w a h r sind, sondern d u r c h ihren gem e i n s a m e n einen Sinn i m Satz. D a r u m spricht der Christ n i c h t v o n d e n W o r t e n Gottes, sondern v o m W o r t e Gottes. Aber wie es viele W o r t e b r a u c h t , u m u n s einen Sinn deutlich zu m a c h e n , so b r a u c h t es die Mannigfaltigkeit, die v o r uns in der Heiligen Schrift ausgebreitet liegt, u m u n s d e n Sinn des einen W o r t e s J e s u s Christus wirklich zu sagen. Es b r a u c h t dazu das Alte T e s t a m e n t n i c h t weniger als das Neue T e s t a m e n t , die Apostelbriefe n i c h t weniger als die Evangelien, das »unechte« J o h a n n e s e v a n g e l i u m n i c h t weniger als die »echten« synoptischen Evangelien. Das ist die christliche Glaubense r k e n n t n i s , d a ß d u r c h die ganze Schrift h i n d u r c h diese E i n h e i t geht. N i c h t die E i n h e i t einer I d e e , etwa einer Christusidee; sondern die Einheit, die die O f f e n b a r u n g des ewigen göttlichen Logos in der Zeit, in J e s u s Christus, d e m gekreuzigten u n d a u f e r s t a n d e n e n m e i n t . Die I d e e ist loslösbar v o n i h r e m F u n d o r t . Sie ist z e i t l o s , allgemein u n d i m m e r w a h r . I m christlichen Glauben aber h a n d e l t es sich u m die W a h r h e i t , die u n s n u r d a d u r c h , d a ß G o t t sie wirklich ausspricht, n i c h t a n sich d u r c h ihre bloße Idee, w a h r ist, u m die O f f e n b a r u n g , bei der alles a n i h r e m G e -

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EVANGELISCHER

THEOLOGIE

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s c h e h e n s e i n hängt. E s ist durchaus der Mensch Jesus von Nazareth gemeint, in seiner geschichtlichen »Zufälligkeit«, in seiner »Knechtsgestalt«, der Mensch vom Weibe geboren und dem Gesetz Untertan, gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Auf diesen Punkt hin, als die Erfüllung aller vorläufigen, hinweisenden Offenbarung, auf den Mittler im «Mittelpunkt« der Geschichte, deutet alles in der Schrift. Unbeholfener oder gewaltiger, stammelnd oder deutlich buchstabieren alle Bücher der Bibel diesen Namen, unterrichten sie uns von diesem Sinn-Faktum, vorausweisend die einen, rückweisend die anderen. Man hat, um dem modernen Empfinden näherzukommen, etwa die Antithesen aufgestellt: nicht d i e Schrift, sondern i n der Schrift ist Gottes Wort. Dieser Satz könnte wohl richtig sein; aber so wie er beinahe immer gemeint ist, ist er falsch. Denn dahinter steht die Absicht, durch ein vorausgegebenes Prinzip der Auswahl, durch einen für sich formulierbaren Inhalt Offenbarung und Nichtoffenbarung in der Schrift zu sondern. Damit wird gerade der Nerv des christlichen Offenbarungsglaubens zerschnitten. Denn ihm kommt gerade alles auf die unableitbare, »kontingente«, von uns in keiner Weise zu meisternde O f f e n b a r u n g s T a t s ä c h l i c h k e i t an. Nicht bloßwas geschrieben steht, ist wichtig, sondern d a ß es geschrieben steht, und das heißt immer, daß es in einer »zufälligen« Form und in »zufälligem« Verband mit anderem, an einem »zufälligen« Punkt in Raum und Zeit, und in einer »zufälligen«, beschränkt-endlichen Form gegeben ist. Von der Glaubwürdigkeit der Einleitungsformel: so spricht Jahwe, hängt es ab, ob das prophetische Wort uns wirklich etwas zu sagen hat, oder ob es bloß einen moralischen Gemeinplatz oder einen frommen Herzenswunsch der hoffenden Phantasie ausspricht; ob es a u t o r i t a t i v e Mitteilung, Offenbarung von G e h e i m n i s ist. Dem Glaubenist deswegen ein Wort, das in der Bibel steht, darum, weil es in ihr steht, etwas anderes als ein gleichlautendes etwa bei Laotse oder Piaton. Denn dem Glauben ist nicht die Idee allein wichtig, sondern ebensosehr die Gegebenheit der Idee; oder vielmehr: es handelt sich nicht um Idee, sondern um konkretes G e s c h e h n i s der Offenbarung, aktuelles Gespräch Gottes mit dem Menschen. Darum verhalten wir uns zur Schrift, sofern sie uns Wort Gottes ist, nicht wie zu den anderen Büchern, mögen 6ie noch so religiös, wahr, weise, ehrwürdig sein, mag auch in diesen Büchern manches schöner und sogar wahrer gesagt sein. Denn es geht dem Glauben gar nicht um »Manches«, sondern immer um das eine, und damit es dies eine.sei, ist notwendig, daß es in diesem »zufälligen« Verband, Bibel genannt, vorkomme. E s wird dadurch eo ipso ein anderes als jenes besser gesagte »Gleiche «. Damit ist gesagt, daß die Stellung zu den einzelnen Worten und Tatsachen der Schrift eine ganz andere ist als im orthodoxen Verständnis. »Die Krippe, darinnen Christus liegt«, ist nicht Christus selbst. Die Worte

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der Schrift, in denen, uns Christus bezeugt wird, sind nicht Christus selbst — trotzdem wir ihn selbst nur durch diese Worte kennen. Sie sind, für sich genommen, m e n s c h l i c h e W o r t e . Die Bibel ist menschliches Zeugnis von Gott, aber durch dieses Menschliche hindurch bezeugt sich Gott selbst. Die Kreuzigung Jesu war wohl ein Justizmord; das hindert nicht, daß sie das Heil der Welt ist. Sie beruht auf falschen Zeugenaussagen, trotzdem, j a gerade darin ist sie dem Glauben die Wahrheit über aller Wahrheit. So die Bibel als ganzes. Sie ist voller Irrtümer, Widersprüche, irriger Anschauungen von mancherlei menschlichen, natürlichen geschichtlichen Verhältnissen. Sie enthält mannigfache Widersprüche im Bericht über das Leben Jesu, sie ist überwachsen mit Legende auch im Neuen Testament. Manche ihrer Teile sind in sehr unbeholfener, gewöhnlicher, sogar fehlerhafter Sprache geschrieben, andere wieder erheben sich zur Höhe großartigster Literaturwerke. Weder stört das eine, noch vermehrt das andere die Glaubensautorität der Schrift. Es kann aus dem schlechtesten Griechisch — vielleicht möchte man das johanneische als solches bezeichnen —. das Wort Gottes am deutlichsten heraustönen. Diese Unterscheidung einer menschlichen von einer göttlichen Seite der Schrift ist nicht nur erlaubt — »wenns denn einmal nicht anders geht« — sondern ohne sie ist der Bibelglaube u n r e i n , vermischt mit Bibelgötzentum. Gerade in dieser Freiheit, die menschliche von der göttlichen Seite zu unterscheiden (wenn auch nie zu scheiden) beruht das Eigentümliche des christlichen Bibelglaubens gegenüber aller sonstigen Verehrung heiliger Schriften. Alle anderen heiligen Schriften sind zugleich Fetische, Zauberbücher — als was j a oft genug auch die Bibel mißbraucht wurde — und es gehört zu ihnen, das zu sein. Zum christlichen Glauben gehört es, daß die Bibel das nicht sei. Sie ist kein Orakelbuch, kein göttliches Konversationslexikon unfehlbarer Belehrung über alle möglichen und unmöglichen Dinge. Wird sie so gebraucht, so wird sie ihrem Sinn entfremdet, mißbraucht. Es gehört auch zu dieser — wie zu aller biblischen Offenbarung Gottes im Fleisch — das finitum non est capax infiniti, das B e w u ß t s e i n d e r I n k o n g r u e n z zwischen dem Offenbarungsmittel und dem Offenbarten. Es ist der »Stil« der Offenbarung Gottes, sich der Knechtsgestalt zu bedienen, sich tief herabzulassen und hineinzulassen in die irdische Gebrechlichkeit, nicht mit dem Pomp heidnischer Theophanien sich dem Schauen der Menschen aufzudrängen, sondern auch in der Offenbarung als der verborgene sich suchen zu lassen. Es gehört zu dem Gott, dem es gefallen, ein kleines, unscheinbares, wildes Volk auszuwählen und am Kreuz auf Golgatha sein tiefstes Geheimnis zu offenbaren, daß er sein Wort in einem Literaturdokument uns gebe, an dem die Kritiker mit ihrer rechtschaffenen Arbeit durch Generationen hindurch genug zu tun haben werden. Bibelglaube schließt Bibelkritik nicht aus, sondern ein.

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Historie.

F ü r den kritischen Historiker als solchen ist die Bibel eine zufällige Einheit, eine Sammlung von Dokumenten verschiedenster Art, d a r u m ein Repertorium von Bausteinen zur Rekonstruktion eines allgemeinen historischen Zusammenhangs. Eine »Bibel« gibt es f ü r ihn nicht. Denn was dem Glauben die Bibel zur Einheit m a c h t , existiert f ü r ihn als Mann der Wissenschaft nicht. E r k a n n vielmehr von diesen D o k u m e n t e n n u r d a n n Gebrauch machen, wenn er sie aus dieser »zufälligen« Einheit, dem Kanon, herauslöst, u m jeden Teil am richtigen Ort des historischen Kontinuums einzufügen. Aber was ist das h i s t o r i s c h e K o n t i n u u m ? Nicht bloß der kausale Zusammenhang der raumzeitlichen Geschehnisse. Als solche, als bloßer Vergangenheitsfilm, sind sie noch sinnlos. Neben dem raumzeitlichen b r a u c h t der Historiker vielmehr noch ein anderes K o n t i n u u m : das natürlich-menschlich Analogische. I m raumzeitlichen K o n t i n u u m ist jedes sinnvolle Wort eine dunkle Stelle. Denn »Sinn« ist keine sichtbare, raumzeitliche Begebenheit. Aber im K o n t i n u u m des Analogischen ist das sinnvolle W o r t eine helle Stelle: gerade dadurch, daß es einen verständlichen Sinn h a t , ist es als Geschichtsfaktum einreihbar. Aber n u n ist allerdings nicht gesagt, d a ß alles was geschieht, in eines dieser beiden K o n t i n u a sich einfügen müsse. Es könnte sich etwas ereignen, das weder kausal noch analogisch-sinnhaft ist, also dem sonstigen Geschehen, dem K o n t i n u u m sich nicht einordnen ließe. Es entstünde dadurch sozusagen in beiden Kontinuen eine dunkle Stelle. Der Historiker ist zwar durch seine Arbeitshypothese, seine Methode — die ihn als Wissenschafter qualifiziert — genötigt, an der Beseitigung dieser dunklen Stelle zu arbeiten. Aber es wäre unwissenschaftliche Voreingenommenheit, wenn er zum voraus b e h a u p t e n wollte, diese dunkle Stelle m ü s s e sich aufhellen lassen, es könne nichts f ü r ihn grundsätzlich Unbegreifliches, Unfaßliches geben. Stellt er eine solche B e h a u p t u n g auf, so t r i t t er v o m wissenschaftlichen Boden hinüber auf den einer b e s t i m m t e n Metaphysik oder Spekulation. F ü r das mit den Mitteln der Analogie arbeitende historische Verstehen sind n u n z. B. die Texte der Bibel zu einem großen Teil solche »dunkle Stellen i m Kontinuum«. Sie geben sich offenkundig als sinnmeinend, sie erheben den Anspruch, wahr zu sein. Aber f ü r den Historiker, der mit dem Analogiekontinuum arbeitet, sind sie teilweise oder ganz sinnwidrig, dunkel. E r k a n n n u n versuchen, sie trotzdem dem einen oder anderen K o n t i n u u m einzuordnen, sie entweder zu e r k l ä r e n (z. B. aus primitiver Psychologie, aus zeitgeschichtlichen Beschränktheiten, aus vorübergehenden psychischen Anomalien usw.) oder sie sich zum V e r s t e h e n zurechtzumachen, d. h. das Sinnwidrige einfach auszuscheiden, sie auf allgemeine Ideenwahrheit, sei's moralische oder religiöse oder

