Nord/Süd: Perspektiven auf eine globale Konstellation 9783110682625, 9783110676006

Starting in the 1960s, the concepts “North” and “South” became important indices for speaking about global relations, de

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Nord/Süd: Perspektiven auf eine globale Konstellation
 9783110682625, 9783110676006

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Nord/Süd



Nord/Süd



Perspektiven auf eine globale Konstellation Herausgegeben von Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer

Gedruckt mit freundlicher und großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und des Forum for the Study of the Global Condition

ISBN 978-3-11-067600-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068262-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068270-0

Library of Congress Control Number: 2020933843 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: © Marianna Weber, studiododo.de Typesetting: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Abkürzungsverzeichnis AASSREC

Asian Association of Social Science Research Councils

AIDSAT

Agency for International Development Satellite Demonstration

ARCSS

Arab Regional Centre for Social Sciences

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

CAI

Consortium Audiovisuel International

CERDAS

Centre de Coordination des Recherches et de la Documentation en Sciences Sociales pour l’Afrique Subsaharienne

CERN

Conseil européen pour la recherche nucléaire (European Organization for Nuclear Research)

CIPEC

Inter-Governmental Committee of Copper-Exporting Countries

CLASCO

Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales

CNC

Centre National de la Cinématographie

CODESRIA

Conseil pour le Développement de la Recherche en Sciences Sociales en Afrique

COMACICO

Compagnie Africaine Cinématographique Industrielle et Commerciale

CPI

Communist Party of India

CPP

Convention People’s Party

DSS

Department of Social Sciences (der UNESCO)

ECA

Economic Commission for Africa

ECE

Economic Commission for Europe

ECLAC

Economic Commission for Latin America and the Caribbean

ECOSOC

United Nations Economic and Social Council

EPTA

Expanded Program of Technical Assistance

ESCAP

Economic Commission for Asia and the Pacific

ESCWA

Economic Commission for Western Asia

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FAO

Food and Agriculture Organization of the United Nations

FEPACI

Fédération Panafricaine des Cinéastes

FESPACO

Festival Panafricain de Cinéma de Ouagadougou

FLN

Front de Libération Nationale

G-77

Gruppe der 77

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade

GEM

Gemeinsames Erbe der Menschheit

IAMCR

International Association for Mass Communication Research

IBRD

International Bank for Reconstruction and Development

ICIS

International Center for Industrial Studies (→ UNIDO)

ICPO

Investment Co-operative Program Office (→ UNIDO)

IDHEC

Institut des Hautes Études Cinématographiques

https://doi.org/10.1515/9783110682625-201

VI  Abkürzungen

ILO

International Labour Organisation

IMF

International Monetary Fund

IPDC

International Programme for Development of Communication (→ UNESCO)

ISSC

International Social Science Council

ITO

International Trade Organization

ITU

International Telecommunication Union

JCC

Journées Cinématographiques de Carthage

MPEA

American Motion Pictures Export

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NIEO

New International Economic Order

NWICO

New World Information and Communication Order

OAPEC

Organization of Arab Petroleum Exporting Countries

OAS

Organization of American States

OAU

Organization of African Unity

OCAM

Organisation Commune Africaine et Malgache

OCORA

Office de coopération radiophonique

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

OEEC

Organisation for European Economic Co-operation

OPEC

Organization of the Petroleum Exporting Countries

RGW

Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe

SECMA

Sociéte d’Exploitation Cinématographique Africaine

SITE

Satellite Instructional Television Experiment

UAC

United Africa Company

UNCLOS

United Nations Convention on the Law of the Sea

UNCTAD

United Nations Conference on Trade and Development

UNDP

United Nations Development Programme

UNEP

United Nations Environment Programme

UNESCO

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization

UNIDO

United Nations Industrial Development Organization

USAID

United States Agency for International Development

UTC

Union Trading Company

VOC

Vereenigde Oostinidsche Compagnie

WHO

World Health Organization

WIPO

World International Property Organization

WMO

World Meteorological Organization

Dank Ein Buch entsteht nicht von selbst. Viel ist dazu nötig, dass es irgendwann in den physischen und virtuellen Regalen stehen kann. An vielen Stellen kann dies scheitern – an Ideen, an Finanzierung, an Kooperationsbereitschaft, am Willen, es zu publizieren und an vielem mehr. Das ist mit diesem Band nicht geschehen. Er ist voll von Ideen der Beiträger*innen. Unser Diskutieren und Schreiben wurden großzügig finanziell und ideell durch Ermunterung und Vertrauen unterstützt. Seine Beiträger*innen waren bereit, sich auf das Thema einzulassen. Ein Verlag hat sich gefunden, der es Wert fand, die Ideen zu publizieren und zugänglich zu machen. Nicht zuletzt ist der Band durch viele fleißige und akribische Hände gegangen, welche die unendlichen Kleinigkeiten bearbeitet haben. Um konkret zu werden, wir bedanken uns zu allererst bei allen Teilnehmer*innen des Workshops „Globale Ungleichheiten diskutieren: Der Nord-SüdKonflikt in den internationalen Beziehungen“ und den Autor*innen für ihre Diskussionsfreude und Beiträge. Des Weiteren gilt unser Dank der Fritz-ThyssenStiftung für Wissenschaftsförderung sowie dem Forum for the Study of the Global Condition, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Ausrichtung des Workshops ermöglichten und damit die Grundlage für die Publikation legten. Unser Dank richtet sich ebenso an Caroline Bernert, Sophia Tölle und Freya Leinemann, den wissenschaftlichen Hilfskräften des Lehrstuhls für deutsche und europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts (Leipzig) sowie der Sekretärin der Professur für Zeitgeschichte (Halle), Frau Simone Barth, die organisatorisch sowohl den Workshop als auch den Redaktionsprozess wesentlich unterstützten. Darüber hinaus bedanken wir uns bei Marianna Weber für die Gestaltung des Workshop-Plakats und die Freigabe ihrer grafischen Idee, welche die Thematik so gut eingefangen hat, dass sie auch das Buchcover ziert. Zu guter Letzt möchten wir uns auch bei Rabea Rittgerodt, dem Verlag De Gruyter und allen anderen Mitarbeiter*innen, vom Lektorat bis zur Herstellung für ihre geduldige Zusammenarbeit und Unterstützung während des gesamten Publikationsprozess bedanken: Danke! Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer Leipzig, Halle und Potsdam, im Januar 2020

https://doi.org/10.1515/9783110682625-202

Inhalt Abkürzungen  V Dank  VII Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer Zur Historisierung globaler Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Eine Einleitung  1 Martin Deuerlein Inter-Dependenz: Nord-Süd-Beziehungen und die Auseinandersetzung um die Deutung der Welt  21 Daniel Maul Von „technischer Hilfe“ zu „basic needs“: Die ILO als Entwicklungsagentur im Nord-Süd-Konflikt  45 Andreas Weiß Auf der Suche nach dem Süden: Die Europäischen Gemeinschaften und ihr Blick nach Süden in den 1970er und 1980er Jahren  65 Andreas Hilger Die globale Ordnung: Sowjetische Entwürfe und indische Alternativen in den 1950er und 1960er Jahren  85 Stella Krepp Weder Norden noch Süden: Lateinamerika, Entwicklungsdebatten und die „Dekolonisierungskluft“, 1948–1973  109 Steffen Fiebrig Unequal exchange? Post-koloniale Wirtschaftsordnung, Handelsliberalisierung und die UNCTAD  135 Michel Christian Der Nord-Süd-Konflikt und die „neue internationale Arbeitsteilung“ in den 1970er Jahren: UNIDO, UNCTAD und die Vorgeschichte unserer „Globalisierung“  171

X  Inhalt

Jonas Kreienbaum Lusaka 1970: Die ökonomische Refokussierung der Bündnisfreien auf ihrem dritten Gipfeltreffen  195 Dmitri van den Bersselaar UAC between developmentalists and anti-revolutionaries: a multinational enterprise makes sense of post-independence Africa  209 Daniel Stahl „The waste of the arms race must be apparent to all the world“: Zum Verhältnis von Entwicklungspolitik und Abrüstung im Zeitalter der Détente  241 Michael Homberg Von Sendern und Empfängern: Der Nord-Süd-Dialog und die Debatte um eine Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung  263 Sarah Stein Die globalpolitische Selbstverortung frankophoner afrikanischer Filmschaffender in den 1960er und 1970er Jahren: Oder warum afrikanische Filmschaffende (lange) nicht vom globalen Norden sprachen  299 Katja Naumann Globale Partizipation und universalistisches Wissen: Der Umgang mit der Dekolonialisierung in den sozialwissenschaftlichen Foren der UNESCO  323 Sönke Kunkel Globales Umweltwissen, Naturgefahren und Wissenschaftsdiplomatie: Katastrophenhilfe in den Nord-Süd-Beziehungen  357 Andrea Rehling Global Commons: Die Figur des „gemeinsamen Erbes der Menschheit“ in den Nord-Süd-Beziehungen  379 Johanna Sackel Solidarität vs. Ressourcensouveränität? Die dritte Seerechtskonferenz als Herausforderung für die Süd-Süd-Beziehungen  405

Inhalt 

Rüdiger Graf Der Konflikt, der nicht stattfand: Ressourcen, Interdependenz, Sicherheit und die Erwartung des Nord-Süd-Konflikts in den 1970er Jahren  423 Autor*innen – 447 Index – 451

XI

Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer

Zur Historisierung globaler Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Eine Einleitung „Nord“ und „Süd“ – Beobachtungen Nord und Süd – in der Navigation beschreiben beide Begriffe jeweils zwei entgegensetzte Himmelsrichtungen. Zusammen mit Ost und West liefern sie ein ausgefeiltes Koordinatensystem, das es möglich macht, geographische Positionen zu bestimmen, Richtungen anzuzeigen und Verbindungen herzustellen. Beginnend mit den 1960er Jahren und verstärkt ab den 1970ern gerieten die Begriffe „Nord“ und „Süd“ zudem zu einflussreichen Chiffren für das Sprechen über globale Beziehungen, Abhängigkeiten und nicht zuletzt Ungleichheiten. Angelehnt an den bereits im 19. Jahrhundert hoch ideologisierten Antagonismus von „West“ und „Ost“, dienten die Bezeichnungen „Süd“ und „Nord“ gleichsam als Mittel zur Erfassung von Welt und lieferten nicht zuletzt einen alternativen Referenzrahmen für weltumspannendes Deuten und Handeln. Mit „Nord“ und „Süd“ tauchte nun eine weitere binär konstruierte Gruppierungsoption auf, die den Globus in bestimmte einander gegenüberstehende, aber eng miteinander verknüpfte Entitäten einteilte und diese jeweils nach innen wie auch nach außen zueinander in Bezug setzte.1 Das Verhältnis von Nord und Süd konnte eher allgemein gehalten als „Beziehung“, „Angelegenheit“ und „Dialog“ oder auch antagonistischer als „Spaltung“, „Gegensatz“ und sogar „Konflikt“ oder im Sinne eines modernistischen Entwicklungsmodells als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“2 bezeichnet werden. In den Konstruktionen wie auch im „In-Bezug-setzen“ „des Südens“ und „des Nordens“ zueinander spiegelten sich verschiedene Wertungen und Deutungen der Relation zwischen einem vermeintlichen Norden und einem vermeintlichen Süden wider und strukturierten das

1 Zur Binarität von Ordnungsvorstellungen siehe die Einführung und die Beiträge in Frank Reichherzer/ Emmanuel Droit/Jan Hansen (Hrsg.): Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung. Berlin/Boston 2018. 2 Zu diesem Topos und seiner kritischen Betrachtung siehe ausführlich wie prägnant Landwehr, Achim: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘. In: Historische Zeitschrift 29 (2012). Nr. 1. S. 1–34. https://doi.org/10.1515/9783110682625-001

2  Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer

Handeln sehr diverser Akteure.3 Internationale Organisationen, nationale Regierungen, soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Wirtschaftsunternehmen, wissenschaftliche Expert*innen4, Künstler*innen und Konsument*innen und viele weitere Gruppen und Menschen aus allen Weltregionen verwendeten situativ, intuitiv oder intentional beide Kategorien und etablierten dadurch eine – zum „Kalten Krieg“ und seiner „West-Ost“-Semantik entgegengesetzt gedachte – Weltordnung. Zwischen den 1960er und 1980er Jahren brachte dieser Entwurf einer alternativen Weltordnung eigene Institutionen, Organisationen und Akteure hervor. Sie beeinflusste politische Debatten, prägte Zukunftserwartungen und erfuhr nahezu überall auf der Welt Materialisierungen. Die Nord-Süd-Deutungen erzeugten in vielen politischen und gesellschaftlichen Feldern Resonanzen und hatte dort die Kraft, Debatten zu strukturieren. Auch wenn ihr Deutungsanspruch nie hegemonial wurde und maßgebliche angestoßene Projekte sowie Ideen – wie etwa einer Neuen Weltordnung in der Wirtschaft oder im Bereich von Nachrichten, Medien und Information – nicht umgesetzt wurden, so prägte das Denken und Begreifen von „Welt“ entlang der Kategorien „Nord“ und „Süd“ die Zeit von den 1960er bis in die 1980er Jahre nachhaltig und hallt bis heute in anderen Formen und Kontexten wirkmächtig nach. Die Selbstverständlichkeit, mit der Vertreter*innen internationaler Organisationen, von Staaten und NGOs sowie wissenschaftliche Expert*innen in dieser Zeit von „Norden“ und „Süden“ sprachen, ist allerdings in mindestens zweifacher Hinsicht erklärungsbedürftig: Denn erstens ist zu fragen, warum überhaupt „Nord“ und „Süd“ diese Kraft entfalten konnten? Denn es existierten bereits ältere Weltordnungskategorien und etablierte Bezeichnungen für Regionen, zu denen die Nord-Süd-Deutung in Konkurrenz stand und gegenüber denen sie sich durchsetzen musste. Noch aus der Kolonialzeit stammten beispielsweise die Unterscheidungen zwischen (ehemaligen) kolonialen „Mutterländern“ und „Kolonien“ sowie zwischen „weißen“ und „farbigen“ Ländern, die sich in den 1950er Jahren zu einer Unterscheidung

3 Zu einer „Beziehungsgeschichte“ siehe Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen 2001. Über die Nord-Süd-Beziehungen hinaus bedenkenswert ist auch der Ansatz einer relationalen Geschichtsschreibung. Siehe Epple, Angelika: Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen. In: Historische Anthropologie 21 (2013). Nr. 1. S. 4– 25; Epple, Angelika: Relationale Geschichtsschreibung. Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Methode globaler und weltregionaler Geschichtsschreibung. In: H-Soz-Kult. 2.11.2017. www. hsozkult.de/debate/id/diskussionen-4291 (2.10.2019). 4 In den Beiträgen obliegt die Art der Verwendung einer gendersensiblen Sprache den Autor*innen.

Zur Historisierung globaler Beziehungen 

3

zwischen europäischen Ländern und postkolonialen Staaten entwickelten.5 Deutsche Wirtschaftsunternehmer entwarfen für außereuropäische Märkte nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff „Übersee“.6 Das Attestieren von unterschiedlichen Entwicklungsständen war in der Einteilung des Globus in verschiedene Zonen stets von Bedeutung. Spätestens in den 1940er Jahren orientierte sich die Differenzierung in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder an einem Fortschrittsverständnis westlich geprägter Modernisierungstheorien. Sie versprach zudem während des sich verschärfenden Systemkonflikts eine große Deutungsmacht und lieferte zugleich vermeintliche Lösungsansätze für die Entwicklung unterentwickelter Regionen.7 Zeitgleich stellten die strukturalistische Wirtschaft- und Entwicklungstheorie und der historische Materialismus weitere Modelle bereit, die ein klares Historizitätsregime der Entwicklung vorgaben und als Alternative zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ unterschieden.8 Der „Kalte Krieg“ wiederum radikalisierte die Unterscheidung zwischen „Ost“ und „West“ und zeitigte in vielfältiger Form Wirkungen in allen Weltregionen.9 In enger Verzahnung mit der Dekolonisierung entstand zudem in den 1950er Jahren die Einteilung der Welt in eine „Erste“, „Zweite“ und eine „Dritte Welt“.10 5 Gollwitzer, Heinz: Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts. Studien zum imperialistischen Denken. Göttingen 1962; Mehnert, Ute: Deutschland, Amerika und die „Gelbe Gefahr“. Zur Karriere eines Schlagworts in der Großen Politik. 1905–1917. Stuttgart 1995; Steber, Martina/Bavaj, Riccardo (Hrsg.): Zivilisatorische Verortungen. Der ‚Westen‘ an der Jahrhundertwende (1880-1930). Berlin/ Boston 2018. 6 Dörre, Steffen: Wirtschaftswunder global. Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik. Stuttgart 2019. 7 Vgl. Speich Chassé, Daniel: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie. Göttingen 2013; Knöbl, Wolfgang: Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit. Weilerswist 2001. 8 Raúl Prebisch erarbeitete in den späten 1940er Jahren den Bericht für die Economic Commission for Latin America und verwendete beide Begriffe als zentrale Kategorien: Prebisch, Raúl: The Economic Development of Latin America and its Principal Problems (E/CN.12/89/ REV.1). New York 1950. Bereits in den 1920er Jahren verwendet Werner Sombart die Begriffe Peripherie und Zentrum in Bezug auf das globale System. Vgl. Sombart, Werner: Der Moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. (Dritter Band: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, Erster Halbband). München/Leipzig 1927. S. xiv-xv. Sie finden sich ebenso bei Furtado, Celso: Development and Underdevelopment. Berkeley 1964; Gunder Frank, André: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika. Frankfurt a. M. 1968; Wallerstein, Immanuel: The Modern World-System. New York 1974. 9 Westad, Odd Arne: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times. Cambrigde 2005; ders: The Cold War. A World History. New York 2017. 10 Wir sind uns der Aufladung und verschiedenen Verwendungsweisen von Begriffen und den damit verknüpften Weltdeutungen bewusst. Trotzdem benutzen wir „Dritte Welt“, „Entwicklungsländer“ und andere Begriffe aus Mangel an wertfreien begrifflichen Alternativen. Die

4  Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer

Andererseits stärkten Kritiker eines unbegrenzten Wachstums im Verbund mit aufkommenden Umweltschutzbewegungen seit den späten 1960er Jahren die Vorstellung der „einen Welt“.11 Unterhalb dieser, die ganze Welt in den Blick nehmenden Kategorien verfestigten sich mit und seit dem Zweiten Weltkrieg zudem (ältere) regionale Raumkategorien. Die Vorstellungen eines asiatisch-afrikanischen, eines asiatischen, eines (pan-)afrikanischen, lateinamerikanischen oder auch westeuropäischen Raumes wurden durch die Gründung von Regionalorganisationen und deren spezifischer regionaler Perspektive untermauert. In den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich beispielsweise die fünf zwischen 1947 und 1973 gegründeten regionalen Wirtschaftskommissionen der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik, Afrika, Europa, Asien und Pazifik sowie Westasien12; die auf dem Marshall-Plan aufbauende Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) 1948 und deren sowjetisches Pendant, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 1949; die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957; die Organization of African Unity (OAU) 1963; die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) 1967 oder auch die Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC) 1960.13 „Gänsefüßchen“ sollen hier zumindest dieses Dilemma markieren. Für erste Ansätze zur Historisierung des „Dritte Welt“-Begriffs vgl. Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt, New York 2011; Dinkel, Jürgen: „Dritte Welt“ – Geschichte und Semantiken. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte. 6.10.2014. https://docupedia.de/zg/Dritte_Welt (25.9.2019); Speich Chassé, Daniel: Die „Dritte Welt“ als Theorieeffekt. Ökonomisches Wissen und globale Differenz, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015). H. 4. S. 580–612. 11 Siehe zeitgenössische Literatur wie Meadows, Dennis L. (u.a.): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972; Schumacher, Ernst Friedrich: Small Is Beautiful. Economics as if People Mattered. New York 1973; Gorz, André: Ökologie und Politik: Beiträge zur Wachstumskrise. Hamburg 1977. Vgl. historiographische Studien wie Kuchenbuch, David: „Eine Welt“. Globales Interdependenzbewußtsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren. In: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012). H. 1. S. 158–184; Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011; Selcer, Perrin: The Postwar Origins of the Global Environment. How the United Nations built Spaceship Earth. New York 2018. 12 1947: Economic Commission for Europe (ECE), Economic and Social Commission for Asia and the Pacific (ESCAP); 1948: Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC); 1958: Economic Commission for Africa (ECA); 1973: Economic Commission for Western Asia (ESCWA). 13 Siehe in diesem Band unter anderem die Beiträge von Stella Krepp, Rüdiger Graf und Andreas Weiß. Für aktuelle Studien zum RGW siehe Jajesniak-Quest, Dagmara/ Müller, Uwe (Hrsg.): Comecon Revisited. Integration in the Eastern Bloc and Entanglements with the Global Economy. (Comparativ 2017. Nr. 5/6). Leipzig 2018; Lorenzini, Sara: Comecon and the South in the years of détente. A Study on East-South Economic Relations. In: European Review of History 21 (2014). Issue 2: European Socialist Regimes Facing Globalisation and European Cooperation:

Zur Historisierung globaler Beziehungen



5

Zweitens behaupteten die Akteure mit ihrem Sprechen von „Nord“ und „Süd“ nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen den sehr unterschiedlichen Gebieten bestimmter Regionen, sondern sie negierten auch Unterschiede zwischen diesen. Was hatten beispielsweise Bolivien, Indien, Jugoslawien, Lesotho, Mexiko, Saudi-Arabien und Sri Lanka gemeinsam? Die Unterschiede hinsichtlich der Staatsform, der Bevölkerungsgröße, der Bedeutung von Religion, der Wirtschaftskapazität, des Ressourcenreichtums oder auch des unterschiedlichen Zeitpunkts ihrer politischen Unabhängigkeit waren immens. Dies galt auch für die Länder, die mit dem globalen Norden assoziiert wurden: Gab es tatsächlich so viele Gemeinsamkeiten zwischen Liechtenstein und der Sowjetunion, zwischen Ungarn und Norwegen oder zwischen den USA und der DDR? Vor diesem Hintergrund – der Existenz einer Vielzahl alternativer Weltordnungskategorien und den zumindest auf den ersten Blick vorhandenen enormen Divergenzen innerhalb des Nordens und Südens – ergibt sich der umfassende Fragenkatalog dieses Bandes: Wann begann das Sprechen von „Nord“ und „Süd“? Wann nahm das Sprechen von „Nord“ und „Süd“ wieder ab? Welche unterschiedlichen Semantiken etablieren die Bezeichnungen? Welche Akteure oder Akteurskonstellationen brachten die Deutungskategorien „Nord“ und „Süd“ überhaupt erst hervor? Welche Akteure verbreiteten die mit den Begriffen einhergehende Weltsicht? Welche Gruppenzugehörigkeiten wurden damit geschaffen? Welche Gemeinsamkeiten betont, welche Unterschiede überdeckt? Wie wurde das Begriffspaar gefüllt, wie veränderte sich dieses? In welchen Bereichen, für welche Themen fand es Anwendung? Wie wurde Überzeugungskraft hergestellt, wie wirkten die beiden Kategorien auf Weltwahrnehmungen ein und welche Handlungen zogen sie nach sich? Welche Wechselwirkungen hatte das Deutungsangebot im Norden und Süden auf die Entwicklung spezifischer Identitäten und Formen der Politik? Ebenso ist von Interesse, welche Akteure den Begriff nicht oder nur selten benutzten. Wo lagen die Grenzen der Nord-Süd-Semantik? Wie äußerte sich die Konkurrenz zu anderen Deutungen von Weltpolitik? Welche Transformationen erlebte die Deutung, was blieb von den Konzepten übrig und wie wirken diese bis in die Gegenwart nach? Und wie lassen sich schließlich das Sprechen von „Nord“ und „Süd“, die daraus hervorgegangenen Akteure und ihre Handlungen in eine Geschichte der internationalen Politik und der globalen Beziehungen einordnen? Die Beiträge dieses Bandes setzen sich auf unterschiedliche Art und Weise, mit verschiedenen Untersuchungsgegenständen und unter spezifischer Gewichtung einzelner Aspekte mit diesem Fragekomplex auseinander. Durch die HistoDilemmas and Responses. S. 183–199. Zur OPEC siehe u. a. Garavini, Giuliano: The Rise and Fall of OPEC in the Twentieth Century. Oxford 2019.

6  Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer

risierung diverser Themen mit Bezug auf die Nord-Süd-Beziehungen im 20. Jahrhundert entsteht ein facettenreiches Panorama, das neue Perspektiven öffnet. Die Einleitung versteht sich hierbei als Scharnier. Sie verbindet den aktuellen Wissensstand mit dem Innovationspotential der beitragenden Autor*innen dieses Bandes und eröffnet Perspektiven für weitere Forschungen.

Wissensstand – Skizze eines Forschungsfeldes Der Blick der Zeitgeschichte auf die internationalen Beziehungen hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren tiefgreifend verändert.14 An dieser Stelle kann nur ein Überblick gegeben werden, der keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die Verweise sind daher auch nur exemplarisch zu verstehen und sind zugegeben selektiv und subjektiv aus unseren Arbeitsfeldern abgeleitet. Anregende Impulse lieferte zum einen die mittlerweile mit dem Schlagwort „Globalgeschichte“ verknüpfte und in Lehrbuchwissen manifestierte Perspektive, grenzüberschreitende Beziehungen und Verflechtungen über Weltregionen hinweg wie auch das Eindringen weltumspannender Phänomene in Diskursen und Lebenswelten zu thematisieren.15 Zum anderen bewirkte der prägnante Aufruf „Provincializing Europe!“ von Dipesh Chakrabarty aus dem Umfeld der Postcolonial Studies zu Beginn der 2000er Jahre in den Geschichtswissenschaften eine Dezentrierung und Maßstabsverschiebung weg von europäisch/westlichen Konzepten hin zur (gleichberechtigten) Betrachtung der Geschichte anderer Weltregionen und deren Denkfiguren.16 Offen bleibt dabei, ob das Verständ14 Aus der Vielzahl an Studien seien die programmatischen Bände aus der Reihe Studien zur internationalen Geschichte genannt: Loth, Wilfried/Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000; Dülffer, Jost/Loth, Wilfried (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012 sowie Sassen, Saskia (Hrsg.): Deciphering the Global. Its Scales, Spaces and Subjects. New York 2007. 15 Einflussreich etwa Bayly, Christopher: The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons, 1780–1914. London 2004; Iriye, Akira/Osterhammel, Jürgen. Geschichte der Welt. 1945 bis heute. Die globalisierte Welt. München 2013; Einen frühen methodischen Überblick in Kürze und Prägnanz liefert Kälble, Hartmut: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt? https://www.connections.clio-online.net/article/id/artikel-574 (30.9.2019). Ein ebenso anregender, neuerer Debattenbeitrag von Edelman, Jeremy: What is Global History Now? https://aeon.co/essays/is-global-history-still-possible-or-has-it-had-its-moment (30.9.2019). 16 Stichwortgeber aus der Vielzahl postkolonialer Wissenschaften und den Subaltern Studies ist hier Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000.

Zur Historisierung globaler Beziehungen 

7

nis von „Geschichte“ selbst als Metakonzept und zentrales Moment der Selbstbeschreibung der europäischen Moderne hegemonial bleiben, durch außereuropäische Temporalitäten bereichert oder in Frage gestellt wird. Unbestritten ist, dass in der historischen Forschung die globalgeschichtliche Perspektive und postkoloniale Ansätze zumindest das Denken und Schreiben in nationalen Containern aufbrachen und erweiterten. Vor allem methodisch und thematisch wirkten sie sich auf die älteren Traditionen der „Weltgeschichte“ und vor allem auf das Feld der Internationalen Geschichte aus. Richtete sich die Aufmerksamkeit historischer Studien zur internationalen Geschichte seit den 1940er Jahren lange Zeit schwerpunktmäßig auf den OstWest-Konflikt oder ist sie mitunter auf diese (dichotome) Perspektive reduziert worden, so hat sich der Fokus mittlerweile deutlich geweitet. Neben neuen Aspekten des „Kalten Krieges“, wie etwa dessen ideen- und kulturgeschichtlicher Vermessung, der Entwicklung hin zum „Global Cold War“ oder gar „Kalten Kriegen“ im Plural,17 haben geschichtswissenschaftliche Studien weitere Prozesse und Akteure (etwa Dekolonisierung, internationale Organisationen, NGOs, Massenmedien) sowie Themen (Menschenrechte, Humanitarismus, Umwelt, Gesundheit, Religion, Entwicklung usw.) und bestehende Desiderate ausgeleuchtet, welche die internationalen Beziehungen zum Teil in Verflechtung mit dem Kalten Krieg, zum Teil parallel zu ihm ablaufend geprägt haben.18 Damit setzte sich ein Verständnis durch, dass die Geschichte der internationalen Beziehungen als einen Prozess versteht, der multipolar und Ebenen übergreifend von unterschiedlichen Themen und Akteursensembles beeinflusst sowie von verschie17 Siehe exemplarisch die Reihe „Studien zum Kalten Krieg“, die Aspekte der internationalen Forschung abdeckt. Greiner, Bernd/Müller, Christian Th./Walter, Dierk (Hrsg.): Heiße Kriege im Kalten Krieg. Hamburg 2006; dies. (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg. Hamburg 2008; dies. (Hrsg.): Angst im Kalten Krieg. Hamburg 2009; Greiner Bernd/Weber, Claudia/Müller, Christian Th. (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburg 2010; Greiner, Bernd/Müller, Tim B./Weber, Claudia (Hrsg.): Macht und Geist im Kalten Krieg. Hamburg 2011; Greiner, Bernd/Müller, Tim B./Voß, Klaas (Hrsg.): Erbe des Kalten Krieges. Hamburg 2013. Zur Ideengeschichte etwa Reichherzer Frank/Droit, Emmanuel/Hansen, Jan (Hrsg.): Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung. Berlin/Boston 2018. Zum Global Cold War Westad, Odd Arne: Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times. Cambridge 2005; Lüthi, Lorenz (Hrsg.): The Regional Cold Wars in Europe, East Asia, and the Middle East. Crucial Periods and Turning Points. Washington, D.C./Stanford 2015; McMahon, Robert J. (Hrsg.): The Cold War in the Third World. Oxford 2013; Forschungsperspektiven eröffnet eine Interviewreihe des Arbeitskreises Militärgeschichte. http://www.berlinerkolleg.com/de/interviewreihe-forschung-zum-kalten-krieg (2.10.2019). 18 Eckel, Jan: Vielschichtiger Konflikt und die transnationale Steuerung. Zur Neuinterpretation der Geschichte internationaler Politik zwischen den 1940er- und den 1990er-Jahren. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 57 (2017). S. 497–535. Frey, Marc/Kunkel, Sönke/Unger, Corinna R. (Hrsg.): International Organizations and Development, 1945–1990. Basingstoke 2014.

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denen Zeitlichkeiten geprägt war.19 Dies hat einerseits zu neuen Periodisierungsvorschlägen für das 20. Jahrhundert, andererseits zu einer neuen Suche nach den Ursprüngen der Gegenwart geführt. In diesem Zusammenhang entstand auch ein neues Interesse für den „Global South“ und die Nord-Süd-Beziehungen.20 Zwar gab es schon in den 2000er Jahren programmatische Vorstöße und Aufforderungen, die Nord-Süd-Thematik in der internationalen Geschichte stärker zu berücksichtigen.21 Jedoch kommt es erst seit wenigen Jahren zu einer empirisch fundierten Historisierung der Nord-Süd-Beziehungen und deren Einordnung in die Geschichte des 20. Jahrhunderts.22 Thematisch liegt der Schwerpunkt dabei häufig auf der wirtschaftspolitischen Dimension des Konflikts in den 1970er Jahren.23 Diese Studien interpretieren die Nord-Süd-Konstellation weitgehend übereinstimmend als ein Produkt der Dekolonisierung und als einen Zeitraum, in dem nach der politischen Unabhängigkeit der postkolonialen Länder vor allem auf internationalen Konfe19 Vor allem das Überschreiten und Verknüpfen von Ebenen und wird deutlich im Begriff der „Assemblage“ in den Arbeiten von Saskia Sassen. Etwa Sassen: Saskia: Neither Global nor National. Novel Assemblages of Territory, Authority and Rights. In: Ethics & Global Politics 1 (2008) 1–2. S. 61–79. 20 Braveboy-Wagner, Jacqueline Anne: Institutions of the Global South. New York 2009; Alden, Chris/ Morphet, Sally/Vieira Marco Antonia: The South in World Politics. New York 2010. 21 Vgl. Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999; Maier, Charles: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era. In: Forum Essay, American Historical Review 105 (2000). No. 3. S. 807–831. Connelly, Matthew James: A Diplomatic Revolution. Algeria’s Fight for Independence and the Origins of the Post-Cold War era. Oxford 2002. 22 Siehe u. a. Kunkel, Sönke: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2012). H. 4. S. 555–577. Darüber hinaus u. a. die Studien von Prashad, Vijay: The Darker Nations. A People’s History of the Third World. New York 2007. Garavini, Guiliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South, 1957–1986. Oxford 2012; Lee, Christopher James (Hrsg.): Making a World after Empire. The Bandung Moment and its Political Afterlives. Athens 2010; Khudori, Darwis (Hrsg.): Bandung at 60. New Insights and Emerging Forces. Yogyakarta, Indonesia 2015; Slate, Nico: Colored Cosmopolitanism. The shared Struggle for Freedom in the United States and India. Cambridge 2012; Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Berlin (u.a.) 2015; Byrne, Jeffrey James: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order. New York 2016; James, Leslie/ Leake, Elisabeth (Hrsg.): Decolonization and the Cold War. Negotiating independence. London (u.a.) 2015. 23 Für aktuelle Studien siehe u. a. die Sonderausgabe 6 (2015) des Humanity Journals zur New International Economic Order. Bresselau von Bressensdorf, Agnes/Seefried, Elke/Ostermann, Christian (Hrsg.): West Germany, the Global South and the Cold War. Berlin 2017; von Bernstorff, Jochen/Dann, Philipp (Hrsg.): The Battle for international Law. South-North Perspectives on the Decolonization Era. New York 2019.

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renzen und in internationalen Organisationen wie der UNCTAD die Fragen diskutiert wurden, wie internationale Politik und globale Wirtschaft gestaltet und gesteuert werden müssen, damit sich souveräne Staaten etablieren und wirtschaftlich entwickeln können. Während die „südlichen“ Länder, angelehnt an Modernisierungstheorien und ausgehend von Konzepten staatlich kontrollierter Globalsteuerung, für eine staatliche Regulierung der Wirtschaft plädierten, war unter den „nördlichen“ Industriestaaten die Bereitschaft zu Zugeständnissen und für einen Dialog gering. Dies führte dazu, dass die postkolonialen Staaten ihre Kooperation intensivierten und in den Vereinten Nationen 1974 die Verabschiedung einer symbolträchtigen Resolution zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung durchsetzten. Deren faktische Umsetzung und Implementierung scheiterte jedoch, wobei die genauen Ursachen des Scheiterns erst in Ansätzen untersucht wurden. Gleichwohl ist das Scheitern der Neuen Weltwirtschaftsordnung der Ausgangspunkt für unterschiedliche und kontroverse Bewertungen und Einordnungen des Nord-Süd-Konflikts in die Geschichte der internationalen Beziehungen nach 1945. Während einige neuere Gesamtdarstellungen und Beiträge, in Fortsetzung älterer Narrative, die Bedeutung des NordSüd-Konflikts für die internationale Geschichte nach 1945 weiterhin eher gering einschätzen,24 charakterisieren ihn andere als den Prozess, in dem die westlichamerikanische Weltordnung nach 1945 am stärksten herausgefordert und zu erheblichen Anpassungen gezwungen wurde.25 Dass solche divergierenden Einordnungen des Nord-Süd-Konflikts momentan nebeneinander existieren, lässt sich vor allem mit der bisher geringen empirischen Durchdringung zahlreicher Facetten des Konflikts und dessen Engführung auf seine wirtschaftspolitische Dimension erklären. Andere Dimensionen und Akteure des Konflikts – wie die Rolle von Militärkooperationen, Medien, Religion, Unternehmen, Tourismus, Umwelt- und Protestbewegungen – sind hingegen erst in Ansätzen untersucht und noch selten auf ihre Bedeutung und Verzahnung mit anderen Debatten der internationalen Politik befragt worden.26 24 Vgl. Beitrag von Rüdiger Graf in diesem Band. 25 Vgl. Mazower, Mark: Governing the world. The History of an Idea. New York 2012; Ogle, Vanessa: State Rights against Private Capital. The „New International Economic Order“ and the Struggle over Aid, Trade, and Foreign Inverstment, 1962–1981. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 5 (2014). Nr. 2. S. 211–234. 26 Vgl. u. a. Hansen, Jan/Helm, Christian/Reichherzer, Frank (Hrsg.): Making Sense of the Americas. How Protest related to America in the 1980s and Beyond. Frankfurt a. M. 2015; Möckel, Benjamin: „Ökonomische Eigenlogiken“ und „alternative Sachzwänge“. Ökonomisierungsdiskurse im ethischen Konsum seit den 1960er Jahren. In: Ökonomisierung: Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Graf. Göttingen 2019. S. 360–382; Storkmann, Klaus P.: Solidarität und Interessenpolitik. Militärhilfen der DDR für die Dritte Welt. In: Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990.

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Perspektiverweiterungen – Zeitraum, Akteure, Themen, Historisierung An diesem Punkt setzt das Konzept dieses Bandes an. Zusammen mit den Autorinnen und Autoren wollen wir einen Blick auf die vielfältigen Felder der Nord-Süd-Beziehungen werfen. Gemeinsam soll in der Gesamtschau der Beiträge damit ein neuer Blick auf „Nord/Süd“ entstehen, den eine Einzelstudie nicht leisten kann. Die Kompetenzen der Autor*innen liefern ein Bild, das – so denken wir – eine Vielzahl von Fragen beantwortet und gleichsam neue Fragen aufwirft. Aus unserer Sicht erweitern die Beiträge die bisherigen Debatten in vier Punkten: im Hinblick auf Zeitraum, Akteure, Themen sowie ihre Historisierung und Einbettung in breitere Kontexte. Anknüpfend an diese vier Punkte wird für uns ein weiterführendes Verständnis der Nord-Süd-Beziehungen deutlich. Wir erkennen in der Nord-Süd-Konstellation einen Rahmen, in dem sich verschiedene Entwicklungen am Ende des Kolonialzeitalters koppelten, diese Prozesse mit Deutungskraft versahen und sich zu einem Komplex verbanden, der wiederum Deutungs- und Argumentationsmuster für weitere Bereiche globaler Beziehungen und politisches Handeln bot und damit auch Räume eröffnete, um Alternativen zur geltenden Weltordnung zu artikulieren. Einige der Beiträge eröffnen eine längere Perspektive auf die Nord-Süd-Beziehungen. Sie lösen damit den Konflikt aus seiner zeitlichen Engführung auf die (langen) 1970er Jahre heraus und ordnen ihn in eine umfassendere Geschichte des Nachdenkens über globale Zusammenhänge und Interdependenzen ein. Martin Deuerlein widmet sich den Interdependenz-Debatten, deren Ursprünge bis ins 19. Jahrhundert reichen. Versteht man die Erde als eine Entität, die allen Menschen gleichberechtigt gemeinsam gehört, liegt der Gedanke eines globalen Gemeinguts nicht fern, wie die Beiträge von Andrea Rehling und Johanna Sackel zeigen.27 Die separierten Debatten um globale Interdependenzen und globale Gemeingüter schafften seit dem 19. Jahrhundert ein Bewusstsein für das Entstehen, das Vorhandensein und die Beeinflussung globaler Zusammenhänge sowie deren Folgen, wie es vorher nicht existierte. Auf dieses BeHrsg. von Oliver Bange. München 2013. S. 357–376; Müller, Simone: ‚Cut Holes and Sink ’em‘. Chemical Weapons Disposal and Cold War History as a History of Risk. In: Historical Social Research 41 (2016). Nr. 1. Special Issue „Risk as an Analytical Category. Selected Studies in the Social History of the Twentieth Century“. S. 263–286. Vgl. ebenso das aktuelle Projekt von Timothy Nunan: „The Islamic Factor: Socialists, Islamists, and the Soviet Union in Cold War Eurasia“. 27 Vgl. u. a. Böhm, Enrico: Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel. München 2014; Löhr, Isabella/Rehling, Andrea (Hrsg.): Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt. München 2016.

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wusstsein bauten die zeitgenössischen Nord-Süd-Beziehungen auf und beeinflussten sie; sie existieren in veränderte Form bis heute. Eng damit verbunden, und ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für die Nord-Süd-Beziehungen, war die sich parallel zum Interdependenzbewusstsein herausbildende Annahme, dass sich globale Zusammenhänge und Ordnungen planbar errichten, steuern und verändern ließen. Die Zeitgenossen sahen neben wissenschaftlichen Expert*innen auch die Regierungen von (National-)Staaten sowie internationale Organisationen als die zentralen Akteure an, die solche Steuerungsprozesse vornehmen und durchsetzen sowie darauf aufbauende Ordnungen aufrecht erhalten könnten.28 Diese Ordnungen waren wiederum mit globalen Machtverhältnissen verzahnt und deren Produkt. Internationale Verträge und Organisationen wie der Völkerbund und die frühen Vereinten Nationen wurden von den europäischen (Kolonial-)Ländern und den Vereinigten Staaten dominiert. Die Sowjetunion und die Volksrepublik China wirkten vor allem mit ihrem Veto-Recht im Sicherheitsrat auf die Beschlüsse der Vereinten Nationen ein. Die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorgetragene Kritik an globaler Machtverteilung und das Einfordern von Mitspracherechten gewann mit der voranschreitenden Dekolonisierung, der Entstehung neuer Staaten und deren Aufnahme in internationale Organisationen bis in die 1960er Jahre permanent an Kraft. Verknüpft war diese neue Stärke mit Narrativen von einem vermeintlichen Niedergang des Westens und dem Aufstieg der außereuropäischen Welt.29 Koloniale Unabhängigkeitsbewegungen, Regierungen und Wissenschaftler*innen postkolonialer Staaten kritisierten – wie der Beitrag von Stella Krepp zeigt – zunächst ihren Ausschluss aus diesen Organisationen und dann aus deren Entscheidungszentren. Akteure des Südens waren der Überzeugung, dass globale Regelungen ihre Staaten benachteiligen würden und dass die Interessen der südlichen und postkolonialen Staaten in den existierenden Ordnungen und Organisationen nicht ausreichend berücksichtigt würden. Vor allem in der Ausübung ihrer Souveränität – wie Rüdiger Graf und Jonas Kreienbaum in ihren Beiträgen zeigen – sahen sich die Staaten der postkolonialen Welt benachteiligt.30 28 Vgl. Muschik, Eva-Maria: Managing the World. The United Nations, Decolonization, and the Strange Triumph of State Sovereignty in the 1950s and 1960s. In: Journal of Global History 13 (2018). Nr. 1. S. 121–144. 29 Aydin, Cemil: The Politics of Anti-Westernism in Asia. Visions of World Order in Pan-Islamic and Pan-Asian thought. New York 2007. Mishra, Pankaj: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Frankfurt a. M. 2013. 30 Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. München 2010; Manela, Erez: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford/New York 2007;

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Vor diesem Hintergrund entwickelten Wissenschaftler*innen und Politiker*innen aus verschiedenen Ländern Vorschläge alternativer Weltordnungen und setzten sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen für Reformen der bestehenden globalen Ordnungen ein. Sönke Kunkel zeigt am Beispiel internationaler Initiativen in der Katastrophenvorsorge das Bewusstsein und die wissenschaftliche Erfassung von Globalität auf. Diesem Wissen stand allerdings in der Praxis eine nur rudimentäre weltweite Katastrophenvorsorge gegenüber und die Risiken blieben weiterhin ungleich verteilt. Stella Krepp untersucht in ihrem Beitrag die Tätigkeiten der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und der Karibik (engl. ECLAC; span. CEPAL). Die Wissenschaftler*innen der in Santiago de Chile ansässigen UN-Institution kritisierten das globale Handelssystem und führten vor allem die massive Diskrepanz hinsichtlich der weltweiten Wohlstandsunterschiede auf dessen Strukturen zurück. Zugleich stellten sie den im globalen Norden geprägten Entwicklungstheorien alternative Ansätze gegenüber. Anhand der CEPAL macht sie zudem sichtbar, wie wenig homogen und identitätsstiftend die Kategorie des (globalen) Südens (mit Fokus auf Lateinamerika) sein konnte. Dies betont auch Rüdiger Graf, der in der Nord-SüdSemantik eine attraktive Lesart erblickt, die aber mit „Nord“ und „Süd“ nur unzureichende Kategorisierungen und homogene Einheiten lieferte und damit globale Ungleichheiten oder Konflikte ähnlich binär-hegemonial wie der Ost-WestGegensatz strukturierte. Der Nord-Süd-Konflikt – so schließt Graf – wurde daher nicht real und nicht machtpolitisch ausgetragen. Viel mehr entfalte die Gegenüberstellung von Norden und Süden symbolisch und diskursiv eine gewisse Kraft in Bezug zu anderweitigen politischen Interessenlagen. Trotz dieser in den Debatten über globale Zusammenhänge sichtbar werdenden Unterschiede zwischen den Weltregionen führten sie aber auch zur Entstehung neuer internationaler Organisation sowie informeller internationaler Netzwerke, die zu Foren von „Nord/Süd“ wurden, wie die Beiträge von Michel Christian und Steffen Fiebrig zu UNIDO und UNCTAD zeigen. Die in diesen Organisationen formulierten Ansätze für eine globale Reform der internationalen Arbeitsteilung respektive der internationalen Wirtschaftsordnung bündelten Kerngedanken alternativer, postkolonialer Weltordnungen. Doch auch in den länger etablierten Institutionen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO; engl. International Labour Organisation, ILO) oder der aufstrebenden Bewegung Bündnisfreier Staaten wurde nun über alternative Weltordnungen diskutiert und es wurden Reformen gefordert. So zeigt Daniel Maul auf, wie die Mazower, Mark: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton 2009; Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927-1992). Berlin (u.a.) 2015.

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ILO auf die Forderungen des Südens mit der Etablierung eines Weltbeschäftigungsprogramms reagierte, welches in Tradition der ILO stand und nur sekundär die Belange der Entwicklungsländer traf. Jonas Kreienbaum zeichnet in seinem Beitrag nach, wie die Bewegung Bündnisfreier Staaten zu Beginn der 1970er Jahre intensiver in den Wettstreit um die globale Ordnung einstieg. Durch die Bündelung dieser einzelnen Impulse kam es innerhalb weniger Jahre in den 1960er und 1970er Jahren zur Institutionalisierung des „Südens“ in der internationalen Politik. Die Wucht, welche die in den Nord-Süd-Beziehungen geforderten Reformen in den 1970er Jahren entfalteten, resultierte jedoch nicht nur aus der reinen Zunahme postkolonialer Staaten und der Institutionalisierung des Südens. Darüber hinaus war ihr gemeinsames, kollektives Auftreten wichtig. Viele Zeitgenossen waren darüber überrascht, dass die Regierungsoberhäupter höchst unterschiedlicher Staaten in der internationalen Politik erfolgreich kooperierten und gemeinsame Positionen entwickeln konnten. Gekoppelt war dies an die wirtschaftspolitische Macht der neuen Staaten, die ihnen durch die Kontrolle großer Teile der weltweiten Naturressourcen zukam. Insbesondere die Tatsache, dass sich die Majorität der weltweiten Ölvorkommen in Ländern des Südens befand, ermöglichte ihnen seit den frühen 1970er Jahren, durch die Kontrolle der Ölförderungsraten und der Preisbildung massiven Einfluss auf die globale Wirtschaft zu nehmen. Die Anhebung des Ölpreises nach dem Ausbruch des JomKippur-Krieges 1973 war aus dieser Perspektive der erste erfolgreiche Einsatz dieser ökonomisch-politischen Waffe.31 In diesem Moment gelang es den in mehreren Organisationen (z.B. G-77, Bewegung Bündnisfreier Staaten, OPEC) zusammengeschlossenen Regierungsoberhäuptern verschiedener Staaten als gemeinsame Vertreter eines „Südens“ aufzutreten, eine „Neue Weltordnung“ zu fordern und in Ansätzen auszuformulieren. Dies kann als der symbolische Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Süd und Nord betrachtet werden. Wie Steffen Fiebrig in seinem Beitrag aufzeigt, ging es unter anderem um eine weitreichende Reform der globalen Handels- und Wirtschaftsregeln. Die Umsetzung dieser Reformen scheiterte unter anderem an der flüchtigen Interessenkongruenz innerhalb des globalen Südens. Der Reformanspruch des Südens betraf jedoch nicht nur – wie bisher schwerpunktmäßig untersucht – wirtschaftspolitische Fragen. Die Beiträge von Michael Homberg, Andrea Rehling, Johanna Sackel, Katja Naumann, Daniel 31 Garavini, Giuliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South, 1957–1985. Oxford 2012; Graf, Rüdiger: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren. Berlin 2014; Garavini, Giuliano: The Rise and Fall of OPEC in the Twentieth Century. Oxford 2019.

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Stahl und Sönke Kunkel verdeutlichen, dass es in den Debatten um eine „Neue Weltordnung“ auch um eine Reform der Nachrichten-, Informations-, Mediensowie Wissenschaftsordnung ging.32 Darüber hinaus betrafen diese Forderungen die Definitionen und den Umgang mit Global Commons, warfen Fragen nach der Regulierung des Meeresbodens, der internationalen Wissensordnung bis hin zur internationalen Abrüstung sowie globalen Umweltbedrohungen auf. Johanna Sackel und Andrea Rehling widmen sich der Idee eines gemeinsamen Erbes der Menschheit. Beide Autorinnen zeigen auf, inwiefern dem Konzept im Kontext der Debatten über eine postkoloniale Weltordnung ein strategisches Gehalt zugesprochen wurde. Die Länder des Südens versuchten neu zu definieren, welche Ressourcen und Seegebiete als gemeinsames Erbe der Menschheit anzusehen und welche als Erbe oder Eigentum eines einzelnen Staates zu definieren seien. Dabei kam es punktuell zu Interessenskoalitionen postkolonialer Staaten, die sich mit den Linien des Nord-Süd-Konflikts deckten, zum Teil aber auch zu Konflikten innerhalb der Staaten des „Nordens“ und des „Südens“ führten. Ähnliche Muster arbeitet Daniel Stahl für globale Abrüstungsdebatten heraus. Auch in diesen zeigt sich einerseits eine einheitliche Position des Südens, wenn dieser von den nördlichen Staaten eine Reduktion der Rüstungsausgaben zu Gunsten von Entwicklungshilfe forderte. Auf bilateraler Ebene und anhand einzelner Fallbeispiele zeigt er andererseits auf, dass diese einheitliche Position in Detailfragen und von einzelnen Staaten aber auch aufgeweicht wurde und die Debatte nicht immer entlang klar definierter Konfliktlinien verlief. Auf den Bereich der Wissensbeziehungen und der Wissenschaftspolitik konzentrieren sich die Beiträge von Katja Naumann und Sönke Kunkel. Während Letzterer die Veränderungen im Feld der internationalen Katastrophenvorsorge mit dem Fokus auf Erdbebenforschung aus einer Nord-Süd-Perspektive untersucht, wirft Katja Naumann einen Blick auf das universalistische Projekt der internationalen Sozialwissenschaften. Wie sie zeigt, schaffte es die UNESCO nicht, ihrem Ziel der Inklusion der dekolonisierenden Länder in die bestehende Wissensordnung gerecht zu werden. Deshalb kam es auch in der UNESCO zu Konflikten zwischen Wissenschaftlern aus Nord und Süd, in denen sich allerdings die des Nordens durchsetzten. Dies führte wiederum dazu, dass die Mitarbeiter der Organisation bei der Beschreibung globaler Konstellationen stärker auf kleinere regionale Schemata zurückgriffen und weniger die Groß-Kategorien „Nord“ und „Süd“ verwendeten. Im Feld der Sozialwissenschaften und der Medienpolitik ebenso von zentraler Bedeutung, aber bisher wenig untersucht, ist 32 Dinkel, Jürgen: Dekolonisierung und Weltnachrichtenordnung. Der Nachrichtenpool bündnisfreier Staaten (1976-1992). In: Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Frank Bösch u. Peter Hoeres. Göttingen 2013. S. 211–231.

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der Aspekt des freien Informationsflusses, dem sich Michael Homberg widmet. Ebenfalls mit dem Fokus auf der UNESCO verweist er auf die Grenzen der Informationsfreiheit und analysiert am Beispiel des ab 1975 in Indien durchgeführten Satellite Instructional Television Experiments (SITE), inwiefern die zeitgenössischen Akteure aus Nord und Süd über die Kontrolle von Informationsströmen stritten. Zusammengenommen arbeiten die Beiträge dadurch einerseits heraus, dass der Anspruch des Südens, eine „Neue Weltordnung“ zu schaffen, nicht nur auf wirtschaftspolitische Reformen zielte, sondern sehr viel umfassender war und auch zahlreiche andere Themenbereiche betraf, die sich teilweise verzahnten und entlang der Nord-Süd-Dichotomie verhandelt wurden. So lässt sich mit verschiedenen Veränderungen des Blickwinkels gemeinsam mit der breiteren Verortung des Nord-Süd-Konzeptes zeigen, dass das Denken, Sprechen und Handeln im Nord-Süd-Modus auch eine Begründungsressource für unterschiedliche Positionen und Anliegen sein konnte. Mit den Kategorien „Nord“ und „Süd“ konnten globale Asymmetrien in mehreren Themenfeldern benannt und – so zumindest der Anspruch zahlreicher zeitgenössischer Akteure – auch gelöst und beseitigt werden. Deutlich werden in diesen Beiträgen andererseits aber auch die Grenzen dieses umfassenden Reformprojekts, wie sie noch stärker in den Beiträgen von Andreas Hilger, Andreas Weiß, Dmitri van den Bersselaar und Sarah Stein aufgezeigt werden. Sie verdeutlichen, dass die Nord-Süd-Konstellation in anderen Feldern und für bestimmte Akteure nur marginale Bedeutung hatte und sich gegenüber anderen Weltdeutungen nicht durchsetzte. Andreas Hilger arbeitet am Beispiel der Beziehungen zwischen Indien und der UdSSR die Ablehnung von Nord-Süd-Semantiken und Deutungen durch die Sowjetunion heraus, die im Widerspruch zu sozialistischen Weltordnungsdefinitionen standen. Indien wiederum lehnte europäisch fundierte Ordnungskonzepte in globalen Debatten ab. Andreas Weiß verdeutlicht anhand der supranationalen und intergouvernementalen Organe der Europäischen Gemeinschaften, dass auch die EG Probleme hatte, Nord-Süd-Logiken in Handlungen zu übersetzen. So dachte die Europäische Kommission Welt in mehr oder weniger abgeschlossenen ökonomisch sowie politisch integrierten Regionen und war in ihren Aktionen auf entsprechende äquivalente Spiegelungen von Regionalorganisationen angewiesen. Auch multinationale Unternehmen griffen das Deutungsmuster „Nord und Süd“ nicht auf, wie Dmitri van den Bersselaar am Beispiel der United Africa Company (UAC) aufzeigt. Die Arbeitsweise des UAC-Vorstandes war vor allem darauf ausgerichtet, die Märkte im globalen Süden zu verstehen und möglichst gute Beziehungen zu Investitions- und Geschäftspartner zu etablieren. Hier zeigen sich eher Veränderungen der globalwirtschaftlichen Strukturen in dieser Zeit und

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die geringe Bedeutung der Kategorien „Süd“ und „Nord“ für Unternehmer*innen auf beiden Seiten. Auch für den Bereich der Kultur lässt sich die geringe Relevanz von Nord-Süd-Semantiken festhalten. Folgt man der Argumentation Sarah Steins, spielten Nord-Süd-Debatten während der prognostizierten Hochphase in den 1970er Jahren für frankophone afrikanische Filmschaffende keine Rolle. Erst Anfang der 1980er Jahre tauchen Versatzstücke davon in einzelnen programmatischen Schriften auf, die wiederum Einfluss auf die Arbeit der Künstler*innen hatten und deren Sichtweise veränderte. Diese Befunde verweisen damit auf die Grenzen der Nord-Süd-Deutung. Für eine Vielzahl zeitgenössischer Akteure lässt sich daher festhalten, dass sie zumeist einen eher pragmatischen, politikfeldbezogenen Umgang mit Deutungsangeboten pflegten. Damit stellt sich eine unserer Ausgangsfragen neu: Wer nutzte (und wer nicht) wann, in welchem Zusammenhang welches Ordnungsmuster zu welchem Zweck und mit welchem Ziel?

„Nord/Süd“ als komplexe globale Konstellation – ein Interpretationsversuch Nimmt man abschließend den Forschungsstand und die mit den Beiträgen dieses Bandes getroffenen Erweiterungen zusammen und blickt auf das entstandene Panorama, drängt sich folgende Interpretation von „Nord/Süd“ auf: Erstens: Die Nord-Süd-Deutung lässt sich als multipolar und global ablaufender Prozess verstehen, der sektorale Entwicklungen über alle Skalen hinweg vom lokalen bis hin zum Weltmaßstab verbinden konnte. Ausgangspunkt war die Synchronisationen von Entwicklungen und Diskussionen, die zum Teil im 19. Jahrhundert, zum Teil nach dem Zweiten Weltkrieg und zum Teil erst in den 1960er Jahren begannen und zunächst an unterschiedlichen Orten stattfanden beziehungsweise geführt wurden. Diese Vielzahl einzelner Ereignisse und einzelner Irritationen beziehungsweise Fehlfunktionen im Deutungsrahmen der Weltordnung der Nachkriegszeit verdichteten sich seit den 1960er Jahren nach dem Ende des Kolonialzeitalters, koppelten in einigen Feldern und wurden, nachdem diese Kopplungen Schwung aufnahmen und erste positive Rückkopplungen lieferten, zu einem einzigen Problemkomplex zusammengefasst, der Ansätze und Lösungen versprach. Ausschlaggebend hierfür waren Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und internationale Organisationen, welche von der

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Steuerung und Planung33 der Welt durch eben diese Expert*innen, Regierungen von Staaten und internationale Organisationen überzeugt waren und welche die einzelnen Diskussionen zu einer großen internationalen Debatte entlang einer Semantik von Nord und Süd zusammenschalteten. Nord/Süd baute somit einerseits auf älteren Annahmen auf und schürte die Hoffnung, dass sich globale Interdependenzen in nahezu allen Bereichen aktiv durch Politik, Absprachen und Regelungen von Staaten zum Wohle Aller steuern lassen könnten. Andererseits lieferte die Weltdeutung Nord/Süd ein Mittel zur Synchronisation von Ereignissen und Entwicklungen, schaffte nicht zuletzt offene Zukünfte und stellte denkbare Alternativen bereit. Unter dem Dach der Nord-Süd-Semantik konnten unterschiedliche Dinge für etwa 20 Jahre von Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre zusammen gedacht werden und – was nicht zu vernachlässigen ist – sich potenziell gegenseitig beeinflussen. Zweitens: Die Nord-Süd-Semantiken waren deutungsoffen und dienten als Strategie der Selbstermächtigung. Auch wenn sich vieles unter dem Dach Nord/ Süd verschaltete, die eine Deutung der Nord-Süd-Beziehungen hat es nicht gegeben. Übereinstimmung herrschte jedoch in der Annahme, dass eine Umgestaltung (welt-)politischer Verhältnisse und Strukturen möglich sei. Diese Offenheit sowie der inhärente Utopieüberschuss der Nord-Süd-Deutung erlaubte es unterschiedlichen Akteure unterschiedliche Handlungsanweisungen abzuleiten, was den Bezug auf Nord/Süd für sie attraktiv machte. Die Verwendung der Nord-Süd-Semantik stellte für viele Akteure eine Strategie der Selbstermächtigung dar, die sie auf der lokalen bis zur globalen Ebene benutzten, um ganz unterschiedliche Forderungen zu stellen und politische Projekte durchzusetzen. Drittens: Weltdeutungen haben zwar einen ideologischen Ganzheitlichkeitsanspruch, stehen aber in Konkurrenz zueinander, koexistieren und überlagern sich. Ihre Nutzung ist daher oft pragmatischer Natur. Dies gilt auch für die Nord-Süd-Ordnung. Ihr war ebenso ein holistischer Anspruch eingeschrieben, der sich aber nie vollständig realisierte und immer mit anderen Deutungen koexistierte. Im Ideenhaushalt von internationaler Politik bis in den Alltag hinein existierten daher teils mit Nord/Süd verflochtene, teils zu ihr im Widerspruch stehende Weltdeutungen und boten so ein reichhaltiges Repertoire an möglichen Deutungen und daraus resultierenden Handlungsweisen. Hegemoniale Deutungsmacht erlangte Nord/Süd daher nie. Gleichwohl prägte der Impuls dieser alternativen Weltdeutung und Weltordnung wesentlich das Verhalten und die Wahrnehmung verschiedenster Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart hinein. Dabei grenzte das Konzept sich 33 van Laak, Dirk: Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie (2010). http://docupedia.de/ zg/Planung (27. 9. 2019).

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einerseits von anderen Ordnungsmodellen wie „Ost/West“ („Kalter Krieg“), der „Dritten Welt“, dem „Neoliberalismus“, der „Globalisierung“ ab, andererseits ging es Verbindungen mit diesen ein oder überlagerte sich mit ihnen. Die Beiträge des Bandes zeichnen das Bild einer komplexen globalen Konstellation, in der alternative Weltordnungen denk- und sagbar wurden und für eine kurze Zeit zumindest realisierbar erschienen. Sie zeigen, dass einfache Antworten auf einfache Fragen nur selten möglich sind. Mit diesem Band ist daher der Aufruf verbunden, diese Konstellation in ihre Komplexität und Globalität zu entschlüsseln und sie somit in ihrem Zustandekommen, in ihren spezifischen zeitlichen Ausprägungen und Manifestationen, in ihrem Nutzen und Einsatz, in ihrer Verschiedenheit, wie auch in ihren Wechselwirkungen mit anderen Ordnungsmodellen angemessen in der Erforschung internationaler Beziehungen und globaler Zusammenhänge zu berücksichtigen. Was bleibt? Auch die Fragen, warum die Initiativen und Forderungen nach einer neuen Weltordnung weitgehend ohne greifbaren Erfolg blieben und was von den Debatten um globale Beziehungen und Ungleichheiten übrig blieb beziehungsweise von welchen neueren Debatten sie verdrängt, absorbiert oder überlagert wurden, stellen sich vor diesem Hintergrund erneut. Zumindest ein Weg mündet in der Formel vom „globalen Süden“. Doch existiert dieser „Süden“ bezugslos als entpolitisierte Form regionaler Verortung. Der Veränderungsanspruch, den das Sprechen im Verhältnis „Süd-Nord“ und „Nord-Süd“ ausmachte, ist nur noch rudimentär vorhanden, was die Behandlung von globalen Problemen wie etwa der Klimapolitik mehr als nur anschaulich zeigt. Im Erbe und Weiterleben der Nord-Süd-Debatten der 1960er und 1970er Jahre zeichnet sich momentan neben der umfassenden Erforschung der Semantiken die größte Forschungslücke ab, die auch die Beiträge des Bandes nur bedingt schließen. Bisher wird das Scheitern einer umfassenden neuen Ordnung der Welt entlang der regionalen wie metaphorischen Kerne von „Nord“ und „Süd“ eher holzschnittartig erklärt. Zumeist werden dabei drei Ansätze miteinander kombiniert: dies sind auftretende Divergenzen unter den südlichen Ländern selbst, die zum Auseinanderbrechen ihrer einheitlichen Haltung geführt hätten; der Verweis auf den Widerstand der westlichen Industriestaaten, die sich jeglicher Reform verweigert hätten und dem Aufkommen neoliberaler Ideen, nach denen nicht Staaten, sondern Märkte am besten global steuern.34 34 Garavini Giuliano: From Boumedienomics to Reaganomics. Algeria, OPEC, and the international struggle for economic equality. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarism and Development 6 (2015). H. 1. S. 79–92. Das sind die Erklärungsansätze die beispielsweise in dem Heft des Humanity Journals 2015 (6), Nr. 1 mit dem Themenschwerpunkt New International Economic Order angeführt werden. Eine multiperspektivische Analyse nehmen sowohl Jonas Kreienbaum in seinem Habilitationsprojekt „Das Öl und der Kampf um eine

Zur Historisierung globaler Beziehungen



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Der hier angestrebte Versuch, Hinweise zu einer Gesamtschau zu liefern, kann wegen der notwendigen Kompetenzen für unterschiedliche Räume, Themen, Akteure und Kontexte nur kollaborativ erfolgen. Unser Konzept setzt daher nicht nur auf vorhandene Kompetenzen und Ressourcen, sondern auch auf die Bereitschaft und nicht zuletzt die Zeit, sich auf ein solches Projekt einzulassen. Das hier ein Panorama entsteht, ist den Beitragenden und ihrem Engagement zu verdanken. Dass dieses Bild an einigen Stellen deutlich, an manchen Stellen blass oder auch an anderen dunkel bleibt, liegt in der Natur der Sache, keine Vollständigkeit erreichen zu können. Das Fehlen von Beiträgen zu Aspekten der Religion oder zu Repräsentationen der Nord-Süd-Beziehungen in europäischen Kleinstädten in Form von „Dritte-Welt-Läden“ oder auch zur Konstitution des Nordens in Reaktion und Relation auf einen Süden – zu denen es in einzelnen Beiträgen nur einzelne Informationen oder Andeutungen gibt – verweist auf nur einen Teil der Desiderate. Trotzdem zeigen die Beiträge vielfältige Themen und Bereiche auf, die eine Ausdeutung und Ausformung im Kontext der Nord-Süd-Thematik erfuhren. Die mitunter bestehenden Spannungsfelder und Widersprüche zwischen den Beiträgen sollen dazu anregen und auch herausfordern, mit ihnen und über sie hinaus die Nord-Süd-Konstellation weiter in den Blick zu nehmen. Somit kommen die Ergebnisse der einzelnen Beiträge auch unserer Absicht entgegen, nicht das letzte Wort zu haben, sondern in ein Gespräch zu treten und weitere Forschungen anzuregen.

neue Weltwirtschaftsordnung – Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er für die Nord-Süd-Beziehungen“ als auch Steffen Fiebrig in seinem Dissertationsprojekt „Trade not aid: Das Ringen um eine gerechte Weltwirtschaft in der UNCTAD (1964-1982)“ vor.

Martin Deuerlein

Inter-Dependenz: Nord-Süd-Beziehungen und die Auseinandersetzung um die Deutung der Welt In der zeithistorischen Forschung ist mittlerweile weitgehend unumstritten, dass die 1970er Jahre eine Zeit grundlegender Veränderungen darstellten, gar einen „Epochenbruch“ markieren. Zu diesen Umbrüchen werden nicht nur in einzelnen Regionen ablaufende Prozesse wie der ökonomische „Strukturwandel“ oder das Ende des westlichen Nachkriegsbooms gezählt.1 In dieser Zeit wird vielmehr auch ein grundlegender Wandel der internationalen Politik und des internationalen Systems „hin zu einem komplexen Mehrebenensystem“ verortet, in dem internationale Organisationen und nicht-staatliche Akteure eine immer wichtigere Rolle gespielt hätten.2 In diesem Zusammenhang werden die 1970er Jahre auch als das Jahrzehnt des „Nord-Süd-Konflikts“ gesehen. Zusammen mit ökonomischen Entwicklungen wird daraus in der Forschung die These abgeleitet, die heutige Phase der „Globalisierung“ habe in dieser Zeit begonnen.3 Solche Interpretationen schreiben dabei jedoch Deutungen aus den 1970er Jahren selbst fort. Globale Verflechtung war ein zentraler Aspekt der zeitgenössischen Gegenwartsdiagnostik, US-Außenminister Henry Kissinger erklärte seine Gegenwart gar zum Zeitalter der „Interdependenz“ – der vor den 1980er Jah-

1 Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren. Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“. In: Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren. Hrsg. von Knud Andresen u. Ursula Bitzegeio u. Jürgen Mittag. Bonn 2011. S. 25–40. 2 Kunkel, Sönke: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012). Nr. 4. S. 555–577. Hier S. 557. Zum Wandel der internationalen Politik Sargent, Daniel J.: A Superpower Transformed. The Remaking of American Foreign Relations in the 1970s. Oxford 2015. 3 Zum Nord-Süd-Konflikt Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin 2015. S. 309; zur Globalisierung Ferguson, Niall/Maier, Charles S./Manela, Erez/Sargent, Daniel J. (Hrsg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge 2010. https://doi.org/10.1515/9783110682625-002

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ren geläufigste Begriff zur Beschreibung solcher Zusammenhänge.4 Auch die Feststellung, dass die Nord-Süd-Beziehungen nun zu einem zentralen Thema der internationalen Politik geworden seien, stammt schon aus dieser Zeit selbst.5 Die Gleichzeitigkeit der neuen Prominenz von Nord-Süd-Beziehungen und globalen Verflechtungsdiagnosen war dabei kein Zufall, gingen diese Interpretationen doch in weiten Teilen aus denselben Beobachtungen und Ereignissen hervor. Den Wechselwirkungen dieser verschiedenen Deutungen gilt es nachzuspüren, insbesondere da Quellenbegriffe und die Perspektive dieser Zeit bis heute Ausrichtung und Kategorien der historischen Analyse beeinflussen. Dieser Beitrag wird sich deshalb mit der Frage auseinandersetzen, welche Rolle die als „globaler Süden“ bezeichneten Weltregionen zwischen den 1950er und den 1980er Jahren in Debatten über Verbindungen und Verflechtungen über große Entfernungen, kurz in „globalistischen“ Gegenwartsdiagnosen spielten.6 Dazu gilt es erstens, der Rolle kolonialer und post-kolonialer Weltregionen in „nördlichen“, primär US-amerikanischen und westeuropäischen Interdependenzdebatten nachzuspüren. Hier treten in erster Linie Sozialwissenschaftler in den Blick, die durch eingängige Begriffsprägungen für komplexe Gegenwartsbeobachtungen auch Relevanz in politischen Debatten erlangen konnten.7 Zweitens wird es darum gehen, globalistische Gegenwartsdiagnosen und daraus abgeleitete Weltdeutungen und politische Programme von Akteuren aus dem „Süden“ selbst zu betrachten. Hier kommen Akteure aus Unabhängigkeitsbewegungen und post-kolonialen Regierungen, aber auch solche Sozialwissenschaftler in den Blick, deren Arbeiten politische Zielsetzungen verfolgten – das gilt insbesondere für die sogenannte Dependenz-Theorie. Bei dieser Untersuchung wird deutlich, dass Fragen von wechselseitiger Verflechtung und einseitiger Ab4 Kissinger, Henry A.: A new national partnership. Speech by Secretary of State Henry A. Kissinger at Los Angeles. January 24, 1975. In: The Department of State Bulletin 72 (1975). No. 1860. February 17, 1975. S. 197–207. Hier S. 197. 5 Begriffe wie „Dritte Welt“, aber auch Alternativen wie der „globale Süden“, „Entwicklungsländer“ oder „Least Developed Countries“ sind zeitgenössisch in verschiedenen Bedeutungen verwendet und aus verschiedenen Perspektiven kritisiert worden. Sie sind selbst Ausdruck bestimmter Weltdeutungen und müssen deshalb historisiert werden. Mangels neutraler Alternativbegriffe werden sie in diesem Artikel dennoch in Anführungszeichen und weitgehend synonym verwendet. Zur Begriffsgeschichte vgl. u. a. Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt a. M. 2011. S. 53–57. 6 Der Begriff „Globalismus“ verweist auf den Konstruktionscharakter und die Historizität von Diagnosen grenzüberschreitender Verflechtungen über weite Entfernungen, die je nach Zeit und Ort als „Globalisierung“, aber auch unter anderen Begriffen wie der „Interdependenz“ verhandelt worden sind. Dazu u. a. Steger, Manfred B.: The Rise of the Global Imaginary. Political Ideologies from the French Revolution to the Global War on Terror. Oxford 2008. 7 Vgl. den Beitrag von Katja Naumann in diesem Band.

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hängigkeit, kurz von Interdependenz und Dependenz, in der Geschichte der globalistischen Gegenwartsdiagnostik stets eine große Rolle spielten. Weltpolitik und Weltdeutung standen hier in einem engen Interaktionsverhältnis, was an der Frage nach der Rolle des „souveränen Nationalstaats“ als politische Organisationsform und analytische Kategorie besonders deutlich wird. Die Betrachtung der Interdependenz-Debatte kann damit als Sonde für die Untersuchung weitreichender Fragen der Deutung und Gestaltung der Welt dienen.

Interdependenz und Kolonialismus vom 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre Die 1955 in Bandung, Indonesien, veranstaltete Asiatisch-Afrikanische Konferenz gilt als eines der ersten Treffen, auf dem Akteure aus dem „globalen Süden“ ein gemeinsames politisches Programm formulierten. Lange ist die Forschung hier der zeitgenössischen Einschätzung gefolgt, in der Bandung vor allem wegen der Positionierung der beteiligten Staaten als neutrale Kraft zwischen den „Blöcken“ des Kalten Krieges Beachtung fand.8 Die Konferenz markiert jedoch auch einen der ersten Momente, in dem Akteure aus dem „Süden“ selbstbewusst eigene Weltdeutungen und Vorstellungen über eine zukünftige internationale Ordnung äußerten: Gegenüber den ehemaligen Kolonialherren beharrten sie auf politischer und ökonomischer Entflechtung und bekräftigten die „Selbstbestimmung der Völker und Nationen“ als Grundlage aller anderen Menschenrechte sowie die Prinzipien von „Souveränität“, „territorialer Integrität“, „Gleichberechtigung“ der Staaten und der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“. Ihre Leitvorstellung war hier eine „von Kolonialismus und Fremdherrschaft befreite Welt, die in selbstbestimmte souveräne Einheiten aufgeteilt ist“.9 In globalem Maßstab formulierten sie dagegen die Vision einer neuen Ordnung, die auf gleichwertiger und gleichberechtiger Verflechtung aufbaute: Indonesiens Präsident Sukarno beschwor in seiner Eröffnungsansprache die Prinzipien von Unabhängigkeit und Souveränität, betonte aber ebenfalls, „splendid isolation“ sei keine Option mehr – keine Nation könne wie eine Insel existieren. Die Konferenz von Bandung sei deshalb keine Versammlung einer bestimmten

8 Dazu Dinkel, Bewegung, S. 10–15. 9 Siehe etwa Final Communique of the Asian-African Conference. In: Asia-Africa Speaks from Bandung. Hrsg. von The Ministry of Foreign Affairs, Republic of Indonesia. Djakarta 1955. S. 161–169. Das Zitat in Fisch, Jörg: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München 2010. S. 20.

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Religion oder Ethnie, es gehe ihr nicht um die Gründung eines „neuen Blocks“, sondern darum, Souveränität und Verflechtung zusammenzudenken. Die hier versammelten Nationen übernähmen Verantwortung für die „Probleme der Welt“, von deren Lösung die Zukunft aller abhänge, und versuchten, eine zentrale Botschaft zu vermitteln: it is possible to live together, meet together, speak to each other, without losing one’s individual identity; and yet to contribute to the general understanding of matters of common concern and to develop a true consciousness of the interdependence of men and nations for their well-being and survival on earth.10

Aus dieser Perspektive wurden in Bandung nicht nur Forderungen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung formuliert, sondern auch eine darüber hinausgehende Vision neuer internationaler Beziehungen, in denen „Hierarchie und Abhängigkeit“ von den Grundprinzipien der „Gleichheit und Interdependenz“ in einem multilateralen System abgelöst werden sollten.11 Die Diagnose einer immer engeren Verflechtung der Welt war dabei keineswegs neu. Ihre Geschichte lässt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen und berührte damit stets auch koloniale Fragen. Schon Karl Marx und Friedrich Engels sprachen 1848 von einer „allseitige[n] Abhängigkeit der Nationen voneinander“, die „die Bourgeoisie“ durch ihre „Exploitation des Weltmarkts“ hervorgebracht habe.12 In den folgenden Jahrzehnten wurde der Begriff der „Interdependenz“ zu einer zentralen Kategorie der jungen Sozialwissenschaften, besonders in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Dem Zeitgeist entsprechend dominierte eine fortschrittsorientierte Interpretation: Nach dem von frühen Soziologen wie Herbert Spencer und Émile Durkheim geprägten Verständnis sozialer Entwicklung als „Evolution“ führte die durch stetige Spezialisierung immer ausdifferenziertere „Arbeitsteilung“ zu wechselseitiger Abhängigkeit sozialer Einheiten.13 Bei diesen inter-

10 Speech by President Sukarno at the opening of the conference. In: Asia-Africa Speaks from Bandung, S. 19–29, hier S. 25–27. 11 Acharya, Amitav/Tan, See S.: The normative relevance of the Bandung conference for contemporary Asian and international order. In: Bandung Revisited. The Legacy of the 1955 AsianAfrican Conference for International Order. Hrsg. von Amitav Acharya u. See S. Tan. Singapur 2008. S. 2–16. Zitat S. 11. 12 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei [1848]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 4. Hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1977. S. 459–493. Hier S. 463, 466. 13 Etwa bei Spencer, Herbert: Die Prinzipien der Soziologie. Band 2. Stuttgart 1887; Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften [1893]. Frankfurt a. M. 1992.

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dependenten Einheiten handelte es sich im Denken der Zeit fast ausnahmslos um Nationen beziehungsweise Nationalstaaten, die nach dem „Gesetz“ des Wachstums sozialer Einheiten vom Kleinen zum Großen in der Zukunft jedoch in einer „Weltgesellschaft“ und einem „Weltstaat“ aufgehen würden.14 Vor dem Ersten Weltkrieg wurde wachsende Verflechtung im europäischen und nordatlantischen Raum als „Kolonisation des einen durch den anderen“ beschrieben, die im Denken des „liberalen Internationalismus“ mit der Erwartung kooperativer internationaler Beziehungen einherging.15 Außerhalb Europas waren diese Kolonisation und die daraus entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse dagegen weit weniger wechselseitig und gleichberechtigt. Die heutige Forschung betont, dass solche eurozentrischen und fortschrittsoptimistischen Gegenwartsdiagnosen in einem engen Wechselverhältnis mit jenen Veränderungen im Bereich der Technologie, des Welthandels und der internationalen Politik standen, die heute als „imperiale Globalisierung“ beschrieben werden.16 Wechselseitige Abhängigkeit existierte für die meisten Beobachter nur zwischen den „zivilisierten“ Nationen des nordatlantisch-europäischen Raums. Andere Räume fungierten in Diagnosen einer verflochtenen und „schrumpfenden Welt“ primär als zu erschließende Gebiete und Quelle von Rohstoffen. Das lag schon alleine daran, dass ihre Bewohner nicht als gleichberechtigte Handelspartner, nicht als Subjekte des Völkerrechts und schlicht nicht als Teil der „society of nations“ galten.17 Hier diente wachsende Verflechtung zur Legitimation kolonialer Expansion: Der in Kalifornien tätige Politikwissenschaftler Bernard Moses führte beispielsweise Anfang des 20. Jahrhunderts das „universelle Gesetz der Interdependenz“ an, um zu argumentieren, angesichts der wachsenden internationalen Verflechtung könne man es sich schlicht nicht mehr leisten, „rohen Völkern“ zu erlauben, in „barbarischer Isolation“ zu verharren und damit der übrigen Menschheit dringend benötigte Rohstoffe vorzuenthalten.18 14 Siehe etwa Bebel, August/Sparig, Bruno: Für und wider die Commune. Disputation zwischen d. HH. Bebel u. Sparig in d. „Tonhalle“ zu Leipzig, Freitag d. 10. März 1876. Leipzig 1876. S. 29. 15 La Fontaine, Henri/Otlet, Paul: La Vie Internationale et l’effort pour son organisantion. In: La Vie Internationale 1 (1912). Nr. 1. S. 9–34. Hier S. 10, 12. 16 Thomas, Martin/Thompson, Andrew: Empire and globalisation. From „high imperialism“ to decolonisation. In: The International History Review 36 (2013). No. 1. S. 142–170. 17 Vgl. Schmidt, Brian C.: The Political Discourse of Anarchy. A Disciplinary History of International Relations. Albany 1998. S. 123–149. 18 Moses, Bernard: The control of dependencies inhabited by the less developed races. In: Congress of arts and science. Vol. VII. Universal exposition St. Louis, 1904. Hrsg. von Howard F. Rogers. Boston/New York 1906. S. 387–398. Hier S. 388. Die Idee stammte von Locke, John: The second treatise. An essay concerning the true original, extent, and end of civil government

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Verschiedene Projekte internationaler Kooperation sollten deshalb schon im 19. Jahrhundert dazu beitragen, globale Verflechtungsbeziehungen zu regulieren.19 Nach dem Ersten Weltkrieg schien die Errichtung einer kooperativen Weltordnung noch dringlicher geworden. Der Völkerbund und andere Projekte, die die nordatlantische Hegemonie in der Weltpolitik und Weltwirtschaft fortschrieben, gerieten nun jedoch in Konflikt mit antikolonialen Ideen und Bewegungen. Ende der 1930er Jahre sollte etwa der amerikanische Journalist Clarence Streit behaupten, während „unterentwickelte Völker“ noch weitgehend autark leben könnten, seien „zivilisierte“ so verflochten, dass sie ihre politischen Strukturen anpassen müssten. Er schlug deshalb eine „Federal Union of the Democracies of the North Atlantic“ mit gemeinsamer Staatbürgerschaft, Währung und Streitkräften vor, die als Keimzelle für eine zukünftige Weltregierung dienen sollte. Unter dem Titel „Not Counting Niggers“ wurde Streit von George Orwell heftig dafür kritisiert, in scheinheiliger und selbstgerechter Weise die Interessen der kolonisierten Völker ignoriert zu haben.20 Nach dem Ersten Weltkrieg konnten antikoloniale Akteure zudem die zunächst von Lenin, dann auch US-Präsident Woodrow Wilson formulierte Norm der „Selbstbestimmung der Völker und Nationen“ gegen erzwungene koloniale Integration ins Feld führen.21 Die genaue Form der angestrebten postkolonialen Ordnung war dabei noch offen: Neben Nationalismus und einem souveränen Staat waren in den 1920er und 1930er Jahren durchaus noch verschiedene Panismen und föderative Formen mit der kolonialen Metropole mögliche Optio-

[1689]. In: John Locke: Two Treatises of Government and a Letter Concerning Toleration. Hrsg. von Ian Shapiro. New Haven 2003. S. 100–209. Hier S. 114. Im späten 19. Jahrhundert kamen noch rassistische Vorstellungen hinzu, nach denen wie bei Arthur de Gobineau die „weiße Rasse“ als mobil und expansionistisch, die „schwarze“ als immobil und abgekapselt verstanden wurde. Ein knapper Überblick bei Lindner, Ulrike: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914. Frankfurt a. M. 2011. S. 297–316. 19 Vgl. Geyer, Martin H./Paulmann, Johannes (Hrsg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War. Oxford 2001. 20 Streit, Clarence: Union now. A Proposal for a Federal Union of the Democracies of the North Atlantic. New York 1938; Orwell, George: Not counting niggers. In: Adelphi 1939 (July). S. 394– 398. Zum Hintergrund Rosenboim, Or: The Emergence of Globalism. Visions of World Order in Britain and the United States. 1939–1950. Princeton 2017. 21 U.a. Lenin, Wladimir I.: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen [1916]. In: W. I. Lenin: Werke. Band 22. Hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1960. S. 144–159; Woodrow Wilson: Address to congress on international order. February 11, 1918. https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-congress-international-order (8.4.2019).

