Notstand und Notwehr [1 ed.] 9783428480562, 9783428080564

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Notstand und Notwehr [1 ed.]
 9783428480562, 9783428080564

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JOACHIM RENZIKOWSKI

Notstand und Notwehr

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 90

Notstand und Notwehr

Von

Joachim Renzikowski

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Hans-Ludwig Günther, Tübingen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Renzikowski, Joachim:

Notstand und Notwehr / von Joachim Renzikowski. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 90) Zug!.: Tübingen, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08056-4 NE:GT

D21 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humb10t GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-08056-4

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ...... . .......... . ..............................

13

B. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen ......................

18

I.

Zur Konkurrenz von Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

18

11.

Die Untersuchungen von Warda und Seelmann ...................

19

1. Der Grundsatz der funktionalen Spezialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Untersuchung von Warda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Stellungnahme ..................................... 2. § 34 StGB als lex generalis aller Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . .. a) Die Ansicht Seelmanns ............................... b) Konsequenzen für das Verständnis von Notwehr und Notstand .... c) Stellungnahme .....................................

19 19 21 22 22 23 24

Die Konzeption Seelmanns und das vorherrschende Verständnis von Notwehr und Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

27

1. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen .................. 2. Das Grundprinzip des rechtfertigenden Notstands ............... 3. Das Grundprinzip der Notwehr ............................

27 28 30

Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin . . . . . . . . . . . . . . ..

33

§ 34 StGB als allgemeine Billigkeitsklausel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

34

1. 2. 3. 4. 5.

Was bedeutet .. Abwägung der widerstreitenden Interessen"? . . . . . . .. Interessenabwägung und Topik ............................ Interessenabwägungsprinzip und Interessenjurisprudenz ........... Interessenabwägungsprinzip und Utilitarismus. . . . . . . . . . . . . . . . .. Schlußbemerkung .....................................

34 35 37 41 43

Die Unterscheidung von Aggressiv- und Defensivnotstand ...........

43

1. Problematik und praktische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43

III.

c.

I.

11.

6

Inhaltsverzeichnis 2. Das herrschende Verständnis von Aggressiv- und Defensivnotstand 3. Defensivnotstand und Wortlaut des § 34 StGB ................. 4. Widersprüchlichkeit innerhalb der Interessenabwägung . . . . . . . . . . ..

45 47 48

III.

Zum "Vorverschulden" beim rechtfertigenden Notstand .............

54

IV.

Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen . . . . . . . . . . ..

60

1. Die Berücksichtigung der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Eingriffsseite und Selbstbestimmung ...................... b) Erhaltungsseite und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Notstand und (mutmaßliche) Einwilligung .................. 2. "Handeln auf Seiten des Unrechts" ......................... 3. Besondere Gefahrtragungspflichten ......................... 4. Störung des Rechtsfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

60 60 63 64 65 70 72

Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

74

D. Kritik der herrschenden Rechtsbewährungsdoktrin . . . . . . . . . . . . . . . . ..

76

I.

Die dualistische Notwehrkonzeption der herrschenden Lehre . . . . . . . . ..

76

11.

Die Bewährung der Rechtsordnung ...........................

79

I. Was bedeutet "Rechtsbewährung"? ......................... a) Sprachliche Bedeutung des Wortes "Bewährung" ............. b) "Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" ........... 2. Die Geltung der Rechtsordnung als überwiegendes Interesse . . . . . . .. 3. Die Verteidigung der empirischen Geltung der Rechtsordnung ...... 4. Die Verteidigung der normativen Geltung der Rechtsordnung . . . . . .. 5. Die präventive Wirkung der Notwehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Schlußbetrachtung .....................................

79 79 80 81 83 87 88 94

III.

Rechtsbewährung und Individualgüterschutz .....................

94

IV.

Die gesetzlichen Merkmale der Notwehr im Lichte der Rechtsbewährungsdoktrin ...............................................

99

1. Die Notwehrlage ...................................... a) Die Qualität des Angreiferverhaltens ...................... b) Kein Angriff bei untauglichem Versuch .................... c) Die Gegenwärtigkeit des Angriffs ........................ 2. Die Verteidigungsbefugnis ............................... a) Die Erforderlichkeit der Verteidigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

99 99 102 102 104 104

V.

Inhaltsverzeichnis

7

b) Das Verbot der Verletzung von angreiferfremden Rechtsgütem 107 3. Schlußbetrachtung ..................................... 108 V.

Notwehrbegründung und "sozialethisehe" Notwehrgrenzen ........... 108 1. Das grobe unerträgliche Mißverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 108 2. Die Notwehrprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111 3. Notwehr in engen Lebensgemeinschaften ..................... 114

VI. Abschließende Bemerkung zum Verhältnis von statischen und dynamischen Notwehrelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117 VII. Andere Notwehrbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 118 1. Die Risikoübernahme durch den Angreifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit des Angegriffenen . . . . .. 3. Besondere Gründe in der Person des Verteidigers oder des Angreifers . a) Die psychische Situation des Angegriffenen ................. b) Die Vermeidbarkeit des Abwehrerfolges durch den Angreifer . . . ..

118 119 120 120 122

E. Das formale Verhältnis von Ge- und Verboten zu den Erlaubnissätzen . . .. 124 I.

Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 124

11.

Vorabklärung wichtiger Begriffe ............................. 124 1. Der Begriff der Rechtfertigung ............................ 124 2. Rechtfertigungsgründe als "Erlaubnissätze" . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 130 3. "Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß"

III.

Die rechtslogische Struktur der Rechtfertigungsgründe

132

1. 2. 3. 4.

132 134 136 137 137

Regel und Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Lehre vom Leitbildtatbestand .......................... "Intra-" und "extrasystematische" Rechtfertigungsgründe .......... a) Die Untersuchung von Hruschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Zur Unterscheidung zwischen primär- und metasprachlicher Normenebene ...................................... c) Die Struktur metasprachlicher Erlaubnissätze ................ d) Zwei normentheoretische Einwände ....................... aa) Die Unterscheidung von Normwidrigkeit und Rechtswidrigkeit . bb) Die Selbständigkeit von Erlaubnissätzen . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Die Lösung über einen übergeordneten Rechtssatz . . .. . . . . . . . . . ..

140 142 144 144 147 148

8

Inhaltsverzeichnis IV.

Zur Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ............................................... 149 1. 2. 3. 4. 5.

Der Deliktsaufbau als Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Exkurs: Ordentliche und außerordentliche Zurechnung . . . . . . . . . . .. Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld als Wertungsstufen Deliktsaufbau und Gesamtrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

149 153 156 158 159

V. Ausblick ................................................ 160 F. Das materielle Verhältnis von Ge- und Verboten zu den Erlaubnissätzen .. 161

I.

Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 161

11.

Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162 1. Interessen als Gründe für Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Individuelle und überindividuelle Aspekte des Rechtsguts .......... 3. Berechtigung und Verpflichtung ............................ a) Die Person des Berechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Pflichten als notwendige Konsequenz subjektiver Rechte ........ c) Die Reichweite des subjektiven Rechts .................... 4. Schlußbemerkung .....................................

III.

162 165 168 168 170 175 177

Primärsprachliche Normenebene: Regeln über den Rechtsgüterschutz . . .. 178 1. Das Grundprinzip: die Autonomie .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Selbstbestimmung ................................... b) Eigenverantwortlichkeit ............................... c) Die Verantwortlichkeit für Störungen fremder Rechtssphären ..... d) Autonomieprinzip und allgemeine Defensivnotstandsbefugnis ..... e) Vom Autonornieprinzip zur Solidarität - ein rechtsgeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Das Solidaritätsprinzip .................................. a) Die Veränderung der Freiheitssphären des Individuums ......... aa) Die allgemeine Hilfeleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Die allgemeine Eingriffsduldungspflicht im Aggressivnotstand . cc) Die Einschränkung der Defensivnotstandsbefugnis .......... dd) Zwischenbetrachtung .... . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. b) Das Solidaritätsprinzip als grundlegende Wertentscheidung ....... c) Ausschluß anderer Deutungsmöglichkeiten .................. aa) Keine Begründung durch das Prinzip des überwiegenden Interesses ......................................

178 178 179 180 181 185 188 189 189 191 194 195 196 199 199

Inhaltsverzeichnis bb) Keine utilitaristische Begründung des rechtfertigenden Notstands ...................................... 3. Die Bedeutung besonderer Pftichtenstellungen beim rechtfertigenden Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Spezielle Obhutspftichten und besondere Rechtsverhältnisse ...... b) Erhöhte Opferpfticht und Erweiterung der Eigenverantwortlichkeit als Konsequenzen besonderer Pftichtenstellungen? ............. 4. Zwischenergebnis ..................................... IV.

9 202 208 209 210 212

Metasprachliche Normenebene: Extrasystematische Regeln über die Rechtsgüterschutzordnung .................................. 212 I. Der Unterschied von intra- und extrasystematischer Rechtfertigung am Beipiel des Aggressivnotstands und der Pftichtenkollision .......... a) Die Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspfticht als Notstandsproblem ................................... b) Die Kollision gleichwertiger Handlungspftichten .............. aa) Unmöglichkeit einer Lösung auf der primärsprachlichen Ebene. bb) Lösung über eine Metanorm ......................... cc) Andere Lösungsvorschläge .......................... 2. Die gegenseitige Befolgung der Regeln der primärsprachlichen Normenebene ........................................ a) Das Notwehrverständnis von Hruschka .................... b) Die Begründung des Koordinationsverhältnisses zwischen den Bürgern .......................................... c) Die extrasystematische Zwangsbefugnis .................... d) Der staatsphilosophische Hintergrund der Notwehrkonzeption Hruschkas ........................................ e) "Individuelle" und "überindividuelle" Aspekte bei der Notwehr ... f) Abgrenzung zur Notwehrkonzeption von Hoyer .............. 3. Die Befriedungsfunktion der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

212 214 215 215 217 220 221 222 224 229 230 233 234 236

G. Aggressiv- und Defensivnotstand ............................... 238 I.

Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238

11.

Die Solidarpfticht des ,,Jedermann" ........................... 239 1. Das maßgebliche Fallsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Kritik am Erfordernis des "wesentlichen" Überwiegens ........... 3. Die Entwicklung einer umfassenden Defensivnotstandsbefugnis ..... a) Begründung einer Analogie zu § 228 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Einwände gegen eine allgemeine Defensivnotstandsbefugnis ...... 4. Die Bedeutung der Angemessenheitsklausel ...................

239 240 243 243 245 247

10

Inhaltsverzeichnis a) Das Prinzip der Verallgemeinerung ....................... b) Angemessenheit und gerechte Lastenverteilung ............... c) Die Angemessenheitsklausel als Hinweis auf die Subsidiarität der Aggressivnotstandsbefugnis gegenüber gesetzlichen Sonderregelungen ........................................... d) Die Angemessenheitsklausel als absolute Opfergrenze . . . . . . . . .. e) Die Bedeutung der Angemessenheit für den Defensivnotstand .... 5. Ein Sonderproblem: Die Gefahrengemeinschaft .................

III.

253 256 257 257

Die Aufopferungspflicht des speziell Obhutspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . 260 1. 2. 3. 4.

IV.

248 251

Das maßgebliche Fallsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Begründung der gesteigerten Aufopferungspflicht ............ Gesteigerte Aufopferungspflicht und Angemessenheit ............. Abschließende Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Der "Bergsteigerfall" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Perforation .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) "Der Haustyrannenfall" ............................... d) Die Zwangsblutspende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

260 261 265 266 266 267 268 269

Die Aufopferungspflicht von Personen, die in einem besonder.::n Rechtsverhältnis stehen ........................................ 270 1. Das maßgebliche Fallsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 270 2. Die materielle Begründung der Aufopferungspflicht besonders verpflichteter Personen .................................... 271 3. Bedenken gegen die Auffassung von Lugert ................... 273

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung von koordinierten Rechtssubjekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

I.

Der Rechtsgrund der Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 275

11.

Die Notwehrlage ........................................ 276

1. Angriff als Intensivierung einer Rechtsgutsgefährdung ............ 2. Angriff als zurechenbare Kooperationsverweigerung ............. a) Die Zurechnung auf der ersten Zurechnungsebene . . . . . . . . . . . . . b) Die Zurechnung auf der zweiten Zurechnungsebene ........... c) Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs .......................... 4. Angriff durch Unterlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Notwehrhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Notwehr und hoheitliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 32 StGB als staatliche Gewaltermächtigung? .... . . . . . . . . . . .

276 279 280 283 285 288 289 295 296 297

Inhaltsverzeichnis

11

b) Notwehr der Privatperson gegen Amtsträger ................. 297 c) Notwehr des Beamten gegen Angriffe von Privaten ............ 298 III.

Die Notwehrbefugnis ..................................... 299 1. Die Erforderlichkeit der Angriffsabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. "Sozialethische" Notwehrschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Schuldlos handelnde Angreifer .......................... b) Die Notwehrprovokation .............................. aa) Der Wegfall der Notwehrlage ........................ bb) Die Verantwortlichkeit des Provokateurs für Rechtsgüter des Angreifers ..................................... cc) Das Verbot des Rechtsmißbrauchs ..................... dd) Selbstschutzobliegenheiten des Verteidigers .............. ee) Vorverschulden als Einschränkungskriterium extrasystematischer Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auseinandersetzungen innerhalb enger Lebensgemeinschaften ..... d) Unerträgliches Mißverhältnis ........................... aa) Keine notwehrimmanente Beschränkung ................. bb) Eingeschränkte Zulässigkeit der Verletzung indisponibler Rechtsgüter des Angreifers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. cc) Einschränkungen aufgrund Art. 2 Abs. 2 EuMRK .......... dd) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit .................

299 301 301 302 302 303 304 306 307 310 312 312 313 313 314

Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319 Literaturverzeichnis ........................................... 323 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 355

A. Einleitung "Wer über Notstand und Notwehr schreibt, muß sich vor Augen halten, daß kaum ein strafrechtliches Gebiet sich einer größeren Literatur rühmen darf als dieses. Hierdurch ist das Thema nicht etwa ein unfruchtbares geworden, denn die Grundlagen der erwähnten Institute sind keineswegs klargestellt und die Einzelheiten der Ausgestaltung bieten immer noch Stoff zu so mancher Bemerkung ...1 Diese einleitende Feststellung, die Anhur Baumgarten vor über 80 Jahren seiner Studie über Notstand und Notwehr voranstellte, trifft auch heute noch zu. Das enorme wissenschaftliche Interesse, das diese Thematik in der ganzen Rechtsgeschichte genießt, beruht nicht auf einem besonderen Klärungsbedarf, den die Rechtsprechung anmahnt. Vielmehr liegt es daran, daß jede Suche nach den Grundprinzipien dieser Institute zu der grundsätzlicheren Frage führt, was wir überhaupt unter Gerechtigkeit verstehen. Die Vorschriften über den rechtfertigenden Notstand - §§ 228,904 BGB, 34 StGB, 16 OWiG - und die Notwehr - §§ 227 BGB, 32 StGB, 15 OWiG weisen eine Gemeinsamkeit auf: In allen Fällen greift der Täter in fremde Interessen ein, um eine Notlage abzuwenden. Diese Tatsache erfordert eine systematische Betrachtungsweise beider Rechtfertigungsgründe. Für die vorherrschende Auffassung ist der Zusammenhang von Notstand und Notwehr schon seit langem geklärt. Notstand und Notwehr werden als die typischen Fälle angesehen, in denen sich bei der Kollision zweier rechtlich geschützter Interessen das überwiegende Interesse durchsetzt. 2 § 34 StGB erscheint so - mehr oder weniger - als gesetzliche Niederlegung dieses allgemeinen Interessenabwägungsgrundsatzes, während bei § 32 StGB der Gesetzgeber eine spezielle Abwägung vorgenommen hat. Die weitergehenden Befugnisse des Verteidigers in einer Notwehrlage folgen daraus, daß bei § 32 StGB neben das Prinzip des (Individual-)Güterschutzes der (überindividuelle) Gedanke der Verteidigung der Rechtsordnung tritt. Dieses letzte Interesse gibt den Ausschlag dafür, daß auf der Seite des Verteidigers die Interessen in der Regel diejenigen des rechtswidrigen Angreifers überwiegen. Man könnte diese Konzeption als eindimensio-

Baumgarten, Notstand und Notwehr, S. V.

S.307.

Vgl. Lenckner in: SchönkelSchröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 7; ders., GA 1985.

14

A. Einleitung

nal bezeichnen, weil der Zusammenhang von Notstand und Notwehr über einen einheitlichen Grundsatz, das Interessenabwägungsprinzip, definiert wird.

Jedoch zeigt eine neuere Entscheidung des Bundesgerichtshofes, daß das Verhältnis zwischen Notstand und Notwehr nur vordergründig geklärt ist. Unter Bezugnahme auf die Literatur führen die Richter aus: ,,Fehlt es an der Rechtswidrigkeit des Angriffs, kommt eine Rechtfertigung allein unter Notstandsgesichtspunkten in Betracht. ,,3 Diese Ansicht überrascht, denn auf den ersten Blick liegt doch nahe, daß dem Eingrijfsrecht eines Angreifers eine Duldungspflicht auf Seiten des Betroffenen korrespondiert. Folgt aus einem Eingriffsrecht nicht der Anspruch, vom Eingriffsopfer das Unterlassen der Gegenwehr zu verlangen (vgl. § 194 Abs. 1 BGB)? Stünde dem Betroffenen ein Abwehrrecht zur Seite, könnte demnach von einer Eingriffsbejugnis keine Rede mehr sein. Hält man die Notwehr für eine spezielle Verteidigungsbefugnis gegen (menschliche) Angriffe, kann somit zur Abwehr eines nichtrechtswidrigen Angriffs nicht mehr auf die allgemeine Vorschrift des § 34 StGB zurückgegriffen werden. Eine kritische Überprüfung der überkommenen Auffassung von Notstand und Notwehr ist daher überfällig. Allerdings muß sich derjenige, der in der Rechtfertigungsdogmatik nach neuen Wegen sucht, vor Augen halten, daß er es mit einer in Jahrzehnten gewachsenen, nahezu allgemeinen Überzeugung zu tun hat. Dabei treten die Schwächen des Interessenabwägungsprinzips offen zutage. Wer die "Abwägung aller positiven und negativen Vorzugstendenzen" als formales, inhaltsleeres Prinzip bezeichnet\ muß sich fragen lassen, welchen Beitrag zur Erklärung von Notwehr und Notstand seine Auffassung leisten kann. Eine flexible, auf die Einzigartigkeit jedes Interessenkonflikts bezogene Lösung gerät in Gefahr, unter der Fixierung auf größtmögliche Einzelfallgerechtigkeit den Blick für die systematischen Zusammenhänge zu verlieren. s Rechtliche Urteile erfordern Gründe, und Gründe können nicht nur auf den Einzelfall zutreffen. 6 Wer dagegen mit Bemsmann vorzieht, "heuristisch völlig offen, d.h. vor allem

BGH, NJW 1989, S. 2479 (2481) mit Hinweis auf Hirsch in: LK, § 34 Rn. 73 und Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 31, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 9; ebenso Krause, Hilde Kaufmann-GS, S. 681; Roxin, AT, § 14 Rn. 50. Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 33 ff. Rn. 7; ders., GA 1985, S. 313; Duo, Pflichtenkollision, S. 113; Rudolphi, Armin Kaufmann-GS, S. 393. Ein extremes Beispiel dafür gibt Bemsmann, Entschuldigung, S. 316: "Falls erforderlich, ließen sich dem rechtsgutsspezifischen Notstand so viele unterschiedliche dogmatischsystematische "Orte" zuweisen, wie es unterschiedliche Notstands-Typen gibt...... Zur Kritik derartiger Positionen vgl. Frankena, Analytische Ethik, S. 43 Cf.; Hare, Freiheit und Vernunft, S. 125 Cf. Brandt, Ethical Theory, S. 20 Cf.; Frankena, Analytische Ethik, S. 46; M. G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 43 Cf., 60 ff.

A. Einleitung

15

ohne Furcht vor fehlender (strafrechts-)systematischer Folgerichtigkeit und mit variablen Perspektiven an die mannigfaltigen Notstandskonfigurationen herangehen zu können und damit die "Theorie"fortschreibung nicht allzu früh unter das Diktat der schlüssigen systematischen Zuordnungen zu stellen"7, gibt damit letztlich den Anspruch der Rechtswissenschaft, rationale Wissenschaft zu sein, auf. Ziel meiner Untersuchung ist die Entwicklung eines besseren Grundverständnisses von Notstand und Notwehr. Beide Rechtfertigungsgründe müssen insbesondere aus unserem Staats- und Gesellschaftsverständnis heraus und vor dem Hintergrund unserer Verfassung interpretiert werden, der das Menschenbild eines freien und eigenverantwortlichen Individuums zugrundeliegt. Dabei erweist sich der rechtfertigende Notstand als Oberbegriff für mehrere voneinander zu unterscheidende Fallgruppen, die in ein zusammenhängendes System eingeordnet werden. Zwei Leitprinzipien durchziehen die verschiedenen Notstandsfälle: Auf der einen Seite steht der Autonomiegedanke, der die Selbstbestimmung und als ihre Kehrseite die Eigenverantwortlichkeit des Individuums enthält. Auf der anderen Seite findet sich die Forderung nach mitmenschlicher Solidarität. Während diese beiden Prinzipien die Zuordnung der Bereiche rechtlich geschützter Freiheit zum Individuum bestimmen, geht es bei der Notwehr um etwas ganz anderes. Hier erscheinen die Mitglieder einer Gesellschaft als einander gleichgeordnete Rechtssubjekte, die sich wechselseitig die Achtung ihrer Freiheitssphären schulden. Die Notwehr dient dazu, diese Kooperation im staatsJreien Raum sicherzustellen. Damit sind die wesentlichen Ziele meiner Arbeit zusammengefaßt. Bei der Entwicklung dieser Auffassung gehe ich folgendermaßen vor: Ausgangspunkt sind die Untersuchungen von Warda und Seelmann zur Konkurrenz der Rechtfertigungsgründe. 8 Daneben soll in Teil B. die herrschende Deutung von Notstand und Notwehr dargestellt werden. Beide Rechtfertigungsgründe erscheinen üblicherweise als Konkretisierungen eines allgemeinen Rechtfertigungsprinzips, des Vorrangs des überwiegenden Interesses. Folgerichtig widmet sich Teil C. einer methodischen Kritik dieses Rechtfertigungsprinzips. Interpretiert man § 34 StGB als Regelung aller Fälle des rechtfertigenden Notstands und somit als Aufforderung zu einer umfassenden Abwägung aller denkbaren Gesichtspunkte, so werden dadurch die für die Rechtfertigung maßgeblichen Wertentscheidungen verdeckt. Kernpunkt meiner Kritik wird die Feststellung sein, daß sich nicht alle maßgeblichen Gesichtspunkte auf den Nenner von miteinander verrechenbaren - und damit relativen - Interessen bringen lassen.

Bemsmann, Entschuldigung, S. 316. Warda, Maurach-FS, S. 143 ff.; Seelmann, Verhältnis.

16

A. Einleitung

Teil D. soll die Unzulänglichkeit der dualistischen Notwehrkonzeption aufzeigen. Anlaß zu Kritik bietet insbesondere die These, bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen von Angreifer und Verteidiger gebe das Interesse der Allgemeinheit an der Verteidigung der Rechtsordnung den Ausschlag für ein Überwiegen der geschützten Interessen über die beeinträchtigten Individualinteressen des Angreifers. Ich bestreite die Existenz eines derartigen rechtlich relevanten Allgemeininteresses. Darüberhinaus lassen sich die einzelnen Voraussetzungen der Notwehr mit dem Topos ,,Rechtsbewährungsinteresse" nicht schlüssig erklären. Nach der Darstellung und Kritik der traditionellen Auffassung wird in den folgenden Kapiteln ein verbessertes Verständnis von Notstand und Notwehr entwickelt. Dabei geht es in Teil E. zunächst um die Erarbeitung der normtheoretischen Grundlagen. Rechtfertigung im Sinne einer Billigung des Verhaltens durch die Gesamtrechtsordnung bedeutet mehr als den bloßen Ausschluß strafbaren Unrechts. Aus diesem Grund erfordert eine Untersuchung des Verhältnisses der Verbots- und Gebotsnormen zu den Rechtfertigungsgründen den Abschied von einem rein strafrechtlichen Blickwinkel. Die bisher vertretenen wichtigsten Ansätze, die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen und die Lehre vom Leitbildtatbestand, werden in den Kontext einer allgemeinen Normentheorie gestellt. Beide Auffassungen konfrontiere ich mit der von Hruschka9 in die deutsche Strafrechtsdiskussion eingeführten Unterscheidung zwischen intra- und extrasystematischen Rechtfertigungsgründen. Dieser Ansatz soll im Zusarnrnenhang mit der Normentheorie Bindings und Armin Kaufmanns diskutiert und präzisiert werden. Sollten Notstand und Notwehr unterschiedlichen normlogischen Ebenen angehören, dann liegt es auf der Hand, daß sie nicht durch ein einheitliches Prinzip erklärt werden können. Mit dem Nachweis unterschiedlicher Wertungsebenen, die sich formal in der Unterscheidung von intra- und extrasystematischen Rechtfertigungsgründen abbilden lassen, befaßt sich Teil F. Zu Beginn erörtere ich die Frage nach dem Grund einer Rechtspflicht und dem Zusammenhang von Recht und Pflicht. Es folgt die Überlegung, daß die primärsprachliche Normenebene die gegenseitige Abgrenzung der Bereiche rechtlich geschützter Freiheit zum Gegenstand hat. Dieser Aufgabe dienen auch die verschiedenen Regeln für den Aggressiv- und den Defensivnotstand. Dagegen gehört die Notwehr einer höheren Normenschicht an. Die beiden letzten Kapitel enthalten eine Darstellung der wichtigsten Konsequenzen, wobei ich auf eine vollständige Behandlung aller Notstands- und Notwehrprobleme angesichts der immensen Stoffülle verzichten muß. Insbesondere fehlt beim Notstand die wichtige Frage, wie sich die verschiedenen Interessen in eine kardinale Werteordnung einstellen lassen. Doch scheint mir die Vernachlässi-

Hruschka, Dreher-FS, S. 189 ff.

A. Einleitung

17

gung von Wertungsfragen bei einer Arbeit, die sich vor allem um die Aufdekkung systematischer Zusammenhänge bemüht, vertretbar zu sein.

2 Renzikowski

B. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen I. Zur Konkurrenz von Normen

Das am häufigsten diskutierte Problem des Verhältnisses von Normen ist das der Gesetzeskonkurrenz. Gesetzeskonkurrenz liegt dann vor, wenn eine Handlung unter den Tatbestand mehrerer Gesetze subsumiert werden kann und sich jedoch aus ihrem systematischen Verhältnis und den Gesetzeszwecken ergibt, daß nur ein Gesetz angewendet werden soll. Wenn auch bei allen Rechtfertigungsgründen die Rechtsfolge identisch ist - das Verhalten ist nicht rechtswidrig -, so können sich dennoch Konkurrenzprobleme stellen, wenn nämlich mehrere Rechtfertigungsnormen, die die Rechtfertigung von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig machen, auf einen Sachverhalt zutreffen. Wie Klug l herausgearbeitet hat, gibt es genau vier mögliche Formen des Verhältnisses von Gesetzen zueinander: Die erste Form, die Altemativität (Heterogenität) bezeichnet die Fälle, in denen sich zwei Normen gegenseitig ausschließen. Eine kumulative Anwendung beider Normen ist nicht möglich. 2 Von Interferenz spricht Klug, wenn sich die Anwendungsbereiche mehrerer Normen teilweise überschneiden. 3 Soweit es für diesen Konkurrenzfall keine Regel gibt\ sind beide Vorschriften nebeneinander anwendbar. Spezialität (Subordination) liegt vor, wenn ein Tatbestand alle Merkmale eines anderen generellen Tatbestandes und darüberhinaus ein zusätzliches Merkmal enthält. Hier läßt sich daraus, daß ein bestimmter Sachverhalt in den Anwendungsbereich einer Spezialnorm fallt, darauf schließen, daß dieser Sachverhalt auch von der Generalnorm erfaßt wird. Der umgekehrte Schluß ist dagegen nicht zuläs-

Klug, ZStW 68, S. 399 ff.; die analytische Untersuchung von Klug ist von der gegenwärtigen Strafrechtslehre bisher kaum rezipiert worden. Ausnahmen bilden lediglich Hrusch/ca, Strafrecht, S. 387 ff. und MaurachlGössel/Zipf, § 55 Rn. 27 ff.; vgl. auch Puppe, Idealkonkurrenz, S. 313 ff. Klug, ZStW 68, S. 403. Klug, ZStW 68, S. 404.

Etwa: "lex prior derogat legi posteriori" oder "lex primaria derogat legi subsidiariae", wobei es sich hier nicht um logische Gesetze, sondern um teleologische Anweisungen für die Gesetzesanwendung handelt, vgl. Klug, ZStW 68, S. 413.

H. Die Untersuchungen von Warda und Seelmann

19

sig. 5 Für diese Fonn der Gesetzeskonkurrenz gilt die Regel: "lex specialis derogat legi generali." Als letzte Fonn ist die Identität anzusprechen. Sie ist gegeben, wenn zwei Nonnen einen identischen Gegenstand regeln. 6 Für die Dogmatik der Rechtfertigungsgründe ist vor allem die Fallgruppe der Spezialität von Interesse. Hier stellt sich die Frage, ob die Berufung auf den generellen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen ist, wenn die Tatsituation von einer speziellen Nonn erfaßt wird, das Verhalten aber nicht ihren Anforderungen entspricht. Kann sich etwa jemand zur Abwehr einer Gefahr auf rechtfertigenden Notstand berufen, wenn die Gefahr vom Angriff eines Menschen herrührt, Notwehr aber mangels Gegenwärtigkeit oder mangels Rechtswidrigkeit des Angriffs ausgeschlossen ist? Ein vergleichbares Problem wird im öffentlichen Recht unter dem Stichwort "Spezialitätsprinzip" diskutiert. Dort geht es um das Verhältnis von speziellen Eingriffsbefugnissen und polizeilicher GeneralklauseC Im übrigen ist eine Einteilung der Rechtfertigungsgründe kein bloßes ästhetisches "GlasperlenspieI", sondern zwingt zu einer Aufdeckung der ihnen zugrundeliegenden Wertentscheidungen. "Konkurrenzlösung" und "Prinzipienlösung"S dürfen daher nicht in einem Gegensatz stehen, sondern müssen sich miteinander vereinbaren lassen.

11. Die Untersuchungen von Warda und Seelmann I. Der Grundsatz der funktionalen Spezialität

a) Die Untersuchung von Warda Erste grundlegende Überlegungen zum Verhältnis der Rechtfertigungsgründe zueinander stellte Warda im Jahre 1972 an. 9 Allerdings ist bei Wardas Beitrag zu beachten, daß er in der Tenninologie von Klug abweicht. So spricht Warda immer dann von Spezialität, wenn eine Rechtfertigungsnorm anderen Recht-

Klug, ZStW 68, S. 404. Klug, ZStW 68, S. 404. Nach herrschender Auffassung soll § 227 BGB mit § 32 StGB identisch sein, da nicht einzusehen sei, warum die Notwehr im Zivilrecht anders ausgestaltet sein soll als im Strafrecht, vgl. von Feldmann in: MüKo, § 227 Rn. 1; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 365; Hirsch in: LK, Vor § 32 Rn. 68; entsprechendes gilt auch im Verhältnis zu § 15 OWiG.

Vgl. DrewslWackelVogeVMartens, S. 154 f., 491 f.; Götz, Polizeirecht, Rn. 157 ff., 432,447. Diese beiden Ansatzpunkte stellt Peters, GA 1981, S. 447 einander gegenüber. Warda, Maurach-FS, S. 143 ff.

20

B. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen

fertigungsnonnen vorgeht, mag es sich um einen Fall der Subordination oder um einen Fall der Subsidiarität gegenüber einer interferenten Nonn handeln. Nach der Auffassung von Warda sind die Vorschriften, nach denen die Rechtswidrigkeit einer Tat ausgeschlossen ist, grundsätzlich nebeneinander anwendbar. lO Zwar käme allen Rechtfertigungsgründen dieselbe rechtliche Wirkung zu, nämlich der Ausschluß der Rechtswidrigkeit, so daß sich nicht aus unterschiedlichen Rechtsfolgen ein Vorrang ableiten ließe. Die Verdrängung eines generellen Rechtfertigungsgrundes durch einen spezielleren erwägt Warda jedoch dort, wo die Rechtfertigung an strengere oder zusätzliche Voraussetzungen geknüpft wird. Hier müsse durch Auslegung ennittelt werden, ob nach dem Willen des Gesetzgebers die Rechtfertigung für bestimmte Sachlagen nur nach dem spezielleren Rechtfertigungsgrund zu beurteilen sei. Als Folge wäre ein Rückgriff auf die generelle Nonn bei Nichtvorliegen der strengeren Voraussetzungen ausgeschlossen. ll In diesen Fällen spricht Warda im Unterschied zur logischen von funktionaler Spezialität. 12 Für meine Untersuchung ist vor allem die Einordnung der verschiedenen Regeln über den rechtfertigenden Notstand von Interesse. Warda hält § 904 BGB für einen Spezialfall des § 34 StGB, der sich auf die Rechtfertigung von Sacheingriffen in Notstandslagen beschränkt. § 904 BGB verlange für die Rechtfertigung die Abwendung eines drohenden, unverhältnismäßig großen Schadens und stelle damit strengere Voraussetzungen auf als § 34 StGB, der schon ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses ausreichen lasse. 13 Für die Fälle, in denen bei einem Übergewicht des drohenden Schadens gegenüber dem Einwirkungsschaden die Rechtfertigungsvoraussetzungen des § 904 BGB noch nicht erreicht seien, die Tat aber nach den Regeln des allgemeinen rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt wäre, sei ein Rückgriff auf die generelle Nonn des § 34 StGB unzulässig. 14 § 228 BGB versteht Warda als abschließende Sonderregelung zu § 904 BGB. Während § 904 BGB allgemein die Eingriffe in fremde Sachen zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr regele, verlange § 228 BGB, daß die Gefahr gerade von der Sache drohe, die zur Gefahrenbeseitigung beschädigt werden müsse. Ein Spezialitätsverhältnis bestehe nicht, weil § 228 BGB die Voraussetzungen für den Ausschluß der Rechtswidrigkeit gegenüber § 904 BGB erheblich herabsetze. Somit

10

Warda, Maurach-FS, S. 149.

11

Warda, Maurach-FS, S. 159.

12

Warda, Maurach-FS, S. 166; zustimmend Seelmann, Verhältnis, S. 19.

13

Warda, Maurach-FS, S. 160 f.; ähnlich Küper, JZ 1976, S. 517 Fn. 20.

14

Warda, Maurach-FS, S. 162.