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m e t a p h y s i s c h e , z u r ü c k z u f ü h r e n . Aber der g u t e Historiker wird beides n i c h t ohne g r ö ß t e B e d e n k e n t u n . D e n n ohne Gewalt k a n n keines v o n b e i d e m geschehen. E r wird also, w e n n er ein besonnener Historiker ist, zugestehen, d a ß er d a auf eine geschichtliche T a t s a c h e stoße, die sich n i c h t wohl seinen beiden K o n t i n u e n einordnen lasse, etwas, das i h m »vorläufig r ä t s e l h a f t « — oder »grundsätzlich r ä t s e l h a f t « ist. J e m e h r er ü b e r die Grenze j e d e r wissenschaftlichen E r k e n n t n i s Bescheid weiß, d. h . ein kritischer Forscher ist, desto eher wird er sich d a z u v e r s t e h e n , stehenzubleiben v o r d e m , was sich ins Allgemein - Analogische n i c h t einordnen l ä ß t . D e n n er weiß als kritischer Historiker, d a ß er als solcher d u r c h keine Methode ü b e r die S t r u k t u r des Geschehens v e r f ü g t , d a ß er a u c h f ü r solches Geschehen offenbleiben m u ß , das er weder v e r s t e h e n n o c h erklären k a n n — falls es solches geben sollte. E i n e zweite allgemeine F r a g e ist die n a c h d e m Verhältnis v o n h i s t o r i s c h e r u n d G l a u b e n s g e w i ß h e i t . Die R e k o n s t r u k t i o n des Vergangenheitsbildes gehört zur empirischen E r k e n n t n i s , die als solche i m m e r n u r Wahrscheinlichkeit, nie absolute Gewißheit b i e t e t . J e weiter die geschichtliche E n t f e r n u n g , desto größer die Ungewißheit. J e d e s historische Urteil ist n u r ein v o r l ä u f i g e s , da alle historischen Aussagen sich gegenseitig b e d i n g e n , also keines f ü r sich ein f ü r allemal fertig sein k a n n . J e d e historische Feststellung ist also eine Feststellung auf Zusehen, u n t e r V o r b e h a l t späterer K o r r e k t u r . Das gilt selbstverständlich a u c h f ü r historische Urteile ü b e r Biblisches. A b e r n u n fällt ü b e r dasselbe Biblische der Glaube a b s o l u t e U r t e i l e , die n u r Sinn h a b e n , w e n n sie absolute Gewißheit h a b e n . W e n n sich der G l a u b e auf die historischen Aussagen des Historikers s t ü t z t e , so b e f ä n d e er sich allerdings m i t sich selbst in einem unerträglichen W i d e r s p r u c h : etwas n u r v o r l ä u f i g u n d r e l a t i v Gewisses m ü ß t e er zugleich f ü r u n b e d i n g t gewiß h a l t e n . D a r a u s h a t u n b e s o n n e n e r theologischer, vielmehr religionsphilosophischer R a t i o n a l i s m u s den Schluß gezogen, der Glaube sehe sich also, u m ü b e r h a u p t dieser Ungewißheit n i c h t ausgesetzt zu sein, genötigt, v o m Geschichtlichen sich f r e i z u m a c h e n . Diesem Schluß liegt aber die Voraussetzung z u g r u n d e , jenes Geschichtliche sei d e m Glauben u n d der Historie i m s e l b e n S i n n e als geschichtlich gegeben. E b e n diese V o r a u s s e t z u n g wird v o m G l a u b e n v e r n e i n t . E r beh a u p t e t , zu e t w a s Geschichtlichem in einem schlechterdings einzigartigen Verhältnis zu s t e h e n : nämlich i m Verhältnis der Gleichzeitigkeit, j a sogar der I d e n t i t ä t . Dieses Verhältnis b e s t e h t aber n u r d o r t , wo die Geschichte als »Urgeschichte« im Sinn des vorigen Kapitels b e s t i m m t werden k a n n . Die Mißbräuchlichkeit dieses Begriffs i n n e r h a l b der A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen G l a u b e n s a n s p r ü c h e n u n d historischer K r i t i k beweist nichts gegen seine L e g i t i m i t ä t . W e n n J e s u s wirklich der Christus ist u n d w e n n derselbe G o t t , der sich in i h m o f f e n b a r t , sich u n d diese O f f e n b a r u n g i m G l a u b e n d e n selbst bezeugt, so ist eben d a r i n E t w a s , Handb. d. Phil. II.

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was dem Historiker n u r ein. P u n k t i m historischen K o n t i n u u m von relativer Gewißheit ist, dem Glauben in ganz anderem Zusammenhang absolut gewiß. Der Historiker wird sich n u r d a f ü r wehren, daß dieses Argument nicht in die rein historische Diskussion geworfen werde, d a ß vielmehr die B e t r a c h t u n g der Geschichte als »Urgeschichte« f ü r ihn n u r als Grenze seiner eigenen Arbeit u n d Kompetenz in Betracht k o m m e n könne. Wenden wir uns von diesen allgemeinen den wichtigsten Einzelproblemen zu, die sich u m die allgemeine Aussage des Glaubens über die Schrift gruppieren, so ist wohl das erste das der E i n h e i t d e r S c h r i f t . Wie die Bibel f ü r den Historiker keine Ganzheit, sondern ein zufälliges Konglomerat von Literaturstücken ist, so ist sie f ü r ihn auch keine innere Einheit. Die Behauptung, das Alte Testament handle ebenso wie das Neue von Jesus Christus, ist f ü r ihn schlechterdings ohne Sinn. Den inneren, sachlichen Zusammenhang des Alten u n d Neuen T e s t a m e n t s — v o m historischen Zusammenhang ist hier nicht die Rede — k a n n n u r der Glaube selbst erkennen. Aber der Historiker wird, wenn er kein K o n s t r u k t e u r u n d Gewalttäter, sondern ein einsichtiger u n d sorgfältiger Finder geschichtlicher Wirklichkeit ist, wenigstens auf die Gleichartigkeit der gedanklichen S t r u k t u r des Alten u n d Neuen Testamentes u n d ihre spezifische Verschiedenheit von der »übrigen Religionsgeschichte« aufmerksam sein. Denn d a s E i g e n t ü m l i c h e a m A l t e n T e s t a m e n t — soweit es auch dem Historiker als solchem erkennbar werden k a n n — sind j a nicht einzelne religiöse oder sittliche Ideen f ü r sich genommen, sondern das merkwürdige Zusammensein dieses Einzelnen, das als ein immer wiederkehrendes, durchgehendes auch von ihm nicht als zufällig beurteilt werden k a n n . Mag m a n , als erste Annäherung, f ü r das Wesen des alttestamentlichen Gottesglaubens den Ausdruck: sittlicher Monotheismus wählen, so m u ß doch sofort klar sein, daß damit etwas grundanderes gemeint sein m u ß , als wenn m a n mit demselben Namen etwa Erscheinungen wie die Religion Piatons, Epiktets, oder irgendeine moralische Aufklärungsreligion belegt. Denn nicht u m eine allgemeine Sittlichkeit, die mit einem blassen Gottesgedanken verbunden ist, wie etwa bei E p i k t e t , handelt es sich hier, n i c h t u m eine grundsätzlich i n n e r m e n s c h l i c h u n d i n n e r w e l t l i c h gedachte E t h i k , sondern u m Gottes Eigenwillen, Gottes BundesSchluß mit den Menschen, Gottes Herrschaft. Das Grundgebot, das alle anderen in sich schließt, heißt hier: Gottesfurcht, Heiligung des göttlichen Namens, wie er durch göttliche Offenbarung allein k u n d geworden ist. D a r u m ist dieser Gott in ganz anderem Sinne persönlich, als m a n dies auch v o m Gott E p i k t e t s oder Piatons sagen k ö n n t e : E r ist nicht die Weltseele, nicht die Idee der Ideen, nicht der Weltaufseher des Deismus, nicht das JIQWTOV xivoftv des Aristoteles, sondern der Herr der Welt u n d der Herr der Geschichte, der in unbegreiflicher Weise seine K r e a t u r lenkt, wie er sie unbegreiflich durch sein Wort ins Dasein