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nen.22 Denn antikoloniale Akteure wie Jawaharlal Nehru sprachen noch Ende der 1930er Jahre davon, das bisherige Staatensystem habe das Ende seiner begrenzten Lebensspanne erreicht. Die Unabhängigkeit Indiens müsse deshalb in Weltkategorien gedacht werden: „The days of isolated national existence are past beyond recall and the only alternative to world cooperation is world disruption and war and continuous conflicts between nations till they are all involved in a common ruin.“23 In den 1950er Jahren hatte sich der „souveräne Nationalstaat“ als Leitbild und Zielvorstellung antikolonialer Unabhängigkeitsbewegungen jedoch weitgehend durchgesetzt. Nur ein eigener Staat schien ökonomisch wie politisch vollständige Unabhängigkeit von Ausbeutung und Fremdbestimmung zu garantieren, aber auch nach innen Einheit herstellen zu können.24 Ab Mitte der 1950er Jahre verschoben die post-kolonialen Staaten auch die Debatte um Menschenrechte im Rahmen der Vereinten Nationen von individuellen in Richtung kollektiver ökonomischer und sozialer Rechte, als deren Träger Nationalstaaten gesehen wurden.25 Die im Dezember 1960 von der Generalversammlung verabschiedete „Declaration on Granting Independence to Colonial Countries and Peoples“ verknüpfte Freiheit, Menschenrechte und den Weltfrieden mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung und dem Schutz nationaler Einheit sowie territorialer Integrität eines jeden Staates. Mit den beiden UN-Menschenrechtspakten von 1966 wurde die „Selbstbestimmung der Völker“ zur Grundlage von „Freiheit“ und wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung erklärt.26 Autoren, die wie der schweizerische Historiker Herbert Lüthy 1956 eine

22 Vgl. Manela, Erez: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007; Aydin, Cemil: The Politics of Anti-Westernism in Asia. Visions of World Order in Pan-Islamic and Pan-Asian Thought. New York 2007; Mishra, Pankaj: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Frankfurt a. M. 2013. 23 Nehru, Jawaharlal: A World Federation [National Herald, 1.6.1939]. In: The Essential Writings of Jawaharlal Nehru. Vol II. Hrsg. von Sarvepalli Gopal u. Uma Iyengar. New Delhi 2003. S. 216–217. 24 Dazu Mazower, Mark: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton 2013. S. 104–148. 25 Vgl. Burke, Roland: Decolonization and the Evolution of International Human Rights. Philadelphia 2010. S. 35–58; Eckel, Jan: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Göttingen 2014. S. 260–340. 26 United Nations General Assembly Fifteenth Session. Resolution 1514. 14 December 1960, A/ RES/1514(XV), Text unter https://undocs.org/en/A/RES/1514(XV); Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: https://treaties.un.org/doc/Treaties/1976/01/19760103%200957%20PM/ Ch_IV_03.pdf und https://treaties.un.org/doc/Treaties/1976/03/19760323%2006-17%20AM/

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„sachliche Diskussion“ über den Kolonialismus einforderten, der aus seiner Sicht mit weltrevolutionärer Kraft „alle Kontinente, Völker und Länder ihrer Isolierung“ entrissen und damit erstmals die durchaus positiv gedeutete Möglichkeit geschaffen habe, „die Menschheit als Ganzes und ihre Geschichte als Weltgeschichte zu denken“, wirkten damit ebenso aus der Zeit gefallen wie Versuche der kolonialen Metropolen, in den 1940er Jahren die Idee der „Interdependenz“ zu mobilisieren, um Bestrebungen nach „Independenz“, das heißt nach Unabhängigkeit der Kolonien entgegenzuwirken.27 Während sie gegenüber den ehemaligen kolonialen Metropolen in den 1950er Jahren primär nach Abgrenzung und Entflechtung strebten, erklärten Vertreter der jetzt als „Dritte Welt“ bezeichneten Regionen in Bandung und danach die engere Verflechtung ihrer Staaten und Völker zu einem zentralen Ziel. Ideen verschiedener Reichweite wie die „Négritude“ Léopold Sédar Senghors, der Pan-Afrikanismus Kwame Nkrumahs oder verschiedene Varianten des „Third Worldism“ sollten eine von „bürgerlichen“ oder „sozialistischen“ Varianten unabhängige Version des „Internationalismus“ schaffen, der in der Sprache der „global citizenship and rights“ die transnationale Solidarität der Opfer von Rassismus und Kolonialismus beschwor.28 Hier tat sich neben Kuba besonders die algerische FLN hervor, die ihren Unabhängigkeitskampf in einen offensiv propagierten „Dritte Welt-Internationalismus“ einband und damit ein ganz anderes Verständnis von Verflechtung vertrat als die französische Regierung, die nach dem Konzept der „indépendance dans l’interdépendance“ bemüht war, Algerien im staatlichen Verbund zu halten.29

Ch_IV_04.pdf (25.9.2019). Vgl. dazu auch Whelan, Daniel J.: Indivisible Human Rights: A History. Philadelphia 2010. S. 139–141. 27 Lüthy, Herbert: Ruhm und Ende der Kolonisation. In: Der Monat 9 (1956/57). Nr. 106. S. 26– 39. Zitat S. 30; Minute by Eastwood, 21 April 1943, CO 323/1858/9057B, zit. nach Louis, William R.: Imperialism at Bay. The United States and the Decolonization of the British Empire. 1941– 1945. New York 1978. S. 247. 28 Amrith, Sunil S.: Asian internationalism. Bandung’s echo in a colonial metropolis. In: InterAsia Cultural Studies 6 (2006). No. 4. S. 557–569. Ein kritischer Blick auf diese „Solidarität“ bei Özsu, Umut: „Let us first of all have unity among us“. Bandung, international law, and the empty politics of solidarity. In: Bandung, Global History, and International Law. Critical Pasts and Pending Futures. Hrsg. von Luis Eslava u. Michael Fakhri u. Vasuki Nesiah. New York 2017. S. 293–307. Senghor war Schriftsteller und von 1960 bis 1980 erster Präsident des Senegal. Nkrumah war von 1957/1960 bis 1966 Premierminister/Präsident Ghanas. Zu Nkrumah Biney, Ama: The Political and Social Thought of Kwame Nkrumah. New York 2011; zu Senghor Belting, Hans/Buddensieg, Andrea: Ein Afrikaner in Paris. Leopold Sedar Senghor und die Zukunft der Moderne. München 2018. 29 Siehe Vernet, Daniel: L’indépendance dans l’interdépendance. In: Le Monde 7.11.2006; Connelly, Matthew J.: A Diplomatic Revolution. Algeria’s Fight for Independence and the Origins of

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Zur engeren Zusammenarbeit der Staaten der „Dritten Welt“ gehörten auch Ideen ökonomischer Kooperation innerhalb des „Südens“. Denn der einzelne Nationalstaat, das hatte schon Carlos P. Romulo, Vertreter der Philippinen in Bandung deutlich gemacht, erlaube es zwar, die eigene Selbstachtung zurückzugewinnen und lokale Probleme zu bearbeiten, könne auf sich allein gestellt aber nicht länger Entwicklung, Wohlstand und Frieden garantieren: Die „neuen Nationen“ dürften deshalb die Fehler Westeuropas nicht wiederholen, wo man zu lange an dem „engen und inadäquaten Instrument des Nationalstaats“ festgehalten habe: „We of Asia and Africa are emerging into this world as new nation states in an epoch when nationalism, as such, can only solve the least of our problems […]. We have to have the imagination and courage to put ourselves in the forefront in the attempt to create a 20th-century world based on the true interdependence of peoples.“30

Dependenz und Interdependenz in den 1960er Jahren Entsprechende Projekte regionaler ökonomischer Integration und intensiverer multilateraler Kooperation scheiterten im Laufe der 1950er und 1960er Jahre jedoch weitgehend, da fast alle postkolonialen Staaten ihre Wirtschaftspolitik auf einzelstaatliche „Entwicklung“ ausrichteten.31 Die meisten Regierungen setzten hier zunächst auf beschleunigtes Wachstum durch Infrastrukturausbau und Industrialisierung, die über Rohstoffe hinaus auch den Export von verarbeiteten Produkten ermöglichen und bei Verbrauchsgütern Importe durch eigene Produkte ersetzen sollte. Damit ging zwar potentiell eine stärkere Einbindung in die Weltwirtschaft einher, die durch ökonomische wie soziale „Entwicklung“ jedoch gleichzeitig größere Autonomie und ein Ende von Abhängigkeit und Ausbeutung versprach. Diese Erwartungen sollten sich jedoch in den meisten Fällen nicht erfüllen. Mitte der 1960er Jahre kam eine fünfzehn- bis zwanzigjährige Phase an ihr Ende, in der die meisten „Entwicklungsländer“ zumindest in absoluten Zahlen ein auf Exporten basierendes Wirtschaftswachstum vorweisen konnten. Nun the Post-Cold War Era. Oxford 2002. S. 8, 33, 95, 282f.; Byrne, Jeffrey J.: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order. New York 2016. S. 10, 78–81, 119, 170. 30 Philippines [Carlos P. Romulo]. In: Asia-Africa Speaks from Bandung, S. 113–120, hier S. 115. Einen Überblick über verschiedene Formen der „Süd-Süd-Kooperation“ bietet Braveboy-Wagner, Jacqueline A.: Institutions of the Global South. London 2009. 31 Vgl. Dinkel, Bewegung, S. 139–148.

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wurde zunehmend deutlich, dass sie gegenüber den Industrieländern in der Weltwirtschaft eher noch zurückgefallen waren, Strategien nationaler Entwicklung nicht die erhofften Erfolge gebracht hatten und sich optimistische Entwicklungserwartungen auch in Zukunft nicht erfüllen würden. Als zentrale Ursachen für diese Probleme wurden von Akteuren aus dem „Süden“ nun Faktoren identifiziert, die außerhalb ihres unmittelbaren politischen Einflusses lagen. Tanganjikas Präsident Julius Nyerere hatte schon 1963 festgestellt, die Welt werde jeden Tag kleiner und in London, New York oder Tokyo hergestellte Produkte beeinflussten mittlerweile das Leben von Menschen sogar im „bush hinterland“. Wegen der weiterhin bestehenden großen Ungleichheit sei man aber noch weit davon entfernt, von „einer Welt“ sprechen zu können.32 Angesichts der veränderten ökonomischen Lage wurde diese Situation Ende der 1960er Jahre von Akteuren aus der „Dritten Welt“ zunehmend negativ bewertet. Als zentrales Problem machten sie nun „multinationale Unternehmen“ aus. Obwohl Anfang der 1970er Jahre auch in Europa eine entsprechende Diskussion einsetzte, war die Problematik zuerst für die „Dritte Welt“ thematisiert worden und hier auch am gravierendsten.33 Denn über die politische Dekolonisation hinaus waren europäische und teilweise nordamerikanische Unternehmen oft Eigentümer von Betrieben und Rohstoffvorkommen in nun unabhängigen Ländern geblieben. Diese Situation wurde als Bedrohung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaftspolitik und der gerade erst errungenen „Souveränität“ empfunden. Das zweite Problem war die Tatsache, dass viele postkoloniale Volkswirtschaften nach wie vor recht einseitig auf den Export von Rohstoffen angewiesen und hier wie beim Import von Nahrungsmitteln stark von Preisschwankungen auf dem Weltmarkt betroffen waren. Zudem hatten sie das Gefühl, diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein: Denn erstens stellte Nyerere in den 1970er Jahren fest, afrikanische Regierungen könnten zwar nationale Entwicklungsstrategien verfolgen und Gesetze erlassen, müssten dann jedoch erkennen, dass sie keine „effektive Macht“ über wirtschaftliche Entwicklungen hätten, da es so etwas wie eine „nationale Wirtschaft“ überhaupt nicht gebe.34 Zweitens waren die Institutionen des Systems von Bretton 32 McDougall Memorial Lecture. F.A.O., 18 Nov. 1963. In: Freedom and Unity. A Selection from Writings and Speeches 1952–1965. Hrsg. von Julius K. Nyerere. Dar Es Salaam 1973. S. 231–251. Hier S. 232f. 33 Frühe Publikationen zu diesem Thema u. a. Piatier, A.: L’Occident devant les pays sousdéveloppés. Une nouvelle politique est-elle possible?. In: Politique étrangère 23 (1958). Nr. 2. S. 196–230 und Demonts, R./Perroux, F.: Grande firme – Petite nation. In: Presence Africaine 38 (1961). Nr. 3. S. 3–19. 34 Nyerere, Julius: The Process of Liberation. Rede an der Ibadan Universität, Nigeria, 17.11.1976. zit. nach Kunkel, Geschichte, S. 559.

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Woods wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das GATT, die hier durch internationale Kooperation hätten Abhilfe schaffen können, fest in der Hand der USA und der westeuropäischen Industrieländer und auf deren Vorteil ausgerichtet.35 Mit seinem Buch „Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism“ von 1965 trug Kwame Nkrumah zur Verbreitung eines Begriffs bei, der ab Mitte der 1960er Jahre dazu genutzt wurde zu kritisieren, dass ehemalige Kolonien nach ihrer politischen Unabhängigkeit nun auf ökonomischem Weg in neue Formen der Abhängigkeit gezwungen wurden.36 Regierungen der „Dritten Welt“ konnten auf diese Situation auf drei Arten reagieren: Im Rahmen der Vereinten Nationen wurden ab 1972 verstärkte Bemühungen unternommen, die Tätigkeit multinationaler Unternehmen zu regulieren.37 Eine zweite Option war der Versuch, das eigene Land stärker vom Weltmarkt abzuschotten und ökonomisch autarker zu werden. Dazu gehörte die Ende der 1960er Jahre einsetzende Welle von „Nationalisierungen“, das heißt der Verstaatlichung von Rohstoffvorkommen und des Eigentums multinationaler Unternehmen.38 Manche Regierungen setzten nun gleichzeitig stärker auf landwirtschaftliche Entwicklung anstelle von Industrialisierung.39 Ökonomische Autarkie war jedoch nur schwer zu erreichen, Verstaatlichungen provozierten internationale Konflikte. Ein dritter Lösungsweg lag deshalb nicht in der Abschottung von der Weltwirtschaft, sondern darin, deren Struktu35 Vgl. McKenzie, Francine: Free trade and freedom to trade. The development challenge to GATT, 1947–1968. In: International Organizations and Development, 1945–1990. Hrsg. von Marc Frey u. Sönke Kunkel u. Corinna R. Unger. Basingstoke 2014. S. 150–179. Exemplarisch zur Rolle Indiens bei der Gründung des Systems von Bretton Woods siehe Balasubramanian, Aditya/Raghavan, Srinath: Present at the creation. India, the global economy, and the Bretton Woods conference. In: Journal of World History 29 (2018). No. 1. S. 65–94. Eine positivere Sicht auf die Bretton-Woods-Institutionen bei Helleiner, Eric: Forgotten Foundations of Bretton Woods. International Development and the Making of the Postwar Order. Ithaca 2014. 36 Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism. London 1965. Zum Begriff „Neokolonialismus“ Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen. Göttingen 1987. S. 94–134; Young, Robert: Postcolonialism. An Historical Introduction. Oxford 2001. S. 44–49. 37 1972 riefen die Vereinten Nationen eine „Group of Eminent Persons“ ins Leben, deren Bericht eine stärkere Kontrolle durch Regierungen empfahl. Ab 1975 arbeitete das United Nations Center on Transnational Corporations an einem „code of conduct“, der jedoch nie verabschiedet und 1992 aufgegeben wurde. Vgl. McKenzie, Free trade. 38 Vgl. Oliveiro, Vernie: The United States, multinational enterprises, and the politics of globalization. In: The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Hrsg. von Niall Ferguson u. Charles S. Maier u. Erez Manela u. Daniel J. Sargent. Cambridge 2010. S. 143–155. 39 Siehe u. a. The Arusha Declaration. Socialism and Self-reliance, 5 February 1967. In: Freedom and Socialism. A Selection from Writings and Speeches 1965–1967. Hrsg. von Julius K. Nyerere. Dar es Salaam 1968. S. 231–250.

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ren zum eigenen Vorteil zu verändern. Die intellektuelle Grundlage für dieses Projekt war die „Dependenztheorie“, die in Lateinamerika in Auseinandersetzung mit der Modernisierungstheorie und der Politik der USA entwickelt worden war. Raúl Prebisch, André Gunder Frank und andere Autoren argumentierten, im Rahmen des europäischen Kolonialismus habe sich eine politische und ökonomische Weltordnung herausgebildet, die die Staaten der „Peripherie“ auch nach ihrer politischen Unabhängigkeit noch in ökonomischer Abhängigkeit von den „Zentren“ halte. „Unterentwicklung“ schien damit nun strukturell bedingt, keine „Phase“ des Übergangs von der „Tradition“ zur „Moderne“.40 „Entwicklung“ war dagegen nicht durch ein mehr an „Modernität“ nach amerikanischem Vorbild und durch nationale Maßnahmen zu erreichen, sondern nur durch eine radikale Umgestaltung des Weltwirtschaftssystems auf internationaler Ebene.41 War der (post-)koloniale Raum bis dahin im westlichen Nachdenken über Weltzusammenhänge seit den 1940er Jahren primär als Arena des Ost-WestKonflikts, mit den ersten Schritten der Entspannungspolitik der 1960er Jahre auch als Objekt gemeinsamer Entwicklungsbemühungen behandelt worden, stellte gerade die Dependenz-Theorie eine direkte Herausforderung besonders an die US-amerikanischen Sozialwissenschaften dar.42 „Dependistas“ kritisierten deren „oberflächliche oder apologetische Analysten“ dafür, die ausbeuterischen Aspekte der internationalen Wirtschaft zu verschleiern. Anstatt einfach die „Interdependenz der modernen Wirtschaft“ vorauszusetzen, müssten konkrete Formen von Abhängigkeitsverhältnissen und „rules of domination“ untersucht werden.43 US-amerikanische Politikwissenschaftler wie Robert Keohane und Joseph Nye, die prominentesten Vertreter der Interdependenz-These, griffen solche Kritik durchaus auf. Schon Anfang der 1970er Jahre hatten sie eingeräumt, „transnationale Interaktionen“ seien keineswegs immer „gerecht“, sondern stark asymmetrisch. Globale Interdependenz könne gerade für den „Süden“ eine bedrohliche Entwicklung sein.44 Die beiden Autoren richteten ihr

40 Siehe dazu auch die Beiträge von Stella Krepp und Steffen Fiebrig in diesem Band. 41 U.a. Frank, André G.: The development of underdevelopment. In: Monthly Review 18 (1966). No. 4. S. 17–31. Vgl. dazu Packenham, Robert A.: The Dependency Movement. Scholarship and Politics in Development Studies. Cambridge 1992. 42 Die „Dritte Welt“ als reines „Objekt“ noch bei Rock, Vincent P.: A Strategy of Interdependence. A Program for the Control of Conflict between the United States and the Soviet Union. New York 1964. 43 Cardoso, Fernando H./Faletto, Enzo/Urquidi, Marjory: Dependency and Development in Latin America. Berkeley 1979. S. xxi–xxii. 44 Nye, Joseph S./Keohane, Robert O.: Transnational relations and world politics. A conclusion. In: International Organization 25 (1971). No. 3. S. 721–748. Ähnlich auch Cox, Robert W.:

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Augenmerk zunehmend auf die Frage der „Reichweite“ von Interdependenzbeziehungen und auf die konkrete Form von Abhängigkeitsverhältnissen. Ihre 1977 vorgelegte Theorie der „komplexen Interdependenz“ führte Kategorien wie „Anfälligkeit“ („sensitivity“) und „Verwundbarkeit“ („vulnerability“) ein, um ein zu harmonisches Bild internationaler Verflechtung zu vermeiden.45 Hinter diesem neuen Blick auf globale Verflechtungsbeziehungen stand erstens ein grundlegender Umbruch im Nachdenken über Weltzusammenhänge an der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren: Die „Modernisierungstheorie“ wurde jetzt auch in den USA selbst dafür kritisiert, mit ahistorischen Konzepten allen historischen Wandel zum Resultat systemimmanenter Dynamiken gemacht und damit „externe“ Faktoren wie den „Kolonialismus“ vernachlässigt zu haben. Für den Soziologen Robert Nisbet waren „Wachstum“, „Entwicklung“ und „Fortschritt“ primär Metaphern, die ideologische Grundannahmen und rassistische Vorurteile offenbarten.46 Zweitens verlor vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik die Deutung der Welt in den bipolaren Kategorien des OstWest-Konflikts an Überzeugungskraft. Die internationale Politik schien immer multipolarer und komplexer zu werden. Zu den relevanten Akteuren der „transnationalen Beziehungen“ zählten westliche Sozialwissenschaftler nun auch multinationale Unternehmen und andere nichtstaatliche Organisationen.47

Die Ölkrise 1973 und die Neue Weltwirtschaftsordnung Während solche Überlegungen noch Anfang der 1970er Jahre eher akademischen Charakter zu haben schienen, traten sie mit der sogenannten „Ölkrise“ von 1973 recht plötzlich in den Aufmerksamkeitsbereich von Politik und Öffentlichkeit. Nun schien deutlich zu werden, dass nicht nur der „globale Süden“ vom „Norden“, sondern der „Norden“ gleichzeitig von der Rohstoffversorgung aus dem „Süden“ abhängig war – wahre Interdependenz also: „If anything was needed to illustrate the interdependence of nations in this world“, stellte Henry Labor and transnational relations. In: International Organization 25 (1971). No. 3. S. 554–584. Hier S. 584. 45 Keohane, Robert O./Nye, Joseph S.: Power and Interdependence. World Politics in Transition. Boston 1977. 46 Nisbet, Robert A.: Social Change and History. Aspects of the Western Theory of Development. Oxford 1969. S. 3–11. 47 Prägend Kaiser, Karl: Transnationale Politik. In: Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik. Hrsg. von Ernst-Otto Czempiel. Köln 1969. S. 82–119.

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Kissinger im Januar 1974 fest, „it is what has happened in the field of energy.“48 Seine Einschätzung in internen Gesprächen klang ähnlich, wenn auch schärfer: „We are now living in a never-never land, in which tiny, poor, and weak nations can hold up for ransom some of the industrialized world.“49 Beobachter in den Vereinigten Staaten, deren weltpolitische Position Mitte der 1970er Jahre durch die Niederlage in Vietnam, den Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und Probleme im transatlantischen Bündnis ohnehin geschwächt schien, deuteten die Ölkrise dann auch als Teil einer viel umfassenderen Krise. Aus Sicht der Länder des „Südens“ stellte sich die Situation dagegen ganz anders dar. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hatte sich ihre Aufmerksamkeit von politischen auf ökonomische Fragen und von nationalen Entwicklungsbemühungen auf koordinierte Anstrengungen im internationalen Rahmen verlagert. Schon 1963 hatten Vertreter der „Entwicklungsländer“ in der UN-Generalversammlung erklärt, eine „neue internationale Arbeitsteilung“ sei notwendig, da nur so die ökonomische Unabhängigkeit ihrer Länder gestärkt und gleichzeitig eine „wirklich interdependente und integrierte Weltwirtschaft“ entstehen könne.50 Eine Jahr später tagte erstmals die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) unter Leitung von Raúl Prebisch, die anschließend zu einem ständigen Organ der Generalversammlung werden sollte. Dort gründeten Vertreter der Staaten der „Dritten Welt“ die „Gruppe der 77“ (G-77), um ihre Positionen zu koordinieren. Zu Beginn der 1970er Jahre lässt sich eine erneute Intensivierung der Süd-Süd-Kooperation beobachten, manche Akteure nahmen nun radikalere Positionen ein.51 Wirtschaftskrise und Stagnation im „Westen“ sowie die Abwertung des Dollars infolge der Freigabe der Wechselkurse verschärften einerseits die ökonomischen Probleme der Entwicklungsländer. Die Erosion der von den USA dominierten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Nachkriegsordnung bot jedoch zugleich die einmalige Chance, auf ihre Neuverhandlung zugunsten des „Sü48 Secretary Kissinger and Federal Energy Administrator Simon hold joint news conference. Jan. 10, 1974. In: The Department of State Bulletin 70. No. 1806. February 4, 1974. S. 109–122. 49 Doc. 29. Minutes of the Secretary of State’s staff meeting. Washington, January 7, 1974. In: Foreign Relations of the United States (FRUS). 1969–1976. Volume XXXV. National Security Policy, 1973–1976. Hrsg. von The Department of State. Washington D. C. S. 133–137. 50 Joint declaration by representatives of developing countries at the eighteenth session of the General Assembly of the United Nations. 11 November 1963. In: The Group of 77 at the United Nations. Third series. The Collected Documents of the Group of 77. Vol. VI. Fiftieth Anniversary Edition. Hrsg. von Mourad Ahmia. Oxford 2015. S. 16–18. Hier S. 16. 51 Jürgen Dinkel setzt erst Anfang der 1970er Jahre den Beginn einer dauerhaften und institutionalisierten Zusammenarbeit in der Bewegung der Bündnisfreien Staaten an. Dinkel, Bewegung, S. 5f., 23. Vgl. auch die Beiträge von Michel Christian, Steffen Fiebrig und Jonas Kreienbaum in diesem Band.

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dens“ Einfluss zu nehmen. Auf ihrem Gipfeltreffen in Lusaka erklärten die Vertreter der Bündnisfreien im Jahr 1970, die internationalen Beziehungen seien in eine neue Phase eingetreten, die gleichzeitig von wachsender Interdependenz und dem Wunsch gekennzeichnet sei, autonom Politik zu betreiben. An die Stelle der „bedauerliche Neigung aufseiten mancher Großmächte“, Entscheidungen über Weltfragen, die alle Länder betreffen, für sich zu monopolisieren, müsse deshalb eine wahre Demokratisierung der internationalen Beziehungen treten.52 Drei Jahre später beklagten die Bündnisfreien auf ihrem vierten Gipfeltreffen in Algiers schon ungeduldiger, das Konzept der „wechselseitigen Interdependenz“ sei in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen mittlerweile allgemein anerkannt. Die wirtschaftlich starken Staaten hätten jedoch bislang keine Bereitschaft gezeigt, auch die politischen Strukturen entsprechend anzupassen. Es dürfe ihnen deshalb nicht länger gestattet werden, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die das „Konzept der Interdependenz“ und die Interessen der „Entwicklungsländer“ ignoriere. Stattdessen müsse man sie dazu drängen, ihre Unterstützungszusagen einzuhalten, die Aktivitäten „transnationaler Unternehmen“ zu regulieren und Entscheidungen über wichtige Fragen der internationalen Wirtschaft, wie die über die Zukunft der Weltfinanzordnung, nur unter Beteiligung der Bündnisfreien zu treffen.53 Mit der „Ölkrise“ schien ab 1973 erstmals die Möglichkeit im Raum zu stehen, durch die „Ölwaffe“ und andere Ressourcenkartelle die politisch, ökonomisch und militärisch stärkeren Staaten zur Erfüllung dieser Forderungen notfalls auch zu zwingen und die von Europa und Nordamerika dominierte kapitalistische Weltwirtschaftsordnung durch einen radikal anderen Ordnungsentwurf abzulösen. Schon länger in der UNCTAD geäußerte Forderungen nach einer Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Ordnung wurden nun mit neuer Vehemenz vorgetragen. Am 1. Mai 1974 verabschiedete die UN-Generalversammlung Resolution 3201, in der eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (New International Economic Order, NIEO) gefordert wurde. Die Resolution stellte fest, die Weltwirtschaft habe seit 1970 eine Reihe von schweren Krisen erlebt, von denen die „Entwicklungsländer“ besonders hart getroffen worden seien. 52 Third conference of heads of state or government of non-aligned countries. Lusaka declaration on peace, independence, development, co-operation and democratization of international relations. Lusaka, September 8–10, 1970. In: The Third World without Superpowers. The Collected Documents of the non-aligned Countries. Vol. I. Hrsg. von Odette Jankowitsch u. Karl P. Sauvant u. Jörg Weber. Dobbs Ferry 1978. S. 80–84. Hier S. 82. 53 Fourth conference of heads of state or government of non-aligned countries. Annotated agenda. Algiers, September 5–9, 1973. In: The Third World without Superpowers. The collected documents of the non-aligned countries. Vol. I. Hrsg. Odette Jankowitsch u. Karl P. Sauvant u. Jörg Weber. Dobbs Ferry 1978. S. 282–327. Hier S. 313–315.

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Gleichzeitig hätten sich die Machtverhältnisse verschoben, ihre „aktive, volle und gleiche Teilhabe“ an allen Entscheidungen der internationalen Gemeinschaft sei deshalb unumgänglich. Statt „Entwicklungshilfe“ im Rahmen der bestehenden Weltwirtschaftsordnung wurde nun deren grundlegende Umstrukturierung gefordert, die auf „Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, Interdependenz, gemeinsamen Interessen und Zusammenarbeit zwischen allen Staaten“ gründen sollte. Um Ungleichheiten abzubauen, formulierte die Resolution mehrere Forderungen, die in einem „Aktionsprogramm“ gebündelt wurden: Unter anderem sollten die Preise von Rohstoffen durch einen internationalen Fonds stabilisiert werden und „Entwicklungsländer“ beim Handel mit Industriestaaten bevorzugte Bedingungen erhalten. Ihre Schulden sollten eingefroren, das Weltwährungssystem reformiert und ihr Zugang zu Technologie und wissenschaftlichen Erkenntnissen erleichtert werden.54 Bei der Formulierung der Erklärung hatten sich jedoch Stimmen, die eher auf Kooperation mit dem „Norden“ setzten, gegenüber anderen Akteuren durchgesetzt, die wie der algerische Präsident Houari Boumedienne eine konfrontative Haltung hatten einnehmen wollten.55 Im Text der Resolution wurde deshalb betont, eine neue Weltwirtschaftsordnung werde nicht nur eine höhere Nachfrage aus „Entwicklungsländern“ schaffen und insgesamt mehr Wachstum erzeugen, sondern liege im Interesse der gesamten Menschheit. Denn die internationale Politik und Wirtschaft hätten sich in den letzten Jahren erheblich verändert und die „reality of interdependence“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Interessen der entwickelten Länder und der „Entwicklungsländer“ seien damit eng verflochten, die Prosperität der gesamten internationalen Gemeinschaft vom Schicksal ihrer einzelnen Mitglieder abhängig.56 Es gehe somit nicht um utopische oder egoistische Forderungen, sondern um „Realismus“ – 54 Declaration on the establishment of a New International Economic Order und programme of action on the establishment of a New International Economic Order. United Nations General Assembly Res. No. 3201 (S-VI). 1 May 1974. 55 Boumedienne hatte seine Behauptung, es sei unumgänglich „to search together for a new way of life that would permit the subsistence of eight thousand million human beings expected to populate the planet in the year 2000“ auch mit der Drohung untermauert, ansonsten werde es nicht genug Atombomben geben, um die „tidal wave made up of billions of human beings“ einzudämmen, „who will leave on day from the southern and poor part of the world to invade the relatively open spaces of the wealthy northern hemisphere“. Zit. nach Connelly, Revolution, S. 286. Vgl. Gilman, Nils: The New International Economic Order. A reintroduction. In: Humanity 6 (2015). No. 1. S. 1–16. Hier S. 2, 6; Dinkel, Bewegung, S. 219–225. 56 Declaration on the establishment of a New International Economic Order. United Nations General Assembly Res. No. 3201 (S-VI). 1 May 1974. abgedruckt in Humanity 6 (2015). No. 1. S. vvii. hier S. v.

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eine neue Weltwirtschaftsordnung zu unterstützen, bedeute die Wirklichkeit einer interdependenten Welt anzuerkennen.57 Der Verweis auf die Interdependenz der „Entwicklungsländer“ untereinander, aber auch von Nord und Süd zog sich bis in die 1980er Jahre hinein durch zahlreiche Dokumente von UNCTAD und G-77. Einerseits handelte es sich hier um eine Vorstellung von Interdependenz in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Als wechselseitig abhängige Einheiten traten hier vor allem Nationalstaaten in Erscheinung, weshalb auch der Entwurf einer Neuen Weltwirtschaftsordnung auf Staaten als die zentralen Akteure der Weltwirtschaft gründete. Die Prinzipien der „souveränen Gleichheit“, der „Selbstbestimmung der Völker“ und der „Nichteinmischung in innere Angelegenheit“ sollten vom Politischen auf das Ökonomische ausgeweitet und damit auch die volle wirtschaftliche „Souveränität“ der post-kolonialen Staaten sichergestellt werden. Zu den in Resolution 3101 geforderten Maßnahmen gehörte deshalb auch die Forderung nach Regulation und Überwachung der Aktivitäten „transnationaler Unternehmen“. Eine im Dezember 1974 von der Generalversammlung gegen die Stimmen der USA und der Bundesrepublik verabschiedete „Charter of Economic Rights and Duties of States“ formulierte „Entwicklung“ als ein jedem Staat zukommendes „Recht“, das auf „nationaler Selbstbestimmung“ und „Souveränität“ basiere und aus dem manche Kommentatoren die Möglichkeit entschädigungsloser Verstaatlichungen ableiteten.58 Gleichzeitig war der Entwurf einer Neuen Weltwirtschaftsordnung mehr als nur Ausdruck einer Abwehrhaltung gegen „Globalisierung“. Er stellte zugleich einen alternativen Ordnungsentwurf globaler ökonomischer Integration dar, durch den in einer immer enger verflochtenen Welt Strukturen geschaffen werden sollten, um die Abhängigkeit des „Südens“ vom „Norden“ zu verringern.59 Oder, wie es der kenianische Politikwissenschaftler Ali A. Mazrui 1976 auf einer Podiumsdiskussion formulierte: „What the new international economic order demands is a new basis of exchange in an interdependent world.“60 57 Siehe etwa die Erklärung von Perus Präsident Juan Velasco Alvarado. G-77 Doc. MM/77/II/ SR.1. October 28, 1971. Abgedruckt in Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World without superpowers. Second series. The collected documents of the Group of 77. Vol. I. New York 1981. S. 33. 58 Charter of economic rights and duties of states. United Nations General Assembly Res. No. 3281 (XXIX). December 12, 1974. http://www.un-documents.net/a29r3281.htm (22.7.2017). Siehe auch Alexandrowicz, Charles: The charter of economic rights and duties of states. In: Millennium: Journal of International Studies 4 (1975). No. 1. S. 72–74. 59 So Gilman, The New International Economic Order. Siehe dazu auch den Beitrag von Andreas Hilger in diesem Band. 60 Bergsten, C. Fred: Panel Discussion on the New International Economic Order. In: The New International Economic Order. The North-South Debate. Hrsg. von Jagish N. Bhagwati. Cambridge 1977. S. 347–353. Hier S. 371.

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Westliche Reaktionen auf die Neue Weltwirtschaftsordnung und eine interdependente Welt Die Debatte um die neue Weltwirtschaftsordnung war somit nicht nur eine Auseinandersetzung um die richtige Interpretation einer interdependenten Welt, sondern auch um die politischen Konsequenzen dieser Diagnose. Dabei war sie in die Ost-West-Konfrontation eingebunden, verlief jedoch zugleich entlang anders gelagerter Konfliktlinien. Das zeigt sich schon daran, dass die Sowjetunion die Forderungen nach einer gerechteren Behandlung der „Dritten Welt“ zwar rhetorisch unterstützte, insgesamt jedoch wenig begeistert war, zum „Norden“ gezählt zu werden. Statt einer Umstrukturierung der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung empfahl sie weitere Industrialisierung in Kooperation mit den sozialistischen Staaten.61 Doch nicht nur zwischen „Nord“ und „Süd“ oder „Ost“ und „West“, auch innerhalb des „westlichen Bündnisses“ gingen die Meinungen hier weit auseinander. Marxistische wie nicht-marxistische Akteure der „Dritten Welt-Bewegung“ und der ihr nahestehenden Politikwissenschaft vertraten die Auffassung, internationale Strukturen müssten reformiert werden, um für eine gerechtere Gestaltung des globalen Wandels zu sorgen.62 Auf Regierungsebene waren es besonders europäische Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Olof Palme und Johannes Marten den Uyl, die sich bemühten, zumindest teilweise auf die Forderungen des „Südens“ einzugehen.63 Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gewährten in der im Februar 1975 unterzeichneten Lomé-Konvention 46 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten Handelspräferenzen für die Einfuhr von Rohstoffen. Auf der Conference on Interna61 Record of Dr Prebisch’s conversation with the Minister for Foreign Trade of the USSR Mr N. S. Patolichev. Moscow, July 27, 1967. zit. in Garavini, Giuliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South 1957–1986. Oxford 2012. S. 72. 62 In den USA hatten etwa Paul Sweezy und Paul Baran, Herausgeber der (marxistischen) Monthly Review, schon länger die Annahmen der Dependenztheorie geteilt. Siehe Baran, Paul A./Sweezy, Paul M.: Monopoly Capital: An Essay on the American Economic and Social Order. New York 1966. Aus ähnlicher politischer Stoßrichtung Falk, Richard A.: A Study of Future Worlds. New York 1975. Siehe darüber hinaus aber auch Junne, Gerd/Nour, Salua: Internationale Abhängigkeiten. Fremdbestimmung und Ausbeutung als Regelfall internationaler Beziehungen. Frankfurt a. M. 1974 oder Tinbergen, Jan: Reshaping the International Order. A Report to the Club of Rome. London 1977. 63 Vgl. u. a. Rother, Bernd: Sozialdemokratischer Internationalismus – Die SI und der NordSüd-Konflikt. In: Willy Brandts Aussenpolitik. Hrsg. von Bernd Rother. Wiesbaden 2014. S. 259–334 sowie das Dissertationsprojekt von Christopher Seiberlich (Universität Tübingen): Die Sozialdemokratie und die postkoloniale Ordnung der Welt.

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tional Economic Cooperation verhandelten die westeuropäischen Industrieländer zwischen Dezember 1975 und Juni 1977 mit Staaten aus diesen Regionen nicht nur über Energiefragen, sondern auf Druck Algeriens auch über Handel und Entwicklung. Besonders Frankreich verfolgte damit ebenfalls das Ziel, anstelle des von den USA kontrollierten und auf Freihandel zielenden Systems von Bretton Woods eine neue Ordnung zu errichten, die die freie Zirkulation von Menschen, Gütern und Kapital mit dem „Recht jeder Regierung, ihr nationales Schicksal selbst zu bestimmen“ vereinbaren sollte – letztlich blieb die Konferenz jedoch ohne greifbares Ergebnis.64 Als politisch, militärisch und ökonomisch mächtigstes Land und Garant der herausgeforderten Weltwirtschaftsordnung waren die Vereinigten Staaten somit besonders angesprochen. In der Regierung Ford stieß die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung auf Ablehnung, wenn auch in verschiedenen Intensitätsstufen: Vertreter einer „marktliberalen“ Haltung wie Fords ökonomischer Berater William Seidman behaupteten, der „sozialistische“ und etatistische Entwurf drohe die grundlegende amerikanische Verpflichtung auf den „freien Mark und freies Unternehmertum“ zu kompromittieren.65 „Neokonservative“ Akteure teilten zwar durchaus die Diagnose einer interdependenten Welt, leiteten daraus jedoch ganz andere Schlussfolgerungen ab als „Liberale“: Die Rede von den Handlungszwängen der Interdependenz sei lediglich der Versuch, politische Inkompetenz und mangelnde Willensstärke zu rationalisieren. Der Princetoner Politikwissenschaftler Robert Tucker wollte auf die „Ölkrise“ sogar mit militärischen Mitteln reagieren, die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung erschien ihm als Ausdruck eines „gefährlichen Egalitarismus“, der nur in Chaos und Konflikt münden könne. Für den „neokonservativen“ Sozialwissenschaftler Irving Kristol markierte sie gar den Beginn eines „neuen Kalten Krieges“ zwischen „Nord“ und „Süd“.66 Zwischen diesen Polen navigierte Außenminister Henry Kissinger, der eine Strategie des „konstruktiven Appeasement“ verfolgte, die die „Entwicklungsländer“ und ihre europäischen Unterstützer beschwichtigen, gleichzeitig aber den „Block“ der G-77 aufbrechen und seinem politischen Projekt damit die 64 M. de Guiringaud: Rapport a M. le Président de la République. 20.10.1975. zit. nach Garavini, Giuliano: The Colonies strike back. The Impact of the Third World on Western Europe, 1968–1975. In: Contemporary European History 16 (2007). No. 3. S. 299–319. Hier S. 318. 65 Doc. 291. Memorandum from the economic policy board to President Ford. Washington, undated. In: FRUS. 1969–1976. Volume XXXI. Foreign Economic Policy, 1973–1976. Hrsg. von The Department of State. Washington D. C. 2009. S. 1001–1002. 66 Tucker, Robert W.: Oil. The Issue of American intervention. In: Commentary 59 (1975). No. 1. S. 21–31; ders.: Egalitarianism and international politics. In: Commentary 60 (1975). No. 3. S. 27–40; Kristol, Irving: The „New Cold War“. In: The Wall Street Journal, 17.7.1975.

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Schlagkraft nehmen sollte.67 Übergreifendes Ziel der US-Regierung war es, die negativen Folgen wachsender Interdependenz für die Handlungsfreiheit der Vereinigten Staaten einzudämmen und so „an element of choice from the pressure of circumstances“ zu retten.68 Auch die Ford-Administration bediente sich hier einer Rhetorik der Interdependenz, die jedoch primär aufzeigen sollte, dass eine konfrontative Haltung letztlich allen Beteiligten schaden werde. Gerald Ford betonte im September 1974 in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung, aus der „Ära der Dependenz“ stammende Verhaltensweisen müssten den „neuen Verantwortlichkeiten einer Ära der Interdependenz“ weichen: „Developing and developed countries, market and nonmarket countries – we are all a part of one interdependent economic system.“69 Die große Mehrheit der mit Frage der Interdependenz befassten amerikanischen Politikwissenschaftler, selbst wenn sie nicht spezifisch zur „Dritten Welt“ arbeiteten, hatte dagegen empfohlen, stärker auf deren Forderungen einzugehen. Dazu gehörte etwa Lincoln Bloomfield, der ein vom State Department eingesetztes Projekt zur Untersuchung „globaler Interdependenz“ leitete. Die Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik, die sich weniger auf Ost-Westund mehr auf Nord-Süd-Beziehungen konzentrieren sollte, war in seiner Perspektive eine unvermeidliche Reaktion auf die neuen Bedingungen von Entspannung und Interdependenz.70 Besonders nachdrücklich vertreten wurde dieses Argument von der Trilateralen Kommission, einer 1974 gegründeten Organisation aus Repräsentanten der Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft aus den USA, Westeuropa und Japan. Mehrere ihrer Berichte empfahlen, die „Entwicklungsländer“ stärker in das Weltwirtschaftssystem einzubinden.71 Über 67 Doc. 294. Memorandum of conversation. Washington, May 26, 1975. In: FRUS. 1969–1976. Volume XXXI. Foreign Economic Policy, 1973–1976. Hrsg. von The Department of State. Washington D. C. 2009. S. 1009–1014. Hier S. 1010. 68 Kissinger, Henry A.: The White House Years, 1968–72. London 1979. S. 70. 69 The challenge of interdependence. Statement by Secretary Kissinger before the sixth special session of the United Nations General Assembly. April 15, 1974. In: The Department of State Bulletin 70. No. 1819. May 6, 1974. S. 477–483. Hier S. 477f.; Ford, Gerald: Address to the UN General Assembly. September 18, 1974. www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the29th-session-the-general-assembly-the-united-nations (11.4.2019). 70 Alker, Hayward R./Bloomfield, Lincoln P./Alker, Ann: Analyzing Global Interdependence. Volume I. Analytical Perspectives and Policy Implications. Cambridge 1974. 71 Gardner, Richard N./Okita, Saburo/Udink, J. B.: A Turning Point in North-South Economic Relations. New York 1974; Bergsten, C. Fred/Berthoin, Georges/Mushakoji, Kinhide: The Reform of International Institutions. New York 1976. Vgl. dazu Knudsen, Dino: The Trilateral Commission and Global Governance. Informal Elite Diplomacy, 1972–82. London/New York 2016. S. 114–116; Reichherzer, Frank: Trilateral Commission. In: Den Kalten Krieg vermessen. Hrsg. von Frank Reichherzer u. Emmanual Droit u. Jan Hansen. Berlin/Boston 2018. S. 279–296.

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ihren Mitbegründer Zbigniew Brzezinski fanden die Empfehlungen der Kommission ab 1977 Eingang in die außenpolitische Strategie der Regierung Carter, deren Nationaler Sicherheitsberater er war. Präsident Carter betonte, die Bedeutung des „Kalten Krieges“ für die amerikanische Außenpolitik habe stark abgenommen. Angesichts der Dekolonisation und eines „globalen politischen Erweckung“ müssten die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen zur „Dritten Welt“ verbessern, schon allein um ihre globale Führungsrolle zu bewahren.72

Globalisierung – Das Scheitern der neuen Weltwirtschaftsordnung und der Niedergang der Interdependenztheorie Ende der 1970er Jahre stellten sich die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch schon wieder ganz anders dar als noch wenige Jahre zuvor. Der Höhepunkt des Selbstbewusstseins und politischen Einflusses der „Entwicklungsländer“ war nun wieder anderen Machtverhältnissen gewichen, nach einer kurzen Phase intensivierter Zusammenarbeit hatte sich „die Dritte Welt“ noch weiter auseinanderentwickelt. Denn gerade die anfangs als Chance gesehene „Ölkrise“ hatte sich für Länder ohne Erdölvorkommen als Fluch erwiesen.73 Durch steigende Energiekosten verschlechterten sich ihre Zahlungsbilanzen immer weiter; Ende der 1970er Jahre konnten sie Kredite nicht mehr bedienen, die sie wegen der „Petrodollar-Schwemme“ wenige Jahre zuvor noch leicht hatten aufnehmen können. Die Folgen waren ökonomische Stagnation, politisch-soziale Probleme und eine Schuldenkrise der „Dritten Welt“. Auch die Probleme der einseitigen Abhängigkeit waren geblieben. Mit Ausnahme des Wechselkurssystems war die Weltwirtschaftsordnung letztlich doch nicht zusammengebrochen, die Bretton-Woods-Institutionen hatten sich neu ausgerichtet. Die Neuaushandlung der Weltordnung fand hier oder in Foren wie den Treffen der G-7 statt. Entsprechend sprach Tansanias Präsident Julius Nyerere 1979 weiterhin davon, die primäre Gemeinsamkeit der Länder der G-77 sei es, dass sie im Verhältnis zur „entwickelten Welt“ „dependente – nicht interde72 Carter, Jimmy: Address at commencement exercises at the University of Notre Dame, May 22, 1977. www.presidency.ucsb.edu/documents/address-commencement-exercises-the-university-notre-dame (11.4.2019). 73 Am Beispiel von Sambia Kreienbaum, Jonas: Der verspätete Schock – Sambia und die erste Ölkrise 1973/74. In: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017). Nr. 4. S. 612–633.

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pendente“ Nationen seien. „We are not the prime movers of our own destiny. We are ashamed to admit it, but economically we are dependencies – semi-colonies at best – not sovereign States.“74 Anfang der 1980er Jahre verlief das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung im Sand. Zwar hatte der Bericht der von Willy Brandt geleiteten Unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen noch ein stärkeres Entgegenkommen empfohlen. Auf dem daraufhin einberufenen Nord-Süd-Gipfel in Cancún erteilte US-Präsident Ronald Reagan im Oktober 1981 jedoch einer Neuen Weltwirtschaftsordnung eine endgültige Absage.75 Die letztliche Konsequenz des Möglichkeitsfensters der 1970er Jahre war keine Stärkung der Staaten der „Dritten Welt“ und keine gerechtere Weltordnung, sondern im Gegenteil eine Schwächung von Staatlichkeit in diesen Weltregionen. Die ökonomische Situation und politischen Interessen der verschiedenen Länder entwickelten sich so weit auseinander, dass Ende der 1980er Jahre das „Ende der Dritten Welt“ ausgerufen wurde.76 Auch die weltpolitischen Rahmenbedingungen hatten sich Ende der 1970er Jahre verändert. Spätestens mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan war die Entspannung zwischen den beiden Supermächten in eine tiefe Krise geraten, Beobachter sprachen von einem „Zweiten Kalten Krieg“. Damit schien auch die Interdependenz-Theorie an Erklärungskraft verloren zu haben. Sie wurde vom Epochensignum eines neuen Zeitalters zunehmend zu einer inner-politikwissenschaftlichen „Denkschule“. Ab Mitte der 1980er Jahre lebten globalistische Debatten jedoch unter dem Begriff der „Globalisierung“ wieder auf, mit dem Ende des Kalten Krieges schien gar ein neues „Zeitalter der Globalisierung“ angebrochen.77 Schon semantisch waren Abhängigkeitsverhältnisse damit aus globalistischen Gegenwartsdiagnosen verschwunden, Kommentatoren wie der Journalist 74 Julius K. Nyerere: Fourth Ministerial Meeting of the Group of 77 in Arusha, February 1979. zit. in Ahmia, Mourad (Hrsg.): The Group of 77 at the United Nations. Third Series. The Collected Documents of the Group of 77. Vol. VI. Fiftieth Anniversary Edition. Oxford 2015. S. 5. 75 Reagan, Ronald: Statement at the first plenary session of the international meeting on cooperation and development in Cancun, Mexico, October 22, 1981. https://www.presidency. ucsb.edu/documents/statement-the-first-plenary-session-the-international-meeting-cooperation-and-development (11.4.2019). 76 Harris, Nigel: The End of the Third World. Newly Industrializing Countries and the Decline of an Ideology. London 1986. Während der 1990er Jahre galten besonders die „Asian Tigers“ Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong als Beleg dafür, dass ökonomischer Aufstieg bei entsprechender Entschlossenheit auch unter widrigen ökonomischen Bedingungen möglich sei. 77 Etwa Sassen, Saskia: Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization. New York 1996.

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Thomas Friedman gingen davon aus, eine stärkere Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft werde letztlich auch das Problem der „Entwicklung“ lösen.78 Zudem erschien die „Globalisierung“ vielen Beobachtern als völlig neuartiges Phänomen, das im Gegensatz zur nun beendeten „Epoche des Kalten Krieges“ eine neue Zeit mit völlig andersartigen Problemlagen einläutete. Womöglich ging es hier auch um mehr als Unkenntnis oder mangelndes Geschichtsbewusstsein: Die positive Globalisierungsdeutung insistierte wohl auch deshalb auf der Neuartigkeit dieses Prozesses, um nicht mit dem belasteten „Erbe des Imperialismus“ in Verbindung gebracht zu werden.79

Schluss Schon in diesem kurzen Überblick hat sich dagegen gezeigt, dass Deutungen grenzüberschreitender Verbindungen und Verflechtungen während ihrer ganzen Geschichte eng mit Machtfragen, Hierarchien und der Problematik einseitiger Abhängigkeiten verbunden waren. Während der koloniale Raum bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Interdependenz-Diagnosen kaum eine Rolle gespielt hatte, wurde die nun so bezeichnete „Dritte Welt“ im Rahmen der Dekolonisation ab den 1950er Jahren zunächst zum Objekt entsprechender Debatten, beanspruchte jedoch zunehmend auch eine aktive Rolle darin: Seit den 1950er Jahren boten die Begriffe der „Interdependenz“ und der „Dependenz“ Akteuren aus dem kolonialen und postkolonialen Raum die Möglichkeit, auf fortbestehende Abhängigkeitsverhältnisse im globalen Maßstab hinzuweisen. Wachsende weltweite Verflechtung diente ihnen zur Begründung der Notwendigkeit, stärker auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Globalistische Gegenwartsdiagnosen und Begriffe waren und sind somit eng mit politischen Programmen verbunden. In den 1970er Jahren war die Frage um die Deutung und die Folgen wachsender „Interdependenz“ ein wichtiger Aspekt der Debatten im Rahmen des „Nord-Süd-Konflikts“, der in dieser Zeit immer prominenter wurde und den „Ost-West-Konflikt“ zeitweise zu überlagern schien. Diese Tatsache wurde wiederum auf die Diagnose wachsender globaler Interdependenz zurückgeführt. 78 Friedman, Thomas L.: The Lexus and the Olive Tree. Understanding Globalization. New York 1999. 79 Das vermutet zumindest Rossow, Holger: Notes on the analysis of the discourse of globalism. In: Discourses of Violence – Violence of Discourses. Critical Interventions, Transgressive Readings, and Post-National Negotiations. Hrsg. von Dirk Wiemann. Frankfurt a. M. 2005. S. 129–144. Hier S. 134f.

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Nach einer ungefähr zehnjährigen Flaute wurde die Debatte über globale Abhängigkeitsverhältnisse und die Wechselbeziehung von Verflechtung und Staatlichkeit Mitte der 1990er Jahre unter dem Begriff der „Globalisierung“ wieder aufgenommen. Heute betonen gerade Kritiker eines von ihnen als „neoliberal“ bezeichneten Globalisierungsverständnisses Kontinuitäten und langfristigen Problemlagen und sprechen von „neoimperialer“ oder „neoliberal-imperialer“ Globalisierung.80 Die Frage nach dem Verhältnis von Verflechtung und Selbstbestimmung, von Interdependenz und Independenz beschäftigt Wissenschaft und Politik damit bis heute. Hier kann die Geschichtswissenschaft die Aufmerksamkeit für die Historizität von Deutungen und Begriffen schärfen und der Debatte somit mehr Tiefe verleihen. Selbst globalistische Deutungen aus dem „Westen“ beziehungsweise „Norden“ sind erst in Ansätzen historisiert worden, über die Weltsicht von Akteuren aus dem „globalen Süden“ ist noch viel zu wenig bekannt.81 Letztlich ist die im November 1974 von Henry Kissinger diagnostizierte Übergangsphase wohl bis heute nicht beendet: „We are stranded between old conceptions of political conduct and a wholly new environment, between the inadequacy of the nation-state and the emerging imperative of global community.“82

80 Etwa Brand, Ulrich/Heigl, Miriam: Strategien und Dilemmata globalisierungskritischer Bewegungen am Beispiel des Weltsozialforums – oder: was hat Nicos Poulantzas in Caracas zu tun?. In: Die Globalisierung und ihre Kritik(er). Zum Stand der aktuellen Globalisierungsdebatte. Hrsg. von Ivonne Bemerburg u. Arne Nederbacher. Wiesbaden 2007. S. 165–181; Sieder, Reinhard/Langenthaler, Ernst: Was heißt Globalgeschichte?. In: Globalgeschichte. 1800–2010. Hrsg. von dens. Wien/Köln/Weimar 2010. S. 9–36. Hier S. 30. 81 Siehe Leendertz, Ariane: Interdependenz, Krisenbewusstsein und der Beginn eines neuen Zeitalters. Die USA und die Neuverortung der transatlantischen Beziehungen in den 1970er Jahren. In: Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Frank Bösch u. Peter Hoeres. Göttingen 2013. S. 232–250; Eckel, Jan: „Alles hängt mit allem zusammen“. Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre. In: Historische Zeitschrift 307 (2018). Nr. 1. S. 42–78; Deuerlein, Martin: Interdependenz. In: Den Kalten Krieg vermessen, Hrsg. von Frank Reichherzer u. Emmanuel Droit u. Jan Hansen. Berlin/Boston 2018. S. 183–198. Für Akteure aus dem „Süden“ ist die Geschichte globalen Denkens bislang fast nur im Kontext von Pan-Bewegungen oder des „Third-Worldism“ erforscht. Dass sich diese Situation bald ändern könnte, lassen Projekte wie „The true meaning of independence: Ethiopian intellectuals in a colonial world (1901–1945)“ von Sara Marzagora (SOAS London) hoffen. 82 Kissinger, Henry: The global community and the struggle against famine. Address before the World Food Conference. Rome, Italy, 5.11.1974. Gerald Ford Presidential Library, Ann Arbor. Ron Nessen Papers. Box 13. Folder: International Food Aid.

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Von „technischer Hilfe“ zu „basic needs“: Die ILO als Entwicklungsagentur im Nord-Süd-Konflikt Als wesentlicher Austragungsort des Nord-Süd-Konflikts sind internationale Organisationen geeignet, wichtige Facetten der Auseinandersetzung einzufangen. Neben ihrer Funktion als Foren der Debatte wird den internationalen Sekretariaten der UN und ihrer Unterorganisationen zuweilen auch eine eigenständige Rolle zugeschrieben. Sie erscheinen dabei als Partei des Konflikts, je nach Perspektive wird ihr Beitrag als Verbündete der Länder des globalen Südens oder als Resonanzboden „alternativer Universalismen“ beschrieben, aber auch als Institutionen, die neo-kolonialen Interessen westlicher Länder und der Fortschreibung von Ideen einer globalen „civilizing mission“ dienten.1 In beiderlei Hinsicht eignet sich die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO), die im Jahr 2019 den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung beging, als Untersuchungsobjekt auf besondere Weise für die Zwecke des vorliegenden Sammelbandes: Als eine der ältesten internationalen Organisationen erlaubt sie einerseits die longue durée des Nord-SüdKonflikts in den Blick zu nehmen, jenseits der Epochengrenze von 1945 sowie der Kernphase der Dekolonisation von 1945 bis 1970. Andererseits eröffnet die ILO einen Blick auf die neben der vorherrschenden politischen und ökonomischen Perspektive oftmals vernachlässigte soziale Dimension des Konflikts. 1 Mazower, Mark: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton 2009; Dykmann, Klaas: Only with the best intentions. International organizations as global civilizers. In: Comparativ 23 (2014). Nr. 4/5. S. 21–46. Note: Teile des folgenden Artikels bauen inhaltlich auf Kapiteln folgender Veröffentlichung auf: Maul, Daniel: The International Labour Organization. 100 Years of Global Social Policy. Berlin/ Boston 2019. Mein Dank gilt insbesondere Michele Sollai, Camille Bolivar, Véronique PlataStenger und Dorothea Hoehtker, die ihre unveröffentlichte Forschung zum World Employment Programme mit mir im Rahmen des Buchprojekts geteilt haben: Hoehtker, Dorothea/PlataStenger, Veronique: The Future of Work and Technological Change – the ILO Debate between 1919 and the early 1980s (unpublished working paper, Geneva 2018); Sollai, Michele: Humanizing Development. The International Labour Organisation and the Making of the World Employment Programme (1969–1976) (unpublished working paper, Geneva 2018); Bolivar, Camille: La genèse du World Employment Programme et le projet pilote en Colombie. Un réseau d’experts hétérodoxes pour un gouvernement réformiste (Master’s thesis, Université de Genève 2017). https://doi.org/10.1515/9783110682625-003

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Dies gilt nicht zuletzt in Hinsicht auf den im Spektrum internationaler Organisationen einzigartigen drittelparitätischen (oder tripartistischen) Aufbau der ILO, in der Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter aus den Mitgliedsländern neben den Regierungen an allen Entscheidungsprozessen beteiligt sind.2 Der folgende Beitrag beschäftigt sich dabei zunächst mit den Anfängen „technischer Hilfe“ in der Zwischenkriegszeit, um sich im Hauptteil auf die Versuche der ILO zu konzentrieren, sich vor dem Hintergrund des Nord-Süd-Konflikts als eine Agentur der Entwicklungspolitik zu etablieren.3 Den Fokus der Betrachtungen stellt dabei das ambitionierte Weltbeschäftigungsprogramm (World Employment Program – WEP) dar, mit dem es der ILO in den 1970ern gelang, einen starken Akzent innerhalb der internationalen Entwicklungsdebatte zu setzen. **** Gemessen an der Zusammensetzung ihrer ersten Zusammenkunft war die ILO eine Organisation mit weltweiter Reichweite. Mehr als die Hälfte der 40 Staaten, die 1919 Delegationen nach Washington, D. C. auf die erste reguläre internationale Arbeitskonferenz entsandt hatten, lagen in Lateinamerika und Asien – darunter mit Indien sogar eine britische Kolonien.4 Afrika war durch das britische Dominion Südafrika vertreten. Während das numerische Gewicht nicht-europäischer Länder in den Folgejahren durch den Beitritt Mexikos, Afghanistans, Ägyptens, Liberias und Äthiopiens5 noch weiter zunahm, war die Aussagekraft 2 Zur ILO siehe Maul, ILO; ders.: Human Rights, Development and Decolonization. The International Labour Organization, 1940–1970. Basingstoke/Geneva 2012; Alcock, Antony: History of the International Labor Organization. New York 1971; Kott, Sandrine/Droux, Joëlle (Hrsg.): Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and beyond. Basingstoke 2013; Jensen, Jill M./Lichtenstein, Nelson (Hrsg.): The ILO from Geneva to the Pacific Rim. West meets East. Basingstoke 2015; Boris, Eileen [u. a.] (Hrsg.): Women’s ILO. Transnational Networks, Global Labour Standards and Gender Equality, 1919 to the Present. Leiden/Geneva 2018. 3 Unger, Corinna R.: International Development. A Post-War History. London 2018; Frey, Marc/ Kunkel, Sönke/Unger, Corinna R.: Introduction. International organizations, global development, and the making of the contemporary world. In: International Organizations and Development, 1945–1990. Hrsg. von dens. Basingstoke 2014. S. 1–22; Jolly, Richard [u. a.]: UN Contributions to Development Thinking and Practice. Bloomington 2004. 4 Allein Lateinamerika stellte 16 teilnehmende Länder, aus Asien waren China, Japan, Persien, Thailand und Indien vertreten. Zur Sonderrolle Indiens siehe Rodgers, Gerry [u. a.]: India and the ILO in historical perspective. In: Economic and Political Weekly 46 (5.3.2011). Nr. 10. S. 44. 5 Zur Rolle der ILO in Afrika generell siehe Maul, Daniel u. Luca Puddu u. Hakeem Tajini: The ILO and Africa. In: General History of African Labour. Workers, Employers and Governments, 20th-21st centuries. Hrsg. von Stefano Bellucci u. Andreas Eckert. Woodbridge 2019. S. 223–264.

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dieser Zahlen mit Blick auf das Kräfteverhältnis in der Organisation freilich eng begrenzt: In vielfacher Hinsicht war und blieb die ILO eine überwiegend europäisch geprägte Organisation. Dies machte sich etwa im Verwaltungsrat der ILO, dem eigentlichen Machtzentrum der Organisation, besonders deutlich bemerkbar. Hier kamen nicht weniger als 20 der ursprünglich 24 Mitglieder aus europäischen Ländern. Von den übrigen vier Plätzen fielen jeweils zwei an Asien (Japan und das britische dominion Indien) und die beiden Amerikas (Argentinien und Kanada). Während der tripartistische Aufbau der ILO in vielen Bereichen als Korrektiv fungierte und den Debatten in der Organisation eine spezifische Prägung gab, änderte er nichts an dem grundsätzlichen Befund. Weder die Zusammensetzung der Arbeitnehmer- noch der Arbeitgebergruppe wich vom oben skizzierten Trend während der Zwischenkriegszeit entscheidend ab; auch hier dominierten weiße Europäer.6 Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Zusammensetzung des International Labour Office, dem Sekretariat der ILO: Bis weit in die 1950er Jahre bildeten hier Mitarbeiter aus asiatischen und lateinamerikanischen, ganz zu schweigen von afrikanischen Ländern eine Minderheit. Während der Zwischenkriegszeit betrug das durchschnittliche Verhältnis der europäischen zu den außereuropäischen Beschäftigten 10:1, wobei britische und französische Staatsangehörige die mit Abstand größten Gruppen darstellten.7 Kritische Stimmen von Seiten der Länder des Südens ob dieses Umstandes gab es von Anfang an, zumal sich das Ungleichgewicht auch im Arbeitsprogramm der ILO niederschlug. Ein Großteil der internationalen Arbeitsstandards, welche die Organisation während der ersten Jahre ihres Bestehens auf den Weg brachte, richtete sich am Leitbild des (männlichen) Industriearbeiters aus, der außerhalb einiger weniger Staaten in Europa und Nordamerika nur eine verschwindende Minderheit der arbeitenden Bevölkerung darstellte. Es sollte bis in die 1930er Jahre dauern, bis in dieser Hinsicht eine erste Öffnung stattfand, zunächst mit Blick auf Lateinamerika. Vor dem Hintergrund der Krise der 1930er Jahre, dem Aufstieg autoritärer Regime in Europa und dem Austritt wichtiger Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Japan (beide 1933) und Italien (1937) begann die ILO ihr Gewicht nun stärker auf die westliche Hemisphäre zu verlagern. Ein wichtiger Schritt neben dem Beitritt der USA unter der Prä6 Trotz einer Erweiterung des Verwaltungsrats von 24 auf 32 Mitglieder, die 1934 wirksam wurde, enthielt dieser während der Zwischenkriegszeit nur eine kleine Minderheit von nichteuropäischen Vertretern. Die Arbeitgebergruppe enthielt einige Jahre ein Mitglied aus Südafrika, während die Arbeitnehmergruppe einen Vertreter Indiens als stellvertretendes Mitglied einschloss. 7 Maul, ILO, S. 42.

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sidentschaft Franklin Delano Roosevelts ab 1934 waren in dieser Hinsicht die beiden ersten Regionalkonferenzen der amerikanischen Mitgliedsstaaten der ILO, die 1936 in Santiago de Chile und 1939 in Havanna stattfanden.8 Sie boten den Ländern des Subkontinents ein neuartiges Forum, um ihren Ansprüchen an die ILO Nachdruck zu verleihen. Damit schufen sie eine Präzedenz für eine regionale Vertiefung, der nach dem Zweiten Weltkrieg ähnliche Zusammenkünfte für Asien, Afrika und den Nahen Osten folgen sollten.9 Bereits Ende der 1930er Jahre sah sich die ILO hier Forderungen gegenüber, vor allem aus Lateinamerika, aber auch von Seiten Indiens oder Chinas, neben der Verbreitung internationaler Arbeitsstandards mehr Gewicht auf praktische Hilfe zu legen, die den ärmeren und weniger industrialisierten Mitgliedern zu Gute kommen solle. Dies war eine der Antriebskräfte, die die ILO dazu bewogen, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe sogenannter technischer Hilfsmissionen zu entsenden. Neben lateinamerikanischen Ländern wie Venezuela, Brasilien und Chile wurden auch China und Ägypten sowie einige weniger industrialisierte südosteuropäische Länder zum Zielpunkt solcher von ILOexperte-fonctionaires geleiteter Einsätze.10 Dabei ging es zunächst nicht um „Entwicklungshilfe“ in dem umfassenden Sinn, den dieser Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg erlangen sollte. Ziel der Missionen war vielmehr, die Staaten etwa beim Aufbau von Sozialversicherungssystemen für eine in der Regel kleine Schicht von Arbeitern zu beraten oder beim Aufbau von staatlichen Fabrikinspektionssystemen zu helfen. Gleichwohl waren diese technischen Hilfsmissionen eine Grundlage, auf der die ILO später aufbauen konnte. Aus Sicht der ILO dienten sie vor allem dazu, der weiteren Verbreitung internationaler Arbeitsstandards Vorschub zu leisten.11 8 Jensen, Jill: From Geneva to the Americas. The International Labor Organization and InterAmerican social security standards, 1936–1948. In: International Labor and Working-Class History 80 (2011). Nr. 1. S. 215–240; Ferreras, Norberto Osvaldo: Europe–Geneva–America. The first international conference of American States members of the International Labour Organization. In: Beyond Geopolitics. New Histories of Latin America at the League of Nations. Hrsg. von Alan McPherson. Albuquerque 2015. S. 83–96. 9 Eine erste asiatische Regionalkonferenz sollte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg folgen, während eine entsprechende Zusammenkunft in Afrika noch bis 1960 am Widerstand der europäischen Kolonialmächte scheiterte. 10 Hierzu vor allem Plata-Stenger, Véronique: Une voie sociale pour le développement. Le Bureau International du Travail et les débuts de la coopération technique (1919–1949). (PhD diss., Université de Genève 2016), erscheint 2020 als Social Reform, Modernization and Technical Diplomacy. The ILO Contribution to Development (1930–1946) bei DeGruyter. 11 Weitere Perspektiven auf frühe Entwicklungsinitiativen bieten unter anderem Sinclair, Guy Fiti: To Reform the World. International Organizations and the Making of Modern States. The History and Theory of International Law. New York 2017, hier insbesondere Kapitel 1: From

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Die technischen Hilfsmissionen der ILO standen gleichzeitig auch im Einklang mit Ideen wie sie unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Völkerbundes zirkulierten. Sie entsprachen den Empfehlungen des 1939 veröffentlichten Bruce-Reports zur Reform des Völkerbundes, die auch einen Ausbau der wirtschaftlichen Hilfe an die nicht-industrialisierten Teile der Welt beinhalteten. In der Erklärung von Philadelphia von 1944, in der die ILO an der Seite der alliierten Mächte ein Programm umfassender sozialer Reformen für die Nachkriegszeit verkündete, fanden sich diese Ideen wieder. Die ILO griff die Anregungen auf und machte deutlich, dass sie es künftig als Teil ihres Mandats betrachtete „to promote the economic and social advancement of the less developed regions of the world“.12 Dessen ungeachtet stand unmittelbar nach Ende des Krieges zunächst der europäische Wiederaufbau im Mittelpunkt des Interesses. Dass gegen Ende der 1940er Jahre dann ein deutlicher Schwenk auf die sogenannten Entwicklungsländer folgte, lag an der spezifischen historischen Konstellation, in der sich die erste Phase der Dekolonisierung in Asien mit dem beginnenden Kalten Krieg der Supermächte kreuzte. Ein wichtiges Datum war die Unabhängigkeit Indiens 1947. Indiens Position in der ILO war in vielfacher Weise außergewöhnlich: Indien hatte bereits seit 1919 eigenständige (wenngleich vom britischen Colonial Office besetzte) Delegationen in die ILO-Konferenzen entsandt. Seine Vertreter hatten bereits vor dem Krieg zu den Wortführern unter denjenigen gehört, die eine Neuausrichtung der ILO an den Bedürfnissen der Länder Asiens gefordert hatten.13 Indem Japan, das nach dem Krieg unter US-Militärverwaltung stand, und das von einem Bürgerkrieg zerrissene China als potenzielle Führungsmächte in Asien ausfielen, bekam die Stimme Indiens zusätzliches Gewicht. Neben der weiteren Regionalisierung und einer gerechteren Vertretung asiatischer Länder auf allen Ebenen der Organisation forcierten die indischen Delegierten in der ILO insbesondere die programmatische Neuausrichtung: Auf der ersten Regionalkonferenz der asiatischen Mitgliedstaaten in Delhi im Jahr 1947 forderte der indische Premierminister Jawaharlal Nehru die ILO auf, den armen Ländern praktische Hilfe zu leisten. Dies bedeutete vor allem, die technische Hilfe auszubauen und die Länder des Südens in ihren Bemühungen um Industrialistandard-setting to technical assistance; Seekings, Jeremy: The ILO and welfare reform in South Africa, Latin America, and the Caribbean, 1919–1950. In: ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and its Impact on the World during the Twentieth Century. Hrsg. von Jasmien van Daele [u. a.]. Bern 2010. S. 145–172. 12 ILO: Erklärung von Philadelphia, 10.5.1944. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/— europe/—ro-geneva/—ilo-berlin/documents/normativeinstrument/wcms_193728.pdf (27.9.2019). 13 Rodgers [u. a.], India and the ILO.

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sierung und ländliche Entwicklung zu unterstützen. Nehru und viele andere Sprecher sahen die Bedeutung der ILO weniger in ihren Arbeitsstandards, sondern in allererster Linie als einen Pool von Expertenwissen, den es galt für die wirtschaftliche Entwicklung zu nutzen.14 Zur selben Zeit erhielten diese Forderungen durch den aufziehenden OstWest-Konflikt einen weiteren starken Impuls. Im Januar 1949 verkündete der amerikanische Präsident Truman zu Beginn seiner zweiten Amtszeit eine Art von Erweiterung des Marshall-Plans auf die sogenannten Entwicklungsländer. Kern des als Point-IV-Program bekannt gewordenen Vorhabens war der Transfer von „technischer Hilfe“ und Expertenwissen. Die Vereinten Nationen nahmen in Trumans Vorstellung eine zentrale Rolle ein, einerseits weil dies erlauben würde, die finanziellen Lasten des Vorhabens auf eine größere Gruppe von Ländern zu verteilen, anderseits weil dies den deutlich politischen Charakter des Vorhabens abmilderte, das sich dezidiert als ein Mittel der gegen die Sowjetunion gerichteten Eindämmungspolitik verstand.15 Die ILO bot ideale Voraussetzungen zur Umsetzung des Programms. Zum einen war die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt kein Mitglied der ILO. Sie trat erst 1954 nach Stalins Tod ein. Zum anderen besetzte seit 1948 der vormalige amerikanische stellvertretende Arbeitsminister David Morse den Posten des ILO Generaldirektors. In seinen ersten Monaten im Amt hatte Morse den Ausbau der technischen Funktionen der ILO zunächst als Mittel begriffen, die Organisation im Kontext des europäischen Wiederaufbaus und insbesondere des MarshallPlans zu positionieren. Nach Trumans Rede erkannte Morse aber rasch die Chancen, die sich auf dem Feld der Entwicklungspolitik boten. Unmittelbar nach Trumans Rede ließ Morse den amerikanischen Außenminister Dean Acheson wissen, dass die ILO bereit zu „maximum cooperation“ sei. 16 Vor diesem doppelten Hintergrund wandelte die ILO ihr Gesicht nach dem Zweiten Weltkrieg umfassend. Bereits während der 1950er Jahre begann der Arbeitsbereich der „technischen Zusammenarbeit“ den Hauptteil des ILO-Budgets einzunehmen – mit steigender Tendenz. Sie agierte dabei als Teil des parallel entstehenden Entwicklungsapparates der Vereinten Nationen, durch den der ILO neue Finanzierungsmöglichkeiten erwuchsen – zunächst durch das Expanded Program of Technical Assistance (EPTA), ab 1965 schließlich durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP).17 In diesem Zusammen14 Asian Regional Conference (ARC) I (1947). Record of Proceedings (RoP). Rep X. S. 1–6. 15 Packenham, Robert A.: Liberal America and the Third World. Political Development Ideas in Foreign Aid and Social Science. Princeton 1973. S. 43–49. 16 David Morse an Dean Acheson, 31.1.1949. zitiert in: Maul, Human Rights, S. 127. 17 ILO: The Role of the ILO in the Promotion of Economic Expansion and Social Progress in Developing Countries. Geneva 1961. S. 7.

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hang verlor die ILO Schritt für Schritt ihre europäische Ausrichtung und richtete sich in ihren Aktivitäten mehr und mehr an den Bedürfnissen der weniger industrialisierten Länder aus und wurde zu einer „globaleren“ Organisation.18 Dieser Wandel wurde auf vielen Ebenen greifbar. Zunächst änderte sich die geographische Zusammensetzung des ILO-Sekretariats. Leitende Positionen wurden erstmals mit Staatsangehörigen aus asiatischen und afrikanischen Ländern besetzt. Zudem kam es zu einer weiteren Dezentralisierung der ILO, die zwischen 1949 und 1952 Regionalbüros in Asien (Bangalore), Lateinamerika (Sao Paulo) und für den Nahen Osten (Istanbul) einrichtete. Eine Vertretung in Lagos, Nigeria, wurde 1959 eröffnet. Durch die Einrichtung eines ILO-eigenen Internationalen Instituts für Arbeitsstudien (IILS) 1960 in Genf und des Internationalen Zentrums für berufliche Fortbildung in Turin 1965 schuf die Organisation zudem zwei Institutionen, die sich beide auf spezifische Weise den Problemen der Entwicklungsländern widmeten.19 Dabei ging es anfangs vor allem darum, Hilfe bei der Industrialisierung zu leisten. Dies spiegelte neben der Spezialisierung der ILO in diesem Bereich eine weit verbreitete Sicht auf das Thema Entwicklung wider, die sowohl potenzielle Empfängerländer selbst als auch die erste Generation von Entwicklungsökonomen wie W. Arthur Lewis teilten. Letztere verorteten die zentrale Dynamik der Entwicklung in der Transformation unterentwickelter Gesellschaften vom „traditionellen“ (landwirtschaftlichen) zum „modernen“ (industriellen) Sektor. Der frühe Fokus der ILO auf „Manpower“ passte perfekt in dieses „duale“ Modell. Mit dem Feld der beruflichen Ausbildung besaß die ILO einen Schlüssel, der den Weg zur Industrialisierung und Steigerung der Produktivität öffnete. Viele der frühen Entwicklungshilfeprojekte der ILO umfassten den Aufbau von Berufsausbildungszentren in Ländern wie Libyen, Ägypten oder Nepal.20 Trotz des nach außen technischen Anstrichs war die technische Hilfe im Verständnis der ILO keineswegs politisch neutral. Aus Sicht von David Morse und seinen Mitstreitern nahm die Organisation gerade durch die technische Hilfe eine Schlüsselrolle an einer der zentralen Fronten des Kalten Krieges ein. Die ILO, schrieb Morse 1950, leistete an der Seite des Westens in den Entwicklungsländern einen Beitrag zum „battle for the hearts and minds of people the world over“.21 Mit dem Beitritt der UdSSR 1954 wurden solche konfrontativen Töne seltener. Zur selben Zeit propagierte die ILO weiterhin ein „integriertes“ Entwick18 Maul, Human Rights, S. 121–150, 227–258. 19 Gaudier, Maryse: The International Institute for Labour Studies. Its research function, activities and publications 1960–2001. Geneva 2001. https://www.ILO.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—inst/documents/genericdocument/wcms_192540.pdf (4.5.2019). 20 ILO: The ILO and Asia. Geneva 1962; ILO: The ILO and Africa. Geneva 1960. 21 Memorandum Morse, 1951. zitiert in: Maul, Human Rights, S. 139.

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lungsmodell, in dem die im Kern liberal-demokratischen Prinzipien der ILOVerfassung wie die Vereinigungsfreiheit einerseits und technische Hilfe andererseits ineinandergriffen und sich gegenseitig stützten. Dem zugrunde lag ein Verständnis von Entwicklung, das stark von den Annahmen der Modernisierungstheorie US-amerikanischer Prägung getragen war, denen gemäß sich die Vergangenheit der (westlichen) Industrienationen in den Entwicklungsländern wiederholte.22 In diesem Sinne propagierte die ILO ihre Prinzipien und Normen als Antworten auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas und Nordamerikas in der Vergangenheit, die den Entwicklungsländern als Vorlage dienen konnten. Es ging der ILO, in den Worten des belgischen stellvertretenden Generaldirektors Jef Rens, nicht um Entwicklungshilfe an sich. Vielmehr galt es, die Länder des Südens auf den „ILO way“ der Entwicklung zu geleiten.23 Während ein Großteil der technischen Arbeit der ILO bis zur Gründung des UNDP aufgrund der geringen Ressourcen in seinem Umfang begrenzt war, öffneten nach 1945 begonnene Aktivitäten der ILO auf dem Feld der „indigenen Arbeit (indigenous labour)“ die Möglichkeit, einen breiteren Modernisierungsansatz in die Praxis umzusetzen. Im sogenannten Anden-(Indianer)-Programm (Andean Indian Program) 1953–1962, einem der größten Entwicklungsprojekte seiner Zeit, übernahm die ILO die Koordination einer Gruppe von UN-Organisationen, die unter anderem auch die Welternährungsorganisation (FAO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNESCO umfasste.24 In einer Reihe von Andenländern mit hohen Anteilen indigener Bevölkerung wie Bolivien, Peru und Ecuador wurde das Andenprogramm ein Laboratorium für die „international technocratic class“25, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mittels social engineering „rückständige“ und „unterentwickelte Gesellschaften“ in die Moderne zu führen. Die breite Anlage des Programms umfasste Fragen der Ernährung, der Gesundheit und der Bildung in einem inte22 Latham, Michael E.: Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era. Chapel Hill 2000; Gilman, Nils: Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America. Baltimore 2003. 23 Maul, Daniel: „Help them move the ILO way“. The International Labor Organization and the modernization discourse in the era of decolonization and the Cold War. In: Diplomatic History 33 (2009). Nr. 3. S. 387–404. 24 Zum Andenprogramm siehe Breuer, Martin: Exploring the technical assistance activities of the International Labor Organization in the field of indigenous peoples. Development and human rights in the Andean Indian Program (1954–1968). In: Forum for Inter-American Research 11 (2018). Nr. 3. S. 110–123; Guthrie, Jason: The ILO and the international technocratic class, 1944–1966. In: Globalizing Social Rights. Hrsg. von Sandrine Kott u. Joëlle Droux. Basingstoke 2013. S. 115–136. 25 Guthrie, The ILO.

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grierten Modernisierungsansatz. So entstanden neben den Berufsbildungszentren der ILO auch eine medizinische Klinik der WHO, eine von der UNESCO betriebene Landwirtschaftsschule sowie eine agrarwissenschaftliche Forschungsstation der FAO. Die Maßnahmen zielten dem Zeitgeist entsprechend auf die vollständige Assimilierung indigener Bevölkerungsgruppen, die an sich für rückständig und unterentwickelt erklärt wurden, in die „Mehrheits“-Gesellschaft ab. Hier wie auch in einem parallel geschlossenen ILO-Übereinkommen von 1958 über indigene Bevölkerungen26 spiegelten sich das Selbstverständnis der ILO und anderer internationaler Organisationen als „global civilizers“ wider, welche die entwicklungspolitischen Initiativen der UN in dieser Phase prägten.27 Für die ILO war die Führungsrolle, die sie im Andenprogramm übernahm, ein wichtiger Schritt. Diese festigte nicht nur ihren Ruf als führende UN-Agentur auf dem Gebiet der indigenen Arbeit und darüber hinaus indigener Bevölkerungen (und später „indigener Völker“).28 Das Andenprogramm half der ILO auch, sich als Entwicklungsagentur in einem umfassenden Sinn zu etablieren. Die Art und Weise, in der sie in ihrer Tätigkeit über ihren engeren Zuständigkeitsbereich auf dem Feld der Arbeitspolitik hinausging und sich einem breiteren Verständnis von Sozial- und Entwicklungspolitik öffnete, war eine Vorschau auf die Wende, die die Entwicklungsarbeit der ILO in den 1960er Jahren nehmen würde.

Das Weltbeschäftigungsprogramm Zu Beginn der 1960er Jahre begannen sich zunehmend kritische Stimmen in die internationalen Debatten zur Entwicklung zu mischen: Der uneingeschränkte Fortschrittsglaube, der die Annahmen früher Entwicklungstheoretiker wie W. 26 Indigenous and Tribal Populations Convention, 1957 (No. 107) wurde 1989 von einer neuen Indigenous and Tribal Peoples Convention, 1989 (No. 169) ergänzt, die den Begriff der indigenen Bevölkerungsgruppen durch den der „indigenen Völker“ ersetzte und auf den Prinzipien der kulturellen Gleichwertigkeit beruhte. 27 Dykmann, Only with the best intentions; Pernet, Corinne: Between entanglement and dependencies. Food, nutrition, and national development at the Central American Institute of Nutrition (INCAP). In: International Organizations and Development. Hrsg. von Marc Frey u. Sönke Kunkel u. Corinna R. Unger. S. 101–125. 28 Rodríguez-Piñero, Luis: Indigenous Peoples, Postcolonialism, and International Law. The ILO Regime (1919–1989). Oxford 2005; Vik, Hanne Hagtvedt: Indigenous internationalism. In: Internationalisms. A Twentieth Century History. Hrsg. von Glenda Sluga u. Patricia Clavin. Cambridge 2017. S. 315–339.

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Arthur Lewis getragen hatte, wich einer nüchternen Sichtweise: Was offensichtlich wurde, war, dass selbst hohe wirtschaftliche Wachstumsraten alleine nicht ausreichten, um den Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern entscheidend zu erhöhen. Im Gegenteil beherrschten Bilder von Elend in den wachsenden städtischen Ballungsräumen und stagnierenden ländlichen Gebieten den Diskurs. Insbesondere eine der Grundannahmen der „dualen“ Entwicklungstheorie hatte sich offensichtlich als ungenügend erwiesen: Nirgendwo war das Wachstum des „modernen“ Wirtschaftssektors ausreichend, um auch nur annähernd denjenigen Beschäftigung zu bieten, die auf der Suche nach besseren Chancen vom Land in die Städte zogen. Davon ausgehend begann sich ein Krisendiskurs zu entwickeln, der sich im Laufe der 1960er Jahre intensivieren sollte.29 Parallel sah sich die ILO unter Druck von Seiten der Entwicklungsländer, die nun zunehmend als Block innerhalb der Vereinten Nationen auftraten, sich den strukturellen Ursachen der Unterentwicklung zuzuwenden. Gestützt wurden sie von den Thesen einer Gruppe von Ökonomen, deren prominenteste Vertreter, Hans Singer und Raúl Prebisch, zu diesem Zeitpunkt hochrangige Vertreter der Vereinten Nationen waren. Nach ihren (dependenz-)theoretischen Annahmen wirkte sich die von den reichen Industrienationen installierte internationale Arbeitsteilung im Handel systematisch zu Ungunsten der Länder des globalen Südens aus. Die neuen Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen in Folge der Dekolonisierung versuchten diese Länder nun zunehmend zu nutzen, um die „neo-kolonialen“ Strukturen des Welthandels zu ihren Gunsten zu verändern. Ausdruck fand dieses Ziel etwa in der ersten Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), die auf Betreiben der Entwicklungsländer 1964 in Genf stattfand. In der ILO betrachteten viele diese Entwicklung mit Sorge, da ihr in der UNCTAD, insbesondere aber in der 1965 gegründeten Organisation für industrielle Entwicklung der Vereinten Nationen (UNIDO), auf einigen Arbeitsfeldern (etwa bei der Berufsausbildung) Konkurrenz zu erwachsen drohte.30 Vor diesem Hintergrund wurde die Losung, „produktive Beschäftigung“ zu schaffen, zum Hauptschlagwort, unter dem die ILO ihre Aktivitäten während der 1960er Jahre neu auszurichten begann, und gleichzeitig zur Überschrift über den Beitrag der Organisation zur „Ersten Entwicklungsdekade“ der Vereinten Nationen. Bereits 1961 tauchte der Begriff „productive employment“ erstmals in einem Bericht auf, der den Titel The role of the International Labour Organiza29 Unger, International development, S. 133–137. 30 Alcock, History of the International Labor Organization, S. 343–346. Siehe auch die Beiträge von Stella Krepp und Steffen Fiebrig in diesem Band.