11. Die Untersuchungen von Warda und Seelmann

21

betreffe § 228 BGB nur einen Ausschnitt aus der Regelungssituation des § 904 BGB, enthalte aber diesbezüglich eine abschließende Regelung, weil eine Ersatzverpflichtung des Notstandstäters bei Eingriffen in die gefahrdrohende Sache grundsätzlich nicht bestehe. 15 b) Stellungnahme Außer dem Hinweis auf die Ennittlung des gesetzgeberischen Willens gibt Warda nicht an, nach welchen Kriterien der Vorrang eines Rechtfertigungsgrundes vor dem anderen festgestellt werden kann. Seine Ausführungen lassen den Schluß zu, daß es nicht nur auf die Rechtfertigungslage, sondern auch auf die anderen Eingriffsvoraussetzungen (z.B. VerhäItnismäßigkeit) ankommen SOIl.16 In Wardas Beitrag klingt ein entscheidender Ansatzpunkt an: Durch die Ermittlung der den einzelnen RechtfertigungsgTÜnden zugrundeliegenden Prinzipien muß die Systematisierung der RechtfertigungsgTÜnde angestrebt werden. Nicht überzeugend ist jedoch Wardas These, § 904 BGB knüpfe die Rechtfertigung von Sacheingriffen an strengere Voraussetzungen als die rettende Verletzung einer Person gemäß § 34 StGB. Daß bei Sacheingriffen das Abstellen auf eine reine Schadensproportionalität einfacher zu handhaben sei als die komplexe Interessenabwägung des § 34 StGB 17 , überzeugt nicht angesichts der Wertung des Strafrechts, nach der die Verletzung einer Person schwereres Unrecht darstellt als die Verletzung bloßer Sachwerte. DaTÜberhinaus enthalten die §§ 216, 226a StGB höhere Einwilligungserfordernisse - und damit Rechtfertigungsvoraussetzungen - für Eingriffe in Leib und Leben als für Sacheingriffe. Damit hätte es nahegelegen, für Notstandseingriffe in Persönlichkeitsgüter ebenfalls höhere Rechtfertigungsvoraussetzungen zu verlangen. 18 Betrachtet man daTÜberhinaus die Diskussionen in der Großen Strafrechtskommission, läßt sich eine entsprechende "dezidierte gesetzgeberische Entscheidung" nicht

15 Warda, Maurach-FS, S. 162 ff.; § 228 BGB und § 904 BGB stehen demnach in einem Interferenzverhältnis. Dieses Konkurrenzverhältnis wird durch die Regel "lex primaria derogat legi subsidiariae" (vgl. oben Fn. 4) aufgelöst, was Warda jedoch leugnet (S. 169), da er alle Fälle der Verdrängung unter dem Stichwort ,,funktionale Spezialität" gleich behandeln will. 16 Ansonsten ließe sich § 34 StGB als allgemeine Gefahrenabwehrklausel interpretieren, während § 32 StGB eine spezielle Gefahr, nämlich die von einem rechtswidrigen Verhalten eines Menschen ausgehende, unmittelbar drohende Rechtsgutsverletzung beträfe. Kritisch zu Warda insoweit See/mann, Verhältnis, S. 20 f. 17

So Warda, Maurach-FS, S. 162.

Mit diesem Argument wird vielfach eine analoge Ausdehnung des § 228 BGB im Sinne einer allgemeinen übergesetzlichen Defensivnotstandsbefugnis abgelehnt, vgl. unten 18

S. 247 f.

22

B. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen

feststellen. t9 Viel mehr spricht dafür, daß den Aggressivnotstandsbefugnissen ein einheitlicher Grundgedanke zugrundeliegt, gleich ob es sich um Sacheingriffe oder die Verletzung von Personen handelt. 20 2. § 34 StGB als lex generalis aller Rechtfertigungsgründe a) Die Ansicht Seelmanns Während Warda noch eine Priorität von mehreren konkurrierenden Rechtfertigungsgründen grundsätzlich verneinet, geht Seelmann einen Schritt weiter. Seine Überlegungen gipfeln in der These, daß § 34 StGB die Grundnorm aller Rechtfertigungsgründe enthält und nach dem Grundsatz "lex specialis derogat legi generali" im Einzelfall von den besonderen Rechtfertigungsnormen verdrängt wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage nach dem Grundprinzip der Rechtfertigung. Seelmann weist sich als Vertreter einer "monistischen" Rechtfertigungslehre aus. Das Rechtfertigungsprinzip entspreche letztlich einer Interessenabwägung. Eine tatbestandliehe Rechtsgutsverletzung sei deshalb nicht rechtswidrig, wenn ihr die Beachtung eines im konkreten Fall überwiegenden Interesses gegenüberstehe. 22 § 34 StGB wird von Seelmann als gesetzliche Formulierung dieses allgemeinen Interessenabwägungsgrundsatzes verstanden. Dieser Vorschrift ließen sich keine konkreten Voraussetzungen der Rechtfertigung entnehmen. Vielmehr enthalte § 34 StGB nur einen Wertungsrahmen, nach dem bei einem wesentlichen Überwiegen des bedrohten Interesses trotz Verletzung des unterlegenen Interesses eine Rechtfertigung eintreten solle. In den anderen Rechtfertigungsgründen habe der Gesetzgeber dagegen das Ergebnis einer Interessenabwägung selbst normiert. Erst diese besonderen Rechtfertigungsgründe schilderten konkrete Interessenkollisionen und bestimmten, wann im Einzelfall eines der kollidierenden Interessen überwiege. Somit stellten diese Rechtfertigungsgründe gesetzliche Konkretisierungen der allgemeinen Interessenabwägung des § 34 StGB dar. Demnach sei § 34 StGB gegenüber

19, Wie Warda, Maurach-FS, S. 162 meint; vgl. aber die Begründung der Vorschläge der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums, Niederschriften, 12. Bd., S. 498; die Diskussion in der 122. Sitzung, ebenda, S. 271 f.; kritisch Gallas, ebenda, S. 166; Schröder, Schmidt-FS, S. 292; s. auch die Darstellung bei Seelmann, Verhältnis, S. 9 ff.

20

Dazu Teil F., Abschnitt III.2.b)

21

Warda, Maurach-FS, S. 150.

22

Seelmann, Verhältnis, S. 24 ff., insbes. S. 32.

11. Die Untersuchungen von Warda und Seelmann

23

allen Rechtfertigungsgründen mit Ausnahme der Einwilligung das logisch generelle Gesetz?3. Da alle Rechtfertigungsgründe nach der Ansicht von Seelmann zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit führen, zieht dieses Verhältnis nur dann Konsequenzen nach sich, wenn die Voraussetzungen der Spezialregelungen nicht vorliegen. In diesen Fällen sei der Rückgriff auf § 34 StGB ausgeschlossen, wenn der vorliegende Sachverhalt vom Regelungsbereich bzw. Konftikttypus des speziellen Rechtfertigungsgrundes mitumfaßt sei. Dagegen ist "eine Wertung mit Hilfe des Rahmens, den § 34 StGB eröffnet, (... ) nur dort zulässig, wo gesetzlich vertypte Interessenabwägungen nicht einschlägig sind. ,,24 Seelmann führt insofern die Auffassung von Warda konsequent für alle Rechtfertigungsgründe weiter und bemüht sich um eine Präzisierung der "funktionalen Spezialität" durch die Einführung des Begriffes des Konftikttypus?5 Für Seelmann ist der Vorrang der gesetzlich konkretisierten Wertungen gegenüber der richterlichen Abwägung auf der Grundlage des § 34 StGB durch den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes aus Art. 20 Abs. 3 GG und durch das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG geboten. 26 b) Konsequenzen für das Verständnis von Notwehr und Notstand Nach der Auffassung von Seelmann erweist sich die Notwehr als Spezialfall des rechtfertigenden Notstands. Den Ausschlag für das Überwiegen der Interessen auf Seiten des Verteidigers gäben das Interesse der Gemeinschaft an der Geltung der Rechtsordnung, welches vom Verteidiger gewahrt werde, sowie das Interesse an der Respektierung fremder Selbstbestimmung. 27 Welchen Konftikttypus erfaßt aber § 32 StGB? Für Seelmann legt die Notwehr endgültig die Reaktionen gegen menschliche Angriffe fest. ,,Da das Verteidigungsinteresse nur "wesentlich" bei einem rechtswidrigen Angriff überwiegt, besteht gegenüber rechtmäßigen Angriffen eine Duldungspflicht. ,,28 Der Rückgriff auf § 34 StGB ist ausgeschlossen.

23

Seelmann, Verhältnis, S. 32 ff.

201

Seelmann, Verhältnis, S. 68.

Seelmann, Verhältnis, S. 62 f.; im Gegensatz zu Seelmann setzt die "funktionale Spezialität" bei Warda allerdings keine logische Spezialität voraus. 25

26

27

Seelmann, Verhältnis, S. 46 ff. Seelmann, Verhältnis, S. 29 f., 34, 42. Seelmann, Verhältnis, S. 64 (Fettdruck im Original).

24

B. Die Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen

Ebenso hält Seelmann § 228 BGB und die daraus abgeleitete allgemeine Defensivnotstandsbefugnis für Sonderfälle des rechtfertigenden Notstands. "Angesichts der Tatsache, daß sich beim Defensivnotstand die Maßnahme gegen den richtet, aus dessen Sphäre die Gefahr droht (ist) die Eingriffsschranke (... ) aus diesem Grund niedriger als beim Aggressivnotstand des § 904 BGB; schon bei einer geringeren Gefahr "überwiegen" die bedrohten Interessen "wesentlich" i.S. des § 34 StGB.' X..88 Diese Behauptung enthält einen logischen Widerspruch. 89 Zur Auflösung dieses Widerspruchs hat Roxin vorgeschlagen, nicht nur darauf abzustellen, daß zur Rettung in die Sphäre eingegriffen wird, aus der die Gefahr stammt, sondern ebenso zu berücksichtigen, wenn in die Sphäre eines völlig Unbeteiligten eingegriffen wird. Wenn die Herkunft der Gefahr zu Lasten des gefährdenden Interesses ausschlagen könne, müsse sich der Umstand, daß die Gefahr von anderer Seite drohe, zugunsten des durch die Gefahrenabwehr verletzten Interesses auswirken. 90 Problematisch an diesem Vorschlag ist zunächst, daß die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Abwägungsfaktoren offenbleibt. 91 Jedenfalls wird man im Rahmen der Interessenabwägung den Gesichtspunkten "Autonomie" und "Herkunft der Gefahr" immer dieselbe Wertigkeit zukommen lassen müssen, da es sich um spiegelbildliche Gesichtspunkte handelt. 92 In Symbolen läßt sich das folgendermaßen ausdrücken: 93

88 Die Großbuchstaben X und E sollen die kollidierenden Interessen bezeichnen, das Zeichen ,,=" bedeutet "gleichviel wert wie", das Zeichen ,,>" bedeutet ,,mehr wert als", das Zeichen ,, E"" und "X" = E" + a" Die zweite Aussage hat zur Folge, daß eine Rechtfertigung für die Rettung des Erhaltungsgutes nach § 34 StGB abzulehnen ist. Zu fragen ist nun, ob das Interesse "E"" auf Kosten des Untergangs des Interesses "X"" durchgesetzt werden darf. Symbolisch läßt sich die Abwägung folgendermaßen darstellen:

Schadensproportionalität geregelt wird, warum bei der Perforation noch die Gleichwertigkeit von kindlichem und mütterlichem Leben ausreicht, warum aber ansonsten keine Ausnahme vom Tötungsverbot gelten soll. Diese Darlegungslast läßt sich nicht in widerspruchsfreier Weise erfüllen. 93 Der Verwendung vöiIig abstrakter Symbole läßt sich nicht entgegenhalten, daß die Interessenabwägung eine normative Präferenzentscheidung sei, die sich nicht in krämerischen Berechnungen erschöpfe. Denn die Bewertung von Interessen im Rahmen der Abwägung muß immer gleich ausfallen. Man kann nicht einmal den Gesichtspunkt X so und andermal so bewerten, ohne sich dem Vorwurf reiner Willkür auszusetzen. Die Verwendung abstrakter Symbole hat den Vorteil, daß sie Abwägungsstrukturen aufdeckt und daß sie an zumindest denkbare Interessenkollisionen anknüpft, ohne gleichzeitig Beispiele geben zu müssen.

94 Zu beachten ist, daß "X < E + a" äquivalent ist zu "X - a < E", denn es macht keinen Unterschied, ob man zu Gunsten des E dessen Autonomie berücksichtigt, oder zu Lasten des X den Gesichtspunkt, daß X in die Sphäre eines Unbeteiligten eingreift.

52

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

"E* < X*" und "E* + a

= X*" äquivalent zu "E* = X* -

a"

Nach der zweiten Aussage ist eine Rechtfertigung für die Rettung des Erhaltungsgutes nach § 34 StGB abzulehnen. Damit ist im dargestellten Fall einer Kollision ungleichwertiger Rechtsgüter weder die Rettung des einen noch die des anderen gerechtfertigt. Für den Beispielsfall bedeutet das folgendes: Denkt man sich ein Wertverhältnis zwischen dem Spielzeugschiff und dem Schloß, welches unter Berücksichtigung der Herkunft der Gefahr zu einer unentschiedenen Interessenabwägung führt, dürfte A das Schloß des E zur Rettung des Schiffes nicht zerstören. Trotzdem würde auch E wegen Sachbeschädigung bestraft, weil er sein Schloß nicht zur Rettung des Spielzeugs geopfert hat. Die Lösung Roxins ist also mitnichten "logisch wie axiologisch einwandfrei".95 Diese Überlegungen zeigen wiederum, daß die Herkunft der Gefahr kein Gesichtspunkt ist, der im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, sondern daß die Herkunft der Gefahr den Interessenabwägungsmaßstab bestimmt. Die Gleichung "X = E" bereitet keine Probleme. Im Rahmen des Aggressivnotstands reicht die Relation nicht für eine Rechtfertigung der Rettung von "X" gemäß § 34 StGB aus. Im Rahmen des Defensivnotstands reicht die Relation für eine Rettung von "E" gemäß § 228 BGB aus. Gegen diese Agumentation läßt sich nicht einwenden, daß es sich nicht um ein und denselben Interessenkonflikt handele. Die Frage, ob das Interesse "X" auf Kosten des Interesses "E" gemäß § 34 StGB gerettet werden dürfe, sei eine ganz andere als die Frage, ob das Interesse "E" vor einer Gefahr aus der Sphäre von X gerettet werden dürfe. Diese Behauptung müßte begründet werden. Insbesondere müßte gezeigt werden, wie der Wechsel der Seiten einer Relation zu einer unterschiedlichen Betrachtung führen kann. Will man die Herkunft der Gefahr in die Interessenabwägung miteinbeziehen, dann verlangt dieser Gesichtspunkt seine Berücksichtigung in Aggressivnotstands- und Defensivnotstandsfällen in gleicher Weise. Dafür spricht noch ein weiterer, praktischer Grund. Wie die Spiegelbildlichkeit von § 228 BGB und § 904 BGB zeigt, stehen das Erhaltungsgut des Defensivnotstands und das Eingriffsgut des Aggressivnotstands auf derselben Seite der Interessenabwägung. Im Beispielsfall ist es für das Interesse ,,E" nämlich völlig gleichgültig, ob es einer Gefährdung durch das Interesse "X" in direkter Form ausgesetzt ist, oder ob eine Gefahr von außen durch die Rettung des Interesses "X" auf das Interesse ,,E" abgewälzt wird. 96 Auch bei Defensivnotstandsfällen wird danach gefragt, ob sich

95

Roxin, Jescheck-FS, S. 466; wie hier Hruschka, JuS 1979, S. 391.

S. bereits Maurach, Kritik, S. 14: Im Aggressivnotstand werde die Gefahrenlage auf andere abgewälzt, indem der Geflihrdete eine Handlung begehe, die selbst eine neue Gefahrenquelle für den anderen darstelle. 96

11. Die Unterscheidung von Aggressiv- und Defensivnotstand

53

das Erhaltungsinteresse zugunsten des Eingriffsinteresses aufopfern muß. Aggressiv- und Defensivnotstand beschreiben demnach nur zwei Seiten ein und desselben Interessenkonflikts in einer Notstandssituation. Dies läßt sich in einem Schaubild verdeutlichen: 97 Interessenproportion

Aggressivnotstand zugunsten von "X"

Defensivnotstand zugunsten von "E"

"X" > "E"

rechtmäßig

rechtswidrig

= "E"

rechtswidrig

rechtmäßig

"X" < "E"

rechtswidrig

rechtmäßig

"X"

Zu sehen ist, daß die Lösung über unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe ein stimmiges System von Aggressiv- und Defensivnotstand gewährleistet. Es tritt kein Kollisionsfall auf, in dem die Rettung eines Interesses auf Kosten des Gegeninteresses sowohl im Aggressiv- als auch im Defensivnotstand zugleich rechtmäßig wäre. Es tritt auch kein Fall auf, in dem die Gefahrenabwehr im Aggressiv- und im Defensivnotstand zugleich rechtswidrig wäre. M.a.W., das sich durchsetzende Interesse läßt sich immer in derselben Weise benennen. Eine solche Stimmigkeit kann die Lösung über die Einbeziehung der Herkunft der Gefahr als Abwägungsinteresse nicht leisten, da dieser Gesichtspunkt als Teil der abzuwägenden Interessen immer nur relativ zu den anderen zu berücksichtigenden Interessen sein kann. Dagegen entzieht sich eine absolut gesetzte Abwägungsklausel der Abwägung und ist niemals relativ. Die methodischen Probleme der Gegenansicht werden besonders bei Lenckner 8 deutlich. Nach seiner Auffassung ist § 228 BGB ein Unterfall des § 34 StGB. Das bedeutet, daß bei einer Gefahr, die von einer Sache ausgeht, der Gesichtspunkt der Herkunft der Gefahr ein derartig hohes Gewicht haben muß, daß die Interessenproportion (gemäß § 228 BGB) umgekehrt wird. Im Falle der Kollision von Leben gegen Leben erhält dieser Gesichtspunkt einen geringeren Wert. Bei der Perforation führt er noch zu einer Entscheidung für das Leben der Mutter, während die Herkunft der Gefahr in den anderen Fällen nicht mehr für eine Rechtfertigung ausreicht. Obwohl embryonalem Leben genausoviel Gewicht zukommt wie dem Leben der Mutter, soll es sich nach Lenckner bei der Perforation um einen nicht verallgemeinerungsfahigen Sonderfall handeln. Lenckner bewertet also den Gesichtspunkt der Herkunft der Gefahr verschieden hoch. Diese Differenzierung verzichtet offen auf Verallgemeinerungsfähigkeit und bleibt somit bei reinem, intersubjektiv nicht überprüfbarem Werten stehen.

97 Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 114. In meinem Schaubild wird die Frage nach der "Wesentlichkeit" des Überwiegens ausgeklammert. 98

Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 30.

54

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

Roxin wirft den Befürwortern einer eigenständigen Defensivnotstandsbefugnis vor, sie interpretierten die Interessenabwägungsklausel des § 34 StGB zu Unrecht im Sinne der überholten Güterabwägungslehre. 99 Dieser Vorwurf trifft indes die oben angestellten Überlegungen nicht. Ich habe nicht behauptet, daß der rettende Eingriff im Defensivnotstand schon dann zulässig ist, wenn das verletzte Eingriffsgut abstrakt nicht unverhältnismäßig höher zu bewerten ist als das gerettete Erhaltungsgut. AIIerdings habe ich gezeigt, daß die Herkunft der Gefahr kein Gesichtspunkt ist, der in die Interessenabwägung des § 34 StGB eingesteIIt werden kann; damit enthält § 34 StGB ausschließlich die Regelung des Aggressivnotstands. lOo 111. Zum "Vorverschulden" beim rechtfertigenden Notstand

Die rechtlichen Konsequenzen der Verantwortlichkeit des Täters für die Notstandslage waren schon früher umstritten. 101 Bevor der Unterschied zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand herausgearbeitet war, lag es nahe, für aIIe NotstandsfäIIe auf die Regel des § 54 a.F. StGB (jetzt § 35 Abs. I Satz 2 StGB) zurückzugreifen, nach der nur ein unverschuldeter Notstand von Strafe befreite. 102 Jedoch handelt es sich hier um zwei verschiedene Kategorien. § 35 Abs. I Satz 1 StGB enthält die Vermutung, daß der Täter infolge einer Notlage unfähig war, die Norm zu befolgen. Seine Entschuldigung soll dann ausgeschlossen sein, wenn er sein Unvermögen selbst zu vertreten hat. Dagegen geht es bei § 34 StGB nicht um die Fähigkeit zur Normbefolgung, sondern um die Verteilung von Risiken. Ein Schluß a maiore ad minus ist daher nicht möglich. 103 Eine Parallele zu § 35 Abs. 1 Satz 2 StOB mag für den überzeugend sein, der diese Vorschrift kumulativ aus Schuldminderungs- und Unrechtsminderungsaspekten interpre-

99

Roxin, AT, § 16 Rn. 65; ders., Jescheck-FS, S. 464.

Unbeachtlich ist, daß § 34 StOB dem Wortlaut nach auch Defensivnotstandsfälle erfassen kann, soweit das Erhaltungsinteresse das Eingriffsinteresse wesentlich überwiegt. Eine allgemeine Defensivnotstandsbefugnis und § 34 StOB stehen insofern in einem Interferenzverhältnis, da sich ihre Anwendungsbereiche teilweise überschneiden, s. oben S. 18. 100

101 Vgl. etwa für eine Berücksichtigung bei der Oüterabwägung Henkel, Notstand, S. 137 ff.; August Köhler, Notstand, S. 39; dagegen Titze, Notstandsrechte, S. 108; Löffler, ZStW 21, S. 579; Baumgarten, Notstand und Notwehr, S. 71 ff.; von Weber, Notstandsproblem, S. 41. 102 So auch jetzt noch die Begründung von DreherlTröndle, § 34 Rn. 13 und Bemsmann, Entschuldigung, S. 395. 103

Vgl. Hruschka, JR 1979, S. 125; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 70.

111. Zum "Vorverschulden" beim rechtfertigenden Notstand

55

tiert. 104 Ich teile dieses Verständnis des entschuldigenden Notstands nicht. Aber selbst unter Anerkennung dieser Prämisse überzeugt die Parallele nicht. Aus § 35 Abs. 2 StGB, der bereits die subjektive Vorstellung des Täters für eine Entschuldigung ausreichen läßt, geht hervor, daß man allenfalls von einer Minderung des Handlungsunwerts sprechen kann. 105 Bei § 34 StGB wird dagegen vorrangig der Erfolgswert gegen den Erfolgsunwert der Notstandstat abgewogen.

Dennoch soll nach weitverbreiteter Ansicht bei der Interessenabwägung zu Lasten der Erhaltungsseite ein Vorverschulden bei der Entstehung der Gefahrenlage berücksichtigt werden. Hat der Gefährdete die Notstandslage vorwerfbar herbeigeführt, könne auch bei einem ansonsten positiven Saldo zugunsten des Erhaltungsinteresses eine Rechtfertigung ausscheiden. 106 Demgegenüber verweisen die Gegner darauf, daß sich die Berücksichtigung des Vorverschuldens nicht mit einem ,,Mehr-Nutzen-als-Schaden"-Prinzip begründen ließe. Hierfür ist es in der Tat gleichgültig, wie die Interessenkollision entstanden ist. Es kommt nur noch darauf an, den besten Ausweg zu finden. 107 Allerdings läßt sich damit die Berücksichtigung des Vorverschuldens noch nicht gänzlich widerlegen. Es ist nämlich denkbar, daß das "MehrNutzen-als-Schaden"-Prinzip durch die Verantwortlichkeit des Notstandstäters für die Gefahrenlage eingeschränkt ist. Die Aufforderung von Küper, den Verantwortungsaspekt nicht ohne sachlichen Grund auszublenden und damit wesentlich ungleiche Sachverhalte entgegen dem Gerechtigkeitsprinzip zu

104 So die h.L., vgl. Lenckner in: SchönkeiSchröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 111; Hirsch in: LK, Vor § 32 Rn. 183; Rudolphi in: SK, § 35 Rn. 3; anders etwa Roxin, AT, § 22 Rn. 9 ff.

lOS

Vgl. Hirsch in: LK, Vor § 32 Rn. 183.

Grundlegend Küper, Notstand, S. 25 ff.; Dencker, JuS 1979, S. 780 f.; ebenso EserlBurkhardt, 12/34; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 70; Küpper, JuS 1990, S. 188; Dnagi, Notstand, S. 120 f.; Laclener, § 34 Rn. 2; Jakobs, AT, 13/27; Jescheck, Lehrbuch, S. 325; Dtto, AT, S. 126; Roxin, AT, § 16 Rn. 52; Hellmann, Rechtfertigungsgrunde, S. 166; Mitsch, JuS 1989, S. 967; Rengier in: KK-OWiG, § 16 Rn. 54. DreherlTröndle, § 34 Rn. 15 und Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 427 behandeln die Frage bei der "Angemessenheit". Die Rechtsprechung ist uneinheitlich. Während RGZ 5, S. 160 (162) bei verschuldetem Notstand eine Rechtfertigung ablehnte, hielt RGSt 61, S. 255 ein Vorverschulden für unbeachtlich; ebenso aus neuerer Zeit BayObLG, NJW 1978, S. 2046. Der BGHSt 3, S. 7 (10); VRS 36, S. 23 (25) hat diese Frage zunächst offengelassen, im "Mandantengelderfall" (BGH, NJW 1976, S. 680) aber als zusätzliches Argument herangezogen; in dieselbe Richtung geht BGH, NJW 1989, S. 2479. Das OLG Stuttgart, BB 1976, S. 951 hält den Notstandseingriff bei Vorverschulden für unangemessen. 106

107 Hruschka, JR 1979, S. 126; Meißner, Interessenabwägungsforrnel, S. 253; im Ergebnis ebenso Lenckner in: SchönkeiSchröder, § 34 Rn. 42; Schmidhäuser, Studienbuch, 6/45; Baumann/Weber, S. 347; Göhler, § 16 Rn. 10.

56

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

nivellieren 108 , reicht aber für eine Begründung noch nicht aus. Vielmehr muß gezeigt werden, welche besondere Wertung eine Einschränkung rechtfertigen könnte. Zur Begründung zieht Hirsch den Gedanken der Ingerenz heran. 109 Indes erweist sich diese Erwägung als nicht tragfähig. Der Gedanke der Ingerenz dient zur Herleitung von Garantenpflichten bei den Unterlassungsdelikten. Schon aus diesem Vergleich zeigt sich ein struktureller Unterschied. Bei den Garantenpflichten geht es um Handlungspjlichten. Soll die Eingriffsbefugnis nach § 34 StGB ausgeschlossen sein, handelt es sich dagegen um eine Unterlassungspjlicht. Darüberhinaus versteht man allgemein unter Ingerenz ein vorangegangenes gefährdendes Tun, welches ein Verletzungsrisiko für fremde Rechtsgüter schafft. Deshalb wird aus dem allgemeinen Verbot, andere zu verletzen ("neminem laede") das Gebot abgeleitet, Schäden für fremde Rechtsgüter abzuwenden, die aus einer vom Unterlassenden geschaffenen Gefahr erwachsen können. lIo Die Verursachung einer Aggressivnotstandslage schafft jedoch noch kein Risiko für fremde, sondern ausschließlich für eigene Rechtsgüter des Gefährdeten. Erst durch die Rettungshandlung begründet der Täter eine Gefahr für fremde Rechtsgüter. Man könnte erwägen, ob derjenige, der eine Kollisionslage herbeiführt, ein Rechtsrisiko für die entgegenstehenden Rechtsgüter schafft. Die Möglichkeit, eine Befugnis wahrzunehmen, ist aber von der tatsächlichen Schaffung eines Verletzungsrisikos zu unterscheiden; und nur um letzteres geht es bei der Ingerenz. Außerdem ist es gerade die Frage, ob eine Eingriffsbefugnis bestehen soll. Die Kategorie der Ingerenz paßt daher nicht. Küper meint, daß der Grundsatz, daß jeder den ihm drohenden Schaden selbst tragen müsse und nicht auf Dritte abwälzen dürfe, umsomehr gelte, als sich der Gefährdete den drohenden Schaden selbst zuzuschreiben habe. lll Ähnlich stellen Dencker und Jakobs auf die Verantwortlichkeit für die Kollisionslage ab. Aus dem System der §§ 904, 228 BGB, 32 StGB ergebe sich, daß auf der Eingriffsseite ein umso höheres Maß an Schädigungen erlaubt werde, je intensiver die Zurechnung der Kollisionslage zur Eingriffsseite möglich sei. Um Wertungs widersprüche zu vermeiden, müsse dies auch für die Erhaltungsseite gelten, so daß das Maß des Verschuldens das Maß an Solidarität beeinflus-

108

Küper, Notstand, S. 27.

109

Hirsch in: LK, § 34 Rn. 70.

Vgl. zuletzt BGHSt 37, S. 115 f.; s. auch Jescheck in: LK, § 13 Rn. 31 m.w.Nachw.; grundlegend zum axiologischen Zusammenhang zwischen Verletzungsverbot und Gefahrabwendungspflicht Hruschka, JuS 1979, S. 386 f. 110

111

Küper, Notstand, S. 26 f., Fn. 66.

III. Zum ..Vorverschulden" beim rechtfertigenden Notstand

57

se. 1I2 Damit ließe sich ein Bewertungsraster entwickeln: Bei vorsätzlicher Gefahrverursachung mit einer geplanten Verletzung fremder Interessen verdiente das Erhaltungsgut ebenso keinen Schutz wie der "böswillige" Angreifer keine Schonung. Dagegen müßte man auf den fahrlässig handelnden Angreifer gewisse Rücksicht nehmen; ebenso dürfte derjenige, der die Gefahr nur fahrlässig verursacht hat, auf eine, wenn auch verringerte, Solidarität hoffen. Diese Parallelisierung von Verantwortung der Erhaltungsseite und Verantwortung der Eingriffsseite ist jedoch nicht möglich, weil schon in der Konfliktsstruktur grundlegende Unterschiede zwischen Notwehr und Notstand bestehen. Bei der Notwehr ist eine uneingeschränkte Gegenwehr deshalb gerechtfertigt, weil der Angreifer durch seinen rechtswidrigen Angriff die Grenzen seines Freiheitsbereiches überschreitet und eine fremde Rechtssphäre verletzt. Die Verursachung einer Aggressivnotstandssituation enthält dagegen in keinem Fall die Beeinträchtigung fremder Rechtssphären; deshalb ist sie auch nach geltendem Recht nicht rechtswidrig. Im Unterschied zur Notwehr geht es bei §§ 904, 228 BGB nicht um eine Verantwortlichkeit LS. eines Vermeidens bzw. AndersHandeln-Könnens hinsichtlich der Kollisionslage; vielmehr werden Zuständigkeiten zur Gefahrentragung verteilt. 113 Der Angreifer kann sich der Verteidigung entziehen, wenn er seinen rechtswidrigen Angriff einstellt, ohne eigene rechtlich geschützte Interessen preiszugeben. Der Notstandstäter kann dagegen die verschuldete Gefahr nicht mehr anders abwendenY4 Schließlich muß das Eingriffsopfer bei einer Notstandssituation eine Einbuße an eigenen Interessen hinnehmen, auch wenn es selbst aktiv zur Abwehr der Gefahr Hilfe leistet. Die Regeln für den Aggressiv- und den Defensivnotstand nehmen die Zuständigkeitsverteilung in zweifacher Hinsicht vor: Zum einen gilt der Grundsatz, daß jedermann zuständig ist für Schäden, die an seinen Gütern entstehen. Zum anderen ist jedermann für Schäden zuständig, die von seinen Gütern für fremde Güter erwachsen. Die Vermeidbarkeit dieser Schäden spielt für die Zuständigkeitsverteilung keine Rolle. Betrachtet man die Regelung des § 904 BGB genauer, so zeigt sich, daß im Aggressivnotstand eine Schadensabwälzung im strengen Wortsinn auf Unbeteiligte nicht stattfinden soll. Vielmehr dient § 904

112 Dencker, JuS 1979, S. 781; Jakobs, AT, 13/27; ähnlich Felber, Rechtswidrigkeit, S. 116, 129; Rudolphi, Armin Kaufmann-GS, S. 395 f. 113 Von einer Interessenkollision kann beim Notstand nur deswegen gesprochen werden, weil die Möglichkeit der Gefahrenabwälzung bereits mitgedacht wird. Unter strikter Geltung des Satzes ..casum sentit dominus" gäbe es keine Kollision, weil eine Verrechnung eigener mit fremden Interessen von vorneherein ausgeschlossen wäre. 114

Vgl. Frister, GA 1988, S. 302.

58

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

BGB der SchadensminimierungYs Der Gefährdete darf zu diesem Zweck fremde Interessen verletzen. Seine Zuständigkeit für die Tragung des Schadens bleibt aber letztlich bestehen, weil er das Eingriffsopfer nach § 904 Satz 2 BGB für den Eingriff entschädigen muß. Dabei bedeutet der Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 BGB), daß für das Eingriffsopfer die Lage wiederhergestellt werden muß, die vor dem Notstandseingriff bestand. Im Aggressivnotstand trägt also immer der Notstandstäter die Kosten der Gefahrabwendung. Man könnte zwar den Gedanken des "Verschuldens gegen sich selbst" erwägen, wie er in § 254 BGB seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hatY6 Da aber die Kosten für die Schadensminimierung auf jeden Fall der Erhaltungsseite zur Last fallen, ist eine weitere Verschiebung der Zuständigkeiten nicht mehr möglich. Es ist deshalb nicht ungerecht, entsprechend dem Zweck der Schadensminimierung die Verantwortlichkeit für die Gefahr auszublenden. Zum Gesichtspunkt der Schadensminderung beim Aggressivnotstand gibt es eine Parallele beim Defensivnotstand. Nach § 228 BGB darf das Interesse, von dem die Gefahr ausgeht, nicht zur Rettung eines wesentlich geringeren Interesses geopfert werden, obwohl von ihm die Gefahr ausgeht und der Eigentümer für diese Gefahr haftet. Wenn sich also im Defensivnotstand das wesentlich überwiegende Interesse durchsetzt, muß dies auch im Aggressivnotstand gelten. 1l7 Schließlich muß der Zusammenhang von Aggressivnotstandsbefugnis und allgemeiner Hilfeleistungspfticht beachtet werden. Die Frage, ob auch bei verschuldeter Gefahr Hilfe geleistet werden muß, hat sich vor allem im Zusammenhang mit der Selbstmordproblematik entzündet. Der Streit, ob ein frei verantwortlicher Selbstmord verhindert werden muß, kann dahinstehen. 118 Entscheidend ist, daß nach fast allgemeiner Auffassung zu Recht demjenigen, der einen Selbstmordversuch unternommen hat und dann seinen Tod nicht mehr

1lS

Hans-Rudolf Horn, Untersuchungen, S. 169.

Nach Hubmann, AcP 155, S. 117 f. handelt es sich um ein Bewertungsprinzip menschlichen Verhaltens. 116

117 Vgl. Hruschko., JR 1979, S. 126. Zum Verhältnis von Aggressiv- und Defensivnotstand s. oben S. 53. 118 Vgl. etwa Spendel in: LK, § 323c Rn. 50; Lackner, § 323c Rn. 2 jeweils m.w.Nachw.; die Rechtsprechung berücksichtigt die bewußte Herbeiführung der Lebensgefahr jedenfal1s nicht, vgl. BGHSt 6, S. 147 (152 f.); 13, S. 162 (169); 32, S. 367 (375 f.). Dieser Rechtsprechung wird vorgehalten, daß sie dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit des Individuums zu wenig Rechnung trägt. Zu beachten sei, daß der "ernsthafte" Selbstmörder die Gefahr hinnehmen und also nicht gerettet werden wolle. Verneint man in diesem Fall eine Hilfeleistungspflicht, so liegt das aber nicht daran, daß der Selbstmörder die Lebensgefahr bewußt herbeigeführt hat, sondern an der Anerkennung seiner eigenverantwortlichen Entscheidung.