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gerufen, u n d der als dieser unbegreiflich W a l t e n d e sich d u r c h sein lebendig eingreifendes T u n u n d R e d e n o f f e n b a r t . Alle Analogien v o n e t h i s c h e m Monotheismus zerrinnen vollends in nichts, w e n n wir b e m e r k e n , d a ß dieser f u r c h t b a r e , heilige, zornige G o t t , der Herrscher u n d Richter, zugleich der e r b a r m e n d e V a t e r ist, der bei d e n e n w o h n t , die ein zerschlagenes Herz h a b e n , die wissen, d a ß v o r i h m kein Lebendiger gerecht ist, der die U n g e t r e u e n i m m e r wieder zu sich zieht, der die arge Welt, die er g u t geschaffen, wieder herstellen will, dessen ganzes W i r k e n , in Zorn u n d Milde, in Gericht u n d Erlösung, in Gesetz u n d V e r h e i ß u n g i m m e r u n t e r d e m einen G e s i c h t s p u n k t s t e h t : B u n d G o t t e s m i t d e m Menschenvolk, Wiederherstellung der göttlichen Alleinherschaft, die d u r c h die U n b o t m ä ß i g k e i t der Menschen v e r d u n k e l t ist. U n d dieser, d u r c h diese seltsamen Z u s a m m e n s t e l l u n g e n i m m e r p a r a d o x e I n h a l t ist n u n gegeben n i c h t als F r u c h t menschlicher E r k e n n t nisarbeit, n i c h t als j e d e m ohne weiteres einleuchtende Allgemeinwahrheit, n i c h t als sensus communis, sondern sogar das moralische Gesetz ist gegeben d u r c h freie, herrische göttliche O f f e n b a r u n g s t a t , als etwas v o m Menschenvolk Unerreichbares, aus der einsamen Begegnung G o t t e s m i t d e m Mittler Moses v o n der Spitze des Sinai h e r u n t e r zu i h m g e k o m m e n , als ein G e s c h e n k , in d e m G o t t zugleich seine F e r n e u n d N ä h e , seine B a r m herzigkeit u n d seinen f u r c h t b a r e n E r n s t k u n d t u t . D e r P r o p h e t , der auserwählte G o t t e s m a n n , als M i t t l e r zwischen G o t t u n d d e m Menschen, das ist die besondere Gegebenheitsform dieses besonderen I n h a l t s . Keine homines religiosi i m Sinn der Religionsgeschichte sind diese P r o p h e t e n , keine Heiligen, keine v o m Volk v e r e h r t e n Religionsmuster, keine Asketen, die die via religiosa gehen u n d lehren, keine G o t t s ü c h t i g e n , die einen besonderen U m g a n g , besondere Ausnahmeerlebnisse m i t G o t t suchen u n d pflegen. Vielmehr solche, die selbst w i d e r s t r e b e n d v o n G o t t in besonderen Dienst g e n o m m e n , v o n i h m einfach g e b r a u c h t u n d v e r b r a u c h t werden, die n i e m a n d a n sich ziehen, n i e m a n d e m sich z u m Vorbild oder gar zur V e r e h r u n g setzen, unpersönliche K a n ä l e seines f o r d e r n d e n u n d verheißenden W o r t e s , Menschen, die ganz a u f g e h e n in der A u s r i c h t u n g des Wortes, ihres A u f t r a g s an die W e l t . N i c h t sie selbst, n i c h t ihr religiöses Leben — v o n d e m wir meist so g u t wie nichts wissen —, sondern das o b j e k t i v e W o r t Gottes f ü r die Welt ist es, was d u r c h sie in die Geschichte eingeht. Von d a aus allein ist n u n a u c h das m e r k w ü r d i g s t e K a p i t e l v e r s t ä n d lich, in d e m sich der ganze Sinn des A l t e n T e s t a m e n t s k o n z e n t r i e r t : D e r B u n d Gottes m i t den Menschen, der doch kein P a r t n e r v e r h ä l t n i s zul ä ß t , das Gericht Gottes, das zugleich Z u r e c h t r i c h t u n g ist, der Mittler des W o r t e s , der sich ganz a n Gottes Menschheitswerk hingibt u n d in d e m doch eigentlich G o t t sich den Menschen h i n g i b t : das K a p i t e l v o m l e i d e n d e n G o t t e s k n e c h t , J e s a j a 53; die Weissagung v o n d e m u n b e dingt Gehorsamen, der sein Leben z u m Schuldopfer gibt, er, der selber v o l l k o m m e n Gerechte.

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W a s neuere historische Auslegungskunst zur E r k l ä r u n g dieses Höhep u n k t e s i m A l t e n T e s t a m e n t b e i g e b r a c h t h a t , erweist sich als völlig u n g e n ü g e n d zu seinem V e r s t ä n d n i s . Möge m a n i m m e r h i n a n n e h m e n , der G o t t e s k n e c h t sei das Volk Israel, so ist es doch n i m m e r m e h r das empirischgeschichtliche Volk, sondern eine d u r c h keine p r a g m a t i s c h e n Begriffe zu fassende E r s c h e i n u n g . D a s eigentliche S u b j e k t in diesem K a p i t e l i s t G o t t s e l b s t . E s ist seine G n a d e , d a ß das alles geschieht, was sonst als U n r e c h t gegen diesen Unschuldigen erscheinen m ü ß t e . Hier stehen wir u n m i t t e l b a r v o r der O f f e n b a r u n g , wo S ü n d e n s ü h n e u n d göttliche Vergebung, wo G o t t e s w o r t u n d G o t t e s t a t , wo Gericht u n d V e r h e i ß u n g eins ist in d e m W o r t , das völlige persönliche Gegenwart Gottes, u n d in d e m geschichtlich Wirklichen, das ganz u n d gar n u r G o t t e s w o r t i s t : J e s u s Christus. Gewiß wird der Historiker i m s t a n d e sein, b e i n a h e j e d e n wichtigeren Einzelzug i m Alten T e s t a m e n t m i t Parallelen aus a n d e r e n Religionen zu belegen. A b e r n u r krassester Materialismus, der Zeichen u n d Sache verwechselt, k a n n d a r ü b e r hinwegsehen, d a ß der ganz andere Z u s a m m e n h a n g , eben der p a r a d o x e Z u s a m m e n h a n g , in d e m alles, was a u c h sonstwo v o r k o m m t , h i e r erscheint, j e d e m dieser Züge einen ganz a n d e r e n Sinn gibt, wie er eben sonst n i c h t v o r k o m m t , einen Sinn, v o r d e m freilich der N u r - H i s t o r i k e r k o p f s c h ü t t e l n d verständnislos d a s t e h e n w i r d , dessen A n d e r s a r t i g k e i t allem sonst B e k a n n t e n gegenüber er a b e r , w e n n er sehend ist, n i c h t leugnen k a n n . E r wird vielleicht m i t S t a u n e n feststellen, wie in der T a t gerade diese p a r a d o x e Sinneinheit, die i m A l t e n T e s t a m e n t i m m e r deutlicher h e r v o r t r i t t , i m N e u e n T e s t a m e n t v o l l e n d e t ist, wie alle Linien, die hier beginnen, d o r t in einem P u n k t zus a m m e n l a u f e n . H i n t e r dieser f ü r i h n in ihrer F r e m d a r t i g k e i t gerade n o c h feststellbaren, aber n i c h t d e u t b a r e n E i n h e i t , e r k e n n t der Glaube das eine Zeugnis v o n der G o t t e s o f f e n b a r u n g in J e s u s Christus, der n i c h t m e h r n u r das W o r t r e d e t , sondern i s t ; der n i c h t m e h r n u r V e r g e b u n g verk ü n d e t , sondern s c h a f f t , der n i c h t bloß das Gottesreich a n k ü n d e t , sondern darstellt u n d b r i n g t . Ähnlich v e r h ä l t es sich mit der E i n h e i t d e s N e u e n T e s t a m e n t s selbst. Der Historiker wird a u c h hier — das ist sein gutes R e c h t — die verschiedenen »Lehrkreise« — e t w a den synoptischen, paulinischen u n d j o h a n n e i s c h e n — a u s e i n a n d e r h a l t e n . Aber w e n n er vorurteilslos, hellsichtig genug ist, wird er n i c h t u m h i n k ö n n e n , a u c h hier die S p u r e n einer i m m e r wiederkehrenden E i n h e i t s s t r u k t u r w a h r z u n e h m e n , die er n i c h t m e h r k a u s a l oder analogisch zu begreifen v e r m a g . Alle S c h r i f t e n des N e u e n T e s t a m e n t s , die ältesten wie die j ü n g s t e n , die synoptischen wie die a n d e r e n , bezeugen e i n m ü t i g J e s u s v o n N a z a r e t h , diesen Menschen, als den C h r i s t u s , d e n » H e r r n « , als den, der die W e l t w e n d e z u m Gericht u n d Heil h e r b e i b r i n g t , dessen W i e d e r k o m m e n das E n d e der W e l t z e i t b e d e u t e t . Gegenüber dieser f u n d a m e n t a l e n E i n h e i t verschwin-

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den alle Differenzen. W a r u m soll sich d e n n n i c h t das U n f a ß b a r e verschieden a u s d r ü c k e n ? I s t es verwunderlich, d a ß die Christengemeinde erst Zeit b r a u c h t e , u m ü b e r den Sinn des U n g e h e u r e n , das i h r geschehen w a r , zur K l a r h e i t zu k o m m e n ? I s t doch m i t d e m einen schlichten G e b e t : Maranatha, K o m m H e r r (Jesu), das o f f e n b a r , wie der a r a m ä i s c h e W o r t l a u t der Überlieferung schließen l ä ß t , a u c h v o n den J u d e n c h r i s t e n — also v o n solchen, die das erste Gebot k a n n t e n ! — gebetet w u r d e , schon alles gesagt, was die k ü h n s t e n F o r m e l n des N i c ä n u m s u n d des Chalcedonense begrifflich f i x i e r t e n . D e m Historiker ist es n i c h t zu v e r w e h r e n , d a ß er a u c h h i n t e r diese älteste Gemeindeüberlieferung zurückzugehen v e r s u c h t , u m ein möglichst getreues J e s u s b i l d zu gewinnen. Dieser Versuch, einst m i t großer Zuversicht u n d j e t z t n u r n o c h m i t größter Z u r ü c k h a l t u n g u n t e r n o m m e n , ist theologisch wenig bedeutungsvoll. D e n n zweierlei m u ß d e m Historiker klar sein: E r s t e n s , d a ß das historisch p r i m ä r Gegebene das Christuszeugnis der Gemeinde, n i c h t ein profangeschichtlich v e r w e r t b a r e s Leben J e s u ist, d a ß er als H i s t o r i k e r aus j e n e n Quellen etwas ganz anderes m a c h t als was sie selbst bezweckten. U n d zweitens, d a ß sein U n t e r n e h m e n , möge es n u n so oder so ausfallen, die G l a u b e n s f r a g e : wer w a r J e s u s ? n i c h t entscheidet. Gesetzt der Fall, die R e k o n s t r u k t i o n des lückenlosen Geschichtsfilms f ü h r t e zur W a h r n e h m u n g , d a ß J e s u s wirklich n i c h t s ü b e r seine Messianität, nichts ü b e r seine entscheidende B e d e u t u n g i m Verhältnis zwischen G o t t u n d Mensch, nichts ü b e r die B e d e u t u n g seines Leidens u n d Sterbens f ü r die G o t t e s o f f e n b a r u n g u n d das G o t t e s w e r k ausgesagt h ä t t e : so bliebe d u r c h diese W a h r n e h m u n g das apostolische Zeugnis u n d der d a r a u f g e g r ü n d e t e Glaube u n a n g e t a s t e t . W e r will die conditiones sine qua non f ü r die geschichtliche E r scheinung des Erlösers, f ü r seine W i r k s a m k e i t u n d L e h r e aufstellen ? W a r u m sollte n i c h t einer, dessen geschichtliche E r s c h e i n u n g n u r (!) die eines P r o p h e t e n w a r , der Gottessohn u n d Erlöser s e i n , sein L e b e n u n d S t e r b e n die G o t t e s t a t , die ü b e r alles P r o p h e t i s c h e ebenso h i n a u s g e h t , wie die E r f ü l l u n g ü b e r die Verheißung ? D e r Historiker v e r m a g wohl bis zu einem gewissen G r a d das Bild J e s u zu r e k o n s t r u i e r e n : ü b e r den Sinn, ü b e r die p n e u m a t i s c h e W i r k lichkeit dieses Bildes v e r m a g er nichts a u s z u m a c h e n . W a r u m z. B. sollte J e s u s , w e n n er wirklich der Christus war, das, was erst geschehen sollte, in seinem W o r t v o r w e g n e h m e n u n d es so gerade seiner Wirklichkeit entkleiden ? W a r u m sollte er das I n k o g n i t o seiner Messianität l ü f t e n , wo doch alles d a r a u f a n k a m , d a ß d a r a u s keine Theorie w u r d e , d a ß es Sache persönlicher E n t s c h e i d u n g bleibe ? I s t es so verwunderlich, d a ß der »geschichtliche Jesus« so ganz anders spricht als die Zeugen seines Kreuzes u n d seiner A u f e r s t e h u n g ? Gewiß bleibt es, rein menschlich gesprochen, j e d e m u n b e n o m m e n , b e i ' d i e s e m Jesusbild stehen zu bleiben u n d das Zeugnis der Urgemeinde