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tion in the promotion of economic growth and social progress in developing countries trug. Kerngedanke war, dass es gelte, die soziale Dimension der Entwicklungspolitik fortan vom Rand in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. „Produktive Beschäftigung“ zu schaffen und Beschäftigungsziele in die nationale Entwicklungsplanung aufzunehmen, wurde zur wichtigsten Aufgabe erklärt.31 Von da an blieb das Thema kontinuierlich auf der Tagesordnung: Ein Übereinkommen, das 1964 Grundprinzipien und Ziele staatlicher Beschäftigungspolitik definierte und sich dezidiert an der Situation in den Entwicklungsländern orientierte, lieferte den normativen Rahmen. Das Übereinkommen und eine zusätzlich verabschiedete Empfehlung enthielten einen Maßnahmenkatalog, der von der Investitions- über die Lohnpolitik bis hin zu demographischen Studien reichte. Anders als in vorherigen Fällen schloss das Dokument nicht nur Industriearbeit, sondern auch den landwirtschaftlichen Sektor mit ein.32 Es folgten eine Reihe von regionalspezifischen Beschäftigungsplänen. Der Ottawa-Plan der amerikanischen Mitgliedsstaaten bildete 1966 den Auftakt, gefolgt von einem Asian Manpower Plan (1968) sowie einem African Jobs and Skills Programme (1969).33 All diese Pläne gipfelten schließlich 1969 – anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung der ILO – in der feierlichen Proklamation eines Weltbeschäftigungsprogramms (World Employment Program – WEP).34 Warum der starke Fokus auf die Frage der Beschäftigung? Aus Sicht der ILO sprach vieles dafür: In diesem Bereich konnte die ILO zunächst auf einigem aufbauen, was bereits seit dem Zweiten Weltkrieg ein Teil ihrer technischen Hilfsprogramme war, insbesondere mit Blick auf die berufliche Ausbildung. Die Beschäftigungspolitik als solche war ohnedies von Anbeginn an eine wichtige Säule in der Arbeit der ILO. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war Gegenstand eines Übereinkommens, das auf der ersten Konferenz der ILO 1919 verabschiedet wurde. Während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und unter dem Eindruck der Massenarbeitslosigkeit, die ihr folgte, hatte die ILO im Sinne

31 ILO, Role. 32 Employment Policy Convention, 1964 (No. 122); Employment Policy Recommendation, 1964 (No. 122). 33 Im Rahmen des Ottawa-Plans einigten sich alle amerikanischen Mitglieder der ILO darauf, konzertierte Schritte zur Steigerung der Beschäftigungsquote zu unternehmen. Es folgten ein Asian Manpower Plan, der 1966 durch eine Asiatische Regionalkonferenz der ILO in Tokio verabschiedet wurde sowie auf der afrikanischen Regionalkonferenz in Dakar im Jahr 1967 ein African Jobs and Skills Programme. Alcock, History of the International Labor Organization, S. 354–360. 34 ILO: Record of proceedings, International Labour Conference, 51st Session 1967. Geneva 1967. S. 412f.

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der Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes für eine aktive staatliche Beschäftigungspolitik plädiert. Die Philadelphia-Erklärung von 1944, welche die Tätigkeit der ILO auf eine neue menschenrechtliche Grundlage stellte, schrieb dies fort, indem sie beschäftigungspolitische Maßnahmen als ein zentrales Instrument zur Verwirklichung sozialer Rechte, namentlich des Rechts auf Arbeit auswies. Waren die Überlegungen bis dato vor allem mit Blick auf die Industrienationen ausgerichtet gewesen, so rückten nach dem Zweiten Weltkrieg auch zunehmend die beschäftigungspolitischen Probleme der weniger industrialisierten Länder ins Blickfeld. Insbesondere die lateinamerikanischen Nationen zeigten früh Interesse. So nahmen beschäftigungspolitische Überlegungen auch innerhalb des Andenprogramms eine wichtige Position ein.35 Gerade mit Blick auf Lateinamerika kam noch ein weiterer gewichtiger Faktor hinzu, der die Konzentration auf beschäftigungspolitische Maßnahmen nahelegte; den Hintergrund bildete die enge Verflechtung von entwicklungs- und bevölkerungspolitischen Diskursen. Letztere nahmen in den 1960er Jahren unter Stichworten wie „Bevölkerungsbombe“ und „Bevölkerungsexplosion“ zunehmend alarmistische Töne an. Das Thema Beschäftigung bot in diesem Sinne eine Antwort jenseits der zur selben Zeit kursierenden neo-malthusianischen Rezepte. Sie stellte vor allem eine positive Alternative zu Geburtenkontrollprogrammen dar, die vor allem in Ländern, in denen die katholische Kirche Einfluss hatte, wie etwa in Lateinamerika, auf erheblichen Widerstand stießen.36 Der Ottawa-Plan hatte diesen Zusammenhang eigens hervorgehoben, in dem er „produktive Beschäftigung“ als positive Alternative unter anderem zur Geburtenkontrolle auswies.37 Hinzu trat, dass sich das International Labour Office schwer tat, den Forderungen der Entwicklungsländer nach einer klareren Positionierung im NordSüd-Konflikt entgegenzukommen. Dies betraf insbesondere Fragen des Welthandels. Wiederholt forderten etwa afrikanische und asiatische Staaten in Folge von Regionalkonferenzen die ILO auf, internationale Abkommen zu vermitteln, die zur Stabilisierung der Weltmarktpreise von Rohstoffen beitragen sollten. Solche Abkommen stießen auf den entschiedenen Widerstand von Regierungen, Arbeitgebern und Gewerkschaften in den westlichen Industrieländern. Die Aufmerksamkeit auf beschäftigungspolitische Aspekte zu legen, diente der ILO

35 Alcock, History of the International Labor Organization, S. 354–360. 36 Robertson, Thomas: The Malthusian Moment. Global Population Growth and the Birth of American Environmentalism. New Brunswick 2012. 37 Für einen Überblick siehe Bashford, Alison: Population, geopolitics, and international organizations in the mid-twentieth century. In: Journal of World History 19 (2008). Nr. 3. S. 327–348.

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vor diesem Hintergrund dazu, die Aufmerksamkeit zurück auf die internen Faktoren der Entwicklungspolitik zu lenken, den Bereich also, in dem die Organisation langjährige Expertise vorweisen konnte. Eine klare Positionierung auf Seiten der Entwicklungsländer und gegen die Interessen der westlichen Industrienationen war im Sinne der Organisation nicht wünschenswert und angesichts der faktischen Machtverhältnisse im ILO-Verwaltungsrat auch kaum durchsetzbar.38 Schließlich kann der Vorlauf zum World Employment Program nicht isoliert von Entwicklungen im UN-System betrachtet werden. Generell ließ sich hier ein Trend zu großen globalen Kampagnen beobachten, dem in den 1960er Jahren fast alle Teile der Vereinten Nationen folgten. Gemeinsam war diesen Programmen, dass sie den Rahmen für eine neue Art der Zusammenarbeit mit NGOs und akademischen Partnern auf den Weg brachten, mit dem Ziel, eine breitere internationale Öffentlichkeit zu erreichen und den Handlungsspielraum internationaler Organisationen zu erweitern. Ermöglicht wurden diese Kampagnen durch neue Finanzierungsquellen wie das UNDP. Diese gaben allen Agenturen die Möglichkeit, und durch ihre Förderrichtlinien auch einen starken Anreiz, langfristige Programme zu entwerfen, die es erlaubten, sich umfassender in die Planungsprozesse der Entwicklungsländer einzuschalten. Beispiele hierfür sind die von der FAO durchgeführte Kampagne „Freiheit vor Hunger“ (1960), das „Experimental World Literacy Program“ der UNESCO (1967) oder das „Programm zur weltweiten Bekämpfung von Pocken“ der WHO (1967).39 Die Arbeit am eigentlichen WEP begann jedoch erst 1969. Geplant waren zwei Phasen: Es ging zunächst darum, eine umfangreiche forschungsgestützte Bestandsaufnahme der Beschäftigungssituation in den Entwicklungsländern vorzunehmen. In einem zweiten Schritt sollte das WEP konkrete regionalspezifische Empfehlungen liefern und den Ländern insbesondere dabei helfen, beschäftigungspolitische Ziele und Maßnahmen in ihre wirtschaftliche Planung zu integrieren. Das WEP war in David Morses Worten in erster Linie „a first attempt to world-wide planning“ mit dem Ziel der „produktiven Beschäftigung“ als Leitbild. 38 Resolution concerning the stability of world commodity markets and their influence on levels of living and employment. In: ARC 1 (1960). RoP. Appendix VI. Resolutions and conclusions adopted by the Conference. S. 280f.; Resolution concerning measures to promote stable prices of basic commodities in world markets and other measures for the effective utilisation of resources and the improvement of living standards. In: ARC 5 (1962). RoP. Appendix VII. Resolutions and observations adopted by the Conference. 39 Frey/Kunkel/Unger, Introduction; O’Sullivan, Kevin: A global nervous system. The rise and rise of European humanitarian NGOs. In: International Organizations and Development, S. 196–219.

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Während innerhalb der ILO der ägyptische stellvertretende Generaldirektor Abbas Ammar die Leitung übertragen bekam, wurde die operative Planung dem renommierten Ökonomen und langjährigen Mitarbeiter verschiedener UN-Institutionen (darunter UNCTAD und UNIDO) Hans Singer sowie dem US-amerikanischen Arbeitsökonomen Walter Galenson übertragen. Für die Koordination der Forschung war ab 1971 der niederländische Wirtschaftswissenschaftler Louis Emmerij federführend. Als Berater versammelte die ILO zunächst eine Reihe von auswärtigen Experten, zu denen so prominente Köpfe wie Jan Tinbergen, aber zu Anfang auch W. Arthur Lewis zählten. Die Schlüsselrolle sollte dem in Sussex ansässigen Institute for Development Studies (IDS) unter seinem Leiter Dudley Seers zufallen. Diese Wahl war bedeutend, da Seers und seine Kollegen in den 1960er Jahren die entschiedenste Gegenposition zur „dualen“ wachstumsorientierten Orthodoxie von Lewis und der ersten Generation von Entwicklungsökonomen formuliert hatten. Ohne das Wachstumsziel grundsätzlich in Frage zu stellen, verlagerten Seers und seine Kollegen, zu denen auch Hans Singer zählte, den Fokus auf die Armut als das bedeutendste Hindernis für den wirtschaftlichen Fortschritt der Entwicklungsländern. Ihr Ansatz war radikal in dem Sinn, dass sie zur Bekämpfung der Armut nicht nur sozialpolitische Maßnahmen, sondern darüber hinaus eine aktive Politik der Umverteilung etwa mittels der Steuerpolitik forderten, um das Problem an der Wurzel zu packen. Das WEP wurde zu einem Laboratorium dieser Ideen, insbesondere nachdem Mitarbeiter des IDS die Leitung öffentlichkeitswirksamer Länderpilotstudien übernahmen, welche die erste Phase des Programms einläuteten.40 Bereits die erste dieser Pilotmissionen, die unter Seers Leitung 1970 in Kolumbien stattfand, gab den Ton vor. Der Abschlussbericht der Mission „Auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Ein Programm für Kolumbien“ behandelte das Beschäftigungsproblem als Teil einer umfassenden Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes, die Fragen des Landbesitzes, der Einkommensverteilung und der Position Kolumbiens im Welthandel integrierte.41 Der Bericht argumentierte, dass Einkommensungleichheit als Ursache und nicht als Folge der Arbeitslosigkeit behandelt werden sollte. Um sie wirksam zu überwinden, seien umfassende Maßnahmen erforderlich, die Landreform, die Umverteilung von Wohlstand durch Steuern und eine Devisenpolitik, die das Wachstum exportorientierter Industrien begünstigte.42

40 Eine Übersicht über die Forschungsergebnisse des WEP: Singer, Hans: Research of the World Employment Programme. Future Priorities and Selective Assessment. Geneva 1992. 41 ILO: Towards Full Employment. A Programme for Colombia. Geneva 1970. 42 Bolivar, La genèse, S. 10–15.

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Neben dem Kolumbienbericht war es dann vor allem das Pilotprojekt in Kenia 1972, das den Ruf des WEP begründete. Geleitet wurde es von Singer gemeinsam mit einigen seiner IDS-Kollegen und auch hier galt das Hauptaugenmerk dem Problem der Armut.43 Singers Bericht der unter dem programmatischen Titel „Beschäftigung, Einkommen und Gleichheit“ veröffentlicht wurde, gelang es zwei zentrale Begriffe zu etablieren: Dies war zunächst das Konzept der „Umverteilung mit Wachstum“ (Redistribution with Growth – RWG), womit in erster Linie gemeint war, dass die beste Methode, Arbeitsplätze unter den Bedingungen der Unterentwicklung zu schaffen, darin bestand, das Einkommen der ärmsten Bevölkerungsschichten anzuheben. Gleichzeitig betonte der Bericht die strategische Bedeutung des sogenannten informellen Sektors (informal sector), also jenes Teils der Wirtschaft, in dem in vielen Ländern des globalen Südens eine Mehrzahl der arbeitenden Menschen ihren Unterhalt außerhalb regulärer Beschäftigungsverhältnisse verdienten – etwa als Kleinhändler. Der KeniaBericht zeichnete ein positives und facettenreiches Bild informeller Arbeit. Noch einschneidender war, dass Singer den informellen Sektor von seinem bisherigen Status als Indikator für Unterentwicklung und Stagnation befreite und stattdessen das Bild eines dynamischen, wenn nicht sogar dem dynamischsten Teil der Wirtschaft zeichnete.44 Gemeinsam mit der Fülle von Forschungsarbeiten und Berichten, die im Rahmen des WEP in der ersten Hälfte der 1970er Jahre entstanden, trugen vor allem die Pilotmissionen dazu bei, eine neue armutszentrierte Sichtweise auf die Entwicklungspolitik insbesondere innerhalb der Vereinten Nationen zu etablieren. Die innovative Herangehensweise und der eingängige Charakter der zentralen Maximen trugen zum Erfolg des WEP bei und halfen der ILO, auch mit kritischen Stimmen umzugehen. Der Erfolg der Pilotmissionen konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das WEP in nahezu all seinen Aspekten von der ursprünglich geplanten Form entfernt hatte. Das galt zunächst für seine Verankerung inner-

43 Sollai, Humanizing Development, S. 15–20. 44 Der Begriff des „informal sector“ kann nicht als Erfindung des IDS gelten. Vorläufer waren etwa im Begriff der „marginal labor force“ zu sehen, die der mit der Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) verbundene Forscher Zygmunt Slawinski bereits in einem Bericht von 1957 zu bemessen versuchte. Love, Joseph. L.: The rise and fall of economic structuralism in Latin America. In: Latin American Research Review 40 (2005). Nr. 3. S. 100–125. Hier S. 108. Der Begriff des „informellen Sektors“ wurde am IDS durch den Anthropologen Keith Hart im Jahr 1971 eingeführt und dann erstmals durch Singer in einer Publikation eingeführt. Benanav, Aaron: The origins of informality. The ILO at the limit of the concept of unemployment. In: Journal of Global History 14 (2019). Nr. 1. S. 107–125. Ein Überblick bei Bangasser, Paul E.: The ILO and the Informal Sector. An Institutional History. ILO Employment Paper 2000/9. Geneva 2000.

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halb der ILO selbst: Geplant als ein Programm, dass alle Bereiche des International Labour Office mit einbeziehen würde, wurde es de facto von einer kleinen Gruppe von ILO-Offiziellen sowie den externen Beratern aus dem IDS geleitet, deren Tätigkeit nur geringe Schnittmengen mit der „täglichen Arbeit“ der ILO aufwies. Dieser Umstand wurde dadurch weiter betont, dass das Programm nicht über das reguläre Budget der ILO, sondern durch Beiträge einzelner Regierungen wie Schweden, Dänemark und den Niederlanden finanziert wurde.45 Auch von der ursprünglich geplanten regionalen Anbindung des WEP blieb kaum etwas übrig. Stattdessen liefen in der Realität alle Fäden im Genfer Hauptquartier zusammen. Gleiches galt auch für die (wie im Falle des AIP) beabsichtigte Zusammenarbeit mit anderen UN-Agenturen vor Ort, die nie wirklich zustande kam. Umgekehrt führte der umfassende Ansatz der Pilotmissionen dazu, dass sich die Zusicherungen der ILO an andere Organisationen, sich im Wesentlichen auf die arbeitspolitischen Aspekte des Beschäftigungsproblems zu beschränken und nicht im Kompetenzbereich anderer Agenturen zu „wildern“, bald als obsolet erwiesen. Der expansive Ansatz des IDS sprengte diesen Rahmen wiederholt und bezog etwa Fragen der Gesundheitsversorgung, des internationalen Handels, der landwirtschaftlichen Produktion und Eigentumsverhältnisse wie selbstverständlich in seine Analysen ein, wenn sie mit dem Ziel der „produktiven Beschäftigung“ in Zusammenhang standen. Entsprechend wurde das WEP von Anfang an sowohl innerhalb als auch außerhalb der ILO von Kritik begleitet. Die Gewerkschaften bemängelten zudem, dass das WEP sich weitgehend der Kontrolle durch die dreigliedrigen Entscheidungsgremien der ILO entzog. Sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften monierten die Bedeutung, die die Ländermissionsberichte dem informellen Sektor zuwiesen.46 Wirtschaftsplanung und staatliche Maßnahmen, die auf Umverteilung zielten, stießen dagegen bei den Arbeitgebern auf wenig Gegenliebe. Gleiches galt für eine Reihe westlicher Regierungen, insbesondere die USA. Dies galt oft in gleichem Maß für die Zielländer der Pilotmissionen selbst, deren politische Führer oft wenig Sympathie für durchgreifende Forderungen nach Umverteilung und Landreform hatten. Kolumbien war eine Ausnahme von der Regel. Präsident Carlos Lleras Restrepo hatte sich gerade deshalb bemüht, sein Land zum Ziel der ersten Pilotmission zu machen, weil er sich von der Mission Unterstützung für seine politischen Pläne erhoffte, die unter anderem eine umfassende Landreform anstrebten.47 In Kenia dagegen war die Regierung eif45 Einen Überblick zur Position der nordischen Staaten liefert Marklund, Carl: Neutrality and Solidarity in Nordic Humanitarian Action. HPG Working Paper. London 2016. 46 Sollai, Humanizing Development, S. 21. 47 Bolivar, La genèse.

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rig bemüht, die Vorschläge der Singer-Mission zu ignorieren und alle Initiativen der ILO zur Umsetzung im Sande verlaufen zu lassen.48 Der elitenzentrierte Ansatz der WEP und eine gewisse Naivität (oder je nach Perspektive sogar Arroganz) hinsichtlich der Rolle der postkolonialen Eliten als willige Vollstrecker der Programmvorschläge, die in den Berichten als selbstverständlich angesehen wurden, führten zu einer anderen Art von Kritik an der WEP durch die politischen Linken.49 In der Summe war das WEP – zumindest aus Sicht der ILO – eine Erfolgsgeschichte. Das hatte weniger mit den tatsächlichen Auswirkungen der WEP auf die Beschäftigungssituation in den Entwicklungsländern zu tun. Diese waren ohnedies nur schwer zu quantifizieren. Das WEP war aus anderen Gründen bedeutend: Es stieß Forschungen renommierter Wissenschaftler (darunter etwa des noch jungen Amartya Sen) an, die das Thema Beschäftigungspolitik mit einem breiten Feld von anderen Gebieten wie Bevölkerungswachstum, ländliche Entwicklung, Urbanisierung, Bildungspolitik, Welthandel oder Automatisierung und deren beschäftigungspolitische Folgen bei der Einführung neuer Technologie sowie mit Fragen der Migration und der Umweltpolitik verknüpften. Auf einigen Feldern, etwa mit Blick auf den informellen Sektor, aber auch mit Untersuchungen zur Rolle von Frauen in der Wirtschaft der Entwicklungsländer, betrat das Programm Neuland und hinterließ ein nachhaltiges Erbe.50 Auf diese Weise trug das WEP gleichzeitig dazu bei, die Stellung der ILO als Entwicklungsagentur innerhalb der Vereinten Nationen zu festigen. Der armutszentrierte Ansatz lieferte eine wichtige Inspiration für andere Teile der UN. Insbesondere die Weltbeschäftigungskonferenz 1976 und ihr Abschlussbericht wurden zu Meilensteinen. Die Autoren des Berichts, Louis Emmerij und Dharam Ghai, ein kenianischer Ökonom und Emmerijs Nachfolger als Direktor der WEPForschungsabteilung setzten darin die Kernideen des WEP zur Armutsreduzierung, zur soziökonomischen Planung zusammen und stellten sie unter die Überschrift der Grundbedürfnisse (basic needs). Dieser Ansatz umfasste unter anderem Aspekte der Ernährungssicherheit, des Wohnens, der Gesundheitsversorgung und der Bildung. Wenngleich basic needs kein gänzlich neues Konzept war, trug die ILO 1976 dazu bei, den Begriff international zu popularisieren. In den folgenden Jahren griffen die Vereinten Nationen und eine Vielzahl von weiteren internationalen Agenturen den Begriff in ihrer Arbeit auf. Insbesondere

48 Sollai, Humanizing Development, S. 21. 49 Gerry, Chris: The theoretical basis of the World Employment Programme. A note on pragmatism, social democracy and ideology. In: Manpower and Employment Research 10 (1977). Nr. 2. S. 25–31. 50 Bangasser, The ILO and the informal sector.

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die Weltbank unter ihrem amerikanischen Präsidenten Robert McNamara erklärte basic needs ab Mitte der 1970er Jahre zu einem zentralen strategischen Ziel. Auch die US-Regierung unter Präsident Jimmy Carter ebenso wie eine Reihe weiterer Regierungen erhob ihn zu einer Leitlinie.51 Zur selben Zeit stellte die World Employment Conference nicht nur den Beginn für den basic needs-Ansatz, sondern in gewisser Weise auch den Anfang vom Ende des WEP dar. Die ökonomischen Krisen der 1970er Jahre, welche die Mehrheit der Entwicklungsländer noch stärker traf als die Industrienationen, hatten bereits zuvor die hohen Erwartungen der Anfangsjahre gedämpft. Gleichzeitig standen viele Entwicklungsländer der Forderung nach einer Betonung von basic needs gegenüber wachstumszentrierten Ansätzen durchaus kritisch gegenüber.52 Dafür waren nicht nur die genannten Widerstände gegen die Umverteilungsaspekte ausschlaggebend, die auch im Bericht der WEC 1976 erneut eine zentrale Rolle spielten. In den parallelen Diskussionen über die von den Entwicklungsländern propagierte Neue Weltwirtschaftsordnung (New International Economic Order – NIEO), die 1974 von der UN-Generalversammlung proklamiert wurde, befürchteten die Länder des globalen Südens auch, das WEP und der armutszentrierte Ansatz könnten die Debatte von der aus ihrer Sicht grundlegenderen Frage nach den unfairen Strukturen des Welthandels ablenken.53 Ohnedies zeichnete sich gegen Ende der 1970er Jahre ein neuer Paradigmenwechsel im Entwicklungsdenken ab, der die Grundprämissen des WEP in Frage stellte. Die mit der NIEO verbundenen Hoffnungen erfüllten sich nicht. Im Gegenteil führte die weltweite wirtschaftliche Rezession in den 1970er Jahren die meisten Entwicklungsländer in eine tiefe Schuldenkrise. Vor diesem Hintergrund gewannen angebotsorientierte „neoliberale“ Ansätze im wirtschaftlichen Denken an Einfluss. In den 1980er Jahren endete die jahrzehntelange Deutungshoheit keynesianischer Ökonomen, die offenbar keine Antwort auf die global wirksame Krise fanden. Nicht nur mit Blick auf das WEP, das auf keynesianischen Ideen von wirtschaftlicher Planung und social spending beruhte, bedeutete dieser Wandel einen tiefen Einschnitt. Für die ILO insgesamt be51 Auch für den Begriff der „basic needs“ konnte die ILO keine Urheberschaft beanspruchen. In den 1940er Jahren wurde er durch den renommierten Psychologen Abraham Maslow eingeführt und später immer wieder aufgegriffen. 52 Das WEP bedeutete keineswegs eine Abkehr vom Wachstumsparadigma. Für Louis Emmerij waren 6 % Wachstum das Ziel. Siehe Standing, Guy: The ILO. An agency for globalization? In: Development and Change 39 (2008). Nr. 2. S. 355–384. 53 Zur Diskussion um die NIEO siehe Dietrich, Christopher R. W.: Oil Revolution. Sovereign Rights and the Economic Culture of Decolonization, 1945 to 1979. Cambridge 2017. Siehe auch die Beiträge von Steffen Fiebrig, Michel Christian und Johanna Sackel in diesem Band.

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gann eine Phase, die bis in die späten 1990er Jahre andauern sollte, in der sie in den entscheidenden internationalen Diskussionen gegenüber den BrettonWoods-Institutionen zunehmend an Boden verlor. Im Bereich der Entwicklungspolitik setzte ab Anfang der 1980er Jahre der „Washington Consensus“ die Maßstäbe, unter dem die internationalen Finanzinstitutionen den Ländern des globalen Südens sogenannte Strukturanpassungsprogramme (SAP) verordneten, die den Ideen des WEP im Kern entgegenliefen und mancherorts sogar das, was an sozialen Einrichtungen vorhanden war, in Frage stellten. Die Weltbank führte das basic needs-Konzept fort, freilich von allen Umverteilungsaspekten gereinigt.54 Die Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, wurde dabei von einem Hebel, um Ungleichheiten zu reduzieren, zu einem reinen Mittel, um die gravierenden sozialen Folgen von structural adjustment abzufedern.55 Im gleichen Sinn erfuhr der informelle Sektor im Zeichen des Washington Consensus einen Bedeutungswandel: Das Ziel, wirtschaftliche und soziale Sicherheit durch „produktive Beschäftigung“ zu schaffen, letztlich also informelle in formelle Arbeitsverhältnisse zu überführen, trat in den Hintergrund. Stattdessen wurde der informelle Sektor zunehmend als ein Ort unternehmerischer Energien aufgefasst, die es freizusetzen galt.56 Für die ILO bedeuteten die 1980er Jahre gleichzeitig das Ende einer Phase, in der die Organisation im Fokus der Debatten um Entwicklungspolitik stand. Die neoliberale Hegemonie der folgenden Jahre verschob das Gewicht klar zu Gunsten wirtschafts- und handelspolitischer Fragen sowie institutionell in Richtung der 1995 gegründeten Welthandelsorganisation WTO. Für die ILO blieb dabei allenfalls die Rolle eines sozialen Gewissens im Zeichen von „Globalisierung“ und einer liberalisierten Welthandelsordnung.57 Die während der 1980er Jahre anhebenden Diskussionen um sogenannte Sozialklauseln – die Aufnahme von bestimmten ILO-Arbeitsstandards in internationale Handelsabkommen – unterstrichen die unbequeme Lage in der sich die ILO in der entwicklungspolitischen Kontroversen der Zeit nun zunehmend befand.58 Propagiert vor allem von

54 Konkel, Rob: The monetization of global poverty. The concept of poverty in World Bank history, 1944–1990. In: Journal of Global History 9 (2014). S. 276–300. 55 Unger, International Development, S. 127–152. 56 Toye, John: Dilemmas of Development. Reflections on the Counter-Revolution in Development Economics. Cambridge 1993. 57 Standing, ILO, S. 355–384 58 Royle, Tony: The ILO’s shift to promotional principles and the ‚privatization‘ of labour rights. An analysis of labour standards, voluntary self-regulation and social clauses. In: Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 26 (2010). Nr. 3. S. 249–271; Tsogas, George: Labour standards in international trade agreements. An assessment of the arguments. In: The International Journal of Human Resource Management 10 (1999). Nr. 2. S. 351–375.

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den internationalen Gewerkschaften sowie den USA und anderen Industrienationen, galten Sozialklauseln aus Sicht der Länder des globalen Südens und mit ihnen ILO-Normen insgesamt als protektionistisches Instrument des reichen Nordens. Der Widerstand der Länder des Südens gegen die Sozialklauseln war einer der Hauptgründe, warum die ILO im Umfeld der Gründung der WTO vor verschlossenen Türen stand. Die weitgehende Marginalisierung und effektive Abkoppelung der ILO sowie sozialer Fragen im Allgemeinen Hauptstrang der handelspolitisch geprägten Globalisierungsdebatten der 1990er und 2000er Jahre stellt nach wie vor ein starkes Hindernis für die ILO dar ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.59

59 Seit den 1990er Jahren hat die ILO mit teilweisem Erfolg versucht, verlorenen Boden gutzumachen. In der „Declaration of Fundamental Principles and Rights at Work“ (1998) werden eine Reihe von sogenannten Kernarbeitsnormen (Vereinigungsfreiheit, Freiheit von Zwangsarbeit, Diskriminierung, der gleiche Lohn für gleiche Arbeit von Männern und Frauen sowie das Verbot der Kinderarbeit) definiert, die für alle Mitgliedsländer unabhängig von der Ratifizierung gültig sind. Auch in der „Decent Work Agenda“ (1999), der „Declaration on Social Justice for a Fair Globalization“ (2008) und zuletzt in der „Centenary Declaration for the Future of Work“ (2019) bekräftigt die ILO ihren Anspruch, an Debatten um Entwicklung und Globalisierung an prominenter Stelle teilzunehmen. Für eine Zusammenfassung der Debatten siehe Reynaud, Emmanuel: The International Labour Organization and Globalization. Fundamental Rights, Decent Work and Social Justice. ILO Research Paper Series No. 21. Geneva 2018.

Andreas Weiß

Auf der Suche nach dem Süden: Die Europäischen Gemeinschaften und ihr Blick nach Süden in den 1970er und 1980er Jahren Die Nord-Süd-Beziehungen waren auch für das politische Europa in den 1970er Jahren eines der zentralen Themen. Olof Palme oder Willy Brandt sind wohl die bekanntesten europäischen Sprecher in den Fragen der Nord-Süd-Beziehungen. Auffällig ist, dass diese Stimmen den Europäischen Gemeinschaften erstaunlich wenig Gewicht zumaßen, sie allenfalls verstreut, mal hier mal da, erwähnten. Dies mag der Ursache geschuldet sein, dass Schweden noch nicht Mitglied der EG war und Willy Brandt lieber die „große“, die Weltbühne der Politik bespielte.1 Ein weiteres Problem dürfte sein, dass für und innerhalb Europas noch mindestens zwei weitere „Süden“ existierten. Doch kann diese scheinbare Leerstelle europäischer Perspektiven auf die Dichotomie Nord-Süd in der Geschichte der europäischen Integration durch ein Spiel mit begrifflich und emotional höchst unterschiedlich aufgeladenen Konnotationsebenen erklärt werden. Im Folgenden soll ein besonderer Aspekt dieses gegeneinander in Anschlag gebrachten Begriffspaares im Mittelpunkt stehen: die Auseinandersetzung der westeuropäischen Staatengemeinschaft mit dem „globalen Süden“, wie es heute heißt. Obwohl die Europäischen Gemeinschaften vor allem als Wirtschaftsblock – oder vielleicht gerade deswegen – bekannt waren, spielten sie in den Debatten um die Nord-Süd-Beziehungen eine wichtige, wenn auch oft unterschätzte Rolle. Dabei ergab sich eine europäische Perspektive auf diese globale Interpretation der Nord-Süd-Zusammenarbeit nicht nur aus der Ölkrise 1973/74, 1 Dies sieht man zum Beispiel an dem 1980 veröffentlichen Bericht der „Nord-Süd-Kommission“: Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen (Hrsg.): Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Bericht der Nord-SüdKommission. Köln 1980. Hier wird auf die Europäischen Gemeinschaften höchstens in passim eingegangen, im einführenden Teil zu „Internationalen Institutionen“ fehlen sie ganz, obwohl die Gemeinschaften schon damals einer der größten Wirtschaftsblöcke der Welt waren. Diese Missachtung der europäischen Institutionen findet sich auch in anderen zeitgenössischen Texten zur Evaluation des Nord-Süd-Dialogs. Der Vorwurf, Willy Brandt interessiere sich zu wenig für die europäische Integration, wurde übrigens schon 1973 vom damaligen französischen Agrarminister Jacques Chirac erhoben. Ich danke Christian Methfessel für kritische Kommentare und weiterführende Hinweise zu einer frühen Version dieses Textes. https://doi.org/10.1515/9783110682625-004

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die diesem Thema nochmals eine besondere Bedeutung und gesteigerte globale Wahrnehmung gab.2 Das Thema war für die Institutionen der europäischen Integration, vor allem die Gemeinsame Kommission und das Europäische Parlament, schon vor der unerwarteten und rapiden Erhöhung der Ölpreise durch die OPEC wichtig. Daher werden im Zentrum dieses Beitrages vor allem Initiativen der 1970er und 1980er Jahre, also der Hochphase des Nord-Süd-Dialogs, stehen, die in den Institutionen der europäischen Integration diskutiert wurden.3 Dahinter lagen zwei Themen: erstens, das koloniale Erbe und zweitens, die der Gemeinschaft wichtigen Idee von Friedens- und Entwicklungspolitik durch Wirtschaftsförderung. Zwei Brüche lassen sich in diesem Zeitraum diagnostizieren: der erste Bruch in den 1970er Jahren, als der „Süden“ im Zuge der Öl(preis) krise als zunehmend bedrohlich und als Konkurrenz wahrgenommen wurde. Und der große Bruch um 1990, als die Europäischen Gemeinschaften begannen, den „globalen Süden“ aufzugeben, und sich vor allem der unmittelbaren Nachbarschaft zuwandten, dem mediterranen Raum und Osteuropa. Auch wenn diese Brüche den hier geschilderten Gegenstand rahmen, bilden sie nur begrenzt den Inhalt dieses Beitrages. Vielmehr geht es um die großen diskursiven Leitlinien im Nord-Süd-Dialog – und somit darum, die europäische Definition des „Südens“ nachzuzeichnen. Meine Argumentation entfalte ich in drei Schritten. Der erste liefert den Rahmen und beleuchtet die Beziehungen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und dem „Süden“. Hierauf folgt zweitens der Blick auf das Agieren der EG-Institutionen und die Frage nach dem Verständnis und der Konstruktion des „Südens“ in Verhandlungen zwischen EG und diesen Ländern. Ein Schluss bezieht diese beiden Teile aufeinander, liefert eine Zusammenfassung der Probleme und damit eine differenzierte Skizze der Perspektive der EG auf das, was als „Süden“ verstanden wurde.

Der Rahmen: Geschichte der EG-Nord-Südpolitik Der Außenpolitik der Europäischen Gemeinschaften war von Anfang an, den Vorläuferorganisationen sogar vielleicht noch stärker als der heutigen Organisation, eine Nord-Süd-Perspektive inhärent. Die ehemaligen Kolonien und ab2 Siehe den Artikel von Rüdiger Graf in diesem Band. 3 Daher stehen auch die Europäischen Gemeinschaften (EG, 1967–1992) im Vordergrund, nicht die 1992 in Europäische Gemeinschaft umbenannte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) oder die Europäische Union, welche 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gegründet und 1997 mit dem Vertrag von Lissabon reformiert wurden.

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hängigen Gebiete, zu denen die früheren Imperialmächte weiter den wirtschaftlichen Kontakt aufrechterhalten wollten, lagen im „globalen“ Süden.4 Schon der Vertrag von Rom enthielt Artikel zur „Assoziierung“ der Übersee-Gebiete der Mitgliedsstaaten, vor allem, aber nicht nur ehemalige französische Kolonien. Diese Anbindung fand mit dem Yaoundé-Abkommen einen ersten formalen Abschluss. Wichtigstes Instrument in diesen Beziehungen wurde die Entwicklungshilfe, auch Außenhandelstarife und Preisbindungen wurden im Rahmen des Nord-Süd-Austausches hierunter subsumiert. Diese enge Koppelung von Entwicklungshilfe in Vereinbarungen, die zuerst nur für ehemalige Kolonien galten, führte allerdings frühzeitig dazu, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als ein neokoloniales Projekt begriffen wurden, welches darauf abzielte, die Vormachtstellung einer eurozentrischen Welt wiederherzustellen.5 Insofern versuchten die Europäischen Gemeinschaften diesem Eindruck entgegenzuwirken, indem beispielsweise die Kommission in internationalen Verhandlungen teilweise „südliche“ Positionen übernahm. So reagierte sie auf die Kritik am Yaoundé-Abkommen mit den Änderungen für das erste Lomé-Abkommen; diese Bereitschaft hatte sich schon in den Pariser Gesprächen 1972 angedeutet.6 Doch bewegte sich die Entwicklungspolitik der EWG – später auch 4 Zu Beginn des Einigungsprozesses handelte es sich vielfach noch um europäische Territorien, vor allem französischen Kolonialbesitz. Daher auch die Bedeutung, die diesen Gebieten im Vertrag von Rom zugewiesen wurde. Doch auch Belgien und Italien besaßen noch Kolonien, die durch diese Regelung in das Interesse gemeinsamer europäischer Politik rückten (siehe auch den Abschnitt zu Yaoundé unten). Diese Abschnitte in den Verträgen hatten noch Anklänge an die Sprache des klassischen kolonialen Legitimationsdiskurses qua Verbreitung von Fortschritt. Der Zusammenhang zwischen Dekolonisierung und der Entstehung der europäischen Entwicklungshilfebürokratie ist schon verschiedentlich aufgearbeitet worden. Bezeichnenderweise wird hier vor allem Bezug genommen auf französische Pläne, so zum Beispiel Dimier, Véronique: Bringing the Neo-Patrimonial State Back to Europe. French Decolonization and the Making of the European Development Aid Policy. In: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008). S. 433–457; Rempe, Martin: Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957–1975. Köln 2012; Dimier, Véronique: The Invention of a European Development Aid Bureaucracy. Recycling Empire. Houndmills 2014. 5 So schon 1973 von Johan Galtung formuliert: Galtung, Johan: Kapitalistische Großmacht Europa oder Die Gemeinschaft der Konzerne? „A Superpower in the Making“. Reinbek bei Hamburg 1973. Dieses Argument wurde in letzter Zeit wieder populistisch aufgegriffen und auf „Eurafrika“ zugespitzt von Hansen, Peo/Jonsson, Stefan: Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism. London [u. a.] 2015. Diese Kritik ist allerdings deutlich älter, wurde aber schon damals teilweise widerlegt; siehe Cosgrove, Carol Ann: The Common Market and Its Colonial Heritage. In: Journal of Contemporary History 4 (1969). Nr. 1. S. 73–87. 6 Migani, Guia: Entwicklungshilfe. Zwischen alten Prioritäten und neuen Herausforderungen. In: Die Europäische Kommission 1973–1986. Geschichte und Erinnerungen einer Institution. Hrsg. von Éric Bussière [u. a.]. Brüssel 2014. S. 413–433. Hier S. 415f.

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der EG – im Spannungsfeld zwischen der äußeren, von der Kommission verantworteten gemeinsamen Handelspolitik und den unterschiedlichen nationalen Vorstellungen von Entwicklungspolitik. Letztere orientierten sich einerseits an den vorgeblichen Bedürfnissen der „Dritten Welt“, die vor allem von den nördlichen Mitgliedsstaaten vertreten wurden, und andererseits an der Vorstellung von Entwicklungshilfe als reziproke Wirtschaftsförderung. Auch hier bilden die frühen 1970er Jahre einen Wendepunkt, da es 1973 mit dem Beitritt Großbritanniens und Dänemarks zu einer Stärkung des nördlichen Lagers kam.7 Allerdings erweiterte die Entwicklungspolitik auch den außenpolitischen Handelsspielraum der Europäischen Kommission. Vereinbarungen wie die Yaoundé- (1963) und Lomé-Abkommen oder die auf das Lomé-Abkommen (1975) folgende Cotonou-Vereinbarung (2000) lieferten einen Überschneidungsbereich zwischen Entwicklungshilfe-, Dekolonisierungs-, aber eben auch Handelspolitik.8 Hier zeigen sich allerdings auch Unterschiede zu anderen Weltregionen, in denen europäische Staaten postkoloniale Interessen besaßen. So rückte Südostasien, wo vor allem Großbritannien noch eine Reihe von Verbindungen besaß, erst mit dem Beitritt des Vereinigten Königreiches Anfang der 1970er Jahre wieder in den Fokus einer konzertierten westeuropäischen Außenpolitik. Im Weiteren versuchte besonders die Europäische Kommission im Rahmen der UNCTAD-Konferenzen, die Teil des Nord-Süd-Dialogs waren, stärker koordinierend auf die Mitgliedsstaaten einzuwirken.9 In scheinbarer Kontinuität mit kolonialpolitischen Rohstofffragen blieben dabei die mit wirtschaftspolitischen Interessen des „Südens“ verbundenen agrarpolitischen Fragen immer ein problematisches Thema, bei dem besonders heftig die Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten verteidigt wurden und oft im Widerspruch zur gemeinsamen Ent7 Siehe zum Beispiel Billerbeck, Klaus: Europäisierung der Entwicklungshilfe. Teil I: Integration durch Koordinierung der einzelstaatlichen Entwicklungshilfe-Politiken der EWG Länder. Berlin 1972. S. 5f. 8 Auch andernorts werden in der Forschung diese Abkommen mit dem Nord-Süd-Dialog in Verbindung gebracht. Siehe Brüne, Stefan: Die EU als Nord-Süd Akteur. Abschied von Lomé? In: Die Europäische Union als Akteur der Weltpolitik. Hrsg von Klaus Schubert u. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet. Opladen 2000. S. 108: Er verweist auch auf die früh erhobenen Vorwürfe, diese Form der Entwicklungshilfe würde nur die Position lokaler Eliten zementieren, aber keinen wirklichen Beitrag zur Entwicklung des „Südens“ liefern. Brüne versteht unter „Südpolitik“ vor allem Entwicklungspolitik, in der Perspektive dieses Beitrages ist dieser Begriff jedoch weiter zu fassen. Insgesamt gab es zwei Yaoundé-Abkommen (1963/69) und vier Lomé-Abkommen (1973/1979/1984/1989); diese Verhandlungsrunden wurden dann mit dem Cotonou-Abkommen im Jahr 2000 abgeschlossen. 9 Billerbeck, Europäisierung, S. 15–20. Dies diente auch dazu, Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden, wenn diese in der Entwicklungshilfe um besonders lukrative Projekte konkurrierten.

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wicklungspolitik standen.10 Immerhin gelang es der Europäischen Kommission zumindest bei einzelnen Rohprodukten und Industriegütern bevorzugte Quoten für die Partnerstaaten auszuhandeln.11 Diese Politik, vor allem das Yaoundé-Abkommen, blieb in ihrer Effizienz umstritten.12 Doch scheint die wirtschaftliche Schwäche der westeuropäischen Staaten seit der Ölkrise von an der Debatte beteiligten Akademikern als viel größere Gefahr für einen gleichberechtigten Nord-Süd-Dialog wahrgenommenen worden zu sein.13 Die Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften zum „Süden“ beruhten nicht nur auf etablierten Strukturen, sondern mussten im Kontext des „Kalten Krieges“ auch immer wieder neu justiert werden. In dessen Geschichte werden die europäischen Institutionen oft als nachgeordnete Akteure betrachtet. Nur vereinzelt widmeten sich Aufsätze und Sammelbände sowie wenige Monographien diesem Komplex.14 Andererseits sah die Forschung zum „Kalten Krieg“ in 10 Zur Kritik an diesem Widerspruch siehe auch Brüne, EU, S. 214f., sowie zeitgenössisch Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen, Überleben sichern, S. 184. Hier wird auch eine Verbindung zwischen einschränkender Handelspolitik und Gemeinsamer Agrarpolitik der EWG hergestellt. 11 Auf einzelne Beispiele wird weiter unten eingegangen. 12 So bei Holland, Martin: The European Union and the Third World. Houndmills 2002. S. 29f. 13 So lassen sich zumindest die Berichte der Nord-Süd-Kommission sowie einzelner wirtschaftspolitischer Analysen lesen, zum Beispiel Billerbeck, Klaus: Perspektiven der Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaften. Differenzierung der gemeinschaftlichen Instrumente. Berlin 1977. Geradezu alarmistisch wurde es dann in einigen konservativen Zeitdiagnosen, wie bei Arnold Toynbee, der davon ausging, dass „[k]ontinuierliches Wachstum […] anhaltender Rezession Platz machen [wird.] […] Nun, da sich die ‚Terms of Trade‘ für die Industrieländer verschlechtern, für die Entwicklungsländer dagegen verbessern, wie werden die Völker der ‚entwickelten‘ Welt reagieren? Sie werden sich in einem permanenten Belagerungszustand befinden, wobei die materiellen Lebensbedingungen mindestens so dürftig sein werden wie während der beiden Weltkriege. Die Verbrauchsbeschränkung der Kriegszeit war vorübergehend, die der Zukunft wird von Dauer sein und immer schlimmer werden. Was dann?“ In einem Diskussionsforum wurde gefragt, ob es nun zu einem „Weltbürgerkrieg“ kommen würde. Beide Stellen finden sich im Themenheft „Abschied von der Entwicklungshilfe?“ der Schweizer Zeitschrift Brennpunkte (1974). Nr. 5. S. 5, 57–70. Ralf Dahrendorf beschrieb das Jahr der Ölkrise einige Jahre später in derselben Zeitschrift als „das zweite Grundelement der Veränderungen einer alten Wirtschaftsordnung.“ Siehe Dahrendorf, Ralf G.: Die Herausforderung annehmen. In: Brennpunkte 7 (1976). Nr. 6: Themenschwerpunkt „Die Zukunft der Industrie in Europa“. S. 13 – 26. Hier S. 16. Dahrendorf war selbst kurz vorher (1970–1972) Kommissar für Außenbeziehungen in der Europäischen Kommission gewesen. 14 Ein Befund, der in starkem Kontrast zur Masse an Untersuchungen zur Außenpolitik der Europäischen Gemeinschaft seit den 1990er Jahren steht. Zu den Europäischen Gemeinschaften im „Kalten Krieg“ siehe unter anderem Trachtenberg, Marc: A Constructed Peace. The Making of the European Settlement, 1945–1963. Princeton 1999; ders.: Between Empire and Alliance. America and Europe during the Cold War. Lanham [u.a.] 2003; Loth, Wilfried/Soutou, Georges-

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den internationalen Institutionen generell eher Akteure in der Nord-Süd-Debatte als im Ost-West-Konflikt.15 Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass zwar die Kommission im Rahmen der Fusionsverträge und der verstärkten Integration der Gemeinschaften zunehmend Kompetenzen in der Außenpolitik an sich ziehen konnte, das letzte Wort aber immer noch bei den nationalen Regierungen lag. Und für diese, besonders für die großen Mitgliedsstaaten, besaß der „Kalte Krieg“ eine größere Bedeutung als die Beziehungen zur „Dritten Welt“. Somit konnte der Kommission mehr Handlungsspielraum in dieser Angelegenheit überlassen werden. So trug dieser Punkt wesentlich zum Interesse der Europäische Kommission am „Süden“ bei. Die internationale politische Neugestaltung nach dem Zweiten Weltkrieg sollte vor allem durch Regionalorganisationen getragen werden. Denn alle Regionalorganisationen, zu denen die Kommission frühzeitig Kontakte aufbaute, waren (mehr oder weniger) auf der Südhalbkugel beheimatet. Es spricht vieles dafür, dass diese Perspektive durch die Tatsache verschleiert worden ist, dass Kooperationen regionaler Zusammenschlüsse vielfach in den Rahmen des „Ost-West-Konflikts“, also in den „Kalten Krieg“ eingeordnet wurden; die Nord-Süd-Verhandlungen der europäischen Institutionen wurden hier von manchen nur als ein Baustein in einem größeren Puzzle verstanden – dessen Logik klar von der Ost-West-Konfrontation bestimmt wurde.16 Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, überlappten sich aber in der Periode zwischen 1945 und 1990 vielfach die verschiedenen Ordnungsvorstellungen und alternativen Gegenentwürfe.17 Daher müssen für die amerikanische Außenpolitik seit John Foster Dulles der Nord-Süd-Konflikt und der „Kalte Krieg“ zusammengebracht werden. Bestes Beispiel hierfür sind die amerikaniHenri (Hrsg.): The Making of Détente. Eastern and Western Europe in the Cold War, 1965–1975. London 2008; Bozo, Frédéric [u. a.] (Hrsg.): Europe and the End of the Cold War. A Reapprisal. London 2008; Möckli, Daniel: European Foreign Policy during the Cold War. Heath, Brandt, Pompidou and the Dream of Political Unity. London 2009; Büttner, Sebastian M.: Mobilizing Regions, mobilizing Europe. Expert Knowledge and Scientific Planning in European Regional Development. Abington 2012; Kaiser, Wolfram/Schot, Johan (Hrsg.): Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels, and International Organizations. Houndmills 2014. 15 So z. B. Sayward, Amy L.: International Institutions. In: The Oxford Handbook of the Cold War. Hrsg. von Richard H. Immerman u. Petra Goedde. Oxford 2013. S. 377–393. Hier S. 377. 16 Siehe zum Beispiel Westad, Odd Arne: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times. Cambrigde 2005; ders: The Cold War. A World History. New York 2017. 17 An erster Stelle ist hier natürlich an die Bewegung der Blockfreien Staaten zu denken, siehe hierzu Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München 2015; zu den alternativen Vorstellungen Bozo, Frédéric/Rey, Marie-Pierre [u. a.] (Hrsg.): Visions of the End of the Cold War in Europe, 1945–1990. New York 2012; Reichherzer, Frank [u. a.] (Hrsg.): Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung. Berlin 2018.

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schen Reaktionen auf die Suez-Krise und der Umgang mit Frankreich im Algerienkrieg. De Gaulles Enttäuschung über das Verhalten der US-Regierung führte zu einem stärkeren Zusammenschluss Deutschlands und Frankreichs unter de Gaulle und Adenauer. Denn Eisenhower wollte eher die Beziehungen zu Frankreich als den Zorn der „Dritten Welt“ riskieren.18 Grund hierfür war, so der Historiker Matthew Connelly, Amerikas Angst vor der „Menschenmasse“ in der „Dritten Welt“, die Angst, dass sich der demographische Wandel gegen den Norden wenden würde, wenn dieser nicht auf den Süden zugehen würde.19 Doch auch im Rahmen des „Kalten Krieges“ gewann der Nord-Süd-Dialog in den Debatten der europäischen Institutionen vor allem ab Mitte der 1980er Jahren an Relevanz, denn immer wieder wurde hier den USA vorgeworfen, den Nord-Süd-Dialog zu torpedieren. Dieser Vorwurf schien zwei Ursachen zu haben: Zum einen nahmen die Vereinigten Staaten ab den 1970er Jahren die Europäischen Gemeinschaften zunehmend als internationalen Wirtschaftskonkurrenten und weniger als Partner im „Kalten Krieg“ wahr. Zum anderen betrachteten die USA viele UN-Initiativen und Vorschläge des „Südens“ als quasi kommunistisch unterwandert. Zusätzlich erschwert wurde die Süd-Politik der Gemeinschaften dadurch, dass viele nordeuropäische Akteure, zum Beispiel Willy Brandt, den Nord-SüdDialog vor allem als ein Projekt im Rahmen der Vereinten Nationen ansahen, eingebunden in das größere Projekt einer Steigerung des Wohlstandes und der Chancengleichheit in der „Dritten Welt“ – bei gleichzeitiger moralischer Übersteigerung als „Friedensprojekt“.20 Zwar beteiligten sich auch die Europäischen Gemeinschaften am UN-System, das die Basis für den Anspruch bildete, dass nur Organisationen die legitimen Vertreter für eine spezifische Region sein konnten (wie die EG für Westeuropa). So strebte die Kommission danach, dass 18 So Connelly, Matthew: Taking off the Cold War lens. Visions of North-South conflict during the Algerian War of Independence. In: American Historical Review 105 (2000). Nr. 3. S. 739–769. Hier S. 763. Kritisch zu dieser scheinbaren Allianz de Gaulle-Adenauer zur Unterdrückung Afrikas, wenn auch in seinen Interpretationen immer wieder über das Ziel hinausschießend Hansen/Jonsson, Eurafrica. Allerdings bestätigen auch konservativere Arbeiten, dass v. a. die amerikanische Reaktion auf diese Krisen Adenauer pro-europäischer stimmte; so Köhler, Henning: Adenauer. Eine politische Biographie. Frankfurt am Main. Berlin 1994. S. 940f. 19 Gelegentlich finden sich sogar frühe Vorstellungen eines Clash of Civilization, so beim kanadischen Vertreter bei der UN, Lester B. Pearson 1955; siehe Connelly, Taking off, S. 768. Dieselbe Angst vor dem Süden findet sich auch in einigen europäischen Verlautbarungen zur Mittelmeerpolitik. 20 So zum Beispiel ersichtlich in der Gedenkschrift von Gro Harlem Brundtland für Olof Palme; siehe dies.: The Scandinavian perspective on the North-South dialogue. In: New Perspectives in North-South Dialogue. Essays in Honour of Olof Palme. Hrsg. Von Kofi Buenor Hadjor. London 1998. S. 15–29.

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die europäischen Staaten in der UN-Vollversammlung als EG-Block abstimmten.21 Doch unterschieden sich die wirtschaftlichen und politischen Interessen nicht nur der Mitgliedsstaaten, sondern auch der Gemeinschaft als Ganzes, von denen der UN, die in den 1970ern stark von einer postkolonialen, afrikanischen Agenda dominiert wurde. Da Wirtschaftsförderung als wesentlicher Bestandteil des Aufstieges des „globalen Südens“ betrachtet wurde, nahm dieses Thema eine zentrale Rolle im Nord-Süd-Dialog ein – zumindest für den Süden, denn im Norden schien gelegentlich das Wettrüsten das dominante Thema zu sein. Dem „Norden“ ging es zwar auch um Entwicklungshilfe, im globalen Rahmen waren aber Verträge wie GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) wichtiger. GATT als Freihandelsabkommen spielte für eine Wirtschaftsgemeinschaft wie die EG eine viel bedeutendere Rolle. Dies vor allem seit der Kennedy-Runde (1964-1967), bei der die Verhandlungsposition der EG durch das Agieren der Europäischen Kommission gestärkt wurde.22 In diesen Rahmen ordneten sich auch die UNCTAD-Konferenzen (United Nations Conference on Trade and Development) ein, die bewusst einen gemeinsamen Wirtschaftsrahmen schaffen wollten, der die Position des „Südens“ stärkte.23 Deren geschlossenes Handeln zeigt, dass die EG vom UN-System weniger abhängig war als die kleineren Staaten Nordeuropas oder der „Dritten Welt“, die den Schutz einer internationalen Ordnung brauchten. Zwar vertraten diese hier durchaus selbstbewusst ihre eigene Politik, doch waren die Europäischen Gemeinschaften ab Mitte der 1970er als größter Wirtschaftsblock der Welt und mit zwei Mitgliedsstaaten, die permanente Mitglieder im Sicherheitsrat waren, politisch und wirtschaftlich von ganz anderem Gewicht. Daher lag eine Kooperation der „kleinen“ Staaten im Rahmen der UN und anderen internationalen Organisationen fast zwangsläufig in deren Eigeninteresse, da so einer reinen Machtpolitik der Großmächte Grenzen aufgezeigt werden konnten.24 Nach dem Scheitern der UNCTAD-Verhandlungen Mitte der 1970er Jahre rückte dann die interne Krisenbewältigung Westeuropas wieder stärker in den 21 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft selbst erhielt 1974 den Status eines beobachtenden Mitgliedes in den Vereinten Nationen. Sie konnte so ihre Positionen in die Debatten mit einbringen, aber nicht mit abstimmen. 22 Hänsch, Klaus: Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften. In: Carstens, Karl [u. a.] (Hrsg.): Die Internationale Politik 1966–1967. München 1973. S. 153–204. Hier S. 166f. (Die Kennedy-Runde). 23 Zu einer frühen Geschichte der UNCTAD aus Sicht des „Südens“ siehe Cutajar, Michael Zammit (Hrsg.): UNCTAD and the North-South Dialogue. The First Twenty Years. Essays in Memory of W. R. Malinowski. Oxford [u. a.] 1985. Hier spielen die Europäischen Gemeinschaften erwartungsgemäß keine Rolle. 24 So auch die Interpretation von Brundtland zur Kooperation zwischen Skandinavien und der „Dritten Welt“; Brundtland, Scandinavian perspective, S. 19.

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Vordergrund, trotz der Appelle des Europäischen Parlaments und diverser Initiativen. Diese Geschichte soll nun im Folgenden ausgebreitet werden.

Kontextualisierung: Die EG, der „Süden“ und die internationale Ordnung einer sich globalisierenden Welt Die Einbettung in Nord und Süd hat für die europäische Integrationsgeschichte eine ganz eigene Bedeutung. Hier entfaltete sich ein ganz eigener Nord-Süd-Topos: die Trennung in die nördlichen, eher wirtschaftsliberal orientierten Mitgliedsstaaten und die tendenziell als eher ökonomisch schwächer wahrgenommenen südlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Aktuell denkt man bei den Begriffen Nord-Süd-Konflikt und Europäische Gemeinschaft vor allem an diese Spaltung innerhalb der Union zwischen den südlichen und nördlichen Mitgliedsstaaten, bei der es um strittige Themenkomplexe wie Finanzausgleich und Sozialpolitik, aber auch Bereiche der Außenpolitik, vor allem Terrorismus und südliche Nachbarschaftspolitik, geht. Zwar war die Dichotomie der 1970er Jahren semantisch auf die ganze Welt übertragen und von anderen Problemstellungen überlagert, doch ließe sich auch der Nord-Süd-Dialog aus europäischer Perspektive in eine vergleichbare Terminologie einordnen. Während des Zeitraums der hier untersuchten Debatten selbst, in den 1970er und 1980er Jahren, waren die Kompetenzverteilungen der Institutionen der Europäischen Integration trotz des Fusionsvertrages von 1967 noch nicht so eindeutig festgelegt wie heute. Das betrifft vor allem die Außenpolitik, bei der die Europäische Kommission nach den Verträgen nur in Handelsfragen autonom agieren durfte, sich in anderen Feldern aber mit dem Europäischen Rat abstimmen musste. Allerdings nutzte die Kommission die Handels- und die in der Frage der Kooperation mit dem „Süden“ mit ihr verbundene Entwicklungshilfepolitik, um ihren außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern. Hierzu griff sie zu einer Reihe von Hilfsmitteln: Positionspapiere, finanzielle Unterstützung von Forschungseinrichtungen, Think Tanks, Forschungsprojekte und Förderung einer Kulturaußenpolitik, zum Beispiel der Finanzierung von Filmen. Zu unterscheiden ist dabei aber immer noch zwischen den verschiedenen Institutionen, die nach der Fusion zu den Europäischen Gemeinschaften von der gemeinsamen Kommission geleitet wurden: So wurde die (interne) Handelspolitik weiterhin von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

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(EWG) gestaltet, die im Rat der Kommission nur eine Koordinationsfunktion zugestehen wollten. Daher gewannen für die weitere Entwicklung der europäischen Integration die verschiedenen Gutachten, die die Kommission vom Europäischen Gerichtshof einholen ließ, um Kompetenzverteilungen zwischen Europäischem Rat und der Kommission in Handels- und damit außenpolitischen Fragen zu klären, entscheidende Bedeutung. Den Handelsvereinbarungen im Rahmen von UNCTAD, vor allem den Abkommen über Naturkautschuk von 1987, kam dabei eine zentrale Rolle zu.25 Dies zeigt sich auch im Gutachten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zu diesem Abkommen. Dieses sprach der Europäischen Kommission entscheidende Kompetenzen in diesen Verhandlungen zu. Bezeichnenderweise hatten die beteiligten Konfliktparteien schon in ihren Stellungnahmen bei der Erstellung des Gutachtens Bezug auf den Nord-Süd-Dialog genommen.26 In diesem Zusammenhang sei nur kurz auf eine Debatte um die Herausbildung einer „Europäischen Identität“ und der stärker an den Bedürfnissen des „Südens“ ausgerichteten internationalen Wirtschaftspolitik verwiesen. Zwar scheint diese Verbindung keine nachhaltigen Spuren hinterlassen zu haben, hatte aber Anfang der 1970er Jahre eine gewisse Dynamik. So hieß es ganz explizit 1973 auf der Tagung der Außenminister in Kopenhagen: „Die neun Außenminister kamen überein, daß die Identität auf den folgenden drei Leitlinien beruhen sollte: 1. Zusammenhalt der Gemeinschaft; 2. Haltung und Verantwortung der Neun gegenüber der übrigen Welt; 3. dynamischer Charakter des europäischen Aufbauwerks.“27 Wie man verschiedenen Berichten entnehmen kann, wollte vor allem die Kommission den Nord-Süd-Dialog nutzen, um regionale Bündnisse zu stärken. 25 Siehe Eeckhout, Piet: EU External Relations Law. Oxford 2011. S. 18–21. 26 Gutachten 1/78 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 4.10.1979 erstattet aufgrund von Artikel 228 Absatz 1 Unterabsatz 2, EWG-Vertrag (Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 8.11.1979. Nr. C 279. S. 3–28. 27 „Europäische Identität“ und Dialog Europa-Vereinigte Staaten. In: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften: Kommission 6 (1973). Nr. 9. S. 13. Noch deutlicher macht diesen Punkt Giuliano Garavini, der eine Verbindung zwischen den Entwicklungen in der „Dritten Welt“, den Entwicklungen in Europa und einem zunehmenden Antiamerikanismus sieht; ders.: The colonies strike back. The impact of the Third World on Western Europe, 1968–1975. In: Contemporary European History 16 (2007). Nr. 3. S. 299–319. Hier S. 316f.; siehe auch Tulli, Umberto: The search for a European identity in the long 1970s. External relations and institutional evolution in the European Community. In: Contemporary European History 25 (2016). Nr. 3. S. 537–550; Cederman, Lars-Erik (Hrsg.): Constructing Europe’s Identity. The External Dimension. Boulder/London 2001.

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Interessanterweise scheint es hier auch auf Seiten der Nord-Süd-Kommission zu einer Neugewichtung von Regionalorganisationen gekommen zu sein. Während im ersten Bericht die EWG/EG eigentlich keine Rolle spielte, wird sie im zweiten Bericht deutlich öfter erwähnt – und auf die Europäische Kommission als positives Beispiel verwiesen, die sich Gedanken um den „Süden“ machen würde.28 Ebenso schien die Europäische Kommission an der Meinung der Nord-Süd-Kommission interessiert gewesen zu sein, denn im September 1982 kam es in Brüssel zu einem gemeinsamen Treffen, bei dem ein Thesenpapier diskutiert wurde.29 Dies könnte zum einen daran liegen, dass die Autoren des ersten Berichts mit Regionalorganisationen als internationalen Akteuren offensichtlich wenig anfangen konnten. Zum anderen scheint sich aber auch die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und der Nord-Süd-Kommission nach Veröffentlichung des ersten Berichts deutlich intensiviert zu haben. Zwar listet schon der Nachweis des Arbeitsprogramms am Ende des ersten Brandt-Berichts Treffen mit der Europäischen Kommission auf, doch hebt der zweite Bericht ausdrücklich hervor: „Allerdings hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaft im vergangenen Jahr einige neue Ansätze formuliert, die von Phantasie und Einfühlungsvermögen zeugen. Sie schließen Verbesserungen bei der Lomé-Konvention ein und sehen neue Formen der Zusammenarbeit auf den Gebieten des Handels und der Finanzen mit Entwicklungsländern vor, die nicht unter das Lomé-Abkommen fallen.“30 Das Denken in Regionen als räumliches Strukturierungsmerkmal wird besonders deutlich am Ende einer intensiven Beschäftigung mit dem „Süden“. So heißt es in einer pathetisch klingenden Entschließung des Europäischen Parlaments zur „Nord-Süd-Problematik“, die aber das starke Eigeninteresse europäischer Institutionen am Nord-Süd-Dialog verdeutlicht, unter anderem: [I]n der Erwägung, daß die Interdependenz zwischen Nord und Süd für den Frieden, für wirtschaftliche Entwicklung, Beschäftigung, soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab und die Verwirklichung der Menschenrechte seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft immer deutlicher geworden ist, […] in der Erwägung, daß die Gemeinschaft nach zwei furchtbaren Weltkriegen, die von Europa ausgingen, gegründet wurde, um einen schöpferischen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten, und daß sie als regionale Gemeinschaft besonders dazu aufgerufen und befähigt ist, die Kooperation von Region zu Region zu verstärken und dadurch zur Konfliktminderung beizutragen; daß es in ihrem Interesse 28 So zum Beispiel auch die Sicht des zweiten Berichts der Nord-Süd-Kommission; siehe hierzu Brandt, Willy (Hrsg.): Hilfe in der Weltkrise. Ein Sofortprogramm. Der 2. Bericht der NordSüd-Kommission. Reinbek bei Hamburg 1983. S. 127. 29 Brandt, Hilfe in der Weltkrise, S. 164; dieses Treffen wurde auch von der Europäischen Kommission bezahlt: Brandt, Hilfe in der Weltkrise, S. 167. 30 Brandt, Hilfe in der Weltkrise, S. 41.

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wie dem der Entwicklungsländer liegt, die Nord-Süd-Zusammenarbeit zu verbessern, […].31

Um das räumliche Denken der Europäischen Kommission – und damit der europäischen Institutionen – in Bezug auf die Kooperation mit dem „Süden“ zu verstehen, muss man sich zwei nicht unbedingt einander widersprechende, aber doch separate räumliche Ordnungsmodelle vergegenwärtigen. Zum einen dachten die europäischen Institutionen zwar immer noch meist in nationalstaatlichen Kategorien, sahen den Staat aber eingebunden in größere Ordnungssysteme oder Blöcke – seien es die Blöcke des „Kalten Krieges“ oder regional organisierte Wirtschaftsorganisationen wie die EWG selbst. Zum anderen aber dachte Brüssel (grob vereinfacht) die Welt konzentrisch: in der Mitte Brüssel, dann die Mitgliedsstaaten, dann die Assoziierten, dann der Rest. Das Problem in der Kooperation mit dem „Süden“ bestand somit darin, in welcher Form dieser als Gegenüber auftrat: ob als Koalition von Staaten (wie die Bewegung der Blockfreien), als Organisation in einem noch größeren Ordnungssystem (wie z. B. die „Gruppe der 77“ in der UNCTAD), als Nachbarn (die südlichen Mittelmeeranrainer) oder als konkrete Vertragspartner (wie ASEAN, AASM, oder im Lomé-Abkommen). Diese verschiedenen Organisationsformen hatten ihre Vor- und Nachteile. Sie verhinderten in ihrer Fragmentierung, dass die Kommission den „Süden“ als konkreten Partner wahrnahm – über eher abstrakte Debatten wie die Entwicklungshilfe hinaus. Ein weiteres Problem stellte sicher dar, dass es spätestens seit den 1970er Jahren zwei „Süden“ für die Europäischen Gemeinschaften gab: den nahen „Süden“ im südlichen Mittelmeerraum (die sogenannte „globale Mittelmeerpolitik“) und den globalen „Süden“ des Nord-Süd-Dialogs. Besonders der Begriff der nahen Südpolitik verdeutlicht aber das Besondere der europäischen Perspektive, da hier viel stärker die Themen Terrorismus und Migration, aber auch die Frage des Öls im Vordergrund standen und stehen als bei dem weiter verbreiteten Verständnis von „Südpolitik“. Diese Gefahrenmetaphern dominierten zunehmend, spätestens seit den frühen 2000ern die Debatten im Europäischen Parlament, wie schon eine schnelle Stichwortsuche in der Dokumentendatenbank der Europäischen Union zeigt. Hier taucht das Schlag-

31 Entschließung zur Nord-Süd-Zusammenarbeit. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 23.3.1987. Nr. C 76. S. 57. Dieses räumliche Denken zeigt sich auch in der Sekundärliteratur. So enthält ein Einführungswerk im Abschnitt zu „Europas Partner in der Welt“ Artikel zu Afrika, Lateinamerika, dem Mittelmeerraum und Südostasien neben denen zu den wichtigsten Nationalstaaten; siehe Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche. Bonn 2008.

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wort „Nord-Süd“ fast nur noch im Zusammenhang mit Drogenimporten aus dem Süden und der Bedrohung durch den Drogenschmuggel auf.32 Diese semantische Verschiebung ist umso bemerkenswerter, da die Europäischen Parlamentarier eigentlich den Nord-Süd-Dialog in einem konstruktiven und produktiven Austausch begleitet hatten.33 So beschloss das Parlament 1976, dass die Kommission und die Gemeinschaft als Ganzes den Nord-Süd Dialog positiv begleiten sollten, um die Kaufkraft des Südens zu erhalten, da „die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten weitgehenden Einfluß auf den Verlauf des Nord-Süd-Dialogs haben, […]“.34 Vor allem zwei Ausschüsse des Parlaments – der Ausschuss für Außenwirtschaftsbeziehungen und der Ausschuss für Entwicklung und Zusammenarbeit –, die schon von ihrer Denomination her für dieses Thema zuständig waren, verfolgten die Entwicklung weiter und berichteten durch ihre Vertreter dem Parlament darüber. Ebenso setzte das Europäische Parlament eigene Akzente. So war den Abgeordneten eine parlamentarische Kooperation wichtig, aber auch die Einhaltung der Menschenrechte – dies betraf übrigens alle Kooperationen der Europäischen Gemeinschaften und führte, aus Sicht des Europäischen Rates und der Kommission, oft zu ungewollten, politischen Störungsgeräuschen mit den Partnern. Vielleicht fühlte sich das Parlament 1977 besonders berufen dazu, auf die Krise der Pariser Gespräche im Rahmen der Konferenz über Internationale Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit einem Anstoß zur Wiederbelebung der Gespräche zu reagieren. Dieses besondere Forum des Nord-Süd-Dialogs war unter starker Anteilnahme der Kommission initiiert worden. Die Gemeinschaft wurde als eigener Teilnehmer neben den Industriestaaten und den Entwicklungsländern geführt. Sie verlor aber nach dem Scheitern globaler Verhandlungen an Schwung und die Kommission wandte sich, wohl auch unter dem Eindruck des Wechsels des Kommissionspräsidenten, neuen Prioritäten zu. Gleichzeitig war die Selbstwahrnehmung der gemeinsamen Europäischen Kommission im Rahmen des Nord-Süd-Konflikts, besonders in der Entwicklungspolitik, sehr spezifisch und richtete sich teilweise auch gegen die USA, denen eine mangelnde Unterstützung der „Dritten Welt“ unterstellt wurde. Daher sah sich die Kommission ab den frühen 1960er Jahren als Unterstützer der Ent32 Zur frühen Wahrnehmung eines bedrohlichen „Südens“ und Überfremdungsängsten siehe zum Beispiel Connelly, Taking off, S. 739–769, v. a. S. 743, 753f. 33 Mitte der 1980er Jahre forderten sie zum Beispiel eine stärkere Unterstützung der AKP-Staaten bei der Migrations- und Flüchtlingsproblematik. Auch gab es einen institutionalisierten Austausch im Rahmen einer parlamentarischen Versammlung zwischen den Mitgliedern des Europäischen Parlaments und den Parlamenten der AKP-Staaten. 34 Europäisches Parlament: Protokoll der Sitzung vom Donnerstag, 16.9.1976. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 11.10.1976. Nr. C 238. S. 33f.

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wicklungsländer in der internationalen Politik.35 Bezeichnenderweise sieht auch die kritische Forschung in den Assoziierungsabkommen à la Lomé eine positive Rolle der Kommission: Infolge der Abkommen von Yaoundé und Lomé ist die aus der EWG hervorgegangene EU heute der einzige entwicklungspolitische Geber, der über langjährige Erfahrungen im ‚partnerschaftlichen Dialog‘ verfügt und seine Südbeziehungen auf eine rechtsverbindliche, mehrjährige Planungssicherheit gewährende Grundlage gestellt hat. Gleichzeitig ist unverkennbar, daß zeitgemäße Nord-Süd-Beziehungen grundlegende institutionelle Reformen und eine konzeptionelle Neuausrichtung europäischer Südpolitik unabdingbar machen. Die EU ist in den vergangenen Jahren zum mit Abstand wichtigsten internationalen entwicklungspolitischen Akteur avanciert. Rechnet man die bi- und multilateral vergebenen Hilfen zusammen, dann kommt die EU heute für mehr als die Hälfte der weltweit vergebenen öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen (ODA) auf.36

Verkompliziert wird dieser Befund durch die Beobachtungen, dass in den offiziellen Selbstdarstellungen und Dokumenten der europäischen Institutionen zunehmend der Begriff „Dritte Welt“ verwendet wurde. Aus europäischer Sicht hatte er sicher den Vorteil, dass er den klassischen Entwicklungsgedanken der Modernisierungstheorien in den Vordergrund rückte und das Konfrontative, das in der tendenziell antagonistischen Begrifflichkeit von „Nord-Süd“ angelegt war, vermied.37 Gleichzeitig fragmentierte der Begriff den „Süden“, da er nun keine gemeinsamen Interessen gegenüber dem neokolonialen „Norden“ zugrunde legte, sondern von unterschiedlichen Interessen, je nach Entwicklungs-

35 Bossuat, Gérard/Legendre, Anaïs: Die Rolle der Kommission in den auswärtigen Beziehungen. In: Die Europäische Kommission 1958–1972. Geschichte und Erinnerung einer Institution. Hrsg. von Michel Dumoulin [u.a.]. Luxemburg 2007. S. 367–407. Hier S. 380f. Und dies durchaus immer wieder im Gegensatz zu den Positionen einzelner Mitgliedsstaaten. Dies wird auch von der zeitgenössischen Forschung so gesehen: Billerbeck, Europäisierung, S. 8. 36 Brüne, EU, S. 205–218, hier S. 215f. In den 2000ern brachten die EU und ihre Mitgliedsstaaten 56 % der weltweiten Entwicklungshilfe auf und waren die „weltweit größten Geber“ derselben; Tannous, Isabelle: Die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe der Europäischen Union. In: Weidenfeld, Europäische Union, S. 434–454, hier S. 434. Schon in zeitgenössischen Aufarbeitungen des Themas wurde das Lomé-Abkommen als entscheidender Schritt angesehen, siehe Jones, Charles A.: The North-South Dialogue. A Brief History. London 1983. S. 64. Dass für die Kommission Handelspolitik die wichtigste Form der Entwicklungshilfe war, zeigt sich auch an ihrer Teilnahme an den UNCTAD-Konferenzen. Sie griff somit ein zentrales Anliegen dieser Konferenzserie auf. 37 So zum Beispiel in Commission of the European Communities; Canadian Department of External Affairs (Hrsg.): European Community. The Facts. Brüssel/Ottawa 1976. Zum Begriff der „Dritten Welt“ siehe Dinkel, Jürgen: „Dritte Welt“ – Geschichte und Semantiken. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (6.10.2014). http://docupedia.de/zg/Dritte_Welt?oldid=96211 (25.9.2019).

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stand, ausging. Dies zeigt sich auch im konkretesten Projekt der Europäischen Kommission im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs – den verschiedenen Abkommen mit den AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik). Offensichtlich sah die EWG in der formalisierten Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten in den späten 1970er Jahren das wirksamste Instrument einer Nord-Süd-Zusammenarbeit und betonte, dass dieses Projekt überaus erfolgreich sei, was die „Anziehungskraft des Abkommens beweist, das unter bestimmten Bestimmungen auch anderen beitrittswilligen Nationen offensteht, […].“38 Auch das Europäische Parlament wünschte eine stärkere Einbindung der Beziehungen mit den AKP-Staaten in den Nord-Süd-Dialog und stellte die wichtige Rolle dieser Länder in diesem Prozess nicht in Frage. So merkte die Beratende Versammlung AKP-EWG an, dass […] die beiden Abkommen von Lome [sic!] trotz ihres Modellcharakters nur dann voll wirksam werden können, wenn sie in den Rahmen eines weltweiten Nord-Süd-Beziehungsnetzes eingebunden werden; [die Versammlung, AW] bedauert, daß es auf der 11. Sondervollversammlung der UN in New York nicht gelungen ist, die Tagesordnung und das Verfahren für die Globalverhandlungen aufzustellen; ruft die Gemeinschaft und die AKP-Staaten auf, alles daranzusetzen, damit der Nord-Süd-Dialog endlich praktische Ergebnisse zeitigt; hofft, daß sich die Gemeinschaft und die AKP-Staaten dafür einsetzen, daß echte Ergebnisse erzielt werden, und dringt vor allem darauf, daß ein weltweites System zur Unterstützung der am wenigsten entwickelten Länder zustande kommt; 70. beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung sowie den Bericht des Paritätischen Ausschusses dem AKP-EWG-Ministerrat, dem AKP-EWG-Botschafterausschuß sowie dem Rat und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu übermitteln, und ersucht ferner darum, Sorge dafür zu tragen, daß der Bericht und die Entschließung in der Öffentlichkeit weite Verbreitung finden.39

Hierin zeigt sich eine unterschiedliche Wertung des Nord-Süd-Dialogs durch die europäischen Organe, da das Parlament deutlich stärker auf einer moralischen Verantwortungsebene argumentierte. Mitte der 1980er wurde daher von Seiten des Europäischen Parlamentes die Kritik am Stillstand im Nord-Süd-Dialog stärker, vor allem in seinen Forderungen an den AKP-EWG-Ministerrat:

38 Entschließung EP zum Jahresbericht des AKP-EWG-Ministerrates. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 11.11.1977. Nr. C 272. S. 9–11. Hier S. 9. 39 Entschließung zum Jahresbericht des AKP-EWG-Ministerrates und zur Untersuchung der im Rahmen des ersten Abkommens von Lomé erzielten Ergebnisse mit Blick auf das baldige Inkrafttreten der Bestimmungen des zweiten Abkommens von Lomé. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 24.11.1980. Nr. C 306. S. 17–24. Hier S. 24. Dieser Wunsch wurde im folgenden Jahr wiederholt, siehe Entschließung zum VI. Jahresbericht des AKP-EWG-Ministerrats für die Zeit vom 1.4.1981 bis zum 31.12.1981 sowie über erste Erfahrungen mit der Zweiten AKP-EWG-Konvention. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 10.2.1983. Nr. C 39. S. 10–21.

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„[Das Europäische Parlament, AW] fordert, daß der AKP – EWG-Ministerrat immer mehr zu einem politischen Organ wird, von dem Impulse ausgehen und in dem sämtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Nord-Süd-Dialog geprüft werden, die sowohl die internationale Wirtschaftszusammenarbeit als auch die einzelnen Politiken der AKP-Staaten und der Europäischen Gemeinschaft sowie ihrer Mitgliedstaaten berühren; […].“40 Hier zeigt sich deutlich eine neue, spezifisch europäische Entwicklung: Die zunehmende Ineinssetzung von AKP-Staaten und „Süden“ lässt sich über den gesamten Zeitraum beobachten, wurde aber dann abschließend besonders prägnant 1993 in einer Entschließung des Europäischen Parlaments formuliert.41 Die Paritätische Versammlung AKP-EWG „betont die Notwendigkeit einer Aufklärungskampagne, damit sich die Bevölkerung der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der gegenseitigen Abhängigkeit von Gemeinschaft und AKP-Staaten bewußt wird und der Nord-Süd-Dialog neuen Auftrieb erhält; […].“42 Doch nicht nur das Europäische Parlament interessierte sich für eine Wiederbelebung der Zusammenarbeit. So veröffentlichte die Europäische Kommission 1980 ein Dokument mit den Positionen der Kommission zur „Wiederaufnahme des Nord-Süd-Dialogs“.43 Nach dem Stillstand in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schien wieder Bewegung in den Nord-Süd-Dialog zu kommen, parallel zur Wiederkehr der Ost-West Spannungen auf die politische Agenda der 1980er Jahre. Der Fokus auf den globalen Süden im Kontext des „Kalten Krieges“ blieb allerdings auch nationalen Politikern nicht unbemerkt. So setzte Dr. Herbert Gruhl, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der CDU/CSU-Arbeitsgruppe für Umweltvorsorge, den „Nord-Süd-Verteilungskampf, der immer schärfer wird“ gleich mit der „Ost-West-Feindschaft“ – für jemanden, der bisher vor allem die Bedrohung der Umwelt im Auge hatten, kamen nun neue Bedrohungs-

40 Entschließung anhand des achten Jahresberichts des AKP-EWG-Ministerrats über den Stand der Anwendung des Abkommens von Lome im Hinblick auf das Nachfolgeabkomme. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 22.10.1984. Nr. C 282. S. 24. 41 Insofern stimmen die Analysen dieses Autors mit den Befunden Martin Hollands überein, der im Lomé-Abkommen „the principal line of demarcation“ zur Definition der „Dritten Welt“ sieht; siehe Holland, European Union, S. 3. Allerdings wird bei diesen direkten Bezugnahmen, vor allem in Verbindung mit der Ölkrise 1973/74, vergessen, dass hier auch andere, ältere Interessen am Wirken waren. Daher will dieser Artikel noch mehr Bruchzonen im europäischen Verständnis vom „Süden“ aufzeigen. 42 Entschließung zur Bedeutung präferentieller Beziehungen zwischen AKP- und EG-Staaten. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 30.8.1993. Nr. C 234. S. 58f. Hier S. 59. 43 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Wiederaufnahme des Nord-Süd-Dialogs (Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat). KOM(80) 302 endg. Brüssel, 29.5.1980.

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szenarien hinzu.44 1985 folgte dann eine „Entschließung zur Krise des NordSüd-Dialogs“, die einen Rückschritt in den internationalen Entwicklungen, vor allem auf UN-Ebene, konstatierte.45 Wie oben angedeutet, scheint der Nord-Süd-Dialog generell eher krisenhaft gewesen zu sein. Während am Anfang vor allem die Fragen der Dekolonisierung und neo-kolonialer Abhängigkeiten die Verhandlungen prägten, rückten ab Mitte der 1970er Jahre vor allem die globalen Wirtschaftskrisen in den Vordergrund. Mit diesen scheint sich auch wieder die Debatte um die internationalen Ordnungssystemen im „Kalten Krieg“ verschärft zu haben, wie die europäischen Konflikte mit den USA zeigen. Diese negative Stimmung existierte schon zu Beginn des formalisierten Dialogs seit Anfang der 1970er Jahre und hatte zum Teil dystopische Züge. So organisierte die Redaktion der schweizerischen Zeitschrift „Brennpunkte“ ein Themenheft zum „Abschied von der Entwicklungshilfe?“. Das dystopische Element zeigt sich besonders an der Überschrift des Diskussionsforums: „Nord-Süd: Kommt es zu einem ‚Weltbürgerkrieg‘?“46 Hier spielte vor allem eine kritische Wahrnehmung der Nord-Süd-Zusammenarbeit eine zentrale Rolle. So herrschte teilweise die Auffassung vor, dass die Unterstützung in Form von Entwicklungshilfe politisch riskant geworden wäre, da der Eindruck entstand, dass „direkte Entwicklungshilfe in den meisten entwickelten Ländern, und man mag das bedauern – ich bedaure es – politisch außerordentlich schwer durchsetzbar ist. Sicher lassen sich damit keine Wahlen gewinnen. Fast muß man vermuten, daß sich damit Wahlen verlieren lassen.“47 Vor allem aber die Handelswirtschaftsund Industriepolitik wurde von konservativer und marktradikaler Seite immer wieder beanstandet. Einige Kritiker sahen hier die Gefahr der Verlagerung von Industriearbeitsplätzen; besonders ein Technologietransfer wurde kritisch gesehen. Hierauf wurde von den europäischen Institutionen nahestehenden Personen mit zum Teil prophetisch-globalistischen Argumenten reagiert. So negierte Olivier Giscard d’Estaing, Président du Centre Européen du Commerce Interna-

44 Kolumne von Gruhl, Herbert: Die Eskalation der Probleme. In: Brennpunkte 7 (1976). Nr. 1: Themenschwerpunkt „Krise ist nicht Schicksal“. S. 9–11. Hier S. 11. 45 Entschließung zur Krise des Nord-Süd-Dialogs. In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 13.12.1985. Nr. C 322. S. 20. 46 Nord-Süd. Kommt es zu einem ‚Weltbürgerkrieg‘? In: Brennpunkte 5 (1974). Nr. 5: Themenschwerpunkt „Abschied von der Entwicklungshilfe?“. S. 57–70. Hierbei handelte es sich um eine Zeitschrift mit unklarer Erscheinungsdauer, die sich stark mit zeitgenössischen Globaldebatten beschäftigte, sich als „Förderungsgemeinschaft für Führungskräfte“ verstand und enge Kontakte zur Politik pflegte. Herausgegeben wurde die Zeitschrift vom Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut. 47 Siehe Dahrendorf, Herausforderung, 1976, S. 22.