III. Zum "Vorverschulden" beim rechtfertigenden Notstand

59

will, Hilfe geleistet werden muß. 1I9 Zwar meint Spendei, daß eine bewußte Selbstgefährdung kein Unglücksfall sei und daher niemand verpflichtet sein könne, einen Selbstmörder von seinem lebensgefährlichen Tun abzuhalten l2o , doch darum geht es gerade nicht. Entscheidend ist die Hilfspflicht zur Verhinderung des ,,Erfolges", wenn die Lage so kritisch geworden ist, daß eine Rechtsgutseinbuße unmittelbar droht und der Gefährdete diese Einbuße nicht mehr hinnehmen will. Vom Umfang einer Rettungshandlungspflicht läßt sich aber auf den Umfang einer Rettungsduldungspflicht zurückschließen, weil eine Handlungspflicht die Handlungsfreiheit des Einzelnen in stärkerem Maße einschränkt als eine Unterlassungspflicht. 121 Wenn also die Zurechenbarkeit der Gefahrbegründung die Rechtfertigung einer Notstandstat einschränkt, kann konsequenterweise gegenüber Gefährdeten, die ihr Unglück selbst verschuldet haben, nur eine eingeschränkte Hilfeleistungspflicht angenommen werden. Diese Einschränkung der Hilfeleistungspflicht müßte für die meisten Unglücksfälle durchgeführt werden, da der Verunglückte in der Regel an der Entstehung der Notlage beteiligt ist - man denke nur an die Unfalle im Straßenverkehr. Küper ist indes bereit, diese Konsequenz zu ziehen und bei einer Zurechenbarkeit der Gefahrbegründung auch die Hilfeleistungspfticht zu reduzieren. Als Beispiel führt er den Fall an, daß ein Kraftfahrer durch verkehrswidriges Fahren einen Unfall mit einem anderen Fahrzeug verschuldet hat; beide Fahrer drohten zu verbluten. Objektiv habe ein Dritter die Pflicht, vorrangig dem unschuldigen Opfer zu helfen, da das Verschulden des anderen den Hilfeleistungsanspruch mindere. 122 Jedoch trägt diese Begründung das von Küper gewünschte Ergebnis nicht. Zunächst handelt es sich im Beispiel nicht um einen Notstandsfall, sondern um eine Pflichtenkollision. Des weiteren geht es nicht um eine Einschränkung des Hilfeleistungsanspruchs gegenüber dem Helfer. Wenn das Interesse des Unfallverursachers an der Erhaltung seines Lebens gegenüber dem Interesse des unschuldigen Opfers zurückstehen muß, ist dafür der Gedanke der Ingerenz heranzuziehen: Wer pflichtwidrig für einen anderen eine Gefahr geschaffen hat, muß gegenüber dem Gefährdeten auch eigene gleichwertige Rechtsgüter opfern, wenn dadurch die Realisierung des geschaffenen Risikos verhindert wird. 123

119 Vgl. Vennander, Unfall situation, S. 68 f.; DreherlTröndle, § 323c Rn. 3a; Spendel in: LK, § 323c Rn. 54; anders nur eramer in: SchönkelSchröder, § 323c Rn. 7. Nach empirischen Untersuchungen steht bei den meisten Suizidversuchen der ,,Appellcharakter" im Vordergrund; s. dazu Dölling, NJW 1986, S. 1014 ff. 120

Spendei in: LK, § 323c Rn. 55.

Hruschka, JuS 1979, S. 386 ff.; ebenso bereits Löffler, Entwurf, S. 41; die Gegenkritik von Küper, Notstand, S. 29 f. trifft deswegen nicht zu, weil sie diese Beziehung von Handlungs-zu Unterlassungspflicht übersieht. 121

122 Küper, Notstand, S. 31; ebenso Roxin, AT, § 16 Rn. 108; der Fall stammt von Blei, AT, S. 168. Ablehnend BaUt1llJnn, AT, S. 359.

123 Vgl. Hruschka, JuS 1979, S. 386 f., 391 f.; ders., Strafrecht, S. 127 f.; Jakobs, AT, 15/12; Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 64.

60

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

Vergleicht man den verschuldeten mit dem unverschuldeten Aggressivnotstand, so wird deutlich, daß sich das Unwerturteil nicht auf die Rettung des wesentlich überwiegenden Interesses, sondern auf die "Herausforderung des Schicksals" bezieht. Die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen einer Mißbilligung des Vorverhaltens stellt sich somit nicht im Rahmen der Zulässigkeit des Notstandseingriffs, sondern wirft ein ganz anderes Problem auf, welches nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. 124 Die Bestrafung der Herbeiführung der Kollisionslage setzte einen entsprechenden Gefährdungstatbestand voraus, wobei es allerdings gleichgültig wäre, ob eine Rettung stattfindet oder nicht. IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen Unter diesem Begriff werden verschiedene Gesichtspunkte zusammengefaßt, die als "positive oder negative Vorzugstendenzen" im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB Berücksichtigung finden sollen. 1. Die Berücksichtigung der Autonomie a) Eingriffsseite und Selbstbestimmung Nach überwiegender Auffassung soll bei der Frage nach der Rechtfertigung des Notstandseingriffes die Beeinträchtigung der Autonomie des Opfers zu berücksichtigen sein. Allerdings ist die Einordnung in die Systematik des § 34 StGB streitig. Teilweise wird der Gesichtspunkt des Freiheitsprinzips innerhalb der Interessenabwägung der Eingriffsseite hinzugerechnet. 125 Andere erblicken in der Autonomie einen Faktor, der die Interessenabwägung begrenzt und ziehen dabei die Angemessenheitsklausel heran. 126

124 Vgl. Küper, Notstand, S. 35 ff.; Lenckner, Notstand, S. 104, die eine Lösung über die "actio illicita in causa" vorschlagen; Einwände dagegen bei Hruschka, Strafrecht, S. 360 ff.; Joerden, Relationen, S. 58 Fn. 133; Roxin, AT, § 16 Rn. 54. 125 Vgl. Hirsch in: LK, § 34 Rn. 68; Lenckner in: SchönkeJSchröder, § 34 Rn. 38; Schröder, SchwZStr 76, S. 9; von Bressendorj, Notwehr, S. 234; Onagi, Notstand, S. 91; ReichertHammer, Fernziele, S. 199; Stratenwerth, AT, Rn. 462; BockelmannIVolk, S.99; Meyer, Autonomie, S. 129; etwas anders Delonge, Interessenabwägung, S. 143 ff., der statt des Autonomieprinzips ein "Sphärenrechtsgut" berücksichtigen will. 126 Vgl. Jescheck, Lehrbuch, S. 326; Hruschka, Strafrecht, S. 145; Lee, Interessenabwägung, S. 111 ff.; Stratenwerth, ZStW 8, S. 9; Dreherffröndle, § 4 Rn. 6; Wesseis, AT, S. 93; MauracWZipf, § 27 Rn. 43; Noll, SchwZStr 80, S. 176; Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 429; s. auch BT-Drs. IV/650, S. 160; V/4095, S. 15; Horstkatte, Sonderausschuß V, S. 1797.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

61

In diesem Zusammenhang werden zwei bekannte Schulfälle diskutiert: Im "Platzregen"-Fall wird eine mit einer kostbaren Robe bekleidete, aber unbeschirmte Dame von einem Wolkenbruch überrascht und entreißt einem neben ihr stehenden, einfach angezogenen Mädchen dessen Regenschirm. 127 Auch wenn die Robe wesentlich mehr wert sei als die billige Kleidung des Mädchens, sei die Tat nicht gerechtfertigt, weil über den Sacheingriff hinaus auch die Autonomie des Mädchens verletzt werde. 128 Im "Blutspende"-Beispiel geht es um die Frage, ob man einem Unbeteiligten Blut abnehmen darf, um das Leben eines anderen (z.B. eines Unfallopfers) zu retten. Auch hier wird der Eingriff als rechtswidrig erachtet, weil eine "Zwangsblutspende" fremde Autonomie mißachte. 129 Gegen diese Bewertung ist einzuwenden, daß die Autonomie kein Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen des § 34 StGB sein kann, weil diese Vorschrift gerade eine Durchbrechung des Autonomieprinzips enthält. Die Autonomie, d.h. die Unantastbarkeit und die Selbstbestimmung in Bezug auf die eigenen Rechtsgüter, wird durch § 34 StGB zugunsten wesentlich überwiegender, gefährdeter Interessen relativiert. 130 Der hohe Rang, welcher der nach Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmung zukommt, findet seine Berücksichtigung im Rahmen des § 34 StGB darin, daß ein Eingriff nur zugunsten wesentlich überwiegender Interessen zulässig ist. Im Grunde ist dies anerkannt, wenn aus dem Gesichtspunkt der Mißachtung fremder Autonomie gefolgert wird, daß nur ein unverhältnismäßig wertvolleres Interesse Schutz verdiene. 131 Dies entspricht auch dem Wortlaut des § 34 StGB, der ein "wesentliches" Überwiegen verlangt. Daher überrascht es, wenn dieselben Autoren mit Vehemenz gegen die Interpretation der "Wesentlichkeit" im Sinne eines quantitativen Überwiegens strei-

127

Nach Bockelmann, Niederschriften, Bd. 12, S. 162.

128 Hel/mann, Rechtfertigungsgründe, S. 161; dagegen für Rechtfertigung Interessenabwägung, S. 152.

Delonge,

129 Hirsch in: LK, § 34 Rn. 68; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 38; DreherlTröndle, § 34 Rn. 16; Bergmann, JuS 1989, S. 110; Blei, AT, S. 167; Jescheck, Lehrbuch, S.327; Stratenwerth, AT, Rn. 462; Bockelmann/Volk, S.99; Wesseis, AT, S.93; Maurach/Zipj, § 27 Rn. 43; Schröder, SchwZStr 76, S. 11; Nol/, ZStW 77, S. 29; Onagi, Notstand, S. 89; Hilgendorf, JuS 1993, S. 102. Für Rechtfertigung Roxin, Kriminalpolitik, S. 27 und Delonge, Interessenabwägung, S. 104, 151, die mit einem Schluß aus § 81a StPO argumentieren. 130 Grundlegend schon von Weber, Notstandsproblem, S. 102 f.; vgl. auch Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 253 f.; Joerden, GA 1991, S. 412 Fn. 8.

\31

Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 38; Roxin, AT, § 16 Rn. 41.

62

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

ten und auf einer bloßen KlarsteIlungsfunktion bestehen. 132 Wie widersprüchlich diese Ansicht ist, zeigt schon eine einfache Überlegung: Verlangt das Autonornieprinzip, daß das Erhaltungsinteresse unverhältnismäßig wertvoller ist denn nur dann liegt ein "eindeutiges Überwiegen" vor -, müßten diese Autoren Kriterien benennen können, in welchen Fällen das Erhaltungsinteresse nicht unverhältnismäßig wertvoller ist, so daß die Berücksichtigung der Autonomie zugunsten des Eingriffsinteresses nicht zu einem "eindeutigen Überwiegen" führt. In der oben (S. 50 f.) verwendeten Formelsprache läßt sich dies folgendermaßen ausdrücken:

,;x > E + a" dann,

wenn "X > E"133

Damit gehen die Vertreter einer umfassenden Interessenabwägung in Wirklichkeit doch von einem qualifizierten, graduell gesteigerten Interessenübergewicht aus! Dies ist auch richtig, denn es besteht kein Zweifel, daß etwa bei der Kollision von Sachwerten schon bei der geringsten Wertdifferenz ein "eindeutiges, zweifelsfreies" Überwiegen festgestellt werden kann. Will man daher im "Blutspende"-Beispiel eine Rechtfertigung schon aufgrund der Interessenabwägung verneinen, so besteht nur die Möglichkeit, die körperliche Unversehrtheit des Eingriffsopfers generell höher zu bewerten, so daß das Interesse an der Erhaltung des Lebens nicht wesentlich überwiegt. 134 Im "Platzregen"-Fall ist zu berücksichtigen, daß neben dem Interesse des Mädchens an trockener Kleidung noch ihre körperliche Unversehrtheit betroffen ist. Auch wenn ihr keine Gesundheitsgefahren drohen, so braucht sich dennoch grundsätzlich niemand mit Wasser begießen zu lassen. Selbst wenn die Robe jedoch einen entsprechend hohen Wert besitzt, führt auch dieser Gesichtspunkt nicht dazu, ein Interessenübergewicht der Erhaltungsseite zu verneinen. 135 Trotz eines Interessenübergewichts der Erhaltungsseite läßt sich nur dann ein Rechtswidrigkeitsurteil im "Blutspende"- und im ,'platzregen"-Beispiel fällen, wenn man andere Gesichtspunkte heranzieht, die über die Abwägung der widerstreitenden Interessen hinausweisen. So kommt nach einem Vorschlag von

132

Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 45; Roxin, AT, § 16 Rn. 76 f.

133 ..a" soll den Gesichtspunkt der Autonomie bezeichnen, ..>" bedeutet ..unverhältnismäßig größer als".

134

In diesem Sinne etwa Bergmann, JuS 1989, S. 110; Samson in: SK, § 34 Rn. 51.

Nicht überzeugend ist die Differenzierung von Jakobs, AT 13/25 nach dem ..symbolischen Gehalt" der Rettungshandlung. Abgesehen davon, daß aus kategorialen Gründen schon die Behandlung als abzuwägendes Interesse (mit welchem Wert?) zweifelhaft ist, läßt sich auch diese Unterscheidung nicht begründen. Wenn man einen Regenschirm als Waffe gegen einen angreifenden Hund einsetzt, gestaltet man ebenso sein Leben, wie wenn man sich mit dem Regenschirm gegen eine andere Naturgewalt (Regen) schützt. l3S

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

63

Joerden etwa das Prinzip der Verallgemeinerung als ein über die Interessenabwägung hinausgehendes Kriterium in Betracht. 136

Die Höherbewertung von höchstpersönlichen Rechtsgütern gegenüber Sachgütern ergibt sich aus der Werteordnung der Verfassung. Insofern wirkt sich die Autonomie bei der Bewertung der Rechtsgüter aus. Auch dies ist im Grundsatz anerkannt, wenn die Regel aufgestellt wird, je weniger hoch der Rang eines persönlichen Rechtsguts sei, desto mehr trete das beachtliche Persönlichkeitsinteresse am Unterbleiben einer Rechtsgutsverletzung zurück. 137 Diese Aussage bedeutet nichts anderes, als daß höchstpersönliche Rechtsgüter höher zu bewerten sind als andere Rechtsgüter, insbesondere Sachgüter; der Heranziehung des Autonomieprinzips als eigenständigem Gesichtspunkt bedarf es hierzu nicht mehr. Schließlich kommt es in einer Notstandssituation auf den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Eingriffsopfers überhaupt nicht an. Weder sind seine Interessen mehr wert, wenn es einen Eingriff verweigert, noch sind seine Interessen weniger wert, wenn es dem Eingriff zustimmt. Die Wirksamkeit einer Einwilligung setzt die Dispositionsbefugnis des Einwilligenden hinsichtlich der betreffenden Rechtsgüter voraus. Wer jedoch einer Eingriffsduldungspflicht unterliegt, muß seine Rechtsgüter unabhängig davon opfern, ob er einverstanden ist oder nicht. 138 Mit der Definition von Pflicht als gesolltem Verhalten stünde es in Widerspruch, das Sollen dem Belieben des Verpflichteten anheimzustellen. Daß Einwilligung und Notstand zwei unterschiedlichen Kategorien angehören, zeigt sich weiterhin daran, daß eine Rechtfertigung durch Einwilligung keine Notstandslage, nicht einmal berechtigte Inte(essen des Täters voraussetzt. b) Erhaltungsseite und Selbstbestimmung Zum Teil wird der Selbstbestimmung auch auf der Erhaltungsseite Bedeutung beigemessen. So soll die Bewertung der Erhaltungsinteressen von der individuellen Wertschätzung ihres Trägers abhängen. 139 Die Einbeziehung der

136 Joerden, GA 1991, S. 414 ff., 423 ff.; nach diesem Grundsatz argumentieren unausgesprochen - auch BaumannIWeber, S. 350, die von der grundsätzlichen Ablehnung der ,,zwangsblutspende" im - ausgefallenen, aber plakativen - Beispiel des Reisenden in einem einsamen Wüstenfort eine Ausnahme befürworten. Zu Joerden s. Teil G., Abschnitt 11.4. 137

Hirsch in: LK, § 34 Rn. 68; Reichert-Hammer, Fernziele, S. 199.

Lenckner in: SchönkeiSchröder, § 34 Rn. 20; Hruschka, Strafrecht, S. 175. Dies übersieht Hilgendorf, JuS 1992, S. 102. S. auch nachfolgend Abschnitt c) 138

139 Hirsch in: LK, § 34 Rn. 68; Lenckner in: SchönkeiSchröder, § 34 Rn. 33; Samson in: SK, § 34 Rn. 43; Roxin, AT, § 16 Rn. 61.

64

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

Selbstbestimmung in die Interessenabwägung mit Wirkung für die Bewertung der Erhaltungsseite ist jedoch ebenfalls abzulehnen. In letzter Konsequenz führte eine solche Verknüpfung dazu, daß eine Hilfeleistung zur Rettung disponibler Individualrechtsgüter auch gegen den Willen des Gefährdeten zulässig sein kann. Andererseits kann eine gesteigerte Wertschätzung nicht geringere Eingriffsschranken begründen. Einer Briefmarke kommt kein höherer Wert zu, weil sie die einzige in einer "Briefmarkensammlung" ist. Ebenso ist das Luxusfahrzeug des Milliardärs nicht deswegen geringer zu bewerten, weil der Reiche in seinem Fuhrpark noch ein paar Dutzend Nobelkarossen besitzt und es ihm auf das eine oder andere Fahrzeug nicht so "ankommt". Richtigerweise ist die Interessenabwägung deshalb ausschließlich anhand objektiver Maßstäbe vorzunehmen. l40 Des weiteren wäre es blanker Zynismus, etwa einer Mutter, die sich nach langen Gewissenskämpfen dazu entschlossen hat, trotz bestehender Lebensgefahr ihre Leibesfrucht auszutragen, zu bescheinigen, daß sie ihr Leben anscheinend gering einschätze und daß sie sich nicht in einer problematischen Konftiktlage befinde. 141 Die Autonomie des Trägers des Erhaltungsinteresses ist bei der Rechtmäßigkeit der Notstandshilfe zu berücksichtigen. Gegen den Willen des Gefährdeten ist eine Notstandshilfe unabhängig vom Verhältnis der kollidierenden Interessen unzulässig. Dies folgt schon aus dem Begriff der Hilfeleistung, der eine Unterordnung des Helfers unter den Willen desjenigen, dem die Hilfe zugute kommen soll, verlangt. 142 c) Notstand und (mutmaßliche) Einwilligung

In letzter Konsequenz dieser unzutreffenden Berücksichtigung der Selbstbestimmung im Rahmen des rechtfertigenden Notstands wäre § 34 StGB auch dann anzuwenden, wenn die Interessen ein und derselben Person miteinander kollidieren. Als Beispiel läßt sich der Fall des Vaters anführen, der sein Kind aus dem brennenden Haus in die Arme des Helfers wirft. Dabei besteht die Gefahr, daß das Kind zu Tode stürzt oder zumindest schwer verletzt wird. Wenn der Vater die Tat jedoch unterläßt, wird sein Kind mit Sicherheit ein Opfer der Flammen. 143 Die Abwägung zwischen sicherem Tod und geringer

140 BaumannIWeber, S. 351 warnt zur Recht vor einer .. Relativierung des Schutzes der Rechtsordnung" .

141 Man könnte diese Mutter nicht einmal wegen ihres Mutes loben, weil sie sich mangels einer Konfliktlage nur so verhielte, wie es das Recht ohnehin von ihr verlangt. 142 Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 166 ff.; 174 ff.; Freund, Erfolgsdelikt, S. 268 ff.; a.A. Battke, GA 1982, S. 356. 143

Vgl. BGH bei Dal/inger, MDR 1971, S. 361; Wehei, Strafrecht, S. 91 f.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

65

Rettungschance soll nach Auffassung einiger Autoren zu einer Rechtfertigung nach § 34 StGB führen. 144 Als Rechtfertigungsgrund ist hier aber die mutmaßliche Einwilligung einschlägig. Selbst wenn die Interessenabwägung des § 34 StGB den Erwägungen vergleichbar ist, die bei der mutmaßlichen Einwilligung anzustellen sind, liegt doch der Unterschied darin, daß es nicht um die objektiv sozialpragmatisch beste Lösung geht, sondern darum, den im Sinne des Betroffenen besten Weg zu finden. Deshalb ist die Notstandsrechtfertigung dem Konflikt von Rechtsgütern verschiedener Träger vorbehalten. 145 Die Gegenauffassung führt zu einer Relativierung des Selbstbestimmungsrechts durch die Verrechnung mit anderen Interessen. Darin liegt eine unserer Rechtsordnung fremde Vergemeinschaftung des einzelnen. Die Selbstbestimmung kann somit nicht auf den Nenner eines abwägbaren Interesses reduziert werden. 146

2. "Handeln auf Seiten des Unrechts" Nach § 52 a.F. StGB war beim sogenannten Nötigungsstand "eine strafbare Handlung nicht vorhanden". Das geltende Recht enthält dagegen keine geson-

144 Ouo, AT, S. 119, 127; Ulsenheimer, JuS 1972, S. 255; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 59 und 61 (vgl. aber dens. in: LK, Vor § 32 Rn. 129); Maurach/GösseVZipf, § 46 Rn. 129; vgl. auch Bouke, Suizid, S. 88 ff.; Lackner, § 34 Rn. 4; Stratenwerth, AT, Rn. 452 (s. aber Rn. 390); Schmidhäuser, Studienbuch, 6/92; Wesseis, AT, S. 94. Die von mir angesprochenen Zusammenhänge werden allerdings nicht gesehen. 145 S. BGHSt 35, S. 246 (249); Lenckner in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 54; Samson in: SK, § 34 Rn. 13; Jescheck, Lehrbuch, S. 347; Roxin, AT, § 18 Rn. 5 f.; vgl. jedoch im Gegensatz dazu die Stellungnahme dieser Autoren in Fn. 139. Dies gilt auch bei der sog. ,,indirekten Sterbehilfe", der Lebensverkürzung als "unbeabsichtigten Nebenfolge einer Schmerzlinderung" bei Todkranken, s. dazu Eser in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 26. Wer in diesen Fällen die Straflosigkeit des Arztes auf § 34 StGB stützt - so z.B. Hirsch, Welzel-FS, S. 795; Langer, Sterbehilfe, S. 141 ff.; H.-L. Schreiber, NStZ 1986, S. 341; Ouo, BT, S. 31 -, müßte eine Rechtfertigung prinzipiell auch dann für möglich halten, wenn die Schmerzlinderung gegen den Willen des Patienten erfolgt. Soweit aber - zu Recht - das Einverständnis des Patienten als notwendig angesehen wird, kann eine Lösung auch nicht über eine Kombination von rechtfertigendem Notstand und Einwilligung - so Dölling, MedR 1987, S. 7 - gefunden werden, da beide Rechtfertigungsgründe unterschiedlichen Kategorien zugehören. Vielmehr erkennt die h.L. im Ergebnis für den Extremfall der indirekten Sterbehilfe eine Ausnahme vom Ausschluß der Dispositionsbefugnis hinsichtlich des eigenen Lebens an und macht insoweit eine Ausnahme von § 216 StGB. 146 Vgl. Roxin, Welzel-FS, S. 451; Müller-Dietz, JuS 1989, S. 281; Schroth, JuS 1992, S. 478. Die Auffassung von Delonge, Interessenabwägung, S. 216 ff., der die Einwilligung in den Kontext einer Interessenabwägung stellt, ist daher abzulehnen.

5 Renzikowski

66

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

derte Regelung mehr für den "Nötigungsstand". Stattdessen umfaßt § 35 StGB die Fälle des Notstandes (§ 54 a.F. StGB) und des Nötigungsstandes, in denen früher auf eine Bestrafung verzichtet wurde. 147 Schon aus diesem Grund liegt es nahe, in den Fällen, in denen der Täter von einem Hintermann gezwungen wird, zur Vermeidung eigener Rechtsgutseinbußen fremde Rechtsgüter zu verletzen, von vorneherein eine Rechtfertigung auszuschließen und die Tat allenfalls zu entschuldigen. Allerdings hat man schon unter der Geltung des § 52 a.F. StGB darauf hingewiesen, daß eine Tat im Nötigungsstand auch gerechtfertigt sein könnte. 148 Die Problematik ist äußerst umstritten. Zum Teil wird eine Rechtfertigung nach § 34 StGB abgelehnt, da der Genötigte auf die Seite des Unrechts trete. Dies könne das Recht nicht billigen, wenn es nicht auf elementare Voraussetzungen seines Geltungsanspruches verzichten wolle. 149 Es sei unbillig, dem von dem Eingriff Betroffenen das Notwehrrecht zu versagen. 150 Diese Auffassung fordert zunächst methodische Kritik heraus, da das "Handeln auf Seiten des Unrechts" als Gesichtspunkt genannt wird, der in die Interessenabwägung einzustellen sei. Einer derartigen Einordnung ist deshalb zu widersprechen, weil im Nötigungsnotstand eine Rechtfertigung generell ausgeschlossen sein soll. Auf eine Interessenabwägung käme es nach dieser Meinung also nicht an. 151 Dagegen soll nach anderer Auffassung beim Nötigungsnotstand eine Rechtfertigung nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Vielmehr sei das "Handeln auf Seiten des Unrechts" bei der Abwägung mitzuberücksichtigen. Die abgenötigte Tat könne nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Verletzung hochran-

147

Vgl. dazu Hirsch in: LK, § 35 Vor Rn. 1.

148

S. August Köhler, Notstand, S. 21.

149 Lenckner in: SchönkelSchröder, § 34 Rn. 41b; ders., Notstand, S. 117; Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 430; Haft, AT, S. 98; Hilgendorj, Produzentenhaftung, S. 66; Wesseis, AT, S. 125; Lange, NJW 1978, S. 785; Ulrich Weber, ZStW 96, S. 396 f.; ähnlich Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 336, der allerdings für den Ausschluß des spezifischen Strafunrechts eintritt; gegen ihn Küper, Nötigungsnotstand, S. 88 Fn. 177; Roxin, Oehler-FS, S. 188 f.

ISO Lenckner in: SchönkelSchröder, § 34 Rn. 41b; Blei, AT, S. 170; Johannes, Mittelbare Täterschaft, S. 23; Kelker, Nötigungsnotstand, S. 128, 144; Spendei in: LK, § 32 Rn. 212, 216; BaumannIWeber, S. 343; Wesseis, AT, S. 125. 151 Dieser Kritik entgeht allerdings Blei, AT, S. 170, der die Problematik im Rahmen der Angemessenheit behandelt; ebenso Lange, NJW 1978, S. 785. Dazu, daß Faktoren, die die Interessenabwägung einschränken, nicht selbst als Interessen in die Abwägung eingestellt werden können, s. oben S. 38 f.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

67

giger Persönlichkeits güter angedroht werde und auf Seiten des Opfers kein Eingriff in höchstpersönliche Rechtsgüter stattfinde. 152 Dem Gesichtspunkt des "HandeIns auf Seiten des Unrechts" kommt im Rahmen des § 34 StGB jedoch keinerlei Bedeutung zu, da die Ursache der Gefahr für die Notstandsrechtfertigung unerheblich ist. 153 Die These, daß sich der Genötigte "auf die Seite des Unrechts" stelle und deshalb rechtswidrig handle, enthält eine petitio principii. Vielmehr läßt sich die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der abgenötigten Handlung gerade erst durch die Interessenabwägung des § 34 StGB feststellen. 154 Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß der Genötigte für die Zwangslage nichts kann. Warum soll er dann die Last des Unrechts des Hintermannes allein tragen?155 Die Abwälzung der Gefahr auf Dritte ist ohnehin eingeschränkt: Falls der Genötigte gegen den Hintermann Notwehr üben könnte, ist die Verletzung Dritter nicht erforderlich. 156 Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die Anrufung der Polizei oder die Inanspruchnahme der Hilfe von Dritten das Risiko für den Genötigten nicht soweit herabsetzt, daß von einem wesentlichen Überwiegen seiner Interessen nicht mehr gesprochen werden kann. 157 Da die Gefahrensituation für den Notstandstäter somit dieselbe ist, ob die Gefahr nun von einem Naturereignis oder vom rechtswidrigen Tun eines Menschen herrührt, läßt sich nicht begründen, warum die in § 34 StGB geregelte Lastenverteilung im Nötigungsnotstand anders ausfallen soll:58 In diesem Zusammenhang kann insbesondere der These von Kelker nicht gefolgt werden, dem Notstandsopfer werde im Nötigungsnotstand mehr als die Duldung des Notstandseingriffs abverlangt, es müsse darüberhinaus einen Ein-

152 Hirsch in: LK, § 34 Rn. 69; Roxin, AT, § 16 Rn. 58; Neumann, JA 1988, S. 334 f.; Bernsmann, Entschuldigung, S. 147. 153

Lackner, § 34 Rn. 2; Samson in: SK, § 34 Rn. 31; Göbel, EinwiIligung, S. 107.

154

Ähnlich Schmidhiiuser, Studienbuch, 6/37; Delonge. Interessenabwägung. S. 134.

Vgl. Felber. Rechtswidrigkeit, S. 163; Jakobs. AT. 13/14; Küper. Nötigungsnotstand. S. 67 f.; Delonge. Interessenabwägung. S. 134; Meißner. Interessenabwägungsforrnel, S. 255; Rainer Keller. Provokation, S. 310. 155

156 Vgl. Jakobs. AT, 13/14; Küper. Nötigungsnotstand. S. 75; Delonge, Interessenabwägung. S. 135.

m Dies gilt etwa für den von Krey. Jura 1979, S. 316 gebildeten Fall einer Richtererpressung. 158 Herzberg, Mittelbare Täterschaft. S. 32. Anders Spendel in: LK. 11. Aufl .• § 32 Rn. 216, der allerdings für den rechtswidrigen Angriff Erfolgsunrecht ausreichen läßt (Rn. 57) und auch kein finales Verhalten des Angreifers verlangt (Rn. 62). Allerdings verwickelt er sich in einen Selbstwiderspruch. weil dann kein Notwehrlage vorliegen soll. wenn von einem Menschen als ..leidendem Objekt" (!) eine Gefahr ausgeht (Rn. 28).

68

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

griff hinnehmen, in dem sich mittelbar die rechtswidrigen Ziele des nötigenden Hintermannes realisierten. 159 Jede Notstandstat betrifft die Rechtssphäre des Eingriffsopfers lediglich soweit die Gutseinbuße reicht. Für das Ausmaß des Güterverlusts sind die mit dem Eingriff verfolgten Ziele irrelevant. die von Kelker weiter befürwortete Unterscheidung zwischen rechtlich neutraler Gefahr und rechtswidriger Gefahrverursachung durch einen Hintermann l60 führt in letzter Konsequenz dazu, auch dem Opfer eines Verbrechens, das sich vor dem Täter retten will, die Notstandsrechtfertigung abzuschneiden. 161 Das Argument, daß das Opfer der Notstandstat gegen den Hintermann in der Regel keine erfolgreiche Notwehr üben könne und daß ihm deshalb die Verteidigungsbefugnisse gegen den Genötigten erhalten bleiben müßten, überzeugt nicht. Ohnehin sollen nach überwiegender Auffassung die Verteidigungsbefugnisse gegenüber schuldlosen Angreifern eingeschränkt sein. Zieht man in diesen Fällen gar den Maßstab des § 228 BGB heran, so ergibt sich kein Unterschied zur Rechtfertigungslösung nach § 34 StGB. Der Genötigte darf sein wesentlich überwiegendes Interesse auf Kosten des Eingriffsopfers retten; das Opfer muß nach § 228 BGB hinnehmen, daß sich die Seite, von der die Gefahr droht, ihm gegenüber durchsetzt, weil deren Interesse wesentlich überwiegt. 162 Wenn ein Verbrecher andere Personen als Werkzeuge für sein kriminelles Tun einsetzt, wirkt sich dies immer auf die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers aus. Benutzt ein Angreifer etwa einen Dritten als Schutzschild, so ist die Verletzung des Dritten im Rahmen einer notwendigen Verteidigung nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt, weil von dem "Schutzschild" kein Angriff ausgeht. In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation, die zuständigen Sicherheitsbehörden müßten das tatbestandsmäßige Verhalten des Genötigten unterbinden dürfen. 163 Selbst wenn man den genötigten Täter als Handlungsstörer behandelt, ist bei Maßnahmen gegen ihn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Deshalb bleibt fraglich, ob die Verhinderung eines Notstandseingriffs, der ja der Abwehr eines wesentlich höheren Schadens dient, verhältnismäßig sein kann. Sollen etwa die Sicherheitsbehörden, die die Nötigung nicht unterbinden können, den Genötigten durch ihr Einschreiten einer wesentlich überwiegenden Gefahr aussetzen dürfen? Auch der Genötigte besitzt grundsätzlich

IS9

Kelker, Der Nötigungsnotstand, S. 127, 146 f.

160

Kelker, Nötigungsnotstand, S. 154 ff.

Bsp.: Eine Person wird von einer Horde Rowdys angegriffen und schlägt auf der Flucht eine Fensterscheibe ein, um sich im fremden Haus in Sicherheit zu bringen. 161

162

S. oben S. 53; vgl. auch Küper, Nötigungsnotstand. S. 73.

163 S. Weber, ZStW 96, S. 397; Hilgendoif, Produzentenhaftung. S. 66; Kelker. Der Nötigungsnotstand. S. 158.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

69

einen Anspruch auf polizeilichen Schutz. Falls aber eine Gefahrenabwehr durch polizeiliche Maßnahmen direkt gegen den Hintermann und eigentlichen Störer möglich ist, entfällt die Erforderlichkeit einer eigenmächtigen Notstandstat. Welche elementaren Voraussetzungen ihres Geltungsanspruches die Rechtsordnung aufgeben würde, ist nicht ersichtlich. Durch die Möglichkeit der verhältnismäßigen Abwälzung der Gefahr auf Dritte verliert die Rechtsordnung ihren Geltungsanspruch nicht; sie toleriert lediglich die notstandsbedingte Gefahrenabwehr, nicht aber das rechtswidrige Verhalten des Hintermannes, der in mittelbarer Täterschaft handelt. l64 Indem die Gegenansicht verlangt, daß sich niemand zum Werkzeug verbrecherischen Handeins machen lassen dürfe, läuft sie im Ergebnis auf eine allgemeine Rechtspflicht, dem Unrecht entgegenzutreten, hinaus. 165 Damit sind jedoch eine Reihe unliebsamer Konsequenzen verbunden: Wer die Forderung von Erpressern erfüllen würde, handelte rechtswidrig, weil er durch sein Verhalten den kriminellen Zielen Vorschub leisten würde. Was soll gelten, wenn der Genötigte als Garant für das bedrohte Interesse verantwortlich ist? Darüberhinaus kann die Entschuldigungslösung auch deshalb nicht befriedigen, weil sie zu kurz greift: In § 35 StGB werden nur Leben, Gesundheit und Freiheit genannt; ferner wird nur die Abwendung von persönlich oder den Angehörigen drohenden Gefahren privilegiert. 166 Das Problem der Begehung von Ordnungswidrigkeiten unter Berufung auf eine ansonsten drohende Kündigung des Arbeitgebers l67 , läßt sich anders lösen: Zum einen wäre eine solche Kündigung rechtswidrig, so daß sich die Frage nach der Anders-Abwendbarkeit dieser Gefahr durch den Arbeitnehmer stellt. Zum anderen müssen Bagatelltaten unter dem Gesichtspunkt des überwiegenden Interesses gerechtfertigt sein können. In der Regel wird jedoch das Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes die Übertretung von bußgeldbewehrten Vorschriften etwa im Straßenverkehrs- oder Umweltrecht nicht rechtfertigen können, weil diese Normen dem Schutz der Allgemeinheit dienen und somit die Erhaltungsinteressen die Eingriffsinteressen nicht wesentlich überwiegen. 168 Der Vorteil

164

Küper, Nötigungsnotstand, S. 57.