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abzulehnen. N u r soll er wissen, daß das Bild, vermöge dessen er seine Entscheidung fällt, ein Teil ist innerhalb jenes Zeugnisses, das er abl e h n t ; d a ß es zu keiner Zeit eine christliche Gemeinde gab, die Jesus anders k a n n t e wie als den, der »Objekt« des Glaubens u n d der Verkündigung, a l l e n M e n s c h e n g e g e n ü b e r der auf Gottes Seite stehende Herr, nicht Erlöster, sondern Erlöser, nicht Mitgerichteter, sondern Richter, nicht Mitbetender, sondern Angebeteter war, u n d d a ß eben darin allein die christliche Gemeinde damals u n d jederzeit sich unterscheidet von anderen Religionsgemeinschaften. Aber wir haben mehr konzediert als wir sollten. Auch die geschichtliche Erscheinung Jesu — wie sie hinter dem Zeugnis der Urgemeinde gesucht werden k a n n — ist n i c h t e i n d e u t i g in irgendein dem Historiker zur Verfügung stehendes a n a l o g i s c h e s Schema einzufügen. Das zeigt die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung deutlich genug. Zwei Theorien stehen sich unversöhnlich gegenüber: diejenige, die in Jesus den Propheten sieht, der eine »hohe, reine sittliche Religiosität« lehrte u n d seinen göttlichen A u f t r a g in dieser »Verkündigung« s a h ; den Jesus, der sich, wie Wellhausen sagt, selbst u n t e r dem Bild des Säemanns darstellte, der den göttlichen Samen ruhig über die Erde streut. Und die andere, die eschatologische, die all sein T u n u n d Reden als „ T a t e n des Messiasbewußtseins" als Ausdruck eines f ü r uns unverständlichen „ d o g m a t i s c h e n " (Schweitzer) Messiasanspruchs wertet u n d auf das wunderbare K o m m e n des messianischen Reiches bezieht. F ü r die eine Auffassung bleibt das Messianisch-Eschatologische — sofern es nicht gänzlich umgedeutet wird — unverständlich. Sie versucht d a r u m , es als spätere Gemeindetheologie oder aber als unbedeutenden Nebenzug v o m Bilde Jesu auszustreichen. F ü r die andere bleibt die von jeder Schwärmerei freie, sittlich-menschliche Hoheit u n d R u h e der Jesuserscheinung u n d der ganze ungeheure — auch vom Profanhistoriker nicht zu leugnende — Sachgehalt seiner Verkündigung als etwas, was mit jener phantastischen Dogmatik allzukraß kontrastiert, unerklärlich. N u r mit Gewalttätigkeit k a n n der T a t b e s t a n d der Überlieferung von diesem Widerspruch gereinigt werden. F ü r den Historiker bleibt Jesus, so gut wie die E n t s t e h u n g des Urchristentums, des Auferstehungs- u n d Christusglaubens, ein R ä t s e l , eine D u n k e l s t e l l e i m K o n t i n u u m , die n u r durch willkürliche Konstruktionen weg erklärt oder n u r durch fade psychologische K ü n s t e in ein Analogisches umgedeutet werden k a n n . E s sind keineswegs, wie so oft b e h a u p t e t wird, die Resultate der kritischen Forschung, sondern es ist nichts anderes als die D e n k r i c h t u n g d e s m o d e r n e n M e n s c h e n , was zwischen uns u n d das Zeugnis des Neuen Testaments t r i t t . Es ist im Gegenteil so, daß f ü r den Historiker eher die Versuchung bestünde, schon d a r u m sich f ü r den Christusglauben zu entscheiden (wenn das möglich wäre), u m so endlich das auf keine andere Weise zu bewältigende Problem lösen zu können.

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Endlich sei noch auf das P r o b l e m , das in der n e u e s t e n Zeit i m Vord e r g r u n d s t a n d , ein Blick geworfen: die » r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e E r k ä r u n g « . Auf die u n l e u g b a r e T a t s a c h e , d a ß a u c h die n e u t e s t a m e n t lichen Schriftsteller wie alle Menschen sich in der Sprache ihrer Zeit a u s d r ü c k t e n , h a t m a n geglaubt die Theorie b a u e n zu d ü r f e n , das Neue T e s t a m e n t sei in wesentlichen I n h a l t e n aus der hellenistisch-spätjüdischgnostischen Religionswelt zu erklären. Man h a t sich o f f e n b a r , d e m allgemeinen Positivismus oder K a u s a l i s m u s der Zeit folgend, ohne weiteres den Schluß v o m post hoc auf das propter hoc e r l a u b t , ohne zu b e d e n k e n , d a ß die sinnvolle R e d e eines Selberdenkers in seiner »Vorlage« niemals ihren G r u n d , sondern höchstens i h r e n A n l a ß h a t . Ganz besonders schlimm ist a b e r dieser T r u g s c h l u ß d a n n , w e n n bloß die W o r t e , das Vorstellungsmaterial, aber n i c h t der Sinn, d . h . der innere Z u s a m m e n h a n g derselbe ist. F ü r die Theorie v o n der Verbalinspiration m ö c h t e n allerdings solche S t a m m b ä u m e der W o r t e u n d einzelnen Vorstellungen f a t a l w e r d e n ; mit der Theorie v o m »Griechisch des Heiligen Geistes« ist es n u n wirklich ein f ü r allemal aus, wie m i t j e d e r mechanischen Inspirationslehre. D a v o n ist hier n i c h t die R e d e . Aber der maßlosen Übers c h ä t z u n g dieser religionsgeschichtlichen Parallelen ist doch die einfache W a h r h e i t e n t g e g e n z u h a l t e n , d a ß W o r t e u n d Vorstellungsmaterial a n sich zum Sinn sich n i c h t viel anders v e r h a l t e n als F a r b e n u n d L e i n w a n d z u m Gemälde. Dasselbe Material b e n u t z t der S t ü m p e r u n d der Meister; was sie u n t e r s c h e i d e t ist das, was sie » d a m i t s a g e n « , d. h . die S i n n e i n h e i t , in deren Dienst diese W o r t e u n d Vorstellungen gezwungen werden, u n d die sich ihrerseits k u n d g i b t als » S t r u k t u r « des Vorstell u n g s m a t e r i a l s . E s ist grober Materialismus, beides m i t e i n a n d e r zu verwechseln; a b e r es ist allerdings zuzugeben, d a ß die S i n n s t r u k t u r n i c h t so leicht d u r c h wissenschaftliche T e c h n i k zu bewältigen ist, wie die Vorstellungsmaterialien. W e r e i n m a l den grundsätzlichen Unterschied zwischen der S t r u k t u r des biblischen D e n k e n s u n d der aller »übrigen« religionsgeschichtlichen E r s c h e i n u n g e n kennengelernt h a t (s. das vorige Kapitel), wird von solchen E r k l ä r u n g e n n i c h t m e h r als u n t e r g e o r d n e t e — d a r u m n i c h t geringzuschätzende — Belehrung e r w a r t e n . Der Gemeinsamkeit des Materials wird m a n umsoweniger entscheidende B e d e u t u n g beimessen, j e höher m a n — profanhistorisch a u s g e d r ü c k t — die O r i g i n a l i t ä t d e r i n d i v i d u e l l e n S t r u k t u r w e r t e t . D a ß diese im biblischen Gedankenkreis eine m a x i m a l e ist, wird kein besonnener Historiker — er m a g i m übrigen z u m C h r i s t e n t u m stehen, wie er will — in A b r e d e stellen. J e s u s , das U r c h r i s t e n t u m u n d die prophetische Religion Israels werden a u c h der einsichtigen P r o f a n h i s t o r i e »Erscheinungen v o n f u n d a m e n t a l r ä t s e l h a f t e r N a t u r « (Overbeck) bleiben. Die Bibel wäre n i c h t Gottes W o r t , w e n n sich das anders verhielte, positiv wie negativ, d . h . w e n n m a n sie wirklich restlos als menschliches Erzeugnis zu erklären verm ö c h t e , oder w e n n m a n zur A n e r k e n n u n g , d a ß sie m e h r als das sei, ge-

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zwingen würde. Sie ist Gottes Wort gerade darin, daß sie es d e r G l a u b e n s e n t s c h e i d u n g v o r b e h ä l t , dieses Urteil zu fällen. Aber sie ist es auch darin, daß der Glaube allerdings in i h r — weil sie so ist, wie sie ist — Gottes Offenbarung zu erkennen vermag, vielmehr erkennen muß, wenn Gott dieses Erkennen gibt. c) B i b e l u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e s

Weltbild.

Der erste Stoß gegen die orthodoxe Bibelauffassung kam aber nicht von Seiten der Historie, sondern der Naturwissenschaft. Die moderne Astrophysik, Geographie und Geologie haben das antik-biblische Weltbild für immer zerstört. Der Kampf der Orthodoxie gegen die moderne Wissenschaft, der da und dort noch weitergeführt wird, bedeutet vom christlichen Glauben aus nichts anderes als eine unnötige Verlängerung der Periode unwürdiger apologetischer Künste, die, aufs ganze gesehen, hinter uns liegt. Als eine Frucht dieser vergangenen Kämpfe darf man die erneute Besinnung über das Verhältnis der Glaubensaussagen zu den mit den Dingen der raumzeitlichen Welt beschäftigten Wissenschaften ansehen. Die Wissenschaft hat durch ihre ungeahnten Fortschritte den Glauben gezwungen, sich gewisser Reste von (primitiver) Wissenschaft zu entledigen, nicht etwa um sich »auf sein Gebiet zu beschränken« — denn das Gebiet des Glaubens ist alles Seiende —, sondern um sich d i e A r t u n d W e i s e s e i n e r B e z i e h u n g zu allem Seienden deutlicher zu machen. Die Erforschung der raumzeitlichen Dinge und Begebenheiten als solcher ist Sache der Wissenschaft allein; sofern es sich darum handelt, hat der Glaube auch in die wissenschaftliche Hypothesenbildung — auf der ja der ganze wissenschaftliche Fortschritt beruht — sich nicht einzumischen ; vor allem ist es die bedenklichste aller theologisch-apologetischen Künste, sich mit Vorliebe in den Lücken der wissenschaftlichen Theorien anzusiedeln. E s hätte der christlichen Theologie z. B. nie einfallen sollen, sich in den Streit um den Darwinismus einzumischen, sofern sich die evolutionistische Theorienbildung streng wissenschaftlich auf das Gebiet des grundsätzlich Beobachtbaren — also der r a u m z e i t l i c h e n Geschehnisse der Vergangenheit — beschränkte. Die Schwierigkeit der gültigen Hypothesenbildung über das zeitlich weit Entfernte hat mit ihrer grundsätzlichen Legitimität nichts zu tun und ist durchaus kein Anlaß für die Einmischung der Theologen. Anderseits sollte man von der Naturwissenschaft nachgerade die Erkenntnis verlangen dürfen, daß auch auf ihrem Gebiete Probleme sich ankünden, die nicht mehr oder nur noch zum Teil innerhalb der wissenschaftlichen Kompetenz liegen, wie z. B. das Problem der Formentstehung, der letzten Ursachen, wir könnten vielleicht kurz sagen: das Problem des Ursprungs (s. o. S. 61). Auch die Naturforschung stößt auf »Urphänomene« als Grenze wissenschaftlichen Forschens, über die allerdings mit