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tional und Bruder des damaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing, die historische Möglichkeit für weite Teile der nördlichen Industrien, in diesem Prozess „gegen den Strom“ schwimmen zu können, und schlug „eine Strategie des sehr dynamischen und sehr tiefen Engagements zugunsten des industriellen Wachstums in der Dritten Welt“ vor.48 Allerdings kann diese Haltung auch als Reaktion auf die Blockbildung des „globalen Südens“ seit den 1960er gedeutet werden.49. Platzierte sich die Bewegung der Blockfreien noch bewusst außerhalb des Musters der Blockkonfrontation, kann die „Bewegung der 77“ als bewusst gegen den „Norden“ gerichtete Vereinigung verstanden werden.50 Andere Vertreter jenseits der Gruppe des „globalen Südens“ gingen dagegen davon aus, dass „internationale Konsultationen und multilaterale Handelsverträge“, also klassische Instrumente der europäischen Integrationspolitik, die weltweiten Probleme beheben würden.51

Zusammenfassung Für die europäischen Institutionen war es ein Problem, zu erkennen, was überhaupt die verbindenden Inhalte des Nord-Süd-Dialogs sein konnten und wie sie, vor allem die Gemeinsame Kommission, in diesem Feld aktiv werden konnten. Denn die rüstungspolitischen Teile des Nord-Süd-Dialogs, wie sie beispielsweise von Willy Brandt und Olof Palme verstanden wurden, lagen gar nicht im Einflussbereich der europäischen Institutionen. Hierbei handelte es sich auch um globale sicherheitspolitische Fragen, nicht nur der Nord-Süd-Beziehungen. Dies lag auch daran, dass aus verschiedenen Gründen eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik schon früh gescheitert war; Plädoyers gegen das Wettrüsten fanden in den Brüsseler Institutionen also gar keinen Adressaten, keine Kompetenzen und keine Expertise (trotz aller Vorwürfe der Brandt-Kommission in diese Richtung). Dies lag sicher auch daran, dass zwar die Kommis48 Giscard d’Estaing, Olivier: Kolumne „Die Chance Westeuropas“. In: Brennpunkte 7 (1976). Nr. 6: Themenschwerpunkt „Die Zukunft der Industrie in Europa“. S. 9–11. Hier S. 10f. 49 Siehe den Artikel von Rüdiger Graf in diesem Band. 50 Dies scheint allerdings nur für den UN-Kontext zu gelten, in dem die Gruppe unter diesem Namen auftrat. In den Verhandlungen mit der EWG/Europäischen Gemeinschaften wurden die AKP-Staaten gelegentlich auch als die „77“ bezeichnet, vor allem in Bezug auf das CotonouAbkommen; siehe zum Beispiel Phinnemore, David [u. a.]: A Dictionary of the European Union. London/New York 2008. S. 131; Holland, European Union, S. 5. 51 So Dr. Abd-El Rahman Khane, Executive Director der UNIDO und früherer Generalsekretär der OPEC, in: Khane, Abd-el Rahman: Die Weltpolitik hat sich geändert. In: Brennpunkte 7 (1976). Nr. 6: Themenschwerpunkt „Die Zukunft der Industrie in Europa“. S. 27–41. Hier S. 38.

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sion selbstständig bei Handelsfragen agieren konnte, bei einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aber hatten (und haben) die Mitgliedsstaaten ein gewichtiges Mitspracherecht. Zusätzlich war das erste Interesse der Kommission als „Hüterin der Verträge“ die Aufrechterhaltung der Europäischen Gemeinschaft, die Verteidigung ihrer Interessen und die Vermittlung bei internen Widersprüchen und Spannungen – trotz aller durchaus ernst gemeinten Unterstützung der „Dritten Welt“. Die Europäischen Institution brachten die Länder des „globalen Südens“ nicht auf einen einheitlichen Nenner. Die Vorstellung eines gemeinsamen „Südens“ geriet so nur selten in den Blick. Dazu trug auch die Sicht von der anderen Seite der Weltkugel bei. Fragen des „Südens“ als gedachte Einheit wurden eher im Rahmen der UN verhandelt und waren weniger an Organisationen neuen Typs wie die Europäischen Gemeinschaften gerichtet, die in ihrer Funktion auch heute noch nicht von allen in Nord, Süd, Ost und West begriffen werden. Im Rahmen dieser Debatten kam es daher zu einer geographischen „NeuOrdnung“ der Welt, zumindest aus Sicht der europäischen Institutionen. Diese brauchten Ansprechpartner für ihre Verhandlungen – und aus Sicht der Kommission waren hierfür andere regionale Organisationen am besten geeignet. Zwar konnten diese durchaus in den größeren UN-Kontext eingebaut werden,52 doch litten UN-Diskussionen aus Sicht der Brüsseler Pragmatiker häufig daran, sich entweder in endlosen Debatten mit wenig konkreten Vereinbarungen zu verlieren, oder, besonders im Nord-Süd-Konflikt, politisch aufgeladen zu sein. Schon in den 1980ern finden sich daher Ansätze der europäischen Nachbarschaftspolitik, auf die quasi in konzentrischen, das heißt in diesem Fall eurozentrischen, Kreisen aufbauend Kontaktzonen zur Welt definiert wurden und die eine Neuorientierung der „Nachbarschaftspolitik“ einleiteten. Diese Tendenz verstärkte sich nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, als immer mehr Mittel der Entwicklungshilfe in die osteuropäischen Staaten umgelenkt wurden. Dabei muss man sich klar machen, dass die Bewertung der europäischen Perspektive auf den Nord-Süd-Dialog immer politisch geprägt war. Während aus Sicht der Kritiker die Süd-Politik der Gemeinschaft immer defizitär war (und bleiben wird), fehlt aus Sicht der „realpolitischen“ Perspektive im „Süden“ ein geeigneter Ansprech- und Kooperationspartner. Denn aus Sicht der Kommission sollte und musste Südpolitik mehr sein als nur Entwicklungspolitik, vor allem, da diese vor dem Vertrag von Maastricht gar nicht in der vorrangigen Kompetenz der Kommission lag. Spannend ist, dass hier die Interessen der Kommission und die des „Südens“ konvergierten: aus unterschiedlichen Gründen wünschten beide einen institutionalisierten, formalisierten Dialog. Allerdings 52 The National Archives (TNA), Kew. FCO 15/2249: Attitude of UK towards ASEAN, 12 [1977].

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waren die Wünsche dann über die Organisationsform hinaus doch sehr gegensätzlich. Auch konnte die Kommission letztendlich nicht gegen die wirtschaftlichen Interessen einzelner Mitgliedsstaaten vorgehen und initiativ werden. Dabei nahm die Kommission aber eine wichtige Rolle in der Definition des „Südens“ ein. Ansprechpartner konnte nur werden, wer sich selbst organisierte, entweder in begrenzten Regionalbündnissen oder in weitergehenden Organisationen wie den AKP-Staaten. Dies zeigt sich auch an der permanenten Ausdehnung derer Mitgliedschaft auf immer mehr Staaten des „Südens“. Wer nicht in dieses Verhandlungsmuster passte, fand als „Süden“ auch keine Stimme – und wurde von den Europäischen Gemeinschaften nur begrenzt als solcher wahrgenommen.53 Hier zeigt sich die Tendenz der Europäischen Kommission, in den internationalen Konflikten im „Kalten Krieg“ multipolare Entwicklungen zu fördern, da ihr dies der einzig sinnvolle Weg zur Lösung globaler Krisen zu sein schien.

53 Nicht ganz so drastisch, aber mit ähnlicher Wahrnehmung der Bedeutung der AKP-Staaten für die europäische Perspektive schildert Martin Holland den Prozess; siehe Holland, European Union, S. 40.

Andreas Hilger

Die globale Ordnung: Sowjetische Entwürfe und indische Alternativen in den 1950er und 1960er Jahren Einleitung: die UdSSR, Indien und die Neuordnung der Welt nach 1945 Die sowjetische Führung verstand ihre Ideologie von Beginn an immer auch als Gegenentwurf zu der existierenden internationalen Ordnung. Diese war ihrer Ansicht nach im verderblichen Kapitalismus mit all seinen imperialistischen und friedenszerstörenden Konsequenzen begründet. Demgemäß versprach das bolschewistische Programm nicht nur ausgebeuteten Werktätigen, benachteiligten Frauen oder vernachlässigten Jugendlichen, sondern auch unterdrückten Völkern neue Freiheiten, neue Chancen sowie ein neues, gerechtes Weltsystem mit gänzlich anderen Ordnungsprinzipien sowie von Grund auf veränderten Ordnungseinheiten. Die angestrebte sozialistische Welt wurde als radikale Neustrukturierung globaler Beziehungen zwischen wahren Vertretern ihrer Völker präsentiert. In ihr wären Schranken und Antagonismen zwischen Klassen und Nationen, Generationen, Geschlechtern und Religionen aufgelöst, sei es durch adäquate Bewusstseinsveränderung der jeweiligen Kollektive und ihrer Angehörigen, sei es durch das (gegebenenfalls erzwungene) Absterben überholter Gruppenbindungen und -selbstverständnisse. Das sozialistische bzw. kommunistische Miteinander Aller war in dieser Konzeption als globale friedvolle Gemeinschaft gedacht, die weltweit allen Menschen gleichberechtigte und solidarische Entwicklungsmöglichkeiten böte. In diesem Rahmen nahm der Sozialismus für sich in Anspruch, auf Dauer neben nationalen auch internationalen Ursachen von zwei Geißeln der Menschheit, Armut und Krieg, an die Wurzeln zu gehen.1 Aus diesen Visionen speiste sich die ursprüngliche grenzüberschreitende Dynamik des sowjetisch-sozialistischen Projekts. Die globalen Verheißungen trugen zu seinem weltweiten Prestige und zu internationaler Attraktivität bei. Auf der anderen Seite begründeten die sowjetischen Interpretationen und Praktiken mit Blick auf die internationalen Beziehungen eigene Binaritäten und 1 Vgl. allg. zuletzt Pons, Silvio [u.a.] (Hrsg.): The Cambridge History of Communism. 3 Bde. Cambridge 2017. https://doi.org/10.1515/9783110682625-005

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Hierarchien. Die UdSSR, so die Moskauer Sicht, musste sich immerhin als vermeintliche Avantgarde und selbsternannter Sachwalter in einer Welt von Feinden und Nicht-Sozialisten behaupten, um die Chancen des globalen Gesamtprojekts zu wahren und seine Umsetzung voranzutreiben. Dieses komplexe Verständnis prägte sowjetische globale Aktivitäten und Konzeptionen auch nach 1945 unter Iosif Stalin sowie unter Nikita Chruščev ab 1955. In ihren internationalen Zugängen überlappten sich in der angenommenen Übergangsphase zum angestrebten Globalsozialismus, die immer länger dauerte, der anhaltende große Wettstreit mit dem sogenannten ‚westlichen‘ Weltordnungsmodell und die Sorge um das in Moskau definierte Wohlergehen der UdSSR.2 So strebte das internationale sowjetische Auftreten von den 1940er bis in die 1960er Jahre insgesamt danach, Bemühungen um eine adäquate Weltordnung, unmittelbare staatliche Interessen der UdSSR, konkrete Anliegen der sozialistischen Länder insgesamt und akute Fragen globaler Sicherheits- und Entwicklungspolitik wenn nicht in Einklang zu bringen, dann zumindest auszubalancieren. Hierbei war es für Chruščev im Gegensatz zu Stalin in Zeiten der Nuklearrüstung unabdingbar, die Entscheidung im globalen Klassenkampf auf friedlichem Wege zu suchen. Zugleich ging die post-stalinistische Führung davon aus, dass die UdSSR aufgrund des für sie historisch unzweifelhaften Endsiegs des Sozialismus und dank immenser sowjetischer Fortschritte in allen relevanten Lebensbereichen international in die Offensive gehen und breitere Allianzen nutzen könnte. Sowjetische Positionierungen wurden im Laufe der Zeit immer wieder durch andere sozialistische, mitunter radikalere Alternativangebote in Frage gestellt. Titos Jugoslavien, Castros Kuba, vor allem aber Maos China wollten auch eine sozialistische Welt anders anordnen, als es den Moskauer Strategen vorschwebte. Daneben achteten Regierungen in Staaten wie Rumänien, Vietnam, Albanien oder Nordkorea ihrerseits darauf, dass ein fremdgesteuerter globaler Sozialismus ihre Agenden nicht zu stark behinderte.3 Ende der 1960er Jahre formulierte zudem die sogenannte Neue Linke mit revolutionären Idolen wie Che Guevara 2 Vgl. grundsätzliche Überlegungen zur sowjetischen internationalen (Selbst-)Verortung u. a. bei Hopf, Ted: Social Construction of International Politics. Identities and Foreign Policies, Moscow 1955 and 1999. Ithaca 2002; English, Robert D.: Russia and the Idea of the West. Gorbachev, Intellectuals, and the End of the Cold War. New York 2000; Westad, Odd Arne: The Cold War. A World History. London 2017; Tsygankov, Andrei P.: Russia and the West from Alexander to Putin. Honor in International Relations. Cambridge 2012; Lieven, Dominic: Empire. The Russian Empire and its Rivals. London 2000. 3 Vgl. Pons, Cambridge History, Bde. 2 u. 3; Brown, Jonathan C.: Cuba’s Revolutionary World. Cambridge 2017; Friedman, Jeremy: Shadow Cold War. The Sino-Soviet Competition for the Third World. Chapel Hill 2015; Gilberg, Trond: Nationalism and Communism in Romania. The Rise and Fall of Ceaușescu’s Personal Dictatorship. Boulder 1990; Shen, Zhihua/Xia, Yafeng: A Misunderstood Friendship. Mao Zedong, Kim Il-sung, and Sino-North Korean relations,

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nichtstaatliche linke Globalprojekte, die Moskauer Vorstellungen aus anderen Perspektiven zusätzlich herausforderten. Die Moskauer Führung musste ihre globalen Konzeptionen nicht nur gegen den Widerstand des ‚Westens‘ oder linke und staatssozialistische Konkurrenzen verfolgen. Originäre Vorstellungen von Vertretern und Vertreterinnen der sogenannten Dritten Welt bewegten sich mit ihren Modellen bewusst außerhalb des von der UdSSR hochgehaltenen sozialistisch-kapitalistischen Antagonismus, seiner Blockbildung im Kalten Krieg sowie sowjetischer Entwicklungsschablonen. Die Beziehungen der UdSSR zu diesen gesellschaftlichen Bewegungen und Staaten gewinnt zunehmend die Aufmerksamkeit der Forschung. Frühe revolutionäre Bemühungen um die „Völker des Ostens“ versandeten mit zunehmender Stalinisierung der Komintern. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betonen die Untersuchungen mittlerweile verstärkt die Handlungsmacht der vermeintlichen Peripherie auch gegenüber dem sozialistischen Lager, so dass komplexe Verflechtungen zwischen den Prozessen von Dekolonisierung und Kaltem Krieg anstelle einseitiger Instrumentalisierungen der südlichen Regionen durch Moskau – beziehungsweise Washington – beschrieben werden. Dem entspricht, dass neben wichtigen Beziehungsvielecken inklusive China der Blick auf die sowjetischen Beziehungen neben der politischen Sphäre gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen gleichwertig erfasst.4 Im Ganzen tendierten die stalinistische sowie die post-Stalin’sche Führung im Kreml’ ungeachtet der klaren Selbständigkeitsbestrebungen und Abgrenzungen seitens vieler Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas dazu, deren Ideen der eigenen bipolaren Auseinandersetzung unterzuordnen und sie damit im Rahmen der Systemkonfrontation entweder für die eigene Sache zu vereinnahmen oder aber als feindlich zu bekämpfen. So hatte man in Moskau beispielsweise frühe internationale Ideen von Pan-Bewegungen in Asien und im Nahen Osten letztlich als imperialistisch gesteuert und bourgeois verseucht verworfen und lieber auf die eng kontrollierte Komintern gesetzt. Nationalistische Bewegungen wie in Indien, die mit ihrem Kampf gegen die entsprechenden Imperien 1949–1976. New York 2018; Gaiduk, Ilya V.: The Soviet Union and the Vietnam War. Chicago 1996; Kola, Paulin: The Search for Greater Albania. London 2003. 4 Vgl. exemplarisch Friedman, Shadow; Rupprecht, Tobias: Soviet Internationalism after Stalin. Interaction and Exchange between the USSR and Latin America during the Cold War. Cambridge 2017; Sanchez-Sibony, Oscar: Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev. Cambridge 2014. Übersichten liefern Engerman, David C.: The Second World’s Third World. In: Kritika 12 (2011). S. 183–211; Hilger, Andreas: Communism, decolonization and the Third World. In: Pons, Cambridge History, Bd. 2, S. 317–340, hier S. 338–340.

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zugleich die imperialistische Weltordnung in Frage stellten, waren ab den späten 1920er Jahren nur noch willkommen, wenn sie sich Moskauer Gesamtstrategien unterwarfen. Dies mussten nicht zuletzt so unterschiedliche Politiker wie Jawaharlal Nehru oder Subhas Chandra Bose registrieren, die ob ihrer Positionen die erste Moskauer Gunst schnell verloren.5 Indische Kommunisten hatten ohnehin unabhängig von den nationalen Entwicklungen dem Moskauer Diktat zu folgen, um Diffamierung oder Verfolgung zu entgehen. Bereits 1929 wurde etwa der der prominente M. N. Roy aus der Komintern ausgeschlossen.6 Dem stalinistischen Terror der späten 1930er Jahre fielen mehrere indische linke Emigranten zum Opfer.7 Auch nach 1945 entwickelte man in Moskau äußerst langsam und nur arg begrenzt Verständnis für eigenständige internationale Positionen der sich formierenden so genannten Dritten Welt. In Moskau sprach man einstweilen weiter von kapitalistischen Staaten, später von schwach entwickelten Ländern, die progressive oder pro-westliche Politik verfolgten. Noch in den 1960er Jahren verwarf die sowjetische Politik „Nord-Süd-Gegensätze“ als grundlegend falsche Konstruktion, die die sozialistische und die kapitalistische Welt in einen Topf warf. So mochte auch Stalin bei Nehru, der als neuer Premier und Außenminister die Blockordnung und die dahinterliegenden Globalkonzeptionen von USA und UdSSR zunehmend deutlich in Frage stellte, nur einen opportunistischen indischen Bourgeois erkennen. Nehru, so Stalin, wolle sich zwischen Großbritannien und den USA Manövrierraum verschaffen und sei damit trotz allem fest im gegnerischen Lager verankert.8 Nach Stalin entwickelten Moskauer Vertreter differenziertere Sichtweisen auf die asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Regionen. Dennoch blieb es im Kern bei einer sowjetisch definierten Kategorisierung, die das 5 1931 brach die Komintern die Beziehungen zu Nehru ab. Vgl. Brecher, Michael: Nehru. A Political Biography. London 1959. S. 109–120; Brown, Judith: Nehru. A Political Life. New Haven 2003. S. 81–84. Subhas Chandra Bose erhielt – vor dem Hintergrund seiner früheren Kritik an der sowjetischen Politik – Ende 1935 kein Visum für die UdSSR. Vgl. Bose, Sugata: His Majesty’s Opponent. Subhas Chandra Bose and India’s Struggle against Empire. London 2011. S. 104, 195–198. 6 Vgl. u. a. Roy, Samaren: M. N. Roy. A Political Biography. New Delhi 1997. 7 U.a. Virendranath Chattopadhyaya, vgl. Barooah, Nirode K.: Chatto. The Life and Times of an Anti-Imperialist in Europe. New Delhi 2004. S. 321–325; Banerjee, Santanu: Stalin’s Indian victims. In: The Indian Express, 28.9.2003. http://www.indianexpress.com/storyOld.php?storyId=32362 (2.9.2019). 8 Vgl. Russisches Staatsarchiv für Sozial-Politische Geschichte, Moskau (RGASPI). Bestand (f.) 558, Verzeichnis (op.) 11, Akte (d.) 310, Bl. 80, 85. Protokoll Gespräch Stalin mit der indischen kommunistischen Partei (CPI), Rao u. a. vom 9.2.1951.

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innen- und außenpolitische Geschehen dort vornehmlich weiterhin durch die Brille der Auseinandersetzung mit dem globalen Systemgegner betrachtete, hierfür, wenn nicht blinde Gefolgschaft, dann Unterstützung einforderte und immer wieder einseitig anti-westliche Geschlossenheit von sozialistischer und Dritter Welt postulierte. Dies lässt sich an Beziehungen im Rahmen kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ordnungen demonstrieren. Tatsächlich zeigte Moskau bereits 1954 mehr Flexibilität, wenn es um Reaktionen auf indische internationale Initiativen ging. Dennoch gab die neue Führung grundlegende Ordnungsvorstellungen keineswegs auf. So entsprachen beispielsweise die berühmten ‚Fünf Prinzipien‘ (Panch Shila), die Indien und China im Frühjahr 1954 für ihre bilaterale friedliche Koexistenz formulierten, durchaus der indischen internationalen Agenda. Diese zielte auf globalen Frieden durch Verständigung und kooperatives Miteinander sowie zugleich auf eine herausragende Mitbestimmung Asiens in der Welt. Daneben lasen sich die Prinzipien ebenfalls als – indische – Absage an ungewollte sozialistische Expansionen (mit welchen Mitteln auch immer) und damit als Ablehnung einseitiger sozialistischer Neugestaltungen Asiens und der Welt.9 In Moskau war man jedoch offenbar willens, derlei nichtsozialistische Implikationen der ‚Fünf Prinzipien‘ zu ignorieren. Zwar schlug Botschafter Michail Men’šikov noch im August 1954 Nehru vor, die Grundsätze explizit „als Basis unserer Beziehungen“ in umfangreiche Vertragsregelungen über kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen aufzunehmen.10 Wenige Monate später erklärten Chruščev und Nikolaj Bulganin während ihres Staatsbesuchs in Delhi dem indischen Premier dann allerdings selbstbewusst, dass sich Indien der transnationalen Anziehungs- und Wirkungskraft des Kommunismus nicht werde entziehen können, Souveränität und Nichteinmischung hin oder her. Entgegen der Beteuerungen der sowjetischen Besucher erhielt die indische kommunistische Partei (CPI) zudem mehr als bloße „Sympathie“ aus Moskau.11 Offenbar blieb es über 1955 hinaus allerdings bei eher geringen mate-

9 Indisch-chinesisches Kommuniqué, 29.4.1954, sowie gemeinsame Erklärung Nehru, Jawarharlal; Enlai, Zhou, 28.6.1954. In: Foreign Policy of India. Texts of Documents 1947–1964. Hrsg. von Lok Sabha Secretariat. New Delhi 1966. S. 103–109, 113–114. Die Prinzipien lauteten: gegenseitige Achtung von territorialer Integrität und Souveränität, Nichtangriff, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Gleichberechtigung und wechselseitiger Nutzen, friedliche Koexistenz. 10 Nehru an indischen Botschafter Moskau, K. P. S. Menon, 8. und 30.8.1954. In: Selected Works of Jawaharlal Nehru (SWJN). Bd. 10. 1 June–30 September 1954. Hrsg. von Sarvepalli Gopal. New Delhi 2000. S. 516f. 11 Gespräch Nehru mit Chruščev und Bulganin, 12.12.1955. In: SWJN 2. Bd. 31. 18 November 1955–31 January 1956. New Delhi 2002. S. 342–344.

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riellen Unterstützungen für die CPI aus sowjetischen Kassen.12 Vom Aufstieg der CPI in Kerala Ende der 1950er Jahre war auch Moskau selbst überrascht.

Kulturelle Ordnungen: die literarische Welt Tatsächlich erwies es sich in der Folgezeit für die indischen und sowjetischen Vertreter als äußerst schwierig, gemeinsam an einer neuen Welt zu bauen. Trotz aller wechselseitigen Vereinnahmungsversuche und zumindest oberflächlicher Gemeinsamkeiten in der selektiven Frontstellung gegen einzelne Antipoden blieb man sich über relevante Ordnungsfelder, -einheiten, -ziele und -mittel uneins. Von den fundamentalen Diskrepanzen zeugten nicht zuletzt differierende Reichweiten oder unterschiedliche Auslegungen von Begrifflichkeiten wie ‚antiimperialistisch‘, ‚Friedenszone‘, ‚Friedenslager‘, ‚Weltsystem‘ sowie variierende Zugänge zu inter- beziehungsweise transnationalen Arbeits- und Solidargemeinschaften aller Art. Die Gegensätze durchzogen alle relevanten Dimensionen internationaler Beziehungen, von Kultur über Politik bis hin zur Wirtschaft. Überall trafen differierende sowjetische und indische Vorstellungen über beste Ordnungen, deren konstitutive Grundnormen und -einheiten sowie über die richtigen Mittel, diese zu erreichen, aufeinander. Die Gegensätze manifestierten sich zum Teil in bilateralen Interessenkonflikten, und sie zeigten sich im beiderseitigen Unvermögen, eine belastbare, verbindliche gemeinsame Zielsetzung und Vorgehensweise in verschiedenen Dimensionen internationaler Beziehungen zu entwickeln und in gemeinsame zielgerichtete Handlungsweisen umzusetzen. Hinsichtlich der kulturellen Sphäre wird dieses Grundproblem beispielhaft an den sowjetisch-indischen Literaturkontakten deutlich. In der UdSSR verhallte der Aufruf von Il’ja Ėrenburg von 1956, dass auch der sowjetische Literaturbetrieb dem Publikum endlich vor Augen führen sollte, wie „groß und verschiedenartig“ die Welt sei, weitgehend.13 Im Ganzen ging es Moskauer Kulturfunktionären vielmehr darum, die globale Literatur gleichfalls bipolar entlang der 12 Vgl. Russisches Staatsarchiv für Neueste Geschichte, Moskau (RGANI). f. 89, op. 38, d. 33. Beschluss ZK-Präsidium, 3.2.1956; Cold War International History Poject (CWIHP). Digital Archive. Sammlung: Cold War in Asia. Aufzeichnung von Gesprächen des sowjetischen Botschafters Ivan Benediktov mit Nationalrat der CPI, Bhupesh Gupta, 17. und 27.1.1962. www.wilsoncenter.org/digital-archive (19.9.2018); RGANI. f. 89, op. 38, d. 14. Beschluss ZK-Präsidium, 9.11.1961. 13 Ėrenburg, Il’ya: Putevye zapiski. Japonskie zametki, razmyšlenija v Grecii, Indijskie vpečatlenija. Moskau 1960. S. 52f. Dagegen u. a. Tschakowski, Alexander: Das Licht der Sowjetkultur. In: Neue Zeit (1955). Nr. 2. S. 21–23.

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sowjetisch definierten Trennlinien zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu organisieren. Demgemäß wurden etwaige ‚kosmopolitische‘ Tendenzen außerhalb der eigenen offiziellen Weltsicht bekämpft, während Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika schlicht das sowjetische Lager verstärken sollten.14 Ein originärer künstlerischer – und kunstpolitischer – Eigenwert wurde ihnen somit nicht zugestanden. Vorrangiges Ziel war es, Autoren und Autorinnen aus der Dritten Welt hinter der eigenen antiimperialistischen Kritik zu vereinen.15 Bezeichnenderweise kritisierte das ZK der KPdSU Mitte 1959 den hier mitzuständigen sowjetischen Verlag für Fremdsprachige Literatur nicht etwa für literarische Missgriffe. Dem politischen Gremium missfiel vor allem, dass der Verlag in seiner Auswahl und Übersetzung von Werken gerade aus der Dritten Welt den Anliegen und Leistungen der dortigen nationalen Befreiungsbewegungen zu wenig Beachtung schenkte und damit die offizielle Leitlinie der sowjetischen internationalen Solidarität zu wenig mit literarischem Leben füllte.16 Hinsichtlich Indiens bemühten sich sowjetische Kulturfunktionäre und offiziöse Autoren derweil besonders um die geringe Zahl der angeblich ‚progressiven‘ indischen Literaten. Im sowjetischen Kalkül sollten sie Moskauer Weltdeutungen und Ordnungsvorstellungen in Indien mit verbreiten und weltweit unterstützen.17 Derlei Vorstellungen überschätzten bei Weitem das Potential der ‚Progressiven‘ auf dem Subkontinent. Dies mussten schließlich selbst CPI- und

14 Zur Kontinuität des kulturell-ideologischen Feindbilds ‚Kosmopolitismus‘ vgl. beispielhaft Zubok, Vladislav: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge 2009. S. 211f. Vgl. allg. zum kulturpolitischen Selbstverständnis RGANI. f. 5, op. 36, d. 36, Bl. 1 ff.: Sekretär des Sowjetischen Schriftstellervebandes (SSP), Polevoj, und Vorsitzender Auslandskommission, Michalkov, an ZK, 21.2.1957; Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Moskau (RGALI). f. 1573, op. 1, d. 113, Bl. 45–48 sowie d. 114, Bl. 29–31. Redaktionssitzungen Sovetskaja Literatura 11.3. und 15.7.1958; Beschlüsse der Ideologie-Kommission des ZK von 1958 bis 1960. In: Ideologičeskie komissii CK KPSS 1958–1964. Dokumenty. Hrsg. von E. S. Afanas’eva u. Vitalij J.Afiani. Moskau 1998. S. 74–78, 87, 126–135, 230–235; RGALI. f. 631, op. 26, d. 6124, Bl. 12. Stenogramm Vortrag Delegation des SSP auf Konferenz Afro-Asiatischer Autoren in Kairo, Februar 1962. 15 Zur größeren Offenheit des Lesepublikums vgl. u. a. Zubok, Zhivago’s Children, S. 40–41, 44, 88–89, 120, 174–175; Fomičeva, Irina D. (Hrsg.): Literaturnaja Gazeta i ee auditorija. Moskau 1978. S. 56–59. 16 Beschluss ZK vom 4.6.1959. In: Afanas’eva [u.a.], Ideologičeskie, S. 172–175. 17 Vgl. u. a. RGALI. f. 631, op. 26, d. 5135. Gespräch Auslandskommission SSP, Apletin, am 29.6.1954 mit dem indischen Autoren Mulk Raj Anand. Exemplarisch ferner Zachir, Sadžad: Blagorodnaja zadača sovetskoj literatury. In: Inostrannaja literatura (IL) (1957). Nr. 10. S. 8– 10; Stepanov, I.: Pervyj nomer žurnala ‚Inostrannaja Litertura‘. In: Literaturnaja Gazeta, 23.7.1955. S. 2; K desjatletiju žurnala ‚Inostrannaja Literatura‘. In: IL (1965). Nr. 7. S. 232–241.

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sowjetische Vertreter zugeben.18 Tatsächlich rieb sich die Moskauer Auffassung von Zielen und Qualitäten der Literatur an weitverbreiteten Einstellungen in Indien, die auf eine universale Kunst setzten und Literatur nicht auf nationale oder internationale Klassenkampfinteressen reduzieren mochten. Demgegenüber sprachen sich Gutachter in Moskau beispielsweise gegen die Veröffentlichung einer literaturwissenschaftlichen Arbeit des Sekretärs der maßgeblichen indischen Literaturakademie, Prabhakar Machwe, aus. Sein Überblick über die indischen Literaturen, so das Urteil in Moskau, vernachlässige ‚progressive‘ Autoren und nehme marxistische Literaturkritiker nicht ernst.19 Machwe wiederum stieß sich am in seinen Augen begrenzten, sprich: politisch informierten Zugang linker Schriftsteller. Dieser schade nicht nur der künstlerischen Qualität ihrer Werke, sondern nehme ihnen eben auch die von weiten Kreisen des indischen Literatur-Establishments erwünschte beziehungsweise beanspruchte „universale“ Gültigkeit über die politischen Grenzen hinweg.20 Im Umfeld der ersten Afro-Asiatischen Schriftstellerkonferenz (1958) und ihrer Folgeveranstaltungen wurden ebenso grundsätzliche Differenzen sichtbar.21 Im sowjetischen Schriftstellerverband hoffte man darauf, dass nur „die für uns nötigsten und nützlichsten“ und damit die sowjet-konformen Autoren „aus diesen Ländern“ „zu uns in unser sowjetisches Land kommen“ würden.22 Der indische Autor Mulk Raj Anand jedoch, den die sowjetische Indologie nach Stalins Tod als einen wichtigen Ansprechpartner identifiziert hatte, drängte in der Planungsphase auf eine allgemein offene und ausschließlich literarische Versammlung, die gemeinsame künstlerische Fragen diskutiere. Ansonsten, so die Be-

18 Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau (GARF). f. 8581, op. 2, d. 461, hier Bl. 101 f. Aufzeichnung Gespräch CPI, A. S. Dange u. a. mit Staatskomitee für Kulturbeziehungen, Žukov, 28.10.1958. Vgl. allg. RGALI. f. 2329, op. 8, d. 1135, Bl. 21. Vermerk Kulturministerium über Ausgaben indischer Autoren, Stand: 1.10.1959, o.D.; RGALI. f. 1573, op. 1, d. 113, Bl. 49 f. Redaktionssitzung IL, 11.3.1958. 19 Vgl. RGALI. f. 1573, op. 5, d. 210, Bl. 17ff. Salganik, Rezension zu Manuskript ‚Aktuelle Entwicklungen in der Literatur in indischen Sprachen‘, 1958. Angesichts der prominenten Stellung Machwes und seiner angeblichen Nähe zu Nehru entschloss man sich in Moskau, eine überarbeitete russischsprachige Version doch zu publizieren (Prabchakar Mačve, Sovremennye tečenija v literaturach na indijskich jazykach. In: IL (1959). Nr. 1. S. 193–196). Vgl. Briefwechsel Machwe und Redakteur IL, Čakovskij, Juli 1958 bis Januar 1959 siehe RGALI. f. 1573, op. 1, d. 186, Bl. 79, 107, 119. 20 Vgl. u. a. Beitrag Machwe, Prabhakar. In: Indian Literature of the Past Fifty Years (1917– 1967). Hrsg. von Closepet D. Narasimhaiah. Prasaranga 1970 S. 36–42. Hier S. 40f. 21 Vgl. allg. Katsakioris, Constantin: L’union soviétique et les intellectuels africains. Internationalisme, panafricanisme et négritude pendant les années de la décolonisation, 1954–1964. In: Cahiers du monde russe 47 (2006). Nr. 1–2. S. 15–32. 22 RGALI. f. 631, op. 26, d. 6081. Stenogramm der Vorbereitungssitzung SSP, 7.2.1958.

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fürchtung, würden sich indische Teilnehmer und Teilnehmerinnen im eigenen Land noch weiter isolieren. Anands Vorstellungen gemäß sollte sich die Autorenkonferenz explizit nicht an hochpolitisierten Veranstaltungen wie der Kairoer Solidaritätskonferenz (1957) mit ihrer klaren anti-westlichen Stoßrichtung orientieren.23 Auf dem Treffen der Schriftsteller 1958 hoben Reden und Interpretationen der sowjetischen Gastgeber indes wiederholt auf die angebliche Vorbildfunktion der Kairoer kämpferischen Solidaritätsbewegung ab.24 Im Fazit beklagten die sowjetischen Veranstalter nach der Konferenz die gesamte Position der indischen Delegation, die sich der klaren Aufteilung der globalen Literatur in ein ausbeuterisches und ein anti-kolonialistisches Lager hatte entziehen wollen.25 In der Folgezeit blieb es bei diesen Unvereinbarkeiten zwischen dem Anspruch auf die literarische Suche nach künstlerischen und humanen Gemeinsamkeiten auf der einen und einer klaren anti-imperialistischen Instrumentalisierung von Literatur auf der anderen Seite. Die internationalen literarischen Aktivitäten von indischen Autoren und Autorinnen wie Anand wurden von sowjetischen Repräsentanten weiterhin als „Reisen für gegenseitige Komplimente“ oder als Tätigkeit eines rein „literarischen PEN-Klubs“ bekrittelt.26

Politische Ordnungen: Rüstung, die Vereinten Nationen und Friedenspolitik Die literarischen Differenzen korrespondierten letztlich mit unterschiedlichen globalpolitischen Auffassungen in Indien und in der UdSSR. Diese beeinflussten insbesondere Haltungen in allgemeinen Fragen von Friedens- und Sicher23 Vgl. RGANI. f. 5, op. 36, d. 63, Bl. 9–18, 26f. Vorstandssekretär SSP, Surkov, u. a. an ZK, 9.6. und 19.8.1958, über Vorbereitungstreffen; RGALI. f. 631, op. 26, d. 6091. Protokolle des Internationalen Vorbereitungskomitees vom 1.–30.9.1958. 24 Vgl. RGANI. f. 5, op. 30, d. 281, Bl. 80–86. Entwurf der Eröffnungsrede Vorsitzender Präsidium des uzbekischen Obersten Sowjets, Šarof Rašidov, an ZK-Präsidium, Furceva, 8.10.1958 (Eingang); Rede Chruščevs auf Empfang für die Konferenzteilnehmer, 22.10.1958, in: Chruschtschow, Nikita S.: Reden zur Kulturpolitik, 1956–1963. Berlin 1964. S. 70–74; Rejsner, Igor: Posle konferencii pisatelej Azii. In: IL (1957). Nr. 7. S. 240–242; Čakovskij, Aleksandr: Duch Taškenta. In: Kommunist 35 (1958). Nr. 16. S. 103–107. 25 RGALI. f. 631, op. 26, d. 6104. Vermerk o.D., ohne Autor, zur Taškenter Konferenz; RGANI. f. 5, op. 36, d. 41, Bl. 9 f. Čakovskij, 7.1.1958 an ZK, Bericht über Reise nach Indien 29.11.– 27.12.1957. 26 RGALI. f. 631, op. 26, d. 6124, Bl. 7. Stenogramm Sitzung Sowjetisches Komitee für Verbindung zu Autoren Asiens und Afrikas, 19.12.1962.

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heitspolitik als Kernprobleme angestrebter Weltordnungen. So betonten Vertreter in Delhi in aller Regel die durchweg katastrophalen Auswirkungen der nuklearen Hochrüstung auf wesentliche Interessen der gesamten Menschheit. Hierbei wiesen sie einmal auf die grenzüberschreitenden Umweltschäden durch zahlreiche Tests hin. Zudem erhöhte die Rüstungsspirale indischer Ansicht nach per se die Gefahr eines alles zerstörenden Krieges, der nur gemeinsam verhindert werden könnte.27 Moskau betrachtete die eigenen Atomwaffen jedoch als ebenso nützliches wie unabdingbares Mittel in der bipolaren Auseinandersetzung, die eben auch in dieser Frage keinen Raum für alternative Konzepte ließe. So bügelte Chruščev etwa 1961 nicht nur Bedenken innerhalb der sowjetischen Physik gegen neue sowjetische Atomwaffentests, die auch ökologische Folgen thematisierten, schroff als unerwünschte Einmischung ab.28 Auf internationaler Bühne begründete er die neuen Versuche mit einer offensiven Logik, die keine lagerüberschreitende Zusammenarbeit in globalen Fragen zuließ. Man müsse begreifen, so Chruščev, dass die Tests sowohl gegen ‚westliche‘ Hardliner als auch „zur Reinigung der Gehirne einiger Pazifisten“ unter anderem in der Dritten Welt notwendig seien. Denn, „Genossen, mit Beschwörungen, Reden und Gebeten lässt sich dem Feind kein Frieden abringen. Man muß [ihn] ihm im Kampf abringen, und darum scheuen wir weder diesen Kampf noch die Durchführung von Tests. … Wir sind Kommunisten und Revolutionäre, darum müssen wir revolutionär handeln und werden handeln, unsere Kräfte und Möglichkeiten nutzen.“29 Überhaupt gab es für Chruščev in der Frage von Frieden und Krieg nur ein Entweder-oder, eine prosozialistische oder eine proimperialistische Position – damit setzte er sich in diesen Fragen keineswegs durchgängig so scharf von Stalin ab, wie vielfach angenommen. „Wenn die neutralistischen Staaten in den Fragen des Kampfs für den Frieden Neutralität betreiben“, dann bedeute dies „Hilfe für den Imperialismus“, dies ‚wusste‘ auch Chruščev.30 Tatsächlich chan27 Zu indischen Gesamtkonzeptionen vgl. Hilger, Andreas: Sowjetisch-indische Beziehungen 1941–1966. Imperiale Agenda und nationale Identität in der Ära von Dekolonisierung und Kaltem Krieg. Köln 2018. S. 376–452. 28 Vgl. Lourie, Richard: Sacharow. Eine Biographie. München 2003. S. 235–255. 29 Ansprache Chruščev auf der Krim, 27.8.1961. In: Wettig, Gerhard (Hrsg.): Chruschtschows Westpolitik 1955– 1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. Bd. 3. Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). München 2011. S. 415f. Ostdeutsche Ohren hörten offenbar schärfere Formulierungen, vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (PA AA). MfAA. G-A. 478, Bl. 9ff. Information des MfAA, 28.8.1961. 30 Ansprache Chruščev auf der Krim, 27.8.1961. In: Wettig, Chruschtschows Westpolitik, hier S. 422–423; Ähnlich in PA AA. MfAA. A. 765, Bl. 85–90. Aktenvermerk über Gespräch Leiter Südostasienabteilung MID, Viktor Lichačev, mit DDR-Botschafter Rudolf Dölling, 22.2.1961.

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gierte die Bewertung der in Moskau mal als ‚anti-imperialistisch‘, mal als ‚neutral‘, mal als ‚blockfrei‘ bezeichneten Dritte-Welt-Staaten während der Amtszeit Chruščevs mehrmals, löste sich aber nie aus eigenen Kategorisierungen der Welt. Zum Auftakt der offensiven Werbekampagnen Moskaus Mitte der 1950er Jahre versprach sich Chruščev in Staaten wie Indien, Ägypten, Indonesien und Burma schnelle sozialistische Erfolge.31 Als diese in den nächsten Jahren ausblieben und sich die internationalen Entwicklungen generell als sperrig erwiesen, verloren ungebundene Staaten in Moskau an Ansehen und wurden bereits 1960 wieder dem antikommunistischen Lager zugeordnet.32 Ob positiv oder negativ, die Dritte Welt und all ihre Konzepte und Vorstellungen wurde in diesem Verständnis immer nur in die Muster der sozialistisch-kapitalistischen beziehungsweise sozialistisch-imperialistischen Beziehungen hineingepresst.33 Damit zeigte der erste post-stalinistische Parteichef immer wieder überaus deutlich, dass ihm Versuche prominenter ‚blockfreier‘ Staaten wie Indien, den Kalten Krieg nicht zu gewinnen, sondern durch globale Verständigungsprozesse zu überwinden, fremd blieben. Nehru, einer der führenden Köpfe dieser Denkrichtung, schrieb für derlei ideale Prozesse zudem Asien und an vorderster Stelle Indien eine besondere Rolle zu. Seiner Überzeugung nach könnten vermeintlich spezifisch ‚asiatische‘ friedlich-humanistische Zugänge, die Mahatma Gandhi zur Vollendung gebracht habe, die gewaltbeladene Systemkonkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus zum Wohl der ganzen Menschheit ab- und auflösen. Anstelle der Systemkonkurrenz und des sozialistischen Endziels standen in dieser Konzeption kooperative Anstrengungen Aller und eine globale Ordnung, die durch enge Zusammenarbeit aller unabhängigen, gleichberechtigten und gleichwertigen Völker und ihrer selbstbestimmt geformten (National-)Staaten Frieden und Fortschritt gewährleistete. Aus diesem Verständnis heraus betrachtete Delhi die eigene Verweigerungshaltung gegenüber jedem akuten Blockdenken als Modell zukünftiger internationaler Beziehungen, die Absage an verbindliche Definitionen eines starren Systems, ob in Moskau

31 Vgl. Chruščev auf Parteiversammlung Werk Nr. 23, 11.8.1955. In: Nikita Sergeevič Chruščev. Dva cveta vremeni. Dokumenty iz ličnogo fonda N. S. Chruščeva. Bd. 1. Hrsg. von Natal’ja G. Tomilina. Moskau 2009. S. 556. 32 Chruščev auf Sitzung ZK-Präsidium, 26.5.1961. In: Fursenko, Aleksandr A. (Hrsg.): Prezidium CK KPSS 1954 – 1964. Bd. 1. Černovye protokol’nye zapisi zasedanij. Stenogrammy. Moskau 2003. S. 506. 33 Vgl. exemplarisch das Gespräch Chruščevs mit Kennedy, 3.6.1961. In: Fursenko, Aleksandr A. (Hrsg.): Prezidium CK KPSS. Bd. 3. Postanovlenija. Moskau 2008. S. 177–192; die amerikanische Überlieferung findet sich in Foreign Relations of the US (FRUS). 1961–1963. Bd. 5. Soviet Union. Washington 1998. Dok. Nr. 85. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus196163v05/d85 (2.11.2018).

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oder in Washington formuliert, als eigentliche Basis einer zukünftigen besseren Weltordnung.34 Dass die chinesische Politik ab Ende der 1950er Jahre Indiens Asienbild Lügen strafte und kleinere Nachbarn auf dem Subkontinent gegenüber Delhli antihegemoniale Reflexe zeigten, stellte zumindest in Nehrus Augen die Gültigkeit eigener Grundkonzepte nicht grundsätzlich in Frage.35 Die prinzipiellen Unterschiede zwischen indischen und sowjetischen Zugängen zur internationalen Politik blieben von diesen indischen Spezialproblemen ohnehin unberührt. Die Differenzen machten sich sehr konkret nicht nur, wie gesehen, in der Sicherheits- und Nuklearrüstungspolitik, sondern auch in der UN-Politik bemerkbar. Von Anfang an zeigte sich, dass indische Hoffnungen auf eine Weltorganisation, die globale Probleme kooperativ löste, von der UdSSR nicht geteilt wurden. Stalins UdSSR betrachtete die UN schlicht als amerikanisches Instrument. Sowjetischen Delegierten ging es daher während seiner Regierungszeit darum, in allen UN-Gremien angebliche imperialistische Machenschaften zu entlarven und anzuprangern. Noch 1952 überlegte Stalin gemeinsam mit dem chinesischen Premierminister Zhou Enlai, die „amerikanische Organisation“ zu zerstören.36 Der eskalierende Kalte Krieg blockierte zudem neue Mitgliedschaften.37 Erst ab 1955/1956 konnte die UN die globale Qualität gewinnen, die für Delhi eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine positiv ordnende weltweite Wirkung der UN darstellte. Das UN-Engagement in der Suez-Krise schien indischen Vorstellungen entgegenzukommen. Die sowjetische Offenheit für eine Fortentwicklung der globalen UN-Möglichkeiten war indes erschöpft, sobald die Weltorganisation in sowjetischen Augen drohte, eine eigenständige internationale oder gar supranationale, wirklich universale Größe zu werden. Am Ende blieben die UN-Einrichtungen für die Sowjetunion ein Schauplatz, auf dem sich der Systemkonflikt inszenieren und austragen, nicht aber einvernehmlich (auf-)lösen ließ. Man dürfe die UN nicht den „Amerikanern und anderen imperialistischen Großmächten“ überlassen, räsonierte Chruščev 1960 im ZK-Präsidium. Nur dann könne man verhindern, 34 Zu dieser Grundkonzeption in der internationalen Politik ausführlich Hilger, Sowjetischindische Beziehungen, S. 336–504. 35 Vgl. Das Gupta, Amit R./Lüthi, Lorenz (Hrsg.): The Sino-Indian War of 1962. New Perspectives. London 2017; Ganguly, Sumit: Conflict Unending. India-Pakistan Tensions since 1947. New Delhi 2002. 36 Protokoll Gespräch Stalin mit Zhou Enlai, 19.9.1952. In: Russko-kitajskie otnošenija. Dokumenty i materialy, Band 5,2. Sovetsko-kitajskie otnošenija 1949–fevral’ 1950 gg. Moskau 2005. S. 331. 37 Vgl. Gaiduk, Ilya V.: Divided Together. The United States and the Soviet Union in the United Nations, 1945–1965. Stanford 2012.

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dass diese vermeintlich dunklen Mächte „ihren Willen allen anderen Ländern aufzwingen“ würden. Aus diesem Verständnis heraus hatte die sowjetische UNDelegation in New York „ganz ähnliche Funktionen wie die, die die bolschewistische Fraktion in der zaristischen Staatsduma erfüllte“: Sie könne immer wieder in der „öffentlichen Weltmeinung die reaktionäre Politik der Imperialisten“ entlarven und auf diese Weise daran arbeiten, der eigenen Position sukzessive eine dauerhafte Mehrheit zu verschaffen.38 Dementsprechend ließ Chruščev es sich nicht nehmen, vom Rednerpult der Generalversammlung aus wüste Propagandaangriffe gegen den ‚Westen‘ zu fahren.39 Seiner Überzeugung nach engagierte er sich persönlich an vorderster Front im Kampf um eine neue Weltordnung, indem er unverdrossen die Bourgeoisie, die Kapitalisten und die Imperialisten kritisierte und mit seiner gutbewachten Präsenz vor Ort die Budgets der US-Sicherheitsbehörden strapazierte.40 Nicht nur das unversöhnlich-laute Auftreten Chruščevs stieß Nehru – und keineswegs nur ihn – ab.41 Konsequenterweise konnte der indische Regierungschef Vorschlägen aus Moskau zur Umorganisation des UN-Generalsekretariats in eine Trojka ebenfalls nichts abgewinnen. Der Plan, den Chruščevs bei derselben Gelegenheit präsentierte, sah ein Dreier-Kollegium mit je einem Vertreter des Westens, der sozialistischen Welt sowie der Blockfreien vor. Dieses Gremium, so die Idee, sollte Beschlüsse des Sicherheitsrats einstimmig in die Tat umsetzen. Mit diesem Mechanismus wäre das Vetorecht aus dem Sicherheitsrat auf die Exekutive der UN ausgeweitet worden.42 Was Moskau als Förderung der regionalen Gleichberechtigung in den Vereinten Nationen verkaufen wollte, nahmen Politiker wie Nehru als absichtsvolle Schwächung einer grenzüberschreitenden Organisation wahr. Wie UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld befürchtete auch Nehru, dass eine uneinige und damit schwache UN-Exekutive die 38 RGANI. f. 2, op. 1, d. 484, hier Bl. 81. Chruščev am 16.7.1960 vor ZK-Plenum; Chruščev, Nikita S.: Vremja. Ljudi. Vlast’. Vospominanija v 4-ch knigach. Bd. 2. Moskau 1999. S. 454, 463–464. 39 U.a. Chruščev auf 869. und 882. Sitzung GA, 23.9. und 3.10.1960. In: UN Official Records of the General Assembly, 15th session (Part I). Plenary meetings 1. S. 68–85, 317–321. 40 CWIHP. Digital Archive. Nikita Khrushchev Collection. Chruščev an ZK-Präsidium, 10.10.1960, http://www.wilsoncenter.org/digital-archive (20.9.2018). 41 Gopal, Sarvepalli: Jawaharlal Nehru. A Biography. Bd. 3. 1956–1984. Cambridge 1984. S. 150f. 42 Ausführlich Iandolo, Alessandro: Imbalance of power: The Soviet Union and the Congo Crisis, 1960–1961. In: Journal of Cold War Studies 16 (2014). Nr. 2. S. 32–55; Hilger, Andreas: Chruščevs Afrika-Engagement im Umfeld der Kongo-Krise 1960–1961. In: Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy–Chruschtschow. Hrsg. Stefan Karner [u.a.]. Innsbruck 2011. S. 451–468. Hier S. 458–463. Allg. Mazov, Sergej V.: A Distant Front in the Cold War. The USSR in West Africa and the Congo, 1956–1964. Washington 2010.

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kleinen Staaten der Welt schutzlos den Antagonisten des Kalten Krieges ausliefern und damit jede alternative Ordnung außerhalb der Blöcke endgültig unmöglich machen würde.43 Befürworter und Opponenten der Trojka-Idee beriefen sich in ihren Überlegungen unter anderem auf Entwicklungen im Kongo.44 Für Indien und andere Staaten ließ sich hier verfolgen, wie sich der Kalte Krieg in Konfliktgebiete hinein ausdehnte und die entsprechenden Probleme nur eskalieren ließ. In Moskaus Augen dagegen bot die Kongo-Krise Anschauungsmaterial für die Gefahren eines vergleichsweise selbständigen UN-Sekretariats, das die Organisation auch gegen den Willen einzelner Veto-Mächte aktiv werden lassen konnte. Letztendlich tat der indische Premier viel dafür, dass Chruščevs Troika-Initiative mit Hilfe einiger Kompromissformeln im Sand verlief. Auf diese Weise konnte Delhi das Fernziel einer schlagkräftigen und universal wirksamen Weltorganisation einstweilen weiterverfolgen.45 Für den aktuellen Problemfall Kongo selbst forderte die indische Politik dementsprechend, dass dort alle Nationen „mit voller Kraft die Arbeit der Vereinten Nationen unterstützen“ sollten.46 Während die indische Politik in diesem Sinne mit gutem Beispiel voranging, diente die Kongo-Politik der UN der UdSSR noch Jahre später als abschreckendes Beispiel für inakzeptable globale bzw. universale Ansprüche und Aktivitäten.47 Abgesehen davon kam Moskau mit dem (ab 1961) neuen Generalsekretär der UN, U Thant, gut aus – eben weil er in sowjetischen Augen „die UNO nicht zur selbständigen Kraft über den Staaten entwickeln“ wollte, keine neuen substantiellen Protagonisten oder konkurrie-

43 Vgl. Hammarskjöld vor Generalversammlung, 26.9.1960, zit. nach Luard, Evan: A History of the United Nations. Bd. 2. The Age of Decolonization, 1955–1965. London 1989. S. 206. Vgl. Jawaharlal Nehru an Chief Ministers, 23.10.1960. In: Nehru, Jawaharlal. Letters to Chief Ministers, 1947–1964. Hrsg. von Gopalaswami Parthasarathi. Bd. 5. 1958–1964. Oxford 1989. S. 409ff. 44 Gopal, Jawaharlal, S. 150f.; Namikas, Lise A.: Battleground Africa. Cold War in the Congo, 1960–1965. Washington 2013; Kalb, Madeleine J.: The Congo Cables. The Cold War in Africa from Eisenhower to Kennedy. New York 1982. 45 Vgl. u. a. The National Archives, Kew (TNA). FO 371/153635. Gespräch Macmillan mit Nehru, 26.9.1960; Memo Gespräch Eisenhower mit Nehru, 26.9.1960. In: FRUS. 1958–1960. Bd. 2. United Nations and general international matters. Washington 1991. S. 359; TNA. CAB 133/ 251. Nehru auf 13. Meeting Commonwealth Prime Ministers’ Conference, 16.3.1961. 46 TNA. CAB 133/251. Nehru auf 11. Meeting Commonwealth Prime Ministers’ Conference, 15.3.1961. 47 Zu indischen militärischen Beiträgen vgl. Anm. 39–43 sowie die Jahresbände 1960–1962 des Yearbook of the United Nations. New York 1960–1962. Zur sowjetischen Position vgl. United Nations Archives, New York (UNA). S-0884. Box 21. File 17. Sowjetischer Ständiger UN-Vertreter, Fedorenko, an Generalsekretär U Thant, 10.7.1964.

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rende Konstellationen in internationale Ordnungsdebatten einbrachte und damit Moskauer globalen Grundkonzepten nicht wirklich gefährlich wurde.48

Wirtschaftliche Ordnungen: Sozialismus, Weltwirtschaft und Dritte Welt In den internationalen Wirtschaftsbeziehungen sah sich die UdSSR seit den 1950er Jahren ebenfalls zunehmend mit Mehrfachherausforderungen von Seiten verschiedener Akteure konfrontiert. In der Stalinära hatte sich die UdSSR in ihrer Außenwirtschaftspolitik noch ganz von dem Plan leiten lassen, das eigene Lager zu stärken, seine Autonomie zu wahren und sich auf diese Weise adäquat auf die unausweichliche Entscheidungsschlacht mit der imperialistischen Welt vorzubereiten. Diese Weltsicht verortete neue Staaten wie Indien aufgrund ihrer Genese, angesichts der anhaltenden Verflechtung mit ehemaligen Kolonialmächten und wegen des bourgeoisen Charakters ihrer neuen Regierungen zunächst einmal im kapitalistischen Lager. Damit fielen sie als Partner für außenwirtschaftliche Kontakte ebenfalls weitgehend aus. Anfang der 1950er Jahre gestaltete sich die außenpolitische und damit auch außenwirtschaftliche Suche der UdSSR nach Bruchstellen beim Gegner etwas geschmeidiger, zumal die eigene Wirtschaftskraft nun auch größeres internationales Engagement erlaubte.49 Dennoch blieben bis 1953 die zählbaren Ergebnisse sowjetisch-indischer Wirtschaftsbeziehungen gering. Für Indien blieb es einstweilen „einfacher, Dinge aus den USA, England oder Frankreich zu erhalten“.50 Auf der anderen Seite hatte die schwache indische Exportwirtschaft der UdSSR offenkundig ebenfalls wenig zu bieten. Ingesamt erreichte der sowjetische Anteil am indischen Import bis 1952/53 maximal 0,2 Prozent, am indischen Export bis zu einem Prozent.51 Erst ab Mitte der 1950er Jahre versprachen in den Augen der (meisten) neuen Kreml’-Herren die Dynamik der Dekolonisation, das sowjetische Wachstum sowie wieder erinnerte leninistische Grundprinzipien große Chancen im friedlichen internationalen Leistungswettkampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus. In sowjetischer Berechnung sollten quantitativ und qualitativ erweiterte wirtschaftliche Beziehungen mit der Außenwelt insgesamt gleich mehreren Zie48 PA AA. MfAA. A. 1145, Bl. 135. Aufzeichnung Gespräch Rat DDR-Botschaft Moskau, Thun, mit Leiter MID-Abteilung für Internationale Organisationen, Mendelevič, 19.3.1963. 49 Hilger, Sowjetisch-indische Beziehungen, S. 232–260. 50 Nehru vor Lok Sabha, 12.6.1952, zit. nach Imam, Zafar: Ideology and Reality in Soviet Policy in Asia. Indo-Soviet Relations 1947–1960. Dehli 1975. S. 51. 51 Detailangaben bei Hilger, Sowjetisch-indische Beziehungen, S. 664f., 667.

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len dienen. Mit ihrer Hilfe könnte die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Zugleich ließen sich der, nach eigenen Maßstäben, technisch-wirtschaftliche Rückstand devisensparend aufholen und in einer Übergangsphase mögliche Versorgungsengpässe korrigieren. Über diese wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten in engerem Sinne hinaus hatten Wirtschaftsbeziehungen zur Dritten Welt global das sozialistische System zu bewerben und auszuweiten, auch, indem sie vor Ort sozialistische Prozesse anstießen und förderten. Insgesamt versuchten Stalins Nachfolger somit, Ansätze zur systemüberschreitenden Wirtschaftskooperation zum eigenen Vorteil, die Notwendigkeit, die sowjetische Bevölkerung besser zu versorgen sowie Prämissen des sozialistischen Wirtschaftens und der globalen Systemkonkurrenz in eine stringente, ideologisch informierte Außenwirtschaftspolitik unter anderem gegenüber der Dritten Welt zu überführen. Dies beinhaltete auch das Bestreben, den RGW zu reaktivieren. Dieser entwickelte in der Folgezeit weitere Instrumente für Wirtschaftskontakte mit nichtsozialistischen Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika. Er konzentrierte sich jedoch dennoch vorrangig auf die sozialistische Wirtschaftswelt. Im Ganzen blieb die sowjetische Außenwirtschaftspolitik offenkundig eng mit politisch-ideologischen Prämissen verflochten. Im friedlichen Wettbewerb der Systeme kam der eigenen Wirtschaftsleistung wie den externen wirtschaftlichen Beziehungen unweigerlich hohe Bedeutung zu. Auch mit ihrer Hilfe sollten überkommene Eliten und Ordnungen von Bourgeoisie und Imperialismus überwunden werden. Der Aufbau einer einheitlichen sozialistischen Weltwirtschaftsordnung war untrennbar mit dem globalen Siegeszug des Sozialismus insgesamt verknüpft. Beides erforderte neues Engagement. „Man muss einigen Staaten helfen, wenn wir einen ernsthafteren Wettkampf mit den USA aufnehmen wollen“, formulierte es Chruščevs enger Mitstreiter Anastas Mikojan im Dezember 1955 im ZK-Präsidium und brachte damit einstweilen die verhaltende Kritik einzelner Kollegen zum Verstummen.52 Zu den von Mikojan erwähnten ausgewählten Staaten gehörte von Anfang an Indien. Hier verschrieb sich die postkoloniale Wirtschaftspolitik generell dem Ziel, zügig soziale Verbesserungen für die Massen bringen. Dabei musste sie über die Jahre hinweg immer wieder akute Herausforderungen von Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelknappheiten und Arbeitslosigkeit mit mittelund längerfristigen Entwicklungsplänen ausbalancieren. In den entsprechenden nationalen wirtschaftspolitischen Debatten setzten sich vergleichsweise lin52 Sitzung ZK-Präsidium am 16.12.1955, in: Fursenko, Prezidium (Bd. 1). S. 71f.; vgl. bereits Bundesarchiv Berlin (BArch). DE 1. Nr. 12220. Sowjetische Delegation auf 4. RGW-Ratstagung, 26.–27.3.1954.

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ke Denkschulen durch. Vertreter wie P. C. Mahalanobis, aber auch der Premier selbst präferierten vor allem eine schwerindustrielle Entwicklung des Landes. Ihr Ansatz umfasste neben der wesentlichen Ausweitung des staatswirtschaftlichen Sektors zugleich wirtschaftliche Kooperationen mit aller Welt. Indien zählte auf finanzielle und technologische Hilfen, ohne sich von einzelnen Staaten – und deren Außenpolitik – abhängig machen zu wollen. Tatsächlich betrachtete man in Delhi die Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik als probates Mittel, im Innern unerwünschte sozialistische Revolutionen à la UdSSR oder China zu verhindern sowie international die errungene Unabhängigkeit zu stärken.53 Wie im sowjetischen Fall, so war in Indien die Außenwirtschaftspolitik gleichfalls eng an nationale und internationale politische Zielsetzungen gebunden, und auch in Delhis Vorstellung waren Friedenssicherung und soziale Entwicklungen aneinander gekoppelt. Die Regierung Nehru visierte allerdings in ihren wirtschaftlichen und außenwirtschaftlichen Gedankengängen analog zur Außenpolitik den gemeinsamen Fortschritt der „Einen Welt“ an, nicht die einseitige Durchsetzung von Klassen- und einzelnen Staatsinteressen. Der Fortschritt Aller zu einem guten Leben würde durch eine gerechte Teilung von Arbeit und Resultaten unter den Nationen, die gleichberechtigt ihre Anteile leisten und erhalten könnten, erreicht werden. Die hier nur knapp skizzierten Grundziele und Vorhaben mussten im sowjetisch-indischen Verhältnis in verschiedenen Feldern der Wirtschaftsbeziehungen umgesetzt werden. Im Bereich des bilateralen Handels steigerten Abkommen, die ab Ende 1953 zwischen Delhi und Moskau abgeschlossen wurden, den bislang rudimentären Warenaustausch erheblich und kamen damit zunächst einmal den Bedürfnissen beider Seiten entgegen. Grundlegende Probleme der sowjetischen Außenwirtschaft – der Mangel an marktgerechten und qualitativ hochwertigen Exportwaren, generell fehlende Effizienz in der Produktion sowie überlastete Organisationsstrukturen – bremsten den Ausbau ab. Auf der anderen Seite behinderten die vergleichsweise rückständige Exportwirtschaft Indiens, die begrenzten Aufnahmekapazitäten des Subkontinents und dortige Organisations- und Effektivitätsschwächen den Handel. Daneben blieb die Struktur des erweiterten Handels der UdSSR mit Staaten wie Indien wirtschaftspolitisch ganz auf den sozialistischen Bedarf – Export vor allem von Maschinen und schwerindustrieller Ausrüstung, Import von Rohstoffen, gegebenenfalls Fertigwaren und kostengünstigen Konsumgütern – ausgerichtet. Damit folgte das Handelsmuster traditionellen Globalbeziehungen – und somit auch altkolonialen Vorbildern. Ungeachtet dessen fügte sich nach 53 Als letzten Überblick vgl. Engerman, David C.: The Price of Aid. The Economic Cold War in India. Cambridge 2018.

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Ansicht des Kreml’ die eigene Außenwirtschaftspolitik in den globalen sozialistisch-kapitalistischen Wettstreit ein, da die sozialistischen Gestaltungsvorstellungen derlei überkommene Ordnungen auf lange Sicht überwinden würden, während sie in der Zwischenzeit angeblich der autonomen Entwicklung von sozialistischen und Dritt-Welt-Staaten zugute kamen. Dieser innere Widerspruch würde sich in der Gesamtkonstruktion der sowjetisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen auf Dauer kaum verbergen geschweige denn korrigieren lassen, wenn die UdSSR – und Indien – an ihren eingangs umrissenen wirtschafts- und außenwirtschaftspolitischen Grundideen festhalten würden. In den konkreten Wirtschaftsbeziehungen gewann neben dem Handelssektor der Bereich der technischen Hilfeleistungen inklusive der Abstellung von Experten, Ausbildungshilfen und Studierendenaustausch schnell an Bedeutung. Indien zeigte sich im Rahmen seiner Wirtschaftsplanung zwangsläufig an deren Ausweitung interessiert. Für die UdSSR schien sich die Möglichkeit zu ergeben, auf diesem Weg mehr Einfluss sowohl auf konkrete Planungen als auch auf die generelle Ausrichtung der indischen Wirtschafts- und Industrialisierungspolitik nehmen zu können. In den Augen der Kreml’-Spitzen und gemäß sowjetischer Erfahrung kam hier insbesondere staatlich gelenkten schwerindustriellen Schlüsselwerken nicht nur eine rein wirtschaftliche Aufgabe zu. Sie hatten im Interpretationsrahmen einer sozialistischen Entwicklungsidee zugleich enorme gesellschaftspolitische und damit hinsichtlich der Systemkonkurrenz hohe internationale Bedeutung. Schwerindustrielle Großprojekte sollten, wie seinerzeit im sowjetischen Magnitogorsk, dann in China und in Osteuropa erprobt, auch in Indien eine rasante, Kapitalismus-unabhängige Industrialisierung mit einem gesellschaftlichen sozialistischen Quantensprung verbinden.54 Dies würde, so die sowjetische Hoffnung, auch deshalb gelingen, weil Planung und Aufbau der neuen Schwerindustrien im Staatssektor mit einer engeren indisch-sowjetischen Kooperation auf dem Feld der Fach- und Kaderbildung sowie mit der Entstehung eines indischen Proletariats einhergehen würden. Indiens zukünftige Kader und Werktätige, auf sowjetische Art und Weise gebildet, würden Vorzüge des sozialistischen Wirtschaftens und Handelns zu würdigen wissen und daher als Motoren und Multiplikatoren des Sozialismus in Indien wirken. Nicht nur Chruščev selbst beschrieb demgemäß indische Unternehmen wie das Stahlwerk Bhilai als eine Keimzelle des „neuen Indiens“, wo „neue 54 Vgl. Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley 1995. S. 18f., 32; Stein, Susanne: Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt. Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957. München 2010; Jajeśniak-Quast, Dagmara: Stahlgiganten in der sozialistischen Transformation. Nowa Huta in Krakau, EKO in Eisenhüttenstadt und Kunčice in Ostrava. Wiesbaden 2010.

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Menschen aufwachsen und gehärtet werden“ – eine bezeichnende Anleihe bei Ostrovskij’s berühmter Darstellung des Bürgerkriegs, „Wie der Stahl gehärtet wurde“.55 Dass weder das indische Umfeld noch die indische Führung ungeachtet ihrer Begeisterung für die eigene industrielle Entwicklung unter staatlicher Kontrolle derartige politische Prozesse unterstützten, wurde im Kreml’ in den ersten Jahren weitgehend vernachlässigt. So verfolgten gerade ab 1955 beide Seiten mit neuer Intensität ihre bestenfalls temporär und partiell kompatiblen Vorstellungen wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit ihren jeweils impliziten, differierenden strukturellen Zielen. Auf Dauer mussten beiden Staaten immer wieder bewerten, inwiefern die engeren Geschäftsbeziehungen den erwarteten beziehungsweise versprochenen Mehrwert auswerfen würden. Dabei wirkten die Konkurrenz indisch-kapitalistischer Kontakte, Zwänge sozialistisch-westlicher Wirtschaftsbeziehungen sowie die Dynamik kapitalistisch geprägter Weltmärkte auf die bilateralen Beziehungen ein. Tatsächlich genossen Staaten wie Indien in der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik nie Priorität, und Staaten wie der UdSSR wurde in der indischen Außenwirtschaft keine bedingungslose Parität mit dem ‚Westen‘ eingeräumt. Gemessen an nackten Zahlen, war die indische Wirtschaft in Handel, Hilfen, Finanz- und Kreditmärkten mit den westlichen Staaten wesentlich enger verbunden als mit der UdSSR und ihren Verbündeten.56 Dennoch weiteten sich, analog zum sowjetisch-indischen Handel, auch die anderen Bereiche der sowjetisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen ab den 1950er Jahren deutlich aus. Die Zahl der gemeinsam entworfenen und aufgebauten industriellen Großprojekte stieg merklich an. Ausbildungshilfen und technische Kooperationen nahmen zu. Ungeachtet dessen blieb es über die Jahre hinweg bei substantiellen strukturellen Problemen, die das konkrete Wirtschaften belasteten und die Gegensätze der dahinterstehenden Ordnungsprogramme 55 Zit. nach National Archives of India, New Delhi (NAI). 8 (39) Eur (E)/60. Politischer Bericht indische Botschaft Moskau für März 1960, o. D.; Nehru Memorial Museum & Library, New Delhi (NMML). K. P. S. Menon Papers, 5. Politischer Jahresbericht indische Botschaft Moskau für 1960, 5.1.1961. S. 34. Der Titel von Nikolaj Ostrovskij erschien 1932–1934 in Moskau im Verlag Molodaja Gvardija; vgl. ähnlich in Literatur und Politik u. a. Surkov, Aleksej: V zavtrašnej Indii. In: Sobranie sočinenij. Bd. 2. Stichotvorenija, 1946–1974. Hrsg. von dems. Moskau 1979. S. 128– 131; Bulganin vor Oberstem Sowjet, 29.12.1955. In: Bulganin, Nikolai A./Chrustschow, Nikita S.: Freundschaftsbesuch in Indien, Birma und Afghanistan. Reden und offizielle Dokumente, November–Dezember 1955. Moskau 1956. S. 257. 56 Vgl. beispielhaft Gespräche und Erwartungen Ende 1957, Nehru an Malaviya, 2.10.1957. In: SWJN 2. Bd. 39. 1 August–31 October 1957. New Delhi 2007. S. 123f.; Nehru an T. T. Krishnamachari, 9.9. und 30.10.1957. In: SWJN 2. Bd. 39. 1 August–31 October 1957. New Delhi 2007. S. 97f., 132–135; Nehru an Desai, 8.11.1957, In: SWJN 2. Bd. 40. 1 November–31 December 1957. New Delhi 2009. S. 109f.

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wiederholt bloßlegten. Das eingangs skizzierte sowjetische wirtschaftliche Komplexprogramm erforderte immer wieder Prioritätensetzungen, die Ambitionen in Teilsektoren reduzierten. Ende 1959 beispielsweise drängten ukrainische Werke auf eine Entscheidung Mikojans, ob sie Lieferungen für China oder für Indien termingerecht abarbeiten, das heißt, ob sie sich für die Stärkung des sozialistischen Lagers oder für die Gewinnung der Dritten Welt engagieren sollten. Beides auf einmal war offenkundig entgegen Moskauer Planspielen nicht zu haben, auch weil es generell bei organisatorischen, planerischen und Produktionsschwierigkeiten blieb.57 Der innersowjetische Schriftverkehr aller Branchen und Sparten war nach wie vor durchsetzt mit Klagen über mitunter schwerwiegende Termin-, Qualitäts-, Planungs-, Abstimmungs- und allgemeine Fertigungsprobleme. Nicht nur 1956 erwiesen sich Planvorgaben für den Export als deutlich überhöht, was zu immensen Lieferverzögerungen führte.58 In den folgenden Jahren importierte die UdSSR mitunter Güter, um in den entsprechenden eigenen Werken Produkte für den Export nach Indien überhaupt herstellen zu können.59 Bereits 1957 verweigerten verschiedene indische Käufer Zahlungen, weil gelieferte Maschinen unbrauchbar waren.60 Noch 1961 drängte ein Direktor einer Traktorenfabrik darauf, seine Traktoren trotz unstrittiger schwerer Fehler an Rädern und Motoren exportieren zu dürfen, da die Mängel im Werk einfach nicht behoben werden könnten.61 Bis in die 1960er Jahre hinein mühten sich sowjetische Konstrukteure und Verkäufer, mit den besonderen Anforderungen zurechtzukommen, die, so der Topos, ‚Länder mit tropischem Klima‘ an sowjetische Produkte aller Art stellten. Selbst in Prestigeprojekten wie dem Stahlwerk in Bhilai und auf anderen ambitionierten sowjetisch-indischen Großbaustellen „kompromittierten“ Lieferrückstände und mindere Qualität das sowjetische Engagement und das sowjetische Modell einer Wirtschaftsordnung.62 57 Vgl. GARF. f. 5446, op. 93, d. 960, Bl. 59. Volkswirtschaftsrat Char’kov an Staatskomitee für Wirtschaftsbeziehungen (GKĖS) und Mikojan, 6.11.1959. 58 Vgl. RGANI. f. 5, op. 40, d. 40, Bl. 106f. Minister für Werkzeugmaschinenbau und Industrie, Kostousov, an ZK, 11.10.1956; NMML. T. T. Krishnamachari Papers. Correspondence with K. P. S. Menon. Vermerk über Gespräch Produktionsminister Reddy mit Mikojan, 23.10.1956. 59 Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft, Moskau (RGAĖ). f. 4372, op. 57, d. 384, Bl. 186. Außenhandelsministerium (MVT), GKĖS und Gosplan an Mikojan, 18.2.1959. 60 Vgl. RGANI. f. 5, op. 14, d. 18, Bl. 3f. Vorsitzender ZK-Kommission für Auslandreisen, Panjuškin, an ZK, Furceva, 24.1.1957. 61 Vgl. GARF. f. 5446, op. 95, d. 1021, Bl. 29ff. Stellv. MVT, Smeljakov, an SovMin, 5.9.1961; RGANI. f. 5, op. 40, d. 155, Bl. 170f. Stellv. Leiter ZK-Abteilung Maschinenbau, Grigor’ev, an ZK, 2.10.1961. 62 Chefingenieur Bhilai, V. Dymšic, an GKĖS, zit. in RGANI. f. 5, op. 40, d. 97, Bl. 6f. Minister für Schwarzmetallurgie, Šeremet’ev, an stellv. Leiter ZK-Abteilung Schwerindustrie, Jastrebov, 12.8.1958.

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Auf der anderen Seite blieben die indischen Kapazitäten in organisatorischer, planerischer, personeller und technischer Hinsicht begrenzt. So konnte Delhi beispielsweise eigene Verpflichtungen, gemeinsame Projekte mit Material, Teilprodukten oder Arbeitskräften auszustatten, mehrfach nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung erfüllen. Zudem war die indische Seite zunehmend mit stetig wachsenden Finanzlücken konfrontiert, die den Bewegungsspielraum in bilateralen Wirtschaftsbeziehungen einengten.63 Ab Ende der 1950er Jahre sorgte sich dann auch die UdSSR um knappe Devisenvorräte und die eigene passive Zahlungsbilanz mit dem ‚Westen‘, was die Programmatik im bilateralen Geschäft mit Indien gleichfalls unterminierte.64 Im Ganzen erwiesen sich die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu Indien mit Blick auf den wirtschaftlichen Ertrag bis in den 1960er Jahre hinein als weniger üppig, als in Moskau ursprünglich angedacht worden war. Wichtiger war noch, dass sich sowjetische Annahmen über eine quasi automatische Selbstsozialisierung Indiens nicht erfüllten und – aus indischer Sicht – nicht erfüllen sollten. In dieser unbefriedigten Situation gewann die Debatte, inwieweit sich Moskaus Wirtschaft und Handel in den Beziehungen zu Indien (und ähnlichen Ländern) vor allem am unmittelbaren Eigen- und Aufholbedarf orientieren und damit auf die Sicherung der für die „sowjetische Volkswirtschaft notwendigen Rohstoffe, Halbfabrikate und einige Fertigwaren“ konzentrieren sollte, an Bedeutung.65 Diese Überlegungen liefen indischen Ideen über adäquate Außenwirtschaftsstrukturen und -verbindungen endgültig vollkommen entgegen. In Delhi machte sich im selben Zeitraum immer mehr Unzufriedenheit über die konkreten sowjetisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen breit. Indischen Akteuren missfiel es erklärtermaßen, dass die sozialistische UdSSR im Außenhandel Austauschmuster pflegte, die denen zwischen kolonialer Peripherie und Metropole allzustark ähnelten. Dies lief Delhis Entwicklungs- und Modernisierungsplänen und den damit verwobenen globalen ordnungspolitischen Vorstellungen eindeutig zuwider, denn Indien musste für deren Realisierung den Export eigener, höherwertiger industrieller Produktionen ausweiten. Offensichtlich rieben sich auch in der Außen- und Weltwirtschaft sozialistische Belange des Kampfs gegen den Kapitalismus an universalen Kooperations63 Vgl. z. B. Vermerk Nehru 16.11.1957. In: SWJN 2, Bd. 40, S. 187–190, hier S. 188; NMML. Subimal Dutt Papers 21. Aufzeichnung Gespräch Nehru mit sowjetischer Delegation, Muchitdinov, 18.3.1959. 64 Vgl. RGAĖ. f. 4372, op. 76, d. 172, Bl. 281ff. Material für Vors. Gosplan, Kuz’min, für Sitzung Präsidium SovMin, 18.6.1957; RGAĖ. f. 4372, op. 76, d. 172, Bl. 198ff. Kuz’min, MVT Kabanov, Finanzminister Zverev u. a. an ZK, 14.10.1957. 65 RGAĖ. f. 413, op. 13, d. 8034, hier Bl. 98, 100. Aufzeichnung MVT, N. Širjaev, 15.4.1961.

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ideen. Damit korrespondierten die sowjetisch-indischen Probleme ganz mit dem aufkommenden Nord-Süd-Gegensatz. Für einen Staat der Dritten Welt wie Indien war Mitte der 1960er Jahre die Zeit gekommen, nicht mehr nur die Beziehungen zwischen Dritter und Erster Welt, sondern auch diejenigen mit der Zweiten Welt zur Diskussion zu stellen und damit im Wirtschaftssektor gleichfalls globale östlich-westliche Strukturen in Frage zustellen.66 An die Stelle des internationalen Klassenkampfs und internationaler Klassensolidarität gegen imperialistische Ausbeuter setzten indische Vorschläge neue Ansprüche und, für Moskauer Interpreten unerhörte, massive Forderungen „auch an die sozialistischen Länder“.67 Aus Moskauer Sicht warf man damit nicht nur Kapitalismus und Sozialismus in einen Topf, sondern erteilte allen trans- und internationalen sozialistischen Bestrebungen zur Neuordnung der Wirtschaftswelt eine klare Abfuhr. Die neue Zweiteilung der Welt in Nord und Süd, in Arme und Reiche sei nur für imperialistische Vernebelungstaktiken nützlich, behaupteten Vertreter des sowjetischen Außenministeriums in Moskau.68 Noch Chruščevs Nachfolger wussten mit derartigen Ansätzen der Dritten Welt nichts anzufangen. Ihre Vertreter würden nicht mehr bitten, sondern fordern und hätten „sogar eine ‚Theorie‘ erfunden: die reichen Länder müssen den armen helfen“, empörte sich 1964 die neue Führungsriege. Die Marxisten im Kreml’ konnten sich diese Vorstellung einer Weltordnung nur noch damit erklären, dass diese Führer „ihr Gewissen verloren“ hätten69 – diese Einschätzung war letztlich eine Bankrotterklärung der eigenen Ansprüche auf die wissenschaftliche Weltdeutung sowie des sowjetischen Glaubens an den Siegeszug sozialistischer Ordnungen schlechthin. Mit Blick auf Indien führten Mitte der 1960er Jahre jedoch weder die sowjetischen Ansichten über die Undankbarkeit indischer Wirtschaftspartner noch die anhaltenden indischen Forderungen nach substantieller Neuordnung auch der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu wirklichen Konsequenzen. Gerade in 66 Vgl. u. a. Nehru an Chief Ministers, 23.10.1960. In: Nehru, Letters (5), S. 409–419. 67 BArch. DC 20/20186. Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel. Arbeitsgruppe Information, 30.8.1963. Information über 2. Tagung der AG RGW zur Vorbereitung UNCTAD, 7.–9.8.1963. 68 PA AA. MfAA. A. 167, Bl. 230 f. Aktenvermerk DDR-Botschaft Moskau, Rudolf Rossmeisl, über Gespräch mit Leiter MID-Informationsverwaltung, Blatov, am 2.11.1964, 5.11.1964. Vgl. allg. Toye, John F. J./Toye, Richard: The UN and Global Political Economy. Trade, Finance, and Development. Bloomington 2004. S. 185–205, 218–228; Brun, Ellen/Hersh, Jacques: Soviet-Third World Relations in a Capitalist World. The Political Economy of Broken Promises. Basingstoke 1990. S. 45f., 72–77, 136f., 172–181. 69 Bericht ZK-Präsidium für Oktoberplenum ZK (13.10.1964]. In: Nikita Chruščev 1964. Stenogrammy plenuma CK KPSS i drugie dokumenty. Hrsg. von Andrej N. Artizov [u.a.]. Moskau 2007. Hier S. 201.

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der Handelspolitik setzte Moskau weiterhin auf den Export von Maschinen und Ausrüstungen. Erzeugnisse der neuen indischen Industrien wollten auch Aleksej Kosygin und Leonid Brežnev nicht in größerem Umfang einkaufen.70 Indische Unterhändler und Politiker zeigten sich arg enttäuscht. Das sowjetische Verhalten sei, so ihre Kritik, weder ein echter „Freundschaftsbeweis“ noch „echte Hilfe“.71 Sowjetische wirtschaftliche Aktivitäten gegenüber Indien und das indische Ungenügen daran waren tatsächlich vielmehr Ausdruck unvereinbarer Vorstellungen über alternative Ordnungsziele und -mittel in einer einstweilen kapitalistisch, ‚westlich‘ strukturierten Weltwirtschaft.

Fazit Die sowjetisch-indischen Beziehungen von den 1940er bis in die 1960er Jahre hinein führten nicht zuletzt vor Augen, wie dynamisch sich die Nachkriegsdebatten über alternative Weltordnungen entwickelten. Für sozialistische Staatenlenker, die sich selbst als revolutionäre globale Avantgarde und Schutzmacht verstehen wollten, war die Herausforderung durch Vertreter der Dritten Welt radikal. Indische Alternativen stellten sozialistische Ordnungsdefinitionen sowie ihre Rückbindung an die UdSSR selbst in Frage, und indische Konzeptionen verwarfen grundlegende sowjetische Ordnungsbinaritäten. Zudem räumten Entwürfe aus Delhi nichteuropäischen Ordnungsnormen und -einheiten einen Platz ein, der sowjetische Vorstellungen per se konterkarierte. Dabei stellten indische Konzepte vielfach noch eher Visionen als operationalisierbare Entwürfe dar. Sie erscheinen im Rückblick als zu wenig ausgereift und zu wenig konkret, als dass man von Programmatiken sprechen könnte. Demgemäß erwiesen sie sich keineswegs als unveränderlich und starr. Gegenentwürfe und Reaktionen auf globale Risiken und Ungerechtigkeiten, die die real existierende Welt von Kaltem Krieg, Kapitalismus und Sozialismus für den gesamten Globus und für die gesamte Menschheit bereithielten, mussten zwangsläufig offen und flexibel sein, um neue Entwicklungen in althergebrachten Ordnungsrahmen aufgreifen, neue Risikoabschätzungen oder entsprechend dynamische Positionsbestimmungen leisten zu können. Damit verbundene Ver70 Vgl. RGAĖ. f. 413, op. 66, d. 436, Bl. 211–213. Vermerk MVT, Smirnov, zum Exportplan für 1966–1970, 22.1.1965. 71 RGAĖ. f. 413, op. 31, d. 305, Bl. 362ff. Verhandlungen sowjetisch-indischer Delegationen über die Überprüfung von Import und Export 1964 sowie über Warenlisten 1964/1965, 28.– 31.10.1964; TNA. CAB 133/254. Premier Shastri auf Commonwealth Prime Ministers’ Conference, 11. Meeting, 23.6.1965.