165

Küper, Nötigungsnotstand, S. 63.

Wenn im Beispielsfall von Krey, Jura 1979, S. 316 nicht der Richter mit Tötung bedroht wird, sondern die Erpresser mit einem Anschlag auf einen Kindergarten drohten, würde der Richter, der dieser Drohung nachgibt, zu bestrafen sein. Anders ist es freilich, wenn man einen eigenen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand neben § 35 StGB anerkennt, vgl. Hirsch in: LK, Vor § 32 Rn. 200 ff.; Lenckner in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 115; DreherlTröndle, Vor § 32 Rn. 15. 166

167 Gegen Rechtfertigung Ulrich Weber, ZStW 96, S. 396; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 66; a.A. etwa Rengier in: KK-OWiG, Vor §§ 15, 16 Rn. 58; s. auch BGH bei Dallinger, MDR 1975, S. 723.

168 Man denke nur an die schweren Unfälle, die LKW-Fahrer durch Überschreiten der Lenkzeiten oder durch überhöhte Geschwindigkeit schon verursacht haben. Problematisl:h in

70

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

dieser Lösung liegt darin, daß die Relationen zurechtgerückt werden. Ein "Handeln auf Seiten des Unrechts" läßt sich beispielsweise dem Fahrer nicht mehr entgegenhalten, der die Lenkzeit überschreitet, um einen für seinen Einmannbetrieb wichtigen Terminauftrag einzuhalten. Selbst wenn ein ansonsten drohender Schaden für seinen Betrieb nicht anders abwendbar war, können eigene wirtschaftliche Interessen, sei es nun die Angst um den Arbeitsplatz oder die Sorge um den eigenen Betrieb, niemals die Begründung einer erheblichen Gefahr für eine Vielzahl anderer Verkehrsteilnehmer rechtfertigen.

3. Besondere Gefahrtragungspflichten

Probleme wirft die Berücksichtigung besonderer Gefahrtragungspflichten im Rahmen des rechtfertigenden Notstands auf. Während einige besondere Gefahrtragungspflichten erst im Rahmen der Angemessenheit berücksichtigen wollen 169 , schlägt die Mehrheit vor, das Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Gefahrenabwehr in die Interessenabwägung nach § 34 Satz 1 StGB einzustellen. 170 Zumeist wird jedoch nur die Minderung der Schutzwürdigkeit des Erhaltungsinteresses diskutiert. Wie sich eine besondere Pflichtenlage auf der Eingriffsseite auswirkt, bleibt im Dunkeln. 171 Weiter wird nicht zwischen den verschiedenen Gefahrtragungspflichten, etwa beruflichen Schutzpflichten gegenüber jedermann (z.B. Polizei, Feuerwehr) und Schutzpflichten in besonderen Beziehungen (Ehe, Gefahrengemeinschaft), differenziert. Schließlich ist die Frage zu beantworten, ob sich besondere Gefahrtragungspflichen auf der Eingriffs- und auf der Erhaltungsseite gegenseitig "neutralisieren". Welche Notstandsrelevanz den besonderen Gefahrtragungspflichten zukommt, wird an späterer Stelle erörtert werden. 172 Schon jetzt soll jedoch in methodischer Hinsicht klargestellt werden, daß diese Frage nicht innerhalb der Inter-

dieser Hinsicht OLG Oldenburg, NJW 1978, S. 1869; wie hier OLG Stuttgart, VRS 54, S.288. 169 Jescheck, Lehrbuch, S. 326; Lee, Interessenabwägung, S. 106 f.; Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 430; Noll, ZStW 77, S. 29; Stratenwerth, AT, Rn. 463; Maurach/Zipf, § 27 Rn. 39; Ebert, AT, S. 78; s. auch BT-Drs. IV/650, S. 160; Horstkotte, Sonderausschuß V, S. 1796. Dreher/Fröndle, § 34 Rn. 13 f. und Bernsmann, Entschuldigung, S. 395 begründen dies zu Unrecht mit dem Hinweis auf § 35 Abs. I Satz 2 StGB.

170 Küper, JZ 1980, S. 755; ders., Pflichtenkollision, S. 106; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 67; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 34; ders., Notstand, S. 101; Lackner, § 34 Rn. 6; Jakobs, AT, 13128; Delonge, Interessenabwägung, S. 114; Roxin, AT, § 16 Rn. 55; Blei, AT, S. 167 f.; EserlBurkhardt, 12/33; BockelmannIVolk, S. 100; Wesseis, AT, S. 90 f.; Haft, AT, S. 98; Bergmann, JuS 1989, S. 11 I; Hilgendorf, JuS 1993, S. 101. 171 Vgl. Küper, Pflichtenkollision, S. 94: Für die Interessenabwägung sei es unbeachtlich, ob das Eingriffsopfer Garant ist. Anders ders., JZ 1980, S. 756: Sonderpflichten des Opfers erweiterten den Spielraum erlaubter Gefahrabwendung; ebenso Blei, AT, S. 168. 172

S. unten S. 261 ff.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

71

essenabwägung gelöst werden kann. Dies zeigt sich am Beispiel der Gefahrtragungspflichten auf der Erhaltungsseite. Hier wird von einer erhöhten Opferpflicht gesprochen. 173 Der Begriff "Opfer" paßt jedoch für die Erhaltungsseite nicht. Wenn jemand seine Güter nicht auf Kosten Dritter retten darf, so handelt es sich dabei nicht um ein Opfer, welches er im Vergleich zu anderen erbringen muß. Vielmehr ist grundsätzlich jedermann verpflichtet, ihm drohenden Schaden selbst zu ertragen; dies ist die Selbstverständlichkeit - und die Schadensminderung durch Inanspruchnahme fremder Interessen der Sonderfall. Ein Opfer erbringt im rechtfertigenden Aggressivnotstand immer nur die Eingriffsseite. Die Berücksichtigung von besonderen Gefahrtragungspflichten auf der Erhaltungsseite deutet darauf hin, daß § 34 StGB als Rechtfertigungsgrund auch für Unterlassungsdelikte verstanden wird. 174 Beispielsweise wird die Frage aufgeworfen, ob ein Feuerwehrmann die Rettung von Sachgütern aus Brandgefahr im Hinblick auf die Gefährdung seines Lebens unterlassen darf. § 34 StGB paßt jedoch für Unterlassungsdelikte nicht. Eine Gefahr kann nur durch aktives Tun abgewendet werden. In diesem Sinne rechtfertigt § 34 StGB unter bestimmten Voraussetzungen die Vornahme von Handlungen, die andere Rechtsgüter verletzen. Bei den Unterlassungsdelikten geht es dagegen um die Frage, ob jemand eine Einbuße an eigenen Rechtsgütern hinnehmen muß, ob er sich also zur Rettung fremder Interessen einer Gefahr aussetzen soll. Solange der Handlungspfiichtige untätig bleibt, liegt noch keine Notstandslage vor, da aus seiner Untätigkeit für ihn keine Gefahr erwächst. Seine Situation ist also gerade umgekehrt. 175 Ein zweites: Allen Handlungspflichten liegt eine Kollision zwischen der Handlungsfreiheit des Verpflichteten, die durch die Pflicht auf eine einzige Verhaltensmöglichkeit beschränkt wird, und den Interessen des Begünstigten zugrunde. Damit ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. 176 So geht aus § 323c StGB hervor, daß von einem unbeteiligten ,Jedermann" die Vornahme einer Rettungshandlung nicht verlangt wird, wenn er sich dadurch "erheblichen eigenen Gefahren" aussetzt. Die Zumutbarkeit der Vornahme von Rettungshandlungen für Garanten reicht hingegen weiter, so daß man insofern von einer

173

Vgl. Küper, JZ 1980, S. 756; Lenckner in: SchönkeiSchröder, § 34 Rn. 34.

114 Vgl. Hirsch in: LK, § 34 Rn. 40 f.; Küper, Pflichtenkollision, S. 93,97 ff.; Rudolphi in: SK, Vor § 13 Rn. 29b; Maurach/GösseVZipf, § 46 Rn. 128 f. 115 Gegen eine Anwendung des § 34 StGB auf Unterlassungsdelikte auch Hruschka, Strafrecht, S. 94; Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 25 f.; Schmidhäuser, Studienbuch,

12168. 116

Insoweit handelt es sich um eine Parallelproblematik zu den Begehungsdelikten.

72

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

erhöhten Opferpflicht sprechen kann. 177 Immer handelt es sich allerdings um eine Interessenabwägung, die die Handlungspflichten schon tatbestandlich begrenzt. 178 Wer bei den Unterlassungsdelikten den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit erst im Rahmen der Schuld berücksichtigt 179, verwickelt sich in einen Wertungs widerspruch zur rechtlichen Beurteilung von Begehungsdelikten. Während hier die aktive Verletzung fremder Sachgüter zur Rettung aus einer Lebensgefahr nach § 34 StGB gerechtfertigt ist, würde derjenige, der die Rettung fremder Sachen unterläßt, um sich nicht in Todesgefahr zu begeben, rechtswidrig unterlassen und allenfalls entschuldigt sein! Das kann nicht richtig sein l80 • Sofern die Annahme einer Handlungspflicht eine Interessenabwägung voraussetzt, darf das Ergebnis, nämlich die Begründung einer bestimmten PflichtensteIlung, nicht seinerseits wiederum in einer Interessenabwägung Berücksichtigung finden. Vergleicht man etwa die Zusammenhänge zwischen der Rettungshandlungspflicht für jedermann gemäß § 323c StGB und der Rettungsduldungspflicht für jedermann gemäß § 34 StGB, zwischen der Rettungshandlungspflicht des Sicherungsgaranten nach § 13 StGB und der Rettungsduldungspflicht des Sicherungsgaranten im Defensivnotstand, so zeigt sich, daß die Unterschiede nicht in einer differenzierten Wertigkeit der Interessen, sondern in verschiedenen Abwägungsmaßstäben liegen. 181

4. Störung des Rechtsfriedens Schließlich wird noch von einigen Autoren verlangt, bei der umfassenden Abwägung der widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen, inwieweit die Notstandshandlung den Rechtsfrieden stört. 182 Diese Auffassung beruht zunächst auf einem zutreffenden Kern. Von einer Störung des Rechtsfriedens läßt sich insoweit sprechen, als Notstandshandlungen im Rahmen privater Selbsthilfe das Monopol staatlicher Gefahrenabwehr durchbrechen. Obwohl zwischen

177

Vgl. Küper, JZ 1980, S. 756; Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 63 f.

178 Vgl. Vogel, Norm, S. 186 ff.; Lackner, § 13 Rn. 5; Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 63 ff.; Stree in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 155 f.; Lenckner in: SchönkelSchröder, § 34 Rn. 5; s. auch BGHSt 11, S. 135 (136 f.). 179 Vgl. Hirsch in: LK, Vor § 32 Rn. 193; Jescheck in: LK, Vor § 13 Rn. 91; Wessels, AT, S. 134. 180

S. Hruschka, Strafrecht, S. 93.

Vgl. Hruschka, JuS 1979, S. 390 ff.; ders., Strafrecht, S. 124 ff.; Seelmann in: AKStGB, § 13 Rn. 63. 181

182 So schon Heinitz, StrafrAbh. 211, S. 37; Henkel, Notstand, S. 86; ähnlich Lenckner in: SchönkelSchröder, § 34 Rn. 22, 40; ders., Notstand, S. 114; Küper, Notstand, S. 148; Jakobs, AT, 13/31; Stratenwerth, ZStW 56, S. 53; Blei, AT, S. 166; Perron in: EserlPerron, S. 81; Reichert-Hammer, Fernziele, S. 204.

IV. Die Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung im Ganzen

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Rettungshandlungspflichten und Rettungsduldungspflichten ein axiologischer Zusammenhang besteht l83 , muß ein wichtiger Unterschied beachtet werden. Wenn jemand zur aktiven Rettung eines anderen verpflichtet ist, liegt es bei ihm, ob er dieser Pflicht nachkommt, oder die Folgen eines Pflichtverstoßes auf sich nimmt. 184 Gewährt man jedoch ein Eingriffsrecht in fremde Rechtsgüter, so kann der Berechtigte selbst liquidieren. 185 Daher ist es in der Tat zunächst eine Wertungsfrage, ob man die Selbsthilfe in einer Rechtsordnung zulassen will. Unsere Rechtsordnung hat jedoch in den §§ 904 BGB, 34 StGB diese Eigenmacht rechtlich anerkannt, so daß die fragliche Wertentscheidung schon getroffen ist. Durch eine rechtmäßige Notstandshandlung wird der Rechtsfriede nicht gestört, so daß es sich beim Interesse der Allgemeinheit an der Friedens- und Ordnungsfunktion nicht um ein Abwägungskriterium handelt. 186 Ob die Notstandshandlung rechtmäßig ist, ergibt sich aus § 34 StGB. Damit ist die Frage, ob das Ordnungsinteresse zurücktritt, gerade das von § 34 StGB gesuchte Ergebnis. 187 Für eine nochmalige Abwägung eines ,,Friedensinteresses" ist deshalb kein Platz mehr. Vielmehr relativieren diejenigen, die diese Abwägung fordern, in unzulässiger Weise die gesetzliche Entscheidung. § 34 StGB enthält somit keine ,,Ausnahme des Rechts von sich selbst", wie Küper meint l88 • Die oben (S. 38) angestellte Methodenkritik wird beispielhaft durch eine Äußerung von Küper bestätigt. Er schreibt: "Die (aggressive) Notstandstat verletzt nicht bloß ein tatbestandlieh geschütztes Gut des einzelnen oder der Allgemeinheit; als eigenmächtige Inanspruchnahme fremder Solidarität - ... - stört sie zugleich die reguläre Ordnung der Verhältnisse: den ..Rechtsfrieden" .... Diese im punktuellen Konflikt der ..Güter" allein nicht faßbare Dimension des Notstandes bestimmt nicht nur den Maßstab für das ..wesentlich überwiegende" Interesse - ... -, sondern auch die Basis und das Material der Abwägungsentscheidung ... "189 Demnach soll in die Interessenabwägung des § 34 Satz 1 StGB die Interessenabwägung nach Satz 1 selbst gleichzeitig als Abwägungsmaterial miteinbezogen werden. Dies führt zu einem unendlichen nicht auflösbaren Regreß und stellt eine unzulässige Verwechslung von Objektund Metaebene dar, weil die Interessenabwägung eine Rede über Interessen ist und deshalb nicht zugleich ein abwägbares Interesse sein kann.

183

Hruschka, JuS 1979, S. 386.

Aus der Auferlegung einer Pflicht folgt noch nicht von selbst, daß sie auch von dem Begünstigten mit Gewalt durchgesetzt werden kann, vgl. Hruschka, JuS 1979, S. 388. 184

18S

Vgl. Kelker, Der Nötigungsnotstand, S. 79 f.

186

So bereits Oetker, VDA 11, S. 332 Fn. 3.

187

Hirsch in: LK, § 34 Rn. 69; Hruschka, JuS 1979, S. 390 Fn. 17.

188

Küper, Nötigungsnotstand, S. 121.

189

Küper, Notstand, S. 148; anders noch ders., Pflichtenkollision, S. 93 Fn. 221.

C. Kritik der herrschenden Interessenabwägungsdoktrin

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V. Schlußbemerkung Von der Summe der Interessen, die für die Abwägung von Bedeutung sein sollten, bleiben nur noch wenige übrig. Es zeigt sich, daß die Güterabwägung, die das Reichsgericht in seiner Entscheidung zum rechtfertigenden Notstand vorgenommen hae 90 , von der Interessenabwägungslehre zu Unrecht in ein schlechtes Licht gerückt worden ist. Wenngleich die Rechtfertigung nicht allein von einem Gütervergleich abhängt, so ist doch die Abwägung im wesentlichen auf Rechtsgüter beschränkt. Dabei sind die Rechtsgüter zu berücksichtigen, die durch den Notstandseingriff betroffen werden. Zwischen ihnen ist zunächst ein abstrakter Rangvergleich vorzunehmen. Darüberhinaus kommt es auf den Grad der Gefahren sowie der Eignung und der Erforderlichkeit des Rettungsmittels an. 191 Wie gezeigt, müssen bei der Rechtfertigungsprüfung verschiedene Kategorien von Gesichtspunkten auseinandergehalten werden. Zum einen geht es um konkrete Rechtsgüter, die in einem bestimmten situativen Kontext zueinander stehen. Dieser Bereich ist einer Abwägung eröffnet. Des weiteren gibt es Gesichtspunkte, die eine Zuständigkeit bezeichnen, z.B. PflichtensteIlungen im Defensivnotstand oder in Garantenverhältnissen. Hierbei handelt es sich nicht um Abwägungsmaterial, sondern um Ordnungskategorien. Ebenfalls nicht abwägbar sind die Bewertungsgrundsätze. 192 Dies gilt beispielsweise für die Einstufung der Menschenwürde oder des menschlichen Lebens als Höchstwerte. 193 Die Strukturierung der verschiedenen Notstandsfälle setzt voraus, daß man das Gesetz ernst nimmt, und etwa bei § 34 StGB untersucht, auf welchen Wertungen die Entscheidung beruht, gemäß Satz 1 nur für "wesentlich überwiegende" Interessen in Gefahr eine Schadensminimierung zu eröffnen, und wie die Einschränkung durch die Angemessenheitsklausel in Satz 2 zu erklären ist. Eine solchermaßen "entschlackte" Interessenabwägung ist freilich keine allgemeine Billigkeitsentscheidung mehr. Einzelfallgerechtigkeit läßt sich ohne Systemgerechtigkeit nicht erreichen. Wer die Abwägung aller "positiven und

190

RGSt 61, S. 254.

191

Vgl. die Aufzählung von Meißner, Interessenabwägungsfonnel, S. 229 ff. m.w.Nachw.

Vgl. auch Engisch, Einführung, S. 190 ff., der ,,noch andere kausale Faktoren der Rechtsbildung als die Interessen" aufzählt. 192

193 Hierbei ist zu beachten, daß Menschenwürde und menschliches Leben dadurch keinesfalls jeglicher Abwägung entzogen werden. Vielmehr kann es bei entsprechenden Kollisionen niemals zu einem Überwiegen der einen über die andere Seite kommen. In der Kollision Leben gegen Leben sind Erhaltungs- und Eingriffsseite gleichviel wert.

V. Schlußbemerkung

75

negativen Vorzugstendenzen" fordert, verdeckt damit nur die Prinzipienlosigkeit seines Ansatzes. Der Vorzug einer Suche nach Ableitungszusammenhängen besteht darin, daß man nicht vorschnell auf den Zug der Wertungen aufspringt und damit letztlich im Unverbindlichen steckenbleibt. Vielmehr wird die Interessenabwägung in Notstandsfällen strukturiert. All dies dient der Erkenntnis, daß Interessen keine Gesichtspunkte beschreiben, die für sich im leeren Raum stehen. Entscheidend ist das Bemühen um eine Zuordnung und Orientierung auf die dahinter stehenden Rechtsgüter.

D. Kritik der herrschenden Rechtsbewährungsdoktrin Nach der ausführlichen Kritik am Grundsatz einer allumfassenden Interessenabwägung geht es in diesem Kapitel um die Analyse des vorherrschenden Notwehrverständnisses. Bedenken gegen die Einordnung des § 32 StGB als Sonderfall des rechtfertigenden Notstands wurden schon kurz skizziert!; im folgenden möchte ich meine Kritik vertiefen. Schon seit langem bewegt sich die Suche nach den Prinzipien, die dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr zugrundeliegen, zwischen den beiden Polen der individualistischen und der überindividualistischen Notwehrbegründung? Meine Kritik wird aufzeigen, daß sich eine überindividualistische Notwehrbegründung - zumindest so, wie sie die weitaus überwiegende Auffassung heute vertritt - nicht konsistent durchhalten läßt. I. Die dualistische Notwehrkonzeption der herrschenden Lehre

Fragt man nach den Prinzipien, die der Notwehr zugrunde liegen, so fällt die Antwort heutzutage recht eindeutig aus. Im Unterschied zum rechtfertigenden Notstand dient die Notwehr nicht nur dem Güterschutz, sondern zugleich der Rechtsbewährung. Als griffige Formel wird der Satz: "Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" angeführt. Jedoch könnte man in dieser Formel unter ,,Recht" auch nur das individuelle Recht des einzelnen Angegriffenen verstehen. 3 Nichtsdestotrotz geht die herrschende Ansicht davon aus, daß der Verteidiger im Rahmen der Notwehr nicht nur seine eigenen Rechtsgüter verteidigt, sondern auch die Geltung der gesamten Rechtsordnung gegenüber dem Angreifer durchsetzt. 4 In diesem Sinne läßt sich von einer dualistischen Notwehr-

s. oben S. 26 f. Ausführliche Darstellungen der Geschichte des Notwehrrechts finden sich bei Haas, Nothilfe, S. 19 ff.; Suppert, Studien, S. 43 ff.; Krey, JZ 1979, S. 702 ff.; Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 15 ff. Wie Neumann, Zurechnung, S. 165; Wagner, Notwehrbegründung S. 22 Fn 4. Früher bereits Janka, Notstand, S. 26; Tobler, Grenzgebiete, S. 70 f.; Baumgarten, Notstand und Notwehr, S. 101; Rudolf Merkei, Kollision, S. 66; H. A. Fischer, Rechtswidrig-

I. Die dualistische Notwehrkonzeption der herrschenden Lehre

77

begründung sprechen, die sowohl ein individualistisches Element - den Güterschutz - als auch ein überindividuelles Element - die Verteidigung der Rechtsordnung - enthält. "Die Begründung der Nothwehr, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche", stammt von Berner. s Diese Auffassung muß überindividualistisch verstanden werden, wie sich aus einer anderen Stelle ergibt: ,,Nothwehr ist nicht Selbstvertheidigung, sondern Rechtsvertheidigung."6 Der Verteidiger setzt somit nicht vorrangig sein eigenes Wohl durch, sondern den Geltungsanspruch des Rechts schlechthin. Eine andere überindividualistische Notwehrkonzeption findet sich schon viel früher im kanonischen Recht. Wegen des Gebots der Nächstenliebe wird die eigensüchtige Notwehr skeptisch beurteilt. Der Verteidiger handelt an Stelle der Obrigkeit, deren Sache die Abwehr des Bösen ist, und erweist dadurch der Gemeinschaft einen Dienst. 7

Gegenstimmen, die für eine monistische Notwehrlehre eintreten, haben sich bisher nicht durchzusetzen vermocht, gleich ob sie nur die Verteidigung der

keit, S. 233; M. E. Mayer, AT, S. 278 Fn. 6; Lobe, Einführung, S. 34; Hellmuth Mayer, AT, S. 199; Wegner, AT, S. 122; inzwischen beinahe einhellige Auffassung, s. BGHSt 24, S. 356 (359); BayObLG, JR 1987, S. 344 (345); Amelung, GA 1982, S. 392; Bemsmann, ZStW 104, S. 292; Bertel, ZStW 84, S. 8; Bitzilekis, Einschränkung, S. 57 ff.; Blei, AT, S. 149; Bockelmann, Honig-FS, S. 30; Born, Rechtfertigung, S. 28; Choi, Notwehr, S. 11; Courakis, Notwehr, S. 31 Fn. 58; Dilcher, Hübner-FS, S. 446; Ebert, AT, S. 66; EserlBurkhardt, 10/4; Eue, JZ 1990, S. 766; Fahse in: Soergel, § 227 Rn. 45; Faller, Die Neue Ordnung 1989, S. 13; Felber, Rechtswidrigkeit, S. 133; Gallas, Bockelmann-FS, S. 177; Geilen, Jura 1981, S. 200; Günther, Strafrechts widrigkeit, S. 305, 326; Haft, AT, S. 83 f.; Hassemer, Bockelmann-FS, S. 239 f.; Heinrichs, in: Palandt, § 227 Rn. 1; Himmelreich, Notwehr, S. 84 ff.; Hinz, JR 1993, S. 355; Hirsch, Dreher-FS, S. 219 f.; Hoffmann-Riehm, ZRP 1977, S. 281; lescheck, Lehrbuch, S. 302; Kelker, Der Nötigungsnotstand, S. 130 f.; Burkhard Koch, ZStW 104, S. 790; Krause, Bruns-FS, S. 82; Krey, JZ 1979, S. 710; Kühl, Jura 1990, S. 247; Kunz, ZStW 95, S. 987; Lackner, § 32 Rn. 1; Lagodny, GA 1991, S. 303 f.; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 1; Mahlberg, Gefahrenabwehr, S. 84; Montenbruck, Thesen, S. 10; Mylonopoulos, Verhältnis, S. 123; Dtto, AT, S. 113; Paeffgen, Verrat, S. 214; Perron, Recht fertigung, S. 99; Roxin, AT, § 15 Rn. 1; Rudolphi, Annin Kaufmann-GS, S. 394 f.; Samson in: SK, § 32 Rn. 3; Schlüchter, JR 1987, S. 310; Eb. Schmidt, Niederschriften, 2. Bd., Anhang Nr. 21, S. 56; Schröder, JuS 1973, S. 158; Schroeder, Maurach-FS, S. 139; Schroth, NJW 1984, S. 2563; Schumann, JuS 1979, S. 560; Bemd Schünemann, GA 1985, S. 368; Schwabe, Notrechtsvorbehalte, S. 26; Seelmann, Verhältnis, S. 30; Seier, NJW 1987, S. 2479; Spendel in: LK, ll, Aufl., § 32 Rn. 13; Stratenwerth, AT, Rn. 413; Suppert, Studien, S. 374; Dreherffröndle, § 32 Rn. 2; BockelmannIVolk, S. 89; Warda, Jura 1990, S. 346; BaumannIWeber, S. 305; Wesseis, AT, S. 94; Wimmer, GA 1983, S. 157; Maurach/Zipf, § 26 Rn. 4. Ablehnend schon früher Frank, StGB, § 53 Anm. I 2. ("weltfremde Auffassung"), von Bar, Gesetz und Schuld, S. 141 Fn. 234a; Hold v. Ferneck, Notstand und Notwehr, S. 136.

Bemer, Lehrbuch, S. 110; ders., Archiv des Crirninalrechts (N.F.) 1848, S. 557,562. Berner, Lehrbuch, S. 109; ebenso Binding, Handbuch, S. 733; von lhering, Der Kampf um's Recht, S. 56.; vgl. auch RGSt 21, S. 168 (170); 55, S. 82 (85). Vgl. Hellmuth Mayer, Welzel-FS, S. 96 f.; Haas, Nothilfe, S. 44 ff.

78

D. Kritik der herrschenden Rechtsbewährungsdoktrin

Rechtsordnung in den Vordergrund stellen8 oder eine rein individuelle Notwehrbegründung vornehmen9 • Obwohl gerade in jüngster Zeit vermehrt Kritik an der herrschenden Notwehrlehre laut geworden ist, scheint das Dogma von der Verteidigung der Rechtsordnung unerschütterlich festzustehen. Im Rahmen des eindimensionalen Verständnisses der Rechtfertigungsgründe läßt sich diese Ansicht auf einen kurzen Nenner bringen: Ausgangspunkt ist die Grundüberlegung, daß allen Rechtfertigungsgründen das Prinzip der Interessenabwägung zugrundeliegt. Fraglich ist nun, warum bei der Notwehr im Unterschied zum rechtfertigenden Notstand grundsätzlich keinerlei Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern anzustellen ist. Welches Interesse gibt auf seiten des Verteidigers generell den Ausschlag dafür, daß seine Verteidigung gerechtfertigt ist, gleich in welchem Verhältnis das verteidigte zum verletzten Rechtsgut steht? Warum ist die Verletzung von Rechtsgütern des Angreifers unabhängig davon zulässig, ob auf den Angriff auf andere Weise, etwa durch Ausweichen reagiert werden kann? Nach Auffassung der herrschenden Lehre ist entscheidend, daß auf Seiten des Verteidigers nicht nur dessen Rechtsgüter zu berücksichtigen sind, sondern daß der Angreifer zugleich den Geltungsanspruch der Rechtsordnung verletzt. Diese Wirkung hat ein rechtswidriger Angriff auch dann, wenn das Opfer seine Güter durch Flucht bewahren kann. Das Interesse an der Geltung der Rechtsordnung gibt somit den Ausschlag dafür, daß der Verteidiger dem Angriff nicht auszuweichen braucht und die Interessen auf Seiten des Verteidigers in der Regel die Interessen auf Seiten des Angreifers überwiegen, wenn die Verteidigung nur zur Abwehr dieses Angriffs erforderlich ist. 10 Die Verteidigung der Rechtsordnung dient aber nicht nur zur Begründung des Fehlens von Verhältnismäßigkeitserwägungen bei der Notwehr. Gleichzeitig wird dieses Prinzip zur Herleitung von Notwehreinschränkungen, den sogenannten "sozialethisehen Schrapken", herangezogen. Der Vorteil dieses Notwehrverständnisses liegt auf der Hand. Die Notwehr beruht damit auf einem statischen notstandsähnlichen Element (Güterschutz), verbunden mit einem dynamischen Element (Verteidigung der Rechtsordnung), welches eine auf den jeweiligen

Schmidhiiuser, Honig-FS, S. 193 f.; mit Nachdruck zuletzt ders., GA 1991, S. 115 ff.; ebenso Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 21; ähnlich Haas, Nothilfe, S. 216 f.; Delonge, Interessenabwägung, S. 193 ff., insb. S. 206; Rainer Keller, Provokation, S. 280. Constadinidis, Actio illicita, S. 100 ff.; Frister, GA 1988, S. 302 f.; Hoyer, JuS 1988, S. 91; Hruschka, Dreher-FS, S. 198 ff.; Jakobs, AT, 12120; Kratzseh, StV 1987, S.228; Mitsch, Provokation, S. 117; Neumann, Zurechnung, S. 165 f.; Pitsounis, Notwehr, S. 273 f.; Wagner, Notwehrbegründung, S. 29 ff. 10 Vgl. Lenckner, Notstand, S. 23 f.; ders., GA 1985, S. 307; Roxin, ZStW 93, S. 76; Duo, AT, S. 113; Rudolphi, Armin Kaufmann-GS, S. 394.

11. Die Bewährung der Rechtsordnung

79

Einzelfall bezogene Gestaltung der Verteidigungsbefugnisse mit einem Höchstmaß an Flexibilität ennöglicht. 1l Der Nachteil dieser Ansicht gipfelt in der These, eine genauere gesetzliche Bestimmung der Notwehrbefugnisse sei wegen der Vielfalt relevanter Sachverhalte nicht möglich. 12 So kann man im Bereich der "sozialethischen Notwehreinschränkungen" keinesfalls von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sprechen. Ob sich dieses Verständnis mit dem Wortlaut von § 32 StGB in Einklang bringen läßt, muß zudem bezweifelt werden. 11. Die Bewährung der Rechtsordnung 1. Was bedeutet "Rechtsbewährung"? Die Auseinandersetzung mit dem herrschenden Notwehrverständnis wird dadurch erschwert, daß seine Vertreter zwar die ,,Bewährung der Rechtsordnung" durch den Verteidiger als tragenden Grundpfeiler des Notwehrrechts benennen l3 , jedoch oft nicht weiter angeben, was darunter zu verstehen ist. a) Sprachliche Bedeutung des Wortes ,,Bewährung" Kennzeichnend für die Rechtsbewährungsdoktrin ist der jüngst von Koch geäußerte Satz: ,,Durch Notwehr bewährt sich die Rechtsordnung, indem stellvertretend für staatliche Rechtsorgane Aufgaben des Rechts wahrgenommen werden. ,,14 Sprachlich ist die Fonnel von der ,,Bewährung der Rechtsordnung" durch den Verteidiger, der einen rechtswidrigen Angriff abwehrt, ein Mißgriff. In der deutschen Sprache kann man nicht etwas "bewähren", sondern etwas kann nur sich selbst bewähren. 15 Die Rechtsordnung bewährt sich selbst, indem sie die Regel aufstellt, nach der rechtswidrige Angriffe abgewehrt werden dürfen. ,Bewährung heißt in diesem Sinne nichts anderes, als daß die Notwehrvorschrift als sachgemäße'Lösung des Konflikts zwischen Angreifer und Verteidiger angesehen wird. 16 Ob die Verteidigungsbefugnis gegen rechtswidrige

11

Instruktiv Roxin, ZStW 93, S. 76 f.; Kühl, JuS 1992, S. 181 f.

12

Vgl. Lenckner, GA 1968, S. 8; Stree, JuS 1973, S. 462.

13

Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 1 f.; Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32

Rn. 13. 14

Burkhard Koch, ZStW 104, S. 791.

IS

S. Duden, Bd. I, Stichwort "bewähren": sich als brauchbar, geeignet erweisen.

16 Zu Recht weist Mitsch, Provokation, S. 117 darauf hin, daß sich die Rechtsordnung in einer Notwehrsituation gerade nicht bewährt hat, da sie den Verteidiger nicht vor dem rechtswidrigen Angriff schützen konnte.

80

D. Kritik der herrschenden Rechtsbewährungsdoktrin

Angriffe sachgemäß ist, steht aber gerade in Frage. Deshalb gibt die These, daß sich die Rechtsordnung durch die Zulassung der Notwehr bewährt, für die Begründung der Notwehr nichts her. b) ,,Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" Plastischer ist die Bemersehe Formel, das Recht brauche dem Unrecht nicht zu weichen, da die Rechtsordnung sich selbst aufgeben würde, wenn sie Unrecht zuließe. 17 Diese Begründung ist jedoch nicht unproblematisch. Die Frage einer Rechtfertigung stellt sich nämlich immer nur dann, wenn derjenige, dessen Verhalten gerechtfertigt werden soll, prima facie gegen eine Rechtsnorm verstoßen, also rechtswidrig gehandelt hat. In der Situation der Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff stehen sich somit zwei zunächst rechtswidrige Verhaltensweisen gegenüber, bei denen erklärt werden muß, warum der Angriff nicht gerechtfertigt wird und daher rechtswidrig bleibt, die Verteidigung aber gerechtfertigt wird und daher nicht (mehr) als rechtswidrig anzusehen ist. Gibt nicht die Rechtsordnung ihren Geltungsanspruch auch gegenüber dem Verteidiger auf, wenn sie ihn zum Zwecke der Gefahrenabwehr von der Einhaltung ihrer Regeln suspendiert? Vom Standpunkt der Rechtsphilosophie Hegels stellt sich dieses Problem freilich nicht. Unrecht ist als Negation des Rechts ein Nichts. 18 Die Verteidigung ist als Vemeinung dieser Negation Wiederherstellung des Rechts und damit geradezu vom Recht geboten. Durch die Verletzung des gleichsam rechtlosen Angreifers wird die Rechtsordnung somit nicht beeinträchtigt. 19

Die Bemersche Formel enthält noch keine ausreichende Begründung, sondern stellt lediglich eine Behauptung auf, die des Beweises noch bedarf. Denn auch in einer Notwehrsituation wird nicht jede Reaktion des Verteidigers gerechtfertigt, sondern nur die Verteidigung ist zulässig, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abzuwehren. Eine Verteidigung, die die Erforderlichkeit der Angriffsabwehr übersteigt, bleibt ihrerseits ein rechtswidriger Angriff auf einen anderen. Man kann die Bernersche Formel, das Recht brauche dem Unrecht nicht zu weichen, individualistisch verstehen. Insofern besitzt sie - wie ich unten aus-

17 Vgl. Bemer, Archiv des Criminalrechts (N.F.) 1848, S. 557; Oetker, VDA 11, S. 259; RGSt 21, S. 168 (170). 18

Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 82,94, 97.