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den n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Mitteln a m allerwenigsten etwas ausz u m a c h e n ist. Sind diese grundsätzlichen U n t e r s c h e i d u n g e n einmal vollzogen, so wird sofort klar, wie unmöglich es ist, d a ß irgendeine der wesentlichen Positionen des christlichen Glaubens d u r c h die V e r ä n d e r u n g e n des wissenschaftlichen Weltbildes in Mitleidenschaft gezogen werden k a n n . E s ist z. B. r e c h t eigentlich n a i v zu glauben, d a ß d u r c h K o p e r n i k u s der Mensch aus d e r zentralen Stellung i m W e l t g a n z e n v e r d r ä n g t w o r d e n sei, die i h m d u r c h den Schöpfungs- u n d Erlösungsglauben zugewiesen w i r d ; d a r ü b e r wäre schon v o n K a n t , der seine philosophische Leistung sozusagen als A u f h e b u n g der kopernikanischen beurteilte, bezeichnete, das Wesentliche zu v e r n e h m e n . Die A n s c h a u u n g , die christliche Lehre v o m U r s t ä n d u n d S ü n d e n f a l l (Adam) sei d u r c h die m o d e r n e A n t h r o p o logie erledigt, ist ebenso seicht, als j e n e r S p o t t Laplaces, er h a b e a u c h m i t seinen b e s t e n F e r n r o h r e n keinen G o t t i m H i m m e l e n t d e c k e n könn e n . Gewiß ist es nötig, die biblischen Sachgehalte v o n i h r e n o f t aus p r i m i t i v e r Wissenschaft oder Mythologie s t a m m e n d e n F o r m e n abzulösen — was freilich n i c h t h e i ß t , sie d u r c h m o d e r n e G e d a n k e n zu ersetzen — ; aber diese A u f g a b e , die bereits in bezug auf die Himmelsvorstellung stillschweigend vor sich gegangen ist, gehört w a h r h a f t i g n i c h t zu den großen P r o b l e m e n der Theologie. Sie wird m e h r praktisch-pädagogische als wissenschaftliche Schwierigkeiten zu ü b e r w i n d e n h a b e n . D e r K o n f l i k t des G l a u b e n s mit der W i s s e n s c h a f t ist nie ein schwerer, nie einer, der aufs Zentrale geht. Dieser schwere K a m p f wird ausgefocht e n zwischen P h i l o s o p h i e u n d G l a u b e . N i c h t zwischen Glauben u n d Wissen b e s t e h t ein Gegensatz, sondern zwischen Glaube u n d Y e r n u n f t a u t o n o m i e , zwischen der existentiellen u n d einer rein theoretischen Stellung des Menschen zu seinem L e b e n u n d zur Geschichte. N i c h t die W i s s e n s c h a f t , sondern die falsche E i n s c h ä t z u n g der Wiss e n s c h a f t ist also der Gegner, der W i s s e n s c h a f t s m o n i s m u s , d. h . der Aberglaube a n e i n e W i s s e n s c h a f t , die alle möglichen E r k e n n t n i s s e in sich schließe. Über die Unrichtigkeit dieses W i s s e n s c h a f t s m o n i s m u s w ü r d e j e d e besonnene Methodenlehre oder E r k e n n t n i s k r i t i k A u f s c h l u ß geben. Die Wirklichkeit erscheint schon d e m kritischen Wissenschafter selbst als eine a b g e s t u f t e oder geschichtete, wo jeder f u n d a m e n t a l e n W i s s e n s c h a f t n u r eine »Schicht« zugeordnet ist. Die P h ä n o m e n e des Lebens t r a n s z e n d i e r e n als solche die P h y s i k , die P h ä n o m e n e des Bewußtseins die Biologie, die P h ä n o m e n e der Sinngesetzlichkeit oder N o r m a t i v i t ä t die Psychologie. Die jeweils höhere Stufe ist, sofern sie sich in den T a t s a c h e n der u n t e r n b e m e r k b a r m a c h t , »dunkle Stelle« in i h r e m K o n t i n u u m . Der P h y s i k e r als solcher weiß m i t d e m Begriff des Organismus n i c h t s a n z u f a n g e n , t r o t z d e m die Organismen i m Gebiet der P h y s i k a u f t r e t e n . E b e n s o geht es d e m Psychologen mit d e m Begriff der Freiheit usw. Man k a n n sich das ganze Sein als eine Reihe konzentrischer

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Kreise d e n k e n : innerhalb des weitesten dieser Kreise liegt alles was ist — im Sinn des Daseins —; innerhalb des innersten n u r der vernünftige Mensch. Mit der v o m modernen Menschen vor allem erfaßten K o n t i n u i t ä t a l l e s S e i n s k o m m t diese Unterscheidung gesonderter Kreise nicht in Konflikt, sobald wir erkennen, daß diese K o n t i n u i t ä t n u r e i n e e i n s e i t i g e , nicht eine u m k e h r b a r e ist. Der P u n k t ist n u r aus der Geraden als ihr Grenzfall zu verstehen, die Gerade n u r als Grenzfall der Fläche, die R u h e n u r als Grenzfall der Bewegung, das T o t e n u r als Grenzfall des Lebendigen, das Psychische n u r als Grenzfall des Geistigen. Das V e r s t ä n d n i s i s t n i c h t u m k e h r b a r . Der moderne Evolutionismus h a t viel dazu getan, diese Unumkehrbarkeit zu verdunkeln, indem er das post hoc zum propter hoc machte. D a d u r c h h a t er denn auch in die ganze Systematik der Wissenschaften die große Verwirrung gebracht, u n t e r der heute die Welt leidet u n d die auch auf der Diskussion des theologischreligionsphilosophischen Problems lastet. Es würde z. B. einen großen Fortschritt innerhalb der kritischen Bibelwissenschaft bedeuten, wenn diese Erkenntnis von der Schichtung der Wissenschaften sich einigermaßen allgemein durchsetzte, oder — was dasselbe heißt — wenn hier endlich der Aberglaube des Wissenschaftsmonismus verschwände. Man würde erkennen, wie auch die Bibel, von verschiedenen Stufen historischer Wissenschaft aus angesehen, ganz verschiedene Schichten ihrer Bedeutsamkeit enthüllt. Der Positivismus sieht in ihr nur soziologische Gesetzmäßigkeiten bestätigt, der Humanist oder Idealist sieht in ihr — wie etwa Herder — die Herrlichkeiten des Menschengemütes entfaltet. Wer auf dem Boden einer allgemeinen »Religion« (»Wesen der Religion«) steht, wird in ihr die Urlaute aller Religionen wiederfinden. Sie alle mögen ihr Recht haben. Die Frage ist nur, ob es nicht über ihnen allen noch eine andere Wissenschaft gebe, die nun v o n d e n V o r a u s s e t z u n g e n d e r B i b e l s e l b s t aus, d. h. unter dem Gesichtspunkt der besonderen Offenbarung, die Bibel erforscht. Diese Wissenschaft wäre d i e t h e o l o g i s c h - b i b l i s c h e , im Unterschied zur religionswissenschaftlichen. Ihr wissenschaftliches Kriterium wäre dasselbe, wie für alle Wissenschaft: Streng methodische Durchführung ihres eigenen Prinzips. Es ist das Vorurteil des Wissenschaftsmonismus, das viele immer noch einer solchen theologischen Wissenschaft das wissenschaftliche Recht aberkennen läßt, grundsätzlich dieselbe Borniertheit, wie die des Positivismus, der die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften leugnet.

F ü r das theologische Zentralproblem, das der Offenbarung, ist allerdings diese Erkenntnis der geschichteten Wirklichkeit u n d der ihr entsprechenden Systematik der Wissenschaften hauptsächlich von negativer B e d e u t u n g : Es können dadurch eine Unmenge von Scheinproblemen aus dem Wege g e r ä u m t werden. Das Wesen der Offenbarung selbst aber bedingt auch zu dieser, wie zu allen Vernunfterkenntnissen, eine doppelte Stellung. Einerseits erscheint die Offenbarung sozusagen als die S p i t z e d i e s e s g a n z e n S t u f e n b a u s : die Offenbarung ist der engste jener Kreise, innerhalb dessen nicht mehr jeder humanus, sondern n u r noch der eine, der Gottmensch steht. Die E r k e n n t n i s des sich offenbarenden Gottes wäre die höchste, die alle anderen in sich schlösse. Das ist das Bild, das die mittelalterliche Theologie, vor allem der Thomismus, v o m Sein und Wissen gibt. Die Offenbarung ist die eigentliche Vernunft, die Theo-

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logie die eigentliche W i s s e n s c h a f t . E s ist das deutliche Gegenstück z u m m o d e r n e n n a t u r a l i s t i s c h e n E v o l u t i o n i s m u s . E s ist n i c h t falsch, wie wir s a h e n . E s h a t f ü r sich die ganze W a h r h e i t , d a ß Christus des Gesetzes E r f ü l l u n g , d a ß die O f f e n b a r u n g die E r f ü l l u n g der N a t u r sowohl wie der H u m a n i t ä t ist. A b e r es ist einseitig, undialektisch u n d d a r i n falsch. D e n n die O f f e n b a r u n g s t e h t zur n a t ü r l i c h e n W a h r h e i t n i c h t bloß i m V e r h ä l t n i s der E r f ü l l u n g ; sie ist, u m a n dieses eine zu erinnern, n i c h t n u r die Spitze, in der die W a h r h e i t e n aller Religionen ihre E i n h e i t u n d V o l l e n d u n g f i n d e n . D e r A b s t a n d zwischen Christus u n d d e m sozusagen Superlative v e r n ü n f t i g e n Menschen ist n i c h t n u r ein M i n i m u m , sondern z u g l e i c h e i n M a x i m u m , i n d e m j a d o r t erst die S ü n d e vollwirklich wird. D e m T h o m a s w o r t : gratia non tollit, naturam sed peificit s t e h t all das entgegen, was in der O f f e n b a r u n g m i t S t e r b e n , U m k e h r e n , R ü c k k e h r , W i e d e r g e b u r t , N e u s c h a f f u n g gemeint ist. Das ganze Gesetz der S t u f e n o r d n u n g wird d u r c h das eine W o r t u m g e w o r f e n : so i h r n i c h t u m k e h r e t u n d w e r d e t wie die K i n d e r . . . . Das O b e n wird u n t e n , u n d das U n t e n wird oben. D e r l a s t e r h a f t e Zöllner ist n ä h e r als der tadellose P h a r i s ä e r , die U n m ü n d i g e n u n d T ö r i c h t e n n ä h e r als die Weisen u n d G r o ß e n . J a , g e r a d e d a s G e s e t z d e r S t u f e n o r d n u n g , d. h. die kontinuierliche A n n ä h e r u n g , ist das, w o g e g e n sich die göttliche Offenb a r u n g v o r allem r i c h t e t , weil in diesem G e d a n k e n die S o u v e r ä n i t ä t Gottes, die U n t e r s c h e i d u n g zwischen K r e a t u r u n d K r e a t o r , das schlechterdings einzigartige Verhältnis zwischen G o t t u n d allem was da ist, die E r k e n n t n i s , d a ß keine K o n t i n u i t ä t v o m Geschaffenen z u m Schöpfer, v o m menschlichen T u n z u m göttlichen Schaffen u n d Erlösen f ü h r t , gef ä h r d e t . E s ist der alles auf sich hin b e s t i m m e n d e G o t t , der j e n e K o n t i n u i t ä t b e g r ü n d e t ; a b e r es ist der sich seine Einzigkeit v o r b e h a l t e n d e G o t t , der alle K o n t i n u i t ä t zwischen sich u n d d e m Geschaffenen, also a u c h zwischen seiner S e l b s t o f f e n b a r u n g u n d aller menschlichen E r k e n n t nis a u f h e b t . D a r u m wird die G e l t e n d m a c h u n g der göttlichen Offenb a r u n g , wie sie der Theologie obliegt, diese »Wissenschaft« u n d ihre G r u n d l a g e , die ; Schrift, i m m e r in einen letzten Gegensatz gegen j e d e a n d e r e E r k e n n t n i s f ü h r e n , die weder a u f g e h o b e n werden k a n n n o c h aufgehoben w e r d e n soll. W ä r e d e m n i c h t so, so gäbe es letztlich doch eine theoretische S c h a u der W a h r h e i t , in der die v e r a n t w o r t l i c h e E n t s c h e i d u n g , das W a g n i s des Glaubens u n t e r g i n g e , eine s u p r a n a t u r a l e Theorie, v o n der A r t einer allgemeinen s p e k u l a t i v e n W a h r h e i t , die d e m Einzelnen die V e r a n t w o r t u n g f ü r den G l a u b e n a b n ä h m e . E i n e solche ist a u c h die o r t h o d o x e Bibellehre. Sie v e r w a n d e l t das, was n u r i m aktuellen Angesprochenwerden d u r c h G o t t göttlich w a h r ist, in ein t h e o r e t i s c h A l l g e m e i n e s . Die W a h r h e i t der O f f e n b a r u n g wird aus einem existenziellen zu einem apriorischen Urteil. Mit gesetzlicher Allgemeinheit wird das A t t r i b u t »göttlich w a h r « allem Bibelinhalt v o n v o r n h e r e i n zugesprochen. D a s ist das Wesen der o r t h o d o x e n L e h r e v o n