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schiebungen von Akzenten und Schwerpunkten globaler Debatten stellten für starrere sozialistische Modelle à la Moskau eine zusätzliche Herausforderung dar. Dass indische Vorstellungen nicht zu einem verbindlichen Handlungsprogramm der Dritten Welt gerannen, lag weniger am pauschalen – Kritiker in Ost und West sprachen auch vom nebulösen, wolkigen – Gehalt der in Delhi formulierten Gedanken. Der Grund ist vielmehr in der inneren Zerstrittenheit der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Regionen, Staaten und Gesellschaften zu suchen. Diese konnten sich letztlich jenseits unverbindlicher Zielformulierungen und allgemeiner Klagen über historische Ungerechtigkeiten gegenüber dem ‚Süden‘ nicht auf konkrete Alternativkonzeptionen einigen und damit auch keine einheitliche, konkrete und operative Weltordnungspolitik betreiben. Die Dritte Welt oder der ‚globale Süden‘ blieben in ihrer Gesamtheit von politischen Differenzen, nationalen Gegensätzen und divergierenden wirtschaftlichen Interessenlagen innerhalb der Großgruppe zerrissen. Nicht zuletzt an dieser Zerklüftung zerrieben sich immer wieder indische und andere ‚südliche‘, aber eben auch ‚westliche‘ und sozialistische globale Ordnungsvorstellungen, da strikte Kategorisierungen – von ‚Anti-Imperialismus‘ bis hin zur ‚Zone des Friedens ‘ – vielfach Teilperspektiven auf globale, universale Anliegen verabsolutierten.

Stella Krepp

Weder Norden noch Süden: Lateinamerika, Entwicklungsdebatten und die „Dekolonisierungskluft“, 1948–1973 „Ich bin mir sicher, dass sie uns in Harvard nicht ernst nehmen. Für sie sind wir zweitklassig oder drittklassig. Wir sind nicht mehr als unterentwickelte Wirtschaftswissenschaftler.“1 So beklagte sich Raúl Prebisch im Rückblick über seine Arbeit für die Wirtschaftskommission für Lateinamerika der Vereinten Nationen (CEPAL/ECLA). Prebisch wies damit auf eine doppelte Marginalisierung hin, die lateinamerikanische Wirtschaftswissenschaftler in den USA und Europa erlebten. Zum einen galten sie – als aus der Dritten Welt stammend – nicht als gleichwertige Partner oder Wissenschaftler. Zum anderen wurden sie als Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit Fragen der Unterentwicklung befassten, nicht ernst genommen zu einem Zeitpunkt als Entwicklungsökonomie noch kein eigenständiges Forschungsfeld war.2 Sie gehörten damit nicht zur epistemischen Gemeinschaft der Wirtschaftsexperten in den USA und Europa.3 Nichtsdestotrotz sollten lateinamerikanische Wirtschaftswissenschaftler eine zentrale Rolle in den Entwicklungsdebatten des 20. Jahrhunderts spielen und grundlegend zu Debatten eines aufkommenden Globalen Südens beitragen. Dies ist auf den ersten Blick nicht selbsterklärend. Traditionell rechneten sich Lateinamerikaner geopolitisch und kulturell dem Westen zu. Aber sie galten eben auch als unterentwickelt und erfüllten damit ein zentrales Identitätsmerkmal für das Konstrukt, welches bald als Dritte Welt bekannt werden würde. Diese Diskrepanz, weder einem Westen/Norden noch einem Süden zuzugehören, zog sich wie ein roter Faden durch die Debatten in Lateinamerika in den 1950er und 1960er Jahren. Eine Schlüsselrolle in der Produktion und Verbreitung von Entwicklungswissen spielte die Wirtschaftskommission für Lateinamerika, die in Santiago de

1 Kerner, Daniel [u. a.]: Raúl Prebisch on ECLAC’s achievements and deficiencies. An unpublished interview. In: CEPAL Review 75 (2001). S. 9–22. Hier S. 17. 2 Die Verquickung von Wissen und Macht ist ein zentrales Anliegen der sozial-konstruktivistischen Schule der Internationalen Beziehungen. Siehe: Wendt, Alexander: Social Theory of International Politics. Cambridge 1999. 3 Zur Idee der epistemischen Gemeinschaft, siehe: Haas, Peter: Introduction. Epistemic communities and international policy coordination. In: International Organization 46 (1992). Nr. 1. S. 1–35. https://doi.org/10.1515/9783110682625-006

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Chile ihr Hauptquartier hatte. Sie soll hier im Zentrum stehen. Dabei soll es nicht darum gehen, eine Institutionsgeschichte zu verfassen. Stattdessen soll die Geschichte der CEPAL in die Nord-Süd Debatten eingebettet werden, um exemplarisch historische Prozesse auf der nationalen, regionalen und globalen Ebene in Lateinamerika zu beleuchten. Anhand der oben genannten Wirtschaftskommission für Lateinamerika möchte der Beitrag folgende Fragen erörtern: Wie verhandelten Lateinamerikaner den Nord-Süd-Konflikt? Und wie positionierten sie sich in diesem Nord-Süd-Konstrukt? Damit verfolgt der Beitrag zwei Ziele: historiographisch wie historisch. In erster Hinsicht soll die Geschichte Lateinamerikas enger mit der Geschichte des Globalen Südens verschränkt werden. Dafür zeichne ich den Wandel von einer technischen, hin zu einer politischen Organisation nach, die entscheidend zum Verständnis eines globalen Südens beigetragen hat. In zweiter Hinsicht soll genauer auf die Debatten über die wirtschaftliche Entwicklung in dieser Zeit eingegangen werden. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf den Versuchen der CEPAL, „Entwicklung“ neu zu definieren. Debatten um die Wurzeln der Unterentwicklung und die korrekte Entwicklungspolitik waren allerdings umkämpft und daher eng verbunden mit Fragen von Macht und Deutungshoheit. Auch wenn hier oft von Lateinamerika als Gesamtheit gesprochen wird, kann der Beitrag nur einige wenige Perspektiven beleuchten und postuliert keine einheitliche lateinamerikanische Geschichte. Brasilien steht im Fokus des Beitrags aus zweierlei Gründen: es war die wichtigste regionale Macht in Lateinamerika zu dieser Zeit und stand gleichzeitig stellvertretend für den politischen Mainstream von reformorientierten und sozialdemokratischen Regierungen, welche ideologisch die stärkste politische Kraft auf dem gesamten Kontinent stellten. Schon die Begriffsgeschichte der Dritten Welt zeigt die schwierige Position Lateinamerikas auf. Geprägt wurde er vom französischen Intellektuellen Alfred Sauvy 1952, der damit explizit Bezug nahm auf die erst vor Kurzem unabhängig gewordenen Staaten wie Indien.4 Damit war die Idee der Dritten Welt inhaltlich eng mit dem Prozess der Dekolonisierung verwoben. In den 1960er Jahren trug vor allem Peter Worsley zur Popularisierung des Begriffes bei, der damit wiederum die neuen unabhängigen Staaten einschloss, auch wenn er vorsichtig formulierte, dass der Begriff auch auf Lateinamerika zutreffen könnte.5 Erst ab den 4 Sauvy, Alfred: „Trois mondes, une planète“. In: L’Observateur, 14.8.1952; vgl: Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Frankfurt/New York 2011. 5 Worsley, Peter: The Third World. Chicago 1964; Worsley, Peter: The Three Worlds. Culture and World Development. Chicago 1984.

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1980er Jahren propagierte Worsley eine expansivere Definition, die nun Lateinamerika vollständig miteinbezog. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich allerdings der Begriff des Globalen Südens eingebürgert, dank zweier Initiativen: der BrandtKommission von 1977 (auch als Nord-Süd-Kommission bekannt) und der South Commission unter Julius Nyerere von 1990. Eine andere Genealogie der Dritten Welt, die sich über ihre wirtschaftliche Natur definierte, wurzelte in den Theorien der CEPAL und es ist diese Genealogie, die hier im Zentrum stehen wird. Mit ihrer Analogie von Zentrum und Peripherie prägte die CEPAL den Begriff der Entwicklungsländer als Synonym für die Dritte Welt, in die sie alle Länder einschloss, die nicht zu den Industriestaaten gehörten. In der Tat waren es vor allem auch lateinamerikanische Historiker und Soziologen in der Dependenztradition, die ab den 1980ern Lateinamerika in einem Dritte-Welt-Kontext verorteten.6 Der Nord-Süd-Konflikt und das Konzept von Zentrum und Peripherie waren damit zwei unterschiedliche Lesarten einer räumlichen Zuordnung und Einordnung, die aber unterschiedliche Schwerpunkte setzten: politische versus wirtschaftliche. Diese Unterscheidung würde sich später auflösen, spätestens nach der Prägung des Begriffes des Neokolonialismus durch Kwame Nkrumah. Er betonte, dass politische Abhängigkeit nicht mit dem Ende der wirtschaftlichen Abhängigkeit der ehemaligen Kolonien gleichzusetzen sei und der Kolonialismus daher fortbestünde.7 Die historisch schwierige Einordnung, oder besser Zuordnung, Lateinamerikas war der Geschichte des Subkontinents geschuldet. Lateinamerikanische Länder erlangten, im Gegensatz zu vielen Kolonien in Afrika und Asien, ihre Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie kämpften daher in den 1950er Jahren nicht mehr für ihre politische Unabhängigkeit, sondern für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und Souveränität.8 Obwohl lateinamerikanische Experten und ihre Expertise grundlegend Entwicklungsdebatten beeinflussten, bleibt ihre Rolle in der Entstehungsgeschichte des Globalen Südens oft skizzenhaft. Diese Marginalisierung ist das Resultat einer „decolonization divide“ – frei übersetzt einer Dekolonisierungskluft – „zwischen der Geschichte Asiens und Afrikas auf der einen Seite und der latein-

6 So zum Beispiel: Escobar, Arturo: Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World. Princeton 1995. 7 Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism. Nelson 1965. 8 Für einen Überblick zur Verschiebung von Debatten zur politischen Unabhängigkeit in den 1960ern zur wirtschaftlichen Souveränität in den 1970ern siehe: Simpson, Bradley R.: Self-determination, human rights, and the end of empire in the 1970s. In: Humanity 4 (2013). Nr. 2. S. 239–260.

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amerikanischen auf der anderen“, so die Historikerin Christy Thornton.9 Diese Dekolonisierungskluft, die sich historiographisch aber auch historisch äußert, speist sich vor allem aus drei Elementen, die im Folgenden näher erläutert werden: 1. eine Historiographie Lateinamerikas, die kaum Bezüge zur Globalgeschichte herstellt, 2. eine Geschichte des Globalen Südens, die wenig Raum für Lateinamerika lässt und 3. dem kulturellen Eigenverständnis Lateinamerikas. Wie der Historiker Aldo Marchesi bemängelte, sei Geschichtsschreibung in Lateinamerika noch immer in der Nationalgeschichte verhaftet.10 Ebenso hat sich die kulturelle Wende stark in den Lateinamerikastudien bemerkbar gemacht, wodurch subalterne Perspektiven, Mikro-Geschichte und Diskursgeschichte in den Vordergrund und politische und soziale Geschichte in den Hintergrund gerückt worden sind. Letzteres gilt im Besonderen für die internationale Geschichte, die in Lateinamerika nie sehr einflussreich war.11 Seit den 2000er Jahren entstand eine Geschichtsschreibung des Globalen Südens und der postkolonialen Welt, die sich allerdings bisher stark an der Geschichte der Blockfreien Bewegung, der afro-asiatischen Solidaritätsbewegung und dem übergreifenden Thema der Dekolonisierung orientiert hat, und auf dem gemeinsamen Schicksal der „darker nations“ als identitätsstiftendem Narrativ beruht.12 Alternative Ideen und Genealogien einer Dritten Welt, die Lateinamerika miteinbezogen, wurden dagegen außer Acht gelassen. Dabei bieten gerade die Entwicklung und der Kampf um wirtschaftliche Souveränität einen Knotenpunkt, an dem die Geschichte Lateinamerikas mit der der postkolonialen Welt in Afrika und Asien verbunden werden könnte. Die Ambivalenz in Bezug auf die Dritte Welt hatte aber auch tief verwurzelte kulturelle Gründe. In vielerlei Hinsicht verstanden sich Eliten als Teil einer „westlich-christlichen Zivilisation“, deren kultureller und politischer Referenz-

9 Thornton, Christy: A Mexican international economic order? Tracing the hidden roots of the Charter of Economic Rights and Duties of States. In: Humanity 9 (2018). Nr. 3. S. 389–421. Hier S. 392. 10 Marchesi, Aldo: Escribiendo la Guerra Fría latinoamericana: entre el Sur ‚local‘ y el Norte ‚global‘. In: Estudos Históricos 30 (2017). Nr. 60. S. 187–202. 11 Moya, José C.: Introduction. In: Oxford Handbook of Latin American History. Hrsg. von José C. Moya. New York 2011. S. 1–24. 12 Prashad, Vijay: The Darker Nations. A People’s History of the Third World. New York 2008; Rakove, Robert: Kennedy, Johnson, and the Nonaligned World. Oxford 2014; Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese. Organisation, Politik, 1927–1992. Berlin 2015. Für eine kritischere Sicht, siehe: Byrne, Jeffrey James: Beyond continents, colours, and the Cold War: Yugoslavia, Algeria, and the struggle for Non-Alignment. In: The International History Review 37 (2015). Nr. 5. S. 912–932.

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punkt Europa war.13 Diese eigentümliche Position wird besonders deutlich, wenn wir internationale Beziehungen in den Mittelpunkt rücken. Lateinamerikaner sahen sich in erster Linie dem inter-amerikanischen System verpflichtet, welches sie als ihr wichtigstes politisches Forum verstanden. Lateinamerika war, wie der argentinische Historiker Marcello Caramagnani postuliert, ein alternativer Westen.14 Lateinamerikanische Außenpolitik war zudem eng verwoben mit der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, der regionalen Macht in den Amerikas, mit denen sie gemeinsam im inter-amerikanischen System eingebunden war. Diese Beziehungen waren oft schwierig, von US- Interventionen geprägt und wurden seitens der Lateinamerikanischen Staaten in vielen Fällen als hegemonial empfunden. Diese enge Beziehung zu den USA, die Lateinamerika als ihre Einflusssphäre beanspruchte, hatte zur Folge, dass der Kalte Krieg in Lateinamerika eine sehr eigene Ausprägung erfuhr. Historiker haben deswegen den Begriff des inter-amerikanischen Kalten Krieges geprägt, der nicht von einem Ost-West Konflikt gekennzeichnet war, sondern sich in internen, oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten in Lateinamerika entlud.15 Nicht zuletzt ist das schwierige Verhältnis lateinamerikanischer Geschichte zur Globalgeschichte auch das Resultat eines Quellenproblems. Während für die europäische Zeitgeschichte ein Übermaß an Quellen vorhanden ist, finden wir für den Globalen Süden eine vergleichsweise schwierige Quellenlage vor. Im Fall Lateinamerikas fallen viele der Debatten zur globalen Ungleichheit und der Neuen Weltwirtschaftsordnung in die Zeitperiode der Militärdiktaturen in den 1970er und 1980er Jahren. Dokumente aus dieser Zeit sind bis heute zu großen Teilen nicht zugänglich oder noch nicht offiziell freigegeben. Erschwerend kommt hinzu, dass viele lateinamerikanische Staaten nur eingeschränkte diplo13 Vgl. Morse, Richard: The multiverse of Latin American identity, c. 1920–c. 1970. In: Cambridge History of Latin American History. Bd. XIV. Latin America since 1930. Ideas, Culture and Society. Hrsg. von Leslie Bethell. Cambridge 1995. S. 1–128. 14 Caramagnani, Marcello: The Other West. Latin America from Invasion to Globalization. Berkeley 2011. 15 Wie Alan McPherson argumentierte: „The paradox holds that the more historians find out about the Cold War in the hemisphere, the more that Cold War itself fades to the background.“ McPherson, Alan: The paradox of Latin American Cold War Studies. In: Beyond the Eagle’s Shadow. New Histories of Latin America’s Cold War. Hrsg. von Virginia Garrard-Burnett, Mark Atwood Lawrence u. Julio E. Moreno. Albuquerque 2013. S. 307; Harmer, Tanya: Allende’s Chile and the Inter-American Cold War. Chapel Hill 2011. Gleijeses argumentierte, dass es Kuba und nicht die Sowjetunion war, die der politische Referenzpunkt für Sozialisten und Kommunisten in Lateinamerika darstellte. Gleijeses, Piero: Conflicting Missions. Havana, Washington, and Africa, 1959–1976. Chapel Hill 2001.

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matische Ressourcen und kleine Außenministerien besaßen. Die Teilnahme kleinerer und ärmerer Staaten an Konferenzen gestaltete sich daher schwierig. Hier äußerte sich deswegen eine weitere Ausprägung von Ungleichheit: Lateinamerikanische Staaten hatten den großen Delegationen des Westens, die auf vielfältige Expertisen zurückgreifen konnten, oft wenig entgegenzusetzen.

Lateinamerika im internationalen System, 1933–1948 Viele der Akteure, die für die 1950er und 60er Jahre eine zentrale Rolle spielen würden, hatten langjährige Erfahrungen im internationalen System. Raúl Prebisch, der spätere Generalsekretär der CEPAL und der UNCTAD, war in den 1930ern als Berater der argentinischen Regierung tätig. 1933 nahm er an der Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes als Mitglied der argentinischen Delegation teil und machte dort schlechte Erfahrungen. „Ich sah, dass wir Vertreter der Entwicklungsländer nicht dazu gehörten“ zum Kreis der Experten und seriösen Politiker. „Wir waren marginalisiert“, so sein Fazit.16 Lateinamerikanische Staaten gehörten in den 1930er Jahren zu den wenigen nicht-industrialisierten Staaten im internationalen System. Jedoch zeigten sie sich bald desillusioniert von der Politik des Völkerbundes. Besonders die fehlende Gleichberechtigung, sowohl auf der zwischenstaatlichen als auch auf der individuellen Ebene, sorgte für Verdruss. Lateinamerikanische Experten machten ebenso bereits in den 1930er und 1940er Jahren prägende Erfahrungen auf internationalen Konferenzen, auf denen ihr Wissen abgewertet oder als nicht relevant abgetan wurde.17 Die wissenschaftliche Bevormundung und Geringschätzung waren wichtige Funktionen in der Erhaltung von Ungleichheiten innerhalb internationaler Beziehungen und Debatten. Lateinamerika wurde so zum Teil einer Proto-Dritten Welt gemacht zu einer Zeit, in der sich Lateinamerikaner selbst als fester Bestandteil des Westens verstanden. Aus diesem Grund zogen sie sich in den Zwischenkriegsjahren in das inter-amerikanische System zurück, ein paralleles Sys-

16 Zitiert nach: Prebisch, Achievements, S.10. Im englischen Original: „We were on the margins.“ 17 Sánchez Román, Antonio: Discovering underdevelopment. Argentina and double taxation at the League of Nations. In: Beyond Geopolitics. New Histories of Latin America at the League of Nations. Hrsg von Alan McPherson u. Yannick Wehrli. Albuquerque 2015. S. 205–222.

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tem, das zwar relativ effektiv war, aber eben auch abgetrennt von dem des Völkerbundes. Der Großteil der lateinamerikanischen Länder unterstützten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg und deswegen nahmen lateinamerikanische Delegationen an den meisten Konferenzen während der Kriegsjahre teil, so auch an der Bretton-Woods-Konferenz, auf der die Grundsteine für unser heutiges Weltwirtschaftssystem gelegt wurden. Aber auch dort waren die Ökonomen aus Lateinamerika und Asien keine gern gesehenen Gäste.18 John Maynard Keynes, der konzeptionelle Vater des nach ihm benannten Keynesianismus und britischer Chefunterhändler, kommentierte herablassend, dass nicht-europäische Experten nur die Arbeit behindert hätten. Ihre Anwesenheit hätte dazu geführt, dass die Konferenz in „the most monstrous monkey-house“ ausgeartet sei, das seit Jahren organisiert worden wäre.19 Diese sehr problematische Aussage, nicht zuletzt weil er damit auf einen historischen Diskurs zurückgriff, der Nicht-Europäer und vor allem Afrikaner und Afro-Amerikaner mit Affen gleichsetzte, verdeutlichte den spürbaren Widerstand der etablierten Experten gegenüber den „Neuankömmlingen“, der eben auch auf der Vorstellung einer kulturellen und rassischen Überlegenheit beruhte. Das Eindringen neuer Akteure in vorher geschlossene Gemeinschaften – sei es in Kommissionen oder internationalen Organisationen – stellte althergebrachte diplomatische Umgangsweisen und Ansprüche in Frage und provozierte Abwehrhaltungen. Obwohl Lateinamerika einen signifikanten regionalen Block während der Gründung der Vereinten Nationen 1945 stellte, verfügte die Region dennoch nicht über die notwendigen Stimmanteile, um als Vertreter für die kleinen Staaten zu sprechen. Zur Konferenz von Dumbarton Oaks 1944, auf welcher der erste Entwurf für die Charta der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurde, waren die Lateinamerikaner gar nicht eingeladen worden. Wenig überraschend stieß der Entwurf in Lateinamerika auf erbitterten Widerstand und wurde kontrovers auf der inter-amerikanischen Konferenz von Chapultepec im Februar und März 1945 diskutiert.20 Auf der Konferenz von San Francisco von April bis Juni 1945, auf der die Charta der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurde, versuchten lateinamerikanische Delegationen verzweifelt dieses System der großen Mächte abzuschwächen, welches in ihren Augen die politischen Asymmetrien zu vertie18 Thornton, Christy: Voice and vote for the weaker nations. Mexico’s Bretton Woods. In: Global Perspectives on the Bretton Woods Conference and the Post-War World Order. Hrsg. von Scott-Smith Giles u. Simon J. Rofe. Secaucus 2017. S. 149–165. 19 Zitiert nach: Thornton, Economic order, S. 437. 20 OAS Archiv. Proposals for the establishment of a general international organization. Comments and suggestions from the other Latin American Republics’, Inter-American Conference on War and Peace. Mexico, February 1945. Handbook. Appendix F.

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fen drohte, anstatt sie zu überwinden. Vor allem die Etablierung des UN-Sicherheitsrates stieß auf dezidierten Widerstand Lateinamerikas. Der mexikanische Vertreter sprach seinen lateinamerikanischen Kollegen aus der Seele, als er monierte, dass ein Veto-Recht „beispiellos und gegen jedwedes Konzept der Gerechtigkeit“ sei.21 Die Situation eskalierte auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Beschäftigung in Havanna 1947 und 1948, die ursprünglich als Geburtsstunde einer internationalen Handelsorganisation gedacht war. Lateinamerikanische Diplomaten beschwerten sich bitterlich, dass die Charta von Havanna nur imperiale und koloniale Interessen berücksichtige und für unterentwickelte Länder „keine Hilfe anbot“. Die anvisierte Handelsorganisation sollte jedoch nie das Licht der Welt erblicken, da die USA die Ratifizierung verweigerten und damit der Handel auf Grundlage der 1947 Regeln der GATT (Allgemeines Zollund Handelsabkommen) zurückfiel, welche ebenso nachteilig für unterentwickelte Länder waren. Schlussendlich scheiterten die Lateinamerikaner am Widerstand der USA und Großbritanniens mit dem Plan, ein gerechteres internationales Wirtschaftssystem zu erschaffen.

Die Anfänge der Wirtschaftskommission für Lateinamerika (ECLA/CEPAL) 1948/49 Das Scheitern der Havanna Konferenz zeugte auch von den sich veränderten geopolitischen Prioritäten der USA. Während Lateinamerika an Gewicht verlor, intensivierte die US-Regierung ihre Beziehungen zu Europa mit der Verabschiedung des Marshall-Planes 1948 und der Gründung der NATO 1949. Die Havanna Konferenz bedeutete eine schmerzhafte Niederlage für die lateinamerikanische Politik und führte zu der bitteren Erkenntnis, dass lateinamerikanische Belange innerhalb eines internationalen Systems keinen Platz hatten. „Wir haben den Kampf verloren“, so Roberto Campos von der brasilianischen Delegation.22 Es fehlte den lateinamerikanischen Staaten schlicht an Stimmen innerhalb der Vereinten Nationen, um die notwendigen Reformen durchzusetzen. Es war deswegen wenig verwunderlich, dass sich die Lateinamerikaner ob der Enttäu-

21 UNARMS Archiv. UN Sources San Francisco. 1945. UNCIO Colombia. Commission III. Doc. 459 III/1/22, 21.5.1945. 22 Zitiert nach: Breda dos Santos, Norma: Latin American countries and the establishment of the multilateral trading system. The Havana Conference (1947–1948). In: Brazilian Journal of Political Economy 36 (April/June 2016). Nr. 2. S. 309–329. Hier S. 327.

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schung über die Vereinten Nationen wieder in ihr regionales System zurückzogen, zutiefst überzeugt davon, dass „von einem demokratischen Standpunkt“ aus die Vereinten Nationen der inter-amerikanischen Organisation unterlegen waren.23 In dieser Zeit der politischen Neuorientierung wurde die Wirtschaftskommission für Lateinamerika gegründet, die fortan regionale Debatten dominieren sollte. Sie entstand 1948 durch den Vorstoß des chilenischen Diplomaten Hernán Santa Cruz im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen.24 Gegen den Widerstand der USA und mit viel Geschick gelang es ihm, den Rat zu überzeugen, die Kommission für drei Jahre zu finanzieren. Als Sitz wurde Santiago de Chile ausgewählt, nicht zufällig geographisch sehr weit von Washington D. C. entfernt. Die Kommission wurde mit dem Auftrag ausgestattet, konkrete wirtschaftliche Empfehlungen zu entwickeln und „die wirtschaftlichen Beziehungen sowohl zwischen lateinamerikanischen Ländern als auch anderen Ländern auf der Welt zu stärken“.25 1949 stieß Raúl Prebisch, der später zum Generalsekretär ernannt wurde, als Direktor hinzu. Bereits in seinem ersten Jahr an der CEPAL gelang Prebisch eine Punktlandung. Sein Bericht The Economic Development of Latin America and its Principal Problems, welcher später als CEPAL-Manifest bekannt werden würde, schlug hohe Wellen. Voneinander unabhängig postulierten Prebisch als auch Hans Singer, ein in New York für die Vereinigten Nationen tätiger Ökonom, eine Zentrums-Peripherie-Analogie, wonach eine kontinuierliche Verschlechterung der „terms of trade“ zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern dazu führte, dass Industrieländer immer reicher würden. Der Reichtum der Industrieländer wurde auf Grundlage des ungleichen Wirtschaftssystems von den Entwicklungsländern generiert und hatte zur Folge, dass diese ihre eigene Entwicklung nicht finanzieren konnten.26 Oder, um es kurz zu fassen, dass die Industrieländer der Grund für deren Unterentwicklung waren. Diese theoretischen Grundlagen wurden später als Strukturalismus bekannt. Den Namen verdankte der Strukturalismus den „strukturellen“ Problemen, die CEPAL-Wirtschaftswissenschaftler als Gemeinsamkeit von Entwicklungsländern identifiziert hatten. Diese Strukturen waren historisch bedingt und beruhten auf Jahrhunderten der kolonialen Unterdrückung und Ausbeu23 Padilla, Ezequiel: The American system and world organization. In: Foreign Affairs 24 (October 1945). Nr. 1. S. 99–107. Hier S. 107. 24 Santa Cruz, Hernán: The creation of the United Nations and ECLAC. In: CEPAL Review 57 (Dec 1995). S. 17–33. 25 UN ECOSOC. E/CN.12/17, 7.6.1948. 26 ECLA: The Economic Development of Latin America and its Principal Problems. New York 1949.

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tung. Dabei ist es wichtig, zwei Charakteristika der CEPAL-Wirtschaftswissenschaftler hervorzuheben. Sie sahen wirtschaftspolitische Maßnahmen in einem liberal-kapitalistischen System vor und ihre Arbeit war dezidiert anwendungsorientiert, da sie mit dem Mandat betraut worden waren, lateinamerikanische Regierungen zu beraten. Die Empfehlungen der CEPAL wurden vor allem von den demokratischen und reformorientierten Regierungen in Lateinamerika umgesetzt, allen voran Brasilien und Chile. Mit diesem Programm wurde die CEPAL zu einer der wichtigsten Entwicklungsinstitutionen Lateinamerikas, auch weil es ihr gelang, die besten Wirtschaftswissenschaftler der Region zu rekrutieren. Im ersten Jahrzehnt war die Arbeit der CEPAL ausschließlich auf Lateinamerika ausgerichtet und widmete sich zwei Arbeitsfeldern. Zum einen erhoben CEPAL-Mitarbeiter wirtschaftliche Daten und verfassten auf deren Basis Länderstudien. Zum anderen arbeiteten sie an regionalen Studien für einen lateinamerikanischen Binnenmarkt und regionale Finanzinstitutionen in Zusammenarbeit mit der OAS. Sie erhoben damit die ersten vergleichenden Studien zur Region und konnten dadurch zum ersten Mal regionale Trends nachzeichnen. Als regionale Kommission waren ihre Studien spezifisch an die lateinamerikanischen Gegebenheiten angepasst. Es handelte sich dabei um wirtschaftliche Empfehlungen für souveräne Staaten, welche liberal-kapitalistisch orientiert waren und die Lösungen für spezifisch lateinamerikanische wirtschaftliche Probleme, wie Inflation, mangelnde Investitionen und einen informellen Arbeitssektor, anboten. Das Bewusstsein, dass diese strukturellen Probleme nicht nur Lateinamerika, sondern auch andere ehemalige Kolonien betrafen, entstand erst mit der Dekolonisierung, auch weil Studien und Statistiken, die eine vergleichende Analyse erst möglich machen würden, in den 1950er Jahren für große Teile Afrikas und Asiens fehlten. Mit der Dekolonisierung, die Anfang der 1960er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, fand das Konzept von Zentrum und Peripherie Eingang in das Grundvokabular von Entwicklungsdiskursen. Dies geschah aber eher als Prozess der Aneignung und Adaption seitens postkolonialer Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, vor allem in den regionalen Wirtschaftskommissionen, als durch die Arbeit der CEPAL selbst, die weiterhin stark regional agierte. Anders als oft kolportiert, waren die strukturalistischen Theorien der CEPAL weder zeitlich noch inhaltlich deckungsgleich mit den Dependenztheorien. Die strukturalistischen Thesen der CEPAL unterschieden sich grundlegend von der soziologischen Auslegung der Dependenztheorien, die erst in den 1970ern formuliert wurden. Vor allem kamen Dependenzvertreter, stark von marxistischen Theorien beeinflusst, zu vollkommen anderen Schlüssen für die Wirtschaftspo-

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litik Lateinamerikas: Autarkie statt der von der CEPAL postulierten Reform und Restrukturierung.27 Im Laufe der 1950er Jahre entstand zudem ein Netzwerk von Niederlassungen, das den gesamten Kontinent umspannte. Die erste Niederlassung in Washington D. C. erfüllte zwei Zwecke. Sie zeugte vom offenkundigen Interesse, die Zusammenarbeit mit den USA, dem wichtigsten Finanzpartner, zu stärken. Ebenso wichtig war allerdings die Kooperation mit der OAS, die ihren Hauptsitz in Washington D. C. hatte. Schon früh gründete die CEPAL zwei Regionalbüros: eines zuständig für Zentralamerika und Mexiko mit Sitz in Mexiko-Stadt (eingerichtet 1957) und ein zweites für die Karibik, mit Sitz in Port of Spain, Trinidad und Tobago (1966). Zudem wurden nationale Büros in Bogotá (1963), Montevideo (1960), Brasília (1960) und Buenos Aires (1974) errichtet. Die Niederlassungen sammelten Daten für statistische Auswertungen und dienten gleichzeitig als Informationszentren und Anlaufstellen für lokale Kooperationen. Viele der Cepalistas bekleideten später politische Ämter, interessanterweise in Regierungen sehr unterschiedlicher Couleur. Regino Boti und Juan Francisco Noyola setzten nach der kubanischen Revolution unter Castro Entwicklungsprogramme in Kuba um. Der Brasilianer Celso Furtado war zuerst Direktor der SUDENE, einer Regierungsinstitution, die sich der Entwicklung des Nordostens des Landes widmete, und danach Planungsminister Brasiliens ab 1962. Und Raúl Prebisch selbst wurde 1963 zum Generalsekretär der ersten UNCTAD- Konferenz berufen.

Entwicklungsökonomie und der Kampf um „intellektuelle Unabhängigkeit“, 1948–1961 Die Debatten innerhalb der CEPAL waren keine isolierten Expertendebatten, sondern sie spiegelten im Kleinen die Auseinandersetzungen innerhalb Lateinamerikas wider. Seit den 1920ern hatten sich einige lateinamerikanische Länder für die Rechte der kleinen und schwachen Staaten stark gemacht und Reformen des globalen Systems angemahnt. Das System beruhte ihrer Meinung nach auf Ungleichheiten und schrieb damit die Politik der großen Mächte fort, sei es in Form des Völkerbundes oder später der Vereinten Nationen.28

27 Für einen Überblick siehe: Packenham, Robert A.: The Dependency Movement. Scholarship and Politics in Development Studies. Cambridge 1992. 28 McPherson/Wehrli, Beyond Geopolitics.

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Zentrale Protagonisten dieser Geschichte waren Wirtschaftswissenschaftler, die eine Ära einer neuen politischen Klasse einläuteten: der politischen Ökonomen. Traditionell hatten sich die lateinamerikanischen Eliten vor allem aus den Rechtswissenschaften rekrutiert. In den 1930er Jahren fand jedoch ein Paradigmenwechsel statt. Angestoßen von der Weltwirtschaftskrise, setzten viele lateinamerikanische Regierungen nationale Entwicklungsprogramme um. Dafür benötigten sie allerdings wirtschaftswissenschaftliche Expertisen für das Verständnis einer immer komplexeren Welt und des Weltwirtschaftssystems. Dieser Paradigmenwechsel bedingte nicht nur eine Professionalisierung der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch ihre institutionelle Verankerung in den Universitäten und im Staatsapparat. Ab den 1930er Jahren stampften lateinamerikanische Länder Wirtschaftsfakultäten aus dem Boden oder erweiterten sie. Ab den 1940ern wurden auf dem gesamten Kontinent Planungsministerien und nationale Entwicklungsbanken eingerichtet. Das Beispiel Brasiliens beleuchtet diesen Wandel exemplarisch. Unter der Schirmherrschaft des brasilianischen Präsidenten Getulio Vargas wurde die 1944 neu gegründete Universität Fundação Getulio Vargas in Rio de Janeiro explizit mit der Mission ausgestattet „die sozioökonomische Entwicklung Brasiliens zu fördern“. 1952 kam die Escola Brasileira de Administração Pública e de Empresas (EBAPE, Brazilian School of Public and Business Administration) hinzu, deren Ausbildungsprogramm für Bürokraten umfassend auf wirtschaftliche Entwicklungsthemen einging. Für das neu gegründete Advanced Institute of Brazilian Studies wurden ab 1956 ebenfalls CEPAL-Spezialisten rekrutiert, die in einem Weiterbildungsgang Angestellte des öffentlichen Dienstes unterrichteten.29 Publikationen wurden durch das gemeinsame Zentrum der Nationalen Entwicklungsbank und der CEPAL in ganz Lateinamerika verbreitet. Fragen von Macht und Deutungshoheiten entfachten sich daran, wer die Narrative bestimmen durfte, wie die Entwicklung der Weltwirtschaft und des globalen Kapitalismus zu verstehen sei: als eine Erzählung des Aufstiegs und Triumphs des Westens oder als eine der Ausbeutung und Unterdrückung der Kolonien und wie diese „unterentwickelt worden seien“, wie André Gunder Frank, ein Vertreter der Dependenztheorien, später postulieren würde.30 Dies war nicht nur eine ideologische Debatte, sondern es ging konkret um finanzielle

29 Die ISEB bot einen Kurs „Training in wirtschaftlichen Entwicklungsproblemen“ von 1956 bis 1960 an, später übernahm das neu gegründete Centro de Desenvolvimento Econômico CEPAL-BNDE, Zentrum für Wirtschaftliche Entwicklung der CEPAL und der brasilianischen Entwicklungsbank, in Rio de Janeiro die Weiterbildung. 30 Gunder Frank, André: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika. Frankfurt a. M. 1968.

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und politische Unterstützung für Entwicklungsprojekte und um schlagkräftige Argumente für die Umformung des internationalen Systems. Während der 1950er Jahre fanden Entwicklungsdebatten zunächst vor allem innerhalb des inter-amerikanischen Systems und in enger Zusammenarbeit mit der CEPAL statt. Dies bedeutete vor allem eine Auseinandersetzung mit den USA. Durch ihre Doppelfunktion als Weltmacht und regionale Macht in den Amerikas zeichneten sich diese Beziehungen ebenso durch Kooperation als auch durch Konflikte aus. Bereits die Gründung der CEPAL 1948 entsprach nicht den Vorstellungen der Truman-Regierung. Spätere Versuche, die CEPAL in das inter-amerikanische System einzugliedern, scheiterten ebenfalls am Widerstand der lateinamerikanischen Staaten. Sie verstanden sehr wohl, wie wertvoll eine solche unabhängige Institution sein würde, die außerhalb der direkten Einflussnahme der USA lag. Ein Gespräch Prebischs mit dem US-amerikanischen Botschafter für die OAS, Paul C. Daniels, im Jahr 1950 legte die unterschiedlichen Positionen offen. Daniels erklärte den Wunsch der US-Regierung, die Struktur der CEPAL in diejenige der OAS integrieren zu wollen. Prebisch hingegen betonte die Bedeutung der CEPAL mit ihrer „intellektuellen Unabhängigkeit“. Die CEPAL bot „die erste Gelegenheit für Lateinamerikaner, eigenständig über wirtschaftliche Probleme“ nachzudenken.31 Während CEPAL-Ideen weite Verbreitung und Popularität in Lateinamerika und vor allem unter lateinamerikanischen Eliten erlangten, hegte die Eisenhower-Administration eine tiefe Abneigung gegenüber der „ECLA Philosophie“. Die staatszentrierten und interventionistischen Empfehlungen der CEPAL stießen bei US-Amerikanern auf wenig Gegenliebe und wurden oft als „Staatssozialismus“ abgetan, der im direkten Gegensatz zu der US-Maxime der privatwirtschaftlichen Initiativen stand.32 Zudem beinhaltete die Botschaft der CEPAL-Kritik an der US-Rolle innerhalb der Weltwirtschaft und rüttelte am Eigenverständnis der USA, das sich aus dem Glauben an den eigenen Exzeptionalismus speiste. US-amerikanische Funktionäre beschwerten sich wiederholt, dass Lateinamerikaner aufhören müssten, „einen Sündenbock zu suchen“ und statt-

31 Zitiert nach: Prebisch, Achievements, S. 13. 32 Foreign Relations of the United States (FRUS). Vol. VI. 1955–1957, American Republics. Multilateral. Mexico Caribbean. Doc. 60. Memorandum from the Assistant Secretary of State for Inter-American Affairs, Holland, to the Under Secretary of State, Hoover. Washington, 29.3.1955.

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dessen ihre eigene Verantwortung und Schuld an ihrer Unterentwicklung akzeptieren müssten.33 Ab Mitte der 1950er Jahre bemühte sich das eigens berufene Eisenhower-Komitee, Committee on the Organization of American States, darum, die OAS „zu einem effektiveren Instrument in den Bereichen Finanz und Wirtschaft“ umzuformen.34 Dieses Vorgehen sollte nicht fälschlicherweise als eine Aufwertung der OAS interpretiert werden, sondern als Versuch, den Einfluss der CEPAL zurückzudrängen. Bei einem Treffen des Komitees im amerikanischen Außenministerium im August 1956, warnte der Bruder des Präsidenten und Leiter des Komitees, Milton Eisenhower: „Es scheint so, als ob die UN Institutionen in Lateinamerika entweder absichtlich oder unabsichtlich gegen die US Interessen arbeiten“ und deswegen „müssen wir jede Anstrengung unternehmen, die Organisation Amerikanischer Staaten zu stärken, um die regionalen UN Aktivitäten in diesem Bereich unnötig zu machen“.35 Durch das gesamte Jahrzehnt der 1950er Jahre hindurch beschwerten sich brasilianische Diplomaten über Washingtons Unnachgiebigkeit. „Bis jetzt wurde nichts oder fast nichts getan“ um von der CEPAL zu profitieren, die ohne Zweifel „die beste in Lateinamerika“ sei. „Der traditionelle Widerstand der USA gegen die Organisation und ihre Entwicklungsideen“ bedeutete, dass „die CEPAL nicht willkommen in Washington ist“.36 Der schwelende Konflikt fand seinen Höhepunkt auf der Konferenz in Buenos Aires im Jahr 1957. Die brasilianische Delegation berichtete erbost, Debatten seien getrieben von „einem tiefen Misstrauen gegenüber Staatsaktionen“, und hätten sich nur um eine US-Litanei über „Prinzipien der Buchführung“ gedreht, die auf veralteten kapitalistischen Vorstellungen aus der „viktorianischen Ära“ basierten.37 Das zentrale Problem der US-Wirtschaftspolitik, so der Tenor, könne exemplarisch an den Personen des Finanzministers Humphrey und des Außenministers Dulles aufgezeigt werden. Beide seien altmodische Geschäftsmänner,

33 FRUS. Vol. VI. 1955–1957. American Republics. Multilateral. Mexico Caribbean. Doc. 61. Memorandum from the Director of the Office of International Financial and Development Affairs, Corbett, to the Assistant Secretary of State for Economic Affairs, Waugh. Washington, 29.3.1955. 34 FRUS. Vol. VI. 1955–1957. American Republics. Multilateral. Mexico Caribbean. Doc. 123. Memorandum of Conversation, Department of State. Washington, 17.8.1956. 35 FRUS. Vol. VI. 1955–1957. American Republics. Multilateral. Mexico Caribbean. Doc. 123. Memorandum of Conversation, Department of State. Washington, 17.8.1956. 36 Centro de Pesquisa e Documentação de História Contemporânea do Brasil Archiv (CPDOC). EAP emb 1958.05.27. Peixoto Letter to President, April 1959. 37 CPDOC. EAP emb 1958.05.27. Report ‚Evolution of inter-American economic cooperation since the inter-American conference on the Problems of War and Peace (Mexico, March 1945)‘, der einen Bericht der brasilianischen Delegation einschließt. S. 54f.

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die zwar etwas von Handel verstünden, denen es aber an grundlegenden Kenntnissen in der Entwicklungsökonomie fehlen würde.38 Lateinamerikanische Politiker machten ähnliche Erfahrungen mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Deren Politik erschöpfte sich darin, verschuldeten Staaten fiskalische Unfähigkeit und politische Unverantwortlichkeit vorzuwerfen und ihnen Austeritätspakete zu schnüren. Dieses Beharren auf alten Rezepten erzürnte lateinamerikanische Politiker, die sich auf Studien der CEPAL beriefen. Diese Studien hatten aufgezeigt, dass viele Auswirkungen einer vermeintlich schlechten Haushaltspolitik, wie Inflation und Außenhandelsdefizite, in Wirklichkeit der Ungleichheit in der globalen Wirtschaft geschuldet waren. Aber davon ließen sich Technokraten in den internationalen Finanzinstitutionen nicht beirren. „Trotz der Expertise, welche sich auf wissenschaftliche Studien und praktische Beobachtungen stützt“, würden CEPAL-Ideen in internationalen Foren abgelehnt, „wo auch nur die Erwähnung dieser Fragen gewisse allergische Reaktionen hervorruft“, kommentierte der brasilianische Diplomat Ernâni do Amaral Peixoto verbittert. Diese Reaktionen wären nicht weiter erstaunlich, da Mitarbeiter von internationalen Organisationen aus westlichen Ländern stammten, die ihre „Vorurteile und wertenden Stereotype“ mitbrächten und grundsätzlich unempfänglich für alternative und heterodoxe Wirtschaftstheorien seien.39 Die Kubanische Revolution von 1959 läutete nicht nur den Beginn der Hochphase des Kalten Krieges in Lateinamerika ein, sondern führte auch zu einem Umdenken in Bezug auf die Entwicklungskooperationen und die Zusammenarbeit mit der CEPAL. Bereits 1954 war mit der US-Intervention in Guatemala eine Drohung an die Linke Lateinamerikas gerichtet worden. Doch ab 1959 reihte sich Krise an Krise. Die Invasion der Schweinebucht im Jahr 1961, unterstützt von den USA, und die Kubakrise 1962 zeugten von dem Beginn einer härteren Gangart der USA. Dieses Bild vervollständigte sich mit den Interventionen in Panama 1964 und in der Dominikanischen Republik 1965. Gleichzeitig putschte sich eine Reihe von Militärdiktatoren an die Macht in Lateinamerika.40 Zur gleichen Zeit versuchten die USA mit dem groß angekündigten Programm Allianz für den Fortschritt, die Entwicklung in Lateinamerika voranzutreiben und damit den Kommunismus einzudämmen. Obwohl in das inter-ame38 CPDOC. EAP emb 1958.05.27. Report ‚Evolution of inter-American economic cooperation since the inter-American conference on the Problems of War and Peace (Mexico, March 1945)‘, der einen Bericht der brasilianischen Delegation einschließt. S. 54f. 39 CPDOC. EAP emb 1958.05.27. Peixoto letter to Kubitschek, 12.12.1958. 40 Ab 1962 kommt es in Lateinamerika zu einer Reihe von Militärputschen: 1962 und 1966 in Argentinien, 1963 in Ecuador, 1964 in Bolivien, 1968 in Peru, nicht zuletzt Coups in Uruguay und Chile 1973, um nur einige zu nennen.

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rikanischen System eingebettet, blieb das Programm fest in der Hand der USAdministration. Unter dem Dach der Allianz für den Fortschritt kooperierte die USA mit der CEPAL sowie der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank (IADB). Zudem wurde Raúl Prebisch als Mitglied der Neun Weisen, einer international besetzen Beraterkommission, engagiert. Er erkannte jedoch bereits Ende 1962, dass die Allianz wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, und verließ den Rat, um sich vermehrt der CEPAL und später den Vorbereitungen der ersten UNCTAD-Konferenz zu widmen. Die US-Entwicklungspolitik und die autoritäre Wende in Lateinamerika waren eng miteinander verknüpft. Auch wenn in der Forschung weiterhin kontrovers diskutiert wird, ob die Unterstützung und Förderung autoritärer Kräfte von Beginn an ein dezidiertes Ziel der Allianz für den Fortschritt war, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass primär die politische Rechte und das Militär in Lateinamerika von US-Entwicklungsgeldern profitierten.41 Die 1960er Jahre in Lateinamerika zeichneten sich durch eine starke politische Polarisierung aus und die CEPAL gelangte allzu oft ins Kreuzfeuer ideologischer Debatten. Die CEPAL, deren Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle des Staates in der Entwicklung vorsah, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, sozialistische Tendenzen oder Sympathien zu hegen. Dieser Vorwurf sollte weitreichende Konsequenzen haben, denn der CEPAL sollte bald, vor allem in den USA aber auch in Lateinamerika, der Ruf anhängen, linkes Gedankengut zu verbreiten. Dies machte sie zur Zielscheibe für autoritäre Regime.

CEPAL goes global: die Gründung der UNCTAD, 1962–1964 Der Militärcoup in Brasilien fiel mit einem der größten Triumphe der CEPALIdeen zusammen: der ersten Welthandelskonferenz in Form der UNCTAD. Bereits in den 1940er Jahren waren Rufe nach einer Welthandelsorganisation, die den Bedürfnissen der Entwicklungsländer Sorge tragen sollte, laut geworden. Bei der Konferenz in Havanna 1947 und 1948 scheiterten jedoch die Verhandlungen zur Gründung einer Welthandelsorganisation. Mit der Dekolonisations-

41 Field, Thomas: From Development to Dictatorship. Bolivia and the Alliance for Progress in the Kennedy Era. London 2014; Loureiro, Felipe: The alliance for or against progress? US-Brazilian financial relations in the early 1960s. In: Journal of Latin American Studies 46 (May 2014). Nr. 2. S. 232–351. Ein milderes Urteil fällt Taffet, Jeffrey: Foreign Aid as Foreign Policy. The Alliance for Progress in Latin America. New York 2007.

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welle in den frühen 1960ern und den damit einhergehenden UN-Reformen zeichnete sich jedoch ein neues Szenario ab. Erste vorsichtige Annäherungen an neue, unabhängige Regierungen in Afrika und Asien machten deutlich, dass es zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht durchaus einen Konsens der unterentwickelten Länder gab. Vor allem gab es einen Konsens, dass den kleinen und schwächeren Mitgliedern des Staatenbundes mehr Raum und Einfluss eingeräumt werden müsste. Seit den 1960er Jahren stellten diese kleineren Staaten jedoch nicht nur die Mehrheit in den Vereinten Nationen, sondern repräsentierten auch einen Großteil der Weltbevölkerung. Da sie die politische, wirtschaftliche und moralische Mehrheit vertraten, beanspruchten sie für sich auch einen entsprechenden Teil der Macht und vor allem größere Mitspracherechte. Mit der Dekolonisierungswelle und dem Eintritt von neuen Staaten in die Vereinten Nationen ab 1960 begann gleichzeitig die globale Phase der CEPAL. Mit den sich daraus ergebenden neuen Mehrheiten war es nun möglich, auch auf internationaler Ebene strukturelle Reformen des Weltwirtschaftssystems anzustossen und vor allem Institutionen zu etablieren. In diesem Bestreben nahm die CEPAL eine zentrale Rolle als beteiligte Institution, aber auch als ideologische Kaderschmiede ein. Gleichzeitig mussten Reformen an die vorhandenen internationalen Strukturen angepasst werden. Ein eindrückliches Beispiel für diese große Herausforderung bietet die Einteilung der Staaten in fünf regionale Gruppen bei der Gründung der Vereinten Nationen: jeweils eine für Westeuropa, Osteuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien/Pazifik. Als Resultat entstanden heterogene regionale Gruppen, aus denen sich der Anspruch auf Vertretungen in Kommissionen und in Räten ableitete, die sich allerdings im Hinblick auf Größe und Macht deutlich unterschieden. Ein ebenso heterogenes Bild offenbart sich, wenn wir die GRULA, die Lateinamerika-Gruppe innerhalb der Vereinten Nationen, genauer betrachten. Ursprünglich bestehend aus 20 Staaten, wurden die neuen britisch-karibischen Staaten ebenfalls der lateinamerikanischen Gruppe zugeordnet. Ab 1962 erhöhte sich die Zahl auf 22 Mitgliedsstaaten und später auf über 30. Diese Konstellation führte zu Konflikten, denn die lateinamerikanischen Staaten waren nicht nur bevölkerungsmäßig deutlich größer und wirtschaftspolitisch um ein Vielfaches stärker als die karibischen Inselstaaten, hatten aber wie alle anderen auch nur eine Stimme. Damit hatte ein regionales Schwergewicht wie Brasilien genauso viel Mitbestimmungsrecht wie der Inselstaat St. Lucia. Zusätzlich erschwert wurde die Kohäsion der Gruppe durch die Tatsache, dass die britischkaribischen Staaten noch keine Mitglieder im inter-amerikanischen System wa-

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ren, wo viele Diskussionen zu regionalen Strategien geführt wurden.42 Diese Heterogenität zeigt auf, dass das internationale System vorhandene Konflikte zwischen den Entwicklungsländern verschärfte und ihre Zusammenarbeit erschwerte. Nichtsdestotrotz gelang es lateinamerikanischen Akteuren, Entwicklungsdebatten in den Vereinten Nationen entscheidend mitzuprägen, was sich programmatisch an der Gründung der UNCTAD nachvollziehen lässt. Lateinamerikanische Akteure und ihre Vorstellungen von Entwicklung beeinflussten die Entstehung der UNCTAD auf drei unterschiedlichen Wegen. In erster Hinsicht war Raúl Prebisch als Generalsekretär entscheidend, und zwar nicht nur in seiner Rolle als Verhandlungsführer, sondern mindestens ebenso als Agenda-Setter. Die Grundlage dieser Agenda, war auf einer Reihe von inter-amerikanischen Konferenzen gemeinsam mit der CEPAL gelegt worden. Zweitens waren es die Cepalistas in den lateinamerikanischen Regierungen, die nationale Debatten mitbestimmten. Und nicht zuletzt waren es die lateinamerikanischen Delegationen an der UNCTAD, die sich in der regionalen Gruppe C formierten, die entscheidend zur Schlussakte beitrugen. Warum gerade Lateinamerika? Hier lohnt es sich nochmals über Strukturen nachzudenken, die dies ermöglichten: Institutionen, Wissen, Personal/Experten. Lateinamerika profitierte von einem regionalen System mit der OAS und der CEPAL, wo Wissen generiert und regionale Politik organisiert werden konnte. Als Folge hatten sie nicht nur einen Wissensvorsprung, sondern waren zudem in der Lage, ihre Experten an strategisch wichtigen Positionen zu platzieren. Zudem gelang es den lateinamerikanischen Regierungen, im Vorfeld der Konferenz eine vereinte Front zu organisieren. Dies alles sollte sie von anderen Entwicklungsländern unterscheiden. Für all diese Vorteile hatten sie allerdings hart gekämpft. Trotz seiner Prominenz wurde Prebischs Kandidatur für die UNCTAD seitens der westlichen Regierungen erschwert, und dies nicht zum ersten Mal. Bereits 1948, als Prebisch ein Angebot des Internationalen Währungsfonds erhielt, hatte die Truman-Administration interveniert, so dass das Jobangebot zurückgezogen wurde.43 Dies bewog Prebisch schlussendlich dazu, das Angebot der CEPAL anzunehmen. 1962, als die Besetzung des Generalsekretärs der UNCTAD anstand, versuchte die Kennedy-Administration zusammen mit der britischen Regierung, seine Kandidatur zu verhindern. Sowohl die USA als auch Großbritannien wollten den Australier John Crawford aufstellen. Prebisch sei zu radikal, monierte die Kennedy-Administration, das British Foreign Office befand „Prebitsch (sic!)“ als 42 Kuba war bereits 1962 von der GRULA ausgeschlossen worden. 43 Dosman, Edgar J.: The Life and Times of Raúl Prebisch, 1901–1986. Montréal 2008. S. 231f.

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zu „gefühlsgeladen“ und das bundesdeutsche Auswärtige Amt zeigte sich besorgt über seine „kritische Einstellung gegenüber der westlichen Entwicklungspolitik“.44 Nach einigen Gefechten mussten sie allerdings eine Niederlage eingestehen, weil es für die Entwicklungsländer klar war, dass der zukünftige Generalsekretär aus ihren Reihen stammen musste. Im Februar 1963 wurde Prebisch zum Generalsekretär der UNCTAD ernannt und im November des gleichen Jahres begann er die Arbeit am Bericht Towards a New Trade Policy for Development, der später informell als Prebisch Report bekannt werden würde.45 Nicht nur seine Person, sondern auch sein Bericht lösten scharfe Kritik aus. Westliche Regierungen bemängelten den „politischen“ Charakter des Berichts und zweifelten das von Prebisch postulierte Phänomen des „trade gap“ an. Debatten in der Arbeitsgruppe zur UNCTAD in der britischen Administration förderten fundamentale Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Prebisch- Report zu Tage. Unter allen Umständen wolle man Debatten über rivalisierende wirtschaftliche Theorien vermeiden, so Vernon vom britischen Colonial Office. Man wolle Prebisch und seinen Unterstützern keine Bühne bieten für einen „happy hunting ground for economists (both sensible and lunatic)“.46 Stattdessen solle man sich auf praktische Vorschläge konzentrieren und die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien ignorieren. Vor allem wolle man keine Debatten über die historischen Wurzeln der Unterentwicklung führen, denn in den Augen der britischen Verantwortlichen läge die Schuld bei den unterentwickelten Ländern. Hätten sie eine andere Einstellung zu Privatkapital an den Tag gelegt, so die Debatten in der Arbeitsgruppe, dann könnten sie jetzt eine ähnliche Entwicklungsstufe vorweisen wie Australien. Woraufhin ein nicht näher benannter Beamter in den Raum stellte: „Wäre Argentinien von den Angelsachsen kolonisiert worden, statt den Spaniern, und sie hätten die Indianer umgebracht, dann hätten sie den gleichen Lebensstandard wie Australien.“47 Kurzum, Ent-

44 The National Archives, Kew (TNA). CO 1056/95. United Nations Conference on Trade and Development – Prebisch proposals 1963–1965. Interdepartmental Group on the United Nations Conference on Trade and Development. The Prebisch Report, 20.5.1964; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA). Konferenzen 1962–1965. B 30 379. Telegramm aus New York. Tagung des Vorbereitenden Ausschusses der Welthandelskonferenz, 18.1.1963. 45 Prebisch report E/CONF.46/3. 46 TNA. CO 1056/95. United Nations Conference on Trade and Development – Prebisch proposals 1963–1965. Vernon an Jones, 17.3.1964. 47 TNA. CO 1056/95. United Nations Conference on Trade and Development – Prebisch proposals 1963–1965. Vernon an Jones, 17.3.1964. Vernon intervenierte nach dieser Aussage und stellte klar, dass er diese Behauptungen für „unrealistisch“ halte, jedoch nicht auf den offensichtlich rassistischen Unterton einging.

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wicklungsländer seien nicht nur kulturell und wirtschaftlich rückständig, sondern auch selbst dafür verantwortlich. Ähnlich kritisch betrachtet wurden die politischen Positionen der lateinamerikanischen Delegationen im Vorfeld der UNCTAD, angetrieben von Befürchtungen, dass polemische Debatten gegenüber dem Westen die sowjetische Position stärken würden. Die Brasilianer befänden sich „auf einem Kreuzzug“, beschwerte sich Isaiah Frank, Chef der US-amerikanischen Delegation.48 Die „politischen Ambitionen“ Brasiliens alarmierten ebenso Diplomaten des Auswärtigen Amtes. Brasilien hätte sich „im Vorbereitenden Ausschuss immer mehr zum Exponenten radikaler Forderungen gemacht“ und sei „dem Einfluss der Vereinigten Staaten weitgehend entglitten.“ Es sei nicht „ausgeschlossen, dass Brasilien auf der Welthandelskonferenz versuchen wird, sich zum Bannerträger des wirtschaftspolitischen Neutralismus zu erheben und Jugoslawien und die VAR [Vereinigte Arabische Republik] als Führungsmächte der Gruppe der Kairoländer zu ersetzen.“ Diese Entwicklung sei auch deswegen „politisch bedeutsam, weil damit die Initiative in Fragen der Entwicklungspolitik zum ersten Mal in bedeutendem Umfang auf ein lateinamerikanisches Land übergehen würde.“49 Schlussendlich sollten sich diese Befürchtungen nicht bewahrheiten, wie US-amerikanische Berichte bald entwarnten: „Die LDCs [lesser developed countries] sehen die Konferenz als ihre eigene an“, die sich „mit ihren Problemen zu beschäftigen“ habe. Sie hätten daher wenig Interesse, dass Ost-West Feindseligkeiten in diesem Forum ausgetragen werden.50 Die inter-amerikanische Konferenz von Alta Gracia, veranstaltet vom gemeinsamen Komitee der OAS und der CEPAL (CECLA), legte die Verhandlungsbasis für die bevorstehende UNCTAD in Form der Charta von Alta Gracia.51 „Eine neue Ordnung wird gerade von den entwickelten Ländern etabliert“ und die unterentwickelten Länder müssten ihre eigene neue Ordnung finden, warnte Raúl Prebisch in seiner Ansprache in Alta Gracia, Argentinien, im Frühjahr 48 National Archives and Records Administration (NARA). General Records of the Department of State (RG 59). Box 7. Entry 206. Bureau of International Organization Affairs. Office of International Conferences. Records Relating to the UN Conf on Trade and Dev’t. Report of US Delegation to 1963 UNCTAD conference in Geneva, 21.5.–19.6. 49 PA AA. Konferenzen 1962–1965. B 30 379. Dienststelle des Beobachters der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. Tagung des Vorbereitenden Ausschusses für die Welthandelskonferenz, 14.2.1963. 50 NARA. RG 59. Box 7. Entry 206. Bureau of International Organization Affairs. Office of International Conferences. Records Relating to the UN Conf on Trade and Dev’t. Report of US Delegation to 1963 UNCTAD conference in Geneva, 21.5.– 29.6. 51 Die CECLA, ein Akronym des spanischen Titels Comité Especial para la Coordinación Latinoamericana, wurde 1963 ins Leben gerufen, um die Arbeit zwischen der OAS und der CEPAL zu koordinieren und den Zusammenhalt zwischen beiden Organisationen zu stärken.

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1964.52 In die Charta flossen unzählige Studien der CEPAL, Berichte der OAS und Konferenzbeschlüsse ein.53 Im Vergleich zu den Dokumenten der anderen regionalen Wirtschaftskommissionen sticht die Charta ob ihrer Länge und ihres Detailreichtums hervor. Schon hier zeigten sich deutlich die unterschiedlichen Ressourcen, materiell wie intellektuell, welche die verschiedenen regionalen Gruppen in die Vorbereitung der UNCTAD investierten. Am 23. März wurde die Konferenz eröffnet. Mit mehr als 4.000 Delegierten aus 119 Ländern und 62 nationalen wie internationalen Organisationen war die Konferenz ein globales Ereignis. Ernesto Guevara, der die revolutionäre kubanische Regierung vertrat, war, zumindest für manche, der Star der Konferenz. Neben Guevara war Prebisch der einzige, der tosenden Applaus erntete. Von Anfang an war die lateinamerikanische Gruppe dominant.54 Die lateinamerikanischen Delegationen waren fester Bestandteil der Gruppe der 75 (später der G-77), welche den Block der Entwicklungsländer innerhalb der Vereinten Nationen repräsentierte. Innerhalb der G-75 zeichneten sie sich, sowohl in ihrer Rhetorik als auch in ihren politischen Forderungen, durch ihre moderate Haltung aus.55 Sie verfolgten eine eigene Entwicklungspolitik, die auf Austausch und Aushandlung mit den westlichen Staaten, und weniger auf Konfrontation ausgerichtet war. Es sei wichtig, pragmatische Lösungen zu finden, so die Instruktionen für die brasilianische Delegation.56 Etwas überrascht bemerkten USamerikanische Diplomaten, dass die lateinamerikanischen Vorstellungen den westlichen nicht unähnlich waren und sie eine Politik des „konstruktiven Konsens“ betrieben, um einen erfolgreichen Abschluss der Konferenz zu sichern.57 Und sie waren erfolgreich damit. Dank des diplomatischen Geschicks von Prebisch gelang es, die UNCTAD als Institution und feste Größe innerhalb der Struktur der Vereinten Nationen zu etablieren. Auch die Vorarbeit der CEPAL

52 OAS Archiv. Address by Raúl Prebisch, Secretary-General of the United Nations Conference on Trade and Development, at the fourth plenary session held on 2.3.1964. UP/CIES 7/CECLA/ 39. 53 OAS Archiv. Charter of Alta Gracia. UP/CIES-7/CECLA/47 Rev.2. 54 Dosman, The Life, S. 399f. 55 Aus der Gruppe C, Lateinamerika, und D, Asien und Afrika, sollte sich an der UNCTAD die Gruppe der 75, später bekannt als die G-77, herausformen, die damit die politische Stimme der Dritten Welt innerhalb der Vereinten Nationen repräsentierte. 56 CPDOC. GMa mre 1964.00.00/1. Instructions for Brazilian delegation at CNUCD (UNCTAD). 57 NARA. RG 59. Box 7. Entry 206. Bureau of International Organization Affairs, Office of International Conferences, Records Relating to the UN Conf on Trade and Dev’t. Memorandum Richard Hagan, „Briefing on UNCTAD by Assistant Secretary G. Griffith Johnson, Chairman of the United States Delegation“, 22.4.1964.

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und der lateinamerikanischen Regierungen in Form der Charta von Alta Gracia sollte Früchte tragen, da viele Passagen der Charta von Alta Gracia direkt in die Schlussakte der UNCTAD übernommen wurden. Dieser Moment des Triumphes der CEPAL und der lateinamerikanischen Delegation sollte jedoch von einem anderen Ereignis überschattet werden: dem brasilianischen Militärputsch am 31. März. Auch wenn damals nicht absehbar, bedeutete der Coup das Ausschalten der brasilianischen Demokratie für die nächsten 20 Jahre und, noch schlimmer, er war der Vorbote für eine ganze Welle von Militärputschen in Lateinamerika. Im Endeffekt sollte sich abzeichnen, dass die Lateinamerikaner zwar die UNCTAD „gewonnen“ hatten, aber die Demokratie in ihren eigenen Ländern verloren.

Die CEPAL in der politischen Opposition, 1964–1973 Nach dem brasilianischen Militärputsch im April 1964 wurde die Situation für viele Cepalistas, die in der Administration des brasilianischen Präsidenten Goulart gearbeitet hatten, brenzlig. Ins Visier geriet an erster Stelle Celso Furtado, der ehemalige Planungsminister. Furtado fand Asyl in Santiago de Chile, und zwar im 1962 gegründeten ILPES, dem Lateinamerikanischen Institut für Wirtschafts- und Sozialplanung (Instituto Latinoamericano de Planificación Económica y Social). Noch reichte der Arm des brasilianischen Militärregimes nicht bis nach Chile und so waren die brasilianischen Wirtschaftswissenschaftler vorerst sicher. Im Gegenzug opponierte das brasilianische Militärregime noch stärker gegen die CEPAL und drohte, die Finanzierung einzustellen. Der Putsch in Brasilien, der exemplarisch für die aufkommende autoritäre Wende in Lateinamerika stand, lieferte den Cepalistas die bitterere Erkenntnis, dass sie gescheitert waren. Ihnen war es nicht gelungen, politische und soziale Entwicklungen innerhalb eines demokratischen Systems zu verfestigen. Die Erfahrungen des Exils und der autoritären Wende führten dazu, dass sich die Ideen der CEPAL radikalisierten und innerhalb der Institution ein deutlicher Richtungswechsel eingeläutet wurde. Bereits in den frühen 1960er Jahren hatten führende Cepalistas, unter ihnen auch Raúl Prebisch, angemahnt, dass ihre ursprünglichen Annahmen einer Überarbeitung bedurften. Am deutlichsten wurde Prebisch in seinem UNCTAD-Bericht, in welchem er eine Abkehr von der im-

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port-substituierenden Industrialisierung (ISI) empfahl, die in den 1950er Jahren ein Kernstück der CEPAL- Maßnahmen war.58 Eine noch viel radikalere Position vertrat Fernando Henrique Cardoso, seit 1958 Professor der Soziologie an der Universität São Paulo. Das Aufkommen von Militärdiktaturen und der wachsende Einfluss von multinationalen Konzernen, die die Militärregime stützten, ließen Cardoso ebenso an dem CEPAL Dogma der ISI zweifeln. Stattdessen argumentierte er, dass die Gemengelage von „offenen Märkten, Staatsrepression und minimalem Staat“, in anderen Worten der aufkommende Neoliberalismus, welcher bald die Wirtschaftspolitik der Diktaturen bestimmen sollte, neue Lösungsansätze notwendig mache.59 Nach dem Putsch musste Cardoso, wie viele andere in Brasilien, das Land verlassen. Er ging, wie Furtado, ins Exil nach Santiago de Chile. Dort entstand, in Zusammenarbeit mit dem Chilenen Enzo Faletto, Professor an der Universidad de Chile, sein wohl bekanntestes Werk: Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika. Auch wenn Cardosos Ideen für manche die Geburtsstunde der Dependenztheorien markieren, stand er den späteren Vertretern der Dependenztheorien sehr kritisch gegenüber. Vor allem die Abhandlungen Immanuel Wallersteins und André Gunder Franks lehnte er ab, indem er sie, in einer offensichtlichen Anlehnung an das Konzept des Vulgär-Marxismus, als Vulgär-Dependenz betitelte.60 In gewisser Weise stellte diese radikale Weiterentwicklung die letzte Stufe in der Globalisierung von CEPAL-Ideen dar. Die von Wallerstein und Gunder Frank propagierten Welt-System-Theorien wurden allerdings vor allem außerhalb Lateinamerikas bereitwillig aufgenommen und zur festen ideologischen Basis für die proklamierte Politik der Solidarität mit der Dritten Welt.61 In Lateinamerika selbst, zu diesem Zeitpunkt fast vollständig unter rechtsgerichteten Militärdiktaturen, wurden die als kommunistisch verschrienen Theorien aus den Universitäten und öffentlichen Diskursen verbannt. Auch in der CEPAL selbst fanden sie wenig Widerhall, waren sie doch zu radikal und zu soziologisch geprägt. Vorerst war die CEPAL in Chile sicher, besonders nach der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten 1970. Allende in Chile und Echeverría in Mexiko verkörperten eine zweite Generation lateinamerikanischer Staatsmänner, die für eine neue Weltwirtschaftsordnung kämpften, jedoch radikaler und weniger 58 „Towards a New Trade Policy for Development“, Report by the Secretary-General Raúl Prebisch, United Nations Conference on Trade and Development, UN LC/G.2699. 59 Zitiert nach: Dosman, The Life, S. 413. 60 Cardoso, Fernando Henrique: The consumption of dependency theory in the United States. In: Latin American Research Review 12 (1977). Nr. 3. S. 7–24. 61 Wallerstein, Immanuel: The Modern World-System I. New York 1974.

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kompromissbereit waren als die erste Generation der 1960er Jahre. Beide Regierungen setzten sich für einen Versöhnungskurs mit Kuba ein, das 1962 aus der OAS ausgeschlossen worden war und dem 1964 Sanktionen auferlegt wurden.62 Obwohl man auf den ersten Blick vermuten könnte, dass die CEPAL und die Allende-Regierung durchaus gemeinsame politische Interessen teilten, war ihre Beziehung nicht immer einfach. Ein Grund dafür war Kuba. Die Entscheidung der CEPAL, Kuba von den Verhandlungen der CECLA (Special Latin American Coordinating Committee) auszuschließen, und damit aus dem Komitee, welches die Zusammenarbeit der CEPAL mit der OAS koordinierte, stieß auf deutliche Kritik Chiles. Seit seiner Gründung im Jahr 1963 zur Vorbereitung der ersten UNCTAD war das Komitee zu einem einflussreichen Akteur in der inter-amerikanischen Politik aufgestiegen. Die CECLA war unter anderem verantwortlich für das Aufsetzen des Consensus of Viña del Mar 1969, welcher die US-lateinamerikanischen Beziehungen neu definieren sollte, als auch der Declaration of Buenos Aires 1970, welche eine gemeinsame Position gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft festlegte. Die OAS zeigte sich damit unversöhnlich gegenüber Kuba, das in dieser Zeit eine vorsichtige Annäherung an die Organisation anstrebte. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten ließ es sich Allende nicht nehmen, die vierzehnte Sitzung der CEPAL im April 1971 persönlich zu eröffnen. Die Allende-Regierung erklärte sich sogar bereit, die dritte UNCTAD in Santiago de Chile auszurichten, auf welcher der mexikanische Präsident Echeverría die Idee einer Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten von Staaten einbrachte. Die Konferenz produzierte jedoch so wenige handfeste Resultate, dass der algerische Außenminister Abdelaziz Bouteflika enttäuscht konstatierte, dass „der Weg der wirtschaftlichen Emanzipation der Dritten Welt … nicht über die UNCTAD“ realisiert werden könnte. 63 Auch diese zweite Generation der Dritte-Welt Politik sollte scheitern. Kein Beispiel zeigt dies besser als Chile, dessen demokratische Regierung kurz darauf durch einen Militärcoup gestürzt wurde. Nach dem Militärputsch im September 1973 wurde die politische Situation der CEPAL kritisch. Das Pinochet-Regime stand der CEPAL ausgesprochen feindselig gegenüber und lehnte deren Ideen rundweg ab, waren sie doch diametral den eigenen neoliberalen Ansätzen entgegengesetzt. CEPAL-Angestellte hatten als UN-Mitarbeiter zwar diplomatische Immunität, dennoch wurden sie früh zur Zielscheibe der Militärdiktatur. Zwei bolivianische Studenten, die als Werkstudenten für die Kommission arbeiteten, wurden 62 OAS Archiv. Resolution I Applications of Measures to the Present Government of Cuba. OEA/Ser.F/II.9. 63 Zitiert nach: Harmer, Allende, S. 163.

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in der Nacht des Coups als Teil einer größeren Säuberungsaktion ermordet. Kurz nach dem Putsch wurde Fernando Olivares Mori, der für das Centro Latinoamericano de Demografía (das lateinamerikanische Zentrum für Demographie) arbeitete, am Eingang der CEPAL und vor den Augen seiner Kollegen festgenommen und verschwand.64 Drei Jahre später gab es einen weiteren Fall: Im Juli 1976 verhaftete die chilenischen Geheimpolizei DINA den Spanier Carmelo Soria, folterte und ermordete ihn. Der Fall Soria führte zu einer globalen Solidaritätskampagne und mag einer der Gründe gewesen sein, warum es keine weiteren Opfer aus der CEPAL gab. Ein möglicher Grund für das harte Vorgehen des Pinochet-Regimes war die Tatsache, dass die oberen Kader der CEPAL zusammen mit dem UN-Flüchtlingswerk, anderen NGOS in Chile sowie in Zusammenarbeit mit anderen lateinamerikanischen Botschaften ein Netzwerk betrieben, um chilenischen Dissidenten aus dem Land zu helfen.65 Die 1970er Jahre markierten damit den Endpunkt eines beachtlichen Wandels der CEPAL: von einer unverfänglichen Institution der Vereinten Nationen, deren Auftrag es war, technische Antworten zur Entwicklung zu finden, hin zu einer politischen Institution, die eine zentrale Rolle in der Neudefinition der Beziehung zwischen Lateinamerika und der Dritten Welt spielen sollte. Gleichzeitig zeigt die Geschichte der CEPAL auf, wie eng seit den späten 1960er Jahren Fragen der Entwicklung mit denen der Menschenrechte verknüpft waren.

Fazit Mit ihrer Analogie eines Zentrums und einer Peripherie legte die CEPAL eine intellektuelle Grundlage für die Idee einer Dritten Welt: einer Dritten Welt, die sich vor allem über strukturelle Unterentwicklung definierte. Die CEPAL stand damit an vorderster Front im Kampf um intellektuelle Freiräume und Unabhängigkeit nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in der gesamten Dritten Welt. Ihre Geschichte unterstreicht die Schlüsselrolle, die Institutionen in der Produktion und Dissemination von alternativen Wissensbeständen und -kanälen spielten. Damit bietet sie einen Knotenpunkt, um die Geschichte Lateinamerikas mit der des Globalen Südens zu verknüpfen und die Dekolonisierungskluft zu überwinden. 64 Interview. Intervención de Alicia del conversatorio „CEPAL: Memorias 65 Interview. Intervención de Alicia del conversatorio „CEPAL: Memorias

Bárcena, Secretaria Ejecutiva de la CEPAL, con ocasión del 73“, 8.11.2016. Bárcena, Secretaria Ejecutiva de la CEPAL, con ocasión del 73“, 8.11.2016.

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Inwiefern es sich bei Entwicklungsdebatten in Lateinamerika um einen Nord-Süd-Konflikt oder eher Dialog handelt, ist nicht immer sicher zu klären. Lateinamerikanische Aktionen waren weniger gegen die alten Kolonialmächte gerichtet als gegen die USA. Ihre Politik war daher nicht von Antikolonialismus, sondern vom Anti-Imperialismus geprägt. Gleichzeitig bemühten sich lateinamerikanische Regierungen und auch die CEPAL um enge Beziehungen zu den USA, zum einen aus pragmatischen Gründen, zum anderen eben auch, weil sie sich als Teil eines erweiterten „kulturellen Westens“ verstanden. Insofern oszillierten lateinamerikanische Akteure zwischen einer Dritten-Welt- und einer sehr stark auf den Westen ausgerichteten Politik. Die Geschichte der Entwicklung ist daher weniger eine der Solidarität der Dritten-Welt, sondern eben auch eine Geschichte eines Süd-Süd-Konflikts. Während sich der Streit über Entwicklung und das globale Wirtschafssystem vordergründig an wirtschaftswissenschaftlichen Theorien entfachte, legte er im Hintergrund sehr viel problematischere Hierarchien und globale Ungleichheiten frei: eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit hinsichtlich der Entstehung der Dritten Welt. War sie ein Resultat eines fundamental unfairen Weltwirtschaftssystems? Oder eher eine Folge von schwachen staatlichen Institutionen, eines Mangels an wirtschaftlichem Engagement und letztendlich der Beweis für die kulturelle oder (wie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde) ethnische Unterlegenheit? Die CEPAL jedoch und viele lateinamerikanische Regierungen, die sich auf deren Studien beriefen, formulierten ein Gegennarrativ, welches globale Ungleichheiten mit der kolonialen Vergangenheit und einem unfairen globalen Wirtschaftssystem in Verbindung brachte. Mit dieser alternativen Position zur Unterentwicklung stießen sie auf erheblichen Widerstand, weil sie damit an den Grundfesten des Eigenverständnisses der USA und Europas rüttelten. Dies erklärt auch die erbosten Reaktionen auf den Prebisch Report. Es wäre kein „historischer Unfall“ gewesen, echauffierten sich britische Beamte, dass die Industrielle Revolution im Vereinigten Königreich begann und dann auf andere europäische Länder übergriff, sondern die kulturelle und politische Überlegenheit des Westens.66 Indem die CEPAL genau diese historische Darstellung anzweifelte, wurde sie in westlichen Zirkeln zur institutio non grata.

66 TNA. CO 1056/95. United Nations Conference on Trade and Development – Prebisch proposals 1963–1965. Interdepartmental Group on the United States conference of Trade and Development. The Prebisch Report, 20.3.1964.

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Unequal exchange? Post-koloniale Wirtschaftsordnung, Handelsliberalisierung und die UNCTAD In einem Interview mit der Welt im August 2018 forderte der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller die zoll- und quotenfreie Einfuhr afrikanischer Produkte in die EU. Unter Verweis auf den Rückgang der EU-Importe aus sowie der Steigerung der Exporte nach Afrika sei eine Öffnung der europäischen Märkte, die von milliardenschweren Subventionen und umfangreichen protektionistischen Maßnahmen geprägt seien, die einzige Lösung, um die wirtschaftliche Entwicklung, vorrangig die Beschäftigungsquoten, auf dem afrikanischen Kontinent zu steigern. Müller sprach dezidiert von einem „Marshallplan mit Afrika“ und bediente zudem die Verknüpfung von Handel und wirtschaftlicher Entwicklung. Aus seiner Sicht nehme ein solcher Ansatz tagesaktuellen Problemen, allen voran der Flüchtlingsproblematik, mittelfristig ihre Brisanz.1 Die Erfahrung der „Flüchtlingskrise“ mag in ihrer Dimension neu für die Politiker*innen Europas gewesen sein. Die in diesem Zusammenhang von Müller gestellten Forderungen sind es hingegen nicht. Sie entstanden bereits vor mehr als 70 Jahren im Zuge der „dritten Welle“ der Dekolonisation und entsprachen im Kern jenen, die seit Dekaden von den „Entwicklungsländern“2 artikuliert werden. Die politische Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien zog keineswegs eine wirtschaftliche Unabhängigkeit und Gleichbehandlung nach sich. Aus diesem Grund intensivierte sich die internationale Zusammenarbeit postkolonialer Staaten im 20. Jahrhundert.3 Seit der

1 Vgl. „Afrikas Jugend wird sich nicht auf die Flucht begeben“. In: Welt. 08.08.2018. https:// www.welt.de/politik/deutschland/article180719506/Entwicklungsminister-Mueller-Afrikas-Jugend-wird-sich-nicht-auf-die-Flucht-begeben.html. (24.09.2019). 2 Im Folgenden werden Begriffe wie Entwicklungsländer, Industrieländer, globaler Süden, globaler Norden trotz des Bewusstseins um eine notwendige Historisierung aus Gründen der Lesbarkeit ohne Anführungszeichen geschrieben. „Entwicklungland“ entspricht in der deutschen Übersetzung dem Quellenbegriffen „developing country“ beziehungsweise „less developed country“, die synonym verwendet werden. 3 Als Vorläufer kann die antikoloniale Kooperation seit den 1920er Jahren betrachtet werden. Siehe dazu unter anderem Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München/Boston 2015. S. 54–57; Prashad, Vijay: The Darker Nations. A People’s History of the Third World. New York/London 2007. S. 3–30. https://doi.org/10.1515/9783110682625-007

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Konferenz von Bandung 1955 vertieften sich bereits existierende Kooperationen zwischen den Ländern des globalen Südens im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Knapp eine Dekade später entstand 1964 durch die Initiative afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Länder die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD). Das etablierte UNCTAD-Sekretariat, insbesondere der erste Generalsekretär Raúl Prebisch, prägte die Debatten über die globale Wirtschafts- und Finanzordnung sowie die internationale Entwicklungspolitik intellektuell und argumentierte für eine Gleichberechtigung der nicht industrialisierten Länder im Weltsystem. Seinen Höhepunkt fand das Ringen um eine „gerechte“ postkoloniale Weltwirtschaftsordnung am 1. Mai 1974, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Sechsten Sondersitzung die Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung (NWWO)4 verabschiedete. Der vorausgegangene „Ölpreisschock“ von 1973 wirkte dabei als Katalysator für die Aktivitäten der Entwicklungsländer auf der internationalen Bühne. In Folge dessen öffnete sich, wie Nils Gilman es bezeichnete, „[…] a narrow and specific window of geopolitical opportunity, a ’moment of disjunction and openness’, when wildly divergent political possibilities appeared suddenly plausible.“5 Die NWWO sollte eine neue globale Ordnung auf der Grundlage von Gleichheit, Interdependenz, gemeinsamer Interessen und Kooperation aller Staaten befördern.6 Aus heutiger Perspektive scheinen die formulierte Erklärung sowie das Programm – die letztlich beide nur feierliche Willensbekundungen ohne (völker-)rechtliche Verbindlichkeit waren – wie die Skizze für eine komplett andere Zukunft und wenig der uns bekannten Gegenwart entsprechend. Um die Formulierung einer NWWO zu erreichen, arbeiteten seit Mitte der 1950er Jahre sehr diverse Länder kooperativ zusammen. Unterschiede zwischen ihnen bestanden nicht nur hinsichtlich des Zeitpunktes ihrer Dekolonisierung und ihrer politischen Verfasstheit, sondern ebenso bezüglich ihrer sozioökonomischen Ausgangslage. All diesen Unterschieden zum Trotz fanden sie sich in einer kurzen Phase unter einem gemeinsamen ‚Label‘ zusammen und verfolgten solidarisch ein kollektives Ziel. Hieraus leiten sich zentrale Leitfragen des Bei4 Vgl. A/Res/S-6/3201. Declaration on the Establishment of a New International Economic Order. 1.5.1974; Für die Erklärung wird im Folgenden das deutsche oder englische Akronym NWWO (Neue Weltwirtschaftsordnung) beziehungsweise NIEO (New International Economic Order) verwendet. 5 Gilman, Nils: The New International Economic Order. A Reintroduction. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 6 (2015). Nr. 1. S. 1–17. Hier S. 1. 6 Diese Begriffe werden in der Deklaration als grundlegende Konzepte benannt und auch unter §4 weiter ausgeführt.

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trags ab: Wie und warum fanden sie sich zusammen? Welche nationalen und internationalen Akteure spielten eine besondere Rolle bei der Etablierung der kooperativen Vorgehensweise? Inwiefern bedienten diese Akteure spezifische Semantiken, Begriffe oder Konzepte, um eine Einheit zu konstruieren? Wer oder was vereinte sie? Darüber hinaus fragt der Beitrag danach, welche Schritte es zur Erklärung der NWWO bedurfte und wie sich die Genese des Inhalts gestaltete. Zudem gilt es, die Etablierung sowie die Funktion und die Relevanz der UNCTAD im Ringen um eine alternative, postkoloniale Wirtschaftsordnung zu eruieren. Eine zentrale These besteht darin, dass die UNCTAD es schaffte, diverse Staaten für einen gewissen Zeitraum hinter einer gemeinsamen Agenda zu versammeln. Rückgreifend auf einen politik- und ideengeschichtlichen Ansatz sollen sowohl die diversen Akteure und deren Interessen als auch die mit ihnen verbundenen Ideen herausgestellt werden. Mit Blick auf die Debatten über die NWWO zeigen sich deutliche Verschiebungen, Kopplungen und Überschneidungen der konkurrierenden Ordnungsmodelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls wird deutlich, dass die Konfliktlinien, die Logiken und die Kategorien des durchaus prägenden Kalten Krieges weniger stringent waren als lange von der Zeitgeschichtsforschung angenommen. Für mindestens zwei Jahrzehnte bis in die frühen 1980er Jahre war das diametrale Ordnungsmodell „Nord-Süd“ ebenso relevant für globale Themen wie Handel und Entwicklung, Letztere verstanden als Dreiklang von steigendem Lebensstandard, Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den bereits entwickelten und den sich entwickelnden Gesellschaften sowie wirtschaftlicher Souveränität der Staaten der „Dritten Welt“. Als Grundvoraussetzungen für eine sozioökonomische Entwicklung forderten die Länder des globalen Südens umfangreiche Reformen der wirtschaftlichen Strukturen sowie eines Anstiegs der Transferleistungen von Nord nach Süd. Ihnen ging es um permanente Souveränität über Rohstoffe inklusive eines eigenverantwortlichen Abbaus; eine Stabilisierung der Rohstoffpreise sowie einen gesicherten Export; einen verbesserten Marktzugang in den industrialisierten Ländern (des Nordens); Technologietransfer und erhöhte Hilfsleistungen; Schuldenerlass und verbessertes Schuldenmanagement; die Kontrolle über ausländische Direktinvestitionen; sowie spezielle Programme für am wenigsten entwickelten Länder. Darüber hinaus forderten sie mehr beziehungsweise gleichrangigen Einfluss auf die Entscheidungen in internationalen Organisationen. All diese Kernelemente hinsichtlich der Felder Entwicklung und Handel finden sich in der NWWO von 1974 wieder, wobei sich die spezifischen Details in den Debatten vor 1974 schrittweise ausformten. Daher setzt der Beitrag zeitlich nach der Afrikanisch-Asiatischen Konferenz in Bandung 1955 ein. Erst in deren Folge nahm die Kooperation der Bündnisfrei-

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en rapide zu, und der grundsätzliche thematische Rahmen für das großangelegte Reformziel bildete sich sukzessive heraus. Um die Genese der Reformideen zu fassen, sind die Konferenzen der Bündnisfreien und später die Ministerkonferenzen der „Gruppe der 77“ (G-77) sowie die Gipfelkonferenzen der UNCTAD ein fortwährender Bezugspunkt. Somit folgt der Beitrag zumeist chronologisch diesen Zusammenkünften der Länder des globalen Südens und zeigt anhand der formulierten Dokumente und Erklärungen auf, wie und weshalb bestimmte Inhalte konsistent blieben beziehungsweise an die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen angepasst wurden und letztlich in die Erklärung über eine Neue Weltwirtschaftsordnung einflossen.