S. Heffter, Lehrbuch, S. 41; Köstlin, System, S. 75 f.; Bemer, Archiv des Criminalrechts (N.F.) 1848, S. 557; Levita, Notwehr, S. 17; zur damaligen Kritik s. etwa Janka Notstand, S. 14 ff. 19

11. Die Bewährung der Rechtsordnung

81

führen werde20 - einen zutreffenden Kern: Der Staat, der den Bürgern Rechte gewährt, setzt sich dazu in Widerspruch, wenn er es zuläßt, daß diese Rechte gegenüber einem Angreifer nicht realisiert werden können. Also impliziert jedes Recht eine Zwangsbefugnis. 21 Die herrschende Lehre interpretiert Bemers Formel jedoch nicht in einem individualistischen Sinn, sondern versteht unter "Recht" die gesamte Rechtsordnung. Schon daraus, daß Berners griffige Formulierung verschiedenen Interpretationen zugänglich ist, ergibt sich, daß sie noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Grund der Notwehr darstellt. Es kristallisiert sich inzwischen die These heraus, die im folgenden untersucht werden soll: Die Rechtsordnung darf gegenüber Unrecht verteidigt werden. Man kann somit von einer Bewehrung der Rechtsordnung sprechen, weil das Recht wehrhaft geschützt werden soll. 22 2. Die Geltung der Rechtsordnung als überwiegendes Interesse Aus der Einbindung der Notwehr in das allgemeine Rechtfertigungsprinzip des überwiegenden Interesses folgt, daß die Geltung der Rechtsordnung selbst als überragender Wert anzusehen ist, der durch die Notwehr geschützt wird. Wie sich im folgenden zeigen wird, führt das Verständnis der Geltung der Rechtsordnung als ein wie auch immer geartetes rechtliches Interesse, weIches mit anderen Interessen, etwa denen des Angreifers verrechnet werden könnte, zu einem infiniten Regreß. Die Rechtsordnung regelt in ihren Normen den Ausgleich der vielfältigsten divergierenden Interessen. Wenn man diese Interessen abstrakt zu einer Menge aller rechtlich relevanten Interessen "I" zusammenfaßt, kann man die Rechtsordnung ebenfalls abstrakt als Menge "R" aller Regeln über "I" bezeichnen. Die Befolgung von ,,R" kann nicht als Interesse ein Element von "I" sein, da "R" selbst als Aussage über "I" die Existenz von "I" voraussetzt. Das Interesse an der Befolgung von "R" soll ,,t" genannt werden. Eine Regel über das Interesse ,,t" an der Befolgung von "R" sei ,,r0" genannt. Diese Regel ,,r0" kann nicht Element von ,,R" sein, denn sie setzt ,,t" voraus, weIches wiederum die Existenz von ,,R" zur Voraussetzung hat. Da es sich hier ebenfalls um eine Rechtsregel handelt, läßt sich eine Menge aller Rechtsregeln bilden, weIche aus der Menge "R" und der Regel ,l" besteht. An der Befolgung aller Rechtsregeln

20

S. Teil F., Abschnitt IV.2.e)

Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 37: "Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei." Kritisch dazu Bockelmann, Hegels Notstandslehre, S. 10. 21

22

Vgl. Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 13; Kühl, JuS 1992, S. 180.

6 Renzikowski

82

D. Kritik der hemchenden Rechtsbewährungsdoktrin

dieser Menge besteht wiederum ein Interesse, über welches sich eine Rechtsregel denken läßt. Damit gelangt man zur Konstruktion von Regeln über die Befolgung von Regeln über die Befolgung von Regeln usw. bis ins Unendliche. Eine Rechtsordnung, die alle diese Regeln ,,R", ,,r0" usw. enthält, läßt sich genausowenig darstellen wie die Menge aller Mengen, ein vergleichbares Problem aus der Mathematik. 23 Wenn man also die Geltung der Rechtsordnung als Rechtsgut ansieht, würde die Rechtsordnung Regeln über sich selbst enthalten und wäre damit Aussage und Gegenstand dieser Aussage zugleich. Oder: Die Notwehr ist Teil dieser Rechtsordnung und würde damit sich selbst mitbewähren. 24 Eine anerkannte Möglichkeit zur Auflösung von Selbstbezüglichkeiten bietet die Unterscheidung von verschiedenen logischen Ebenen. Wenn man die Notwehr aus der zu verteidigenden Rechtsordnung herausnimmt und auf eine andere normlogische (Meta-)Ebene hebt, gewinnt man eine Norm über Normen. Als Konsequenz muß auch die ,,Bewährung der Rechtsordnung", die auf Seiten des Verteidigers den Ausschlag geben soll, auf einer anderen logischen Ebene angesiedelt werden als die Gegeninteressen des Angreifers, die von der zu bewährenden Rechtsordnung reguliert werden. Damit läßt sich ein überwiegendes Rechtsbewährungsinteresse nicht mehr mit Angreiferinteressen abwägen, weil eine Abwägung logische Gleichrangigkeit verlangt. Die Vermischung zweier verschiedener Ebenen ist unzulässig. Folglich führt der angesprochene Ausweg dazu, die Notwehr aus dem Interessenabwägungsprinzip zu verabschieden. 2s Eine Funktion verbleibt der Interessenabwägung dennoch im Rahmen der Notwehr: die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Angriffs. Diese ist der Rechtsanwendungsebene, d.h. der Frage nach der Verteidigungsbefugnis vorgelagert. Denn durch die Qualifikation des Angriffs als rechtswidrig auf der Rechtssetzungsebene26 werden die Interessen des Angreifers als nicht schutz-

23 S. Levy, Basic Set Theorie, S. 6 f.: sog. "RusselJ'sche Antinomie" (nach Bertrand Russel, The Principles of Mathematics, Vol. I, 1903); Waismann, Logik, Sprache, Philosophie, S. 137 ff. 24 In eine ähnliche Richtung geht die Kritik von Seelmann, 'ZStW 89, S. 45; Born, Rechtfertigung, S. 30; Fechner, Grenzen, S. 162 und Kioupis, Notwehr, S. 35, die, m.E. zu Unrecht, einen logischen Zirkel annehmen.

2S Ebenso Neumann, Begründung, S. 222, der von einem "Kategorienfehler" spricht. Zu Recht bezeichnet Joerden, JuS 1992, S. 25 die Vornahme von Interessenabwägungen beim Notwehrrecht als "systemwidrig". 26 Die Frage, ob der Angriff rechtswidrig ist, beantwortet sich nach den Verhaltensanweisungen der Rechtsordnung. Zu Recht Neumann, Begründung, S. 223: ,,Der logische Ort für die Berücksichtigung von Angreiferinteressen ist dann allein der Begriff der Rechtswidrigkeit des Angriffs in § 32 Abs. 2 StGB."

11. Die Bewährung der Rechtsordnung

83

würdig den schutzwürdigen Interessen des Verteidigers untergeordnet. Mindestens unglücklich erscheint deshalb die Formulierung des BGH, "Gesichtspunkte des § 34 StGB können nicht zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Angriffs im Rahmen des § 32 StGB herangezogen werden.'

beeinträchtigtes Interesse

geschütztes Interesse

>

beeinträchtigtes Interesse

geschütztes Interesse

=

beeinträchtigtes Interesse

geschütztes Interesse


bI

+

+

gI > bI

+

= bI

+

-

+

gI < bI

-

-

gI < bI

-

-

gI

Wiederum ist die Spiegelbildlichkeit von Aggressiv- und Defensivnotstand zu beachten. Im Aggressivnotstand muß das Interesse des spezieIl Obhutspflichtigen bereits einem schlicht überwiegenden Interesse weichen. Im Defensivnotstand muß der spezieIl Obhutspflichtige, der mit der Gefahr nichts zu tun hat, seine Erhaltungsinteressen einem schlicht überwiegenden Interesse opfern. Anders ausgedrückt: Im Aggressivnotstand ist der Eingriff in fremde Interessen spezieIl Obhutspflichtiger zum Schutz schlicht überwiegender Interessen zulässig. Im Defensivnotstand kann derjenige, von dessen Rechtssphäre die Gefahr ausgeht, von einem spezieIl Obhutspflichtigen dann Verzicht auf Abwehr verlangen, wenn das Interesse am Erhalt des gefahrdrohenden Gutes schlicht überwiegt. 94 2. Die Begründung der gesteigerten Aufopferungspflicht

Problematisch ist indes die Begründung der gesteigerten Aufopferungspflicht des spezieIl Obhutspflichtigen. Die §§ 34 StGB, 228 BGB enthalten keine entsprechende Regelung, da die Einbeziehung besonderer PflichtensteIlungen in die Interessenabwägung abzulehnen ist. 95 Die hier vorgeschlagene Behandlung der spezieIl Obutspflichtigen führt deshalb zu neuen, ungeschriebenen Notstandsregeln, weil sich die gesteigerte Aufopferungspflicht in einem veränderten Abwägungsmaßstab niederschlägt. Lugert vergleicht die Defensivnotstandsbefugnis mit § 218a StGB. Zu Recht stellt er fest, daß § 218a StGB zumindest für die Fälle der medizinischen Indikation eine Defensivnotstandslage beschreibt, da die Gefahr, die der Schwangeren droht, gerade durch die Schwangerschaft bedingt ist. 96 Nach § 218a

Vgl. bereits Hruschka, JuS 1979, S. 392; s. auch Jakobs, AT, 13/33. 95

Vgl. auch Hruschka, JuS 1979, S. 392; Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 80.

96 Michael Köhler, GA 1988, S. 445 f.; Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 53. Entgegen Gropp, GA 1988, S. 8 Fn. 43 kommt es auf den pathologischen Zustand der Mutter nicht an,

262

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

Abs. 1 Nr. 2 StGB ist der Schwangerschaftsabbruch jedoch nur dann zulässig, "wenn eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren nicht anders abwendbar ist". Sofern man nicht der Auffassung folgt, daß die Interessen an der Erhaltung eines Menschenlebens und die Interessen am Ausbleiben schwerwiegender Gesundheitsstörungen gleichwertig sind97 , legt § 218a StGB einen anderen Abwägungsmaßstab nahe. Denn nach dem Gesetzeswortlaut ist die Tötung der Leibesfrucht, also die Vernichtung menschlichen Lebens auch dann nicht strafbar, wenn die Schwangere "lediglich" erhebliche Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit abwenden will, wenn also das beeinträchtigte Interesse das geschützte Interesse schlicht überwiegt. In diesem Fall soll aber nach dem oben entwickelten Fallsystem der Defensivnotstandseingriff für einen speziell Obhutspftichtigen grundsätzlich verboten sein. § 218a StGB läßt sich deshalb nur dann als spezialgesetzlich geregelter Fall des rechtfertigenden Defensivnotstands begreifen, wenn man § 218a Abs. 1 Nr. 2 StGB als eine gesetzliche Sonderregelung der Angemessenheit begreift: Obwohl das Interesse des Schutzbefohlenen das Erhaltungsinteresse schlicht überwiegt, ist der Defensivnotstandseingriff angemessen, weil die Aufopferungspflicht speziell obhutspftichtiger Personen dort ihre Grenze findet, wo die Gefahr für schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit besteht.98

denn dieser Zustand wirkt sich gerade erst durch das Bestehen der Schwangerschaft aus. Nach der Argumentation von Gropp müßte man auch in dem Fall, daß ein Gehbehinderter von einem bissigen Hund angefallen wird und nicht weglaufen kann, eine Defensivnotstandsbefugnis verneinen. Auch hier würde die Notlage dann auf der Konstitution des Behinderten beruhen, wenn jeder andere sich ohne weiteres durch Davonlaufen in Sicherheit bringen könnte - kein überzeugendes Ergebnis. 97 Man könnte etwa nicht das menschliche Leben schlechthin, sondern das ..soziale Leben" als abwägungsrelevantes Interesse ansehen. Ohne Frage wird das ..soziale Leben" durch schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit, etwa dauerndes Siechtum, Querschnittslähmung usw. erheblich eingeschränkt. Andererseits gerät man dabei in die Gefahr, Leben verschiedene Wertigkeit zuzuerkennen.

98 In diesem Sinne könnte man das Urteil des BGHSt 38, S. 144 (158) interpretieren. Dort wird die im Vergleich zu § 34 StGB besondere Ausgestaltung des § 218a StGB wenig überzeugend damit begründet, daß ..§ 34 StGB ein Recht für jedermann und für unabsehbar viele und verschieden gestaltete Gefahrlagen ist, während § 218a StGB nur für einen eng umgrenzten Kreis von Notlagen gilt"". Abgesehen davon, daß der BGH mit keinem Wort auf die Defensivnotstandsproblematik eingeht, könnte man in der Tat von einer besonderen Notstandsregelung sprechen: Zumindest für die medizinische Indikation beschreibt § 218a StGB keine Interessenabwägung, sondern normiert eine absolute Aufopferungsgrenze. Für die anderen Indikationen ist dies jedoch sehr fraglich, vgl. auch Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 317 ff.

111. Aufopferungspflicht des speziell Obhutspflichtigen

263

Im Gegensatz hierzu gelangt Lugert dadurch zu einer Einordnung in das hier vorgeschlagene Fallsystem, weil nach seiner Auffassung nicht gleichwertige Rechtsgüter von zwei Personen einander gegenüberstehen, sondern das Interesse einer Person und das Lebensinteresse des nasciturus. 99 Diese Abstufung des menschlichen Lebens läßt sich vor dem Hintergrund der Fristenlösungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht aufrecht erhalten. lOo

Zur Begründung einer gesteigerten Aufopferungspflicht ist jedoch auf den Unterschied von "echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten zu verweisen, da eine Rettungshandlungspflicht nicht weiter reichen kann als eine Rettungsduldungspflicht. 101 Während in dem hier interessierenden Zusammenhang Personen, die nicht in besonderen PflichtensteIlungen stehen, nur nach § 323c StGB zur Hilfeleistung verpflichtet sind, ist der Umfang der Garantenpflichten schon deswegen weiter, weil die Anknüpfung über § 13 StGB grundsätzlich für alle Erfolgsdelikte in Betracht kommt. Diese gegenüber dem ,,Jedermann" umfangreichere PflichtensteIlung deutet auf eine gesteigerte Pflicht zur Preisgabe eigener Interessen hin. Darüberhinaus spricht der Gesichtspunkt der "gesteigerten sozialen Nähe" für eine gesteigerte Aufopferungspflicht. Mit diesem Schlagwort soll der Unterschied der Beziehungen, die zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft bestehen, zu den besonderen Gemeinschaftsverhältnissen umschrieben werden, die spezielle Schutzpflichten konstituieren. 102 Entscheidend ist, daß die Übernahme der Rollen als Schützer bzw. Beschützer durch einen freiwilligen Akt erfolgt lO3 : Eheleute oder unverheiratet zusammenlebende Personen können sich jederzeit trennen. Der Beschützergarant kraft tatsächlicher Übernahme kann sein Amt niederlegen. Diese Sonderbeziehungen, die gerade im allgemeinen Aggressivnotstand oder bei der allgemeinen Hilfeleistungspflicht nicht vorausgesetzt werden, rechtfertigen die erhöhte Verantwortlichkeit für fremde Rechtssphären. Die doppelte Auswirkung der gesteigerten sozialen Nähe läßt sich am Bild der sich schneidenden Rechtskreise veranschaulichen: Zum einen wird die Schnittfläche vergrößert, da sich die Rechtskreise von speziell Obhutspflichtigen in größerem Umfang überlagern. Dadurch wird die Aufopferung in stärkerem

99 Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 55. Indes setzt sich Lugert damit in Widerspruch zu seiner harschen Kritik an Jescheck (S. 58 Fn. 88). Man kann nicht anderen vorwerfen, zwischen schutzwürdigerem und weniger schutzwürdigerem menschlichen Leben zu unterscheiden, und selbst eine entsprechende Abstufung befürworten. 100 BVerfGE 39, S. 37; NJW 1993, S. 1753. Aus dem unterschiedlich ausgestalteten Strafrechtsschutz läßt sich jedenfalls noch keine unterschiedliche Wertigkeit ableiten. Grundlegend dazu Rolf Keller in: Fortpflanzungsmedizin, S. 111 ff. m.zahlr.Nachw. 101

Vgl. Hruschka, JuS 1979, S. 386; Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 64.

102

S. Teil F., Abschnitt I1I.3.a)

103

Vgl. Michael Köhler, GA 1988, S. 461.

264

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

Maße angemessen als bei sonstigen Personen. Zum anderen verändert sich der Interessenabwägungsmaßstab, da bei der Interessenabwägung innerhalb der Schnittfläche bereits ein schlichtes Überwiegen ausreicht. Dagegen lehnt Küper eine gesteigerte Aufopferungspflicht von speziell Obhutspflichtigen ab. Seiner Auffassung nach fehlt bei den speziell Obhutspflichtigen die Typizität der mit der Pflichterfüllung verbundenen Selbstgefährdung. Entscheidend kommt es für Küper allein darauf an, ob der Verpflichtete einen Beruf ausübt, der zur Gefahrenabwehr in bedrohlichen Situationen die Übernahme von Gefahren für Leib und Leben fordert. I04 Indes handelt es sich hierbei gerade um die Frage, wie weit eine bestimmte PflichtensteIlung reicht. Küpers Argumentation läuft darauf hinaus, daß nur berufstypische Gefahrtragungspflichten anzuerkennen sind. Diese These müßte er jedoch begründen. Der Hinweis auf den Inhalt einer Pflichten stellung sagt aber noch nichts über den Grund des Umfangs dieser PflichtensteIlung aus. lOS Küpers Auffassung ist schließlich auch deshalb abzulehnen, weil sie die Sonderbeziehung, die zwischen Schützling und Obhutsverpflichtetem besteht, ignoriert. So unterscheidet sich etwa das Verhältnis von Eltern gegenüber ihren Kindern grundlegend von den Beziehungen, die Außenstehende zu diesen Kindern unterhalten können. Dieser Unterschied ist es, an den die Rechtsordnung zur Begründung einer GarantensteIlung anknüpft. Folgerichtig muß sich dieser Unterschied auch in einer veränderten rechtlichen Bewertung der Aufopferungspflichten in Notstandssituationen niederschlagen. Das hier vorgeschlagene Fallsystem wird durch eine weitere Erwägung gestützt. Bei Eheleuten etwa stehen sich in einem Notstandsfall beide Ehepartner als Beschützergaranten gegenüber; der eine ist jeweils in gesteigertem Maße als ein Außenstehender für den anderen verantwortlich. Unter dieser Voraussetzung läßt sich die gesteigerte PflichtensteIlung nicht als Interesse in die Abwägung einstellen. Die Gegenauffassung übersieht, daß sich bei einer Berücksichtigung als abwägungsrelevantes Interesse die PflichtensteIlungen gegenseitig neutralisieren würden, ein Umstand, der bereits bei der Diskussion der Pflichtenkollision zutage getreten ist. 106 In Symbolen ausgedrückt ("g" soll den Abwägungsfaktor der GarantensteIlung symbolisieren):

"x + g > E + g" => "X > E"

104

Küper, Pflichtenkollision, S. 107 (anders aber S. 95); ders., JZ 1980, S. 756.

Gegen die berufliche Schutzfunktion als taugliches Abgrenzungskriterium auch Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 46. lOS

106

S. Teil F., Abschnitt IV.l.b)aa)

III. Aufopferungspflicht des speziell Obhutspflichtigen

265

Damit würde sich nach der herrschenden Auffassung die Aufopferungspfticht der Eheleute untereinander nicht von der allgemeinen Solidaritätspflicht unterscheiden. Mehr noch, es wären Fälle denkbar, in denen das Interesse "X" das Interesse "E" zwar wesentlich überwiegt, in denen nach der Addition des Faktors "g" auf beiden Seiten jedoch nicht mehr von einem wesentlichen Überwiegen gesprochen werden könnte. 107 In diesen Fällen würden nach der Gegenauffassung Eheleuten geringere Opferpflichten füreinander auferlegt als im Rahmen der allgemeinen Solidarität. Des weiteren kann eine spezielle Obhutspflicht auch nicht erst innerhalb der Angemessenheitsstufe berücksichtigt werden, da sich hier die einander gegenüberstehenden Schutzpflichten der Eheleute ebenfalls gegenseitig neutralisieren würden. Somit bleibt als einziges die Möglichkeit übrig, spezielle Obhutspflichten durch eine Veränderung des Interessenabwägungsmaßstabs zu berücksichtigen. Schließlich widerlegt die eben angestellte Überlegung die frühere Auffassung von Otta, daß Eltern ihr Leben für das ihrer Kinder opfern müßten. ws Diese These übersieht, daß die Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern ebenfalls garantiepflichtig sind. Wenn sich die Schutzpflicht der Kinder auch nur selten auswirken dürfte, so liegt dies an den beschränkten Handlungsmöglichkeiten der Kinder. Jedoch müßten auch die Kinder ihrerseits gleichwertige Interessen zur Rettung von Interessen ihrer Eltern opfern. Das bedeutet, daß jeder das Opfer des anderen zurückweisen müßte, weil er selbst ein entsprechendes Opfer zu erbringen hätte. 109 3. Gesteigerte Aufapferungspfiicht und Angemessenheit

Daß besondere Pflichtenstellungen nicht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung berücksichtigt werden können, wurde bereits dargelegt. Ebenfalls sind gesetzliche Sonderregeln ohne Bedeutung. Da die gesteigerte Aufopferungspflicht nur in besonderen Beziehungen auferlegt wird, läßt sich das Verallgemeinerungsargument nicht verwerten, um den Vorrang gesetzlicher Regeln zu begründen. Jedoch kommt auch innerhalb der Sonderbeziehungen der Angemessenheitsklausel insofern Bedeutung zu, als sie eine absolute Opfergrenze

107 Das hängt vom Wertverhältnis des Faktors "g" zu den sonstigen kollidierenden Interessen ab. Offensichtlich ist aber die Relation 2 : I von der Relation (2 + 1) : (1 + 1) verschieden. 108

Dtto, Pflichtenkollision, S. 96 f. (aufgegeben im Nachwort, S. 118).

Mit derselben Begründung ist die Auffassung von Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 64, der den Obhutsgaranten wie einen Sicherungsgaranten behandelt und ihn bis zum unverhältnismäßigen Überwiegen eigener Interessen zum Opfer verpflichtet, abzulehnen. 109

266

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

beschreibt: Der Obhutspftichtige braucht weder sein Leben zu opfern, noch schwerwiegende Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit hinzunehmen. Damit läßt sich die Aggressivnotstandsbefugnis gegenüber speziell Obhutspflichtigen folgendermaßen formulieren: "Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr CUr Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse einer Person, die gegenüber dem Gefährdeten zu besonderer Obhut verpflichtet ist, überwiegt. Dies gilt nicht, soweit das Opfer durch die Tat getötet wird oder eine schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigung erleidet." Die Defensivnotstandsbefugnis müßte lauten: "Wer ein rechtlich anerkanntes Interesse eines anderen verletzt, um eine aus der Sphäre dieses Interesses drohende und anders nicht abwendbare Gefahr CUr Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, es sei denn, daß das durch den Eingriff beeinträchtigte Interesse das durch ihn geschützte Interesse einer Person, die gegenüber dem verletzten Interesse zu besonderer Obhut verpflichtet ist, überwiegt. Die Verteidigung gegen die drohende Gefahr ist auch dann nicht widerrechtlich, wenn sie erfolgt, um die Gefahr des Lebensverlusts oder einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung abzuwenden. "

4. Abschließende Beispiele

Die Konsequenzen der hier vorgeschlagenen gesteigerten Aufopferungspfticht sollen nachfolgend an vier Beispielen aufgezeigt werden. a) Der ,,Bergsteigerfall" Im "Bergsteigerfall"llo unternehmen A und Beine Klettertour. Dabei stürzt A ab und hängt im Seil. - Erste Variante: Durch das mit B verbundene Seil wird A vor dem tödlichen Sturz bewahrt. Wenn B das Seil nicht durchschneidet, bevor A durch die Bergwacht gerettet worden ist, wird B erfrieren. Zweite Variante: B wird mit schweren Erfrierungen überleben, wenn er bis zur Rettung des A ausharrt. In der ersten Variante ist B aufgrund der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis gerechtfertigt, wenn er den A abstürzen läßt, um sich selbst zu retten,'!1 Zwar befinden sich A und B in einer Gefahrengemeinschaft, da sie zusammen eine gefährliche Unternehmung begonnen haben, bei der sie auf

110

Nach Rudolf Merkei, Kollision, S. 48.

111 Ebenso Hirsch, Bockelmann-FS, S. 108; Roxin, Oehler-FS, S. 194; zweifelnd indes Küper, JuS 1981, S. 793 Fn. 66.

III. Aufopferungspflicht des speziell Obhutspflichtigen

267

gegenseitigen Beistand angewiesen sind und auch darauf vertrauen, daß jeweils der andere notwendige Hilfe leisten wird. 1l2 B ist aber nicht verpflichtet, sein Leben zugunsten des Lebens von A zu opfern. Er darf daher die Gefahr für sein Leben, deren Ursache in der Person des A liegt, gleichsam auf A zurückspiegeln und das Bergseil kappen. Ein Konflikt zu der Forderung, daß Leben nicht gegen Leben abwägbar sei, tritt nicht auf. ll3 Denn obwohl das Leben des A und das Leben des B gleich zu bewerten sind, darf B sich auf Kosten des A retten. Der Grund liegt darin, daß A für das Risiko in bezug auf das Leben des B verantwortlich ist und deshalb mit den Kosten der Gefahrenabwehr belastet wird.

Dagegen ist das Abschneiden des Seiles in der zweiten Variante nicht durch Defensivnotstand gerechtfertigt. Da eine Gefahrengemeinschaft eine gesteigerte Verantwortlichkeit der Partner füreinander begründet, setzt die Solidarität kein wesentliches Überwiegen des entgegenstehenden Interesses voraus. Vielmehr müssen eigene Interessen bereits schlicht überwiegenden Interessen des Schutzbefohlenen aufgeopfert werden. Anders wäre die Sachlage dann zu beurteilen, wenn B so schwere Erfrierungen erleidet, daß seine Beine amputiert werden müssen. In diesem Fall wäre der Defensivnotstandseingriff trotz schlichten Überwiegens der Lebenserhaltungsinteressen des A angemessen. b) Die Perforation Ein weiterer Defensivnotstandsfall ist die Tötung des Kindes während des Geburtsvorganges, um von der Mutter die Gefahr des Todes oder einer erheblichen Körperverletzung abzuwenden (Perforation). Die Rechtfertigung der Kindstötung wird in diesen Fällen teilweise abgelehnt. 1l4 Die Begründung der Entschuldigungslösung, daß hier Leben gegen Leben stehe, trägt jedoch nicht. Wer sich für den Erhalt des Lebens des Kindes ausspricht, müßte begründen, warum die Mutter ihr Leben opfern soll. Darüberhinaus vernachlässigt diese

112 Dies gilt entgegen einer häufig vertretenen Auffassung - z.B. Hirsch in: LK, § 35 Rn. 53 f.; DreherlTröndle, § 35 Rn. 12; Jescheck, Lehrbuch, S. 438 - nicht nur für den Bergführer im Verhältnis zum geführten Touristen, sondern auch umgekehrt. Kein Bergführer würde mit einem Touristen eine ernste Bergtour unternehmen, wenn er nicht darauf vertrauen könnte, daß ihn der Seilschaftspartner im NotfaU vor einem Absturz bewahrt. Dieses Beispiel ergibt ein weiteres Argument dafür, daß das Kriterium einer berufstypischen Gefahrtragungspflicht für die Begründung einer gesteigerten Aufopferungspflicht ungeeignet ist.

113 So aber Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 24; ders., GA 1985, S. 309; Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 426; Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 202, die eine Rechtfertigung ablehnen. Für bloßen Strafunrechtsausschluß Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 345 f.; ähnlich Schild, JA 1978, S. 635. 114 Z.B. Horn in: SK, § 212 Rn. 24; Rudolphi in: SK, Vor § 218 Rn. 15; DreherlTröndle, § 34 Rn. 21.

268

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

Auffassung, daß nicht nur die Mutter in einem besonderen Verhältnis zu ihrem Kind steht, sondern auch umgekehrt. Deshalb ist bereits die Rechtfertigung der Perforation zu bejahen. 115 Der entscheidende Gesichtspunkt liegt auch hier in der Zurechnung der Gefahr zur Rechtssphäre des KindesY6 Steht Leben gegen Leben, so ist die Verletzung gleichwertiger Interessen im Defensivnotstand gerechtfertigt. Ebenfalls ist die Perforation zur Abwehr schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen angemessen, weil insofern eine absolute Opfergrenze des speziell Obhutspflichtigen besteht. Dies gilt jedoch nur, sofern die Perforation nicht durch einen anderen medizinischen Eingriff, etwa die Einleitung einer Frühgeburt oder einen Kaiserschnitt, abzuwenden ist. Als speziell Obhutspflichtige hat die Mutter gegenüber ihrem Kind dieses Opfer auf sich zu nehmen. 117 Im Gegensatz dazu endet die Solidaritätspflicht des ,Jedermann" vorher: Er braucht sich keinen erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit zu unterziehen, wie es eine derartige Operation bedeutet. c) "Der Haustyrannenfall" Den Haustyrannenfällen liegt zumeist folgende Konstellation zugrunde. Eine Familie ist ständigen brutalen Mißhandlungen durch den Ehemann und Vater ausgesetzt. Der Vater wird im Schlaf von den Familienmitgliedern getötet, da nach seinem Erwachen erneute Mißhandlungen zu befürchten sind. Die Rechtsprechung hat in diesen Fällen regelmäßig die Rechtfertigung der Tötung abgelehnt. Zum Teil wurde die Tat jedoch wegen entschuldigenden Notstands nicht bestraft. 118 Da auch Dauergefahren eine Notstandslage begründen können 119, ist am Vorliegen einer Defensivnotstandslage nicht zu zweifeln 120 : Die Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Familienmitglieder kann jederzeit nach dem

l1S

So Jähnke in: LK, § 212 Rn. 10; Lenckner, GA 1985, S. 297.

S. Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 58 f.; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 74; Jescheck, Lehrbuch, S. 327; Roxin, Jescheck-FS, S. 476 f.; zweifelnd Jakobs, AT, 13/22 Fn. 44, 13/47. 116

117 Vgl. Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 59; Roxin, AT, § 16 Rn. 70; Eserin: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 218 ff. Rn. 34. Ob die Schwangere zur Vornahme eines Kaiserschnittes gezwungen werden kann, ist eine andere Frage.

118

S. RGSt 60, S. 318; BGH, NJW 1966, S. 1823; NStZ 1984, S. 20.

Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 17; kritisch Schroeder, JuS 1980, S. 337 ff. 119

120 Anders Ludwig, Angriff, S. 169 f., der beim Defensivnotstand engere zeitliche Schranken befürwortet.

IIJ. Aufopferungspflicht des speziell Obhutspflichtigen

269

Aufwachen des "Haustyranns" eintreten, so daß ein Tätigwerden zur Gefahrenabwehr geboten ist. Die Rechtfertigung scheitert nicht an der Hochwertigkeit des Lebens des Vaters. 121 Jedoch stehen die Familienmitglieder gegenüber dem Vater in einem Obhutsgarantenverhältnis, so daß die Tat nur zur Verteidigung gleichwertiger Interessen bzw. zur Abwendung schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen gerechtfertigt ist. Bei anderen Möglichkeiten, die Gefahr abzuwenden, als die Tötung des "Haustyrannen" entfallt die Defensivnotstandsbefugnis, wenn die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten zumutbar ist. Zumutbar sind alle Maßnahmen, deren Belastung vergleichsweise unterhalb einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung liegt. Wenn also andere Abwendungsmöglichkeiten bestehen, die die Familienmitglieder nicht in vergleichbarem Maße belasten wie schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, ist die Tötung des "Haustyrannen" nicht gerechtfertigt. Dies dürfte regelmäßig der Fall sein. Besteht dieser Ausweg jedoch nicht, muß man die Tat für rechtmäßig erachten. d) Die Zwangsblutspende Am Schulfall der Zwangsblutspende wird deutlich, wie eine Obhutspflicht die Reichweite der Eingriffsbefugnis im Aggressivnotstand erweitern kann. Während die herrschende Auffassung die rettende Blutentnahme bei einem Unbeteiligten ablehnt 122 , wird man etwa einen Vater für verpflichtet halten müssen, die Entnahme von Blut oder Knochenmark zur Rettung des Lebens seines Sohnes zu dulden. 123 Denn das Interesse des Sohnes an der Erhaltung seines Lebens überwiegt zumindest schlicht das Interesse seines Vaters, nicht als lebende "Blutkonserve" mißbraucht zu werden. Anhand der hier entwickelten Kriterien kann ein weiterer Problemfall gelöst werden, nämlich die strittige Frage der Blut- oder Knochenmarkspende Minderjähriger. Aus der Verpflichtung der Geschwister zu gegenseitiger Obhut folgt, daß die Blut- oder Knochenmarkentnahme bei einem Minderjährigen zur Rettung eines anderen Familienmitglieds zulässig ist. Da es auf die Einwilligung des Minderjährigen nicht ankommt, spielt es keine Rolle, wie alt der Minderjährige ist. Ebenso ist unbeachtlich, daß die Zustimmung des Minderjährigen

121

So aber Roxin, AT, § 16 Rn. 75.

122

S. Teil C., Abschnitt IV.l.a)

Vgl. auch Hruschka, Strafrecht, S. 147; Wesseis, AT, S. 93; Hirsch in: LK, § 34 Rn. 68. Welche schwierigen Wertungsprobleme in diesem Zusammenhang entstehen, zeigt die Frage, ob der Vater auch (straf-)rechtlich verpflichtet ist, seinem Kind eine Niere zu spenden. 123

270

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

nicht durch die Zustimmung seiner 'gesetzlichen Vertreter ersetzt werden kann, da der Eingriff nicht seinem eigenen Wohl dient. 124 IV. Die Aufopferungspfticht von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen 1. Das maßgebliche Fallsystem

Bei der Untersuchung der Defensivnotstandsbefugnis von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, kommt Lugert zu dem Ergebnis, daß die Verletzung fremder Interessen im Defensivnotstand lediglich dann erlaubt ist, wenn die eigenen, durch den Eingriff gewahrten Interessen die verletzten Interessen wesentlich überwiegen. 12S Aus der Spiegelbildlichkeit von Defensiv- und Aggressivnotstand ergibt sich, sofern man der Ansicht von Lugert folgt, die Konsequenz, daß der Aggressivnotstandseingriff in Interessen dieser Personen selbst dann zulässig ist, wenn die gewahrten Interessen schlicht weniger wert sind als die verletzten Interessen. Damit läßt sich die Aufopferungspflicht von Personen in besonderen Rechtsverhältnissen folgendermaßen formulieren: Wer in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, welches ihn zur Abwehr von Gefahren gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet, ist im Rahmen dieses Rechtsverhältnisses im Kollisionsfall zur Aufopferung eigener Interessen nur dann nicht verpflichtet, wenn seine eigenen Interessen die zu wahrenden fremden Interessen wesentlich überwiegen. Im Schaubild sieht diese 'Aufopferungspflicht so aus: (

124 Im Ergebnis wie hier Lenckner, ZStW 72, S. 460 f.; ablehnend Bernd-Rüdiger Kern, FamRZ 1981, S. 739 f.; Laufs, NJW 1982, S. 1322; Rüping, GA 1978, S. 133. Hält man den Vater für verpflichtet, eine Niere für sein Kind zu spenden, dann trifft dieselbe Pflicht konsequenterweise auch die minderjährigen Geschwister.