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der Verbalinspiration. Sie ist der Tod jedes lebendigen Bibelglaubens. So haben die Reformatoren, so hat echter christlicher Glaube die Bibel nie gelesen, auch in der Zeit der Orthodoxie nicht. Die orthodoxe Theorie kann, wie anderes Falschdenken, den wirklichen Glauben überlagern, sie braucht ihn nicht auszutilgen. Wo immer fromme Christen die Bibel gelesen haben, haben sie sie ernst, d. h. als persönliche Anrede Gottes gelesen. d) D i e B i b e l a l s K a n o n . Darum darf und kann es auch kein zum voraus angebbares Kriterium göttlicher Offenbarungswahrheit geben. Auch derLuthersche »rechte Prüfstein, die Schriften zu tadeln«, sein vielberufenes »Was Christum treibet, das ist apostolisch«, ist nicht als solches vorausgegebenes Prinzip gemeint. Es will nur den inneren Zusammenhang, die Sinneinheit aller Offenbarungswahrheiten kennzeichnen. Denn allerdings gehört auch im Glauben der Z u s a m m e n h a n g d e r W o r t e , das Wort in den Worten, notwendig mit zur Offenbarungswahrheit selbst; es ist allgemein reformatorischer Grundsatz, daß die Bibel nach der analogia fidei, d. h. nach ihrem eigenen inneren Zusammenhang auszulegen sei. Aber dieser Zusammenhang ist selbst n u r i n n e r h a l b d e s G l a u b e n s zu erfassen, nur ein aktuell glaubensmäßig, nicht theoretisch - logisch voraus zu erkennender. Was im Glauben, in der Offenbarung zusammengehört, kann ebenso nur durch den Glauben erkannt werden, als der Zusammenhang der Vernunftwahrheiten selbst in der Evidenz dieses Zusammenhangs beruht, also nur im Denkvollzug erfaßt werden kann. Darum aber, weil der Glaube nicht in der Lage ist, den Umkreis des Offenbarungswortes innerhalb der Schrift zum voraus, durch ein Prinzip, festzulegen, nimmt er auch diesen U m f a n g a l s e i n e n k o n t i n g e n t g e g e b e n e n hin, ohne damit zugleich jene orthodoxe Verallgemeinerung zu vollziehen, d. h. ohne allgemein-gesetzlich zu behaupten, alles, was innerhalb dieses Umkreises liege, sei Wort Gottes. Damit haben wir den richtigen Begriff des Kanons gewonnen. Er ist eine ebenso gefährliche wie notwendige Bestimmung der Offenbarungswahrheit. Gefährlich, weil hier besonders das orthodoxe Mißverständnis droht, unvermeidlich darum, weil dadurch erst mit der Gegebenheit, der einmaligen Kontingenz der Offenbarung ernst gemacht wird. In der Fähigkeit, den Glauben an den Kanon und die Notwendigkeit der Bibelkritik gleichzeitig festzuhalten, wird sich die Lebendigkeit des Bibelglaubens zu bewähren haben. Daß an e i n e m Punkt der raumzeitlichen und geschichtlichen Welt die Ewigkeitsentscheidung sich ereignet hat, das ist die Zentralwahrheit des christlichen Glaubens. Um dessentwillen heißt er c h r i s t l i c h e r Glaube. Darum ist Jesus Christus d a s Thema der christlichen Verkündigung und damit auch der Theologie. Davon, daß dort der ewige Logos Fleisch wurde, und das Wort von der Versöhnung von Gott selbst

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gesprochen w u r d e : v o n den beiden großen T h e m e n der I n k a r n a t i o n u n d der V e r s ö h n u n g h a t sie vor allem zu r e d e n . W i e v o n diesem I n h a l t des Glaubens aus alle a n d e r e n Glaubensaussagen erst ihre B e s t i m m t h e i t b e k o m m e n , so ist a u c h u m dieses E i n m a l i g e n willen das Zeugnis v o n diesem Geschehen, die Bibel, die N o r m u n d Quelle der christlichen E r k e n n t n i s . Dieser doppelte M i t t e l p u n k t , der doch n u r einer ist, C h r i s t u s i n d e r S c h r i f t , ist der H a u p t g e g e n s t a n d einer christlichen Lehre u n d die Voraussetzung a u c h f ü r eine christlich theologische »Religionsphilosophie «.

E i n e »protestantische Religionsphilosophie« h a t n i c h t die A u f g a b e — n o c h weniger als eine eigentliche D o g m a t i k — ein » S y s t e m « zu entwickeln. Sie h a t n i c h t s zu t u n , als ü b e r d e n christlichen Sinn der a u c h a u ß e r h a l b des C h r i s t e n t u m s gebräuchlichen W o r t e O f f e n b a r u n g u n d Glaube so A u s k u n f t zu geben, d a ß sie erstens v o n j e d e m a n d e r e n S p r a c h g e b r a u c h deutlich u n t e r s c h i e d e n s i n d ; u n d zweitens so, d a ß die O f f e n b a r u n g , wie sie i m G l a u b e n e r f a ß t w i r d , als A n t w o r t auf die L e b e n s f r a g e des Menschen, wie sie sich in seinem geistigen Suchen u n d in seiner Religion ausspricht, deutlich wird. W a s den Schein eines Systems erwecken k ö n n t e , ist die T a t s a c h e , d a ß v o m christlichen Glauben aus a l l e F r a g e n als a u f e i n e n P u n k t h i n d e u t e n d u n d in einem W o r t b e a n t w o r t e t sich erweisen. A b e r diese »Systematik« ist n i c h t s anderes als die schlichte Glaubenserkenntnis, d a ß G o t t selbst der R i c h t e r aller G e d a n k e n u n d der Heiler aller N o t sei. V e r f ü g t e n wir ü b e r einen G o t t e s g e d a n k e n , ein Prinzip, in d e m alle diese F r a g e n sich auflösen ließen, so w ä r e wohl a u c h die christliche Theologie n u r eine A r t h y p e r d i a l e k tischer Hegelianismus. A b e r gerade hier o f f e n b a r t sich der rein n e g a t i v e C h a r a k t e r dieses »Systems«: es v e r f ü g t ü b e r kein lösendes Prinzip, sondern b e s t e h t in d e m a n j e d e m P u n k t zu wiederholenden H i n w e i s a u f d i e W i r k l i c h k e i t der O f f e n b a r u n g u n d die E n t s c h e i d u n g des Glaubens selbst, deren V e r a n t w o r t u n g s s c h w e r e d u r c h kein allgemeines Prinzip, u n d das h e i ß t a u c h : d u r c h keine theologische G e d a n k e n a r b e i t irgendwie v e r m i n d e r t w e r d e n k a n n . Alle »Lösungen«, die diese Theologie b i e t e t , sind i m m e r dieselbe, u n d diese eine Lösung ist n u r d e m als solche e r k e n n b a r , der selbst die E n t s c h e i d u n g des Glaubens vollzieht, u n d n u r i n d e m er sie vollzieht. Wenn G r i s e b a c h , von dessen Gedanken die Theologie noch Beträchtliches zu lernen hat, in seiner Kritik K i e r k e g a a r d s („Grenzen des Erziehers") die Unwirklichkeit einer dialektischen Theologie hervorhebt, so scheint er mir dabei —- wie auch sonst — zu übersehen, daß alles menschliche Reden notwendig »unwirklich« ist, weil sündige Menschen nie konkret im Ich- und Du-Verhältnis stehen. Mit einem Satz wie dem: „nur durch die Bindung der sich widersprechenden Menschen wird das Ewige reflektiert" stellt er selbst e i n S y s t e m — vom neuplatonischen Typus — auf, das wohl gefährlicher ist als jede u m ihre Selbstaufhebung bemühte dialektische Theologie,