Belgrad, Kairo, Genf – Zur Geburt der UNCTAD All of us, I am certain, are united by more important things than those which superficially divide us. We are united, for instance, by a common detestation of colonialism in whatever form it appears. We are united by a common detestation of racialism. And we are united by a common determination to preserve and stabilise peace in the world. (22) […] The peoples of Asia and Africa wield little physical power. Even their economic strength is dispersed and slight. We cannot indulge in power politics. Diplomacy for us is not a matter of the big stick. […] What can we do? We can do much. We can inject the voice of reason into the world affairs. We can mobilise all the spiritual, all the moral, all the political strength of Asia and Africa, 1,400,000,000 strong, far more than half the human population of the world, we can mobilise what I have called the Moral Violence of Nations in favour of peace. (24) […] Make the ‚Live and let live‘ principle and the ‚Unity in Diversity‘ motto the unifying force which brings us all together (28) […]. And let us remember, Sisters and Brothers, that for the sake of all of us, we Asians and Africans must be united. (29)7

Mit diesen Worten rief der indonesische Präsident Sukarno bei seiner Eröffnungsrede8 in Bandung 1955 die 29 teilnehmenden Delegationen aus afrikanischen und asiatischen Staaten9 zu einem kooperativen Verhalten in der Weltpolitik auf und bot zugleich eine Basis für die notwendige Solidarität und Koope7 Speech by President Sukarno of Indonesia at the Opening of the Conference. In: Asia-Africa Speaks from Bandung. Hrsg. von The Ministry of Foreign Affairs, Republic of Indonesia. Djakarta 1955. S. 22–29. [Hervorhebungen im Original; spezifische Seitenangaben in Klammern]. 8 Interessanterweise benutzt Sukarno für die kollektive Selbstzuschreibung entweder den in den USA geprägten Begriff „under-developed“ – auch mit Anführungszeichen – oder den Term „East“. In Bandung zeichnet sich somit noch keine Dichotomie zwischen Nord und Süd ab. 9 1955 ist bereits das Gros der teilnehmenden Staaten unabhängig. Nur die Goldküste (Ghana), Sudan sowie die beiden Teile Vietnams sind nicht souverän bzw. als Staat konstituiert und entsandten Vertreter der jeweiligen Übergangsregierungen.

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ration an. Die Erfahrung von Kolonialismus, Rassismus und Krieg sei allen teilnehmenden Delegationen gemein. Nur durch gegenseitiges Verständnis sowie ein kollektives Auftreten könne die Weltpolitik in deren Sinne gestaltet werden. Insbesondere die Sicherung des Friedens und die Forderung nach dem Ende des kolonialen Systems brachte die Delegation aus 29 Ländern in Indonesien zusammen.10 Über diese politischen Ziele hinaus bekräftigen die teilnehmenden Nationen (und Kolonialländer) auch die Forderungen nach einer gerechten Weltordnung, einer verstärkten wirtschaftlichen Kooperation und das gemeinsame Ziel einer weitreichenden Stabilisierung der Rohstoffpreise.11 So ging von der Afrikanisch-Asiatischen Konferenz in Bandung 1955 ein erster Impuls für die zukünftige Kooperation der Länder des globalen Südens in diversen Bereichen aus. Zeitgleich mit der politischen Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialländer nahm zudem der Anspruch unter den neuen Eliten in den Ländern des globalen Südens zu, sich von den ehemaligen Mutterländern wirtschaftlich zu emanzipieren.12 Das (politische) Projekt „Dritte Welt“ beinhaltete somit bereits frühzeitig drei Stränge, welche die Interdependenz von Ökonomie und Politik aufgriffen. Erstens existierte die Idee einer afro-asiatischen Allianz, die in Bandung Gestalt annahm und sich in Folge der Konferenz vertiefte. Damit war, zweitens, das teilweise konkurrierende Konzept der Bündnisfreiheit verknüpft. Und drittens verstärkte sich seit dem Ende der 1950er Jahre kontinuierlich die wirtschaftliche Komponente.13 10 So merkte auch der indische Premierminister Nehru in der finalen Sitzung an, dass das dringendste Problem zwar der Weltfrieden sei und erst danach die individuellen Probleme folgen könnten. Voraussetzung zur Bewältigung dieser sei jedoch eine Gleichberechtigung aller Nationen. Diese Forderung stellte er sowohl für die versammelten Nationen als auch alle anderen auf. Vgl. Ministry of Foreign Affairs, Asia-Africa, S. 184f. 11 Vgl. Final Communiqué Bandung, April 18–24, 1955. In: The Third World without Superpowers. Ser. 1: The Collected Documents of the Non-Aligned Countries. Vol. I. Hrsg. von Odette Jankowitsch u. Karl P. Sauvant u. Jörg Weber. New York 1978. S. lvii–lxvii; 1957 fand zudem eine Folgekonferenz in Kairo statt. Siehe dazu u. a. McGregor, Katharine/Hearman, Vannessa: Challenging the Lifeline of Imperialism. Reassessing Afro-Asian Solidarity and Related Activism in the Decade 1955–1965. In: Bandung, Global History, and International Law. Critical Pasts and Pending futures. Hrsg. von Luis Eslava u. Michael Fakhri u. Vasuki Nesiah. Cambridge 2017. S. 161–176. Hier S. 165ff.; Abou-El-Fadl, Reem: Building Egypt’s Afro-Asian Hub. Infrastructure of Solidarity and the 1957 Cairo Conference. In: Journal of World History 30 (2019). Nr. 1–2. S. 157–192. 12 Allein 1960, im „Afrikanischen Jahr“, erlangten 18 afrikanische Kolonien ihre politische Unabhängigkeit. 13 Vgl. Byrne, Jeffrey James: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order. New York 2016. S. 271; Im Gegensatz dazu geht Vijay Prashad davon aus, dass es sich vorrangig um ein rein politisches Projekt handelte und die Motivation der Akteure nicht auf wirtschaftliche und kulturelle Interessen zurückzuführen sei. Prashad, Nations, S. 13.

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Diese drei Aspekte spielten ebenfalls auf dem Treffen von 25 Regierungschefs der Bündnisfreien 1961 in Belgrad eine Rolle. Für die Durchführung der Konferenz setzten sich vor allem die jugoslawische und ägyptische Regierung ein. Josip Broz Tito und Gamal Abdel Nasser strebten an, die solidarischen Aktivitäten überwiegend postkolonialer Staaten seit Mitte der 1950er weiter zu intensivieren.14 Neben dem Fokus, der auf die Gefahren des militärischen Gebarens der beiden Kontrahenten im Kalten Krieg und die Ausdehnung ihrer Einflusssphären verwies, lag ein weiterer Schwerpunkt der beschlossenen Initiativen darin, die strukturellen Defizite der Vereinten Nationen zu beheben und die Weltorganisation als Forum einer globalen Gerechtigkeit zu etablieren.15 Dies zeigt beispielsweise die Forderung, den Sicherheits- sowie den Wirtschafts- und Sozialrat der UN auf Grundlage der Charta zu restrukturieren, um der veränderten Zusammensetzung der Generalversammlung gerecht zu werden.16 Wirtschaftliche Belange sprach die Konferenz-Deklaration insofern an, als sie auf die aus dem Kolonialismus resultierende wirtschaftliche Unausgewogenheit zwischen den wenigen wirtschaftlich fortgeschrittenen („economically advanced“) und den vielen weniger entwickelten („economically less-developed“) Ländern verwies und Maßnahmen einforderte, um diese zu beseitigen. Sie benannte jedoch weder die Maßnahmen noch explizite Adressaten. Diesbezüglich ebenfalls wenig konkret fällt die Passage aus, die sich den verschlechternden Austauschverhältnissen der weniger entwickelten Länder widmete. Mehr als die Forderung nach der Eliminierung exzessiver Preisfluktuationen beim Handel mit Primärgütern formulierten die teilnehmenden Regierungen nicht. Die politischen Forderungen in Richtung der beiden Supermächte bildeten noch das Zentrum der Bemühungen der „Dritten Welt“. Nichtsdestotrotz einigten sich die Teilnehmenden der UN-Generalversammlung im selben Jahr darauf, die Resolution 1707 mit dem programmatischen Titel „International trade as the primary instrument for economic development“ zu verabschieden. Sie rief den Generalsekretär dazu auf, Konsultationen mit den Mitgliedsländern durchzuführen, um deren Ansichten hinsichtlich einer internationalen Konferenz zu den globalen Handelsproblemen – mit speziellem Fokus auf den Primärgütermärkten – zu ermitteln.17 14 Vgl. Dinkel, Bewegung, S. 111. 15 Vgl. Prashad, Nations, S. 11. 16 Vgl. Belgrade Declaration. The Declaration of the 1st Summit of the Heads of State or Government of the Member Countries of the Non-Aligned Movement Issued on 1 – 6 September 1961. http://cns.miis.edu/nam/documents/Official_Document/1st_Summit_FD_Belgrade_Declaration_1961.pdf (17.9.2019). 17 Vgl. A/RES/1707 (XVI). International Trade as the Primary Instrument for Economic Development. 19.12.1961.

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Nicht einmal ein Jahr nach Belgrad fand im Juli 1962 daher in Kairo eine Konferenz zu den Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung statt. Delegationen aus 36 Ländern diskutierten dort über den unterschiedlichen Grad der Entwicklung und die gravierenden Unterschiede hinsichtlich des weltweiten Lebensstandards. Erstmals nahmen daran auch lateinamerikanische Länder wie Brasilien, Bolivien und Mexiko nicht nur als Beobachter, sondern aktiv teil.18 Damit erweiterte sich einerseits quantitativ die Gruppe von Ländern, die auf internationaler Bühne zusammenarbeiteten. Andererseits kamen neue Themen auf die gemeinsame Agenda. Erstmalig konzentrierte sich eine Konferenz auf den Zusammenhang von sozioökonomischer Entwicklung und Welthandel. So finden sich in der Deklaration neben politischen Willensbekundungen zur Kooperation und solidarischen Zusammenarbeit auf diversen Gebieten ebenso der direkte Zusammenhang zur Resolution 1707, welche bereits ein Jahr zuvor diesen Konnex betonte. Die Deklaration benannte darüber hinaus Problemfelder, die aus Sicht der sich entwickelnden Länder den Welthandel – und damit auch die Entwicklung ihrer Staaten – hemmten. Insbesondere verwies sie hierbei auf die Notwendigkeit zum Abbau tarifärer und nicht-tarifärer Handelsschranken und lud die industrialisierten Länder dazu ein, diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu verabschieden. Diesen Punkt betonten die Entwicklungsländer stark, da sie sich zwei negativen Entwicklungen gegenübersahen. Erstens ging während der 1950er Jahre ihr Anteil am Welthandel kontinuierlich zurück.19 Zweitens diagnostizierten sie einen rückläufigen Trend der Austauschverhältnisse („terms of trade“). Diese Tendenz bestätigte unter anderem auch Gottfried Haberler 1958 in einem Bericht, den er für die Mitglieder des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade; GATT) angefertigt hatte.20 Neu waren derartige Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt nicht, aber erst jetzt tauchten sie in einer kondensierten Form auf der internationalen Bühne auf 18 Vgl. u. a. Toye, John/Toye, Richard: The UN and Global Political Economy. Trade, Finance, and Development. Bloomington 2004. S. 187. 19 Die Diskussion dieses Zusammenhangs in der UN-Generalversammlung führte bereits 1959 und 1961 zur Verabschiedung mehrerer Resolutionen. Diese unterstrichen die Verbindung von Handel und Entwicklung sowie den generellen Bedarf an einer Stärkung und Verbesserung der Handelsbedingungen für weniger entwickelte Länder. Vgl. A/Res/1421 (XIV). Strengthening and Development of the World Market and Improvement of the Trade Conditions of the Economically Less Developed Countries. 5.12.1959; A/Res/1519 (XV). Strengthening and Development of the World Market and Improvement of the Trade Conditions of the Economically Less Developed Countries. 15.12.1960. 20 Vgl. Haberler, Gottfried [u.a.]: Trends in International Trade (The „Haberler report“). GATT/ 1958–3. Genf 1958. Der Bericht konzentrierte sich auf die Probleme im Handel mit Agrarprodukten und den Bedarf der weniger entwickelten Länder zur Steigerung der Exportgewinne. Er führte in der GATT zu der in Anm. 27 durchgeführten Initiative.

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und führten sie zu einer politischen Reaktion.21 Bereits um 1950 hatten zwei unabhängig voneinander arbeitende Wissenschaftler auf diesen negativen Trend hingewiesen. Der Ökonom Hans Singer befasste sich in den späten 1940er Jahren für das UN Department of Economic Affairs (DESA) mit Preisverhältnissen der Nachkriegszeit zwischen den unterentwickelten und industrialisierten Ländern.22 Zeitgleich arbeite Raúl Prebisch, seinerseits noch bis Ende 1963 Generalsekretär der in Santiago de Chile ansässigen UN-Wirtschafskommission für Lateinamerika ECLA, an ähnlichen Studien.23 Inhaltlich kamen beide zu dem Schluss, dass das globale Weltwirtschaftssystem Muster einer kolonialen Arbeitsteilung zeige und sich damit ungleiche Tauschverhältnisse ergäben. Der Fluss von Rohstoffen und Primärgütern in die industrialisierten Länder und der Eintausch gegen hochwertige Fertigwaren verschlechtere, so Prebisch 195024, sukzessive die realen Austauschverhältnisse der Entwicklungsländer. Es ist umstritten, wer genau von beiden die These früher aufstellte. Jedoch war Prebisch auf der Konferenz in Kairo 1962 anwesend, da einer seiner Mitarbeiter, Wladyslaw R. Malinowski, ihm dazu riet, seinen auf Lateinamerika gerichteten Blick zu globalisieren. Prebisch kannte die Kritik der sich entwickelnden Länder am Welthandel. Sie basierte vor allem darauf, dass die Entwicklungsländer den industrialisierten Ländern vorwarfen, das Welthandelssystem über die in Bretton Woods geschaffenen Institutionen zu kontrollieren.25 Insbesondere die ausgebliebene Etablierung der Internationalen Handelsorganisation (International Trade Organization, ITO) als dritten Pfeiler der internationalen 21 So verabschiedete die Generalversammlung bereits im Dezember 1960 eine Resolution, die sich explizit diesem Problem widmete. Vgl. A/Res/1520 (XV). Improvement of the Terms of Trade between the Industrial and the Under-Developed Countries. 15.12.1960. Zu den frühen Kontroversen über die Austauschbeziehungen siehe u. a. Toye/Toye, UN, S. 110–136. 22 Vgl. United Nations: Post-war Price Relations between Under-Developed and Industrialized Countries (E/CN.1/Sub.3/W.5). Lake Success, N. Y. 1949; Singer, Hans: The Distribution of Gains between Investing and Borrowing Countries. In: The American Economic Review 40 (1950). Nr. 2. S. 473–485; zur Kontextualisierung siehe Dosman, Edgar J.: The Life and Times of Raúl Prebisch 1901–1986. Montreal/Kingston 2008. S. 242f. 23 Vgl. United Nations: The Economic Development of Latin America and its Principal Problems (E/CN.12/89/REV.1). New York 1950. 24 Vgl. United Nations, Development, S. 8 f. Mit Primärgütern sind hierbei alle Güter gemeint, die durch An- und Abbau erzeugt werden. Dazu gehören Produkte der Land- und Forstwirtschaft, des Fischereiwesens, der Energie- und Wasserversorgung sowie des Bergbaus. 25 Vgl. Interview mit Raúl Prebisch abgedruckt in Pollock, David [u.a.]: Prebisch at UNCTAD. In: Raúl Prebisch. Power, Principle, and the Ethics of Development. Hrsg. von Edgar J. Dosman. Buenos Aires 2006. S. 37–63. Hier S. 44; zu der Konferenz von Bretton Woods siehe u. a. Borgwardt, Elizabeth: A New Deal for the World. America’s Vision for Human Rights. Cambridge/ London 2005. S. 114–140; Steil, Benn: The Battle of Bretton Woods: John Maynard Keynes, Harry Dexter and the Making of a New World Order. Princeton 2013. S. 210–249.

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Nachkriegsordnung führten die Entwicklungsländer als einen zentralen Kritikpunkt an. Bereits während der konstituierenden Konferenz der ITO in Havanna 1948 liefen parallele Verhandlungen über Zollsenkungen in Genf zwischen 23 nördlichen Ländern, die ähnliche Interessen hatten. Ihnen ging es weniger um die Belange der Entwicklungsländer – beispielsweise faire und ausgeglichene Regeln für den Welthandel, Maßnahmen zur Marktregulierung oder die Exportchancen von Agrar- und Textilgütern –, sondern vielmehr darum, vorhandene Handelsbarrieren für ihre industriellen Güter und Dienstleistungen zu senken. Das Ergebnis dieser Verhandlung, das GATT, wurde zum zentralen Fokus der Kritik. Virtually all developing primarily non-Western countries, agreed that GATT served the interests of the industrial powers very well indeed; here they were in agreement with the satisfied founders of the GATT. […] [The] international economic institutional structure set up after World War II and managed by the advanced Western states operated primarily in their interests; and to maintain this state of affairs they controlled the key agencies, particularly the IMF, the World Bank, regional banks, and the GATT.26

Prebischs Teilnahme in Kairo führte keineswegs zu einer Verschärfung dieser Kritik oder etwaigen weiterführenden Maßnahmen. Ganz im Gegenteil wies die Deklaration die teilnehmenden Länder darauf hin, im Rahmen des GATT zu kooperieren, um die vorhandenen Institutionen effektiv zu nutzen. Zudem regte sie die schnelle Einführung des GATT-Aktionsprogramms an, welches sich mit den Exportproblemen der nicht industrialisierten Staaten befasste.27 Allerdings berücksichtigten die Experten der GATT weder die Verknüpfung zwischen Handel und Entwicklung noch dachten sie über Mechanismen für die Preisstabilisierung sowie Maßnahmen zur Förderungen der Industrialisierung nach. All diese Punkte hatten jedoch hohe Priorität für die Länder, die sich in Kairo eingefunden hatten. Neben den oben genannten Punkten drängte die Deklaration im Sinne der Produzenten und Konsumenten darauf, Rohstoffmärkte über die UN und unter Bezug auf die Preise für Fertigwaren zu stabilisieren. In langfristi26 Dosman, Life, S. 380. 27 Im November 1962 einigten sich die Vertragsparteien des GATT darauf, mit einer Art Selbstverpflichtung den Welthandel auszudehnen. Bei einem Ministertreffen 1963 verabschiedeten sie folglich ein Aktionsprogramm, was den Handel primärer sowie sekundärer Güter betraf und konkrete Vorschläge für industrialisierte Länder machte, um Handelsschranken abzubauen und den Markzugang zu erleichtern. Vgl. GATT: What GATT is and what GATT has done. Genf 1963. https://docs.wto.org/gattdocs/q/GG/SPEC/63-196.pdf (24.7.2019); GATT press release 794, 29 May 1963. https://docs.wto.org/gattdocs/q/GG/GATT/794.PDF (24.7.2019); McKenzie, Francine: Free Trade and Freedom to Trade. The Development Challenge to GATT. 1947– 1968. In: International Organizations, and Development. 1945–1990. Hrsg. von Marc Frey u. Sönke Kunkel u. Corinna R. Unger. Basingstoke 2014. S. 150–170.

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ger Perspektive sollten die Handelsbedingungen „fairer“ und lohnender für die Entwicklungsländer werden. Ein weiterer Punkt konzentrierte sich auf die regionalen Wirtschaftsverbünde der Industrieländer und deren Effekte auf den internationalen Handel, insofern sie in einer restriktiven und diskriminierenden Art gedacht waren und so operierten. Hier wurden keine konkreten Verbünde genannt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit waren vor allem die Initiativen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), insbesondere deren 1962 in Kraft getretene Agrarmarktordnung, die transatlantische Kooperation im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD), aber auch die Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gemeint.28 Interessanterweise ergaben sich daraus zumindest potentielle Interessenkorrelationen zwischen ungeahnten Partnern. Beispielsweise war der US-Regierung die zunehmende wirtschaftliche Stärke der EWG und deren protektionistische Maßnahmen ebenfalls ein Dorn im Auge und sie versuchte über das GATT eine neue Verhandlungsrunde anzustoßen.29 Das bedeutete keineswegs ein gemeinsames Handeln, sondern zeigt nur, wie sich die spezifischen Interessen überschnitten und welche erhebliche Ambivalenz mit der jeweiligen Positionierung bei solchen Problemen einherging. Die Kritik an der Regionalisierung konzentrierte sich somit vorrangig auf existierende Verbünde und deren exklusiven Charakter. Regionalisierung an sich war jedoch ein Ziel der Entwicklungsländer. In den Feldern Handel, Zahlungsverkehr, Finanzen, Technik, Wissenschaft, Industrie, Transport, Kommunikation, Rohstofferkundung und -vermarktung sollte möglichst eine weitreichende Zusammenarbeit angestrebt werden. Transund interregionale Kooperation unter den Entwicklungsländern galt als ein zentrales Schlüsselelement im Entwicklungsprozess, der in direkten Zusammenhang mit dem Thema Handel gedacht wurde. Bereits in der Präambel der Kairo-Deklaration von 1962 tauchte der Aspekt Entwicklung auf. Einerseits unterstrich sie die notwendige Beschleunigung der Anstrengungen. Andererseits verwies sie auf den geschaffenen Fortschritt in den weniger entwickelten Ländern, der primär mit den Ressourcen der Länder erreicht wurde, und rief zugleich zur Steigerung externer Hilfen auf. Der Entwicklungsprozess werde, so die Deklaration weiter, von externen und internen, teils aus der Kolonialzeit geerbten, strukturellen Faktoren gehemmt. Intern, so 28 In Folge der Römischen Verträge von 1957 trat 1962 die Gemeinsame Agrarpolitik der EWG in Kraft. Siehe dzau u. a. Patel, Klaus Kiran: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG, 1955–1973. Oldenbourg 2009. 29 Dosman, Life, S. 387.

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regte die Deklaration an, sollten die Entwicklungsländer intensiver die Mobilisierung der menschlichen, materiellen und finanziellen Ressourcen vorantreiben; nationale Entwicklungspläne als effektive Instrumente aufstellen, landwirtschaftliche Reformen durchführen und zur Verbesserung der Einkommensbasis sowie Schaffung von Arbeitsplätzen die Diversifizierung sowie Industrialisierung forcieren. Als externe Faktoren führte die Deklaration vor allem die Steigerung der Hilfsmittel und – als Bedingung für eine mögliche Steigerung der Exporte – die Beseitigung der Hemmfaktoren im internationalen Handel an. Letzteres Problem könne nur im Rahmen der UN geregelt werden, und so empfahl die Deklaration die Durchführung einer Konferenz im Jahr 1963, die sich allen vitalen Fragen bezüglich internationalem Handel, Primärgüter-/Rohstoffhandel und den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sich entwickelnden und entwickelten Ländern widmen solle.30 Diese Empfehlung erreichte im Sommer 1962 die Sitzungen des Wirtschaftsund Sozialrates der UN (ECOSOC) in New York. Äthiopien, Brasilien, Indien, Jugoslawien und Senegal fertigten bei vorangehenden Beratungen in Genf den Entwurf an und unterstützten aktiv die Verabschiedung der Resolution 917 (XXXIV) im ECOSOC31, die eine Konferenz über Handel und Entwicklung einforderte.32 Dies war bereits ein Erfolg, denn alle vorangegangen Versuche für eine internationale Handelskonferenz unter der Schirmherrschaft der UN waren gescheitert.33 Vor allem die US-Regierung hegte diesbezüglich immerzu den Verdacht, die Sowjetunion stehe hinter diesen Bestrebungen und bemächtige sich der Initiative der Entwicklungsländer.34 Tatsächlich war die Konferenzinitiative

30 Vgl. Cairo Declaration of Developing Countries (E/CN.14/STC/16). 14.9.1962. § 60. 31 Vgl. E/RES/917(XXXIV). United Nations Conference on Trade and Development. 3.8.1962. 32 Vgl. Foreign Relations of the United States (FRUS). 1961–63. Vol. IX. Foreign Economic Policy. „Current Economic Developments. ECOSOC Session shows Substantive Progress.“ Washington, 28. August 1962. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1961-63v09/d200 (27.6.2019); Der UN-Botschafter der US-Regierung, Adlai Stevenson, riet seiner Regierung, der Forderung der Entwicklungsländer zu folgen, um nicht der Sowjetunion in die Hände zu spielen. Vgl. Robertson, Charles L.: The Creation of UNCTAD. In: International Organisation. World Politics. Hrsg. von Robert W. Cox. London 1969. S. 258–274. Hier S. 268. 33 Vgl. Cordovez, Diego: The Making of UNCTAD. Institutional Background and Legislative Theory. In: Journal of World Trade Law 1 (1967). Nr. 3. S. 243–328. Hier S. 255ff. 34 „In light of the Cairo conference’s resolution endorsing the idea of a trade conference (though it made no reference to the USSR) and the favorable reaction of the underdeveloped countries to the resolution on a possible trade conference at the General Assembly last year, the Soviet Union may hope to capture leadership of a popular cause and use the internationaltrade-conference issue in attacking the EEC.“ FRUS. 1961–63. Vol. IX. Foreign Economic Policy. „Research Memorandum Prepared in the Bureau of Intelligence and Research.“ Washington, August 27, 1962. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1961-63v25/d219 (26.8.2019).

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aber ein Resultat der Zusammenarbeit afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Staaten auf der internationalen Bühne. So verabschiedete im Dezember 1962 die Generalversammlung die Resolution 1785 (XVII), die für das Frühjahr 1964 die Durchführung der Konferenz vorsah. Das erste Vorbereitungstreffen für die Konferenz war auf Januar 1963 terminiert, allerdings stand noch nicht fest, wer den Sitz des Generalsekretärs einnehmen solle. Erst kurz vor dem ersten Treffen fragte der neue UN-Generalsekretär U Thant Raúl Prebisch für diesen Posten an. Somit ergab sich für Prebisch die Chance, seine Ideen bezüglich der Welthandelsstrukturen sowie die Theorie des ungleichen Tauschs („unequal exchange“) und der damit verknüpften sozioökonomischen Entwicklung – die bisher durch seine Position in der ECLA auf Lateinamerika konzentriert waren – im globalen Rahmen zu verbreiten.35 Prebisch begann direkt nach dem ersten Vorbereitungstreffen, das teilweise von herben Diskussionen zwischen den Vertretern der USA und der Sowjetunion gestört wurde, einen kleinen Kern von Mitarbeitern um sich zu versammeln, darunter Sidney Dell und Wladyslaw R. Malinowski. Zudem galt es, den Bericht für die Konferenz zu verfassen.36 Um dafür weiteres Material und ebenso Stimmungen zu sammeln, reiste er zu Regierungskonsultationen in diverse Länder.37 Ihm ging es hier einerseits darum, die in Kairo etablierte Solidarität zwischen den Entwicklungsländern weiter auszubauen. Andererseits musste er zugleich insbesondere der Sowjetunion politische Anreize bieten, damit sie weiterhin die Initiative zu einer Welthandelskonferenz mittrug. Zugleich musste Prebisch es schaffen, die Agenda möglichst von den spezifischen Belangen der sowjetischen Regierung frei zu halten, um eine Politisierung, basierend auf der der Logik des Ost-West-Konflikts, zu vermeiden. In den westlichen Ländern galt es, das Misstrauen gegenüber der Ausrichtung der UNCTAD zu minimieren sowie die Regierungen davon zu überzeugen, dass der Welthandel nicht eine Angelegenheit des GATT bleiben könne.38 Für all diese Aufgaben blieben Prebisch und seinem Team nicht viel Zeit, denn bereits im März 1964 fanden sich in Genf Delegationen aus 120 Staaten, darunter allein 80 aus Entwicklungsländern, zur ersten UNCTAD ein. Nach zweieinhalb Monaten Beratungen einigten sich die Delegierten auf eine Reihe 35 Vgl. Dosman, Life, S. 383f.; Zur Theorie des ungleichen Tauschs siehe auch Love, Joseph L.: Raúl Prebisch and the Origins of the Doctrine of Unequal Exchange. In: Latin American Research Review 15 (1980). Nr. 3. S. 45–72; Love, Joseph L.: The Rise and Decline of Economic Structuralism in Latin America. New Dimensions. In: Latin American Research Review 40 (2005). Nr. 3. S. 100–125. 36 Vgl. Toye/Toye, UN, S. 188. 37 Vgl. United Nations Press Release (EC/TR/20). 30. August 1963. 38 Vgl. Toye/Toye, UN, S. 192.

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von Empfehlungen, die viele Überschneidungen zu Prebischs Bericht „Towards a new Trade Policy for Development“ aufwiesen. In diesem umriss er detailliert die Probleme des Welthandels, und zwar auf einer Ebene, welche er nur durch die zahlreichen Regierungskonsultationen und Besprechungen in den regionalen Wirtschaftskommissionen erhalten konnte und welche eindeutig die im Vorbereitungsausschuss verhandelte Basis überschritt.39 Sein direkter Bezug auf die UN-Entwicklungsdekade bildete den Ansatzpunkt der Argumentation. Wenn das dort verankerte Wachstumsziel, eine Steigerung des Einkommens in den Entwicklungsländern von fünf Prozent, am Ende der Dekade erreicht werden solle, müsse das Ungleichgewicht beim Handel beseitigt werden. Prebisch sah ein grundsätzliches Hindernis im GATT: [The] imposing code of rules and principles, drawn up at Havana and partially embodied in the General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), does not reflect a positive conception of economic policy in the sense of a rational and deliberate design for influencing economic forces so as to change their spontaneous course of evolution and attain clear objectives. […] Hence, GATT has not served the developing countries as it has the developed ones. In short, GATT has not helped to create the new order which must meet the needs of development, nor has it been able to fulfill the impossible task of restoring the old order.40

Die Kritik am GATT zielte vor allem darauf ab, dass es nicht effizient für einen Umbruch der Weltwirtschaft eingesetzt würde. Das „deliberate design“ des GATT trage nicht zum Abbau der Handelsschranken im Sinn der Entwicklungsländer bei und vertrete zudem Prinzipien, die von der Gleichrangigkeit der Handelspartner ausgehen.41 Damit negiere es aber die Unterschiede, die – wie Prebisch es bezeichnete – zwischen Peripherie und Zentrum bestünden. Das Prinzip der konventionellen Reziprozität und das damit verbundene klassische „free-play-Konzept“ führe bei vorhandenen strukturellen Unterschieden zu der Verschlechterung der Austauschverhältnisse der Entwicklungsländer und verhindere deren sozioökonomische Entwicklung und somit das Erreichen des Wachstumsziels der UN-Entwicklungsdekade.42 Nur die Ausweitung des Han39 Vgl. United Nations (Hrsg.): Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Vol. II (E/CONF.46/141). New York 1964. S. 4. 40 United Nations, Proceedings, (E/CONF.46/141), S. 7. 41 Prebisch erschöpfte sich nicht nur in der Kritik des GATT, sondern unterstrich ebenso dessen Errungenschaften. Vgl. United Nations, Proceedings, (E/CONF.46/141) S. 17ff. Hieran wird deutlich, dass es ihm darum ging, eine möglichst produktive Stimmung bei allen Delegationen und Verhandlungspartnern zu erreichen. Eine zu aggressive Rhetorik hätte jegliche Bemühungen von vornherein nutzlos gemacht, da die westlichen Länder ohnehin skeptisch gegenüber der UNCTAD waren. 42 Vgl. United Nations, Proceedings, (E/CONF.46/141), S. 18.

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dels in einer neuen postkolonialen, internationalen Arbeitsteilung würde die Entwicklungsanstrengungen befördern. Entwicklung dürfe nicht mehr nur spontanes Phänomen wie in der Kolonialzeit bleiben, sondern bedürfe einer kooperativen und kollektiven Anstrengung. Um dieses Ziel zu erreichen, stellte Prebisch einen umfassenden Punktekatalog möglicher Maßnahmen auf.43 Neben der Verabschiedung von Importzielen sollten die Industrieländer den sich entwickelnden Ländern vor allem Präferenzen bei der zollfreien Einfuhr jeglicher Produkte, insbesondere industrieller Güter, gewähren. Vorhandene Präferenzsysteme sollten an das neue generelle System angepasst werden, ohne Vertragsparteien zu diskriminieren. Zwei zentrale Mittel sollten laut der Meinung Prebisch umgehend zum Einsatz kommen, um die Austauschverhältnisse zu verbessern. Erstens sollten internationale Rohstoffabkommen für diverse Güter etabliert werden, um die Preise und Exporte besser zu regeln. Zweitens sollten Ausgleichsmechanismen geschaffen werden, die vor Verlusten durch Preisfluktuation bei Primärgütern und Rohstoffen schützen sollten. Darüber hinaus sprach der Bericht bereits die verheerende Verschuldung der Entwicklungsländer an, die sie massiv belastete und forderte aus diesem Grund eine Neuverhandlung über die Konditionen ein. Die Entwicklungsländer sollten zudem ihre Kooperation in Regionalgruppen vertiefen und ihre importsubstituierende Industrialisierung durch entscheidende interne Reformen vorantreiben.44 Die Effizienz dieser Reformen sei aber vor allem davon abhängig, ob die Vertragsparteien des GATT die strukturellen Unterschiede anerkennen und den Entwicklungsländern Präferenzen einräumen würden. Besondere Berücksichtigung sollten hierbei die „less advanced of the developing countries“, die am wenigsten entwickelten Länder, erhalten. Dieser Katalog stieß auf unterschiedliche Reaktionen, da alle Delegationen mit eigenen Interessen in Genf angereist waren. Bereits im November 1963 hatte der US-Spitzendiplomat George Ball in einem Memorandum an Präsident Kennedy die Frage nach den Präferenzen als „[…] newest steed in the LDC stable of hobby horses – [that] could turn out to be a particularly fractious beast.“45 bezeichnet. Neben dem paternalistischen Duktus dieser Metapher enthielt der Be43 Vgl. United Nations, Proceedings, (E/CONF.46/141), S. 60ff. 44 Das Konzept der importsubstituierenden Industrialisierung ist ein Schlüsselelement der von Prebisch vertretenen Entwicklungsstrategie. Jedoch wird schon 1965 deutlich, dass er sie nicht als Allheilmittel ansieht und durchaus kritisch ins Gericht geht. Insbesondere überzogene protektionistische Maßnahmen und die zu starke Abschottung der nationalen Industrien sei ein Fehlschritt, dessen Effekte in Lateinamerika zu beobachten seien. Siehe dazu United Nations, Proceedings, (E/CONF.46/141), S. 14f. 45 FRUS. 1961–63. Vol. IX. Foreign Economic Policy. „Memorandum from Under Secretary of State (Ball) to President Kennedy“. 12. November 1963.

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richt die konkrete Empfehlung, keine Hoffnungen zu erzeugen, die seitens der US-Regierung nicht erfüllt werden könnten. Ball begründete das mit dem Verweis auf die nationalen Protektionisten, die der Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit massive Vorwürfe machen würden, wenn sie Präferenzen für billige Produkte aus Asien bestätige, zumal sie damit GATT-Regeln untergraben würde, für die sie sich Jahrzehnte engagiert habe. Auf der Konferenz müssten dennoch die Belange der Entwicklungsländer ernst genommen werden, aber ohne zu starke Zugeständnisse zu machen. Ball betonte zudem, dass bereits frühzeitig einige Eliten aus Entwicklungsländern signalisiert hätten, dass sie den Wert des GATT anerkannten und damit die Abwehr einer Reform realistisch sei und die generelle Abwertung dieser Institution nicht drohe. Auch das vom US-Außenminister Dean Rusk verfasste Strategiepapier vom März 1964 zeichnete eine ähnliche Linie. Im Besonderen sei es wichtig, dass die US-Delegation sich produktiv, nicht konfrontativ zeigen solle. Bezüglich der Frage nach Präferenzen gelte es, bestehende Präferenzsysteme – insbesondere die Assoziationen der europäischen Staaten mit ihren ehemaligen Kolonien – und damit einhergehende praktische Diskriminierung anderer Handelspartner zu hinterfragen. Hier spekulierte Rusk darauf, dass diese Kritik wohl von vielen Entwicklungsländern mitgetragen würde.46 Gleichzeitig verfolgten die USA damit ihr eigenes Interesse an der Schwächung dieser Präferenzsysteme, die gegen ein Grundprinzip des GATT (Meistbegünstigten-Klausel47) sowie das Prinzip des freien Handels verstießen. Rusks Kalkül basierte unter anderem auf Berichten über einzelne Länderpositionen, welche der US-Regierung vorlagen. Dass die afrikanischen Staaten nur eine wenig einheitliche Position aufwiesen und entlang einer durch Sprache und Geschichte definierten Linie, primär zwischen franko- und anglophonen Ländern, gespalten waren, versicherten der US-Regierung sowohl eigene Berichte aus den regionalen UN-Wirtschaftskommissionen48 als auch ihre Partner im Atlantischen Bündnis beziehungsweise der OECD. Zudem identifizierte sie die treibenden Kräfte: Indien trat verantwortlich („responsible“) auf, Brasilien 46 Vgl. National Archives and Records Administration (NARA). RG 59. Central Foreign Policy Files (CFPF) 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 1034. FT – Foreign trade SWITZ (GE)/UN (3/18/64). Department of State (DOS) to Circular. Revised Strategy Paper UNCTAD. 19.3.1964. 47 Dem Prinzip folgend, müssten einem Handelspartner eingeräumte Vorteile auch gleichberechtigt allen anderen Handelspartnern gewährt werden, was jedoch selten der Fall ist. Regionale Verbünde missachten dieses Prinzip zumeist im Sinne der regionalen Kooperation und räumen es nur intern den jeweiligen Mitgliedern ein. 48 Vgl. NARA. RG 59. CFPF 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 1034. Folder FT – Foreign trade SWITZ (GE)/UN (3/18/64). American Embassy (Amembassy) Addis to DOS, UNCTAD – ECA position paper. 20.3.1964.

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reihte sich scheinbar in der sowjetischen Linie ein49 und Jugoslawien setzte sich für die Agenda der Entwicklungsländer ein, pflegte aber zugleich gute Kontakte nach Washington.50 Wie die US-Botschaft von einem Commonwealth-Ministertreffen berichten konnte, seien hinsichtlich des Themas Präferenzen während des Treffens herbe Meinungsverschiedenheiten deutlich zu Tage getreten und es herrsche keine klare Linie. Indien mache sich für universelle Präferenzen stark, wohingegen die afrikanischen Länder sich eher für regionale oder nationale Systeme eingesetzt hätten.51 Zudem waren die Meinungen geteilt, für welche Produkte beziehungsweise Güter Präferenzen sinnvoll wären. Die Länder Lateinamerikas bevorzugten Präferenzen für Fertigwaren52, wohingegen andere, vorrangig afrikanische Länder, aber auch Jugoslawien auf Rohstoffe und agrarische Produkte setzen.53 Überdies ergebe für rohstoffexportierende Länder das Element der Rohstoffabkommen mehr Sinn. Trotzdem findet sich im Abschlussdokument der ersten UNCTAD das generelle Prinzip wieder, wonach den Entwicklungsländern tarifäre und nicht-tarifäre Präferenzen seitens der industrialisierten Länder eingeräumt werden sollten. Zudem betonte es die große Bedeutung der Meistbegünstigten-Klausel für den

49 Vgl. The National Archives (TNA). T 312/605. UNCTAD General Papers. President’s Office Minute. Sir Richard Powell with Isaiah Frank (USA). 6.3.1963. 50 Vgl. NARA. RG 59. CFPF 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 1035. FT – Foreign Trade SWITZ (GE)/UN (2/1/64), Amembassy Belgrade to DOS. GOY Polishing Position for UNCTAD and Kennedy Round. 8.2.1964. 51 Vgl. NARA. RG 59. CFPF 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 1034. Folder FT – Foreign trade SWITZ (GE)/UN (3/18/64). Amembassy London to DOS. Commonwealth pre-UNCTAD Meeting. 20.3.1964. 52 In Vorbereitung der UNCTAD entstanden drei regionale Deklarationen: die „Niamey Resolution“ der Organization of African Unity, die „Tehran Resolution“ der regionalen UN Economic Commission for Asia and the Far East (ECAFE) und die „Charter of Alta Gracia“ der Organization of American States (OAS). Die Ausführungen zu Präferenzen fallen jeweils sehr unterschiedlich aus, wobei die lateinamerikanische Deklaration dieses Thema sehr umfangreich behandelt, wohingegen die beiden anderen jeweils nur einen Satz dazu verlieren. Hier zeigt sich deutlich, wie sehr die regionalen Verbünde einerseits vom theoretischen Ansatz durchdrungen waren und andererseits, welche Relevanz sie dem Thema zuschrieben. Für die Erklärungen siehe Jankowitsch, Odette u. Karl P. Sauvant u. Jörg Weber (Hrsg.): The Third World without Superpowers. Ser. 2: The Collected Documents of the Group of 77. Vol. I. Dobbs Ferry, NY 1981. 53 Vgl. TNA. FO 371/172273. Foreign Office. Political Departments. General Correspondence from 1906–1966, ECONOMIC RELATIONS (UE): Economic (UEE). United Nations Conference on Trade and Development. Foreign Countries Attitudes to UNCTAD; NARA. RG 59. CFPF. 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 958. FT 3 Organization & Conferences (1/1/64). Telegram USUN NewYork (USUNNY) to SecStat. UN Trade Conference. 13.1.1964.

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internationalen Handel. Trotz aller scheinbar herrschenden Uneinigkeit schafften es die Entwicklungsländer somit, die Forderung nach Präferenzen durchzusetzen. Das Abstimmungsverhalten bildete allerdings deutlich die Konfliktlinie zwischen den industrialisierten und den sich entwickelnden Ländern ab.54 Auch hinsichtlich anderer Aspekte traten Letztere als geschlossene Einheit auf, und so setzte sich in Genf fort, was bereits zwei Jahre zuvor bei der Abstimmung in der Generalversammlung Gestalt angenommen hatte.55 Diesen Punkt unterstrich Prebisch in seinem Bericht an den UN-Generalsekretär U Thant: „[The] Conference saw the spontaneous emergence and articulation of forms of common action among the developing countries, designed to give them more effective influence in the formulation and application of such policy.“56 Darüber hinaus wurden insbesondere die notwendigen Veränderungen der internationalen Wirtschaftskooperation von den Teilnehmern anerkannt. Dazu gehöre, so Prebisch weiter, auch der Ruf nach einer UN-Institution, die für die Umsetzung der politischen Maßnahmen in Bereich Handel und Entwicklung verantwortlich sein solle. Die Ergebnisse der ersten Konferenz in Genf trugen vorerst nicht zu einer Lösung des Konflikts und dessen Kernproblemen bei. Vielmehr führte die Resolution 1995 (XIX), wonach die UNCTAD zu einem dauerhaften Organ der UN-Generalversammlung gemacht wurde, zu einer Institutionalisierung des NordSüd-Konflikts.57 Die geeint auftretende Gruppe von 75 Ländern trat fortan, um zwei Staaten erweitert als Gruppe der 77 – die „Wirtschaftslobby der Entwicklungsländer“ – auf.58 Raúl Prebisch nahm den Sitz des UNCTAD-Generalsekretärs ein und steuerte in den nächsten fünf Jahren die neue Organisation.

54 Das Prinzip wurde mit 78 zu 11 Stimmen, 23 Enthaltungen angenommen. Dagegen stimmten: Australien, Österreich, Kanada, Island, Lichtenstein, Norwegen, Südafrika, Schweden, Schweiz, Großbritannien, USA. 55 Bereits bei der Abstimmung zur UN-Resolution 1785 (XVII) zur Durchführung der UNCTAD zeigten sich ähnliche Muster der Kooperation. So veröffentlichten die Entwicklungsländer im Verlauf der UNCTAD-Vorbereitung ebenfalls eine gemeinsame Stellungnahme, welche als „Joint Declaration“ der UN-Resolution 1897 (XVIII) anhängt. Siehe Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 3f. 56 United Nations Archives New York (UNNY). S-0585-0003-01. Report. (ohne Datum); Vgl. Toye/Toye, UN, S. 203. 57 Vgl. Dinkel, Bewegung, S. 125 f. 58 Vgl. Loth, Wilfried: Staaten und Machtbeziehungen im Wandel. In: Geschichte der Welt. 1945 bis heute – Die globalisierte Welt. Hrsg. von Akira Iriye. Bonn 2014. S. 120.

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Algier & Delhi – Zu den Großvätern der NWWO Zwischen 1964 und 1968 formierte sich die UNCTAD als das zentrale Forum für die Weiterverhandlung der erkannten Probleme. Prebisch war klar, dass er den Moment nutzen und mit den vagen Aussagen der ersten Konferenz möglichst schnell Ergebnisse produzieren musste. Im Oktober 1965 bestimmte UN-Generalsekretär U Thant Genf als Sitz des Sekretariats. Bis 1968 erweiterte sich das Sekretariat samt der angeschlossenen Abteilungen auf 175 Angestellte und wurde zum Mittelpunkt der Debatten über Weltwirtschaft – „UNCTAD became a principal cause for an idealistic generation [and] had become the most exciting international experiment since World War II.“59 Erstmals bestimmten die Länder des globalen Südens die politische Agenda einer Weltorganisation und konnten in ihrem Sinne schrittweise an einer Reform des Welthandels arbeiten. Begünstigt wurde dies durch die Etablierung eines Gruppensystems in der UNCTAD, welches ihnen eine Mehrheit bei Abstimmungen zusicherte und zugleich ihre Kooperation erleichterte. So gehörten der Gruppe A die afrikanischen sowie asiatischen und der Gruppe C die lateinamerikanischen sowie karibischen Länder an. Ein Großteil der Gruppe A und C bildeten zudem die G-77; sie hatte die Mehrheit im Trade and Development Board (TDB), dem zweimal jährlich tagenden Gremium der UNCTAD. Konflikte traten zumeist entlang der Gruppengrenzen mit den sozialistischen Planwirtschaften („planned economies“), versammelt in Gruppe D, sowie den kapitalistischen Marktwirtschaften („developed market economies“), Gruppe B, auf. Dem UNCTAD-Sekretariat, dem permanenten Verwaltungsorgan der UNCTAD, oblag es vor allem, die Ideen für die Reform der Weltwirtschaft weiter auszubauen, Verhandlungen mit allen Seiten zu führen und die Positionen zu harmonisieren. Dies allein nahm das neu aufzubauende Sekretariat und Prebisch schon weitgehend ein. Parallel galt es, die zweite Gipfelkonferenz vorzubereiten. Das erste Ministertreffen der G-77 im Oktober 1967 stand zwar im Schatten des Sechstagekrieges, bot Prebisch aber die Chance, erneut vor den versammelten Entwicklungsländern zu sprechen. Er machte erneut Werbung für seine Reformideen und beschwor die notwendige Einheit und eine gemeinsame Linie. Im Kern blieben seine Forderungen unverändert, aber er rief die beteiligten Staaten insbesondere dazu auf, „down to earth negotiations“60 zu führen. Bei59 Dosman, Life, S. 417. 60 Statement by Dr. Raúl Prebisch. Secretary-General of the United Nations Conference on Trade and Development. At the Fourth Plenary Session. Algiers, 13 October 1967. First Ministerial Meeting of the Group of 77. In: Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I. S. 193–202, hier S. 197.

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spielsweise sprach er sich nicht mehr für die radikale und vollständige Eliminierung aller Handelsrestriktionen aus, sondern setzte eher auf einen graduellen Abbau der Zölle.61 Im Bereich Präferenzen sprach er sich kontinuierlich für ein generelles System von Zollpräferenzen auf einer nicht-diskriminierenden und nicht-reziproken Basis aus. Dies schien nach dem Treffen der LateinamerikaGruppe in Punta del Este im April 1967 sinnvoll, da sich bei dieser Gelegenheit US-Präsident Lyndon B. Johnson bereit erklärt hatte, ein solches Projekt zu unterstützen.62 Spezielle Präferenzen sollten hingegen abgebaut werden, da sie – so warnte Prebisch nachdrücklich – zumeist zu starke vertikale Verknüpfungen mit den industrialisierten Zentren darstellen und die Gefahr bergen, den Bemühungen jener um eine Spaltung der Entwicklungsländer Vorschub zu leisten: I was referring to certain ideas which are unfortunately gaining ground, to the effect that one solution to be aimed at in the matter of international trade is to divide the developing world into zones of influence affiliated to the big industrial countries – vertical zones of influence running from north to south. One or more industrial northern countries would take responsibility for Latin America, one or several developed countries would take responsibility for Africa, and other industrial centres would take responsibility for Asia.63

Prebisch spielte hier auf die weiterhin existierenden Präferenzen an, die vor allem innerhalb der EWG und nach außen im Kontext der Yaoundé-Abkommen mit einem Teil der afrikanischen Staaten existierten. Auch wenn diese Präferenzen erst einmal mehr und gesicherten Export mit sich bringen würden, so seien sie doch mit teuren Importen in die heimischen Märkte verbunden.64 Letztlich blieben so Abhängigkeiten erhalten und Kapital gebunden, was im Entwicklungsprozess hemmend wäre. Er wusste hier einige Länder, beispielsweise Algerien, Indien, Pakistan und Peru, hinter sich, die sich – auch wegen des eigenen Ausschlusses – bei den Expertentreffen in Genf und während der Konferenz gegen spezielle Präferenzen und für ein Generelles System der Präferenzen aussprachen.65 61 Das deutete sich bereits bei der Expertengruppe in Genf an. Vgl. NARA. RG 59. CFPF. Box 956. Economic. FT 3 UNCTAD (7/20/67). USmission Geneva to DOS: UNCTAD Manufacture Com and Group on Preferences. 25.7.1967. 62 Vgl. FRUS. 1964–68. Vol. VIII. International Monetary and Trade Policy. „Memo from President’s Deputy Special Assistant for National Security Affairs (Bator) to President Johnson“. 8.3.1967. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1964-68v08/d333 (17.7.2019). 63 Statement Prebisch, Algier 1967, S. 201–202. 64 Zu den Europäischen Gemeinschaften vergleiche auch den Beitrag von Andreas Weiß in diesem Band. 65 In den Ausschüssen und den Plenarsitzungen in Algier wurden die mitunter regional bedingten Differenzen sehr deutlich. Die G-77 waren gespalten darüber, ob und wie ein GSP wünschenswert sei oder nicht. Logischerweise waren Länder wie Chile, die Elfenbeinküste, Kame-

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Interessanterweise sprach Prebisch bei seiner Rede in Algier in diesem Zusammenhang auch den Ost-West-Handel an, der vormals immer aufgrund seiner politischen Brisanz außen vor geblieben war. Die Integration der sozialistischen Länder in den dynamischen Prozess des internationalen Handels sei gleich bedeutsam wie die Integration der Entwicklungsländer in das neue postkoloniale Handelssystem. Trotz dieser Forderung zog er eine Trennlinie zwischen industrialisierten Zentren und nicht industrialisierten, peripheren Ländern. Denn er betonte zugleich, dass er, wenn er von den industrialisierten Zentren beziehungsweise Ländern spreche, diese nicht nach ihren Unterschieden bei ihren sozialen oder politischen Systemen differenziere, sondern sie gleichermaßen anspreche.66 Das Problem der Entwicklung sei ein Weltproblem, was nach einer Lösung verlange, die alle Länder beinhalte. Nur durch die Umsetzung einer globalen Strategie mit konvergenten und synchronisierten Maßnahmen sei das Scheitern der UN-Entwicklungsdekade noch zu verhindern. Im Bereich des Handels, so Prebisch, gehe es weiterhin darum, den Marktzugang in die Industrieländer zu erleichtern und ein Präferenzsystem zu etablieren. Zugleich müssten die Entwicklungsländer auf Kooperation setzen und den Export durch geeignete Maßnahmen ausbauen. Im Bereich Finanzen müssten einerseits die Industrieländer internationale Ressourcen mobilisieren. Andererseits sollten die Entwicklungsländer einen klaren Fokus auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie strukturelle Reformen legen, um die Anwendung moderner Technologien und die notwendige soziale Mobilität zu gewährleisten.67 Wie dies zeigt, war Prebischs Ansatz weiterhin sehr ausgeglichen und forderte Zugeständnisse und Bemühungen sowohl der industrialisierten als auch der sich entwickelnden Länder. Die Reaktionen auf seine Rede fielen ambivalent aus und nicht alle Punkte fanden Eingang in das Abschlussdokument, die Charta von Algier. Die Delegarun, Madagaskar, Senegal – die spezielle Präferenzsysteme insbesondere mit der EG pflegten – nur bedingt daran interessiert, auf diese Vorteile zu verzichten, und forderten teilweise Kompensationen ein. Andere Länder wie Algerien, der Iran, Pakistan, Peru, die Philippinen, Tunesien oder Uruguay waren vorbehaltlos für ein GSP. Eine Mittlerposition nahmen beispielweise Argentinien, Brasilien und Jugoslawien ein, die sich für einen graduellen Abbau spezieller Präferenzsysteme sowie praktikable Lösungen einsetzten. Bolivien, Guatemala, Indonesien und Südkorea sprachen sich darüber hinaus für besondere Maßnahmen für die am wenigsten entwickelten Länder aus, da sie aufgrund mangelnder Produktionskapazitäten voraussichtlich am wenigsten von einem generellen Präferenzsystem für Fertigwaren profitieren würden. Vgl. The Group of 77 in UNCTAD. The 1967 Algiers Ministerial Conference. Provisional Summary of Records of the Plenary Sessions. Algiers 10 – 25 October 1967. In: Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 215–314. 66 Vgl. Statement Prebisch, Algier 1967, S. 201. 67 Vgl. Statement Prebisch, Algier 1967, S. 200.

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tionen aus Madagaskar und der Elfenbeinküste erklärten beispielsweise, dass sie keinesfalls den selben Standpunkt verträten und nicht bereit seien, die Diskussionen bei dem Treffen fortzuführen.68 Das Thema der Präferenzen findet sich allerdings in der Charta von Algier als ein zentraler Verhandlungspunkt für die UNCTAD II in New Delhi wieder. Diesen Kompromiss verdankten die G-77 der internen Arbeit in Algier, wie der indische Delegierte Lall festhält: [It] had managed to reconcile the differences of opinion which had constantly arisen among the countries members of the Group of 77; it had achieved great success in that those members of the Group which had enjoyed certain special preferences were willing to relinquish them in order that a general system of preferences applicable to all developing countries might be adopted. Such a sacrifice bore witness to the spirit of unity and solidarity that reigned among the G77.69

Der Kompromiss für das Abschlussdokument bestand darin, dass sich die Delegationen im Sinne einer solidarischen und einheitlichen Position darauf einigten, bestehende Präferenzen als vorübergehend zu betrachten, Veränderungen nur graduell anzustreben und zugleich für die am wenigstens entwickelten Länder („least developed countries“) möglichst Ausnahmeregeln zu schaffen. Für diese moderate Position machte sich neben Indien auch Jugoslawien stark. Schärfere Töne kamen im Verlauf der Konferenz vor allem seitens der algerischen Gastgeber auf. So warf Präsident Houari Boumedienne in seiner Eröffnungsrede den westlichen Ländern vor, sich über Jahrhunderte einer abscheulichen Ausbeutung („odiuos exploitation“) schuldig gemacht zu haben. Durch die friedliche Koexistenz von Ost und West werde diese sogar noch vertieft und die Konfliktlinie verlaufe mittlerweile zwischen Imperialismus und „Dritter Welt“ – „[an] antagonism between the rich North and the poor South“70. Der einzige Weg für den „armen Süden“ bestehe somit darin, sich durch gemeinsame Aktionen zu befreien und vor allem die volle Kontrolle über seine Rohstoffe zurück zu erlangen. Damit erweiterte er die Forderungen und hinterfragte auch indirekt den moderaten Ansatz der Preisstabilisierung, welchen die meisten Mitglieder als primäres Mittel gegen Preisfluktuationen verstanden, der aber keineswegs Fragen nach der Souveränität über Rohstoffe aufkommen ließ.

68 Vgl. Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 298. 69 Lall (Indien) zitiert nach Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 298. 70 Vgl. Speech of Houari Boumedienne at the First Ministerial Meeting of the Group of 77. First Plenary Session. 10.10.1967. In: Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 217– 220, hier S. 219.

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Diese radikalere Position setzte sich 1967 nicht durch.71 Das bestätigt auch der Ton der verabschiedeten Charta von Algier, welche auf den Tag genau 22 Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Charta unterzeichnet wurde. Sie enthielt im Kern viele Punkte, die von Prebisch und der UNCTAD eingebracht wurden. Von den Beteiligten wurde sie als Beginn einer neuen Ära, als Beweis für das Streben der Entwicklungsländer nach ökonomischer Souveränität und als Zeichen gegenseitiger Abhängigkeit gedeutet. So verwies der jugoslawische Delegierte J. Stanovnik darauf, [that] the discussions [at the conference] had centred on the developing countries’ need to free themselves from economic bondage for, as the late President Kennedy had said at the United Nations General Assembly, political freedom without economic development was a mockery. The unity and brotherhood of the developing countries reflected in the draft charter had been provoked by the need felt by those countries to co-operate in order to solve their economic problems, the need for a policy of inter-dependence.72

Zugleich bildete die Charta ein wichtiges Referenzdokument für die zweite UNCTAD in New Delhi 1968, die sich vor allem den Themen Rohstoffabkommen und deren Finanzierung, dem generellen Präferenzsystem, der Anerkennung des 1 %-Ziels für Entwicklungshilfe und den Problemen des internationalen Frachtverkehrs widmen sollte. Die Agenda griff somit alle Themen auf, die sich aus beziehungsweise in direkter Anknüpfung an Prebischs Ansatz ergaben. Pünktlich vor UNCTAD II endete die Kennedy-Runde des GATT, welche nicht viele Verbesserungen für die Entwicklungsländer mit sich brachte. Obgleich das Treffen in Algier zumindest augenscheinlich die Solidarität und Einheit gestärkt hatte, trugen die Entwicklungen bei den GATT-Verhandlungen nicht gerade zur Verbesserung der Stimmung bei.73 Die zweite UNCTAD-Konfe71 Ein britischer Beobachter spekulierte darüber, ob Boumediennes Ton vorrangig für die „home consumption“ vorgesehen war und, dass die G-77 bewusst darüber hinwegsahen, um die Arbeitsziele der Konferenz und die Einheit nicht zu gefährden. Vgl. TNA. FCO 61/344. Group of 77 conference [Algier]. Marshall to Dawbarn. 6.11.1967. 72 Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 304. 73 Vgl. TNA. FCO 61/344. British Legation to The Holy See. Rome to FO. Visit of Mr. K. B. Lall [Secretary of the Indian Ministry of Commerce] to the Pontifical Commission „Justice and Peace“. 30.10.1967; Lall bringt hier zum Ausdruck, dass in Algier ein Gefühl der Enttäuschung vorherrschte. Insbesondere die nicht erfüllten Versprechen der ersten UNCTAD-Konferenz und der geringe Fortschritt in den Entwicklungsländern hätten das Potenzial, „ideas and concepts of desperate conflicts“ zu produzieren. Wie man am Besuch Lalls in Rom sehen kann, spielte auch die katholische Kirche für die Länder des Südens eine Rolle im Ringen um Entwicklungsfragen. Die britische Regierung rechnete außerdem damit, dass der Vatikan sich zukünftig stärker im Sinne des von Papst Paul VI 1967 verfassten Populorum Progressio zu Entwicklungsthemen äußern wird.

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renz wurde von den beteiligten Akteuren daher mit gemischten Gefühlen erwartet. Wie die indische Premierministerin Indira Gandhi in ihrer Eröffnungsrede betonte, sei Indien ein guter Austragungsort, denn hier könnten die Delegierten die Probleme nicht nur in Form von Statistiken sehen, sondern in Form von Menschen auf der Straße. Diese Präsenz könne dazu beitragen, endlich die Bedeutung und Substanz des Konzepts der Weltgemeinschaft zu vertiefen. „But we [the Group of 77] are haunted by the fear that an historic opportunity to set the world community firmly on the road to peace and prosperity might again be missed.“74 Angesichts der ständig ignorierten Empfehlungen der ersten Konferenz sowie gescheiterter Verhandlung über Rohstoffabkommen wiesen mehrere Delegationen (u.a. Burundi, Brasilien, Bolivien, Indonesien, Kenia, Kolumbien, Kongo) auf die Notwendigkeit hin, im Sinne der Charta von Algier Maßnahmen zu formulieren, die nicht nur symbolischen, sondern praktikablen Charakter hätten.75 Mit dieser Erwartung fuhr auch Prebisch nach Delhi. Sein Bericht für die Konferenz nahm die Verhandlung des GATT als Ausgangspunkt.76 Die angestrebte Integration der Entwicklungsländer in die globalen Handelsprozesse werde über das GATT nicht stattfinden können, da es nichts gegen die vorhandenen historisch gewachsenen Defizite tue. Anders als die potentielle Reinkorporation der sozialistischen Länder in die Nachkriegsordnung, unterliege die

74 Address by Mrs. Indira Gandhi, Prime Minister of India, at the Inaugural Ceremony. 1 February 1968. In: Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Second Session. New Delhi, 1 February–29 March 1968. Vol. I. Report and Annexes (TD/97). Annex IX. Hrsg. von United Nations. New York 1968. S. 409–411. Hier S. 410. 75 Der brasilianische Außenminister merkte zudem in seiner Rede an, dass sich sowohl in der nördlichen als auch südlichen Hemisphäre Länder über die ideologischen Grenzen hinweg in wirtschaftlichen Belangen miteinander solidarisieren. Er benutzt darüber hinaus noch die Metapher einer umgekehrten Bluttransfusion von den Schwachen zu den Starken, um auf die Wohlstandsakkumulation der industrialisierten Länder auf Kosten der armen Länder hinzuweisen. Vgl. Summary of Statement Made at the 40th Plenary Meeting. 5 February 1968. By José de Magalhaes Pinto, Minister of Foreign Affairs of Brazil. In: Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Second Session. New Delhi, 1 February–29 March 1968. Vol. I. Report and Annexes (TD/97). Hrsg. von United Nations. New York 1968. S. 83–85. 76 Prebisch wusste seit 1967 davon, dass innerhalb der EG zwei Lager existierten, deren Ansichten sich hinsichtlich der GATT sowie der Agrarpolitik unterschieden. Sicco Mansholt, damaliger Landwirtschaftskommissar und von 1972–1973 Präsident der Europäischen Kommission, sprach sich dafür aus, Verhandlungen über Rohstoffe im Rahmen der UNCTAD und nicht GATT zu verhandeln. Vgl. United Nations Office Geneva (UNOG). ARR 40/2344/007. Memo H. Matthias an R. Prebisch. „Important differences of view between Mr. Rey and Mr. Mansholt regarding the results of the Kennedy Round and future action that might be taken“. 18.7.1967.

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Integration der Entwicklungsländer einer „stubborn resistance“.77 „The new pattern of international trade is not yet world-wide in scope. Neither the socialist countries nor the periphery have yet been able to participate in this new pattern or reap any substantial benefit from it.“78 Die Charta von Havanna und ebenso das GATT gingen – so Prebisch – davon aus, dass sich die entwickelnden Länder als Gleichrangige und unter Anwendung der gleichen Regeln am Welthandel beteiligen könnten. Jedoch sei dies ohne eine Übergangsphase, auf die notwendigerweise eine Liberalisierung folgen müsse, nicht möglich. Damit verteidigte er die Anwendung einer importsubstituierenden Strategie, die protektionistische Maßnahmen beinhaltet. Wie schon in Algier kritisierte er die vertikalen Präferenzen, welche zu dieser Zeit zwischen Lateinamerika und den USA zur Disposition standen und warnte vor den Gefahren, die sich daraus ergeben würden. Nur die allgemeine Ausdehnung der Märkte bringe auch Vorteile für alle. So könnten die Industrieländer ebenfalls ihren eigenen Strukturwandel angehen, indem sie Produktionsstandorte verlegen und verstärkt im- wie exportieren würden. Diesen Zusammenhang zwischen strukturellen Anpassungen in den industrialisierten Ländern und dem Entwicklungsprozess in der „Dritten Welt“ betonte er seit der ersten UNCTAD-Gipfelkonferenz 1964 fortlaufend. Entwicklung sei nur durch Kooperation und durch eine gemeinsame globale Strategie, die Maßnahmen („converging measures“) in den Zentren sowie der Peripherie verlange, möglich. This policy of internal development makes it absolutely necessary for the peripheral countries to undertake with determination a series of internal transformations of their structures and attitudes, where this has not already been done; and it also requires them to be prepared to adhere to the reasonable discipline of a development plan, to spur on their reciprocal trade by means of regional or sub-regional groupings aimed at economic integration, and to promote inter-regional measures for the expansion of trade.79

Die Betonung interner Reformen, der notwendigen Disziplin und eines strikten Planes sowie regionaler Kooperation waren zentrale Punkte in seiner Begrüßungsrede. Nur durch die Anwendung dieses Pakets könnten die drei Problemfelder „trade gap“ (fortwährender Trend zum externen Ungleichgewicht), „sa77 Prebisch, Raúl: Towards a Global Strategy of Development. Report by the Secretary General of the United Nations Conference on Trade to Development to the Second Session of the Conference (E.68.II.D.6). New York 1968. S. 46 (§ 293). 78 Prebisch, Global Strategy, S. 46. 79 Statement Made at the 39th Plenary Meeting, 2 February 1968, by Mr. Raúl Prebisch, Secretary-General of UNCTAD. In: Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Second Session. New Delhi, 1 February – 29 March 1968. Vol. I. Report and Annexes (TD/97). Annex IX. Hrsg. von United Nations. New York 1968. S. 416–420. Hier S. 417.

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vings gap“ (chronische Disparität zwischen verfügbaren Kapital und steigenden Investitionsanforderungen) und externe Verwundbarkeit (durch geringe Diversität beim Export) der peripheren Länder überwunden werden. Die industrialisierten Länder rief er weiterhin dazu auf, den Marktzugang zu erleichtern, für Technologietransfer einzutreten und eine stabile Finanzierung zu gewährleisten. Letztere müsse zudem projektungebunden sein, zugleich aber an ihrer Leistung gemessen werden. Prebisch taktierte hier sehr bewusst und machte mit der Bindung von Geldauszahlungen an die gemachten Fortschritte eine wichtige Konzession in Richtung der industrialisierten Länder, die aufgrund angespannter wirtschaftlicher Lagen nicht viel Motivation zeigten, zusätzliche Mittel für vage Entwicklungsanstrengungen aufzubringen.80 Zur Erfüllung der hohen Erwartungen an die Konferenz insbesondere hinsichtlich konkreter Ergebnisse konnten weder Prebischs Bericht noch seine beiden Reden im Plenum beitragen. Aufgrund der Arbeitslast des UNCTAD-Sekretariats stand der Bericht erst sehr kurzfristig vor der Konferenz den Delegationen für Vorabkonsultationen zur Verfügung.81 Obgleich er nur wenige neue Punkte enthielt, kam es – nachdem tagelang Länderstatements im Plenum gehalten worden waren – in der Kommissionsphase der Konferenz zu einem Stillstand, und eine produktive Einigung zwischen den Gruppen schien nicht in Sicht. Erst die auf diplomatisch hoher Ebene angesiedelten Treffen in Prebischs Hotelzimmer, der sogenannten „Everest Group“, brachten Fortschritte.82 So konnten zumindest für zentrale Arbeitsgebiete Formulierungen ausgearbeitet werden, die alle Delegationen akzeptierten. Der Fokus lag hier wie auch auf der Konferenz in Algier auf dem Thema Präferenzen, was zu einem Prüfstein für die G-77 wurde.83 Denn die Stimmung zwischen den lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern war hinsichtlich dieses Themas immer noch angespannt, was sich in Algier bereits angedeutet hatte. Letztlich einigten sich die Delegier80 Beispielsweise reduzierte die USA ohnehin ihr offizielles Entwicklungshilfebudget 1968 um 810 Millionen US-Dollar, was für Indien eine Kürzung der US-Gelder um 40 % bedeutete. Vgl. FRUS. 1964–1968. Vol. IX. International Development and Economic Defense Policy; Commodities. „Memorandum from the Administrator of the Agency for International Development (Gaud) to President Johnson“. Washington, 29.7.1967. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1964-68v09/d66 (25.7.2019). 81 Vgl. Gosovic, Branislav: UNCTAD. Conflict and Compromise. Berkeley 1972. S. 309. FN 12. 82 Die Gruppentreffen werden in den britischen Dokumenten als „Everest Group“ bezeichnet. In der Sekundärliteratur findet man zudem den Begriff der „Himalayan Group“. Vgl. Dosman, Life, S. 432. 83 Laut Guiliano Garavini war das Thema Präferenzen das am intensivsten verhandelte in New Delhi. Vgl. Garavini, Guiliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South. Oxford 2012. S. 78.

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ten darauf, ein spezielles Komitee zu etablieren, welches die finale Bestätigung und Implementierung bis Ende 1970 kontrollieren sollte.84 Die Strategie der in Gruppe B formierten westlichen Industrieländer, fortwährend die Notwendigkeit weiterer Studien zu betonen und zudem technische Details in das Zentrum der Diskussion zu rücken, zahlte sich in Bezug auf andere Themen aus. So fielen die Resolutionen zu den Themen Finanzierung von Rohstoffabkommen, Handel von Primärgütern oder internationaler Frachtverkehr wenig konkret aus oder regten lediglich Untersuchungen von Expertengruppen an. Recht ernüchtert reisten sowohl Prebisch als auch eine Vielzahl der Delegierten aus New Delhi ab. Nicht nur die tansanische Regierung sah die UNCTAD II als einen verfehlten Versuch an, die Belange der Entwicklungsländer auf globaler Ebene durchzusetzen.85 Sidney Dell, Direktor des UNCTAD-Büros in New York, erklärte den Ausgang der Konferenz vor allem mit den herrschenden Missverständnis in den industrialisierten Ländern hinsichtlich der Interessen der Entwicklungsländer.86 Prebisch selbst berichtete an Generalsekretär U Thant, dass insbesondere der politische Wille seitens der entwickelten Länder fehle und spekulierte: „It seems that prosperity, in people as well as in nations, tends to form an attitude of detachment if not indifference to the well-being of others.“87 Unter dem Eindruck der Unbelehrbarkeit der industrialisierten Welt verließ Prebisch auch knapp ein Jahr nach der Konferenz desillusioniert die UNCTAD und Manuel Pérez-Guerrero nahm den Sitz des Generalsekretärs ein.88 Jedoch hatte Prebisch die Formationsphase der UNCTAD entscheidend geprägt. Unter ihm positionierte sie sich innerhalb der Ordnung der internationalen Organisationen und konzentrierte ihr Engagement auch nach seinem Abschied auf drei zentrale Gebiete: i) Verbesserung der internationalen Liquidität durch 84 Vgl. Resolution 21 (II), Preferential or Free Entry of Exports of Manufactures and Semi-Manufactures of Developing Countries to the Developed Countries. In: Proceedings UNCTAD Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Second Session. New Delhi, 1 February–29 March 1968. Vol. I. Report and Annexes (TD/97). Annex IX. Hrsg. von United Nations. New York 1968. S. 38. Der Bericht des Komitees lag im Oktober 1970 vor und fand Eingang in die Strategie der zweiten Entwicklungsdekade der UN. Dort wurde die Einführung eines generellen, nicht-diskriminierenden, nicht-reziproken Präferenzsystem für die Export der Entwicklungsländer im Jahr 1971 als integraler Bestandteil der Strategie empfohlen. Vgl. A/Res/2626 (XXV). International Development Strategy for the Second United Nations Development Decade. 24.10.1970. §32. 85 Vgl. NARA. RG 59. CFPF. Box 959. FT 3 UNCTAD (4/1/68). Amembassy Dar es Salaam to DOS. UNCTAD viewed as Failure by Tanzanian Chief Delegate. 6.4.1968. 86 Vgl. Toye/Toye, UN, S. 228. 87 UNNY. S-0858-0002-14. Raúl Prebisch to Secretary General. 3.5.1968. 88 Für Prebischs Ausscheiden siehe u. a. Dosman, Life, S. 440f.; zur Wahl des eher als nüchtern und „businesslike“ beschriebenen Manuel Pérez-Guerrero siehe Toye/Toye, UN, S. 233.

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Verknüpfung weiterer Finanzquellen an Sonderziehungsrechte bei internationalen Finanzinstitutionen; ii) Implementierung des Generellen Präferenzsystems (Generalized System of Preferences; GSP), iii) Ausbau der internationalen Rohstoffabkommen mit zentraler Finanzierung.89

Lima, Santiago de Chile, Algier, New York – Zur Geburt der NWWO Der neue Generalsekretär Manuel Pérez-Guerrero hatte wenig Erfolg beim Aufbau weiterer Rohstoffabkommen, da vor allem die Industrieländer wenig Interesse an der Regulierung der Rohstoffmärkte zeigten.90 Allerdings gab es hinsichtlich der Souveränität über natürliche Ressourcen verstärkt Initiativen auf Ebene der UN zu Beginn der 1970er Jahre. Denn Rohstoffe und insbesondere die Forderung nach deren souveränen Kontrolle gewannen für die Länder der „Dritten Welt“ fortwährend an Relevanz.91 Die entsprechende 1968 in Algier von Boumedienne formulierte Forderung fand innerhalb der Bewegung der Bündnisfreien92 sowie der G-77 verstärkt Anhänger. Letztere trafen sich zum zweiten Ministerialtreffen 1971 in Lima, mit dem Ziel ihre Positionen für die nächste UNCTAD zu harmonisieren. Als amtierender Präsident der G-77 ergriff der algerische Außenminister Abd al-Aziz Bouteflika zu Beginn der Konferenz die Chance, um die Delegierten auf die Relevanz von Rohstoffen bei der Herstellung einer gerechten internationalen Ordnung hinzuweisen: The second event which had recently disturbed the course of international relations, and which represented a positive revolution in the relationship between developed and devel89 Toye/Toye, UN, S. 229. 90 Toye/Toye, UN, S. 232f. 91 Vgl. die Resolutionen der Generalversammlung: A/Res/626 (VII). Right to Exploit Freely Natural Wealth and Resources. 21.12.1952, A/Res/1314 (XIII). Recommendation Concerning International Respect for the Right of Peoples and Nations to Self-Determination. 12.12.1958, A/ Res/1515 (XV). Concerted Action for Economic Development of Economically Less Developed Countries. 15.12.1960, A/Res/1803 (XVII). Permanent Sovereignty over Natural Resources. 21.12.1962, A/Res/2386 (XXIII). Permanent Sovereignty over Natural Resources. 19.11.1968 sowie A/Res/2692 (XXV). Permanent Sovereignty over Natural Resources of Developing Countries and Expansion of Domestic Resources of Accumulation for Economic Development. 11.12.1970. 92 Wie Jonas Kreienbaum in seinem Beitrag betont, konzentrierten sich die Bündnisfreien seit ihrem dritten Gipfeltreffen in Lusaka verstärkt auf das Gebiet der Ökonomie. Dabei griffen sie direkt auf Instrumente (bspw. Rohstoffabkommen) sowie Ergebnisse der UNCTAD zurück.

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oping countries, was the oil war which the petroleum-producing countries had had to fight in 1971 and which had ended with the victory of the entire Third World. That victory marked a decisive step forward in the establishment of new economic relations based on justice. It was of particular importance because oil and all other commodities dominated the exports of the Third World and determined the prospects for its progress during the whole of the forthcoming decade.93

In Santiago de Chile, dem Austragungsort der dritten UNCTAD-Konferenz, so Bouteflika weiter, sei es notwendig, die Anerkennung der Rohstoffziele, welche die internationale Entwicklungsstrategie der UN benannte, durchzusetzen. Nur so könne erreicht werden, dass Rohstoffe zu einem realen und dynamischen Faktor für Entwicklung würden.94 Bouteflikas Fokus auf die Rohstofffrage scheint eindeutig von der Erfahrung der Algerier mit den Öl- und Gasreserven im eigenen Land geprägt gewesen zu sein.95 Seine einseitige Perspektive spiegelte sich allerdings nicht im Abschlussdokument von Lima wider. Kondensiert artikulierten die G-77 in der Charta von Lima ihre Standpunkte und umrissen die aktuelle Problemlage aus ihrer Sicht. „The state of affairs – so acute a contrast between two worlds that are geographically so close and yet so far apart in their standard of life – fills us with concern and dismay, and obliges us to act without delay to carry our peoples forward to higher levels of social justice and human dignity.“96 So sei die internationale wirtschaftliche Kooperation zwischen den zwei Welten insbesondere durch die internationalen Entwicklungen und einen drohenden Handelskrieg zwischen den demokratischen Marktökonomien gefährdet. Zudem übertrage sich die von ihnen ausgehende internationale

93 Speech of Acting President Mr. Bouteflika (Algeria) at First Plenary Meeting. Second Ministerial Meeting of the Group of 77. Lima, 28 October–7 November 1971. In: Jankowitsch/Sauvant/ Weber, Documents G77, Vol. II, S. 26–32, hier S. 30. Bouteflika spielt hier auf das Teheran- und das Tripolis-Abkommen an, die 1971 verabschiedet wurden und den beteiligten Staaten mehr Kontrolle über ihre nationalen Ölreserven einräumten und zugleich die Macht der multinationalen Ölfirmen minimierte. Siehe Petrini, Francesco: Eight Squeezed Sisters. The Oil Majors and the Coming of the 1973 Oil Crisis. In: Oil Shock. The 1973 Crisis and its Economic Legacy. Hrsg. von Elisabetta Bini u. Guiliano Garavini u. Federico Romero. London/New York 2016. S. 89–114; Dietrich, Christopher R. W.: Oil Revolution. Anticolonial Elites, Souvereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization. Cambridge 2017. S. 191–227. 94 Vgl. den Beitrag von Rüdiger Graf in diesem Band. 95 Im Februar 1971 kündigte die algerische Regierung die (Teil-)Verstaatlichung der französisch kontrollierten Öl- und Gasvorkommen an und setzte diese im Februar um. Zu den Verhandlungen zwischen der OPEC und den Öl-Multis siehe u. a. Dietrich, Christopher R.W.: ‚First Class Brouhaha‘. Henry Kissinger and Oil Power in the 1970s. In: Bini/Garavini/Romero, Oil Shock, S. 36–62. 96 Declaration of Lima. Part 1. §1. In: Jankowitsch/Sauvant/Weber, Documents G77, Vol. I, S. 199–232, hier S. 200.

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Währungskrise – ausgelöst durch verschleppte strukturelle Anpassungen – direkt in die Entwicklungsländer. Erschwerend kämen noch neue protektionistische Maßnahmen, wie die Erhöhung von Einfuhrzöllen in die USA, sowie der gleichzeitige Rückbau der Entwicklungshilfe dazu.97 Als Lösung führten sie insbesondere die rasche Implementierung des Generellen Präferenzsystems sowie eine Stärkung der Rolle und der Autorität des Internationalen Währungsfonds (IWF) an. Darüber hinaus gelte es, die UNCTAD zu aktivieren und stärker in Verhandlungen über die Reform des internationalen Währungssystems einzubinden, was ihr fortwährend mit dem Verweis, andere Institutionen seien dafür zuständig, verwehrt bliebe. Wie schon die Charta von Algier wurde auch diejenige von Lima zu einem Referenzdokument für die nächste UNCTAD-Konferenz in Santiago de Chile. Einen weiteren Impuls erfuhr die Konferenz allerdings durch eine Initiative der mexikanischen Regierung, denn Präsident Luis Echeverría Álvarez verkündete ebenfalls 1971 in der UN-Generalversammlung: „[After] the era of political decolonization […] there comes another, of economic decolonization.“98 Zugleich sprach er sich für eine grundlegende Reorganisation der wirtschaftlichen Beziehungen unter den Nationen aus. Die Monate vor der UNCTAD III in Santiago de Chile nutzte Echeverría dazu, sein Konzept für eine Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten weiter auszuarbeiten.99 97 Präsident Nixon unterrichte am 15. August 1971 die US-Amerikaner davon, dass der US-Dollar vor Attacken internationaler Spekulanten geschützte werden müsse und dafür temporär die Konvertierbarkeit in Gold aufgehoben werden müsse. Der im Nachhinein sogenannte „NixonSchock“ zerbrach somit eine zentrale Säule (fixe Wechselkurse) der Bretton-Woods-Institutionen und öffnete die Türen für eine neue globale Wirtschaftsordnung. Bereits 1967 hatte Großbritannien das Britische Pfund unter einem negativen Bilanzzahlungsdefizit entwertet, womit sich nachhaltige Veränderungen insbesondere in der internationalen Währungspolitik anbahnten. Vgl. u. a. Ogle, Vanessa. State Rights Against Private Capital. The „New International Economic Order“ and the Struggle Over Aid, Trade and Foreign Investment, 1962–1981. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarism, and Development 5 (2014). Nr. 2. S. 211–234; Maier, Charles S.: „Malaise“. The Crisis of Capitalism in the 1970s. In: The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Hrsg. von Niall Ferguson u. Charles S. Maier u. Erez Manela u. Daniel J. Sargent. Cambridge 2010. S. 25–48; Eich, Stefan/Tooze, Adam: The Great Inflation. In: Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Hrsg. von Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael u. Thomas Schlemmer. Göttingen 2016. S. 173– 196. 98 A/PV.1952. „Address by Mr. Luis Echeverría Álvarez, President of the United Mexican States“. General Assembly, 26 t h Session: 1952 n d Plenary Meeting. Tuesday, 5 October 1971, New York. https://digitallibrary.un.org/record/734953/files/A_PV-1952-EN.pdf (27.8.2019). 99 Vgl. Thornton, Christy: A Mexican International Economic Order?. Tracing the Hidden Roots of the Charter of Economic Rights and Duties of States. In: Humanity: An International

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In seiner Rede im Plenum vor 141 Regierungsdelegationen machte sich Echeverría in Santiago de Chile dafür stark, im Sinne der globalen Gemeinschaft diverse Prinzipien zu diskutieren und diese als feste rechtliche Grundlage in einer Charta zu formulieren. Rohstoffsouveränität, Preisstabilität und Präferenzen benannte er als zentrale Kernelemente, wobei er darauf verwies, dass die Zukunft der UNCTAD mit der Umsetzung des Generellen Präferenzsystems zusammenhänge. Darüber hinaus sei es wichtig, supranationale Firmen zwar zu Investitionen zu ermutigen, aber die Verwendung der Gelder letztlich unter staatliches Recht zu stellen sowie die Einmischung der Firmen in staatliche Angelegenheiten zu verbieten.100 Dies motivierte Äthiopien, im Namen der G-77, einen Resolutionsentwurf einzubringen, der vor allem die rechtlichen Aspekte der Charta hervorhob. Die auf der ersten UNCTAD-Konferenz verabschiedeten Prinzipien reichten nicht mehr aus, um die schwächeren Länder vor ausländischen wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Recht kontrovers gestaltete sich die folgende Debatte. So unterstützten sowohl die Repräsentanten der (osteuropäischen) sozialistischen sowie einiger westeuropäischer Länder (Frankreich, Luxemburg, Niederlande) den Vorschlag. Ein Großteil der anderen westlichen Länder enthielt sich bei der Abstimmung. Letztere argumentierten, dass eine Charta mit solch einer Reichweite in die Verantwortung der Generalversammlung gehöre, wohingegen die Entwicklungsländer UNCTAD aufgrund ihrer Erfahrungen als die passendere Organisation ins Feld führten.101 Die Konferenzresolution 45 (III) „Charter of the economic rights and duties of states“ rief den UNCTAD-Generalsekretär dazu auf, in Absprache mit Regierungen eine Arbeitsgruppe aus 31 Ländern zu etablieren, die einen ersten Entwurf erstellen, diesen an die Mitgliedsländer für Kommentare weiterreichen, erneut im Trade and Development Board der UNCTAD zur Diskussion stellen und schließlich der Generalversammlung zur Beschlussfassung vorlegen solle.102

Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 9 (2018). Nr. 3. S. 389–341. Hier S. 402. 100 Vgl. Summary of Address Given at the 92nd Plenary Meeting, 19 April 1972 by Mr. Luis Echeverría Álvarez, President of the United Mexican States. In: Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Third Session. Santiago de Chile. 13 April to 21 May 1972. Vol. I A. Part one. (TD/180). Hrsg. von United Nations. New York 1973. S. 184–186. 101 Vgl. Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Third Session. Santiago de Chile. 13 April to 21 May 1972. Vol. I A. Part one. (TD/180). Hrsg. von United Nations New York 1973. S. 35. 102 Vgl. Resolution 45 (III). Charter of Economic Rights and Duties of States. In: Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Third Session. Santiago de Chile. 13 April to 21 May 1972. Vol. I A. Part one. (TD/180). Hrsg. von United Nations. New York 1973. S. 58f.