125

Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 73,

271

IV. Aufopferungspflicht in einern besonderen Rechtsverhältnis

Interessenrelation

Aggressivnotstand

Defensi vnotstand

gI > bI

+

+

gI > bI

+

-

gI = bI

+

gI < bI

+

gI< bI

-

-

Betrachtet man das Schaubild näher, so fallt auf, daß die Aggressivnotstandsbefugnis zur Verletzung von besonders verpflichteten Personen der Defensivnotstandsbefugnis des ,)edermann" entspricht: In beiden Fällen ist der Notstandseingriff erst dann nicht gerechtfertigt, wenn das Eingriffsinteresse das Erhaltungsinteresse wesentlich überwiegt. Das bedeutet, daß durch die Auferlegung von besonderen Gefahrabwendungspflichten gegenüber der Allgemeinheit die Zuständigkeitsbereiche zur Tragung von Gefahren grundlegend verändert werden. Eine Naturgefahr etwa hat nicht mehr jeder grundsätzlich selbst zu bestehen, sondern die Personen in besonderen Rechtsverhältnissen werden so behandelt, als ob sie selbst als Sicherungsgaranten für diese Gefahren verantwortlich wären. Diese Verteilung von Verantwortlichkeit wirft einige Probleme auf. 2. Die materielle Begründung der Aufopferungspjlicht besonders verpjlichteter Personen

Zur Begründung einer erhöhten Aufopferungspflicht läßt sich zunächst auf die entsprechenden Rettungshandlungspjlichten Bezug nehmen. Die Zumutbarkeit der Rettungshandlungspflicht bei Personen in besonderen Rechtsverhältnissen wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht näher problematisiert. 126 Manche Autoren gehen von der Verpflichtung aus, ein erhöhtes Risiko auf sich zu nehmen. Als Opfergrenze wird die Gefahr des sicheren Todes genannt, die eine Aufopferung als unzumutbar erscheinen lasse. 127 Zum Merkmal des "sicheren Todes" hat Lugert bereits in der erforderlichen Weise Stellung genommen, so daß auf seine Ausführungen verwiesen werden kann: Aus der Ex-ante-Perspektive können immer nur Wahrscheinlichkeitsprognosen abgegeben werden. 128

126

S. auch die spärlichen Nachweise bei Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 65 ff.

S. Küper, JZ 1980, S. 756; Roxin, AT, § 16 Rn. 55; vgl. auch Stree in: Schönke/Schröder, Vorbern § 13 ff. Rn. 156. 127

128

Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 69 ff.

272

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

Interpretiert man die dargestellte Auffassung in der Weise, daß kein Opfer um jeden Preis gefordert wird, und akzeptiert man die Einteilung in fünf mögliche Wertungsstufen, so ergibt sich die im Fallsystem dargestellte Aufopferungspflicht, die bei der Beeinträchtigung eigener wesentlich überwiegender Interessen endet. 129 Mit dieser Bewertung stimmt die Lösung des von Eberhard Schmidt gebildeten "Matrosenfalls" überein: Demnach müssen bei einem Schiffsunglück die Seeleute ihren Platz im Rettungsboot für die ihnen anvertrauten Passagiere räumen. no

Eine weitere Erwägung stützt die Gleichbehandlung von Personen, die der Allgemeinheit gegenüber zur Gefahrenabwehr verpflichtet sind, mit den Sicherungspflichtigen. Die staatlich institutionalisierte Gefahrenabwehr zeichnet sich nicht durch einen Bezug zu einem bestimmten Personenkreis aus, wie er zur Begründung spezieller Obhutsverhältnisse erforderlich ist. Vielmehr besteht eine größere Nähe zu den Gefahrenquellen. Dieser Bezug zu bestimmten Gefahrenquellen ergibt sich aus der Spezialisierung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Sachverstand und berufliche Fähigkeiten zur Bekämpfung aller Gefahren ist schlichtweg unmöglich. Insofern kann eine gesteigerte Aufopferungspflicht nur in dem Rahmen angenommen werden, der vom Beruf gesetzt wird. \31 Staatliche Daseinsvorsorge erfolgt unter anderem durch institutionalisierte Gefahrenabwehr. Die staatliche Gefahrenabwehr soll die eigenmächtige Selbsthilfe der Bürger einschränken, um so den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Soweit Institutionen die Sicherung der Allgemeinheit vor Gefahren übernehmen, treten sie in die Pflichtenstellung des Sicherungsgaranten ein. 132 Aus der Sicht der betroffenen Pflichtenträger selbst bestehen deswegen keine Bedenken dagegen, daß der Staat Pflichten zum besonderen Lebenseinsatz statuiert, weil die Übernahme dieser Pflichten jedem einzelnen freigestellt bleibt. 133 Jedoch verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, daß die Aufopferungspflicht an eine Verhältnismäßigkeitsgrenze geknüpft ist. Die Pflicht zum

129

Ebenso Seelmann in: AK-StGB, § 13 Rn. 65.

130

Vgl. Eb. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 565; Ouo, Pflichtenkollision, S. 91.

So müssen etwa Richter die Gefahren auf sich nehmen, die sich für sie aus ihrer Aufgabe zur Wahrnehmung der Rechtspflege ergeben; vgl. Roxin, AT, § 16 Rn. 56. 131

ll2 Ablehnend allerdings Rudolphi, JR 1987, S. 338 f.; tiers. in: SK, § l3 Rn. 54c, der eine tatsächliche Herrschaftsmacht über die Gefahrenquelle verlangt. Indes läßt sich gegen diese Einschränkung einwenden, daß die faktische Möglichkeit der Gefahrenabwehr ohnehin jede Rettungshandlungspflicht begrenzt. Ob staatliche Sicherheitsbehörden nur dann tätig werden müssen, wenn sie bereits das Entstehen der Gefahr verhindern könnten, erscheint mir jedoch zweifelhaft. 1ll

Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit s. Dürig in: MaunzlDürig, Art. 2 11 Rn. 17.

IV. Aufopferungspflicht in einem besonderen Rechtsverhältnis

273

unverhältnismäßigen Einsatz des eigenen Lebens zur Rettung wesentlich geringwertiger Interessen würde den einzelnen zur Gefahrenabwehrmaschine erniedrigen. Deshalb ist die Auffassung, daß etwa ein Feuerwehrmann sein Leben auch zur Abwehr von Sachgefahren einsetzen müsse 134, in dieser Absolutheit abzulehnen. 135 3. Bedenken gegen die Auffassung von Lugert

Allerdings ist die Auffassung von Lugert nicht unproblematisch. Lugert stellt die These auf, daß die Herkunft der Gefahr unbeachtlich sei, weil den besonders verpflichteten Personen die Aufgabe der Gefahrenabwehr gegenüber der Allgemeinheit obliege. Zur Allgemeinheit gehöre aber auch derjenige, dem Gefahr zurechenbar sei. 136 Diese Ansicht erläutert Lugert an folgendem Beispielsfall: Der Wohnungsinhaber W hat schuldhaft in einem Hochhaus einen Brand verursacht. Feuerwehrmann F erleidet bei der Brandbekämpfung eine Rauchvergiftung und rettet sich auf das Dach des Hauses. Über dem Gebäude schwebt ein Hubschrauber. Die Besatzung hat soeben W an den Rettungshaken genommen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Wenn F den W niederschlägt, um sich selbst auf Kosten des W zu retten, handelt er nach der Meinung von Lugert rechtswidrig, obgleich die kollidierenden Interessen gleichviel wert sind. F dürfe einen Defensivnotstandseingriff in die Güter des Sicherungspflichtigen jedoch nur zur Rettung eigener wesentlich überwiegender Güter vornehmen. 137 Aufgrund der Spiegelbildlichkeit von Aggressivnotstand und Defensivnotstand dürfte W umgekehrt den F niederschlagen, da die Rechtfertigung eines Aggressivnotstandseingriffs nur dann ausschiede, wenn die Güter des F wesentlich mehr wert wären. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob eine allgemeine Institution denjenigen, der für die Gefahr verantwortlich ist, von seiner Eigenverantwortlichkeit entlasten soll, so daß die Kosten für die Gefahrenabwendung vorrangig der Institution zur Last fallen. Ist nicht W aufgrund Ingerenz selbst verpflichtet, zu verhindern, daß nicht andere Personen durch den Brand zu Schaden kommen? Bejaht man etwa eine strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung des Brandstifters für die Feuerwehrleute, die bei der Brandbekämpfung Gesund-

134

MaurachlZipf, § 27 Rn. 40.

Dabei kommt es allerdings immer auf den Gefahrengrad an, der im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rn. 27 ff.; für einen Feuerwehrmann mit schwerem Atemschutzgerät und feuerfester Kleidung ist es wesentlich weniger gefährlich, in ein brennendes Haus zu gehen als für sonstige Personen. Wie hier Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 74 ff. 1JS

136

Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 74.

131

Lugert, Gefahrtragungspflichten, S. 72 ff.

18 Renzikowski

274

G. Aggressiv- und Defensivnotstand

heitsschäden erleiden oder umkommen 138, so konkurrieren im Beispiel von Lugert zwei Gefahrtragungszuständigkeiten miteinander: eine institutionelle Zuständigkeit und die Verantwortlichkeit des Sicherungsgaranten. Diese Frage kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht geklärt werden, da bislang noch offen ist, nach welchen Kriterien die Zuständigkeit für Risiken verteilt wird. 139 Folgender Vorschlag scheint mir aber diskussionswürdig zu sein: Wenn jemand eine Gefahr durch pflichtwidriges Vorverhalten geschaffen hat, ist eine Abwälzung seiner Verantwortlichkeit auf besonders zur Gefahrenabwehr verpflichtete Personen unzulässig. Für das wechselseitige Vorliegen gesteigerter PflichtensteIlungen bietet sich das bereits dargestellte Fallsystem speziell Obhutspflichtiger an: Die Aufopferungspflicht zugunsten des anderen endet an der Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen. 140

138 So etwa Rudolphi in: SK, Vor § 1 Rn. 81; Schroeder in: LK, § 16 Rn. 182; eramer in: SchönkelSchröder, § 15 Rn. 157; a.A. Roxin, AT, § 11 Rn. 106 f. 139 Das gilt insbesondere für die Feststellung der Defensivnotstandslage, s. Teil F., Abschnitt IIl.l.d) 140

S. oben Abschnitt IIl.

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung von koordinierten Rechtssubjekten I. Der Rechtsgrund der Notwehr

Inhaltlich ist Notwehr Rechtsgutsverteidigung durch die zwangsweise Beendigung der zurechenbaren Pflichtverletzung des Angreifers. Dem Grunde nach ist die Notwehrbefugnis die Wiederherstellung des Koordinationsverhältnisses zwischen Angreifer und Angriffsopfer. Diese Gleichordnung ist gestört, wenn der Angreifer seine Pflichten auf Gegenseitigkeit gegenüber dem Opfer verletzt. Auf die Kooperationsverweigerung des Angreifers darf der Verteidiger seinerseits mit einem vorläufigen Kooperationsabbruch reagieren. Jedoch suspendiert der rechtswidrige Angriff nicht schlechthin von der Regelbefolgungspflicht. Vielmehr ist die Regelbefolgungspflicht nur insofern aufgehoben, als es zur Abwehr der Störung des Koordinationsverhältnisses erforderlich ist. Mit der Beendigung oder dem Abbruch des Angriffs tritt die Regelbefolgungspflicht wieder in Kraft. Die Funktion der Notwehr läßt sich damit folgendermaßen kennzeichnen: Die Verteidigung soll verhindern, daß der Angreifer einseitig das Verhältnis der wechselseitig geschuldeten Achtung der Rechtspersönlichkeit faktisch in ein Über-Unterordnungsverhältnis verwandelt. I Güterabwägungen haben ihren Ort bei der Bestimmung der Reichweite des gegenseitigen Achtungsanspruchs. Auf der metasprachlichen Normebene ist für Verhältnismäßigkeitserwägungen kein Platz. Soweit der Angreifer den Angriff nicht abbricht, obwohl er dazu in der Lage ist, wird deshalb äußerstenfalls die Tötung des Angreifers als erforderliche Verteidigung gerechtfertigt. 2 Im folgenden werde ich einige Konsequenzen des bisher entwickelten Ansatzes darstellen. Man sieht, daß auch die hier vertretene Notwehrkonzeption nicht ohne Bezugnahme auf eine "empirische Rechtswirldichkeit" auskommt. Der entscheidende Unterschied zur Lehre Schmidhäusers liegt jedoch darin, daß nicht die Rechtswirldichkeit in Bezug auf die gesamte Rechtsordnung entscheidet, sondern einzig und allein die konkrete Beziehung zwischen Angreifer und Verteidiger. Zu Recht macht Frister, GA 1988, S. 312 darauf aufmerksam, daß die letzte Entscheidungsmöglichkeit über den Angriffsabbruch beim Verteidiger liegt. Nach einer erfolgreichen Verteidigung gibt es für den Angreifer nichts mehr abzubrechen. IS·

276

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

11. Die Notwehrlage

Das Gesetz beschreibt die Notwehrlage mit dem Merkmal des "gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs". Aufgrund des Verständnisses der Notwehr als Abwehr von Störungen im Gleichordnungsverhältnis sind die Voraussetzungen der Notwehrlage zu bestimmen, damit in Durchbrechung des vorrangigen staatlichen Rechtsschutzes ein privater Kooperationsabbruch gerechtfertigt werden kann. 1. Angriff als Intensivierung einer Rechtsgutsgefährdung

"Angriff ist die unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Güter durch menschliches Verhalten. ,,3 Die Art der ,,Bedrohung rechtlich geschützter Güter" steht nachfolgend im Vordergrund meiner Überlegungen. Im Hinblick auf eine Rechtsgutsverletzung sind vier Möglichkeiten zu unterscheiden: die Neubegründung eines Verletzungsrisikos, die Steigerung eines bereits vorhandenen Risikos, die Aufrechterhaltung eines bereits vorhandenen Risikos und die Aufrechterhaltung einer schon eingetretenen Rechtsgutsverletzung. Die ersten beiden Alternativen sind durch die Veränderung eines bestehenden Zustands gekennzeichnet, während in den anderen Alternativen der bestehende Zustand nicht verändert wird. Dies soll an einigen Beispielen erläutert werden: Die erste Alternative ist ein klassischer Notwehrfall: A schlägt mit einem Knüppel nach B, um ihn zu verletzen; damit leistet A durch sein Verhalten einen originären Beitrag zur Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit des B. Die zweite Alternative ist etwa dann erfüllt, wenn der Bergsteiger C untätig beobachtet, wie sein Kamerad D in einer Gletscherspalte erfriert. Das Risiko für das Leben des D wurde bereits durch den Sturz in die Gletscherspalte geschaffen. Die Lage verschärft sich jedoch für den D, je länger der C untätig bleibt. Mit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen hat das noch nichts zu tun. Deshalb soll die Frage nach der Verantwortlichkeit des Unterlassenden, die für die Notwehr gegen "Angriffe durch Unterlassen" von Bedeutung ist, einstweilen zurückgestellt werden. Als Beispiel für die Aufrechterhaltung eines Zustandes diene der Fall, daß Eden F in einem Zimmer eingeschlossen und die Tür abgesperrt hat. Solange E die Türe nicht öffnet, bleibt die Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit des F bestehen. 4 Davon zu unterscheiden ist die Abwandlung, daß E die Tür mit Gewalt zuhält, damit F sie nicht aufdrücken kann. Hier hält E nicht einen Zustand aufrecht, sondern er erneuert

Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 3. Um der Argumentation willen sollen andere Rechtsgüter des F außer Betracht bleiben.

11. Die Notwehrlage

277

durch sein aktives Tun fortlaufend das Risiko für die Fortbewegungsfreiheit des F. Ließe E nämlich die Tür los, könnte F sofort davongehen. Von vorneherein sind die FäJle auszuscheiden, in denen kein Risiko für Rechtsgüter des potentiellen Verteidigers gesetzt wird. Dies ist für den untauglichen Versuch allgemein anerkannt, obwohl die Tat eine Pflichtverletzung darsteJlt. 5 Auch in folgendem instruktiven Beispiel liegt kein Angriff vor: Der Ehemann E beobachtet, wie seine Frau F bei der Zubereitung von Kaffee Gift in die Kaffeetasse schüttet. Wenn die F dem M den vergifteten Kaffee serviert, ist dies kein notwehrfähiger Angriff, weil der Ehemann das Risiko kennt und es allein von ihm abhängt, ob es sich realisieren wird. 6

Fraglich ist, ob nur eine Zustandsveränderung einen notwehrfähigen Angriff begründen kann. Dafür spricht, daß in diesen Fällen die Dringlichkeit von Abwehrmaßnahmen besonders hoch ist. Zwar besteht auch in den Fällen der Aufrechterhaltung eines unerwünschten Zustandes ein Bedürfnis nach Veränderung. Diesem Bedürfnis tragen jedoch schon die staatlichen Rechtsschutzinstitutionen Rechnung, wobei nicht nur polizeiliches Eingreifen, sondern auch der Rechtsschutz durch die Gerichte in Betracht zu ziehen ist. Zwar kann zwischen dem ersten Anrufen eines Gerichts und der endgültigen rechtskräftigen Entscheidung ein langer Zeitraum liegen. Wegen des Rechtsschutzvorrangs des Staates ist jedoch die Zeitdauer des gerichtlichen Rechtsschutzes grundsätzlich unbeachtlich; allein entscheidend ist die Verfügbarkeit gerichtlicher Hilfe. 7 Die Inanspruchnahme der Gerichte ist dem Betroffenen deshalb dann zuzumuten, wenn sich seine Gütersituation nicht verschlechtert. Festzuhalten bleibt also, daß ein notwehrfähiger Angriff die Schaffung oder Steigerung eines Risikos für eine Rechtsgutsverletzung voraussetzt. 8 Daß diese Auffassung im Ergebnis der herrschenden Lehre entspricht, zeigt die Lösung des folgenden vieldiskutierten Beispiels: Der Eigentümer E trifft den Dieb D am Tag nach dessen Diebstahl in der Stadt. D hat die Diebesbeute

Vgl. Lene/mer in: SchönkeiSchröder, § 32 Rn. 12. Vgl. Bertel, ZStW 84, S. 21. Darin liegt auch der Unterschied zur Notwehrprovokation. Wählt in einem vielzitierten Beispiel ein Fußgänger den Weg durch eine Straße, in der Schlägertypen auf ein Opfer lauem, so hätte er zwar die folgende Konfrontation mit den Angreifern durch einen Umweg vermeiden können. AktueJl wurde das Risiko für die Unversehrtheit des Fußgängers aber durch die Attacke der Schläger geschaffen. gelten.

Vgl. Lagodny, GA 1991, S. 311. Etwas anderes mag bei überlanger Verfahrensdauer

Dieser Vorschlag wird durch eine weitere Erwägung gestützt: Wie Lagodny, GA 1991, S. 309 zu Recht hingewiesen hat, kann die Notwehr bei bestehender Möglichkeit, sich an die Gerichte zu wenden, über das Merkmal der "Erforderlichkeit" nicht ausgeschlossen werden, denn über dieses Merkmal können nur solche Verhaltensalternativen ausscheiden, die zur selben Zeit greifen wie die private Notwehr. Vgl. auch W. B. Schünemann, Selbsthilfe, S. 87 f.

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H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

bei sich, um sie zu seinem Hehler zu bringen. Ist E durch Notwehr gerechtfertigt, wenn er dem D die Diebesbeute entreißt? - In diesem Fal1 ist der Angriff nach al1gemeiner Auffassung nicht mehr gegenwärtig. 9 Nach der hier vertretenen Konzeption liegt bereits kein Angriff des D vor, obwohl D gegenüber E zur Herausgabe der gestohlenen Sachen verpflichtet ist. Durch das Unterlassen der Rückgabe wird die Eigentumsbeeinträchtigung bei E nicht erhöht. Dies gilt selbst dann, wenn D die Sachen weiterveräußert, denn E hat die Möglichkeit der tatsächlichen Ausübung der Sachherrschaft bereits mit der Erlangung sicheren Gewahrsams des D verloren; eine Steigerung ist nicht möglich. Steigerungsfähig ist jedoch die Gefahr für die Erfüllung der sekundären Rückgabepflicht durch D. lO Zur Verhinderung der Vereitelung eines Regelbefolgungsanspruchs gewährt § 229 BGB die Möglichkeit der Selbsthilfe, wenn eine andere Möglichkeit zur Abwendung dieser Gefahr nicht besteht (§ 230 Abs. 1 BGB). Das Merkmal der "Gegenwärtigkeit" hat nach der hier vertretenen Ansicht für die Angriffsbeendigung keine selbständige Bedeutung. Vielmehr entfällt schon der Angriff selbst, wenn die Rechtsgutsverletzung endgültig eingetreten ist. 11 In seltsamem Gegensatz zur Lösung des Diebesbeispiels steht die Auffassung der herrschenden Lehre, bei Dauerdelikten ende der Angriff erst nach Beendigung des rechtswidrigen Zustands. 12 Dieser Auffassung sind mehrere Einwände entgegenzuhalten. Zum einen liegt ihr eine unzutreffende Verabsolutierung der Tatbestandsmäßigkeit des Angriffsverhaltens zugrunde. Nur wer einseitig den Blick darauf richtet, daß auch die Aufrechterhaltung einer Freiheitsbeeinträchtigung etwa durch Nicht-Aufsperren einer Tür als Freiheitsberaubung nach § 239 StGB strafbar ist - entsprechendes gilt für die Strafbarkeit des Nichtentfernens aus einer Wohnung trotz Aufforderung als Hausfriedensbruch nach § 123 StGB -, übersieht, daß auch der Dieb, der die Beute nicht herausgibt, einen rechtswidrigen Zustand aufrechterhält, nämlich seinen unrechtmäßigen Besitz, unabhängig davon, ob dieses Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes erfül1t. 13 Dabei ist unstrittig die Straftatbestandsmäßigkeit eines Verhal-

Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 19; Ebert, AT, S. 68. Hinsichtlich der Pflichten des D ist folgendes zu beachten: Aufgrund des Diebstahls hat er die Beeinträchtigung des Eigentums des E zu beseitigen. Wenn ihm die Rückgabe unmöglich werden sollte, muß er die Sachen eben wiederbeschaffen. 10

11 Deshalb darf auch der Eigentümer, der den flüchtigen Dieb verfolgt, Notwehr üben, weil der Dieb noch keinen gesicherten Gewahrsam erlangt hat.

12

Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 15.

Immerhin wird verschiedentlich die Auffassung vertreten, daß das Behalten der Beute durch den Dieb eine fortwährende Unterschlagung nach § 246 StGB darstellt, die somit als Dauerdelikt interpretiert wird. Eine entsprechende Strafbarkeit entfällt lediglich aus Kon13

11. Die Notwehrlage

279

tens keine Notwehrvoraussetzung. Der zweite Kritikpunkt besteht in einer Kategorienverwechslung. Wer die Nichtbeendigung eines rechtswidrig geschaffenen Dauerzustands als noch gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff durch aktives Tun bezeichnee 4 , verdeckt den Umstand, daß ein rechtswidriger Zustand nur durch die Vornahme einer Handlung behoben werden kann. Wenn dagegen der Verteidiger durch aktives Tun rechtswidrig bedroht ist, besteht die Pflicht des Angreifers darin, die Vornahme der verbotenen Handlung zu unterlassen. Durch Unterlassen kann aber kein Zustand verändert werden. In Wahrheit werfen deshalb die Dauerdelikte die Frage auf, ob gegen einen Angriff durch Unterlassen Notwehr zulässig ist, also ob und inwieweit die Vornahme einer Handlung gewaltsam erzwungen werden darf. 15 Vorerst bleibt festzuhalten, daß gebotswidriges Unterlassen schon in den Fällen kein Angriff ist, in denen ein bestehender Zustand eines Rechtsgutes nicht verschlechtert wird. 16 Wenn etwa durch einen Sturm ein Baum im Garten des B umknickt und in den Garten des A fallt, hat A gegenüber dem B einen Anspruch auf Beseitigung dieser Eigentumsstörung (§ 1004 Abs. 1 BGB). Ist dem B die Entfernung des Baumes möglich und bleibt er untätig, begründet sein pflichtwidriges Unterlassen dennoch keinen Angriff, weil die Störung des Eigentums des A nicht intensiviert wird. A kann gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen oder den Baum selbst beseitigen. Für die Fälle, in denen Selbsthilfe nur durch Einwirken auf eine Person möglich ist, muß nach der hier vertretenen Auffassung über eine Erweiterung der Selbsthilfebefugnis nachgedacht werden. Dies gilt etwa für den Fall, daß eine Freiheitsberaubung nur durch die Tötung des Wächters abgewendet werden kann, weil anders der Schlüssel für das Gefangnis nicht zu erlangen ist. 17

2. Angriff als zurechenbare Kooperationsverweigerung

Nachfolgend soll der Zusammenhang von Angriffsverhalten und Verletzungsrisiko untersucht werden. Dabei geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Schaffung oder Steigerung eines Risikos einem Angreiferverhalten zugerechnet werden kann. Bekanntlich ist umstritten, ob der Angriff schuldhaft, vorsätzlich oder mindestens fahrlässig sein muß. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die bereits vorgestellte Zurechnungslehre von Hruschka und Joerden. 18

kurrenzgründen (!); die Unterschlagung wird als mitbestrafte Nachtat behandelt, vgl. Eser in: Schönke/Schröder, § 246 Rn. 19. 14

So Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 11. S. dazu unten Abschnitt 11.4.

Anders ist dies im Gletscherspaltenfall und regelmäßig in Notstandssituationen, in denen jede weitere Untätigkeit die Gefahr für das Opfer erhöht. 16

17

Vgl. auch Joerden, JuS 1992, S. 28.

11

S. Teil E., Abschnitt 111.2.

280

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

a) Die Zurechnung auf der ersten Zurechnungsebene Auf der ersten Zurechnungsebene ist zunächst der vorsätzliche Angriff unproblematisch, da hier die den Erfolg unmittelbar herbeiführende Handlung "frei" und deshalb ordentlich zurechenbar ist. Probleme bereitet dagegen der fahrlässige Angriff, der nur außerordentlich zugerechnet werden kann. Diese Frage ist nach dem Grundprinzip der Notwehr festzulegen: Es geht um die Durchsetzung der Regelbefolgung auf Gegenseitigkeit. Damit scheidet entgegen einer vor allem im Zivilrecht vertretenen Auffassung 19 gegen sorgfaltsgemäßes Verhalten Notwehr von vorneherein aus. Zwar vennittelt die Einhaltung der Sorgfaltspflicht kein Eingriffsrecht. 20 Das zeigt sich am Beispiel eines Kraftfahrers, der die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhält. Begibt sich ein Fußgänger aus Unachtsamkeit auf die Fahrbahn, muß der Fahrer bremsen und darf den Fußgänger nicht etwa überfahren, selbst wenn dieser sich verkehrswidrig verhält. Durch das Verhalten des Fußgängers erweitern sich also die Sorgfaltsanforderungen an den Kraftfahrer in einer konkreten unfallgeneigten Situation. Bei sorgfaltsgemäßem Verhalten, wenn beispielsweise der Fahrer nicht mehr bremsen kann, ist jedoch die Erfolgszurechnung ausgeschlossen. 21 Nach der Terminologie Hruschkas erfordert die außerordentliche Zurechnung eine Obliegenheitsverletzung. Am Fehlen dieser Voraussetzung scheitert die Erfolgszurechnung. Noch weitergehend und daher abzulehnen ist die Konzeption Spendeis, der für einen Angriff nicht einmal ein finales Verhalten fordert. Vielmehr sollen auch Schlaf- oder Reftexhandlungen22 , ja sogar Tierangriffe die Verteidigungsbefugnis auslösen können. 23 Auf diese Weise meint

19 S. Enneccerus/Nipperdey, § 240 H. 2.; Larenz, AT, S. 217; Heinrichs in: Palandt, § 227 Rn. 5; von Feldmann in: MüKo, § 227 Rn. 5; Hefermehl in: Ennan, § 227 Rn. 5; Hans StolI, Handeln auf eigene Gefahr, S. 280 f.; Rudolf Schmidt, NJW 1960, S. 1706; ebenso Mezger, Strafrecht, S. 234; lescheck, Lehrbuch, S. 306; Kratzsch, Grenzen, S. 32; Spendei in: LK, 10. Aufl., § 32 Rn. 57; Geilen, Jura 1981, S. 256; Ebert, AT, S. 69; Bockelmann/Volk, S. 90; Zielinski, Handlungsunwert, S. 297 ff.; Choi, Notwehr, S. 14,31; ebenso die frühere

Rechtsprechung, s. OGHSt 1, S.273 (274); BGHSt 3, S. 194 (196). Die Zulassung der Verteidigung gegen Angriffe, die der Angegriffene nicht zu dulden brauche, entspricht der überholten Auffassung, s. Teil F., Abschnitt HI.1.e) 20 Vgl. Maiwald, Jescheck-FS, S. 423 f.; Zipf, ZStW 82, S. 635,646; Hellmann, Rechtfertigungsgründe, S. 67. Anders zu Unrecht Schumann, JuS 1979, S. 565, der bei unvenneidbarem Irrtum das Verhalten als rechtmäßig bewertet; dagegen zu Recht Schlüchter, JR 1987, S. 311, die aber ihrerseits die falsche Konsequenz zieht und Notwehr zulassen will. Wie hier bereits Zipf, ZStW 82, S. 642.

21

Vgl. Hirsch, Dreher-FS, S. 213; Fahse in: Soergel, § 227 Rn. 16.

Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 27, 62; ebenso Welzel, Strafrecht, S. 85; Baumann, AT, S. 310. 22

23

Spende I in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 44 unter Berufung auf § 90a BGB; im Wider-

11. Die Notwehrlage

281

Spendei, Wertungswidersprüche zu § 228 BGB vermeiden zu können. Ein Wertungswiderspruch zu § 228 BGB liegt jedoch nicht vor, da die Rechtsordnung nicht allgemein vor Unglück schützen will (casum sentit dominus!), sondern nur vor der Verletzung der eigenen Rechtssphäre durch die Mitmenschen.

Der Ansatz, der die Notwehr allein vom Erfolgsunrecht her interpretiert und gegen alle Rechtsgutsverletzungen, die der Angegriffene nicht zu dulden braucht, Notwehr zulassen Will 24, greift demgegenüber zu kurz. Bei der Notwehr geht es nicht um die Sicherung der Rechtssphäre gegen Beeinträchtigungen. Die verhaltenssteuernde Kraft der Rechtsordnung kann sich nur auf die Vermeidung von auf menschliches Verhalten zurückführbaren Rechtsgutsverletzungen beziehen. 25 Aufgabe der Notwehr ist es, diese Verhaltenssteuerung in den Fällen durchzusetzen, in denen sich der Angreifer gegen die Primärnormenordnung entschieden hat. Aus diesem Grund verlangen einige Autoren, daß der Angriff objektiv pflichtwidrig sein muß. 26 Aber auch diese Forderung geht noch nicht weit genug, denn sie nimmt keine Rücksicht darauf, ob der Angreifer subjektiv die erforderliche Sorgfalt einhalten kann. 27 Soweit jemand subjektiv nicht zu einem bestimmten Verhalten in der Lage ist, aber dennoch für die Folgen haften soll, obwohl diese Folgen weder ordentlich noch außerordentlich zurechenbar sind, wird der Schritt von der Verhaltenshaftung zur Risikohaftung vollzogen. 28 Die Notwehr knüpft jedoch nicht im Sinne der Lehre vom Erfolgs-

spruch zu seinem Ansatz, der sich arn Erfolgsunrecht orientiert, steht jedoch die These, daß kranke Tiere nicht notwehrfähig angreifen können (Rn. 45); zutreffend Jakobs, AT, 12/14 Fn. 20a. Wie Spendel aber eine früher vielfach vertretene Meinung, s. Teil F., Abschnitt III.l.e); ebenso noch Mezger Strafrecht, S. 233; Engisch, ZStaatsW 108, S. 394; Maurach, AT, S. 308. 24 Welzel, ZStW 58, S. 524; Kratzsch, Grenzen, S. 32; Spendei, in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 57; Geilen, Jura 1981, S. 256; Zielinski, Handlungsunwert, S. 297 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 306; Burkhard Koch, Rechtsbegriff, S. 60; Dilcher in: Staudinger, § 227 Rn. 11; Heinrichs in: Palandt, § 227 Rn. 5. 25

Vgl. auch Hirsch, Dreher-FS, S. 214 f.

26 Hirsch, Dreher-FS, S. 223 ff.; Felber, Rechtswidrigkeit, S. 147 ff.; Mylonopoulos, Verhältnis, S. 96; Kühl, Jura 1990, S. 252; Rengier in: KK-OWiG, § 15 Rn. 13; Deutsch, Haftungsrecht, S. 216; Damm in: AK-BGB, § 227 Rn. 11; Fuchs, Notwehr, S. 87, 95; im Ergebnis auch Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 21 und EserlBurkhardt, 12116, die jedoch zu Unrecht erst die Rechtswidrigkeit des Angriffs entfallen lassen. In Wahrheit fehlt es jedoch schon an einern zurechenbaren Verhalten (anders - und daher abzulehnen - Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 3). 27 Kein Ausweg ist es, die subjektiven Fähigkeiten zu generalisieren. Damit würden die Sorgfaltspflichten ausschließlich individuell bestimmt und der Ansatz, generelle - verkehrserforderliche - Sorgfaltsanforderungen zu entwickeln, in Wahrheit aufgegeben. 28

Vgl. Dörner, JuS 1987, S. 527.

282

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

unrecht an em Risiko als solches an, sondern an steuerbares menschliches Verhalten. Es soll nicht verschwiegen werden, daß sich die geschilderten Differenzen in Wirklichkeit nicht in dieser Schärfe stellen. Es ist nämlich durchaus denkbar, daß die betreffende Person für den Umstand, der ihr die Einhaltung der verkehrserforderlichen Sorgfalt unmöglich macht, verantwortlich ist. Hier greift wiederum eine außerordentliche Zurechnung ein. Diese Problematik wird schon seit langem unter dem Stichwort "Übernahmeverschulden" abgehandelt. Nach dem hier verfolgten Ansatz handelt es sich aber nicht um eine Frage der Schuld, sondern bereits um ein auf der ersten Zurechnungsebene zu behandelndes Problem.