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die bemerkt h a t , d a ß es ein »wirkliches Handeln« in dieser Existenz ebenso wenig gibt, als ein wirkliches Reden, es sei denn als göttliche Gnade. Diese L ö s u n g ist — d a r a u f b e r u h t ihre A k t u a l i t ä t — , d a sie j a L ö s u n g nur f ü r den G l a u b e n ist, nur so gegeben, daß sie i m m e r wieder a u s d e r l e b e n d i g e n F r a g e e m p o r s t e i g e n muß. Die R e f o r m a t i o n b e g a n n m i t der E r k e n n t n i s L u t h e r s , daß die B u ß e j e d e n T a g neu sein müsse. M i t dieser E r k e n n t n i s w i r d a u c h j e d e r theologische Intellektualismus e n t w u r z e l t : Die » L ö s u n g « des G l a u b e n s ist nur dort v o r h a n d e n , w o der W i d e r s p r u c h in seiner ganzen S c h ä r f e , d. h. als existentieller, nicht bloß als theoretischer, lebendig erfaßt w i r d , w o die göttliche O f f e n b a r u n g s w a h r heit i m m e r nur in der L e i d e n s c h a f t des G l a u b e n s d e m W i d e r s p r u c h der V e r n u n f t u n d Gewissenserfahrung a b g e t r o t z t w i r d . Diese L ö s u n g aber k a n n , weil es sich j a u m eine gegebene handelt, a u f keine Originalität A n s p r u c h erheben. Sie k a n n nichts anderes sein, als ein möglichst zeitgemäßer K o m m e n t a r zu der »Religionsphilosophie«, die P a u l u s erstmalig u n d f ü r i m m e r klassisch i m zweiten K a p i t e l des ersten Korintherbriefes gegeben h a t . Über die ältere religionsphilosophische L i t e r a t u r orientiert vorzüglich H e r m a n n S i e b e c k , Lehrbuch der Keligionsphilosophie (1893). Von neueren Werken, die der protestantischen Theologie nahestehen oder von ihr ausgehen, sind zu e r w ä h n e n : E r n s t T r o e l t s c h , Psychologie u n d Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft (1905), D e r s e l b e , Die Absolutheit des Christentums u n d die Religionsgeschichte (1902, 1912 2 ), D e r s e l b e , Wesen der Religion u n d der Religionswissenschaft in Die K u l t u r der Gegenwart (1909 2 ), Karl S t a n g e , Grundriß der Religionsphilosophie (1907), Rudolf E u c k e n , H a u p t p r o b l e m e der Religionsphilosophie (1909 u . ö.), Rudolf O t t o , K a n t - F r i e s s c h e Religionsphilosophie (1909, 1921 2 ), D e r s e l b e , Das Heilige (1917, 1926"), D e r s e l b e , Aufsätze, d a s N u m i n o s e betreffend (1923), Heinrich S c h o l z , Religionsphilosophie (1922 2 ), Friedrich B r u n s t ä d , Die Idee der Religion (1922), K a r l H e i m , Glaubensgewißheit (1916, 1923 3 ), Georg W o b b e r m i n , Systematische Theologie nach religionswissenschaftlicher Methode (1913—1926), P a u l T i l l i c h , Religionsphilosophie, in Dessoirs Lehrbuch der Philosophie (1925). Von neueren Werken der Dogmatik seien genannt Wilhelm H e r r m a n n , D o g m a t i k (1925), Horst S t e p h a n , Glaubenslehre (1921), Karl H e i m , Leitfaden der Dogmatik (1925 3 ), Erich S c h ä d e r , Theozentrische Theologie (2 Bde., 1909, 1916 2 ), Reinhold S e e b e r g , Christi. Dogmatik (1924), H e r m a n n L u d e m a n n , Dogmatik, 2 Bde. (1924—1926). Mit der hier vorgetragenen besonders nahe verwandte Auffassungen, die zum Teil der obigen Darstellung zugrunde liegen: Sören K i e r k e g a a r d , Werke, übersetzt von Schrempf u . a. (von 1911 an), insbesondere: Philosophische Brocken, m i t Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (2 Bde.), Die K r a n k h e i t zum Tode, Der Begriff der Angst, E i n ü b u n g im Christentum. Dazu j e t z t : Arnold G i l g , Sören K i e r k e g a a r d (1926), K a r l B a r t h , Der Römerbrief (1919, 1926 5 ), D e r s e l b e , Das W o r t Gottes u n d die Theologie (1925), D e r s e l b e , Die Auferstehung der Toten (1926 2 ), E d u a r d T h u r n e y s e n , Schrift u n d Offenbarung in Zwischen den Zeiten (1924), Friedrich G o g a r t e n , Die religiöse Entscheidung (1921, 1924 2 ), Von Glauben u n d Offenbarung (1925 2 ), Illusionen (1926), Ferdinand E b n e r , Das W o r t u n d die geistigen Realitäten (1921), Heinrich B a r t h , Das Problem des Ursprungs in der platonischen Philosophie (1921), E b e r h a r d G r i s e b a c h , Die Grenzendes Erziehers (1924), D e r s e l b e , E r k e n n t n i s u n d Glaube (1923), H e r m a n n K u t t e r , I m A n f a n g war die T a t (1924). Vom Verfasser selbst sind zum besseren Verständnis herbeizuziehen: Die Mystik u n d das W o r t (1924),

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Erlebnis, Erkenntnis und Glaube (1923 2 ), Das Grundproblem der Philosophie bei Kant und Kierkegaard in Zwischen den Zeiten (1924), Christlicher Glaube nach reformierter Lehre in Der Protestantismus der Gegenwart (1926).

SCHLUSS. DIE BIBELOFFENBARUNG UND DER HEUTIGE MENSCH. Wissenschaft, Philosophie und Kultur sind Schöpfungen des Menschen. Darum ist das Problem aller Probleme, das Rätsel aller Rätsel der Mensch selbst. Daß er dieses Selbstverständliche nicht weiß, ist das Merkmal des heutigen Menschen. Er macht sich selbst zu einem Stück seiner Wissenschaft, während doch die Wissenschaft ein Stück seiner eigenen Wirklichkeit ist. Nicht aus der Wissenschaft, Philosophie oder Kultur selbst erwächst der Gegensatz gegen den Offenbarungsglauben, sondern aus dem f a l s c h e n Denken über Wissenschaft, Philosophie und Kultur. Die ». . . i s m e n « sind die Gegner des Glaubens. Hinter jedem »Ismus« steht ein Glaube, und zwar ein solcher, der einen »Teil« zum »Ganzen« macht, der ein Relatives absolut setzt, nicht bloß denkend, sondern zugleich wollend. Jeder »Ismus« ist Selbsthingabe an ein Untergeordnetes als dem Absoluten. Die »Ismen« sind also Götzen. Darum ist die Auseinandersetzung des Glaubens mit den Ismen, die die Aufgabe der Theologie ist, Kampf gegen Götzentum. Eine objektive, neutrale, »rein wissenschaftliche« Theologie ist darum ein Unding. Denn echte Theologie, Theologie, die weiß, was ihres Amtes ist, ist immer geboren aus der Leidenschaft des Glaubens. Darum ist sie immer persönlicher Kampf, wie sie immer persönliches Bekenntnis ist. Ihre Sache ist von der Art, daß sie nur in p e r s ö n l i c h e r Weise sachgemäß vertreten werden kann. Sie ist ein Teil der kirchlichen Aufgabe, d. h. ein Teil des Kampfes der ecclesia militans. Insofern stehen die theologischen Fakultäten außerhalb der universitas scientiarum. Wenn sie innerhalb der Universitäten noch geduldet werden, so kann das ein Zeichen dafür sein, daß auch der heutige Kulturmensch noch ein Bewußtsein davon hat, daß die Wissenschaft nur so lange gesund bleiben kann, als sie um ihre Begründung in einem Mehr-als-Wissenschaft weiß. Die Existenz theologischer Fakultäten im Rahmen des Universitätsbetriebes ist also — von hier aus gesehen — die Dokumentierung eines k r i t i s c h e n Bew u ß t s e i n s der Wissenschaft betreibenden Kulturgesellschaft. Darum ist aber gerade nur eine solche Theologie existenzberechtigt, die sich dieses Gegensatzes bewußt ist und ihn deutlich zum Ausdruck bringt. Theologie als objektiv neutrale Religionswissenschaft ist ein hölzernes Eisen. Es ist besonders die Aufgabe jenes Teils der Theologie, den wir als »Religionsphilosophie« bezeichnet haben, diesen Gegensatz zwischen den »Ismen« des jeweils heutigen Menschen und der Offenbarung klarzumachen, nicht zum Zweck objektiv-wissenschaftlicher Anschauung,

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sondern ganz u n d gar u n t e r der praktisch-religiösen Z w e c k b e s t i m m u n g kirchlichen H a n d e l n s . Theologie ist, a u c h in i h r e m allgemeinen, »religionsphilosophischen« Teil d u r c h a u s k i r c h l i c h e W i s s e n s c h a f t . N i c h t in d e m Sinn, d a ß sie v o n der Kirche ein fertiges D o g m a zur bloß form a l e n B e a r b e i t u n g b e k ä m e — das ist historistisch g e t r ü b t e A u f f a s s u n g ihrer A u f g a b e —, vielmehr in d e m Sinn, d a ß sie i m A u f t r a g der Kirche die a b s t r a k t e Besinnung ü b e r die V o r a u s s e t z u n g e n theologischer Begriffsbildung, also ü b e r O f f e n b a r u n g i m U n t e r s c h i e d zur V e r n u n f t , auf G r u n d ihrer G l a u b e n s n o r m selbst vollzieht. Gerade in dieser grundlegenden Bezogenheit auf Bibel u n d Kirche b e r u h t der Gegensatz zwischen der Theologie u n d den I s m e n des h e u t i g e n Menschen. D e n n w e n n etwas f ü r die E i g e n a r t des h e u t i g e n Menschen c h a r a k t e r i s t i s c h ist, so ist es die N i c h t a n e r k e n n u n g einer solchen B i n d u n g , wie sie in den W o r t e n »kirchlich« oder »biblisch« a u s g e d r ü c k t ist. Die Schuld a n diesem S a c h v e r h a l t t r ä g t n i c h t allein die m o d e r n e V e r n u n f t u n d K u l t u r e m a n z i p a t i o n , die m o d e r n e Bildung, sondern ebensosehr die Kirche selbst, d u r c h eine falsche A u f f a s s u n g ihrer selbst u n d ihrer N o r m , der Bibel. D e r K l e r i k a l i s m u s u n d die O r t h o d o x i e h a b e n sich n a c h i h r e n f u r c h t b a r e n Zügen so sehr d e m Gedächtnis der a b e n d l ä n dischen Menschheit eingeprägt, d a ß a u c h n u r ein ruhiges A n h ö r e n christlich theologischer S e l b s t i n t e r p r e t a t i o n v o r l ä u f i g weithin unmöglich i s t . W e n n wir i m vorigen die O r t h o d o x i e auf eine S t u f e gestellt h a b e n m i t d e m R a t i o n a l i s m u s u n d den a n d e r e n I s m e n , so h a b e n wir d a m i t bereits d e r Meinung A u s d r u c k gegeben, d a ß a u c h sie zu diesen I s m e n gehöre. J a , wir m ü s s e n noch einen S c h r i t t weiter gehen. Der »heutige Mensch«, dessen G ö t z e n t ü m e r der O f f e n b a r u n g gegenüberstehen, das sind w i r a l l e u n d diese Götzen sind u n s e r e Götzen, a u c h der Theologen u n d K i r c h e n . O f f e n b a r u n g u n d K i r c h e stehen n i c h t i m Gegensatz zu den G ö t z e n t ü m e r n einiger, sondern aller. E s gibt in diesem Angriff keine gesicherten U n t e r s t ä n d e ; weder die theologischen F a k u l t ä t e n noch die K i r c h e n sind solche. I m Gegenteil, sie gerade sind die angegriffensten Stellen in der ganzen menschlichen F r o n t . Die Besinnung auf den Sinn d e r O f f e n b a r u n g im Dienste der Kirche ist keine radikale u n d einsichtige, w e n n sie n i c h t gerade dies e r k e n n t . D e n n j e d e Theologie ist in G e f a h r O r t h o d o x i e zu w e r d e n , u n d j e d e Kirche ist voll klerikaler T e n d e n z e n . O r t h o d o x ist j e d e E r s t a r r u n g des lebendigen Glaubens z u m fertigen Glaubensbesitz, die falsche O b j e k t i v i e r u n g des Glaubens. D a d u r c h stellt sich die theologische E r k e n n t n i s auf den B o d e n , wo es g e s i c h e r t e menschliche P o s i t i o n e n gibt, die sich absolut setzen. Solche Orthodoxie ist u m kein H a a r besser als der heilloseste Relativismus, u n d der K a m p f gegen sie ist G o t t e s g e b o t . U n d ebenso: wo eine Kirche der W e l t d r a u ß e n g e g e n ü b e r t r i t t als d i e H a b e n d e , die über das, was der W e l t helfen k a n n , V e r f ü g e n d e , sei es n u n i m mittelalterlich-hierarchischen oder i m modernh u m a n i t ä r e n Sinn, da ist die Kirche schon zur W e l t m a c h t e n t a r t e t u n d