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Der endgültige Entwurf der Charta lag ein Jahr später rechtzeitig der Generalversammlung vor. 1973 ging jedoch nicht als das Jahr in die Geschichte ein, in dem die Generalversammlung die Charta der ökonomischen Rechten und Pflichten der Staaten verabschiedete. Die Intention der Charta verpuffte in den sich überschlagenden Ereignissen des Jahres. Denn 1973 steht vielmehr für die direkte Konfrontation zwischen Nord und Süd im Kontext des „Ölpreisschocks“. Der gestiegene Ölpreis am Weltmarkt – einerseits ausgelöst durch die kollektive Drosselung der Ölförderung durch die OPEC und andererseits verschärft durch das Embargo gegen einzelne Länder als Reaktion auf deren Engagement für Israel im Jom-Kippur-Krieg – führte den westlichen Länder ihre Abhängigkeit vom Öl vor Augen und wurde seitens der OPEC als Sieg gefeiert.103 Zeitgleich nahmen die Initiativen im Bereich Weltwirtschaft an Fahrt auf und radikalere Stimmen setzten sich durch. So stellte Houari Boumedienne, zur Gruppe der Hardliner in den Reihen der „Dritten Welt“ gehörend, auf dem vierten Gipfeltreffen der Bündnisfreien in Algier im September fest, dass die Wirtschaftssysteme der Supermächte einen stark exkludierenden Charakter aufwiesen und beide Seiten wenig für die Integration der unterentwickelten Länder täten.104 Das dort verabschiedete Aktionsprogramm benannte zudem Produzentenassoziationen als mögliches Mittel, um die Verschlechterung der Austauschverhältnisse zu verhindern und lieferte somit einen wichtigen Impuls in Richtung weiterer Rohstoffkartelle. Algerien spielte in dieser Zeit eine zentrale Rolle innerhalb der „Dritten Welt“, da es zeitgleich den Vorsitz der Bündnisfreien sowie der OPEC innehatte und zugleich Mitglied der G-77 war. Bezeichnend ist, dass ebenfalls Boumedienne am 30. Januar 1974 UN-Generalsekretär Kurt Waldheim per Brief dazu aufrief, eine Sondersitzung der Generalversammlung mit dem Fokus auf Rohstoffen einzuberufen.105 Er stellte sich damit, wie auch die meisten westlichen Länder, gegen einen Vorschlag Frankreichs, eine globale Energiekonferenz durchzuführen, die vor allem als Neubeginn der Verhandlungen zwischen Nord und Süd angedacht war.106 Boumedienne nahm darauf Bezug, aber ergänzte in seinem Brief an Waldheim: 103 Zur Interpretation des Ölpreisschocks siehe u. a. Garavini, Empires, S. 168f.; Graf, Rüdiger: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren. München 2014. 104 Vgl. Byrne, Mecca, S. 295. 105 Vgl. A/9541 & Corr. 1. Letter dated 30 January 1974, Addressed to the Secretary-General by the Permanent Representative of Algeria to the United Nations. Request for the Convening of a Special Session of the General Assembly. https://digitallibrary.un.org/record/826621/files/ A_9541-EN.pdf (27.8.2019); https://digitallibrary.un.org/record/826620/files/A_9541_Corr-1EN.pdf (27.8.2019). 106 Vgl. Garavini, Empires, S. 187.

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[It] seems to us that the proposal made by the French Government on 18 January 1974 could be of value if, instead of being restricted to the problem of energy alone, it covered all the questions relating to all types of raw materials. Thus, in order that useful discussions may be held on development and on international economic relations and all their implications with a view to establishing a new system of relations based on equality and the common interests of all States […].107

Er kritisierte in seinem Aufruf das alte, existierende System und verwies auf den Zusammenhang von Rohstoffen, Handel und globaler sozioökonomischer Entwicklung. Jedoch sei, im Angesicht des fehlenden politischen Willens der reichen Länder zur Umsetzung der Ziele der zweiten UN-Entwicklungsdekade, ein radikales Umdenken notwendig, um ein neues, gerechteres und ausgeglichenes System zu etablieren. Als Reaktion darauf fand zwischen dem 9. April und dem 2. Mai 1974 die Sechste Sondersitzung der Generalversammlung mit dem Thema Rohstoffe und Entwicklung statt. In seiner Rede während der Sondersitzung umriss Boumedienne die Richtlinien für eine Strategie, die den notwendigen Wandel bringen sollte: 1) souveräne Kontrolle der nationalen Ressourcen durch die Regierungen der Entwicklungsländer; 2) kohärente Strategie für die Entwicklung der Landwirtschaft und der Industrie (lokale Verarbeitung der Rohstoffe); 3) mehr finanzielle, technische und kommerzielle Hilfsleistungen der industrialisierten an die sich entwickelnden Länder; 4) Belastungen der Entwicklungsländer mindern; 5) spezielle Maßnahmen für besonders bedürftige Länder.108 Boumedienne lenkte durch die Rückbindung an die unfairen Handelsbedingungen sowie an die Strukturen des alten Welthandelssystem geschickt vom zentralen Kern der Diskussion, den hohen Ölpreisen und den daraus entstehen Effekten, ab. Algerien war somit Stimmführer der und zugleich Vermittler innerhalb der „Dritten Welt“, obgleich es als ölexportierendes Land zu den Gewinnern der Situation gehörte. So verwies beispielsweise der liberische Präsident William Tolbert auf die negativen Effekte und mögliche ernsthafte Rückschläge für einige Länder, welche nicht von den Ölgewinnen profierten.109 Er deutete damit auch indirekt die Gefahr an, die durch die Neubildung finanzieller Zentren in Hinblick auf die Einheit der „Dritten Welt“ entstehen 107 A/9541 & Corr. 1. 108 Vgl. A/PV.2208. „Address by Mr. Houari Boumediène, President of the Revolutionary Council and of the Council of Ministers of the People’s Republic of Algeria“. General Assembly, 6th Special Session: 2208th Plenary Meeting. Wednesday, 10 April 1974, New York. §§8388. https://digitallibrary.un.org/record/727153/files/A_PV-2208-EN.pdf (27.8.2019). 109 Vgl. A/PV.2209. „Address by William R. Tolbert, President of the Republic of Liberia“. General Assembly, 6th Special Session: 2209th Plenary Meeting. Wednesday, 10 April 1974, New York. https://digitallibrary.un.org/record/765823/files/A_PV-2209-EN.pdf (27.8.2019). Vgl. auch den Beitrag von Jonas Kreienbaum in diesem Band.

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könnte, insofern es keine speziellen Maßnahmen für erdölimportierende Entwicklungsländer gäbe.110 Diese brisante Situation blieb auch den westlichen Beobachtern nicht verborgen. Die US-Delegation stellte eine klare Diskrepanz zwischen den moderaten (Indien, Venezuela) und den radikalen (Algerien, Irak, Zaire, Uganda, Guinea, Libyen) Kräften innerhalb der G-77 fest. Letztere ‚kauften‘ mittels ihrer neu gewonnenen Finanzstärke und gemachter Versprechungen wohl sogar die schwächsten Elemente innerhalb der G-77 ein und konnten sich so auch inhaltlich durchsetzen.111 Der Text der Deklaration sowie des Aktionsprogramms basierte vor allem auf der Zusammenarbeit von vier Personen: Houari Boumedienne, Luis Echeverría Álvarez, Manuel Pérez-Guerrero sowie Mohammad Reza Pahlavi.112 Extrahiert man die Kernelemente beider Abschlussdokumente113, wird deutlich, wie sich einerseits die Themen Rohstoffe und Souveränität widerspiegelten, und andererseits, wie stark sie von den Gedanken und Ideen der vorherigen Deklarationen und Prinzipien geformt waren. Den Handel betreffend ist die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen ebenso ein zentrales Element wie die Fixierung von Rohstoffpreisen mittels internationaler Rohstoffabkommen sowie der gesicherte Rohstoffexport verbunden mit besserem Marktzugang über Präferenzen. Im finanziellen Bereich blieben als weitere konstante Forderungen der Ruf nach der Kontrolle ausländischer Investitionen, besseren Mechanismen zum Schuldenmanagement, dem Ausbau von Hilfsleistungen – allerdings ausgedehnt in Richtung der erdölexportierenden Länder – sowie der Aufbau spezieller Programmen für besonders schwach entwickelte Länder.

110 Auf Grundlage dieser Argumentation entstand die Kategorie der „Most Seriously Affected Countries“ (MSACs), die letztlich vor allem zu Rangeleien unter den ärmsten Ländern führte, da es um die Verteilung zusätzlicher Gelder ging. Beispielhaft lässt sich dies an Dokumenten der indischen Regierung belegen. Sie insistiert nach dem Ölpreisschock darauf, dass Indien in die Gruppe der MSACs aufgenommen werden soll, um möglichst viele Hilfsgelder zu bekommen sowie mit besonderen Schuldenregelungen bedacht zu werden. Vgl. National Archives of India (NAI). Sr. 239. UI/243/9/75 Vol. II. UNCTAD – (i) 4th Session in Nairobi in May 1976 (ii) Prep mtg. Of Group of 77 in Djakarta (13-22/2) and Manila (26/1/76 to 6/2/76). Report Manila Mtg. of the G77. (ohne Datum). 111 Vgl. FRUS. 1969–1976. Vol. E-14. Part 1. Documents on the United Nations. 1973–1976. Airgram A-4568. From Department of State to All diplomatic posts. Washington, June 5, 1974. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1969-76ve14p1/d16 (27.8.2019). 112 Vgl. Rist, Gilbert: The History of Development. From Western Origins to Global Faith. London/New York 2006. S. 144. 113 A/Res/S-6/3201. Declaration on the Establishment of a New International Economic Order. 1.5.1974; A/Res/S-6/3202. Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order. 1.5.1974.

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Trotz der Diversität ihrer Interessen sowie ihres Entwicklungsstandes hatten die Länder der „Dritten Welt“ es mit langem Atem geschafft, zumindest ein formales Programm auf UN-Ebene zur Reform der Weltwirtschaft zu formulieren. Es enthielt zahlreiche Aspekte, welche sie bereits seit 1964 im Kontext der UNCTAD verhandelt hatten. Die Umsetzung des ambitionierten und wahrlich nicht bis in letzte Details geklärten Aktionsprogrammes oblag unter anderem der UNCTAD und stand unter keinem guten Vorzeichen. Weder gab es klare Vorstellungen innerhalb der G-77 noch konnte auf die Unterstützung der industrialisierten Länder gesetzt werden. Obgleich der UN-Botschafter der US-Regierung John P. Scali die Resolution als ein „significant political document“114 bezeichnete, produzierte die Regierung in Washington zeitgleich im Verbund mit weiteren westlichen Industrieländern Gegenwind in anderen Institutionen.

Fazit Sowohl die Erklärung und das Programm der NWWO als auch die Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten (ebenfalls 1974) zielten auf die Etablierung einer demokratischen globalen Ordnung souveräner Staaten ab und verfolgten weiterhin eine Liberalisierung des Weltmarktes inklusive einer Integration der Entwicklungsländer. Letztlich wurde das Programm niemals umgesetzt und keine institutionelle Forderung erfüllt. Dennoch lebt die Idee, oder anders gesagt der Geist einer gerechten Handelsordnung in Konzepten wie „Fair Trade“ und globalisierungskritischen Denkansätzen fort.115 Wie deutlich wurde, hatte die Erklärung der NWWO mehrere ideelle Vorgänger. Erstens spielten die Berichte Raúl Prebischs für die beiden ersten UNCTAD-Konferenzen eine zentrale Rolle. Zweitens waren die regionalen Erklärungen sowie die Abschlusserklärungen sowohl der Bündnisfreien als auch der G-77 von Relevanz, da über sie jeweils regional- sowie themenspezifische Schwerpunkte in die Debatten innerhalb der UNCTAD eingebracht werden konnten. So fand die Charta von Algier zwar wenig Berücksichtigung in Delhi, aber gab generell die Struktur für die NWWO vor. Gleiches gilt für die Charta

114 A/PV.2229. John P. Scali. General Assembly, 6th Special Session: 2229th Plenary Meeting. Wednesday, 1 May 1974, New York. https://digitallibrary.un.org/record/765899/files/A_PV2229-EN.pdf (27.8.2019). 115 Vgl. u. a. Quaas, Ruben: Fair Trade. Eine global-lokale Geschichte am Beispiel des Kaffees. Köln 2015; Schmelzer, Marcel: The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm. Cambridge 2016.

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von Lima sowie die Charta der ökonomischen Rechten und Pflichten der Staaten.116 Die UNCTAD selbst verlor mit dem Ausscheiden Prebischs 1969 ohne Frage einen „charismatischen Kopf“, verfolgte jedoch ebenso unter den beiden Nachfolgern fortwährend eine konsistente Strategie. So brauchte das UNCTAD-Sekretariat bei der Formulierung der NWWO nur noch indirekt zu intervenieren, da die Kernideen bereits formuliert, hinreichend beworben sowie von einer Vielzahl an Mitgliedern inkorporiert waren. Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr federführend war, erfüllte sie seit ihrer Gründung mehrere Funktionen gleichzeitig. Erstens war sie das zentrale Forum für die Debatten über eine gerechte, postkoloniale Weltwirtschaftsordnung. Zweitens waren die Experten der UNCTAD die zentralen Ideengeber für das Programm der NWWO sowie weiterer internationaler Vereinbarungen im Bereich Welthandel, wie beispielsweise für das Generelle Präferenzsystem. Drittens fungierte die UNCTAD als Koordinierungsplattform für die G-77, welche in dieser Zeit über keine festen organisatorischen Strukturen neben der UNCTAD verfügte.117 Die Zusammenarbeit zwischen der UNCTAD und der G-77 gestaltete sich kompliziert, da Letztere einem ständigen internen Wandel unterlag, was zu Teilen ihre politische Durchschlagskraft schmälerte. In ihrer Formierungsphase bis 1968 galt es, Solidarität und Einheit innerhalb der Gruppe zu etablieren. Relevant dafür waren die Wortführer Ägypten, Indien und Jugoslawien. Bereits mit dem Tod Nehrus 1964 und der politischen Abwertung Ägyptens nach dem Sechstagekrieg 1967 nutzten andere Länder ihre Chance. So machte Algerien, 1968 in Algier noch von den moderaten Kräften gezügelt, spätestens mit der Forderung nach einer UN-Sondersitzung seinen Anspruch auf eine Vormachtstellung innerhalb der Gruppe deutlich. Damit wurde auch die Trennlinie zwischen moderaten und radikaleren Ländern schärfer und die G-77, vormals als ökonomische Vereinigung angedacht, politisierte sich stärker.118 Indien blieb über den gesamten Zeitraum hinweg zwar wichtig, setzte aber eher auf eine kompromissbereite, wenig proaktive Politik,

116 Vgl. Whelan, Daniel J.: „Under the Aegis of Man“. The Right to Development and the Origins of the New International Economic Order. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 6 (2015). Nr. 1. S. 93–108. Hier S. 97ff. 117 1971 gab es diesbezüglich ergebnislose Diskussionen. So äußerten mehrere Delegationen (Peru, Venezuela, Zentralafrikanische Republik, Uganda, Tunesien, Sierra Leone) während der Lima-Konferenz 1971 den Wunsch, die Arbeit der G-77 mit einer permanenten Struktur (Sekretariat, Kontaktgruppe, systematische Konsultationen) zu verbessern. Siehe dazu: Jankowitsch, Odette u. Karl P. Sauvant u. Jörg Weber (Hrsg.): The Third World without Superpowers. Ser. 2: The Collected Documents of the Group of 77. Vol. II. Dobbs Ferry, NY 1981. S. 26-198. 118 Vgl. Garavini, Empires, S. 134ff.; Thornton, Mexican International Economic Order, S. 27– 32.

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die niemals ihre bilaterale Komponente verlor. Ebenso lässt sich dies für Jugoslawien festhalten, welches bereits 1964 bei Gesprächen mit der US-Regierung betonte, gern im Sinne verantwortungsvoller und pragmatischer Lösungen zu kooperieren.119 Spezifische, zumeist regional bestimmte, Interessen verkomplizierten die Kooperation innerhalb der Gruppe. Radikale Veränderungen des Weltmarkts wie seitens der lateinamerikanischen Länder gefordert, standen häufig den, tendenziell von afrikanischen Ländern geforderten, besonderen Maßnahmen für die ärmsten Länder diametral gegenüber. Darüber hinaus bildeten sich als Folge des Ölpreisschocks Konfliktlinien und Spannungsfelder zwischen erdölexportierenden und erdölimportierenden Ländern heraus, die letztlich Partikularinteressen verstärkten und sich nachhaltig als strategisches Problem insbesondere hinsichtlich der Einheit des globalen Südens herausstellten. Bereits in den 1960er Jahren entstanden innerhalb des globalen Südens Differenzierungen, die sich in Definitionsversuchen wie „Least developed countries“, „Land-locked developing countries“ äußerten. Mit der Verwendung der Kategorie „Most Seriously Affected Countries“ (MSACs) auf UN-Ebene entstand als Reaktion auf die Ölpreiskrise die „Vierte Welt“, was die Arbeit der UNCTAD erschwerte und zur sukzessiven Spaltung des globalen Südens beitrug. Aber auch schon vor 1974 zeigten sich weitere potenzielle Konfliktherde und Hürden des kooperativen Verhaltens, insbesondere bei der Umsetzung spezieller Maßnahmen. So stellte sich beispielsweise bei der Implementierung des Generellen Präferenzsystems eher Ernüchterung auf allen Seiten ein, da sowohl die Industrieländer eigene Adaptionen bei der Implementierung vornahmen als auch vorhandene vertikale Präferenzen seitens der Entwicklungsländer am Leben erhalten wurden. Zwar gewähren heute einige Länder sowie die EU einen präferierten Zugang zu ihren Märkten, was aber keineswegs einer Liberalisierung des Handels, wie sie die Länder des globalen Südens während des NordSüd-Dialogs/-Konflikts forderten, gleichkommt. Entwicklungsminister Müllers Handelsinitiative verfehlt somit ihr eigentliches Ziel und müsste stattdessen an völlig anderen Stellen des Welthandelssystems ansetzen. Ein wirklich fairer Handel beschränkt sich nicht nur auf einen angeblich freien Marktzugang, sondern verlangt nach umfänglichen strukturellen Reformen auf globaler Ebene. Dazu bedarf es aber fortwährend des Willens und des Mutes – und nicht zuletzt der Einsicht und der Fairness – der wirtschaftlich starken Länder, die nicht nur in den 1970er Jahren fehlte.

119 Vgl. NARA. RG 59. CFPF 1964–66. Economic, Foreign Trade. Box 958. FT 3 Organization & Conferences (1/1/64). Telegram USUN NewYork (USUNNY) to SecStat. UN Trade Conference. 13.1.1964.

Michel Christian

Der Nord-Süd-Konflikt und die „neue internationale Arbeitsteilung“ in den 1970er Jahren: UNIDO, UNCTAD und die Vorgeschichte unserer „Globalisierung“ Was wir heute „Globalisierung“ nennen, verweist auf verschiedene Erscheinungen, die, so die landläufige Meinung, in den 1970er Jahren entstanden sind. Als der Begriff sich in den 1990er Jahren begann durchzusetzen, sollte er dazu dienen, einer neuen Weltlage gerecht zu werden. Die Rede von der „Globalisierung“ thematisierte die zunehmende Internationalisierung der Produktion und des Handels und verband damit die Beobachtung einer relativen Schwächung der Staaten und einer Stärkung neuer Akteure wie transnationalen Unternehmen. Die „Globalisierung“ stellte sich damit in ihrer dominanten neo-liberalen Definition als ein spontaner, von Marktkräften getriebener Prozess dar, der neue, weltweite Interdependenzen schuf.1 Als Wendepunkt und Anfang dieser „Globalisierung“ wurde im Rückblick oft das Jahr 1973 bemüht, da mit dem „Ölpreisschock“, dem Ende des Bretton-Woods-Systems und dem Anfang der weltwirtschaftlichen Krise eine neue Epoche begonnen, zumindest aber eine alte geendet habe. In vielerlei Hinsicht vereinfacht diese Vorstellung die historische Wirklichkeit. Die wirtschaftliche Internationalisierung war nämlich schon früher, lange vor den als Wasserscheide reklamierten 1970er Jahren, auf dem Weg, was die Zeitgenossen ebenfalls erkannten.2 Darüber hinaus hatte die Durchsetzung der „Globalisierung“ in dieser bestimmten Form keine Notwendigkeit und erfolgte nicht spontan, sondern sie ergab sich aus einer Reihe von Entscheidungen, die auf der Grundlage von neo-liberalen Vorstellungen getroffen wurden. Diese noch heute herrschenden Vorstellungen haben unseren Blick auf die 1970er 1 Knutsen, H. M.: Globalization and international division of labour: two concepts – one debate. In: Norsk Geografisk Tidsskrift 52 (2008). S. 151–162. 2 Kunkel, Sönke: Contesting globalization. The United States Conference on Trade and Development and the transnationalization of sovereignty, 1945–1990. In: International Organizations and Development. Hrsg. von Marc Frey u. Sönke Kunkel u. Corinna R. Unger. Basingstoke 2014. S. 240–258. Note: Die hier präsentierten Ergebnisse habe ich im Rahmen eines SNF-Forschungsprojektes erarbeitet (Swiss National Fund, Projekt Nr. 100011_152600/1 und 100011_175749/1). https://doi.org/10.1515/9783110682625-008

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Jahre dadurch beeinflusst, dass wir sie oft nur als Krisenjahre sehen, wobei die „Globalisierung“ in ihrer neo-liberalen Form die Antwort auf diese Krise gewesen wäre. In den Augen der Zeitgenossen war jedoch die Antwort auf die Krise alles andere als selbstverständlich. Sie öffnete vielmehr eine Zeit der Unsicherheit, in der unterschiedliche Interpretationen der gegenwärtigen und zukünftigen Weltlage konkurrierten. In dieser Debatte stellte das neo-liberale Denken mit seiner Wertschätzung der Marktmechanismen nur eine Option dar. Eine andere Option bildete das Vorhaben, die weltweiten wirtschaftlichen Prozesse zu steuern. Dieses Vorhaben machte eine Debatte über den wünschenswerten Konvergenzpunkt auf der Weltebene erforderlich und sprach deswegen den UN-Organen eine besonders große Bedeutung zu. Ein Ausdruck dieses Vorhabens war die „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (New International Economic Order oder NIEO). Mit den erdölproduzierenden Ländern aus vier Kontinenten an ihrer Spitze forderten die NIEO-Anhänger in zwei 1974 angenommenen UN-Resolutionen die politische und wirtschaftliche Souveränität aller Länder sowie die globale Umstrukturierung der Weltwirtschaft zugunsten der unterentwickelten Ländern.3 Ausgehend vom Bestehen globaler Ungleichheiten sahen die NIEO-Anhänger deren Abbau als einen politischen Prozess, der naturgemäß nur „global“ sein konnte und daher auch nur global gesteuert werden müsse. Damit beruhte diese vergessene, „gesteuerte“ „Globalisierung“ weniger auf Marktmechanismen als auf dem, was wir seit einigen Jahren „global governance“ nennen. Teil dieser Deutungskämpfe, die als Vorgeschichte unserer heutigen „Globalisierung“ betrachtet werden können, bildete die Frage der „neuen internationalen Arbeitsteilung“. Die Diskussion um die „Arbeitsteilung“ ging bis in die Antike zurück. Bereits Platon befasste sich in seiner Politeia mit dem Thema. Ebenso maßen Theoretiker der politischen Ökonomie im 18. und 19. Jahrhundert dem Begriff eine besondere Bedeutung zu. Arbeitsteilung wurde einerseits als die treibende gesellschaftliche Kraft angesehen, die Fortschritt ermöglichte. Andererseits galt sie als die Ursache für die Entfremdung des Arbeiters. Adam Smith und Karl Marx betonten somit jeweils den einen oder anderen Aspekt. Der Begriff „internationale Arbeitsteilung“ ergab sich aus der Übersetzung der sozialen Arbeitsteilung im internationalen Handel unter dem Einfluss David Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile. Ähnlich wie die Entitäten in einer nationalen Gesellschaft sollten sich Länder in dem Bereich spezialisieren, in dem sie komparative Vorteile hatten. 3 Siehe A/RES/S-6/3201. Declaration on the Establishment of a New International Order, 1.5.1974 und Resolution der UN-Generalversammlung A/RES/29/3281, Charter of Economic Rights and Duties of States, 12.12.1974.

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und im Zuge der Dekolonisierung gewann diese Forderung an erneuter Bedeutung. Die Entwicklungsländer äußerten Kritik am internationalen Handelssystem und unterschieden zwischen einer „alten“ internationalen Arbeitsteilung, in der die ehemaligen kolonisierten Länder Rohstoffe oder landwirtschaftliche Produkte in die industrialisierten, reicheren Ländern lieferten, und einer „neuen“ internationalen Arbeitsteilung, in der industrielle Produktionsmittel von entwickelten, industrialisierten Ländern in die Entwicklungsländern verlagert werden und somit zu einer sozioökonomischen Entwicklung beitragen sollten. Dieser Übergang von einer alten zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung wurde schon in den 1960er Jahren von diversen Ökonomen festgestellt und beschleunigte sich noch in den 1970er und 1980er Jahren. Unter manchen Ökonomen und innerhalb des UN-Systems, insbesondere in Verbindung mit der NIEO, bekam das Thema viel Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang wurde dennoch die „neue“ internationale Arbeitsteilung nicht nur als eine spontane Entwicklung betrachtet, sondern es entstand das Vorhaben, diesen durch „freie“ Marktmechanismen bestimmten Prozess zu Gunsten der Entwicklungsländer umzuorientieren. Die „neue“ internationale Arbeitsteilung sollte sowohl wirtschaftlich rationeller als auch normativ gerechter sein. Natürlich würde sie sich nicht von selbst einstellen, sondern sie sollte – nach Meinung der Akteure, die sich für die „Dritte Welt“ aussprachen, – multilateral im Rahmen der UN ausgehandelt und aufgebaut werden. Insbesondere zwei UN-Organisationen sollten bei der Errichtung einer „neuen internationalen Arbeitsteilung“ eine herausragende Rolle spielen: die UNIDO (United Nations Industrial Development Organization) und die UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development). Die UNIDO verfolgte unter anderem das Ziel, eine „industrielle Umschichtung“ (industrial redeployment) zu verwirklichen, während die UNCTAD sich unter anderem in Verbindung mit anderen UN-Organisationen mit der Frage des „Technologietransfers“ befasste. Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, das Vorgehen und die Handlungsweise beider Organisationen in der Debatte (ebenso wie im Kampf) um die Definierung einer neuen Weltordnung, in der die Nord-Süd-Ungleichheiten beseitigt werden sollten, zu analysieren.

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Eine „neue“ internationale Arbeitsteilung errichten Schon in den 1960er Jahren wurde die wachsende Industrialisierung mancher Entwicklungsländer, insbesondere in Südostasien und in Südamerika, erkannt und als Anfang eines allgemeinen Industrialisierungsprozesses aller Entwicklungsländer interpretiert, der zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung führen sollte. Als Vorsitzender des UN-Komitees für Entwicklungsplanung (Development Planning Committee) wurde der niederländische Wirtschaftswissenschaftler Jan Tinbergen einer der ersten, der die Frage der neuen internationalen Arbeitsteilung aufgriff.4 In seinem 1970 veröffentlichten Buch erklärte er, dass sich jedes Entwicklungsland gemäß seinen Eigenschaften (qualifizierte Arbeitskräfte, Sachkapital und Gesamtkapital) für ein industrielles Modell entscheiden würde.5 Um Doppelungen beziehungsweise Über- sowie Unterproduktion zu vermeiden und möglichst „optimal“ die internationale Arbeitsteilung zu gestalten, sei aber eine Koordinierung auf internationaler Ebene notwendig. Diese Koordinierung beträfe sowohl internationale Organisationen als auch die Wirtschaftssysteme souveräner Staaten. Eben diese beiden Faktoren seien hingegen, so der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Raymond Vernon in seinem Buch Sovereignty at Bay, von geringer Bedeutung. Er sah eben nicht die Staaten, sondern die multinationalen Unternehmen als die wesentlichen Akteure des laufenden wirtschaftlichen Wandels an.6. Mit der Wirtschaftskrise fing somit 1973 die Debatte erst an und sie setzte sich bis Anfang der 1980er Jahre fort, als sich schließlich die Vorstellung durchsetzte, die transnationalen Unternehmen seien die einzig relevanten wirtschaftlichen Akteure. In dieser Debatte traten UN-Organisationen entschieden für eine internationale Koordinierung mit dem Ziel ein, eine „rationellere“ und „gerechtere“ internationale Arbeitsteilung zu erreichen. Darauf bezog sich die neu gegründete UNCTAD schon 1964 in der Präambel des am Ende der Konferenz angenommenen Abschlussdokuments.7 Auf der Sitzung ihres Exekutivorgans – der „Rat für Handel und Entwicklung“ – 1967 wurde die „neue internationale Arbeitstei-

4 Tinbergen, Jan: The optimal international division of labor. In. Acta Oeconomica 3 (1968). Nr. 3. S. 257–282. 5 Tinbergen, Jan: On the International Division of Labor. Stockholm 1970. 6 Vernon, Raymond: Sovereignty at Bay. Harmondsworth 1971. 7 GAOR (General Assembly Official Records). A/6315/rev.1. Report of the Trade and Development Board (31 October 1965–24 September 1966). New York 1967. §59. S. 17.

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lung“ trotz des Unwillens der OECD-Länder8 und mit der Unterstützung der Entwicklungs- und Ostblockländer9 in die Agenda der geplanten, zweiten UNCTAD-Konferenz (1968 in New Delhi) aufgenommen. Eine ähnliche Debatte wurde zwei Jahre später eröffnet, als die „neue internationale Arbeitsteilung“ in Verbindung mit einem „Beitrag zur UN-Entwicklungsdekade“ erneut diskutiert wurde. In der Debatte trat der UNCTAD-Generalsekretär Raúl Prebisch entschieden für ein voluntaristisches Herangehen an die Frage der internationalen Arbeitsteilung ein, indem er erklärte: „Since the present international division of labour is not the most suitable one and hinders development, it is necessary to make such modifications in it as will make it contribute to the development process. If that is the case – and it is generally agreed that it is the case – that should be the underlying idea driving and guiding the international development strategy“10. Insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre tauchte der Begriff regelmäßig in der UNCTAD auf, nicht nur in den Erklärungen ihrer Generalsekretäre Manuel Pérez-Guerrero und Gamani Corea, sondern auch in Erklärungen einiger OECD-Länder wie der Schweiz oder ebenso der Ostblockländer. Letztere riefen dazu auf, „bestehende Handelshemmnisse zwischen sozialistischen Ländern und entwickelten Marktwirtschaftsländern und zwischen sozialistischen Ländern und Entwicklungsländern auszuräumen, so dass alle von einer gerechten internationalen Arbeitsteilung profitieren [konnten]“11 Sie protestierten damit einerseits gegen das Handelsembargo und zeigten – auf gewisse Weise der Logik des Kalten Krieges folgend – ihre allgemeine Solidarität mit den Entwicklungsländern. In der UNIDO tauchte der Begriff der „neuen internationalen Arbeitsteilung“ später auf. Erst 1970 benutze der verantwortliche Exekutivdirektor Abd-El Rahman Khane in seiner Erklärung vor dem Exekutivorgan der UNIDO – dem „Rat für industrielle Entwicklung“ – den Begriff erstmalig. Die Erwähnung des Begriffs ist wahrscheinlich damit zu erklären, dass Jan Tinbergen die „erste Fassung“ seiner Studie über „Die internationale Arbeitsteilung“ eben 1970 an die

8 United Nations (Hrsg.): Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Vol. I (E/CONF.46/141). New York 1964. §5. S. 3. 9 GAOR. A/6315/rev.1. Report of the Trade and Development Board (31 October 1965–24 September 1966). New York 1967. §81. S. 17. und S. 38. 10 GAOR. A/6315/rev.1. S. 232. 11 GAOR. A/9015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (26 October 1972–11 September 1973). New York 1974. §69. S. 16.

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UNIDO geschickt hatte.12 In dieser inoffiziellen, „nicht zitierbaren“ Fassung sprach er sich entschieden dafür aus, dass die UNIDO – eher als die UNCTAD oder die ILO – als Koordinierungsinstanz der zukünftigen, „optimalen“ internationalen Arbeitsteilung fungieren solle. Obwohl das Thema in der Folge vom UNIDO-Exekutivdirektor regelmäßig erwähnt wurde13, konzentrierte sich die UNIDO nicht sofort auf diese zugesprochene Aufgabe. Vermutlich lag der Grund dafür darin, dass die 1967 aus dem ECOSOC „Komitee für industrielle Entwicklung“ gegründete Organisation Anfang der 1970er Jahre im Gegensatz zur UNCTAD vor allem technische und begrenzte Kompetenzen hatte. Erst 1976 nach ihrer in Lima gehaltenen Generalkonferenz wurde sie in eine autonome Organisation und 1986 in eine volle UN-Agentur verwandelt.

„Technologietransfer“ und „industrielle Umschichtung“ Die neue internationale Arbeitsteilung war jedoch nur ein allgemeines Ziel und bildete kein spezifisches Programm der UNO. Sie wurde aber insbesondere im Zusammenhang mit zwei UNO-Programmen – dem „Technologietransfer“ und der „industriellen Umschichtung“ – regelmäßig erwähnt. Schon Anfang der 1960er Jahre waren Fragen des Technologietransfers Gegenstand von UN-Generalversammlungen und ECOSOC-Resolutionen.14 Anfang der 1970er Jahre profilierte sich die UNCTAD als die wichtigste Organisation im Gebiet des Technologietransfers, nachdem 1969 eine ECOSOC-Entschließung festlegte, sie sei „zuständig, Beschlüsse zu fassen, einschließlich institutionelle Strukturen in ihrer Kompetenzrahmen zu schaffen“15. Eine zwischenstaatliche Gruppe zum Technologietransfer wurde 1971 in der UNCTAD gegründet und 1974 in ein offizielles „Ständiges Komitee für Technologietransfer“ umgewandelt.16 Nachdem 1973 die Notwendigkeit von Leitlinien zur Regulierung der re12 Auch das UNCTAD-Sekretariat bekam ein Exemplar der Studie. Siehe UN Archives, Geneva. (UNOG). UNCTAD. ARR 40/1882. 436. TD 428. The International Division of Labour. A Quantitative Illustration. September 1969. 13 UNOG, UNCTAD, ARR 40/1882, 436, TD 428, S. 4. 14 Beginnend mit der UN-Resolution A/RES/1713(XVI) von 1961, The role of patent in the transfer of technology to the under-developed countries. 15 UNCTAD. TDB/310. Transfer of technology, including know-how and patents. Elements of a programme of work for UNCTAD. Study by the secretariat of UNCTAD, 1.7.1970. S. 6. 16 GAOR. A/9615/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (12 September 1973–13 September 1974) New York 1975. S. 136.

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striktiven Praktiken der transnationalen Firmen erkannt wurde17, bekam dieses Komitee die Aufgabe, den Entwurf eines „Verhaltenskodex zum Technologietransfer“ zu erarbeiten.18 Dieser Prozess führte zur Etablierung einer „Technologie-Abteilung“ im UNCTAD-Generalsekretariat. Sie wurde mit der Vorbereitung von Studien beauftragt, die den Mitgliedern des Technologietransfer-Komitees vorgelegt wurden. Darüber hinaus leistete die Technologie-Abteilung auch technische Unterstützung für die Entwicklungsländer, indem sie Ausbildungen anbot, „Technologietransfer- und Entwicklungszentren“ bildete oder durch ihre Beratungsdienst (Advisory Service) den Entwicklungsländern beim Aufbau ihres „Technologieplanes“ half.19 Auf dem Gebiet des Technologietransfers war jedoch die UNCTAD nicht allein. In der Tat waren fast alle UN-Organisationen und -Agenturen in einer oder anderer Weise in diesem Bereich tätig.20 Neben der UNCTAD hatten zwei Organisationen eine herausragende Stellung inne, und zwar die WIPO (World International Property Organization) und die UNIDO. Erstere wurde 1974 nach ihrer Umwandlung in eine UN-Agentur mit der Überarbeitung der Pariser Verbandsübereinkunft beauftragt, während Letztere sich mit der technischen Unterstützung auf der Unternehmens- und Branchenebene beschäftigte. Sei es im rechtlichen oder im technischen Bereich, diese neue Kompetenzverteilung bedeutete eine ernsthafte Beschränkung der ursprünglichen Aufgaben der UNCTAD und erzeugte eine Wettbewerbssituation zwischen ihr und der UNIDO. Anders als in der UNCTAD gab es in der UNIDO keine spezifische „Technologietransfer Abteilung“, sondern es wurde eine „Technologietransfer Gruppe“ gebildet, die aus Experten aus mehreren Abteilungen bestand.21 Erst 1976 nach ihrer Reform in eine autonome Organisation konnte die UNIDO ein neues „Inter17 GAOR. A/9015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (26 October 1972–11 September 1973), New York 1974. §33. S. 5. 18 GAOR. A/31/15. Report of the Trade and Development Board. Vol.2 (First part of the sixteenth session). New York 1977. S. 101. 19 UNCTAD. TDB/597. The establishment of appropriate institutional arrangements within UNCTAD including the possibility of establishing an advisory service in the field of transfer of technology, 29.1.1976. 20 Das geht deutlich aus einem Bericht hervor, der im Zusammenhang mit der 1981 in Wien gehaltenen Konferenz für Wissenschaft und Technologie für Entwicklung verfasst wurde. Siehe UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 461. TD 580/2(1). Implementation of the Vienna Programme of Action on Science and Technology for Development. Over-annual Report on Activities of the United Nation system in the field of science and technology for development. Report of the Secretariat General, 6.7.1983. 21 Annual Report of the Executive Director 1979, Industrial Development Board, Mai 1980. S. 71–78.

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nationales Zentrum für industrielle Forschung“ (International Center for Industrial Studies, oder ICIS) bilden, in dem eine Abteilung für „Technologietransfer“ namentlich zuständig war. Im selben Jahr wurde auf Beschluss der UN-Generalversammlung der „Technologietransfer“ auch zum ordentlichen Tagesordnungspunkt der Sitzungen des „Rats für industrielle Entwicklung“ gemacht, was die besondere Rolle der UNIDO auf diesem Gebiet betonte. UNIDO konzentrierte sich in Folge dessen insbesondere darauf, problemorientierte Informationen den Anwendern industrieller Technologien mittels einer Informationsplattform (Industrial and Technological Information Bank) bereitzustellen.22 Neben dem Technologietransfer bildete die „industrielle Umschichtung“ ein zweites Programm, das zu einer „neuen“ internationalen Arbeitsteilung beitragen sollte. Bereits 1973 formulierten die Industrieminister Afrikas bei einer Konferenz in Kairo die Idee, „einige Industrien in den entwickelten Länder schrittweise zu beenden und sie auf die Entwicklungsländer zu übertragen“, und setzten die UNIDO mit der „Errichtung einer wahren, dynamischen, ausgewogenen, internationalen Arbeitsteilung“ in Verbindung.23 Jedoch erst die UNResolution von 1974 über „die Etablierung einer neuen Weltwirtschaftsordnung“ gab den notwendigen Impuls. So wurden auch die Ziele der 1975 stattfindenden UNIDO-Generalkonferenz von Lima neu festgelegt, nachdem die UNIDO 1974 von der UN-Generalversammlung mit „der Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung im Bereich der Industrie“ beauftragt wurde.24 Die in Lima angenommene „Erklärung“ und der ausgearbeitete „Aktionsplan“ führten folglich eine Politik der „industriellen Umschichtung“ ein, die wie folgt dargestellt wurde: The developed countries should facilitate development of new and strengthen existing policies, taking into account their economic structure and economic, social and security objectives, which would encourage their industries which are less competitive internationally to move progressively into more viable line of production or into other sectors of the economy, thus leading to structural adjustments within the developed countries, and redeployment of the productive capacities or such industries to developing countries and promotion of a higher degree of utilization of natural resources and people in the latter.25

22 GAOR. A/3616. Report of the Industrial Development Board. New York 1981. §257. S. 50. 23 GAOR. A/9615/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (12 September 1973–13 September 1974). New York 1975. §63–64. S. 13–14. 24 UNIDO. ID/CONF.3/31. Second General Conference of UNIDO. Lima, Peru, 12–26 March 1975. 9.5.1975. §138. S. 26. 25 UNIDO, ID/CONF.3/31, §59c, S. 54.

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Mit einer Resolution vom Dezember 1976 bestätigte und spezifizierte die Generalversammlung den Auftrag der UNIDO.26 Künftig fiel die Zuständigkeit für die industrielle Umschichtung in die Verantwortung des Rates für industrielle Entwicklung.

Die Herstellung des Konsenses Um diesen weltweiten Auftrag zu erfüllen, hatten allerdings sowohl die UNIDO als auch die UNCTAD weder ausreichende Ressourcen noch die entsprechenden Befugnisse. Da die Souveränität der UN-Mitgliedsstaaten als unantastbar galt, war eine supranationale Politik seitens UNCTAD oder UNIDO grundsätzlich ausgeschlossen und ihre Sekretariate konnten nur mit der Unterstützung ihrer Mitgliedsstaaten handeln. Deswegen bestand ihre Strategie darin, einen Konsens zwischen den Mitgliedsstaaten Schritt für Schritt herzustellen.

Die Bemühung um eine gemeinsame Sprache Als erste Phase dieser Strategie der Konsensbildung mussten die UNIDO- und UNCTAD-Sekretariate die Begriffe der industriellen Umschichtung beziehungsweise des Technologietransfers definieren, die für alle Seiten akzeptabel sein konnten, wobei hier Experten und Wissenschaftler das Wort hatten. Im ersten Bericht des UNIDO-Sekretariats über die „industrielle Umschichtung“ betonten die UNIDO-Forscher des neugegründeten „Internationalen Zentrums für industrielle Forschung“, dass dieser Begriff „für eine vielfältige und breite Interpretation offen“ sei.27 Sie versuchten inklusiv vorzugehen, indem sie mit Wirtschaftswissenschaftlern mehrerer industrialisierter Länder Kontakte herstellten. Die so gebildete „informelle Gruppe über Umstrukturierung“ traf sich regelmäßig unter Federführung der UNIDO in Wien und hielt dort 1979 ein erstes Seminar ab.28 Für diese Forscher aus Belgien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz aber auch aus Ungarn bildete diese Zusammenarbeit auch

26 A/RES/31/163. Industrial redeployment in favor of developing countries, 21.12.1976. 27 UNIDO. IDB/190. The redeployment of industries from developed to developing countries. Note prepared by the secretariat of UNIDO, 27.4.1977. §6. S. 3. 28 Wie erwähnt in der Einleitung der Studie, die aus diesem Seminar ergab, siehe UNIDO. ICIS.136. Structural Changes in Industry, 27.12.1979. S. 7.

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die Gelegenheit, ihre Forschungen weiterzuführen und zu veröffentlichen und zugleich als bezahlte Fachberater für UNIDO tätig zu werden.29 Parallel dazu kontaktierten UNIDO-Forscher mehr als 8.000 Unternehmen in sechs industrialisierten Ländern und befragten letztlich 2.400 zum Thema „industrielle Umschichtung“30. Dabei sondierten die Forscher das Interesse der Firmen nach Verlagerungsmöglichkeiten und fragten nach den potentiellen Hindernissen. Diese Befragung führte zu einer Reihe von nationalen Studien über den sogenannten „Strukturwandel in den entwickelten Ländern“. Verschiedene Wirtschaftszweige standen im Fokus. Auch die heikle Frage der wachsenden Arbeitslosigkeit in den westlichen Industrieländern wurde behandelt. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass diese nicht auf die Industrialisierung der Entwicklungsländer, sondern auf den Produktivitätsgewinn und auf die Verlagerungen in Europa selbst zurückzuführen sei. Die industrialisierten Länder wurden folglich dazu aufgerufen, eine „strukturelle Anpassung“ (structural adjustment) zu akzeptieren und arbeitsintensive Industriezweige (wie Textilien, Schuhe, Holzprodukte) den Entwicklungsländern zu überlassen.31 Der Konsens über die Definition der industriellen Umschichtung war schwer zu erreichen. In seinem Bericht zu der Generalkonferenz in New Delhi 1981 betonte der UNIDO-Exekutivdirektor Abd-El Rahman Khane, dass es bisher keine endgültige und genaue Definition von Umschichtung gebe.32 Auf einer Seite des Spektrums wurde „Umschichtung“ als ein „Ressourcentransfer“ („Kapital, Technologie, Know-How, Werke“) angesehen, wobei Staaten die tragende Rolle erhielten. Am anderen Ende des Spektrums wurde Umschichtung hingegen als eine einfache „Anpassung“ verstanden, die im Produktionsprozess als ein reines Ergebnis der Marktkräfte laufend erfolge. Diese Widersprüche fanden sich in der Definition, welche die Teilnehmer des UNIDO Seminars so formulierten: Industrielle Umschichtung bestünde in „[the transfer] of production factors and shifting market flows through international co-operation between more developed and less developed countries in order to achieve rapidly a better balanced world industrial production, taking into account the national objectives and interests of the individual countries concerned.“33

29 Darüber siehe den intensiven Briefwechsel: UNIDO. ID/422/5A. Redeployment of industrial capacities (Januar 1977–Juni 1978). 30 Es handelte sich um Australien, Österreich, die Schweiz, die Bundesrepublik Deutschland, Schweden und die USA, siehe UNIDO. ICIS.136. §5. S. 3. 31 UNIDO. ICIS.136. Structural Changes in Industry, 27.12.1979. 32 UNIDO. ID/CONF.4/9. Redeployment of industries from developed to developing countries. Note by the secretariat of UNIDO, 3.10.1979. S. 7. 33 UNIDO. ID/CONF.4/9. S. 7.

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Auch UNCTAD-Experten bemühten sich, „Technologietransfer“ als einen einvernehmlichen Begriff zu präsentieren. In einer der ersten Studien, die dem Technologietransfer-Komitee 1970 vorlag, entwickelten sie eine historische Argumentation, wonach technologische Differenzen zwischen verschiedenen Teilen der Welt „seit der Beherrschung des Feuers“ schon immer existiert hätten.34 Sie erinnerten daran, dass die „Entwicklungsländer“ in der Vergangenheit oft „fortgeschrittener“ als die heutigen „entwickelten Länder“ gewesen wären. „Innovationen verbreiteten sich in der Menschheitsgeschichte teilweise sogar von den [damaligen] ‚Entwicklungsländern‘ in die ‚entwickelten‘ Ländern“ und somit sei „Technologietransfer“ eine ganz allgemeine historische Erscheinung. Die technologische Kluft zwischen Entwicklungsländern und entwickelten Ländern wurde dadurch relativiert, dass sie jung – „weniger alt als ein Jahrhundert“ – und vorübergehend sei. Jedoch könnten „Marktschwächen“ und „Elemente von Monopolen“ diesen Nachholbedarf beinträchtigen, was eine multilaterale Lösung notwendig mache.35 Technologie wurde als ein gemeinsames Gut der Menschheit betrachtet und der Technologietransfer lief darauf hinaus, den „Zugang zu der Weltlagerhalle der Technologie zu erleichtern“36. Um die Forschung in diesem Sinne zu orientieren, verfasste die UNCTAD-Technologie-Abteilung „Leitlinien zum Studium des Technologietransfers zu den Entwicklungsländern“37 und später ein „Handbuch zum Technologietransfer“.38 Ebenso entstanden in den folgenden Jahren zahlreiche Studien, nicht zuletzt zu branchenspezifischen Aspekten des Technologietransfers. Zugleich begleitete die Abteilung mit einer „Machbarkeitsstudie“ von Anfang an die Diskussion über den Verhaltenskodex.39 Im Zuge dessen arbeitete die Abteilung mit Regierungsexperten zusammen und befasste sich mit dem Problem des „Brain Drain“, der als „umgekehrter Transfer von Technologie“ definiert wurde.40

34 UNCTAD. TDB/310. Transfer of technology, including know-how and patents. Elements of a programme of work for UNCTAD. Study by the secretariat of UNCTAD, 1.7.1970. §11. S. 31. 35 UNCTAD. TDB/310. §39–43. S. 14–15. 36 UNCTAD. TDB/736. Report of the committee on transfer of technology on its second session, 4–15 December 1978. §4. S. 1. 37 UNCTAD. TDB/424. Report of the Intergovernemental Group on the Transfer of Technology on its second session held at the Palais des Nations, Geneva from 29 January to 9 February 1973, 15.2.1973. S. 9–20. 38 GAOR. A/3315. Report of the Trade and Development Board. Vol.1 (Second and third parts of the ninth special session and second part of the seventeenth session). New York 1978. S. 159. 39 TDB/AC.11/22. The possibillity and feasability of an international code of conduct on transfer of technology. A study by the UNCTAD secretariat, 6.6.1974. 40 TDB/C.6/28. Report of the Group of Governmental Experts on Reverse Transfer of Technology, 1978.

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Sowohl im UNIDO- als auch im UNCTAD-Sekretariat lagen diesen Forschungen zwei zusammenhängende Prinzipien zugrunde. Zum einen spiegelten die verwendeten Metaphern wie „Weltlagerhalle von Technologie“ oder „industrielle Weltproduktion“ die Annahme wider, dass die Akteure von einer einheitlichen Weltwirtschaft ausgingen. Auf diese könne man durch konzertierte Maßnahmen gemeinsam einwirken, um Ungleichgewichte zu beseitigen. Zum anderen hing jedoch diese gemeinsame Handlung grundsätzlich von der „internationalen Zusammenarbeit“ ab, das heißt, von der Kooperation souveräner Staaten. Die Forschungstätigkeit hatte somit auch politische Implikationen. Indem sie eine „Weltwirtschaft“ voraussetzten, in der alle Akteure interdependent waren, rechtfertigten sie damit einen Verhandlungsprozess auf der Weltebene. Das wurde vom UNIDO-Exekutivdirektor Abd-El Rahman Khane in seiner Erklärung auf der Lima Generalkonferenz 1975 emphatisch ausgedrückt: „The concept of a world divided into givers and receivers, winners and losers must be banished. Each and all had something to give and something to receive, something to gain and nothing to lose, if all recognized that a new international distribution of roles and labour was one of the fundamental condition of coexistence.“41

Verhandlungsforen etablieren Neben der Forschungsarbeit gab es auch eine zweite, praktische Seite. Um die industrielle Umschichtung oder den Technologietransfer umzusetzen, mussten sich nämlich die richtigen Entscheidungsträger in den richtigen Einrichtungen treffen, diskutieren, verhandeln und Vereinbarungen abschließen. In diesem Sinne wurde vom UNIDO-Sekretariat auf der Lima Generalkonferenz ein Konsultationssystem festgelegt: [T]aking into account appropriate information with respect to the development of demand and supply, availability of production factors and their costs, the possibilities and conditions of investment and the availability of appropriate equipment and technologies with a view to facilitating, within a dynamic context and in accord with authorities available to Governments, the redeployment of certain productive capacities existing in the developed countries and the creation of new industrial facilities in developing countries.42

41 ID/CONF.3/3. Second General Conference of UNIDO. Lima, Peru, 12–26 March 1975. 9.5.1975. §91. S. 18. 42 ID/CONF.3/3. §61, S. 57.

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Zwischen 1976 und 1982 fanden 14 Konsultationen in neun Wirtschaftszweigen statt. „Erfahrene Experten“ sollten sich über branchenspezifische gemeinsame Perspektiven der zukünftigen Entwicklung und Konvergenzpunkte einigen, „gegenseitig annehmbare Arrangements finden“ und „Empfehlungen“ formulieren. Etwaige Regierungskonsultationen sollten im besten Fall im Rahmen der UNIDO stattfinden. Allerdings wurde der rechtliche Status der Verhandlungen in Lima nicht geklärt.43 Auf den Sitzungen des Rates für industrielle Entwicklung formulierten manche Regierungen den Vorwurf, die Konsultationen würden zu „einer Art Planungsbüro“ werden, „welches die Geschäfte auf der Weltebene“ verteilen würde.44 Hingegen behaupteten andere Regierungen, die Konsultationen sollten „schließlich zu einem System führen, in dem Vereinbarungen im Bereich der Industrie verhandelt werden konnten“45. Wegen dieser Widersprüche wurden Verfahrensregeln für dieses Konsultationssystem erst 1981 angenommen.46 Eine weitere praktische Tätigkeit des UNIDO-Sekretariats war sein „kooperatives Investitionsprogramm“ (Investment Co-operative Program), welches einem eigenen Büro (Investment Co-operative Program Office, ICPO) unterstand. Anders als bei den Konsultationen hatten hier private Akteure den Vorrang. ICPO sollte potenzielle Investoren finden, aber auch diese mit den Investitionsmöglichkeiten in den Entwicklungsländern vertraut machen. Damit sollte die UNIDO als „Vermittler“ agieren, „matching investment supply with demand, a necessary function since the market for investment resources, and especially for investments packages and components, is largely unorganized, non-transparent, and at times, non-existent“47. Außer in Wien hatte ICPO Dienststellen in New York, Brüssel, Zürich und Köln. Diese Standorte spiegelten wahrscheinlich das Interesse wider, die UNIDO für Länder hatte, deren Wirtschaft nach außen besonders geöffnet war. Der UNIDO-Exekutivdirektor Abd-El Rahman Khane behauptete 1979, mehr als 200 Projekte in 30 Ländern seien seit drei Jahren damit verwirklicht worden.48 Im Vergleich zur UNIDO folgte die UNCTAD mit der Einberufung einer UNOKonferenz zum Verhaltenskodex über Technologietransfer eine ähnliche, aber 43 UNIDO. IDB/179. The Establishment of a system of consultations in the field of industry. Progress made between April 1976 and March 1977, the experience thus acquired in this area of activity and suggestions for the further development of the system. 23.4.1977. S. 5. 44 GAOR. A/3316. Report of the work on the Industrial Development Board on the work of its tenth session. New York 1978. §112. S. 25. 45 GAOR. A/3316. §113. S. 26. 46 Siehe Annual Report of the Executive Director 1979, Mai 1980. S. 65. 47 Annual Report of the Executive Director 1979, Mai 1980. S. 68. 48 Annual Report of the Executive Director 1979, Mai 1980. S. 69.

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auch ehrgeizigere Strategie. Denn der angestrebte Kodex sollte rechtlich verbindlich sein, was die Verhandlungen mit den Regierungen von Beginn an erschwerte. Für die Entwicklungsländer sollte der Kodex ein „Rechtsrahmen [sein], der Rechte und Pflichten der Käufer und Verkäufer umfasste“49. Dieser Ansatz widerstrebte den „entwickelten Marktwirtschaftsländer[n]“. Sie waren dagegen, dass der Kodex für die privaten Firmen Anwendung finden sollte, insbesondere weil das für ihre Regierungen eine staatliche Intervention bedeutete. Die Entwicklungsländer brachten das Argument vor, dass die Freiheit der privaten Firmen in Marktwirtschaftsländern ohnehin durch eine Reihe von Maßnahmen schon eingeschränkt sei.50 Zwar wurde schließlich von allen Seiten akzeptiert, dass der Kodex auch für die privaten Firmen gelten solle. Das warf aber die Frage des Rechtstatus des Verhaltenskodex auf, der auch nach drei Sitzungen des Ständigen Komitees für Technologietransfer zwischen 1974 und 1978 nicht endgültig geklärt werden konnte. Der finale Entwurf enthielt letztlich drei unterschiedliche, manchmal gegenläufige Formulierungen. Die Entwicklungsländer würden sich auf „einen international verbindlichen“, die OECD-Länder auf „einen nur auf Richtlinien rekurrierenden“ und die sozialistischen Länder auf einen „universell anwendbaren“ Verhaltenskodex einigen.51 Mit dieser ausgesetzten Entscheidung über den Rechtstatus des Verhaltenskodex wollte das Komitee diesen „Teufelskreis durchbrechen“52 und die Konferenz ermöglichen.

Die Grenzen des Konsenses Mit ihrer Strategie der Konsensbildung arbeiteten die UNIDO- und UNCTAD-Sekretariate auf ihrer Ebene vor allem an der Einheit und Kohärenz ihrer jeweiligen Vorhaben als Beitrag zur Errichtung einer neuen internationalen Arbeitsteilung. Auf der Ebene ihrer Exekutivorgane, in denen die Regierungsdelegationen das Wort hatten, wurden dagegen die industrielle Umschichtung sowie der Technologietransfer kritisiert und bezweifelt, aber zugleich stark unterstützt und gelobt. Die Debatten im Rat für industrielle Entwicklung sowie im Rat für 49 GAOR. A/9015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (26 October 1972–11 September 1973), 1974. §309. S. 183. 50 GAOR. A/9015/Rev.1, §303, S.181. 51 TD/CODE TOT/1. Draft international code of conduct on transfer of technology, 13.7.1978. S. 5. 52 GAOR. A/9615/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (12 September 1973–13 September 1974). New York 1975. §374. S. 79.

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Handel und Entwicklung bedrohten damit die interne Kohärenz der Vorhaben der UNIDO- und UNCTAD-Sekretariate.

Ist die industrielle Umschichtung überhaupt relevant? Die Diskussion in UNIDO Unter den industrialisierten Ländern wurde die Idee einer weltweiten industriellen Umschichtung generell mit Skepsis beziehungsweise Widerwillen aufgenommen. Die stärkste Kritik kam von den Regierungen der größten Wirtschaftsmächte. Der Vertreter der US-Regierung bemerkte, dass die industrielle Umschichtung „as a matter of evolutionary economic restructuring in response to market forces rather than a question of national or international policies and negotiations“53 angesehen werden solle. Die Kritik der Bundesregierung hing sich am Begriff „Umschichtung“ auf: „the term ‚redeployment‘ was an unfortunate one from the psychological point of view, being less suggestive of forwardlooking co-operation than might be hoped“54. Auf deutlichen Widerstand stieß insbesondere die Empfehlung des Sekretariats, dass die industrialisierten Länder vorzeitige Maßnahmen zum beschleunigten, nicht zerstörenden („non-disruptive“) Umschichtungsprozess im Bereich der Beschäftigungspolitiken vornehmen sollten.55 Neben dieser ablehnenden gab es allerdings auch eine offenere Haltung von mehreren OECD-Ländern. Zwar betonten sie die Wichtigkeit der unabhängigen Entscheidungsfindung im Geschäftsleben für den Umschichtungsprozess56, jedoch zeigten sie auch Interesse an einer internationalen Zusammenarbeit. So betonte der belgische Vertreter: „Redeployment must be considered as a form of international co-operation, in a framework of economic interdependence which was gaining importance in the world economy and which was entailed collective responsibility.“57 Weitere Delegationen bemühten sich, die Fortschritte ihrer Länder in diesem Bereich herauszustellen und zugleich die Offenheit gegenüber dem Konzept der Umschichtung zu betonen. So merkte beispielsweise der 53 GAOR. A/3216. Report of the work on the Industrial Development Board on the work of its eleventh session. New York 1977. §45. S. 8. 54 UNIDO. IDB/SR.219. Summary record of the 219th meeting held at the Neue Hofburg, Vienna, on Friday, 19.5.1977 at 3.45 p.m. §37. S. 7. 55 UNIDO. IDB/222. Redeployment of industries from developed to developing countries. Studies undertaken by UNIDO. Report by the Executive Director, 28.2.1979. §63. S. 17. 56 UNIDO. IDB/SR.258. Summary Records of the 258th meeting held at the Neue Hofburg, Vienna, on Monday, 30.4.1979, at 3 p.m. 2.5.1979. §65. S. 11. 57 UNIDO, IDB/SR.258, §60, S.10.

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Vertreter Österreichs an: „As a result of Austria’s liberal economic policy, manufactured goods from developing countries had already secured portions of the Austrian market for themselves and caused a reorientation of production in Austria towards other sectors. “58 Diese Länder (Belgien, Österreich, den Niederländern, der Schweiz, Australien) hatten alle kleinere, aber auch sehr geöffnete Wirtschaften, weshalb sie der industriellen Umschichtung positiv gegenüberstanden. Da die Ostblockländer als Unterstützer der Entwicklungsländer auftraten und den souveränen Regierungen in der internationalen Zusammenarbeit den Vorrang gaben, stand seitens der Entwicklungsländer die Erwartung im Raum, dass sie den Umschichtungsprozess unterstützen würden, zumal ihre Planwirtschaft ihnen die Möglichkeit bot, diesen Prozess gut einzubinden. Erstaunlicherweise waren jedoch die Stellungsnahmen des Vertreters der UdSSR, Avramov, nicht einmal subtil unterstützend, sondern offen kritisch bis ablehnend. Er behauptete, es sei „absurd to relate the expansion of multinational corporations in the developing countries to the redeployment process. Redeployment is an aspect of international economic co-operation which should take place under international supervision. […] The USSR was not taking any special measures to redeploy any branches of the Soviet economy to the developing countries in the strict sense of the term.“59 Interessanterweise äußerten sich einige osteuropäische Länder anders. Der bulgarische Vertreter behauptete, Bulgarien hätte seit einiger Zeit Industrien in die Entwicklungsländer umgeschichtet60. Der tschechoslowakische Vertreter ergänzte, dass seine Regierung überlege, Teile der industriellen Kapazitäten umzuschichten, die nicht mehr in das zukünftige Produktionsprogramm passen würden. Besonderes Interesse an der Initiative zeigte auch die ungarische Regierung, die als einziges Ostblockland eine Studie über den Strukturwandel der ungarischen Wirtschaft für UNIDO erarbeitete.61 Dieser Unterschied zur Position Moskaus lag vor allem darin begründet, dass der Außenhandel für die osteuropäischen Länder im Allgemeinen wichtiger war als für die UdSSR.62 Ebenfalls

58 UNIDO, IDB/SR.258, §44, S.8. 59 UNIDO. IDB/SR.257. Summary Records of the 257th meeting held at the Neue Hofburg, Vienna, on Monday, 30.4.1979, at 10 p.m. 1.5.1979. §58. S. 9. 60 UNIDO, IDB/SR.258, §10–13, S. 3. 61 UNIDO. ICIS.196. Structural changes in Hungarian industry and prospects of division of labour with the developing countries, 1979. 62 Vgl. Lorenzini, Sara: Comecon and the South in the years of détente. A study on East–South economic relations. In: European Review of History: Revue europeenne d’histoire 21 (2004). No. 2. S. 183–199. Insbes. S. 188 und 192.

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hatten sie seit den 1950er Jahren in der „technischen Unterstützung“ verhältnisweise mehr ausgegeben als die UdSSR.63 Von der Seite der Entwicklungsländer wurde das Vorhaben der UNIDO zwar begrüßt, aber zugleich auch kritisiert. In der „neuen“, aufzubauenden internationalen Arbeitsteilung würden die in den entwickelten Ländern nicht mehr wettbewerbsfähigen und arbeitsintensiven Industrien den Entwicklungsländern überlassen. UNIDO betonte ständig, die Umschichtung sollte den Bedürfnissen der Entwicklungsländer entsprechen und forderte diese auf, Entwicklungspläne mit der Hilfe von UNIDO zu erarbeiten. Trotz allem lief die Umschichtung darauf hinaus, den Entwicklungsländern weniger komplexe Industrien zu überlassen, die nur deswegen wettbewerbsfähig wären, weil die Personalkosten sinken würden. Das war vielen Entwicklungsländern nicht entgangen. Der Vertreter Thailands warnte davor, dass die industrielle Umschichtung kein Mittel sein sollte, um „den Zugang zu billigen Arbeitskräften in den Entwicklungsländer zu bekommen oder unrentable und umweltbelastende Industrien zu verlagern“64. Der tansanische Vertreter erklärte, sein Land würde vielmehr „strategische Industrien“ brauchen, wie Stahl und Eisen oder chemische Industrie. Der Vertreter eines nicht benannten Entwicklungslandes erklärte ebenfalls im Zusammenhang mit dem Technologietransfer: „The developing countries should not be given outdated, unwanted or pollutant technologies, but should be provided access to technologies in growing sectors, such as electronics.“65 Die Sitzungen des Rates für industrielle Entwicklung offenbarten also nicht nur die Kritik und Widerstände unter den Mitgliedsstaaten, sondern auch die inneren Widersprüche des „Umschichtungsprogramms“.

Wie ist der Technologietransfer zu verwirklichen? Die Diskussion in der UNCTAD Die Diskussionen über das Konzept Technologietransfer in der UNCTAD waren hingegen weniger von Zweifeln durchzogen. Im Rat für Handel und Entwicklung aber auch im Technologietransfer-Komitee, wohin die Debatten zum Großteil verlagert wurden, ging es mehr um praktische als um prinzipielle Fragen. 63 Vgl. Engermann, David C.: The Second World’s Third World. In: Kritika 12 (2011). No. 1. S. 183–211. Hier S. 197. 64 UNIDO, IDB/SR.258, §87, S.13. 65 GAOR. A/3316. Report of the work on the Industrial Development Board on the work of its tenth session. New York 1978. §173. S. 35.

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Dennoch war die Diskussion nicht weniger lebhaft, wobei die Ländergruppen („Entwicklungsländer“, „entwickelte Marktwirtschaftsländer“ und „europäischsozialistische Staaten“) prägender und die Einzelpositionen einiger Länder seltener waren als im UNIDO-Rat für industrielle Entwicklung. Grundsätzlich unterstützten die Entwicklungsländer alle Vorschläge des UNCTAD-Sekretariats. So fanden die Bildung eines speziellen Technologietransfer-Komitees, die Einberufung einer internationalen Konferenz sowie der Ausbau des Programms für Technologietransfer weitgehende Unterstützung in den Reihen der Entwicklungsländer. Dagegen traten die Vertreter der „entwickelten Markwirtschaften“ hinsichtlich aller praktische Belange fast immer kritisch auf. Bereits 1970 drückten sie ihre Zurückhaltung bei der Schaffung eines Hauptkomitees für den Technologietransfer aus66 und tolerierten nur ein ad hoc-Komitee.67 Nach der Statusänderung in ein Hauptkomitee 1973 merkten sie an, es sei „vorzeitig, eine Expertengruppe zusammenzustellen, um einen Entwurf eines internationalen Verhaltenskodex zu verfassen“68. Um den Prozess zu bremsen, forderten sie erstmals 1970 „mehr Studien“69 beziehungsweise 1973 „branchenspezifische Studien“70, um mehr Erkenntnisse vor der Entscheidungsfindung zu haben.71 Sie kritisierten auch den Ausbau der Technologie-Abteilung im UNCTAD-Sekretariat, wobei der UNCTAD-Generalsekretär rechtfertigend auf die deutliche Differenz zwischen Zielen und Ressourcen dieser Abteilung Bezug nehmen musste.72 Ihre Kritik wurde von Jahr zu Jahr offensiver. 1977 kritisierten sie die Schaffung der Stelle eines stellvertretenden Direktors der TechnologieAbteilung und betonten, dass diese Abteilung Studien in Bereichen durchführte, in denen die UNCTAD keine Kompetenz hätte. 1977 und erneut 1980 forderten sie eine „Gesamtbewertung“ der Arbeit der UNCTAD im Bereich des Technologietransfers.73 Vertreter der westlichen Industrieländer unterstützten auch eine „geordnete Vorgehensweise“74 und wiesen auf die Gefahr einer „Verdopp66 GAOR. A8015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (24 September 1969–13 October 1970). New York 1971. §262. S. 159 und §272. S. 161 67 GAOR. A8015/Rev.1. §251. S. 157. 68 GAOR. A8015/Rev.1. §73. S. 114. 69 GAOR. A8015/Rev.1. §251. S. 157. 70 GAOR. A/9015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (26 October 1972–11 September 1973). New York 1974. §316. S. 185. 71 GAOR A8015/Rev.1: Report of the Trade and Development Board (24 September 1969–13 October 1970), 1971, §253, S. 158. 72 GAOR, A/31/15, §13, S. 135 73 GAOR. A/3615. Report of the Trade and Development Board. (Twenty-second and twentythird sessions). New York 1982. §43. S. 12. 74 GAOR. A/8015/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (24 September 1969–13 October 1970). New York 1971. §250. S. 157.

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lung“ hin, die sich zwischen Tätigkeiten der UNCTAD, der UNIDO und der WIPO ergeben würde.75 Die Vertreter der OECD-Länder schenkten der WIPO die größte Aufmerksamkeit, da sie im Gegensatz zur UNCTAD als das relevantere Forum galt.76 Schon 1970 unterstrichen sie die Sorgen um den Schutz der industriellen und geistigen Eigentumsrechte.77 Wie auch in anderen Bereichen zeigten die Ostblockländer in der UNCTAD häufig ihre Unterstützung für die Entwicklungsländer und profilierten sich als Alternative zur Entwicklungshilfe westlicher Prägung. Wiederholt beschrieben sie, wie „ihre Regierungen sich bemühten, den Entwicklungsländern dabei zu helfen, den Zugang zu moderner Technologie durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu bekommen“.78 Dabei verteidigten sie zugleich ihre eigenen Interessen. „[Die] Beseitigung der Hindernisse im internationalen Handel [sei]“, so deren Sprecher, „eine wesentliche Aufgabe der UNCTAD und die Bedingung des Transfers von Technologie zu allen Ländern.“79 Damit kritisierten sie „stark die Einschränkungen im Bereich des Technologietransfers, die von einigen Marktwirtschaftsländern aufgrund sogenannter strategischer Betrachtungen angewandt wurden“80. Sie unterstützten ebenso die Initiative des UNCTAD-Sekretariats, zum Studium des „umgekehrten Technologietransfers“ eine Expertengruppe zu schaffen, da hier nur westliche Länder vom Brain Drain involviert waren. Diese Strategie empörte die Vertreter der OECD-Länder und führte zu heftigen Diskussionen im Rat für Handel und Entwicklung.81 Gemeinsame Schnittmengen hatten beide Ländergruppen hinsichtlich der Zuständigkeiten der UNCTAD: Wie die westlichen Länder waren auch die Ostblockländer daran interessiert, dass die UNCTAD ihre Kompetenzen nicht überschritt. So verwiesen sie ebenfalls oft auf die Gefahr einer „Dopplung“. Ihr Fokus lag jedoch eher auf UNIDO, eine Organisation mit einer positiven Rolle, deren „Umstrukturie-

75 GAOR. A/8715/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (22 September 1971–25 October 1972). New York 1973 §121. S. 143 76 GAOR. A/3315. Report of the Trade and Development Board. Vol. 1 (Second and third parts of the ninth special session and second part of the seventeenth session). New York 1978. §95. S. 159. 77 GAOR, A8015/Rev.1, §75, S. 115. 78 GAOR, A8015/Rev.1, §264, S. 160. 79 GAOR. A/8415/Rev.1. Report of the Trade and Development Board (14 October 1970–21. September 1971). New York 1972. §39. S. 12. 80 GAOR, A/8415/Rev.1, §42, S. 13. 81 GAOR. A/3715. Report of the Trade and Development Board. Vol. 2. New York 1983. S. 116– 119.

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rung unzureichend berücksichtigt“82 würde. Ihr Engagement für die Aktivitäten der UNIDO erklärt sich vermutlich mit dem Verweis darauf, dass für sie die Umstrukturierung als ein möglicher Weg erschien, um westliche Technologien trotz des bestehenden Embargos zur Anwendung zu bringen.

UNCTAD und UNIDO: Konkurrenz und Zusammenarbeit Diese wiederholte Kritik an der „doppelten Nutzung“ oder an der „mangelnden Koordinierung“ bedrohte schließlich die Legitimität der UNCTAD und veranlasste sie dazu, ihre Beziehungen zur UNIDO zu klären. Als neue UNO-Programme zur technischen Hilfe im Bereich des Technologietransfers in der zweiten Hälfte der 1970er beschlossen wurden, standen nämlich UNCTAD und UNIDO in Konkurrenz. Beide äußerten Ansprüche in diesem Bereich83, obgleich die UNCTAD ursprünglich als Hauptakteur tätig war. Deswegen beobachteten die Experten der UNCTAD-Technologie-Abteilung genau jegliche Initiativen der UNIDO.84 Intern wurde mit Nachdruck betont, dass „die Tätigkeit der UNIDO im Bereich des Technologietransfers ungeachtet jeglicher möglicher Verdopplung mit Tätigkeiten der UNCTAD in diesem Bereich [erfolge].“85 Die Idee, eine allgemeine Vereinbarung im Technologiebereich zu erarbeiten, kam im März 1979 in der UNIDO86 auf und führte im April 1979 zu einem Treffen in Genf zwischen dem UNCTAD-Generalsekretär Gamani Corea und dem UNIDO-Exekutivdirektor Abd-El Rahman Khane, die diese Reibungspunkte im Bereich des Technologietransfers glätten wollten.87 Die getroffene Vereinbarung entspannte deutlich die

82 GAOR. A/3315. Report of the Trade and Development Board. Vol. 1 (Second and third parts of the ninth special session and second part of the seventeenth session). New York 1978. §104. S. 161. 83 Zu UNCTAD siehe TD/190/Supp.1. Transfer of technology. Action to strengthen the technological capacity of developing countries. Policies and institutions. Report by the UNCTAD Secretariat, 3.2.1976 und TDB/597. The establishment of appropriate institutional arrangements within UNCTAD including the possibility of establishing an advisory service in the field of transfer of technology, 29.1.1976. Zu UNIDO siehe UNIDO. IDB/206. Development and transfer of industrial technology. Report by the Executive Director, 13.4.1978. 84 Siehe UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. Meeting with Mr. H. A. Janiszewski, UNIDO, 9 January 1978. 85 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. Memorandum on the Twelfth Session of the Industrial Development Board, Vienna, 16 to 26 May 1978. 12.6.1978. S. 3. 86 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. Note for the file. 20.3.1979. 87 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. Note for the file. Meeting on UNCTAD/UNIDO relations between the SG of UNCTAD and the Ex Dir of UNIDO. 18.4.1979. S. 2.

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Beziehungen zwischen den beiden Organisationen.88 In den 1980er Jahren waren Mitarbeiter von der UNIDO und der UNCTAD in regelmäßigem Kontakt, vor allem zur wechselseitigen Beschaffung und zum Austausch von Informationen oder zur Diskussion eigener Studien.89 Sie etablierten ein Projekt zum gemeinsamen Studium der parallelen weltweiten Entwicklungen in der Industrie sowie im Handel90, was in der UNCTAD-Technologie-Abteilung als sehr positiv eingeschätzt wurde.91 Ein weiterer Ausdruck dieser guten Beziehungen war der Vorschlag des UNCTAD-Generalsekretärs, bei der vierten Generalkonferenz der UNIDO zu helfen, indem er Mitarbeiter von der UNCTAD zur Verfügung stellte.92

Das Scheitern der „neuen internationalen Arbeitsteilung“ Weder das Vorhaben einer industriellen Umschichtung noch der vertiefte Technologietransfer konnten das Scheitern der „neuen“, von der UNIDO und der UNCTAD gewünschten internationalen Arbeitsteilung verhindern. Ab 1982 bestätigte der Rat für industrielle Entwicklung, dass das „Umschichtungsprogramm“ nicht mehr operativ tätig sei. Damit wurde die industrielle Umschichtung vom Konsultationssystem und dem gemeinsamen Investmentprogramm getrennt.93 Mit der Abschaffung dieser praktischen Dimension blieb nur noch die Forschungsdimension übrig. Zudem ging die Zuständigkeit für weitere Studien zur Umschichtung von der Abteilung „Global studies“ auf die Abteilung „Regional studies“94 über, womit die weltweite Perspektive verloren ging.

88 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. Note on discussions between UNCTAD and UNIDO on transfer and development of technology. 20.9.1979. 89 Siehe UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. UNIDO, 1980–1982. 90 Siehe UNIDO. ICIS.135. Joint UNIDO-UNCTAD project on the interrelationship between growth patterns, trade configuration and industrial structure (UNITAD); UNIDO. ID/223/9. Joint UNCTAD/UNIDO trade and trade related aspects of industrial collaboration. 91 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1882. 479. TD 583/1. UNITAD Project. 14.7.1979. 92 UNCTAD. ARR 40/1882. 478. TD 583/1. UNCTAD’s participation at UNIDO IV, Vienna 2–18 August 1984. 18.7.1984. 93 UNIDO. IDB/282. Redeployment of industries from developed to developing countries. Studies undertaken by UNIDO on industrial redeployment and restructuring. Report by the Executive Director. 18.3.1982. §2. S. 3. 94 UNIDO. IDB/294. Studies of world industrial production including redeployment. Studies and research undertaken by UNIDO on industrial redeployment and restructuring. Report by the Executive Director. 28.2.1983. §3. S. 4.

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Unter Federführung der UNCTAD tagte die UNO-Konferenz über einen Verhaltenskodex über den Technologietransfer zwischen 1978 und 1985 sechsmal. Bereits 1979 betonte der UNCTAD-Generalsekretär, dass es notwendig sei, über Verhandlungen „aus der Sackgasse herauszukommen“95. Im Jahr 1980 mahnte der Bericht der Expertenkommission an, dass „die Konferenz scheitern würde, wenn den wichtigsten Fragen nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt würde.“96 Noch 1984 bestanden die Hoffnungen darauf, dass die Sitzung im nächsten Jahr die letzte sein und einen erfolgreichen Abschluss bringen könnte.97 Jedoch erfüllten sich diese Hoffnungen nicht und die Sitzung endete 1985 ohne Vereinbarung. Gleichzeitig verlor die UNCTAD weitgehend ihre Fähigkeit den Konsens über den Technologietransfer aufrechtzuerhalten. Einige Resolutionen des Rates für Handel und Entwicklung, die zur Abstimmung vorlagen, wurden im Widerspruch zur üblichen Praxis des gegenseitigen Einvernehmens per Mehrheitswahl angenommen.98 Die umstrittene Regierungsexpertengruppe zum „umgekehrten Technologietransfer“ tagte ohne die Beteiligung der OECD-Länder und legte einen Bericht vor, der nur für die beteiligten Länder Verbindlichkeiten brachte.99 Am Ende der 1970er Jahre schlossen sich auch die Ostblockländer der Kritik an, da die Kosten des Technologietransferprogramms zu rasch gestiegen waren.100 Der heftigste Angriff kam schließlich 1985 vom Vertreter der Vereinigten Staaten mit einer vernichtenden Erklärung: „The record of efforts in the area of transfer of technology was abysmal – expert meetings whose participants were anything but expert and documentation that was ill-conceived, poorly prepared and lacking in any realistic focus; in sum a waste of time and precious resources.“101 Ab 1986 war das Thema Technologietransfer kein Tagungsordnungspunkt mehr.

95 GAOR. A/3415. Report of the Trade and Development Board. Vol.1. (Tenth special session). New York 1979. §19. S. 7. 96 UNCTAD. TDB/836. Report of the Committee on transfer of technology on its third session, 17–28 November 1980. 1981. §97. S. 13. 97 GAOR. A/3915. Report of the Trade and Development Board. Vol.1. (Twenty-eighth session). New York 1984. §1. S. 51. 98 GAOR. A/3615. Report of the Trade and Development Board. (Twenty-second and twentythird sessions). New York 1982. §440. S. 229. 99 GAOR. A/3915. Report of the Trade and Development Board. Vol.2. (Twenty-ninth session). New York 1985. S. 30. 100 GAOR. A/3415. Report of the Trade and Development Board. Vol.2. (Nineteenth session). New York 1979. §93. S. 159 u. §97. S. 160. 101 GAOR. A/4015. Report of the Trade and Development Board. Vol. 2. (Thirty-first session). New York 1986. §6. S. 21.

Der Nord-Süd-Konflikt und die „neue internationale Arbeitsteilung“ 

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Das Scheitern der beiden Initiativen ergab sich aus dem Mangel an Zusammenarbeit unter den UN-Mitgliedsstaaten, die nicht bereit waren, die Maßnahmen einzuleiten, die dafür notwendig gewesen wären. Ganz bestimmt spielte auch der Bruch Ronald Reagans mit der multilateralen Funktionsweise der UN eine Rolle, als er 1981 auf der Konferenz von Cancun die Verhandlungen abbrach.102 Auf einer anderen Ebene erwies sich aber auch der intellektuelle Rahmen der NIEO als zerbrechlich, als Raymond Vernon’s These, die multinationalen Unternehmen seien die Hauptakteure in der Wirtschaft geworden, immer mehr Wirklichkeit wurde. In einem Diskussionspapier von 1990 stellte ein UNCTADExpert fest, die transnationalen Firmen seien seit 20 Jahren immer größer und konzentrierter geworden; sie hätten vom Schutz des industriellen und intellektuellen Eigentumsrecht stark profitiert, was die technologische Kluft vertieft hätte; die Entwicklungsländer hätten zudem versucht, den Transfer von Technologien in Zusammenarbeit mit diesen Firmen zu verwirklichen und weniger Wert der multilateralen Handlung geschenkt.103 Ein neuer Verhaltenskodex müsse also diesen „Interessenwechsel“ (shift in concerns) berücksichtigen. Eine ähnliche Diagnose stellten linksorientierte Forscher hinsichtlich der „neue internationalen Arbeitsteilung“. In ihrem weltberühmten Buch Die neue internationale Arbeitsteilung zeigten die marxistisch geprägten Wirtschaftswissenschaftler Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs und Otto Kreye auf, dass die Industrialisierung der Entwicklungsländer ihre Stellung in der internationalen Arbeitsteilung nicht geändert hätte und vielmehr ihre Unterordnung in einer Weltwirtschaft reproduziere, in der die multinationalen Unternehmen der OECD-Länder beherrschend blieben. Diese internationale Arbeitsteilung sei nur in dem Maße „neu“, dass sie eine neue Etappe der kapitalistischen Entwicklung bilde. 104 Diese Analysen widersprachen dem utopischen Inhalt einer „neuen“, rationaleren und gerechteren internationalen Arbeitsteilung, wie sie sich die UNIDO und die UNCTAD vorgestellt hatten, radikal und trugen ebenfalls zum Scheitern ihrer Vorhaben bei. Wenn die multinationalen Unternehmen den Vorrang hatten, lohnte es sich kaum, ein alternatives Vorhaben auf der Grundlage der internationalen Zusammenarbeit zwischen formal souveränen Staaten zu verfolgen. 102 Vgl. Gilman, New International Economic Order, S. 8. 103 UNOG. UNCTAD. ARR 40/1929. 487. TD 588/4(1-1). The relevance of recent technological and commercial developments to the negotiations on an international code of conduct on the transfer of technology. Study by the UNCTAD Secretariat, 2.10.1990, S. vi. 104 Fröbel, Folker/Heinrichs, Jürgen/Kreye, Otto: The New International Division of Labour. Structural Unemployment in Industrialised Countries and Industrialisation in Developing Countries. Cambridge 1980.

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Diese Erkenntnis war die Ursache für die Krise der UNCTAD und der UNIDO sowie des gesamten UN-Systems. Heute ist dieser Versuch, eine rationellere und gerechtere Wirtschaftsordnung zu etablieren, in Vergessenheit geraten. Aber die aktuellen Fragen, die der Klimawandel mit sich bringt, ähneln sehr denjenigen der 1970er Jahre: Wie begründen sich die Rolle und die Relevanz wissenschaftlicher Studien bei der Identifikation, der Analyse und den Lösungsentwürfen von Problemen mit weltumspannender Reichweite? Wie und wann wird eine Frage politisch? Wie kann man „global“ handeln, ohne jegliche supranationale Macht (siehe das Vorgehen auf die Pariser Konferenz)? Wie können sich Staaten langfristig einigen, wenn sie kurzfristig keinen Grund dafür haben? Wie sollten zukünftigen Kosten des Klimawandels verteilt werden? All diese Fragen sind nicht neu und wurden im Prinzip schon in den 1970er Jahren aufgeworfen. Lediglich das Problem ist ein anderes. Bleibt zumindest zu hoffen, dass in diesem Zyklus die Ansätze nicht scheitern. Ein Scheitern ist zumindest nicht vorprogrammiert.