Inzwischen sind wir bei der entscheidenden Frage angelangt: Erfordert die Notstandslage einen vorsätzlichen Angriff oder genügt bereits Fahrlässigkeit? Nach der weit überwiegenden Ansicht ist für den Angriff kein Vorsatz erforderlich. 29 Indes wird sich zeigen, daß nur ein ordentlich zurechenbarer Angriff die Verteidigung in Notwehr rechtfertigt. Die verhaltens steuernde Kraft der Rechtsordnung bezieht sich lediglich auf menschliches Verhalten. Dabei wird vorausgesetzt, daß das Verhalten "frei" ist, da eine Person ohne Verhaltensaltemative auch keine Möglichkeit besitzt, ihr Verhalten zu steuern. Die Notwehr knüpft an die Normen an, die die Rechte und Pflichten im Gegenseitigkeitsverhältnis regeln. Diese Normen verbieten Handlungen, die unmittelbare Risiken für fremde, absolut geschützte Individualinteressen herbeiführen, nicht jedoch die Risiken selbst. Zweck der Notwehr ist die Sicherstellung dieser Koordination und damit der Unterlassung von Verhaltensweisen, die die Koordination aufheben. Zwar gibt es Fälle, in denen in actu "unfreie" Handlungen außerordentlich als freie Handlungen zugerechnet werden können. Diese "actiones liberae in suae causae" können Normen im Gegenseitigkeitsverhältnis verletzen. Gegen die in actu "unfreie" Handlung ist dennoch Notwehr ausgeschlossen, da der Angreifer selbst nicht mehr in der Lage ist, die Koordination durch den Abbruch des Angriffs wiederherzustellen, denn er beherrscht das Geschehen nicht mehr. Hier ist allenfalls eine Beseitigung des durch das sorgfaltswidrige Vorverhalten geschaffenen Risikos möglich. Dies ist als Sicherung der Güterordnung Regelungszweck der Defensivnotstandsbefugnis. 30

29 Haas, Nothilfe, S. 250; Krause, Bruns-FS, S. 85; Lene/mer in: SchönkelSchröder, § 32 Rn. 24; Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 24; Suppert, Studien, S. 322; Wagner, Notwehrbegrundung, S. 52; Dilcher, Hübner-FS, S. 463; Kioupis, Notwehr, S. 71 f.

30 Zu weitgehend deshalb Perron in: EserlPerron, S. 87, der die Notwehr mit § 1004 BGB vergleicht.

11. Die Notwehrlage

283

Am bereits dargestellten Beispiel des Pistolenschützen31 sollen die bisherigen abstrakten Überlegungen verdeutlicht und durch weitere nonntheoretische Erwägungen abgesichert werden. A ist gegenüber B verpflichtet, nicht auf B zu schießen. A ist nicht gegenüber B verpflichtet, das Zielen mit einer ungeladenen Pistole auf B zu unterlassen, weil dadurch kein Risiko für Rechtsgüter von B geschaffen wird. 32 Ebenfalls ist A nicht gegenüber B verpflichtet, seine Pistole zu überprüfen. Entsprechend hat B gegenüber A keinen (einklagbaren) Anspruch darauf, daß A seine Waffe ordnungsgemäß behandelt. Entscheidend ist allein, daß A nicht auf B schießt. Wie A seine Venneidefahigkeit sicherstellt, ist ausschließlich Sache des A. 33 Die Notwehrbefugnis vennittelt dem B die rechtliche Möglichkeit, den A zu zwingen, in einer konkreten Angriffssituation den Schuß auf B zu unterlassen. Jedoch soll nicht das Risiko als solches verhindert werden, sondern die Kooperationsverweigerung seitens des A. Das ist nur möglich, wenn A eine Verhaltensalternative zur Verfügung steht, die er auf den Zwang des B ergreifen kann. Also muß der Angriff des A in actu "frei", d.h. vorsätzlich sein. Im Beispielsfall irrte sich A darüber, daß die Pistole geladen war. Mangels Tatbewußtsein hatte er keine Möglichkeit, sein Verhalten in Anbetracht der Konsequenzen zu steuern. Die letzte Steuerungsmöglichkeit hatte A vergeben, als er die Pistole nicht geprüft hatte. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit hat A dem B jedoch nicht geschuldet. Da A aber für B durch seine in actu "unfreie" Handlung ein Risiko begründet, steht dem B zur Gefahrenabwehr die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis zur Verfügung. 34 b) Die Zurechnung auf der zweiten Zurechnungsebene In der Konsequenz dieser Ausführungen ist auch auf der zweiten Zurechnungsebene ein ordentlich zur Schuld zurechenbarer Angriff zu verlangen. Im Gegensatz zur überwiegenden Auffassung muß der Angriff daher schuldhaft

31

S. oben S. 155.

32 Um die Argumentation nicht zu verkomplizieren, sollen die Fälle, in denen A den B durch einen Scheinangriff erschrecken will, außer Acht gelassen werden. In Betracht käme hier ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit (Schock) und die Willensfreiheit, vgl. ausführlich dazu Born, Rechtfertigung. 33 Vgl. dazu Hruschka, Bockelmann-FS, S. 427. Indes läßt sich die Frage aufwerfen, ob die Sicherstellung der Vermeidefahigkeit nicht im Interesse der Allgemeinheit liegt. In diesem Sinne werden häufig Allgemeininteressen als den Gefährdungsdelikten zugrundeliegende Rechtsgüter angesehen. Zur Verhinderung von Handlungen, die lediglich Allgemeininteressen verletzen, ist Notwehr unzulässig.

l4 Im Ergebnis ebenso Schumann, JuS 1979, S. 565, der zuerst eine Irrtumsaufklärung fordert. Erst wenn A nach entdecktem Irrtum weiterhandelt, liegt ein notwehrfähiger Angriff auf B vor.

284

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

sein. 35 Kein notwehrfahiger Angriff liegt in den Fällen einer Rauschtat (§ 323a StGB) oder einer im Hinblick auf den Angriff vorwerfbar herbeigeführten Schuldunfähigkeit (actio libera in causa) vor. 36 Das läßt sich am Beispiel des betrunkenen C, der eine Fensterscheibe einwirft, zeigen. 37 Zum Zeitpunkt der Tat ist ewegen Schuldunfähigkeit nicht mehr in der Lage, sich für die Aufrechterhaltung der Koordination zu entscheiden. Durch das Sich-Betrinken verletzte e aber keine Pflicht gegenüber dem D, sondern er schuf nur das Risiko einer künftigen Pflichtverletzung. Die Argumentation verläuft also auf beiden Zurechnungsebenen parallel. Die jeweiligen Obliegenheiten i.S. der Lehre von Hruschka - Erhaltung der Handlungsfähigkeit, Erhaltung des Tatbewußtseins, Erhaltung der Fähigkeit, die eigenen Handlungen richtig zu bewerten, Erhaltung der Fähigkeit, die eigenen Handlungen an dieser Bewertung auszurichten - werden nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis geschuldet. Ihre Verletzung begründet daher allenfalls eine Defensivnotstandslage. Mit dem unsorgfältigen Verhalten anderer muß man rechnen und sich darauf einstellen. Dies verlangt die Pflicht zur solidarischen Rücksichtnahme. Eine rigorose Abwehr ist unzulässig. Nochmals kurz zusammengefaßt geht es bei der Notwehr im Unterschied zur Defensivnotstandsbefugnis nicht um die Abwehr einer Störung der Gleichheit der Rechtssphären, sondern um die Abwehr einer Störung der Koordination zwischen Angreifer und Verteidiger. Daher ist erforderlich, daß der Angreifer vollverantwortlich handelt, da er sich nur dann für die Kooperation mit dem Verteidiger entscheiden kann. Solange der Angreifer sein Verhalten entsprechend steuern kann, darf man ihn allein mit den Kosten der Angriffsabwehr belasten. Deshalb ist Notwehr nur gegen einen vorsätzlichen und schuldhaften Angriff zulässig. 38

3S Dagegen etwa BGHSt 3, S. 217 (218); Lenckner in: SchönkeJSchröder, § 32 Rn. 24; Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 26, 62; Wagner, Notwehrbegründung, S. 52; Dilcher, Hübner-FS, S. 463; Johannsen in: RGRK, § 227 Rn. 14. 36

Anders Krause, Bruns-FS, S. 85; ders., GA 1979, S. 333; Fechner, Grenzen, S. 199.

37

S. oben S. 155.

S. Hruschka, Strafrecht, S. 141 f.; ähnliche modem anmutende, den Unterschied zwischen Güterschutz im Notstand und Rechtsdurchsetzung in Notwehr herausstellende Bemerkungen finden sich bereits bei Hälschner, System, S. 263 f.; Stammler, Darstellung, S. 3; zu Dohna, Rechtswidrigkeit, S. 130 ff.; [jjffler, Entwurf, S. 33. Wie hier auch von Bressendorf, Notwehr, S. 139; Eue, JZ 1990, S. 766; Frister, GA 1988, S. 305 f.; Neumann, Zurechnung, S. 167; Jakobs, AT, 12/18. 38

11. Die Notwehrlage

285

c) Einwände Gegen die hier vertretene Notwehrauffassung, die zur Begründung der Notwehrlage einen vorsätzlichen und schuldhaften Angriff verlangt, werden mehrere Einwände vorgebracht, die indes nicht durchschlagen. Der Vorwurf der weitgehenden Schutzlosigkeit desjenigen, der dem "Angriff' eines schuldlos Handelnden ausgesetzt is~9, übersieht, daß dem ,,Angegriffenen" die Möglichkeit der defensiven Gefahrenabwehr eröffnet wird. Insofern wird ihm zwar eine gewisse Rechtsgutseinbuße zugemutet, da er der Gefahr ausweichen muß bzw. durch die Gefahrenabwehr keinen wesentlich überwiegenden Schaden herbeiführen darf. Dieses Solidaritätsopfer ist aber deshalb zumutbar, weil es in den Fällen der fehlenden Eigenverantwortlichkeit des "Angreifers" für sein Verhalten nur noch um die Gewährleistung der Güterzuordnung geht. Der Schutz der eigenen Rechtssphäre vor Gefahren, die von fremden Rechtssphären drohen, wird von der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis geregelt. Dagegen knüpft die Notwehr nach dem Sprichwort: "Wie Du mir, so ich Dir" an eine zurechenbare Pflichtverletzung an. Im übrigen fordern die Befürworter einer sozialethischen Einschränkung ebenfalls von dem Angegriffenen einen vergleichbar weiten Rechtsverzicht. 40 Aus diesem Grund überzeugt auch der Hinweis auf die Belastung des Angegriffenen mit dem Irrtumsrisik041 nicht. Zum einen legen die Befürworter von sozialethischen Einschränkungen nicht dar, daß ihre Lösung ein derartiges Irrtumsrisiko venneidet. Des weiteren sollte man dieses Risiko nicht überbewerten, da gegen einen sich irrenden Verteidiger Notwehr ausgeschlossen ist. Obwohl der Irrtum für den Verteidiger kein Abwehrrecht begründen kann, fehlt es in diesem Fall an einem zurechenbaren Angriff des Verteidigers, der seinerseits Voraussetzung für eine Notwehrbefugnis des venneintliche Angreifers wäre. Fehl geht der Einwand, die hier vertretene Auffassung verwische die Grenze zwischen Unrecht und Schuld, die durch das Notwehrrecht verdeutlicht werden solle. 42 Nichts liegt dem Notwehrrecht ferner. § 32 StGB setzt als Metanonn

39 S. schon RGSt 27, S.44 (46); Felber, Rechtswidrigkeit, S. 121; Kühl, Jura 1990, S. 252; Mylonopoulos, Verhältnis, S. 125; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 63; Scheffler, Jura 1992, S. 354.

40 S. BayObLG, JR 1987, S. 345; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 52; Roxin, AT, § 15 Rn. 55; Kühl, Jura 1990, S. 252. 41 Roxin, AT, § 15 Rn. 18; Wagner, Notwehrbegründung, S. 52,81; Hirsch, Dreher-FS, S. 218; Choi, Notwehr, S. 26; Kioupis, Notwehr, S. 69; Deutsch, Haftungsrecht, S. 219. 42

Roxin, ZStW 93, S. 83; ders., AT, § 15 Rn. 18.

286

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

die Bestimmung der Rechte und Pflichten im Gegenseitigkeitsverhältnis gerade voraus. Die "Ab schichtung von rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten"43 ergibt sich nicht aus § 32 StGB, sondern fordert einen Blick auf die Verhaltensanweisungen der Gesamtrechtsordnung. Ernstzunehmen ist eher die Kritik, das hier vorgestellte Notwehrverständnis verkehre den entschuldigenden Notstand in einen Rechtfertigungsgrund, obwohl § 35 StGB den Punkt markiere, an dem die Toleranzgrenze menschlicher Solidarität überschritten werde. 44 Bei näherer Betrachtung läßt sich dieser Einwand zurückweisen. Soweit ein Rechtfertigungsgrund ein Eingriffsrecht vermittelt, ist jegliche Abwehrmaßnahme zur Verhinderung des Eingriffs untersagt. Der Betreffende kann sich also weder auf Notwehr noch auf rechtfertigenden (Defensiv-)Notstand stützen. Eingriffe gemäß § 35 StGB begründen jedoch kein Eingriffsrecht, sondern lösen nach der hier vertretenen Auffassung eine defensive Abwehrbefugnis aus. Soweit der Betroffene entsprechend § 228 BGB ein Solidaritätsopfer erbringen muß, handelt es sich um nichts anderes als die Solidarität, die auch dem Aggressivnotstandstäter geschuldet wird. 45 Da § 35 StGB gerade durch eine Überschreitung dieser Opfergrenze gekennzeichnet ist, wird der Betroffene in der Regel faktisch eine volle Abwehrbefugnis haben. Beim Angriff eines Täters, der im entschuldigenden Notstand des § 35 StGB handelt, zeigt sich die Spiegelbildlichkeit von Aggressiv- und Defensivnotstand. Soweit der Täter sich auf rechtfertigenden Aggressivnotstand berufen könnte, scheidet für das Eingriffsopfer eine Defensivnotstandsbefugnis aus, denn das Interesse des Täters überwiegt die Interessen des Eingriffsopfers wesentlich. Handelt der Täter aber im Notstand des § 35 StGB, überwiegen seine Interessen die Interessen des Eingriffsopfers nicht mehr wesentlich. Deshalb steht dem Eingriffsopfer die Defensivnotstandsbefugnis zur Verfügung.

In eine ähnliche Richtung weist die vor allem früher erhobene Kritik, die Notwehr sei keine Strafe, sondern solle dem Angegriffenen seine Rechtsstellung erhalten, die nicht vor einem höheren Recht des Angreifers zurückweichen müsse. 46 Diese Auffassung wird vor dem Hintergrund eines absolut durchgeführten Autonomieprinzips verständlich, nach der die Notwehr jede Beeinträchtigung der Freiheitssphäre des Verteidigers verhindern sollte. 47 Inzwischen ist dieses Verständnis überholt. So ist es lediglich ein Zufall, daß an die Kooperationsverweigerung des Angreifers als Voraussetzung für einen vorläufigen Kooperationsabbruch des Verteidigers ähnliche Anforderungen gestellt werden

43

Von Roxin, AT, § 15 Rn. 18 zu Unrecht als präventiver Sinn der Notwehr bezeichnet.

45

S. Teil F., Abschnitt 1II.2.a)cc)

Felher, Rechtswidrigkeit, S. 146; Hirsch, Dreher-FS, S. 218. 46

Vgl. Levita, Notwehr, S. 186; Frank, StGB, § 53 Anm. 1.2.

41

S. Teil F., Abschnitt III.l.e)

11. Die Notwehrlage

287

wie an eine Straftat als Voraussetzung staatlicher Repression. 48 Soweit allerdings die Kriterien für die Schuldzurechnung strafrechtsteleologisch bestimmt werden, folgen daraus nicht gleiche Maßstäbe für die Zurechenbarkeit als notwehrfähiger Angriff. So könnte man etwa daran denken, auch in den Fällen des § 21 StGB einen notwehrfähigen Angriff zu verneinen, obwohl bei diesen Tätern die Strafe nur gemildert werden kann. Der am häufigsten vorgetragene Einwand beruft sich auf den Gesetzeswortlaut. Der hier entwickelten Auffassung wird ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vorgeworfen. 49 Angesichts der Tatsache, daß dieselben Kritiker bei der Entwicklung sozialethischer Schranken über eine sogenannte ,,Auslegung" der "Gebotenheit" wenig Wert auf die Beachtung der Wortsinngrenze legenSO, fehlt dieser Kritik die Überzeugungskraft. Warum soll man nicht ein geschriebenes Merkmal unter Bezugnahme auf den Grundgedanken der Notwehr eng auslegen? Der Hinweis auf den entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers überzeugt dagegen nicht. Der Gesetzgeber wollte gegen Angriffe schuldlos

48 Wenn gegenüber schuldlos handelnden Tätern nach den §§ 61 ff. StGB gleichwohl staatliche Maßnahmen vorgesehen sind, könnte man von einer öffentlich-rechtlichen Defensivnotstandsbefugnis sprechen. Denn der Grundgedanke ist derselbe: Es geht um die Abwehr einer Gefahr für die Güterordnung, die von einem Menschen deshalb ausgeht, weil er sich nicht zu normgemäßem Verhalten motivieren kann. Dies verkennt Mylonopoulos, Verhältnis, S. 125. 49 Hirsch, Dreher-FS, S. 216; Lenckner in: SchönkeiSchröder, § 32 Rn. 24; Ludwig, Angriff, S. 107 ff.; Roxin, ZStW 93, S. 82; Wagner, Notwehrbegründung, S. 52; Kühl, Jura 1990, S. 251; Bitzilekis, Einschränkung, S. 111; Born, Rechtfertigung, S. 53; Ludwig, Angriff, S. 109 f.; Choi, Notwehr, S. 26; Kioupis, Notwehr, S. 69; Deutsch, Haftungsrecht, S. 219.

so Zu Recht schreibt Hellmuth Mayer, AT, S. 202 über die "sozialethischen Einschränkungen": ,,Das Gesetz weiß davon nichts." Die "Gebotenheit" läßt sich im Notwehrkontext lediglich als hypothetischer Imperativ, nicht aber als normative Einschränkung interpretieren, s. Schmidhäuser, Honig-FS, S. 190; ders., GA 1991, S. 133 f.; Bertel, ZStW 84, S. 1 f.; Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 256; zur Bedeutung des Wortes "Gebot" in der deutschen Sprache s. Duden, Bd. 3, Stichwort: "Gebot". Indes wird die Geltung von Art. 103 Abs. 2 GG für die Rechtfertigungsgründe vielfach bestritten, etwa von Krey, Studien, S. 234 ff.; Roxin, AT, § 5 Rn. 42, § 15, Rn 52; Rudolphi, Armin Kaufmann-GS, S. 371 Fn. 3; Meißner, Interessenabwägungsformel, S. 59; ablehnend demgegenüber BGH, NJW 1993, S. 141 (147); Engels, GA 1982, S. 119 f.; Hillenkamp, Vorsatztat, S. 169 f.; Hirsch, Tjong-GS, S. 59 f.; Kratzsch, GA 1971, S. 71 f.; Krause, GA 1979, S. 330; Seebode, Krause-FS, S. 381 ff. Nach anderer Auffassung reicht die Beachtung der Grundgedanken der Rechtfertigungsnorm aus, so etwa Lenckner in: SchönkeiSchröder, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 25, § 32 Rn. 43; Ouo, AT, S. 112 f.; Bernd Schünemann, GA 1985, S. 370 f.; im Ergebnis wird hierbei jedoch die Wortsinngrenze durch teleologische Auslegung überspielt. Darüber hinaus lassen sich Kriterien für eine zulässige Reduzierung der Notwehr auf ihre ,,immanenten" Grenzen gegenüber einer unzulässigen Einschränkung "von außen" nicht angeben, s. Engels, GA 1982, S. 124; Hirsch, Tjong-GS, S. 62.

288

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

Handelnder eine Abwehrbefugnis zulassen. Dabei hat er nicht gesehen, daß diesem Bedürfnis durch die Anerkennung einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis wertungswiderspruchsfrei Rechnung getragen wird. Darin liegt keine "fragwürdige" Verlagerung der Notwehr in den Notstandsbereich51 , sondern eine sach- und systemgerechte Lösung. Soweit man allerdings den Bedenken aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt, die vor allem daraus resultieren, daß das Merkmal ,,rechtswidriger Angriff' anhand der strafrechtlichen Dreiteilung Tatbestandsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit - Schuld geprüft wird, wäre eine entsprechende Gesetzesänderung zu verlangen. Zuvor bestünde jedenfalls für das Zivilrecht kein Grund, die Notwehrbefugnis nicht entsprechend den hier gemachten Vorschlägen zu interpretieren. Dabei ist es kein Hindernis, daß im Zivilrecht Fragen der Schuld, so wie dieser Begriff im Strafrecht verstanden wird, allenfalls eine untergeordnete Bedeutung haben. Im Zivilrecht geht es vor allem um die Abgrenzung von Rechtssphären und um die Verteilung der Haftung für Schäden. Diese Probleme sind Regelungsgegenstand primärsprachlicher Regeln. Metasprachliche Normen müssen nicht anhand derselben Kategorien ausgestaltet sein.

3. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs Die Beurteilung der Gegenwärtigkeit des Angriffs richtet sich nach dem Angriffsverhalten. Hierfür ist auf die konkrete Handlung des Angreifers abzustellen, die im Regreß einer Ursachenkette als letzte Ursache vor dem Erfolgseintritt steht.52 Deshalb ist etwa bei einem Bombenleger der Angriff durch Tun ausgeschlossen, sobald er den Sprengsatz angebracht hat. Soweit er die Sprengladung noch entfernen oder Personen, die sich im Gefahrenbereich aufhalten, warnen kann, stellt sich die Problematik des Angriffs durch Unterlassen. 53 Ist die Lage der Bombe bekannt und eine Entschärfung nicht möglich, sind keine Abwehrmaßnahmen gegen den Bombenleger zulässig. Dieses Beispiel belegt nochmals, daß der Eintritt der Rechtsgutsverletzung von der Steuerbarkeit durch den Angreifer abhängen muß, um eine Notwehrlage begründen zu können. Hat der "Angreifer" die Steuerbarkeit aus der Hand gegeben, kommt als einzig erfolgversprechende Gefahrenabwehr die Zerstörung des Angriffsmittels oder ein Ausweichen in Betracht54 - wie in einer Defensivnotstandssituation.

SI

Roxin, ZStW 93, S. 84; Bitzilekis, Einschränkung, S. 115.

52

S. Teil E., Abschnitt III.2.

Vgl. Frister, GA 1988, S. 307; dagegen Jakobs, AT, 12/26; Samson in: SK, § 32 Rn. 20 f. 53

Vgl. Born, Rechtfertigung, S. 70.

11. Die Notwehrlage

289

Die sogenannte "Präventivnotwehr" wird durch § 32 StGB nicht gerechtfertigt, da die Vorbereitung eines Angriffs das auserwählte Opfer noch nicht in seiner Rechtssphäre verletzt und deshalb das Unterlassen der Vorbereitung nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis geschuldet wird. Die endgültige Durchführung des rechtswidrigen Angriffs steht erst noch bevor, so daß für eine Angriffsabwehr kein Raum ist. 55 In Betracht kommt lediglich die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Angriffsgefahr nicht anders abwendbar sein darf. 56

4. Angriff durch Unterlassen? Die Frage, ob auch Unterlassen eine Notwehrlage begründen kann, ist umstritten. Nach einer Auffassung soll jede Rechtspflicht zum Tätigwerden genügen. 57 Andere verlangen das Vorliegen einer Garantenpflicht, womit Notwehr zur Erzwingung der Jedermann-Hilfeleistungspflicht des § 323c StGB ausgeschlossen wäre. 58 Starken Bedenken sieht sich die Ansicht ausgesetzt, die eine straf- oder ordnungsrechtlich sanktionierte Handlungspflicht fordert59 , da sie sich nicht mit der allgemein akzeptierten Annahme vereinbaren läßt, daß notwehrfähige Angriffe nicht einen Straftatbestand zu erfüllen brauchen. Noch enger hält Hruschka lediglich das Unterlassen eines Sicherungsgaranten für einen rechtswidrigen Angriff. Jedenfalls dann, wenn der Sicherungsgarant durch rechtswidriges Vorverhalten das Risiko einer Rechtsverletzung geschaffen habe, sei er dafür verantwortlich, daß sich die Gefahr nicht verwirkliche. Insofern sei die Situation dem Angriff durch Begehen vergleichbar. Beidemal könne die abzuwehrende Gefahr auf ein Verhalten des Angreifers zurückgeführt wer-

55 Vgl. auch Hillenkamp, Vorsatztat, S. 117; Mitsch, JA 1989, S. 84 Fn. 74. Aus spieltheoretischer Sicht gelangt Axelrod Cooperation, S. 113 ff. zur Kooperationsregel: "Don't be the first to defect!" Zum Angriffsbeginn s. im übrigen Roxin, Tjong-GS, S. 142 ff.; Lenckner in: SchönkeJSchröder, § 32 Rn. 14; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 118 ff.; Kühl, Beendigung, S. 151 ff.; aus der Rechtsprechung RGSt 53, S. 132; 55, S. 82; 64, S. 101; 65, S. 159; 66, S. 244; 67, S. 337; BGH, NJW 1973, S. 255. 56

Instruktiv dazu BGHSt 39, S. 133 ff. m.krit.Anm. Lesch, StV 1993, S. 580 ff.

Vgl. OGHSt 3, S. 121 (\23); BayObLG, NJW 1963, S. 824; Maurach, AT, S. 308 f.; Jakobs, AT, 12/21; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 47; EserlBurkhardt, 10/8; BaumannIWeber, S. 295; Deutsch, Haftungsrecht, S. 215; s. auch Raz, Morality, S. 416. 57

58 Vgl. Roxin, AT, § 15 Rn. 11 ff.; Stratenwerth, AT, Rn. 418; Wesseis, AT, S. 95; Dilcher in: Staudinger, § 227 Rn. 6; früher schon August Köhler, AT, S. 343 f. 59

So Jescheck, Lehrbuch, S. 304.

19 Renzikowski

290

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

den. 60 Teilweise wird die direkte Anwendung des § 32 StGB auf Unterlassen abgelehnt, weil ein Angriff schon begrifflich ein aktives Tun erfordere. 61 Der Unterscheidung von Begehen und Unterlassen ist grundsätzlich zuzustimmen. Bei einem Angriff durch aktives Tun setzt der Angreifer durch sein Verhalten das Risiko für eine Verletzung des Angriffsopfers. Die Verteidigung soll - wie bereits gezeigt - die gefahrschaffende Handlung selbst verhindern. Dagegen geht es im Falle des Unterlassens nicht um die Abwendung eines Risikos durch den Verteidiger selbst. Vielmehr soll der "Angreifer" gezwungen werden, die Rettungshandlung vorzunehmen und dadurch den Kausalverlauf zwischen Risiko und Rechtsgutsverletzung zu unterbrechen. 62 Der Streit zwischen den Alternativen, entweder bei Unterlassen einen Angriff LS.v. § 32 StGB zu verneinen und diese Vorschrift analog heranzuziehen63 oder durch eine entsprechend weite Auslegung des Begriffs "Angriff' § 32 StGB unmittelbar anzuwenden, kann vorerst dahinstehen. Entscheidend ist zunächst die Frage, ob auch die Verletzung einer Handlungspflicht eine Kooperationsverweigerung darstellt oder ob sich diese Pflichten signifikant von den Unterlassungspflichten unterscheiden. Einen Lösungsansatz scheint zunächst der Gesichtspunkt der Herrschaft über die Gefahrenquelle anzubieten. Beim Angriff durch Tun besitzt der Angreifer die Herrschaft über die Gefahrenquelle, soweit er freiverantwortlich handelt, denn er kann den Angriff unterlassen; er ist quasi selbst Gefahrenquelle. In diesem Sinne ist jedoch die Beherrschbarkeit der Gefahr ebenfalls ein Merkmal der unechten Unterlassungsdelikte, da sie nichts anderes besagt, als daß der Rettungspflichtige die gebotene Handlung vornehmen und damit die Gefahr abwenden kann. Soweit durch diesen Begriff aber etwas anderes gemeint wird, nämlich die garantenpflichtbegründende Urheberschaft für eine Gefahr, ist ein Blick auf den Angriff durch Tun interessant. Wie ich bereits gezeigt habe, dient

60 Hruschka, Dreher-FS, S. 201; ders., JuS 1979, S. 393; ebenso Maurach/Zipf, § 26 Rn. 9; Fuchs, Notwehr, S. 79; ähnlich auch Schmidhiiuser, Studienbuch, 6/59. 61 Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 10; Felber, Rechtswidrigkeit, S. 194; Haas, Nothilfe, S. 305; Baumann, AT, S. 309; BockelmannIVolk, S. 89; Fahse in: Soergel, § 227 Rn. 1; von Feldmann in: MüKo, § 227 Rn. 2; Hefermehl in: Erman, § 227 Rn. 7; Heinrichs in: Palandt, § 227 Rn. 2; Joerden, JuS 1992, S. 26 f.; Vogel, Norm, S. 112; ebenso früher die h.L., vgl. RGSt 19, S. 298; Allfeld, Lehrbuch, S. 126; Binding, Handbuch, S.736; H. A. Fischer, Rechtswidrigkeit, S. 216; Titze, Notstandsrechte, S. 77; Frank, StGB, § 53 Anm. I; Knetsch, Notwehr, S. 13; Schleifenbaum, StrafrAbh 54, S. 46; Liszt/Schmidt, S. 194 Fn. 2; Hellmuth Mayer, AT, S. 203. Kritisch dazu W. B. Schünemann, Selbsthilfe, S. 43 f.

62

Instruktiv zur Struktur der Unterlassungskausalität Joerden, Relationen, S. 48 ff.

So Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 10; Felber, Rechtswidrigkeit, S. 195; Joerden, JuS 1992, S. 27; gegen die Berufung auf den Gesetzeswortlaut La8odny, GA 1991, S.302. 63

II. Die Notwehrlage

291

die Notwehr der Verhinderung der konkreten Handlung selbst, durch die verbotenerweise das Risiko einer Rechtsgutsverletzung gesetzt und damit die Pflicht im Gegenseitigkeitsverhältnis verletzt wird. Sobald die Handlung abgeschlossen ist, ist eine Verteidigung gegen diesen Angriff nicht mehr zulässig. Vielmehr richtet sich die Gefahrenabwehr nach den Regeln des defensiven Notstands - soweit nicht in dem Unterlassen der Gefahrenabwendung ein neuerlicher Angriff gesehen werden kann. Entgegen den Überlegungen von Hruschka64 bedeutet dies, daß die Tatsache, daß jemand bereits eine Gefahr geschaffen hat, für sich keine Notwehrbefugnis auslösen kann. Ein anderer Vorschlag differenziert danach, ob die unterlassene Erfolgsabwendung als Rechtsgüterverletzung zurechenbar ist. Demnach ergebe sich aus § 13 StGB die Begrenzung des Unterlassungsangriffs auf Garantiepflichtige.65 Nach dieser Auffassung scheidet die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) deshalb aus, weil sie nicht als Rechtsgutsverletzung strafbar sei und deshalb auch keinen Rechtsgutsangriff begründe. 66 In der Tat kommt es auf die Verknüpfung von Handlungspflicht und Rechtsgutsverletzung an. Allerdings dürfen sich die Überlegungen nicht ausschließlich auf § 323c StGB oder § 13 StGB stützen. Entscheidend sind vielmehr die zugrundeliegenden Normen. Abgesehen von unterschiedlichen Opfergrenzen verlangen die Verhaltensanweisungen von den Garanten oder dem unbeteiligten Jedermann jeweils das gleiche: Der Verpflichtete soll durch sein Verhalten dazu beitragen, daß eine Gefahr von dem bedrohten Interesse abgewendet wird. Soweit ihm selbst die Rettungshandlung möglich ist, hat er sie auch vorzunehmen. Inhalt der Pflicht ist immer die erforderliche Hilfeleistung, und das bedeutet, daß jeder Pflichtige im Rahmen seiner Hilfeleistungspflicht für die Abwendung der Gefahr vom bedrohten Rechtsgut verantwortlich ist. 67

64 Hruschkn, JuS 1979, S. 393. Hruschkn übersieht, daß es bei der Notwehr nicht um die Abwehr einer Gefahr, sondern um die Verhinderung eines bestimmten Verhaltens geht. Daher kann es von vornherein nicht darauf ankommen, ob der Handlungspflichtige irgend etwas mit der Gefahr zu tun hat.

6S

Roxin, AT, § 15 Rn. 11.

Roxin, AT, § 15 Rn. 13. Wenn eine unterlassene Hilfeleistung keine zivilrechtliehe Schadenersatzpflicht nach sich zieht, könnte man daraus schließen, daß die Hilfeleistungspflicht keine Individualinteressen schützt. Indes ist die Frage, ob § 323c StGB als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB anzusehen ist, umstritten; dafür etwa Drees in: Erman, § 823 Rn. 132; Mertens, AcP 178, S. 247; Zeuner in: Soergel, 11. Aufl., § 823 Rn. 138; dagegen Deutsch, AcP 165, S. 202; Dütz, NJW 1970, S. 1825; Schäfer in: Staudinger, § 823 Rn. 298; Thomas in: Palandt, § 823 Rn. 154; differenzierend Steffen in: RGRK, § 823 Rn. 136. 66

67 S. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 208; Welzel, Strafrecht, S. 471; Hruschkn, Strafrecht, S. 428; vgl. auch BGHSt 21, S. 50 (54); JR 1956, S. 347. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen, S. 60 ff. und Seelmann, Solidaritätspflichten, S. 302 weisen mit Recht

19·

292

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

An folgenden Beispielen soll dies illustriert werden: Ein Vater muß in den fluß springen, um seinen ertrinkenden Sohn zu retten. Ebenso hat ein unbeteiligter Spaziergänger die Pflicht, ins Wasser zu springen, um einen Ertrinkenden zu retten. Der Unterschied zwischen diesen Pflichten besteht in der Opfergrenze: Während der Vater seine Gesundheit riskieren muß, ist dem Spaziergänger nur eine für ihn relativ ungefahrliche Hilfeleistung zumutbar. Der Spaziergänger erfüllt seine Hilfeleistungspflicht dann jedoch nicht, wenn er einen Bewußtlosen aus dem Wasser zieht, danach aber notwendige Wiederbelebungsmaßnahmen unterläßt, weil er ,ja schon etwas getan hat". In einem anderen Beispiel hat der Vater, der seinen Sohn wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus bringt, seine Erfolgsabwendungspflicht (!) als Garant erfüllt, obwohl er die rettende Operation nicht selbst durchführt.

Der Ausschluß der Notwehr bei "Angriffen durch Unterlassen" beruht offenbar auf der Meinung, diese Probleme durch eine Interessenabwägung sachgerechter lösen zu können. Das zeigt etwa der Verweis auf § 240 Abs. 2 StGB, der eine Zweck-Mittel-Abwägung verlangt68 ; dies belegen auch Hinweise auf § 34 StGB. 69 Diese Auffassung gewinnt viel Plausibilität dadurch, daß alle Handlungspftichten auf Interessenabwägungen beruhen, mag auch die Opfergrenze jeweils unterschiedlich hoch sein. So kann man die Angemessenheit bezweifeln, einen Hilfsunwilligen notfalls zu töten, obwohl das Unterlassen des Jedennann selbst nach § 323c StGB schon bei einem nicht unerheblichen Risiko für die körperliche Unversehrtheit nicht rechtswidrig ist. Diese Argumentation bezieht sich zunächst nur auf die zwangsweise Durchsetzung von Rettungshandlungspjlichten. Wirft man jedoch einen Blick in die Rechtsgeschichte, so findet sich eine parallele Argumentation für die Zwangsdurchsetzung von Rettungsduldungspjlichten in Notstandssituationen. Im Notstand habe zwar der Gefährdete das Recht, andere geringerwertige Interessen zu beeinträchtigen. Wenn sich das Eingriffsopfer jedoch gegen den gerechtfertigten Eingriff zur Wehr setze, dürfe der Notstandstäter dagegen nicht gewaltsam vorgehen. Die Gegenwehr sei nämlich kein rechtswidriger Angriff, sondern lediglich eine

darauf hin, daß man zwischen dem Inhalt der Pflicht und der strafrechtlichen Haftung unterscheiden muß. A.A. hingegen jüngst Vogel, Norm, S. 103. 68

S. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 11; Schmidhäuser, Studienbuch, 6/59.