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also das Gegenteil von dem, was ihr Sinn ist. Die Kirche »hat« nichts als das W o r t ; aber das Wort Gottes haben heißt: zugleich wissen, daß es immer wieder in Gottes freier Gnade steht, es zu geben oder nicht. Also nicht u m abgrenzbare Zonen innerhalb der Welt k a n n es sich handeln, wenn wir die Besinnung, die die Aufgabe der Theologie ist, durch die Beziehung auf Bibel u n d Kirche dem sonstigen T u n des Menschen gegenüberstellen. Wo diese Besinnung recht geschieht, da m u ß sie jedem, der an dieser Aufgabe teilnimmt, seine eigene Zugehörigkeit zu den anderen »heutigen Menschen« aufs nachdrücklichste zum Bewußtsein bringen. Die Bibel u n d die Kirche sind k e i n e e i n f a c h g e g e b e n e n G r ö ß e n . Gerade darauf, daß sie allein es nicht sind, b e r u h t ihr universaler A n s p r u c h ; gerade d a r u m wird durch sie jeder Mensch u n d jede sich geltendmachende Größe zur Rechenschaft gezogen. Nur d a r u m , weil die Offenbarung, die in dem Hinweis auf Bibel u n d Kirche gemeint ist, jede Theologie u n d Kirche u n t e r ihr Gericht stellt, wie jede andere geschichtlich-menschliche Erscheinung, n u r d a r u m k a n n sie wirklich das allem menschlichen überlegene Göttliche sein. Aber wir können das n u r d a r u m u n d insofern sagen, als wir von dem wissen, u m dessentwillen Theologie u n d Kirche da sind. Das e r s t e Gericht von der Offenbarung her ergeht über Theologien u n d Kirchen; erst das z w e i t e über die »Welt« u n d die profanen Götzentümer. Nochmals: nicht gegen K u l t u r , Wissenschaft u n d Philosophie, sondern gegen den Wissenschafts-, Philosophie- u n d Kulturgötzen ist der Angriff gerichtet. Es gibt, recht verstanden, kein Problem: Vernunft u n d Offenbarung. Nicht die V e r n u n f t steht da in einem Gegensatz, sondern die Selbstherrlichkeit des Menschen in seiner Vernünftigkeit, Wissenschaft, Philosophie u n d K u l t u r . Gerade der Mensch, der es mit der V e r n u n f t ernst n i m m t , merkt etwas davon. E r wird kritisch u n d beurteilt selbst die nichtkritische Vernunft als ungründlich u n d unernst. Aber w a h r h a f t kritisch k a n n der Mensch aus bloßer Vernunft nicht sein, da er, innerhalb der Vernunft, den Charakter des Bösen nicht durchschaut, sondern dadurch, daß er in der bloßen V e r n u n f t verharren u n d an ihr sich genügen lassen will, das Böse abschwächen m u ß . Nicht das, was der Mensch an Erkenntnis u n d K u l t u r sich durch die J a h r t a u s e n d e erarbeitet h a t , s t e h t dem Glauben entgegen, sondern das Nichtsehen — u n d Nichtsehenwollen — der Unzulänglichkeit dieses Erarbeiteten. Die Idee der K u l t u r und Erkenntnis würden, ernst genommen, selbst an diese Grenze hinführen. Sie würde, u m es in der Sprache des Glaubens zu sagen, selbst »zur Buße führen«, wenigstens insoweit, als sie dem vernünftigen Menschen den V e r n u n f t g r u n d entziehen würde, sich der Offenbarung zu widersetzen. Auch als kritischer k a n n sich der Mensch der Offenbarung widersetzen — sonst läge j a der Grund des Glaubens in der kritischen Besinnung u n d nicht in der Offenbarung —, aber er Handb. d. Phil. I I .

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k a n n es nicht mehr t u n a u s V e r n u n f t , sondern nur noch in Überschreitung der von der Vernunftidee selbst gesetzten Schranken. Das heißt also: die Stellung zur Glaubensforderung ist nicht Sache der Vern u n f t , weder positiv noch negativ, sondern der p e r s ö n l i c h e n E n t s c h e i d u n g . Das ist der Wert der kritischen Besinnung, daß sie zur persönlichen Entscheidung nötigt. D a r u m ist es nicht richtig zu sagen, die Entwicklung unserer Erkenntnis erschwere den Glauben. Worin sie ihn erschwert, m a c h t sie ihn auch leichter. Der Mann h a t es nicht n u r schwerer, sondern auch leichter zu glauben als das K i n d . Umgekehrt m a c h t die Zugehörigkeit zu Theologie u n d Kirche (im empirischen Sinn) den Glauben nicht bloß leichter, sondern auch schwerer. Es fällt niemanden schwerer zu glauben als dem Theologen u n d niemandem schwerer Christ zu werden als dem Getauften. Denn keine Versuchung ist so groß wie die, an die Stelle des Glaubens das theologische System u n d an die Stelle des Christseins die Zugehörigkeit zur sichtbaren Kirche zu setzen. Der »heutige Mensch« ist im Grunde immer derselbe. Denn die Selbstsicherheit des Menschen in seinem Vernunft- u n d Kulturbesitz (oder in seinem theologischen oder kirchlichen Besitz) ist immer dieselbe. Aber der heutige Mensch ist auch zu j e d e r Z e i t e i n a n d e r e r , insofern als die Formen dieser Selbstsicherheit zu jeder Zeit andere sind. D a es der Glaube — u n d also die Theologie, die ihm dienen soll — immer mit dem gegenwärtigen Menschen zu t u n h a t , m u ß sie in ihrer Auseinandersetzung mit dem weltlichen Denken sich immer an die Formen halten, in denen sich die immer gleiche Selbstsicherheit des Menschen heute ausdrückt. D a r u m m u ß die Theologie zu jeder Zeit ganz anders aussehen, t r o t z d e m sie es letztlich immer mit denselben Problemen u n d mit derselben Wahrheit zu t u n h a t . Deswegen haben wir uns unsere Aufgabe von der Geschichte stellen lassen, die uns die heute maßgebenden »Ismen« vor Augen rückt, mit denen wir uns im vorigen auseinandergesetzt haben. Es blieb uns zum Schluß n u r noch die Aufgabe, darauf hinzuweisen, daß alle jene (vier) Denkrichtungen Formen der menschlichen Selbstbehaupt u n g gegenüber der Wahrheit der Offenbarung, also Unglaube seien, sofern sie nämlich sich selbst absolut setzen, d. h. sofern m a n darin der Offenbarung gegenüber verharrt. Auch der Glaubende k a n n Relativist sein; ja er k a n n u n d m u ß es in einem Maße sein, wie kein anderer es k a n n . Aber er k a n n nicht n u r realistischer Skeptiker sein. E r sieht gleichzeitig das dem Relativismus übergeordnete Recht des Idealismus, der Idee. E r erkennt aber, als Glaubender, daß beide, Skepsis u n d Idealismus nie miteinander Frieden schließen können, weil jeder Gedanke gegen den anderen Recht h a t . So sieht der Glaubende auch das relative Recht der zynischen Kulturverneinung u n d der romantischen Gesetzesverneinung, ebenso wie das übergeordnete Recht des Kulturwillens und -ernstes, der von der Idee der Geistesherr-

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s c h a f t getragen ist, ganz besonders d o r t , wo als Z e n t r u m der K u l t u r die menschliche Persönlichkeit u n d Freiheit erscheint. E r sieht gleichzeitig, d a ß die K u l t u r s k e p s i s als S y s t e m g r a u e n h a f t u n d d a ß K u l t u r als letzter B e z i e h u n g s p u n k t menschlichen Lebens ideologisch u n d u n e r n s t ist. E r sieht, wie das geschichtliche Leben in Vergangenheit u n d Gegenwart hinu n d h e r s c h w a n k t zwischen falschem V e r n u n f t s t o l z u n d falscher Selbst wegwerfung, zwischen Zynismus u n d Illusionismus u n d weiß, d a ß auf d e m B o d e n des »natürlichen Menschen« e t w a s anderes als dieses H i n u n d H e r n i c h t möglich ist. Glauben aber heißt, diesen B o d e n verlassen, v i e l m e h r : auf einen anderen B o d e n gestellt sein. „ U n s e r e P o l i t e i a " , sagt Paulus, „ist i m H i m m e l . " D a r u m weiß der Glaubende, d a ß die Politeia P i a t o n s u n d all seiner idealistischen N a c h f a h r e n eine Illusion ist, ebenso wie der K i r c h e n s t a a t , die kirchlich geleitete K u l t u r , ein Aberglaube ist. Aber, da Glauben n i c h t Schauen ist, d a m a n i m G l a u b e n n u r s o den W i d e r s p r u c h , m i t dem das Menschendasein b e h a f t e t ist, ü b e r w i n d e t , d a ß m a n ihn zugleich e r t r ä g t , d a ß m a n in i h m »mit d e m Leibe« v e r h a r r t , entzieht sich der G l a u b e n d e n i c h t d e m auf E r k e n n t n i s u n d K u l t u r gerichteten V e r n u n f t l e b e n . E r n i m m t a n ihnen Anteil, sie sind das Material seines H a n d e l n s , in d e m er sich als Christ, als Glied der ecclesia militans b e w ä h r e n soll. E r t u t es, wissend u m ihre Gebrechlichkeit, ohne Zynismus u n d Illusion, m i t E r n s t , aber n u r m i t d e m E r n s t , der den eigentlichen E r n s t im R ü c k e n h a t . E r gibt sich ihren A u f g a b e n hin, aber n u r so, d a ß n i c h t diese selbst das eigentlich Gemeinte sind, sondern das, was er im G l a u b e n ergriffen h a t u n d was nie, als solches, in sein Schaffen direkt eingehen k a n n . E r f ü h r t ein i n d i r e k t e s Leben als der homo viator, der n i c h t H e r b e r g e u n d H e i m a t m i t e i n a n d e r verwechselt. Alle christliche E t h i k ist in diesem Sinne in der T a t »Interimsethik«. Gerade d a r i n s t e h t der G l a u b e zu j e d e r anderen L e b e n s f o r m i m Gegensatz, gerade d a r i n b e s t e h t seine Freiheit, sowohl v o m prinzipienlosen Realismus als v o n der s t a r r e n Gesetzlichkeit des Ideenverehrers. Aber — dies darf a m wenigsten ü b e r s e h e n werden —, der Glaube ist n i c h t m e h r Glaube, wenn er sich selbst m i t der rechten Lebensform verwechselt. D a n n h a t der G l a u b e n d e a u f g e h ö r t homo viator zu sein, d a n n ist er gläubig verweltlicht, e n t w e d e r o r t h o d o x oder klerikal, oder beides m i t einander. D e n Glauben h a b e n — wirklich h a b e n ! — heißt ein W a r t e n d e r sein. D e n n das, was der Glaube h a t — wirklich h a t — , ist die Verh e i ß u n g dessen, was er j e t z t nicht h a t . Verbum solum habemus.

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