Vgl. Roxin, AT, § 15 Rn. 13. Methodisch verfehlt ist jedoch seine Kritik an Spendei. Roxin meint, man dürfe zur Rettung eines Verunglückten gegen einen Autofahrer maßvolle Gewalt anwenden. Zwar kollidierten gleichwertige Güter, aber § 323c StGB gebe bei der Interessenabwägung nach § 34 StGB den Ausschlag zugunsten des Verunglückten. Dabei übersieht Roxin, daß auch § 323c StGB eine Abwägung zugrundeliegt, und daß die Frage, ob eine Pflicht zwangsweise durchgesetzt werden kann, nichts mit § 34 StGB, der einer gänzlich anderen Kategorie angehört, zu tun hat; zutreffend die Erwiderung von Spendei in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 47 Fn. 98. Bezeichnenderweise kommt Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 11 zum entgegengesetzten Ergebnis: Ein Arzt dürfe nicht durch Prügel zur Erfüllung seiner Hilfeleistungspflicht gezwungen werden. Vgl. auch Hruschka, JuS 1979, S. 389 f.; Joerden, JuS 1992, S. 28. 69

11. Die Notwehrlage

293

rechtswidrige Verteidigung. 7o Dieser Auffassung liegt eine Feststellung zugrunde, die sowohl auf Rettungshandlungs- als auch auf Rettungsduldungspflichten zutrifft und diese von den anderen Unterlassungspflichten unterscheidet. Während bei den gewöhnlichen Unterlassungspflichten eine Handlung verboten wird, die ein Risiko für ein rechtlich geschütztes Interesse hervorbringt, geht es bei den Rettungshandlungspflichten um die Abwehr einer Gefahr durch den Verpflichteten selbst, bei den Rettungsduldungspflichten um die Abwehr der Gefahr durch einen anderen mittels eines Eingriffs, den der Verpflichtete zu dulden hat. Damit bezwecken die letztgenannten Pflichten nicht die Verhinderung der Entstehung eines Risikos, sondern die Ermöglichung der Beseitigung eines Risikos. Wer eine Rettungshandlungs- oder Rettungsduldungspflicht verletzt, setzt also kein neues Risiko für das bereits bedrohte Rechtsgut. 71 Diese strukturelle Vergleichbarkeit von Rettungsduldungs- und Rettungshandlungspflichten verlangt eine Gleichbehandlung bei der Frage der zwangs weisen Durchsetzung. Wenn man also im Gegensatz zu den gewöhnlichen Begehungsdelikten bei Unterlassungen Notwehr ausschließen wi11 72 , muß man dies auch für die Fälle des Abbruchs eines rettenden Kausalverlaufs durch Verletzung einer Rettungsduldungspflicht tun. Die Überlegungen im Hinblick auf eine Interessenabwägung führen hier jedoch in eine Sackgasse, da die Pflicht, eine Rechtsgutsverletzung zu unterlassen, ebenfalls von einer Interessenabwägung abhängt. Zur Rettung aus Lebensgefahr ist etwa gemäß § 904 BGB eine Sachbeschädigung erlaubt. Dennoch argumentiert niemand, die zur Abwehr einer Sachbeschädigung in einem Extremfall einzig mögliche Tötung wäre nur deshalb unzulässig, weil das Unterlassen einer Sachbeschädigung bei andernfalls andauernder Lebensgefahr für den Täter unzumutbar wäre. Wenn man - zu Recht - bei § 32 StGB auf eine Güterabwägung verzichtet, gilt dies für Angriffe durch Tun und Angriffe durch Unterlassen gleichennaßen. Damit entscheidet sich die Frage einer zwangs weisen Durchsetzung von Handlungspflichten danach, ob diese Pflichten - wie die notwehrfähigen Unterlassungspflichten auch - in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. Ich halte dies nicht für zweifelhaft, da alle Pflichten, die die Abwendung einer

70 Vgl. von Buri, GS 30, S. 455; Merkei, Kollision, S. 80; H. A. Fischer, Rechtswidrigkeit, S. 217; Oetker, Notwehr, S. 21; ebenso Joerden, JuS 1992, S. 28. Richtig ist allerdings, daß aus der Notstandsbefugnis nicht automatisch die Befugnis folgt, das Notstandsrecht auch mit Gewalt durchzusetzen. Dem Notstandsrecht auf der Eingriffsseite entspricht die Duldungspflicht auf der Erhaltungsseite. Das Problem der zwangsweisen Durchsetzung der Duldungspflicht wird auf einer anderen, der metasprachlichen Normenebene geregelt; s. Joerden, JuS 1992, S. 28. 71

Insofern zutreffend Hruschka, JuS 1979, S. 393.

72 Dies muß zwangsläufig für alle Unterlassungen gelten, weil alle Unterlassungen im Hinblick auf die Rechtsgutsverletzung dieselbe Struktur aufweisen.

294

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

Beeinträchtigung fremder Individualinteressen verlangen, eben diese Interessen schützen sollen und insoweit eine Verantwortlichkeit des Handlungspflichtigen für die geschützten Interessen statuieren. 73 Ebenfalls gilt hier, daß ein Recht auf Vornahme einer Handlung nur auf dem Papier steht, wenn es nicht zwangsweise durchgesetzt werden kann. Die Bedenken, daß auf diese Weise auch vertragliche Leistungspflichten gewaltsam durchgesetzt werden könnten 7\ lassen sich durch den Hinweis entkräften, daß nur die Verletzung von Pflichten hinsichtlich absolut geschützter Rechte eine Notwehrlage begrundet. 75 Demnach ist also nicht zwischen "echten" und "unechten" Unterlassungen zu differenzieren, soweit es sich um echte Handlungspflichten zugunsten von Individualinteressen handelt. Zur zwangsweisen Durchsetzung von Handlungspflichten ist demnach Notwehr zulässig, wenn durch das Unterlassen die Gefahr der Rechtsgutsverletzung intensiviert wird. Der Gegenauffassung, die sich auf eine Überschreitung des Gesetzeswortlauts beruft, kommt nur geringe Überzeugungskraft zu, da sie eine analoge Anwendung des § 32 StGB befürwortet. Dann spricht aber mehr dafür, im Hinblick auf den Zweck der Notwehr als Unterbindung von Störungen im Gegenseitigkeitsverhältnis das Merkmal des Angriffs weit auszulegen. Verfehlt ist der Vorschlag, diese Fälle durch § 240 Abs. 2 StGB zu erfassen. 76 Zwar regelt diese Vorschrift, wann die Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch Nötigungsmittel nicht verwerflich ist. Jedoch schließt § 240 Abs. 2 StGB primär das Strafunrecht aus. Ob die Tat auch im Hinblick auf die Gesamtrechtsordnung gerechtfertigt ist, ergibt sich aus § 240 Abs. 2 5tGB gerade nieht. 77 § 240 Abs. 2 StGB enthält kein Eingriffsrecht, abgesehen davon, daß sich dieses nur auf die Nötigung, nicht hingegen auf andere Delikte wie etwa Körperverletzung bezöge. 78 Auch § 229 BGB bietet keinen Ausweg. Danach ist zulässig, den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, zu beseitigen. § 229 BGB betrifft damit den Fall der Ersatzvornahme; die Erzwingung der Vornahme einer Handlung durch den Verpflichteten selbst regelt § 229 BGB dagegen nieht. 79

73

Eine ähnliche Begründung findet sieh bereits bei von Hippel, Verbrechen, S. 204.

74

So RGSt 19, S. 298.

7S

Ebenso Jakobs, AT, 12/21; Samson in: SK, § 32 Rn. 16.

76 So aber Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 11; Schmidhäuser, Studienbuch, 6/59; Bockelmann/Volk, S. 89. 77 Günther, Baumann-FS, S. 216 ff.; Reichert-Hammer, Fernziele, S. 57, 293 f.; Schäfer in: LK, § 240 Rn. 69; anders indes BGHSt 34, S. 71 (77); 35, S. 270 (279).

78

Ebenso Felber, Rechtswidrigkeit, S. 194; Hellmann, Rechtfertigungsgründe, S. 120.

79

Vgl. auch Joerden, JuS 1992, S. 28.

11. Die Notwehrlage

295

5. Die Notwehrhilfe Notwehr ist auch zulässig, um einen Angriff "von einem anderen" abzuwehren. Indes soll nach Schmidhäusers Auffassung die Notwehrhilfe nur von einem überindividuellen Notwehrverständnis her begründbar sein. Gerade in der Zulässigkeit der Notwehrhilfe zeige sich die überindividuelle Bedeutung der Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs zur Bewährung der empirischen Geltung der Rechtsordnung. 8o In der Tat kann man fragen, mit welchem Recht sich ein Unbeteiligter in die Auseinandersetzung zwischen Angreifer und Verteidiger einmischen darf. Verletzt der Angreifer ausschließlich das allgemeine Interesse an der Geltung der Rechtsordnung, könnte man sagen, daß durch einen rechtswidrigen Angriff jedermann betroffen ist, weil jeder ein Interesse an der Geltung der Rechtsordnung hat, und deshalb sein eigenes Interesse unabhängig vom Willen des Angegriffenen verteidigen darf. 81 Dieser Ansatz ist jedoch nicht gangbar, da ein rein überindividuelles Notwehrverständnis bereits zurückgewiesen wurde. 82 Die Ableitung der Notwehrhilfe aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht, wie sie von Spendet und Wagner vorgeschlagen wird83 , enthält eine petitio principii. Zwar kann es in einer widerspruchsfreien Rechtsordnung keine Pflicht zur Vornahme einer verbotenen Handlung geben. Deshalb ist der logische Schluß von einer Pflicht auf ein Recht zulässig. Zur Begründung eines Eingriffsrechts eignet er sich jedoch nicht, da eine Pflicht immer die Freiheit des Verpflichteten beschränkt, während ein Eingriffsrecht nicht die Freiheit des Hilfeleistungspflichtigen, sondern einer anderen Person berührt. Damit muß also vor der Annahme einer Pflicht nachgewiesen werden, daß die betreffende Handlung unverboten ist. Auch die hier vertretene Notwehrkonzeption scheint zunächst Probleme zu bereiten. Man könnte argumentieren, daß der Angreifer im Verhältnis zum Notwehrhelfer keine Pflicht auf Gegenseitigkeit verletzt und deshalb das Koordinationsverhältnis nicht gestört habe. Daher müsse auch der Dritte seine Pflichten auf Gegenseitigkeit einhalten. Ebensowenig wie § 323 BGB dazu ermächtige, einen Dritten von der Erfüllung von dessen Vertragsverbindlichkeiten freizustellen, um die eigenen Vertragsansprüche durchzusetzen, könne das Angriffs-

80 Schmidhäuser, Studienbuch, 6/80; Haas, Nothilfe, S. 120 f.; Mahlberg, Gefahrenabwehr, S. 102.

81

Schmidhäuser, Studienbuch, 6/80; Seelmann, ZStW 89, S. 57; s. dazu Raz, Morality,

82

S. Teil 0., Abschnitt 11.3.

83

Wagner, Notwehrbegründung, S. 36; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 12.

S.248.

296

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

opfer einen Dritten zur Notwehrhilfe ennächtigen. Vennutlich hat Schmidhäuser diese Argumentation bei seiner kurzen Bemerkung zu Hruschkas Notwehrkonzeption im Sinn. 84 Indes darf man die Notwehr nicht mit dem Zurückbehaltungsrecht gleichsetzen. Meines Erachtens läßt sich für das hier entwickelte Notwehrverständnis die Notwehrhilfe folgendennaßen begründen: Aus dem Grundprinzip der Notwehr - Abwehr von Störungen im Koordinationsverhältnis zwischen Angreifer und Angriffsopfer - folgt nicht, daß nur die Angriffsabwehr durch das Angriffsopfer zulässig ist. Vielmehr besteht ein allgemeines Interesse an dem Institut der Notwehrhilfe, weil jeder einzelne daran interessiert ist, sich in einem Angriffs-, fall fremder Hilfe zur Verteidigung bedienen zu können. Insoweit führt das Allgemeininteresse zu einer allgemeinen Regelung. Was jeder einzelne für sich in Anspruch nehmen will, muß er auch jedem anderen zugestehen. Eine individualistische Notwehrbegründung führt also nicht zwangsläufig zu einem individuellen Selbstverteidigungsrecht. 85 Die Notwehrhilfe ist kein selbständiges, sondern ein vom Angegriffenen abgeleitetes Recht86 , so daß aufgedrängte Notwehrhilfe unzulässig ist. Schon begrifflich bedeutet Hilfe immer Unterordnung unter den Willen desjenigen, dem man helfen will. 87 Darüberhinaus besteht kein Anlaß, den Angegriffenen, der sich dem Angreifer unterordnen will, gegen seinen Willen zu schützen. Wenn dem hilfsbereiten Dritten mildere Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung stehen, kann der Verteidiger ebenfalls die Hilfe ablehnen, darf seinerseits aber nicht mehr zur Verteidigung tun, als unter Berücksichtigung des eingriffsbereiten Helfers zur Angriffsabwehr erforderlich ist. 88 6. Notwehr und hoheitliches Handeln

Die Begründung der Notwehr aus dem Gedanken der Gegenseitigkeit der Regelbefolgungspftichten scheint nicht nur die Berufung des Amtsträgers auf Notwehr gegenüber dem rechtswidrigen Angriff eines Bürgers auszuschließen, sie scheint auch dazu zu führen, daß der Bürger sich gegen Akte hoheitlicher

84

Schmidhäuser, GA 1992, S. 115.

85

Ähnlich Wagner, Notwehrbegriindung, S. 35.

Anders Spendet in: LK, 11. AufL, § 32 Rn. 145; Wagner, Notwehrbegründung, S. 37; Bitzilekis, Einschränkung, S. 72; wie hier Kioupis, Notwehr, S. 85 f. 86

87 VgL Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 26; unzutreffend Wagner, Notwehrbegründung, S. 37.

88 V gL im übrigen ausführlich zur Auslegung des Willens des Angriffsopfers Seier, NJW 1987, S. 2480 ff.

11. Die Notwehrlage

297

Gewalt nicht auf Notwehr berufen darf. In diesem Zusammenhang sind drei Fragen zu unterscheiden. a) § 32 StGB als staatliche Gewaltermächtigung? Die Notwehrregelungen der §§ 227 BGB, 32 StGB enthalten keine Ermächtigungen für hoheitliche Gewaltausübung. Die Gegenauffassung, die vor allem über die Notrechtsvorbehalte der Landespolizeigesetze § 32 StGB als ergänzende Befugnisnorm heranziehen will 89 , mißachtet den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. 90 Gegenüber dem Bürger befindet sich der Staat als öffentlich-rechtliche Institution in einem Über-Unterordnungsverhältnis, weil er im Rahmen der Verfassung durch Gesetze und im Rahmen der Gesetze durch Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt für den Einzelfall die Rechtsstellung der Bürger festlegen kann. Soweit der Staat in die Rechte der Bürger eingreift, unterliegt er verfassungsmäßigen Selbstbindungen. Weder nach ihrem Zweck noch nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung haben die §§ 32 StGB, 227 BGB den Inhalt, über die Abwehr von Angriffen auf koordinierte Rechtssubjekte hinaus polizeirechtliche Gefahrenabwehrbefugnisse zu gewähren. 91 b) Notwehr der Privatperson gegen Amtsträger Soweit der einzelne von einem Verwaltungsakt betroffen wird, scheidet Notwehr aus. Verwaltungsakte regeln die Rechtsstellung des betroffenen Bürgers. Sind sie rechtswidrig, steht dagegen Rechtsschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Verfügung. Somit kann sich die Notwehrproblematik nur im Fall der Anwendung unmittelbaren Zwangs stellen. Wenn ein Beamter Vollstreckungshandlungen vornimmt, die in Rechte des Bürgers eingreifen, verletzt er zunächst Privatrechtsnormen, die ihn im Verhältnis zum Bürger binden. Der Beamte verliert nämlich

89 Vgl. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 42b m.w.Nachw.; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 275; Wimmer, GA 1983, S. 155; s. auch RGSt 63, S. 215; RGZ 117, S. 138 (142); BayObLG, JR 1991, S. 248. 90 Vgl. Kirchhof, NJW 1978, S. 969; Rogall, JuS 1992, S. 558; Fechner, Grenzen, S. 55 ff.; ähnlich bereits Bertram, VerwArch 33, S. 434 ff.; s. auch oben S. 206 f. 91 Gegen eine Inkorporation über die Notrechtsvorbehalte der Landespolizeigesetze spricht nicht nur, daß auf diese Weise die Ausdifferenzierungen der Polizeigesetze praktisch ausgehebelt würden, sondern auch, daß die Notrechtsvorbehalte lediglich die Strafbarkeit der Polizeibeamten nicht präjudizieren. Aus der umfangreichen Literatur vgl. Seebade, K1ug-FS 11, S.369; Kunz, ZStW 95, S. 981; Fechner, Grenzen, S. 51 ff.; Rainer Keller, Provokation, S.356.

298

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

seine Bürgerstellung nicht dadurch, daß er in den Staatsdienst eintritt; er wird zwar Amtswalter, bleibt aber gleichzeitig Privatperson. Seine Pflichtenstellung wird durch öffentlich-rechtliche Sonderregeln, die ihn als Amtsträger binden, überlagert. In gleicher Weise wird die Rechtsstellung des Bürgers gegenüber dem Amtsträger durch Normen des öffentlichen Rechts modifiziert. Überschreitet der Beamte die Eingriffsbefugnisse, die die Voraussetzungen für die Begrenzung der Rechtsstellung des Bürgers enthalten, ist gegen die konkrete Vollstreckungshandlung Notwehr zulässig. 92 Die Problematik wird allerdings dadurch entschärft, daß Notwehr nur gegen vorsätzliche und schuldhafte Angriffe gestattet ist. c) Notwehr des Beamten gegen Angriffe von Privaten Soweit der Beamte hoheitlich handelt, kann sein Verhalten nicht durch Notwehr gerechtfertigt werden, da die §§ 32 StGB, 227 BGB keine öffentlichrechtlichen Eingriffsbefugnisse normieren. So können sich beispielsweise Polizeibeamte bei der Leistung von Nothilfe nicht auf die Notwehrvorschriften berufen, weil die allgemeine Gefahrenabwehr als öffentliche Aufgabe durch die Sonderregeln des Polizei- und Sicherheitsrechts festgelegt ist. Wird jedoch etwa ein Polizeibeamter im Dienst von einem Bürger angegriffen, liegt darin eine Verletzung der Pflicht auf Gegenseitigkeit, so daß prinzipiell die rechtliche Möglichkeit der Selbstverteidigung eröffnet wird. Allerdings handelt es sich um eine Frage des öffentlichen Rechts, ob die Pflichten, die den Amtsträger im Verhältnis zur Anstellungskörperschaft treffen, so auf seine Rechtsstellung als Privatperson durchschlagen, daß seine Regelbefolgungspflicht selbst gegenüber einem vorsätzlich und schuldhaft handelnden Angreifer in größerem Umfang fortbesteht als beim Normalbürger. 93 Davon zu unterscheiden ist, daß ein Beamter nach § 32 StGB auch bei Überschreitung seiner Eingriffsbefugnisse straflos bleibt, solange er sich im Rahmen des § 32 StGB hält, denn der einzige Regelungszweck des § 32 StGB kann

92 Vgl. bereits Knetsch, Notwehr, S. 57: Die Verteidigung richte sich nicht gegen den Staat, sondern gegen den Beamten als Privatperson. Aus heutiger Sicht bedeutet das nicht, daß der deliktisch handelnde Amtsträger nicht mehr als Beamter, sondern außerhalb seiner Amtsstellung als Privatmann handelt. Vielmehr wird dadurch verdeutlicht, daß auch der Beamte im Verhältnis zu den Bürgern an die Privatrechtsnormen, die die Freiheitssphären im Gegenseitigkeitsverhältnis abgrenzen, gebunden ist. 93 So Fechner, Grenzen, S. 145 ff.; Wimmer, GA 1983, S. 158; dagegen überzeugt mich die Argumentation von Schünemann, GA 1985, S. 366, die Begrenzung der öffentlich-rechtlichen Eingriffsbefugnisse dürfe nicht in eine Duldungspflicht des Beamten umgemünzt werden; ebenso Amelung, JuS 1986, S. 333.

III. Die Notwehrbefugnis

299

aufgrund seiner systematischen Stellung im Strafgesetzbuch der Ausschluß strafbaren Unrechts sein.94 Die Strafbarkeit ist nicht mit der Rechtswidrigkeit staatlichen Vorgehens gleichzusetzen. 95 Faktisch dürfte die Notwehr für Polizeibeamte schon deshalb eingeschränkt sein, weil ihnen aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Ausrüstung mehr Möglichkeiten zur maßvollen Verteidigung zur Verfügung stehen als dem Normalbürger.

In. Die Notwehrbefugnis 1. Die Erforderlichkeit der Angriffsabwehr

Wie bereits dargestellt, ist die Notwehrlage durch die Verweigerung der Kooperation zwischen koordinierten Rechtssubjekten gekennzeichnet. Demnach umfaßt die Notwehrbefugnis jedes Verhalten, welches zur Abwehr der Kooperationsverweigerung erforderlich ist. Deshalb darf der Verteidiger seinerseits auf die Kooperationsverweigerung des Angreifers mit einem Kooperationsabbruch reagieren. Auf andere Mittel einer Abwendung der Gefahr für die eigenen bedrohten Rechtsgüter, wie etwa Ausweichen, muß er nicht zurückgreifen, weil er sich auch dadurch faktisch dem Angreifer unterordnen würde. 96 Da der Angreifer durch seine Kooperationsverweigerung den Anlaß gegeben hat, versteht es sich von selbst, daß sich die Verteidigung nur gegen die Person des Angreifers richten darf und Verletzungen unbeteiligter Dritter nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt sind. 97 Dagegen hält Spendet die Verletzung von angreiferfremden Sachen für zulässig, wenn sie vom Angreifer für seinen Angriff

94

S. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 366 ff.

Vgl. Seebade, Klug-FS 11, S. 366; Ragall, JuS 1992, S. 559; dagegen unter Beschwörung der ,,Einheit der Rechtsordnung" Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 42b; Schwabe, Notrechtsvorbehalte, S. 42; Spendet in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 273 ff.; Schaffstein, Schröder-GS, S. 108. 95

96 Vgl. dazu aber neuestens Jaerden, JuS 1992, S. 25, der zu Recht vorträgt, daß der Angreifer andere Mittel zur Abwendung des Angriffs (hier: Angabe der Personalien) einsetzen muß, wenn er ohnehin dazu verpflichtet ist. Wegen der entsprechenden Verpflichtung würde die Freiheit des Angriffsopfers durch den Verzicht auf gewaltsame Gegenwehr nicht beeinträchtigt. Zum Ausweichen ist aber niemand verpflichtet. Gegen Jaerden aber Scheffler, Jura 1992, S. 354 f. 97 Deshalb ist unverständlich, warum auch das OWiG eine Notwehrregelung in § 15 OWiG enthält. Wenn das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht unmittelbar Individualrechtsgüter vor Verletzungen schützt, kann eine Ordnungswidrigkeit nie durch Notwehr gerechtfertigt sein, vgl. Göhler, § 15 Rn. 1; a.A. Rengier in: KK-OWiG, § 15 Rn. 19.

300

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

benutzt werden. Die Sache als solche begründe keine Gefahr, so daß eine Schutzlücke bestehe. Deshalb müsse sich der Eigentümer die Gefahr zurechnen lassen. 98 Die Argumentation Spendeis läuft jedoch auf die Annahme einer Defensivnotstandsbefugnis hinaus. Wenn der Eigentümer sich die Gefahr zurechnen lassen muß, richtet sich die Verletzung seiner Interessen zur Gefahrenabwehr nach § 228 BGB.99 Der Verteidiger wird dadurch nicht übermäßig benachteiligt. Soweit der Eigentümer mit dem Angriff nichts zu tun hat, geht es nur um die Risikoverteilung zwischen Angegriffenem und Eigentümer. Überschreitet der Verteidiger aus Unkenntnis die Grenzen des § 228 BGB, weil er davon ausgeht, die Sache gehöre dem Angreifer, eröffnet dies für ihn kein Eingriffsrecht in die Güter des unbeteiligten Dritten. Zwar steht dann dem Eigentümer gegenüber dem Verteidiger prinzipiell die Defensivnotstandsbefugnis zu. Dabei ist jedoch folgendes zu beachten: Zur Abwehr von Sachgefahren darf die körperliche Unversehrtheit allenfalls geringfügig beeinträchtigt werden. Wenn der Dritte die Angriffsabwehr verhindert, muß er sich nach dem Muster der Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs die Verletzung des Verteidigers durch den Angreifer zurechnen lassen. In aller Regel wird sich daher der Eigentümer zum Erhalt seiner Sache gegen den Angreifer selbst wenden müssen, soweit er dazu nicht ohnehin als Sicherungsgarant verpflichtet ist. Nach Spendel soll ferner die Verletzung von Dritten durch Notwehr gerechtfertigt sein, wenn der Angreifer den Dritten als "lebenden Schutzschild" mißbraucht. lOo Indes scheiden hier auch die Regeln über den Defensivnotstand aus, denn der Angreifer "verwendet" den Schutzschild nicht zur Erhöhung des Verletzungsrisikos für den Verteidiger, sondern um die Abwehr des Verteidigers abzuschwächen, also um sein eigenes Angriffsrisiko zu verringern. Deshalb kommt allenfalls Aggressivnotstand in Betracht.

Die Erzwingung der Vornahme von Handlungen hat im Gegensatz zur Abwehr von Angriffen durch aktives Tun ihre immanenten Grenzen: Der Verpflichtete darf nicht getötet oder sonst handlungsunfähig gemacht werden. lOl Dies läßt sich drastisch an folgendem - konstruiertem - Beispielsfall illustrieren: A ist im Schwimmbasin am Ertrinken. Am Rande des Beckens sehen mehrere Bademeister dem Schauspiel untätig zu. Sonst ist niemand anwesend außer B, dem Bruder des A, der in einem Rollstuhl sitzt und eine geladene Pistole in der Hand hält. Darf B die Bademeister mit Erschießen bedrohen und, wenn diese untätig bleiben, der Reihe nach erschießen, bis einer zur Rettung des A ins Wasser springt? - Nein, denn die Tötung verhindert gerade, daß der betreffende Bademeister die Rettung vornehmen kann. Wie soll aber eine Drohung wirken, wenn ihr die Glaubwürdigkeit fehlt, da sie nicht in die Tat umgesetzt werden darf?102

98 Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 211; ebenso früher Allfeld, Lehrbuch, S. 128; Oetker, VDA 11, S. 293; RGSt 58, S. 27 (29); a.A. etwa Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rn. 31 f.; von Bressendorf, Notwehr, S. 218. 99

Anders von Feldmann in: MüKo, § 228 Rn. 2: nur Aggressivnotstand.

100

Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 148.

101

S. Hruschka, JuS 1979, S. 393.

102

In der Praxis dürften deshalb nur wenige Fälle des Angriffs durch Unterlassen die

III. Die Notwehrbefugnis

301

Bei der Notwehrhilfe gegen Angriffe durch Unterlassen ist folgendes zu beachten: Unterliegt der hilfsbereite Dritte selbst einer Hilfeleistungspflicht, darf er den vorrangig Verpflichteten, etwa einen Garanten, nur dann zwingen, wenn er dadurch dem Gefahrdeten wirksamer helfen kann, da der Dritte durch die Notwehrlage nicht von seiner Hilfeleistungspflicht entbunden wird. 103 2. "Sozialethische" Notwehrschranken

Die Attraktivität der herrschenden dualistischen Notwehrkonzeption beruht zu einem nicht geringen Teil auf der Versicherung, die Notwehrschranken durch Bezugnahme auf die Grundprinzipien der Notwehr begründen zu können. Diesen "Vorteil" bringt die hier vertretene Notwehrauffassung nicht mit sich. In allen diskutierten Fallgruppen scheidet eine "notwehrimmanente" Reduzierung der Verteidigungsbefugnisse aus. Vielmehr führen "notwehrimmanente" Grenzen der Notwehr bereits zu einem Ausschluß der Notwehrlage. Einschränkungen der Verteidigungsbejugnisse lassen sich überhaupt nur "extern" begründen. 104 Von der bereits vorgenommenen Kritik an der Rechtsbewährungsdoktrin wurden die nun zu prüfenden Argumentationen nicht erfaßt. "Externe" Begründungen kommen grundsätzlich auch für die hier vertretene Notwehrkonzeption in Betracht. Daher sollen derartige Ansätze im folgenden untersucht werden. a) Schuldlos handelnde Angreifer Bei Angriffen von Personen, die ohne oder mit eingeschränkter Schuldfähigkeit, im Verbotsirrtum oder im entschuldigenden Notstand handeln, ist eine "sozial ethische" Einschränkung der Verteidigungsbefugnisse nicht erforderlich. Nach der hier entwickelten Notwehrkonzeption entfällt bereits die Notwehrlage.

Notwehrproblematik aufwerfen. Denn in der Regel wird derjenige, der sich selbst helfen kann, zur Ersatzvomahme greifen, bevor er sich auf unsichere Zwangsmittel einläßt. Der Fall aber, daß sich jemand nicht selbst helfen kann, aber noch in der Lage ist, auf den Hilfeleistungspflichtigen mit Zwangsmitteln einzuwirken, dürfte ebenfalls ziemlich selten sein. 103 Beispiel: A ist am Ertrinken. Am Ufer stehen sein Vater V und der Spaziergänger S. Beide könnten den A retten. Darf S den V zur Rettung zwingen, um selbst trocken bleiben zu können? 104

Neumann, Begründung, S. 226.

302

H. Notwehr als Sicherung der Gleichordnung

b) Die Notwehrprovokation aa) Der Wegfall der Notwehrlage Bei der Fallgruppe der Notwehrprovokation muß differenziert werden. Stellt sich die Provokation ihrerseits als rechtswidriger Angriff dar, ist dagegen Notwehr zulässig. In diesem Fall hat der Provokateur als Angreifer das Gleichordnungsverhältnis gestört, und der Provozierte ist seinerseits berechtigter Verteidiger. 105 Voraussetzung ist allerdings, daß der rechtswidrige Angriff des Provokateurs noch gegenwärtig ist und sich die Abwehr des Provozierten im Rahmen des Erforderlichen hält. Versetzt etwa der Adern B eine Ohrfeige, so darf der B nicht zurückschlagen, weil der Angriff des A auf die körperliche Unversehrtheit des B schon beendet iSt. 106 Überschreitet der Provozierte die Grenzen der Notwehr, so hat der Provokateur seinerseits ein Notwehrrecht. 107 Auch in einem zweiten Fall hat der Provokateur kein Notwehrrecht. Wenn die Provokation den Provozierten in heftige Erregung versetzt, kann die Zurechnung des rechtswidrigen Angriffs zu Schuld ausgeschlossen sein. ws Entsprechendes gilt, wenn der Provokateur durch einen Scheinangriff beim Provozierten einen Irrtum über das Bestehen einer Notwehrlage auslöst. 109 In beiden Fällen scheitert die Rechtfertigung durch Notwehr bereits am Vorliegen einer Notwehrlage. Im übrigen wird durch eine Provokation, die sich nicht als rechtswidriger Angriff darstellt, die Koordination zwischen den Beteiligten nicht aufgehoben. Das Recht erwartet, daß der Provozierte der Provokation widerstehtlW; das ergibt sich daraus, daß der Angriff des Provozierten von der Rechtsordnung als rechtswidrig bewertet wird. Läßt sich der Angreifer vollverantwortlich auf eine Provokation ein, so besteht zunächst kein Grund für eine Notwehrbeschränkung.

lOS Ebenso Lenckner, GA 1961, S. 300; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 297 f.; Fahse in: Soergel, § 227 Rn. 43. 106

Vgl. Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 302.

Vgl. Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 299; a.A. Otto, Würtenberger-FS, S. 144; s. aber den nächsten Absatz. 107

108 Mit ähnlicher Begrundung, jedoch zu weitgehend in den Konsequenzen Schönebom, NStZ 1981, S. 203 ff; wie hier Mitsch, GA 1986, S. 545 f.; Frister, GA 1988, S. 310. 109

So der Fall des OLG Hamm, NJW 1977, S. 590.

110 Vgl. Bockelmann, Honig-FS, S. 31; Spendel in: LK, 11. Aufl., § 32 Rn. 301; s. auch ROSt 73, S. 341 (342).

111. Die Notwehrbefugnis

303

bb) Die Verantwortlichkeit des Provokateurs für Rechtsgüter des Angreifers Insbesondere Marxen hat die Lösung der Provokationsfalle über die Ingerenz vorgeschlagen. Der Provokateur schaffe für den Herausgeforderten eine Gefahrensituation, indem er ihn zum Angriff verleite, und sei deshalb als Garant für die Rechtsgüter des Angreifers verantwortlich. Somit ergebe sich aus der Provokation die Pflicht zu einer gewissen Rücksichtnahme auf den provozierten Angreifer, welche zur Einschränkung des ansonsten so "schneidigen" Notwehrrechts führe. 1I1 Jedoch überzeugt dieser Vorschlag nicht. Zunächst bleibt der Bezug einer derartigen Pflicht zur Rücksichtnahme zu den Rettungspflichten unklar. Rettungspflichten verlangen zum einen die Abwendung einer Gefahr durch aktives Tun. Sie können zum anderen auch zur passiven Hinnahme einer Rechtsgutseinbuße verpflichten, damit sich der Gefahrdete durch Inanspruchnahme dieser Rechtsgüter selbst aus der Gefahr retten kann. Zweifel bestehen bereits hinsichtlich einer Notlage, in der sich der Provozierte befinden müßte, um solidarische Hilfe beanspruchen zu können. 112 Weiterhin wird übersehen, daß eine Pflicht zur Opferung von Gütern nur zugunsten desjenigen besteht, der sich mit seinen eigenen Mitteln nicht helfen kann. Der vorsätzlich und schuldhaft handelnde Angreifer hat es jedoch selbst in der Hand, durch den Abbruch seines Angriffs die Gefahren, die ihm durch die Verteidigung drohen, abzuwenden. ll3 Schließlich muß beachtet werden, daß Rettungspflichten intrasystematisch Zuständig-

111

12149.

Marxen, Grenzen, S. 58; ähnlich Burkhard Koch, ZStW 104, S. 817 ff.; Jakobs, AT,

112 Eine Notlage des provozierten Angreifers wird allenfalls durch die Verteidigungsmaßnahmen ausgelöst, deren Unzulässigkeit durch die These von der Ingerenz gerade nachgewiesen werden soll. 113 Vgl.Matt, NStZ 1993, S. 273; Mitsch, GA 1986, S. 542 f.; Frister, GA 1988, S. 308; Kühl, Jura 1991, S. 178, 180; Neumann, Zurechnung, S. 145; Roxin, ZStW 93, S. 93 (inkonsequent allerdings bei den Garantenpflichten innerhalb enger Lebensgemeinschaften, S. 102 f.); Matt, NStZ 1993, S. 273; Hinz, JR 1993, S. 355. Bezeichnend ist die Gegenargumentation von Fechner, Grenzen, S. 193: Wenn der Provozierte geradezu zwangsläufig zur Angriffshandlung motiviert werde, müsse die Se1bstverantwortung des Angreifers zu Lasten des Provokateurs zurückgestellt werden. Bei einem