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Lusaka 1970: Die ökonomische Refokussierung der Bündnisfreien auf ihrem dritten Gipfeltreffen Am 8. September 1970 stand Kenneth Kaunda in der neu errichteten Mulungushi Hall, die in den letzten vier Monaten in Lusaka aus dem Boden gestampft worden war. In dem für 1.500 Personen ausgelegten „prächtigen, mit Kupfer ausgekleideten“ Konferenzsaal begrüßte der 46-jährige sambische Präsident die Delegationen aus 53 Ländern – unter ihnen „einen Kaiser, einen König, 15 Premiers und eine Handvoll Prinzen“.1 Zählt man Gäste und Beobachter hinzu, waren sogar 72 Delegierten-Gruppen in die sambische Hauptstadt gereist, um am dritten Gipfeltreffen der Bündnisfreien Staaten teilzunehmen, der größten Konferenz, die bis dahin im sub-saharischen Afrika stattgefunden hatte. Trotz des beeindruckenden Aufgebots an Staatschefs hatte Dan Morgan, Korrespondent der Washington Post, einige Tage zuvor prognostiziert: „In the international context of 1970, it seems safe to assume that the world will little note, nor long remember what they do there.“2 Der Einfluss der ‚Dritten Welt‘ schien seit der Hochphase des Kalten Krieges in den frühen 1960er Jahren, als die Bündnisfreien sich zunächst 1961 in Belgrad und drei Jahre später in Kairo getroffen und für weltweite Schlagzeilen gesorgt hatten, stark zurückgegangen. Dazu passend argumentiert heute eine Reihe von Historikern – wie Dietmar Rothermund, Lorenz M. Lüthi und Mark Atwood Lawrence – „the Non-Aligned Movement had seen its best days by the early 1970s“.3 Im vorliegenden Aufsatz soll im Anschluss an die Arbeiten von Jürgen Dinkel die gegenteilige Auffassung 1 „Nonaligned Nations to Press U. N. on Red China“. In: New York Times, 15.9.1970. S. 2. 2 Morgan, Dan: „Yugoslavs hope Lusaka conference will restore strength of neutrals“. In: The Washington Post. 2.9.1970. S. A14; vgl. auch Antic, Zdenko: Third Non-Aligned summit in Lusaka, Radio Free Europe Research, 7.9.1970. http://catalog.osaarchivum.org/catalog/osa: b14bc9c2-e437-4a04-bec7-8716c9f7a946 (13.9.2019). 3 Lüthi, Lorenz M.: Non-Alignment, 1961–1974. In: Neutrality and Neutralism in the Global Cold War. Between or Within the Blocs? Hrsg. von Sandra Bott. London/New York 2016. S. 90–107. Hier S. 101; vgl. auch Lawrence, Mark Atwood: The Rise and Fall of Nonalignment. In: The Cold War in the Third World. Hrsg. von Robert J. McMahon. Oxford/New York 2013. S. 139–155 und Rothermund, Dietmar: The Routledge Companion to Decolonization. London/ New York 2006. S. 48. Durchaus anschlussfähig bemerkte Odd Arne Westad kürzlich, dass sich „the beginning of the end of the Third World“ Mitte der 1960er Jahre bereits abgezeichnet habe. Westad, Odd Arne: The Cold War. A World History. New York 2017. S. 325. https://doi.org/10.1515/9783110682625-009

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vertreten werden, dass die Blockfreien ihre größte Bedeutung erst im Laufe der 1970er Jahre entfaltet haben.4 Nun ging es ihnen aber weniger um Handlungsspielräume und globale Friedenssicherung im Kontext des Ost-West-Konflikts, sondern verstärkt um Fragen der Weltwirtschaftsordnung, um das Verhältnis von Nord und Süd. Diese Refokussierung der Bündnisfreien auf ökonomische Themen, die 1973 in Algiers in die berühmte Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung münden sollte, wurde, so die zentrale These des vorliegenden Aufsatzes, auf dem bislang kaum erforschten dritten Gipfeltreffen in Lusaka eingeleitet. Um diese These zu plausibilisieren, wird zunächst gefragt, welche Rolle ökonomische Themen in Lusaka tatsächlich spielten. Anschließend wird eruiert, wie neu das Verhandeln wirtschaftlicher Fragen im Rahmen der Blockfreien eigentlich war und warum dieser Themenkomplex in den frühen 1970ern an Bedeutung gewann. Schließlich wird untersucht, wie die Bündnisfreien Staaten ihre weltwirtschaftlichen Vorstellungen umzusetzen gedachten. Dabei – so wird ausblickend argumentiert – dominierte, anders als beim folgenden Algiers-Gipfel, noch eine sehr viel konziliantere Haltung gegenüber den westlichen Industriestaaten. Der Beitrag bemüht sich in diesem Rahmen, die übergeordneten Fragen des Sammelbandes aufzugreifen und speziell Aussagen zur Periodisierung der Nord-Süd-Beziehungen, zur Deutung als „Konflikt“ oder „Dialog“ und den dazugehörigen Inszenierungen zu treffen.

Ökonomie in Lusaka „Slowly the infectious rhythm of a Zambian freedom song, with its refrain ‚Let’s go forward with one heart,‘ filled the magnificent copper-lined Mulungushi Hall. Zambian President Kenneth Kaunda led the song in a clear, sure voice and was joined, first hesitantly, then enthusiastically, by the dignified monarchs, presidents, princes and prime ministers, clapping in unison.“ So beschrieb Marvine Howe, Korrespondent der New York Times, das Ende des Lusaka-Gipfels. Für Howe stand dieser Abschluss sinnbildlich für eine Konferenz, in der die Afrikaner den Ton angegeben hatten und die Delegierten aus Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten ihnen gefolgt waren.5 Die Richtung, die Kaunda bereits in seiner Eröffnungsrede vorgegeben hatte, zeichnete sich nicht zuletzt 4 Dinkel, Jürgen: „Third World begins to flex its muscles“. The Non-Aligned Movement and the North-South Conflict During the 1970s. In: Bott, Neutrality, S. 108–123. 5 Howe, Marvine: „Unaligned Find Common Cause in Africa“. In: The New York Times, 13.9.1970. S. E2.

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durch eine inhaltliche Verschiebung aus. Anknüpfend an das im Rahmen der Bündnisfreien etablierte Thema der Friedenssicherung erklärte er: „We agreed we need peace and that peace is the theme of the non-aligned movement, but it is quite clear that peace can only be secured and maintained successfully if it is based on meaningful and sound economic development and social justice. Time has come for the non-aligned countries to take measures in this direction.“6 Neben Friedenssicherung, der Unabhängigkeit von den Machtblöcken des Kalten Krieges und von den alten Kolonialmächten, was Kaunda mit Blick auf die Situation im südlichen Afrika besonders am Herzen lag, sollte nun ein weiterer Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung der ‚Dritten Welt‘ gelegt werden. Dies erschien umso notwendiger, als sich der ökonomische Abstand „between the rich and the poor, between the developed and the developing nations, between the Continents in the North and those in the South“ seit den ersten beiden Konferenzen der Blockfreien vergrößert habe. Er fuhr fort: „The existence of the gap between the rich and the poor nations breeds exploitation of the economically weak by the strong. The UNCTAD conferences held in Geneva and New Delhi, as well as the First United Nations Development Decade, have failed to achieve their objectives.“7 Auch zahlreiche weitere Delegierte betonten in ihren Reden die Wichtigkeit von Themen der Entwicklung und der weltwirtschaftlichen Ordnung. So bezeichnete etwa Haile Selassie I., der äthiopische Kaiser, das Entwicklungsproblem als „our greatest concern“ und forderte die Umsetzung der weltwirtschaftlichen Entscheidungen der UNCTAD.8 Indiens Premierministerin Indira Gandhi legte den eindeutigen Schwerpunkt ihrer Ansprache auf Wirtschaftsfragen und forderte, die Anstrengungen gegen die neokolonialen Handelsbeziehungen zu verdoppeln.9 Und Tansanias Präsident Julius Nyerere hatte schon im Vorfeld der Konferenz betont, die wichtigste Aufgabe der Bündnisfreien in Lusaka sei es, eine „trade union of the poor nations“ zu schaffen.10

6 National Archives of Zambia, Lusaka (NAZ). Government Publications (GP). Box No. 61E. S. 12: Address by his Excellency the President of the Republic of Zambia, Dr. K. D. Kaunda, on the Occasion of the Opening of the Third Summit Conference of Heads of State and Government of Non Aligned Countries. Mulungushi Hall, Lusaka, 8.9.1970. 7 NAZ. GP. Box No. 61E, Address, S. 10. 8 NAZ. GP. Box No. 61E, Address, S. 16–30. Third Summit Conference of Non-Aligned Countries: Verbatim Record of the First Meeting held at Mulungushi Conference Hall, Lusaka, 8.9.1970, 10 a. m. NAC/CONF.3/PV.1. 9 Indira Gandhis Rede ist abgedruckt in Gandhi, Indira: Indira Gandhi spricht. Percha 1975. S. 218–228. 10 „Nyerere urges poor nations to unite“. In: The Guardian, 8.9.1970. S. 3.

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Diese Zitate verdeutlichen, dass es sich bei der ökonomischen Neuausrichtung in Lusaka keinesfalls um einen sambischen Alleingang handelte. Natürlich, Sambia spielte eine wichtige Rolle: Es stellte mit Reuben Kamanga, dem früheren Außenminister und aktuellen Minister für ländliche Entwicklung („rural development“), den Vorsitzenden des Gipfels und hatte auch die 22 Resolutionsentwürfe, die den beiden Konferenzausschüssen als Arbeitsgrundlage dienten, vorbereitet.11 Auch betonten zahlreiche Beobachter, dass Kaunda, der auf der Konferenz zum ersten Vorsitzenden der Bündnisfreien ernannt wurde und die gefassten Beschlüsse sowohl an die Großmächte als auch in den Vereinten Nationen kommunizieren sollte, die prägende Figur gewesen und zum Anführer der Dritten Welt aufgestiegen sei. Der britische Observer meinte gar: „Never before has a Third World leader achieved such massive authority and respect“.12 Doch die Präsenz wirtschaftlicher Themen in den Redebeiträgen der verschiedenen Delegationen belegt, dass die thematische Refokussierung der Blockfreien eine breitere Grundlage hatte. Vor allem Jugoslawien, Indien und Tansania können in dieser Hinsicht hervorgehoben werden. So hatte Nyerere bereits während des Vorbereitungstreffens in Daressalam im April 1970 darauf gedrungen, dass ökonomischen Fragen auf der kommenden Gipfelkonferenz die zentrale Rolle zugewiesen werden solle.13 Jugoslawien übernahm dann in Lusaka den Vorsitz über das Wirtschaftskomitee und stellte auch ein eigenes Positionspapier „on Economic and Social Development“ zur Diskussion.14 Und

11 „Heads of Nonaligned States Gather in Africa“. In: The New York Times, 8.9.1970. S. 3; vgl. auch Summary Record of the Third Meeting. Held at Mulungushi Conference Hall, Lusaka, 7.9.1970, 9.40 a.m. In: The Third World without Superpowers. Serie 1. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries. Vol. 1. Hrsg. von Odette Jankowitsch u. Karl P. Sauvant. Dobbs Ferry 1978. S. 143–147. 12 Legum, Colin: „Kaunda faces his big test as a new world leader“. In: The Observer, 13.9.1970. S. 5; siehe auch „Konferenz der Blockfreien. Die vielgepriesene Einheit“. In: Die Zeit, 18.9.1970; McDermid, Angus: „‚Third world‘ nations set up headquarters. Zambian chief heads permanent secretariat“. In: The Christian Science Monitor, 15.9.1970. S. 3; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA). Botschaft Lusaka (LUSA). 11617. Fernschreiben Botschaft Lusaka an AA, 15.9.1970. 13 Siehe dazu Nyerere, Julius K.: Non-Alignment in the 1970s. Opening Address, 13.4.1970. Daressalam 1970; Parker, Christopher: „Lusaka summit will try to reduce economic gap“. In: The Guardian. 10.8.1970. S. 3. 14 NAZ. GP. Box No. 61E. Draft Document on Economic and Social Development. Paper Submitted by Yugoslavia, 7.9.1970. NAC/CONF.3/CM/E/Working Paper 1; siehe auch PA AA. LUSA. 11617. Fernschreiben Botschaft Lusaka an Auswärtiges Amt (AA), 7.9.1970.

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die Times of India wurde nicht müde zu betonen, dass Indien an der neuen Prominenz wirtschaftlicher Themen zentralen Anteil gehabt habe.15 In ihrer offiziellen „Declaration on Non-Alignment and Economic Progress“ forderten die Delegierten schließlich, es müsse zu einer schnellen Transformation des Weltwirtschaftssystems kommen. Das alte ungerechte Wirtschaftssystem stamme aus kolonialer Zeit und bringe durch seinen „Neokolonialismus“ unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Überwindung von Armut und ökonomischer Abhängigkeit.16 Hier wird eine bestimmte temporale Deutung sichtbar. Im Zuge des Nord-Süd-Konflikts betonten die Staaten des Südens immer wieder die ungebrochene Kontinuität kolonialer Verhältnisse im ökonomischen Bereich und leiteten daraus einen unmittelbaren Handlungsbedarf ab. Die Zäsur der politischen Dekolonisation, das sei hier ergänzend bemerkt, verlor im Gegenzug an Prägnanz. Die angestrebten Veränderungen in der Weltwirtschaftsordnung lassen sich grob den drei Bereichen Handel, Finanzen und Technologie zurechnen und wiederholten in weiten Teilen die bereits im Rahmen der UNCTAD vorgetragenen Forderungen. Die weltweite Nutzung von Rohstoffen sollte ausgeweitet, den Produzenten durch den Abschluss von internationalen Rohstoffabkommen („commodity agreements“) gerechtere Preise garantiert und die Verarbeitung dieser Güter zunehmend ebenfalls in den Ursprungsländern angesiedelt werden.17 Um die Handelseinnahmen der ‚Dritten Welt‘ zu steigern, sollte darüber hinaus die Wirtschaftsstruktur in der industrialisierten Welt angepasst werden, so dass ein wachsender Anteil von Industriegütern von nun an in ‚Entwicklungsländern‘ hergestellt werden könnte. Damit Rohstoffe und Industriegüter aus der ‚Dritten Welt‘ schließlich Absatzmärkte fänden, gelte es das 1968 während der zweiten UNCTAD-Konferenz in Neu Delhi im Grundsatz akzeptierte generalized system of preferences18 ohne weitere Verzögerung umzusetzen. Im Fi15 Mukerjee, Dilip: „All Lusaka is busy with plans to welcome leaders“. In: Times of India. 5.9.1970. S. 9; Kamath, Madhav Vittal: „U.S. reactions to Lusaka summit. Muted Hostility“. In: Times of India. 30.9.1970. S. 10. 16 Third Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries: Declaration on Non-Alignment and Economic Progress. In: Jankowitsch/Sauvant, Third World, Vol. 1, S. 85–90. 17 Zu „commodity agreements“ siehe Raffaelli, Marcelo: The Rise and Demise of Commodity Agreements. An Investigation into the Breakdown of International Commodity Agreements. Cambridge 1995; Rahman, Mahfuzur: World Economic Issues at the United Nations. Half a Century of Debate. Boston 2002. S. 211–220. 18 Hierbei handelt es sich um ein Zollsystem, das Importe aus ‚Entwicklungsländern‘ in den Industriestaaten systematisch bevorzugt. Siehe Gosovic, Branislav: UNCTAD. Conflict and Compromise. The Third World’s Quest for an Equitable World Economic Order through the United Nations. Leiden 1972. S. 65–92.

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nanzbereich wiederholten die Blockfreien die Forderung nach einer Erhöhung der Hilfszahlungen auf mindestens ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Industriestaaten, wobei diese Gelder zu ‚weichen‘ Konditionen, das heißt mit langen Rückzahlungsfristen und zu niedrigen Zinsen oder gleich als Zuschuss, und ohne weitere Bedingungen bereitgestellt werden sollten. Außerdem sollte der Internationale Währungsfonds – eine genuin neue Forderung – weitere Mittel bereitstellen, indem ein sogenannter Link zwischen „Special Drawing Rights“ (SDR), der 1969 vom Internationalen Währungsfonds geschaffenen Reservewährung zur Sicherung der internationalen Liquidität,19 und „development finance“ hergestellt würde. Dieser Link sollte dafür sorgen, dass ‚Entwicklungsländern‘ ein möglichst großer Teil der neu geschaffenen Mittel automatisch zur Verfügung gestellt würde.20 Parallel forderten die Bündnisfreien, die Schuldenlast der ‚Entwicklungsländer‘ zu reduzieren. Schließlich drängten sie darauf, die wachsende technologische Lücke zwischen armen und reichen Ländern durch die Erleichterung von Technologietransfers zu schließen.21

Entwicklung und Weltwirtschaft in Belgrad und Kairo Wie neu aber waren diese ökonomischen Forderungen im Rahmen der Bündnisfreien? Handelt es sich hier tatsächlich um eine bedeutende thematische Neuausrichtung? Blickt man zurück auf die beiden ersten Gipfeltreffen der Bündnisfreien in Belgrad (1961) und Kairo (1964), so lässt sich feststellen, dass weltwirtschaftliche Themen auch dort angesprochen worden waren. In der Deklaration der Belgrader Konferenz hieß es etwa: „The participants in the Conference consider that efforts should be made to remove economic inbalance [sic] inherited from colonialism and imperialism.“22 In diesem Sinne solle ein United Nations Capital Development Fund eingerichtet, Rohstoffpreise stabilisiert und der Technologietransfer zu Entwicklungszwecken erleichtert werden. Außerdem hätten alle Staaten das Recht, frei über die Nutzung ihrer Rohstoffe zu verfügen, 19 Diese Liquiditätserhöhung war notwendig, da die Goldreserven zusammen mit den etablierten Reservewährungen des US-Dollars und des britischen Pfunds nicht ausreichten, um mit der rasanten Ausweitung des internationalen Handels und der Finanzströme mitzuhalten. 20 Zum Link siehe Rahman, World, S. 245f.; Krasner, Stephen D.: Structural Conflict. The Third World against Global Liberalism. Berkeley/London 1985. S. 138. 21 Third Conference, Declaration, S. 89f. 22 First Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries: Declaration, Belgrade, 1.–6.9.1961. In: Jankowitsch/Sauvant, Third World, Vol. 1, S. 3–7.

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selbst wenn dies etwa gegen existierende Verträge – wie Bergbaukonzessionen – verstieße.23 Drei Jahre später kam etwa die Ausweitung von Kapitaltransfers in die ‚Entwicklungsländer‘ und die Verbesserung des Zugangs zu den Märkten der Industriestaaten hinzu, um eine neue und gerechte Wirtschaftsordnung zu kreieren.24 Während Fragen von Entwicklung und weltwirtschaftlicher Ordnung also von Beginn an auf der Agenda der Bündnisfreien standen, spielten sie zunächst lediglich eine Nebenrolle. In der Deklaration von Belgrad lassen sich maximal vier von 27 Paragraphen, diesem Themenfeld zuordnen. In Kairo befasste sich eine von elf Sektionen mit „Economic Development and Cooperation“. Der eindeutige Fokus lag, wie es Odette Jankowitsch und Karl Sauvant formuliert haben, auf den Themen „decolonization, non-interference in the international affairs of states, disarmament, non-involvement in the Cold War, and the strengthening of the United Nations“.25 Ähnliches lässt sich für das vielfach mythisch verklärte Treffen der Delegationen von 29 afrikanischen und vor allem asiatischen Staaten im indonesischen Bandung von 1955 sagen, das wiederholt als Ursprung der Blockfreien präsentiert worden ist.26 Diese Konferenz gilt Historikern wie Christopher Lee oder Jürgen Dinkel als kaum zu überschätzender Moment, in dem die „Dritte Welt“ als neuer Akteur in den internationalen Beziehungen sichtbar wurde. Diese zunächst positiv konnotierte Koalition junger postkolonialer Staaten trat nun für die Schaffung einer neuen Weltordnung ein, die sich der Durchsetzung der Menschenrechte, der Selbstbestimmung und des Weltfriedens verschrieb.27 Eines der Themenfelder, das in Bandung ebenfalls angeschnitten wurde, war das der ökonomischen Kooperation. So empfahl das Abschlusskommuniqué unter 23 First Conference, Declaration, S. 3–7. Zur Geschichte der Forderung nach „permanent sovereignty over natural resources“ siehe Dietrich, Christopher R. W.: Oil Revolution. Anticolonial Elites, Sovereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization. Cambridge 2017; Angie, Anthony: Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law. Cambridge 2005. S. 196–244. 24 Second Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries: Programme for Peace and International Co-operation, Cairo, 5.–10.10.1964. In: Jankowitsch/ Sauvant, Third World, Vol. 1, S. 44–59, hier insbes. S. 56–58. 25 Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P.: Introduction. The Non-Aligned Countries. In: Dies., Third World, Vol. 1, S. xxx–lv, hier xlviii. 26 S. etwa Singham, Archibald Wickeramaraja/Hume, Shirley: Non-Alignment in the Age of Alignments. Westport/London 1986. S. 67; vgl. die abweichende Interpretation bei Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin [u.a.] 2015. S. 59–98. 27 Siehe Lee, Christopher J.: Introduction. Between a Moment and an Era. The Origins and Afterlives of Bandung. In: Making a World after Empire. The Bandung Moment and its Political Afterlives. Hrsg. von dems. Athens 2010. S. 1–42. Hier S. 15; Dinkel, Bewegung, S. 88.

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anderem die baldige Schaffung eines „Special United Nations Fund for Economic Development“ (SUNFED), das Bereitstellen weiterer Mittel durch die Weltbank für postkoloniale Staaten und die Stabilisierung von Rohstoffpreisen. Diese Überlegungen nahmen jedoch einen eher geringen Raum im Schlusskommuniqué ein. Zudem waren sie, wie der Historiker Giuliano Garavini vermerkt, noch wenig präzise und es findet sich auch noch nicht die Forderung nach einer grundlegend anderen Weltwirtschaftsordnung.28 Waren Fragen der Weltwirtschaft in Bandung, Belgrad und Kairo also eher randständig, änderte sich die Gewichtung in Lusaka spürbar, wie an den bereits zitierten Reden deutlich wird. Darüber hinaus trat neben einen politischen Arbeitsausschuss nun ein gleichberechtigter ökonomischer. In diesen Komitees wurden die Deklarationen und Resolutionen erarbeitet, die anschließend vom Plenum einstimmig verabschiedet werden mussten. Analog zur Aufteilung in zwei Arbeitsgruppen, beschlossen die Delegierten nun erstmals nicht eine, sondern zwei separate Deklarationen: eine primär politische „on Peace, Independence, Development, Co-operation and Democratization of International Relations“ und eine ökonomische „on Non-Alignment and Economic Progress“. Durch diese Zweiteilung, die sich auf den folgenden Konferenzen wiederholen sollte, unterstrichen die Blockfreien seit 1970 symbolisch die Bedeutung ökonomischer Fragen für ihre Bewegung.29 Warum aber kam es 1970 zu dieser thematischen Refokussierung der Bündnisfreien? Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass Fragen von Entwicklung und Weltwirtschaft auch vor den 1970er Jahren bereits massiv gestellt worden waren. Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch, der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah oder der auf Martinique geborene antikoloniale Denker Frantz Fanon gehörten zu jenen, die teils seit den 1940er Jahren für eine grundlegende Veränderung der weltwirtschaftlichen Ordnung eingetreten waren, die den Staaten der ‚Dritten Welt‘ mehr Möglichkeiten eröffnen sollte.30 Entsprechende Forderungen waren aber zunächst nicht im Rahmen der Bündnisfreien thematisiert worden, vielmehr auf ein separates Treffen ausgelagert worden, das sich nicht allein an die Blockfreien, sondern an alle ‚Entwicklungsländer‘ richtete. Diese Conference on the Problems of Economic Development fand im Juli 1962 in 28 Final Communique of the Asian-African Conference. In: Asia-Africa speaks from Bandung. Hrsg. von The Ministry of Foreign Affairs, Republic of Indonesia. Jakarta 1955. S. 161–169; vgl. Garavini, Giuliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South. Oxford 2012. S. 12. 29 Die Resolutionen finden sich in Jankowitsch/Sauvant, Third World, Vol. 1, S. 80–90. 30 Dosman, Edgar J.: The Life and Times of Raúl Prebisch, 1901–1986. Montreal 2008; Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism. London 1965; Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a. M. 1981.

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Kairo statt und schloss mit einem Aufruf zur Einberufung einer „international economic Conference within the framework of the United Nations“, deren Agenda „all vital questions relating to international trade, primary commodity trade, economic relations between developing and developed countries“ beinhalten sollte.31 Im März 1964 eröffnete die gigantische United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) mit über 4.000 Delegierten im Palais des Nations in Genf. Recht schnell wurde jedoch klar, dass die weltwirtschaftlichen Reformvorstellungen aus der ‚Dritten Welt‘ bei den westlichen Regierungen auf wenig Verhandlungsbereitschaft stießen. Gerade weil sich keine Einigung zwischen Nord und Süd in inhaltlichen Fragen erzielen ließ, schien es vielen Delegierten aus den ‚Entwicklungsländern‘ notwendig, die institutionellen Bedingungen zu schaffen, um die ausstehenden Sachfragen mittelfristig zu lösen. Dies gelang mit der schließlich einstimmigen Entscheidung, die UNCTAD im Rahmen der Vereinten Nationen zu verstetigen. Spätestens nach der zweiten UNCTAD-Konferenz, die von der indischen Premierministerin Indira Gandhi am 1. Februar 1968 in Neu Delhi eröffnet wurde, war allerdings klar, dass handfeste Ergebnisse in diesem Rahmen vorerst nicht zu erreichen waren. Bereits während der Konferenz hatte Prebisch die von den Vereinten Nationen ausgerufene „Decade of Development“ angesichts der Ergebnislosigkeit der Nord-Süd-Gespräche und der mauen Wirtschaftslage in der ‚Dritten Welt‘ als „Decade of Frustration“ bezeichnet.32 Und die Frustration steigerte sich noch einmal, als die Konferenz – mit Ausnahme einer vagen und lediglich grundsätzlichen Einigung auf ein generalized system of preferences – ohne die im Vorhinein versprochenen Resultate endete.33 „[N]ever before have so many words been spoken by so large a number, for so little […]“, fasste die Times of India die Geschehnisse dementsprechend treffend zusammen, während die Times aus New York ganz ähnlich kommentierte: „The results were depressing for all concerned.“34 Es war eben diese Enttäuschung über die Ergebnisse der ersten beiden UNCTAD-Konferenzen und der UN Development Decade, die den Anstoß für die Hinwendung der Bündnisfreien zu den Themen von Weltwirtschaft und ‚Ent31 Special Conference: Conference on the Problems of Economic Development. 1. Cairo Declaration of Developing Countries, Cairo, 9.–18.7.1962. In: Jankowitsch/Sauvant, Third World, Vo. l. 1, S. 72–75, hier S. 74. 32 Dosman, Prebisch, S. 428. 33 Zu den Ergebnissen von UNCTAD II vgl. Dosman, Prebisch, S. 434; Garavini, After empires, S. 88. 34 „58-day UNCTAD – II ends, result not adequate, says Baghat“. In: Times of India, 30.3.1968. S. 1; Smith, Terence: „For UNCTAD, a long morning after“. In: New York Times, 31.3.1968. S. 1, 5.

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wicklung‘ gaben. Oder wie es in einem der Konferenzdokumente in Lusaka hieß: „The Development Decade has failed […]. Now is the time for the poor countries to realise the necessity of solving the problems of underdevelopment themselves. In other words, the non-aligned nations should rely first and foremost on themselves.“35 Was das konkret bedeutete, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden. Hinzu kam ab Ende der 1960er Jahre außerdem, dass sich der Ost-West-Konflikt im Zeichen der détente zu entspannen begann. Damit eröffneten sich einerseits neue Möglichkeitsräume, Nord-Süd-Probleme prominent auf die internationale Agenda zu setzen. Andererseits befürchteten viele Akteure aus der ‚Dritten Welt‘, dass sie die Leidtragenden der Entspannung zwischen den Supermächten sein könnten. Internationale Entscheidungen könnten nun zunehmend unter den Großmächten ausgehandelt werden, während sich „new structures of domination and dependency“ in den Nord-Süd-Beziehungen ausbreiten könnten.36 Jeffrey James Byrne geht sogar so weit, die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung als „reaction against detente and what looked like the communist countries’ gradual integration into the Western economic sphere “ zu interpretieren.37

Kooperation oder Konfrontation – die Strategie der Bündnisfreien Wie aber wollten die Bündnisfreien ihre Forderung nach einer Reform der Weltwirtschaftsordnung gerade gegenüber den meist skeptischen westlichen Industriestaaten durchsetzen? In ihrer offiziellen Kommunikation setzten sie in Lusaka eindeutig auf Kooperation mit den westlichen Industriestaaten im Rahmen der Vereinten Nationen, wobei sie die Überzeugung äußerten, dass eine Weltwirtschaftsordnung, die der ‚Dritten Welt‘ mehr Prosperität bringe, letztlich auch im Interesse der 35 NAZ. GP. Box No. 61E. Third Summit Conference of Non-Aligned Nations, Lusaka, September 1970. Draft Document No. 23. Economic Development and Co-operation among Non-Aligned Countries, 6.9.1970. NAC/CONF.3/CM/23. 36 United Nations Archives, New York (UNA). S-0972-0003-04-00001. Indonesia, The Role of Non-Alignment Today, 4.9.1973. NAC/ALG/CONF.4/M/C.1/L.14; vgl. auch ebd.: Inaugural Address Delivered by President Houari Boumediene. Fourth Summit Conference of Non-Aligned Countries, Algiers 5.–8.9.1973. NAC/ALG/CONF.4/3; oder Hoagland, Jim: „Nonaligned nations start relying more on each other“. In: The Washington Post, 16.9.1970. S. A17. 37 Byrne, Jeffery James: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World order. Oxford/New York 2016. S. 295.

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‚entwickelten‘ Staaten liege. In einer interdependenten Welt, so formulierte es etwa Präsident Kaunda in seiner Rede, „[o]ur poverty affects them just as they benefit from our economic strength.“38 Damit bedienten sich die Bündnisfreien einer kommunikativen Strategie, die im Laufe der 1970er Jahre und in den Auseinandersetzungen um eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ von verschiedenen Akteuren verfolgt werden sollte – prominent etwa von der sogenannten BrandtKomission – und die auch in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften Konjunktur hatte.39 Zusätzlich sei es aber notwendig, so der zweite, komplementäre Ansatz, die ökonomische Zusammenarbeit zwischen den ‚Entwicklungsländern‘, etwa durch den Abbau von Zollschranken, auszubauen – „at sub-regional, and inter-regional levels for accelerating their economic growth and social development“.40 Dies diene auch dazu, die Abhängigkeit von den Industriestaaten zu verringern und sich dementsprechend weniger erpressbar zu machen. Zur Förderung dieser Süd-Süd-Kooperation, so ein Vorschlag, den etwa die sambischen Gastgeber propagierten, der jedoch nicht umgesetzt wurde, solle ein „Non-Aligned Development Bureau“ eingerichtet werden. Dieses könne schließlich dazu dienen, die armen Länder in einer Art „trade union on a world scale“ zusammenzuschließen.41 Während die „Declaration on Non-Alignment and Economic Progress“ selbst keine Ankündigungen enthielt, was passiere, sollte die industrialisierte Welt nicht kooperieren, machte sich das „Economic Committee“ der Konferenz darüber durchaus Gedanken. In einem Papier hieß es, die Bündnisfreien sollten sich in verschiedenen „pressure groups“ zusammenschließen, die die Produktion von „primary products“ beherrschen. „[F]aced with a united front of copper producers, or coffee growers, or rubber suppliers“, so das Kalkül, „they [die Industriestaaten, J.K.] would be far more inclined to resist their own domestic pressures against competition from the developing world in manufactures.“ Dementsprechend gelte es weitere solche Gruppen zu gründen, wo diese noch 38 NAZ. GP. Box No. 61E, Address by Kaunda, S. 12. 39 Vgl. Brandt, Willy: Das Überleben sichern. Der Brandt-Report. Bericht der Nord-Süd-Kommission. Frankfurt a. M. 1981. Die Interdependenzkarte spielte auch US-Außenminister Henry Kissinger in einer Rede vor den Vereinten Nationen im September 1974. Kissinger, Henry: An age of interdependence. Common disaster or community. https://www.fordlibrarymuseum. gov/library/document/dosb/1842.pdf#page=8 (30.11.2018); zu den aufkommenden sozialwissenschaftlichen Interdependenztheorien seit den späten 1960er Jahren vgl. etwa Sargent, Daniel J.: A Superpower Transformed. The Remaking of American Foreign Relations in the 1970s. Oxford/ New York 2015. S. 167–170. Siehe zudem Martin Deuerlins Beitrag in diesem Band. 40 Third Conference, Declaration, S. 87. 41 NAZ. GP. Box No. 61E. Third Summit. Economic Development and Co-operation. S. 4f; vgl. auch NAZ. GP. Box No. 61E. Appendix A. Developing Countries and the Structure of International Trade.

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nicht existierten.42 Drei Jahre später, während des Gipfels der Bündnisfreien in Algiers, schafften es solche Überlegungen auch in die Abschlussdokumente. In der „Economic Declaration“ von 1973 hieß es: „[T]he Heads of State or Government recommend the establishment of effective solidarity organizations for the defence of the interests of raw material producing countries such as the Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) and the Inter-Governmental Committee of Copper-Exporting Countries (CIPEC)“. Außerdem betonten die Bündnisfreien das Recht, Rohstoffe zu nationalisieren, auch gegen den Willen der meist westlichen Konzerne, die die entsprechenden Konzessionen hielten, und existierende Verträge einfach aufzukündigen.43 Gerade der Gastgeber, Algeriens Präsident Houari Boumedienne klagte in seiner Eröffnungsrede die „Plünderung der nationalen Ressourcen der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder“ an und geißelte den sich intensivierenden „Neokolonialismus“.44 Bereits einige Tage zuvor hatte der algerische Außenminister, Abdelaziz Bouteflika, in einem Interview „un changement complet et radical dans la structure des rapports entre pays avancés et pays du Tiers monde“ gefordert.45 Es war Algeriens Ziel, die Konferenz auf die eigene konfrontative Interpretation der internationalen Lage als „Frontstellung der Entwicklungsländer gegenüber den Industriestaaten“ einzuschwören.46 So propagierten sie ein konfrontatives Vorgehen, das gerade in der Ölindustrie in den Vorjahren weitgehend und mit Erfolg durchgeführt worden war.47 Anknüpfend an Branislav Gosovics Beobachtungen zur Gruppe der 77 ließe sich angesichts der genannten unterschiedlichen Strategien von verschiedenen Flügeln der Bündnisfreien sprechen. In Lusaka gaben die „Moderaten“ – wie Indien oder Sambia – den Ton an, die auf Kooperation mit den Industriestaaten setzten, um so eine Reform des Weltwirtschaftssystems zu erreichen. Sie schienen im Rahmen eines „Nord-Süd-Dialogs“ zu agieren. In Algiers hingegen dominierten die „Radikalen“ – wie Burma, Indonesien oder vorneweg Algerien –, 42 NAZ. GP. Box No. 61E, Third Summit. Economic Development and Co-operation, S. 5. 43 Fourth Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries. Economic Declaration, Algiers, 5.-9.9.1973. In: Jankowitsch/Sauvant, Third World, Vol. 1, S. 214–237, hier S. 222. 44 UNA. Inaugural Address by Boumediene. 45 „‚Sur trois fronts‘. Une interview d’Abdelaziz Bouteflika, recueillie par Jean-Pierre Séréni“. In: Jeune Afrique. 1.9.1973. S. 11–14. 46 PA AA. B 46/100730. Fernschreiben Botschaft Paris an AA, 14.9.1973. Vgl. auch PA AA. B 46/100730. Wever an Staatssekretär, betr.: Die 4. Konferenz der Nichtgebundenen Staaten in Algiers – der Versuch einer Bewertung, September 1973. 47 Zu den Nationalisierungen in der Ölwirtschaft siehe etwa Dietrich, Oil Revolution; Venn, Fiona: Oil Crises. Edinburgh/London 2002. S. 38f.; Yergin, Daniel: Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht. Frankfurt a. M. 1991. S. 700–707.

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die sich im „class-struggle against the rich nations“ wähnten und einem revolutionären Umsturz der existierenden Wirtschaftsordnung das Wort redeten. Ihre Semantik war die eines „Nord-Süd-Konflikts“. Wichtig ist aber zu beachten, dass verschiedene Akteure bei unterschiedlichen Anlässen und mit Blick auf unterschiedliche Adressaten in der Lage waren, Strategie und Semantik anzupassen. Vor allem in bilateralen Gesprächen mit Vertretern der Industriestaaten kehrten auch Vertreter der „radikalen“ Staaten gerne ihre „moderate“ Seite heraus.48 Und eigentlich als gemäßigt geltende Delegierte adaptierten 1974, als in den Vereinten Nationen nach der Ölkrise ein zunehmend konfrontatives Klima zwischen Nord und Süd herrschte, vermehrt die „radikale“ Semantik.49

Schlussbetrachtung Angesichts der enttäuschenden Ergebnisse der ersten beiden UNCTAD-Konferenzen und der UN-Entwicklungsdekade hatten die Bündnisfreien in Lusaka Themen der ‚Entwicklung‘ und Weltwirtschaftsordnung an die Spitze ihrer Agenda gesetzt. Diese Neuausrichtung blieb auch den journalistischen Beobachtern und den Analysten in den Außenministerien westlicher Industriestaaten nicht verborgen. Die Refokussierung fand dementsprechend auch Eingang in die Rezeption des Gipfels und wirkte also auch auf der Ebene, die, wie schon Godfrey H. Jansen für Bandung festgestellt hatte, eine weit größere Bedeutung hatte als die eigentliche Konferenz.50 Colin Legum beobachtete etwa im Observer: „The other major new aim of the non-aligned nations is to foster mutual economic co-operation among developing countries and to transform the world 48 Gosovic, UNCTAD, S. 50. In den Akten westlicher Außenministerien finden sich wiederholt Klagen über die Inkonsistenz zwischen der bilateralen und multilateralen Rhetorik vieler ‚Entwicklungsländer‘. Siehe etwa Memorandum From the Secretary of State for Economic Affairs (Cooper) to Secretary of State Vance, 11.6.1977. In: Foreign Relations of the United States (FRUS). 1977–1980. Vol. 3. Foreign Economic Policy. Hrsg. von Kathleen B. Rasmussen. Dok. 266; oder PA AA. B 30/127981. Verhalten Sambias auf der 31. Generalversammlung, Sachstand, 11.11.1976. 49 Ein Beispiel ist die Rede des sambischen Außenministers Vernon Mwaanga am 24.9.1974 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der er u. a. erklärte, dass sich die ökonomischen Beziehungen zwischen Nord und Süd seit dem „sad chapter of slavery“ kaum verändert hätten, die Instrumente der Ausbeutung der armen Staaten durch die reichen lediglich an Raffinesse gewonnen hätten. NAZ. Ministry of Power, Transport and Works (MCT) 1/6/31. Statement by Hon. Vernon J. Mwaanga, M.P., Minister of Foreign Affairs to the 29th Regular Session of the United Nations General Assembly. New York, 24.9.1974. 50 Jansen, Godfrey H.: Nonalignment and the Afro-Asian States. New York/Washington 1966. S. 182.

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economic system by achieving a more equitable partnership between themselves and the leading trading nations.“51 Dilip Mukherjee schrieb in der Times of India von einem „new economic underpinning“ der Blockfreien.52 Und der deutsche Botschafter in Lusaka, Karl-Heinz Wever, erkannte, dass ein „wirtschaftliches ‚new deal‘“ für die „Dritte Welt“ nun Priorität habe.53 In seinem abschließenden Bericht zur Konferenz einige Tage später führte er aus: [D]ie Konferenzmehrheit [hat sich] davon überzeugen lassen, daß den Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder und der Suche nach Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit untereinander eine alle anderen Fragen überragende Bedeutung zukommt. Damit hat sich die sogenannte Dritte Welt offensichtlich in der Erkenntnis, daß der Ostwest-Konflikt nicht mehr eine brauchbare Kampfbasis darstellt, unerwartet rasch auf die neue Konzeption geeinigt, daß die Auseinandersetzung mit den Großmächten an der Frontlinie des Nordsüd-Gegensatzes geführt werden muß. Das neu gefundene Wirtschaftsbewußtsein der Unterentwickelten, denen zudem das Trauma der kolonialen Ausbeutung gemeinsam ist, wird die Industrienationen unter Einschluß der Ostblockstaaten in Zukunft weitaus mehr beschäftigen als bisher.54

Mit dieser Prognose sollte Wever für das gerade beginnende Jahrzehnt ins Schwarze getroffen haben. Gleichzeitig sollte die weltwirtschaftliche Auseinandersetzung zwischen „Nord“ und „Süd“, ‚Dritter Welt‘ und Industriestaaten in den kommenden Jahren genau die thematische Kohäsion der Bündnisfreien herstellen, die zahlreiche Kommentatoren vor Beginn des Lusaka-Gipfels hatten schwinden sehen. Der Ruf nach einer grundlegenden Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung, lieferte den Impuls „that would revitalize and nourish the movement“.55 Anstatt in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, deutete sich in Lusaka der Beginn einer der aktivsten und bedeutendsten Phasen der Bewegung an – ein zweiter „heyday“.

51 Legum, Colin: „Kaunda faces his big test as a new world leader“. In: The Observer, 13.9.1970. S. 5. 52 Mukherjee, Dilip: „New economic strategy for neutrals hammered out. Steps to expand trade, production outlined“. In: Times of India, 11.9.1970. S. 1. 53 PA AA, LUSA, 11617: Fernschreiben Botschaft Lusaka an AA, 15.9.1970. 54 PA AA. LUSA. 11617. Fernschreiben Botschaft Lusaka an AA, betr.: Gipfelkonferenz der blockfreien Staaten in Lusaka, 24.9.1970. 55 Antic, Third Non-Aligned Summit in Lusaka.

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UAC between developmentalists and antirevolutionaries: a multinational enterprise makes sense of post-independence Africa In most African countries, the period from 1960 until the early 1980s was the era during which their governments had the largest scope to determine economic policy. Before this period, most countries were still under colonial rule, while from the beginning of the 1980s African governments adopted structural adjustment programmes (SAPs) that required the implementation of certain policies in return for loans provided by the World Bank and the IMF, thus reducing their economic policy options again.1 During the 1960s and 1970s, the aim of most independent governments was to decolonise their economy by reducing the power of foreign businesses associated with colonial exploitation and increasing the number of Africans in management positions (and frequently also as businesses owners). This is not to say that there was no outside influence at all on economic policy during these decades, as governments often tried to implement the policy recommendations formulated in the academic field of development economics. Furthermore, as the Cold War was still on-going, governments could choose to ally themselves to the USA or the USSR with the expectation of gaining economic or political support.2 For businesses that had developed activities in Africa during colonial rule, the decades of decolonisation were challenging. It has been argued that independence for Africa largely meant corporate withdrawal.3 However, the case study of the multinational enterprise the United Africa Company (UAC) that is presented in this chapter illustrates that what happened was more complex. Al1 Gerhard Anders, ‘Good governance as technology: towards an ethnography of the Bretton Woods institutions’. In: David Mosse and David Lewis, eds, The Aid Effect. Giving and Governing in International Development (London: Pluto Press, 2005), 37–60. This is of course a generalisation which, for instance, does not apply to those countries who were former Portuguese colonies and only gained independence in the mid-1970s. There are other exceptions as well, but for the present chapter, which mainly considers developments relating to West and Central Africa, the statement largely applies. 2 Paul Nugent, Africa since Independence. A Comparative History (Basingstoke: Palgrave, 2004), 204–38; Jonathan Reynolds, Sovereignty and Struggle: Africa and Africans in the Era of the Cold War, 1945–1994 (Oxford: Oxford University Press, 2015), 61–2. 3 Bill Freund, ‘The social context of African economic growth 1960–2008’ in: Vishnu Padayachee, ed., The Political Economy of Africa (London: Routledge, 2010), 39–59, there 41. https://doi.org/10.1515/9783110682625-010

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though it is correct that multinational companies such as UAC withdrew from certain fields of business (particularly produce trading), they expanded and invested in other activities, including industrial production.4 It was nevertheless not always clear how these corporations could adapt from operating in colonial economies to those of independent African states. Consequently during the decolonization process differing and wide-ranging questions were asked in the corporate head offices: Would it be possible to conduct business as usual, albeit with different official partners and changing stakeholders? Would independence provide new opportunities? Would the adoption of (African) socialism that was announced by some African governments force a retreat? How would the building up of Cold War strategic alliances affect ways of doing business?5 This chapter looks at one multinational enterprise and explores its directors’ changing perceptions of their company and its role in the global economy. The chapter’s focus is thus on the field of perception and understanding – on the changing thinking in the Board Room – rather than on changes in the actual running of the business, investment decisions, or employment policies (although these aspects will be discussed where they provide insights into the thinking). The chronology of how this thinking changed, and thus the time period covered by the chapter, does not neatly fit between 1960 and the early 1980s: the Board Room conversations about the changing role of African states and the role that UAC (and foreign business more generally) could have in that context started in he early 1950s, and came to an abrupt stop around 1970. While the consequences of decolonisation continued to be debated throughout the entire period until the early 1980s, after 1970 the discussions tended to be limited to practical planning to comply with official decrees aimed at reducing the number of foreign managers or increasing the size of local African ownership of large businesses, and to worried debates about the poor reputation of the company as an exploitative organisation associated with the former colonisers or about the slipping standards of management and accounting in the company’s African subsidiaries.

4 David K. Fieldhouse, Merchant Capital and Economic Decolonization: The United Africa Company 1929–1987 (Oxford: Clarendon Press, 1994); Janet MacGaffey, Entrepreneurs and Parasites. The Struggle for Indigenous Capitalism in Zaire (Cambridge: Cambridge University Press, 1987), 57–60; Grietjie Verhoef, The History of Business in Africa. Complex Discontinuity to Emerging Markets (Cham: Springer, 2017), 90. 5 Sarah Stockwell, The Business of Decolonization: British Business Strategies in the Gold Coast (Oxford: Clarendon Press, 2000), 69–85; Elizabeth Schmidt, Foreign Intervention in Africa from the Cold War to the War on Terror (Cambridge: Cambridge University Press, 2013), 18–33.

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Already in the early 1950s, during the first experiences with self-rule in what were then still colonies, UAC directors rejected an explicitly colonial mindset. For example in 1954 they refused to engage with an initiative to establish an organisation charged with recreating faith in ‘the British purpose overseas’, a plan which they considered ‘reactionary’.6 UAC directors understood that, rather than to continue to focus on colonised space, they had to develop a more complex understanding of the environment in which they operated, including what role African countries would play in a changing global order, and how this would relate to East-West relations on the one hand and North-South relations on the other. It should be noted that although UAC directors discussed how relations between metropoles and colonies gave way to developmentalist alignments, at no time did they refer to the concept of North-South relations. They occasionally talked about ‘developing countries’, but they usually either referred to ‘Africa’ when generalising, or specified the actual countries they had operations in. As most of UAC’s business interests were in Nigeria and Ghana, developments in these two countries were discussed in Board Meetings more than those in other countries, and thus they have become prominent in the chapter as well (and particularly Ghana as it was the first country to become independent). Ghana and Nigeria experienced British colonial rule with broadly similar economic policies, both were influenced by the same school of development economics during the first decades of decolonisation when both had economies that performed below expectations, and both experienced military coups d’état from the mid-1960s onwards. Yet the two countries differed in ideological orientation, with Nigeria building a capitalist economic structure from the start, and Ghana embarking on the project to transform the country into a socialist state.7 The importance of Ghana and Nigeria to UAC’s operations thus brought UAC directors’ views on East-West relations, in the form of their fear of a possible spread of socialism in formerly colonised countries, to the centre of their debates. UAC directors’ attempts to develop a framework for understanding post-independence Africa occurred alongside practical efforts to be in regular contact with the individuals who constituted African governments, to try and please them, and to be aware of where their policies might be going. UAC directors cultivated relationships with African politicians from across the political spectrum

6 Unilever Archive and Records Management, Port Sunlight (UARM), UAC/1/1/1/2/12 UAC Ltd Minute Book 9, 8 (19 January 1954). 7 Toyin Falola, Economic Reforms and Modernization in Nigeria, 1945–1965 (Kent: Kent State University Press, 2004), 168–76; Jonathan H. Frimpong-Ansah, The Vampire State in Africa: The Political Economy of Decline in Ghana (London: James Currey, 1991), 11–16, 73–91.

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to gain early information on likely policy decisions and they were also keen to be seen to contribute to projects aimed at industrial development, while at the same time, they were sensitive to any policies or statements they perceived as anti-Western or anti-business. The remaining sections of this chapter reconstruct UAC directors’ efforts to make sense of independent Africa mainly from the minutes of the UAC Board Meetings, which were held fortnightly at the head office in London. A first section will introduce UAC and its business model in the context of the literature on business and decolonisation. This is followed by three sections exploring the debates among UAC Directors: on development; on working together with African governments; and on the threat of socialism. The penultimate section considers the more inward-looking conversations of the 1970s. Evaluating the UAC directors’ debates and the context in which they took place, the concluding section suggests that to account for the UAC directors’ understanding of postindependence Africa, in the end their personal relationships with individual African leaders proved to have been more important than their reflections on the role of government and business for Africa’s social and political development.

UAC and decolonisation in context During the 1960s and 1970s the multinational UAC was active in 17 African countries. It was itself a subsidiary of the larger multinational corporation Unilever. UAC had been created in 1929 as a trading company to ensure a cheap and reliable supply of raw materials for its parent’s factories. Its strategy had been to compete European and African rivals out of business, capture as large a share of the market as possible, and reduce the prices it paid to its African suppliers. African farmers, chiefs and consumers, as well as (surprisingly perhaps) colonial administrations, objected to UAC’s resulting market dominance.8 As a multinational firmly embedded in the colonial economy, UAC found the period of decolonisation challenging, even though it survived the ending of colonial rule as a profitable and expanding business. Strategic business responses of colonial enterprises to decolonisation have been discussed in the literature, notably in Fieldhouse’s classic study of UAC.9 8 Gareth Austin, ‘Capitalists and Chiefs in the Cocoa Hold-Ups in South Asante, 1927–1938’, International Journal of African Historical Studies 21:1 (1988), 78–84; UAC/1/1/1/2/8 UAC Ltd Minute Book 5, 230 (16 March 1948) and 259 (15 June 1948). 9 Fieldhouse, Merchant Capital.

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An influential study was Stockwell’s book on British business in Ghana, which emphasised the use of public relations and connections with politicians.10 Decker has drawn attention to policies on promoting Africans to management (Africanisation) in the case of Barclays Bank, while Fieldhouse pointed to the changes and challenges related to the redeployment of European managers within UAC.11 A prominent theme in the literature has been the threat that expropriation and indigenisation posed to foreign-owned businesses.12 While ideologically significant, many such schemes, once implemented, did not achieve their stated goals.13 For businesses such as UAC, indigenisation changed how the business was managed, but considerable profits could still be generated, including profits from service fees and transfer pricing. What did become problematic was the question of the repatriation of profits, which most independent African governments initially guaranteed (hence this did not play a significant role in initial company responses to decolonisation), but were forced to restrict once foreign exchange scarcity emerged. This became an issue for international business during the 1970s. Another important discussion concerned the role of multinational enterprise in relation to questions of development. Ways in which multinationals could, in theory, contribute to the economic development of former colonies included: capital investment in countries where the state or local private sector could do so only to a limited degree; the transfer of technology; the training of workers; and the generation of backward and forward linkages.14 Particularly in the older literature published during the Cold War, the answer to the question 10 Stockwell, The Business of Decolonization, 135–57. 11 Stephanie Decker, ‘Decolonising Barclays Bank? Corporate Africanisation in Nigeria, 1945– 69’, Journal of Imperial and Commonwealth History 33:3 (2005): 419–40; Fieldhouse, Merchant Capital. 12 Stephen Kobrin, ‘Expropriation as an attempt to control foreign firms in LCDs: Trends from 1960 to 1979’, International Studies Quarterly, 28:3 (1984), 329–48; Verhoef, The History of Business in Africa, 92–110; Tom Forrest, Politics and Economic Development in Nigeria (Boulder: Westview Press, 1993), 47–8; Chibuike U. Uche, ’British government, British businesses, and the Indigenization exercise in post-independence Nigeria’, Business History Review, 86:4 (2012), 745–71. 13 Michael Minor, ‘The demise of expropriation as an instrument of LDC policy, 1980–1992’, Journal of International Business Studies, 25:1 (1994), 177–88; Thomas Biersteker, Multinationals, the State, and Control of the Nigerian Economy (Princeton: Princeton University Press, 1987), 112–5. 14 Geoffrey Jones, Multinationals and Global Capitalism from the Nineteenth to the TwentyFirst Century (Oxford: Oxford University Press, 2005), 255–82; Andrés Rodríguez-Clare, ‘Multinationals, linkages, and economic development’, American Economic Review, 86:4 (1996), 852– 73; Lee Tavis, ‘Multinational corporate responsibility for third world development’, Review of Social Economy, 40:3 (1982), 427–37.

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of whether multinational enterprises actually did make a positive contribution to development, for instance through the stimulation of local capitalist business, tended to reflect the author’s position in the big political divide of the Cold War. Linked to this, disciplinary bias also played a role, with research in political economy likely to be more critical of multinationals, whereas research in the ‘new development economics’ generally assessed investments by multinationals as fundamentally positive.15 Little has been written about multinational corporations as actors during the Cold War, but some case studies exist on the United Fruit Company in Latin America, and on Kaiser Aluminium & Chemicals Company in Ghana and Jamaica.16 This limited interest is surprising, considering how much was at stake for multinationals, both in terms of ideological acceptance (or rejection) of capitalism, and in terms of (continued) access to markets.17 In fact, in 1965 independent Ghana’s first president, Kwame Nkrumah, published a politically important early text which brought these issues together. In Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism he accused multinational corporations, and UAC and its parent Unilever in particular, of having frustrated African development: Attempts are subtly made to prevent developing countries from taking any decisive steps towards industrialisation, since the exploitation of the indigenous expanding market is now the prime objective. If the attempts to prevent industrialisation fail, then at all costs [Unilever] must secure participation in a development it cannot prevent. And by its very nature this participation thwarts any further progress since it ensures a regular flow of payments into the coffers of monopoly capital in the form of royalties, patents, licensing agreements, technical assistance, equipment and other “services”.18

15 Melville J. Ulmer, ‘Multinational corporations and Third World capitalism’, Journal of Economic Issues, 14:2 (1980), 453–71; Steven Langdon, ‘Multinational corporations, taste transfer and under-development: a case study from Kenya’, Review of African Political Economy, 2 (1975), 12–35; Peter Evans, Dependent Development: The Alliance of Multinational, State and Local Capital in Brazil (Princeton: Princeton University Press, 1979); Ben Fine, ‘From the political economy of development to development economics. Implications for Africa’ in: Vishnu Padayachee, ed., The Political Economy of Africa (Abingdon: Routledge, 2010), 60–82. 16 Marcelo Bucheli, ‘United Fruit Company in Latin America’ in: Steve Striffler and Mark Moberg, eds, Banana Wars: Power, Production, and History in the Americas (Durham: Duke University Press, 2003), 81–100; Stephanie Decker, ‘Corporate political activity in less developed countries: the Volta River Project in Ghana, 1958–66’, Business History, 53:7 (2011), 993– 1017; Madeleine Lorch Tramm, ‘Multinationals in Third World development: the case of Jamaica’s bauxite industry’, Caribbean Quarterly 23:4 (1977). 1–16. 17 Jeffrey James Byrne, ‘Africa’s Cold War’ in: Robert J. McMahon, ed., The Cold War in the Third World (Oxford: Oxford University Press, 2013), 101–23, there 107–11. 18 Kwame Nkrumah, Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism (London: Heinemann, 1965), 178.

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Like most of his contemporaries, Nkrumah argued that a main expectation of independent African governments was that they would bring development, and that industrialisation was a necessary condition for development. That after almost ten years of independence its achievements had not (yet) matched the high expectations of populations as well as economists and politicians of economic development in independent African states, Nkrumah explained in terms of the continued exploitation of Africa by Western capital. As the title of his book indicated, Lenin’s Imperialism: The Highest Stage of Capitalism (1917) had influenced Nkrumah’s understanding of the international political economy and Africa’s role within it. Nkrumah was not alone: Lenin’s text is said to have shaped the perspective of ‘several generations of African elites’, for whom the description of imperialism as ‘a Western-controlled global system that rapaciously exploited the developing world for raw materials and monopolistic markets had achieved the status of conventional wisdom’.19 Not all African leaders concluded that socialism was the best solution to the problems caused by colonial underdevelopment, but Nkrumah was among those who claimed that ‘[s] ocialism is the only pattern that can within the shortest possible time bring the good life to the people’ (as he did in a speech on the occasion of Ghana’s independence celebrations in 1957).20 Yet, despite all the rhetoric, Nkrumah’s Ghana never became a straightforward ally of the Soviet Union and continued to collaborate with the United States and others. Nkrumah’s analysis thus illustrates well the sort of complexities that UAC directors were trying to understand.

Development In October 1953, a report by the economist W. Arthur Lewis was published, entitled Report on Industrialisation and the Gold Coast, one of a series of studies by Lewis from the 1950s that have since become regarded as key texts for the thenemerging field of development economics.21 The report had been commissioned by the government of the Gold Coast Colony, which was at that time already led by Nkrumah, in preparation for formal independence in 1957. A week after the report was published, UAC director Frederick Pedler had already read the text and he discussed its contents with his fellow directors. Pedler was positive about the report, describing it as ‘reasoned and objective’.22 The report reflected 19 Byrne, ‘Africa’s Cold War’, 108. 20 Reynolds, Sovereignty and Struggle, 30. 21 Robert L. Tignor, W. Arthur Lewis and the Birth of Development Economics (Princeton: Princeton University Press, 2006), 110.

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Lewis’s premise that the development of former colonies would require the introduction of technical expertise from outside, as well as a significant increase in foreign investment, both of which were to a large extent to be provided by foreign capitalist enterprise.23 This general premise, but also the specific recommendations, such as the removal of import duty from raw materials and the proposed development of soap manufacture (a strength of UAC’s parent Unilever), were clearly in the interest of UAC.24 That the radical nationalist and possibly socialist Nkrumah and his allies retained the pro-capitalist Lewis as economic advisor was a sign for Pedler that moderate economic policies might be expected from the independent Ghanaian government despite its strong rhetoric against foreign business. In the preceding months and years there had been frequent threats of strikes and consumer boycotts associated with radical nationalist rhetoric from (amongst others) Nkrumah’s Convention People’s Party (CPP). Nkrumah’s downplaying of such threats in private meetings with Pedler and other UAC directors had done little to reassure UAC’s senior management, which was well aware that the company name was widely associated with colonialism and with exploitation through market dominance.25 Lewis’s report chimed well with the company directors’ earlier conclusion that emphasising UAC’s contribution to development would be the way to make the company relevant – and perhaps even integral to economic development – in post-independent African states. They had made this a theme in company advertising in West African newspapers and magazines from the late 1940s onwards. In addition to the advertisements for products imported or produced by UAC, including soaps, margarine, bicycles, cars and building materials, a range of ‘goodwill’ advertisements appeared, which emphasised the ploughing back of profits into the business in Africa, the new factories being built, and the training opportunities for Africans, as indicators of the contribution UAC was making to the development of independent African nations. In 1948, UAC had also started its own journal, the Statistical and Economic Review, aimed at politicians, journalists, academics, and its own employees. In his ‘Foreword’ to the first issue, the Chairman of the Board of UAC, Lord Trenchard (who had joined the UAC following a successful career in the British Army, serving in South Africa and Nigeria, and later as Chief of the Air Staff), wrote that the aim of the publication was to give ‘necessary and reliable information as to the part 22 23 24 25

UAC/1/1/1/2/11 UAC Ltd Minute Book 8, 99 (3 November 1953). Tignor, W. Arthur Lewis, 195. UAC/1/1/1/2/11 UAC Ltd Minute Book 8, 99 (3 November 1953). UAC/1/1/1/2/11 UAC Ltd Minute Book 8, 78 (22 September 1953).

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played by our Company in the development of trade and industry in Africa.’26 Between 1948 and June 1965, UAC published two issues per year. The journal contained regular statistics indicating (among other things) capital expenditure, the number of African managers employed by the company, and indices for wholesale prices for imports and producers’ terms of trade. Most of the space was, however, devoted to extensive, well-researched articles, written by company employees as well as by established academics, on subjects including ‘Transport economics’ (vol. 14, 1954), ‘The finance of development in tropical Africa’ (vol. 20, 1957), ‘Industrialisation in West Africa’ (vol. 23, 1959), ‘Balance of payment problems in developing Africa’ (vol. 29, 1964) and ‘Population as a factor in African development’ (vol. 30, 1965). Development was not merely a public relations concern: it was also an important part of internal conversations at Board level. UAC directors’ interest in development had little to do with corporate responsibility and all the more with securing the survival of the company itself, which depended not only on being allowed to operate in former colonies under fair conditions and on a good reputation with potential buyers of UAC’s goods and services, but crucially also on the economic success and political stability of the new states. That UAC’s business success was tied up with the successful economic development of the countries they operated in can also be seen from what happened once all the major economies in West and Central Africa went into decline: the company had to be wound up. When, in the late 1960s, economic growth in what were for UAC key African economies, such as Ghana and Nigeria, stagnated, the company attempted to diversify away from its focus on Africa, acquiring or setting up a diverse range of businesses, including a diesel engine distributorship in Australia, a string of vehicle dealerships and an office equipment business in the UK, and a bicycle manufacturer in France. These attempts were not very successful, as it took the company outside its area of competence and perhaps also because soon thereafter, during the 1970s, the extraordinary growth of the Nigerian economy due to its oil boom allowed UAC to generate large profits which made diversification appear less urgent.27 However, when the Nigerian 26 Viscount Trenchard, ‘Foreword’, The United Africa Company Limited Statistical and Economic Review, 1:1 (1948). 27 Fieldhouse, Merchant Capital, 730–62. Fieldhouse, incidentally, also identified another, earlier motive for the attempted diversification (Merchant Capital, 685–6): the need to generate employment outside Africa for those European managers who have to de replaced by Africans following decolonisation (partly as requirement of nationalist governments, partly as company response to the process). However, senior management always considered this as secondary to the core competence of the business: knowing what to buy in for highly specialised African markets.

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economy collapsed at the beginning of the 1980s, that also meant the beginning of the end for the multinational UAC. The company declined very rapidly, made many redundancies, sold or closed down loss-making divisions, and was wound up in 1987, when the remaining business activities were integrated into the parent company, Unilever.28 The importance of development for UAC senior management is also clear from the titles of the books in the UAC library. Over the decades, UAC collected an extensive academic library on (mainly West) Africa, covering politics, history, economics, geography, anthropology, and industrialisation, including specific texts on questions of development, partly in the form of offprints, photocopies and typed-out copies from academic journals. During Board Meetings, directors not only reported about meetings with politicians, government ministers and civil servants from various African countries, but also about conversations with academics regarding questions of industrialisation and economic development. Director Pedler developed a close association with the University of London’s School of Oriental and African Studies (SOAS), becoming its Honorary Treasurer, and published a number of books and academic articles mainly on African economic history, some of which (for instance ‘British planning and private enterprise in colonial Africa’) dealt explicitly with economic development.29 From the 1950s most development economists have regarded industrialisation as a key process through which to achieve development.30 By the end of colonial rule, although in some colonies mining, transport and banking infrastructures had been established, in most colonies there was very little industry, and agriculture – a main export earner for many former colonies at the time of independence – remained largely unmechanised. As observed by Walter Rodney: ‘the vast majority of Africans went into colonialism with a hoe and came

28 In Nigeria, the United Africa Company of Nigeria still exists as a locally incorporated business without any financial or management links with Unilever; it runs its food activities through a joint-venture with the South African multinational Tiger Brands (UACN Website: www.uacnplc.com). 29 Frederick Pedler, ‘British planning and private enterprise in colonial Africa’ in: Peter Duignan and L. H. Gann, eds, Colonialism in Africa, 1870–1960. Vol. 4 The Economics of Colonialism (Cambridge: Cambridge University Press, 1975), 95–126. 30 Fine, ‘development economics’, 60–82.

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out with a hoe.’31 It was only during the second half of the 1940s that industrialisation, in the form of the development of a manufacturing sector (initially mainly aimed at import substitution), became a stated goal of colonial policy.32 The establishment in the late 1940s of Nigerian Brewery Ltd by UAC (with investment and technical partners), was the company’s first large industrial project in West Africa and fits this pattern. However, UAC’s engagement with local industry was much older, dating back to 1933 when it took over the SAVCO soap works in Belgian Congo.33 Its interest in the development of local industry was even older. In 1931, only two years after its formation, UAC developed the first plans to establish factories in Africa to manufacture cotton cloth and beer for the local market.34 Further plans included the production of bags, as well as creams and pomades. However, such ambitions – repeatedly brought forward – clashed with the interest of colonial administrations to protect their revenue stream from import duties. UAC was prevented from proceeding with these plans as ‘the Government did not at the present time regard the establishment of secondary industries with favour.’35 UAC nevertheless established small-scale shirt and singlet factories in Lagos (1938) and Accra (1939), employing local workers and tailors with their own treadle sewing machines. It went ahead with these ventures despite government concerns, because other European and African enterprises were setting up similar workshops and because it foresaw difficulties in importing clothing in view of the emerging war economy. These rather artisanal industrial ventures were a success for UAC and in August 1941, the Lagos factory received an order from the colonial army for 350,000 garments. In November 1943 the Board of Directors, in order to significantly increase output, agreed to establish a third factory, this time equipped with electric machines owned by the company, involving the considerable investment of £10,000.36 Around the same time, colonial governments changed their minds about industrialisation with the rise of the colonial development agenda.37 Although concerns remained about loss of government revenue due to an expected de31 Walter Rodney, How Europe Underdeveloped Africa (London: Bogle-L’Ouverture, 1973), 207. 32 Frederick Cooper, ‘Writing the history of development’, Journal of Modern European History 8:1 (2010), 5–23. 33 UAC/2/36 Huileries du Congo Belge. 34 Simon Heap, A Star is born in Nigeria, 1946–60 (Paper presented at ASAUK Biennial Conference 2008); UAC/1/1/1/2/1 UAC Ltd Executive Minutes Book, 177 (14 April 1931). 35 UAC/1/1/1/2/6 UAC Ltd Minute Book 3, 663 (9 June 1942). 36 Fieldhouse, Merchant Capital, 300–2. 37 Cooper, ‘Writing the history of development’, 5–23.

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cline in import duties on finished goods, industrialisation became an important feature of the development plans being drawn up for the colonies during the 1940s and 1950s in preparation for independence. The focus on development was welcomed by the population, though Africans who had capital and were willing to invest it in industrial projects such as the manufacture of orange squash, the running of palm oil mills and the grinding of maize, complained that they did not receive any support from the colonial government. In the words of the Nigerian barrister Ibeziaku, the colonial development plan ‘was all very well’ but he would have preferred ‘to feel that Africans were taking part in the experiment.’38 In this context, meanwhile, UAC directors drew up their own industrialisation strategy. In October 1943, they agreed on the following principles: any industries established should be predominantly dependent on local raw materials; technical processes should not be too complicated, in order for European supervision to be kept to a minimum; and power requirements should not be too great, considering the limited electricity production capacity in the colonies.39 UAC’s criteria for successful industrialisation were very similar to those proposed by development economists during the 1950s, which is another reason why Lewis’ Report on Industrialisation and the Gold Coast received such a favourable response from the UAC directors.

Working together with independent governments The principles laid down in Lewis’ Report soon became the orthodox position in development economics, with a prominent role for foreign private investment even in independent African states that claimed to be committed to socialism.40 Thus African governments were actively seeking out foreign and multinational companies, such as UAC, that had access to money to invest as well as a track record of business activity in Africa. UAC, which had been interested in setting up industrial ventures in Africa since its foundation in 1929, was open to opportunities and took part in a string of investments in industrial projects across Africa, usually putting up a large (but less than 50 %) share of the investment alongside government participation in the venture.

38 Nigerian National Archives, Enugu Branch (NAE) RIVPROF 2/1/87 Minute Chief Commissioner to Secretary, Eastern Provinces, Enugu, 4 March 1947. 39 Fieldhouse, Merchant Capital, 304. 40 Ralph Austen, African Economic History. Internal Development and External Dependency (London: James Currey, 1987), 240–5.

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UAC directors aimed to develop close links with politicians and civil servants who were shaping the practical implementation of policies on economic development, which included government ministers in Ghana and members of the Western, Eastern, and Northern Regional Development Boards in Nigeria. UAC directors regularly travelled to visit their contacts, and, in turn, a stream of ministers and high-ranking civil servants from African countries visited the UAC head office in London, where they were received and entertained. UAC directors got on better with some than with others, which appears to have been a matter of style and personality, more than actual issues of substance regarding investment in industrial development projects. UAC directors got on well with Ghanaian politicians (particularly Nkrumah) and with politicians in Western Nigeria, while they were not enamoured with their Eastern Nigerian counterparts, whom they in internal conversations described as being ‘corrupt’ and ‘hostile’.41 Directors reported in Board meetings on their encounters with African politicians and civil servants, so that the Board minutes provide insights both into what was asked of UAC and the company’s practical responses thereto, and into the evolving perspective of UAC directors on these matters. The UAC directors considered that they had very good relations with the Western Regional Development Board. However, it appears that in some of the interactions between the Company and the Board discussing the development of local industries, the UAC directors were close to being bullied. In 1954, for instance, the Development Board had decided they wanted to transform an earlier failed attempt at industrial development, a cannery in Ibadan, into a brewery producing dark beer. They had also decided that they were going to do so in partnership with UAC, whereby UAC would contribute the majority of the estimated cost of £800,000 for a shareholding of 46 % in the resulting business. When UAC indicated that they not only already had a brewery in Lagos but would also be building a second brewery in Aba (in Eastern Nigeria), and that the market would not be able to absorb the output of the proposed Ibadan brewery as well, they were told that the Development Board would impose a duty on Lagos beer and, if necessary, a ban in order to support the Ibadan project, and also that UAC should consider its reputation, as ‘any reluctance to assist this project would be actively resented.’42 The way the Chair of the Western Regional Development Board put pressure on UAC was, perhaps, an extreme example, but most of UAC’s counterparts were operating from a very similar script: they would accuse UAC of not invest41 UAC/1/1/1/2/13 UAC Ltd Minute Book 10, 105 (22 November 1955); UAC/1/1/1/2/14 UAC Ltd Minute Book 11, 11 (31 January 1956). 42 UAC/1/1/1/2/12 UAC Ltd Minute Book 9, 38 (30 March 1954).

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ing enough in their region and insist UAC ‘do more’, usually offering concrete suggestions of projects that UAC could take part in. For instance, Premier Awolowo of Nigeria’s Western Region asked for investment in the local production of cement (expensive to import and necessary for development projects) and in a cycle-assembly plant, while the Ghanaian government requested the building of a plymill (to save on imports, as local wood would be used).43 At a later stage, African governments would also come up with other forms of pressure, such as making participation in a specific development project a precondition to being allowed to take blocked dividends out of the country (this is how UAC ended up with a 45 % shareholding in an oil palm plantation in Ghana).44 When UAC (or its parent Unilever) took the initiative for an investment in a particular industry, African governments frequently made it a condition for approval that they be allowed to take part in the share capital; as was the case with the the soap factory in Tema (Ghana) and the Guinness brewery in Lagos.45 Analysing UAC’s investments in industry during the first decades of decolonisation, Fieldhouse has concluded that the company did not have a deliberate policy of switching from trade to industry, since virtually all enterprises had been set up either to please African governments or as import substitution when importation of a particular product became too expensive or otherwise unrealistic. In Francophone Africa, in particular, few industrial ventures were established and UAC remained largely a trading enterprise. Even though UAC directors had similarly built up relationships with governments and politicians in former French colonies (one of the UAC directors had met the Togolese President Grunitzky just 36 hours before he was overthrown by the military), these governments were much less keen on inviting UAC to invest in industry. Interestingly, the largest venture in Ivory Coast, the Uniwax textile company, was only developed once it became clear that the Ivory Coast government was in talks with a Japanese company to set up a textile factory, which UAC perceived as a threat to its own import business of printed cotton. To scupper the deal with the Japanese and get the Ivory Coast to commit itself to UAC instead, the company had to prepare a package that not only involved cotton spinning, weaving and printing (even though UAC was only interested in cotton printing, where it saw most of the value being added), but also included assistance with a palm oil production scheme that the government was keen to establish.46 43 UAC/1/1/1/2/14 UAC Ltd Minute Book 11, 34 (17 April 1956). 44 UAC/1/1/1/2/33 The UACI Minute Book 30, 25 (4 March 1975). 45 UAC/1/1/1/2/12 UAC Ltd Minute Book 9, 87 (28 September 1954); Fieldhouse, Merchant Capital, 509. 46 Fieldhouse, Merchant Capital, 409–10; 574–85 (on the visit to Grunitzky: UAC/1/1/1/2/25 UAC Ltd Minute Book 22, 16 (6 February 1967)).

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UAC’s history as a trading company certainly placed it in a different position from mining companies or enterprises that had been established as manufacturing businesses. Such companies might have to rethink their public relations, management and other aspects of their organisation with decolonisation, but would fundamentally continue the same core activity. Not so with trading companies such as UAC. UAC’s organisation, knowledge, contacts and skills had been directed towards trading, and this was a problematic expertise for a foreign business to have during times of industrialisation-led development. UAC considered that its knowledge of African markets was its key competence. Indeed, it had developed its early (frustrated) initiatives at industrialisation during the 1930s out of its understanding of the market. During decolonisation, in addition to its focus on market opportunities, UAC stuck to the principles for establishing industries that it had formulated in 1943 (predominantly dependent on local raw materials; technical processes should not be too complicated and power requirements should not be too great) and thus only invested in industries that were relatively modest. Nevertheless, the establishing of any industry required the know-how of a technical partner, either from within the Unilever organisation or, as would frequently be the case, from outside. Thus breweries were established with Heineken and Guinness as technical partners, cotton printing with Texoprint (Gamma Holdings), matchets manufacture with Martindales, cotton spinning with English Sewing Cotton (ESC) and with Textile Alliance Limited (TAL) of Hong Kong, and so on. With most of such industries, UAC had brokered the deal setting up the business (bringing together the African government, technical partners and frequently other foreign or local investment partners), invested part of the shareholding, and subsequently provided management, marketing and sales for the business. To successfully arrange such deals, UAC needed to have good information on future policies regarding subsidies, taxation, import licensing, repatriation of profits, et cetera. Furthermore, many of these deals were only possible thanks to participation in the shareholding by independent governments, for instance through their development investment vehicles. To be in contact with African governments, to be aware of where their policies might be going, and to try to please them (which included having their investment decisions partly taken by them), was crucial to UAC directors and UAC’s business strategy during the decades or industrialisation-led development policies.

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Socialism On 1 July 1960, UAC director Pedler and his wife visited Ghana to attend Kwame Nkrumah’s inauguration as President of Ghana and the associated Republic Celebrations. (At independence in 1957 the country had become a constitutional monarchy with Elizabeth II as head of state; in 1960, following a constitutional referendum, it became a republic with Nkrumah as its first president.) At the following UAC Board Meeting Pedler reported that the celebrations, which had lasted almost a week, had been spectacular. His main observations, however, concerned the politics of the event. He had seen representatives of only two private businesses among the official guests: his wife and himself representing UAC, and Mr and Mrs Mohrstedt representing the Henschel-Werke, a German producer of lorries, railway engines and tanks. He noticed the many speeches by ‘communists’ including W. E. B. Du Bois, who made a bitter attack on Western powers, and Ahmed Sékou Touré, the president of Guinea, who held a long anti-Western speech that included a vigorous attack on capitalist firms and their exploiting activities. Pedler was more positive about the private conversation he had with Nkrumah. They had discussed industrial developments and Nkrumah had shown enthusiasm for UAC’s activities, remarking that the more the company did, the better it was for Ghana.47 They had also discussed the situation in Congo, which had just (on 30 June) become independent from Belgium under Prime Minister Patrice Lumumba. At the time Pedler and Nkrumah spoke, the Congolese army had not yet mutinied, but the country had already been experiencing political disturbances, engineered partly by the former coloniser Belgium, and partly by the United States, which feared that the anticolonial pan-Africanist Lumumba was susceptible to communism, and that Katanga’s rich uranium deposits could fall into Soviet hands.48 Pedler, who had been worried about communist influence for years, and Nkrumah, who supported Lumumba, clearly did not have the same perspective on the situation. Pedler nevertheless reassured Nkrumah ‘that Unilever had done all it could to try to prevent panic’ in Congo, and that ‘the interests of the Ghana Government and of Unilever were very much the same in seeking a prosperous Congo.’49 What Nkrumah made of this conversation does not appear to be on record. Several months later, in September, there was great concern among UAC directors about Ghana’s transition to socialism. That the Nkrumah government was moving towards socialism was clear, with a growing state sector in which 47 UAC/1/1/1/2/18 UAC Ltd Minute Book 15, 113 (12 July 1960). 48 Schmidt, Foreign Intervention, 58–60. 49 UAC/1/1/1/2/18 UAC Ltd Minute Book 15, 114 (12 July 1960).

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enterprises were entirely state-owned, and far greater emphasis on the development of Ghanaian co-operatives than on support for Ghanaians to start private business enterprises. What this meant for UAC was unclear. On the one hand, Nkrumah had in the past been pragmatic and supported foreign private enterprise – and in particular UAC – because Ghana needed foreign direct investment as part of its development strategy, even when at the same time Ghanaian businessmen were actively discouraged. A statement from the President clarified that government policy relating to ‘private enterprise financed by capital from overseas’ remained unchanged. On the other hand, the new head of the Ghana Chamber of Commerce explained that the policies related to a ‘transition period’ during which the state sector and the co-operatives would have to coexist with the private sector (both foreign and indigenous), but that the ultimate aim was the transition to a socialist society. Meanwhile the Commissioner for Trade in Accra stated unequivocally that the intention was to ‘turn out’ UAC in between five and seven years.50 The UAC directors feared the worst, and reminded each other of earlier policy reversals and accelerations in Ghana. They concluded that they would have to re-think their investment policy in Ghana, their policy on dividends, the repatriation of funds, staff development and training, and so on.51 In the end, none of this was implemented. Instead, UAC continued to operate and invest in Ghana, and in 1962 it responded to a government call for large foreign firms to put forward projects for inclusion in a sevenyear plan of industrial development, which Pedler linked to a reversal of the socialist approach of the previous two years. UAC thus committed itself to investing over £2 million in a range of joint ventures, including: brewing, cement, cutlass matchets, beds, vehicle assembly and textiles.52 Clearly, UAC directors perceived socialism in general – and the move during 1960 of the Ghanaian government towards a socialist economy in particular – as a threat to the company. On the one hand it is clear that the broader Cold War context played a role in this perception. On the other it is also clear that Ghanaian officials made statements that could only be interpreted as direct threats against UAC. It seems that in the interactions between UAC and the Nkrumah administration the ‘socialism’ card was played at different levels. Pedler’s observation during the Republic Celebrations that communists were anticolonialists would be too obvious to emphasise, were it not for where that placed UAC as a company that was both capitalist and associated with colonialism from its very inception. UAC could downplay its colonial history, move out 50 UAC/1/1/1/2/18 UAC Ltd Minute Book 15, 156 (20 September 1960). 51 UAC/1/1/1/2/18 UAC Ltd Minute Book 15, 149–52 (13 September 1960). 52 Fieldhouse, Merchant Capital, 553.

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of the economic activities that were too closely associated with colonial exploitation, and through actions, investments and public relations emphasise its contribution to development, but it would still remain a capitalist company and would still expect to repatriate at least part of the profits it made in Africa. UAC directors had a hard time figuring out when the company was being criticised for being capitalist and when for being colonial (or both), and how to respond to such criticism. Meanwhile, Nkrumah, who made many public statements against colonialism, colonial business and international capitalist exploitation, would in private meetings with UAC directors praise the company for its contribution to the development of Ghana and reassure them that anti-foreign or anti-capitalist policies would not affect UAC. They had some reason to believe him, because privately Nkrumah was a regular shopper at UAC’s stores. In the run-up to independence he had petitioned UAC, which operated the popular – but ageing – Kingsway store in the capital Accra, to provide Ghana with a modern department store that would give foreign visitors something to marvel at. UAC had duly delivered and Nkrumah had given the inaugural speech when the new Kingsway department store opened in time for independence. In the years that followed he ‘ran up huge tabs on items from fine suits to socks.’53 Whatever Nkrumah may have thought about UAC as a company, he clearly appreciated the goods they brought into Ghana. UAC directors were anxious to work out where the Nkrumah government (and indeed every other government in the countries they were operating) was going, and how this would effect the company. This is not surprising, as the company had a lot to lose (or gain). It made efforts to engage with key politicians and civil servants, tried to get clues from them about future policies and opportunities, and presented them the company’s perspective. At the same time they were also very careful not to be seen to propose policy, or to do anything that could be interpreted as the attempted blackmail of an independent African government. There is evidence that UAC directors financially supported politicians from across the political spectrum, if not through outright bribes, by making available loans to them that were not repaid.54 According to Stockwell’s analysis of this, the aim was to gain access to information and perhaps a friendly relationship, not to ensure that a particular politician or political party won, or to steer policy in a specific direction. Even in the long-standing relationship between UAC director Pedler and Nkrumah, which has been described as 53 Bianca Murillo, ‘“The modern shopping experience”: Kingsway department store and consumer politics in Ghana’, Africa, 82:3 (2012), there 376. 54 Stockwell, The Business of Decolonization, 150.

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‘excellent’, Pedler did not get to influence Nkrumah’s policies and, indeed, the Board Minutes indicate that Pedler frequently returned from his meetings with Nkrumah worried and upset about the direction of the latter’s policies.55 Some of the complexities of access to government ministers and highranked bureaucrats, and how to make use of such access, were discussed in the Board Meeting of 5 May 1964. By this time, the optimism of 18 months earlier regarding a possible reversal of socialist policies had faded, and UAC was facing a number of difficulties, including struggles to get residence permits for European managers and to get import licences. A specific problem concerned the Seward’s cosmetics factory, one of the industries that UAC had established in Ghana. The company had applied for licences to import £700,000 worth of raw materials, but had only received permissions worth £75,000 as the Government did not regard cosmetics an essential industry at a time when the Ghanaian economy could ill afford the hard currency needed to pay for imports. In view of the resulting decline of production at Seward’s, UAC decided to make about 150 workers redundant, but this proved politically sensitive. When the news was announced to the trade union representatives, these responded with outrage, and during the public discussion that followed UAC were branded ‘saboteurs’.56 The discussion in the Board considered the question of why senior managers had not used their access to government ministers to demand additional licences, given that employment and import licences were obviously linked and neither UAC nor the Ghana Government wanted redundancies? The point that should have been made, from the perspective of UAC’s directors in London, was that even if Seward’s was regarded as an inessential industry from the import licence point of view, it was not inessential from an employment point of view. However, things looked different in Accra, where the Chairman feared that such an argument would have been interpreted as an attempt by a foreign multinational at blackmailing an African government. Instead, the Company had – unsuccessfully – lobbied for extra licences through the Ghana Manufacturers Association, without emphasising the risk to employment.57 After the discussion in the UAC Board, senior managers in Ghana managed to get a meeting with the Minister for Trade in another attempt to get import licences for the Seward’s factory. The Minister’s initial response echoed that of earlier colonial administrations: the Ghanaian government would lose revenue if it allocated licences to Seward’s for the local manufacture of products because 55 Ibid., 235 (on excellent relationship). 56 UAC/1/1/1/2/22 UAC Ltd Minute Book 19, 73 (5 May 1964). 57 Ibid.

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importing the finished product would attract higher import duties. The UAC Directors considered that, in view of the Ghanaian government’s focus on industrialisation-led development, the expression of such a view was almost inconceivable. They nevertheless managed to persuade the Minister to visit the factory. The visit appeared to be going well, until the Minister had what UAC managers regarded ‘a rather upsetting change of mood’. The Minister told them what he thought of Unilever and UAC and their capitalist methods, and had reportedly gone on to say that ‘Ghana could not afford a range of expensive perfumes and toilet soaps wrapped in “silver paper” while tablets of soap in the United States were sold unwrapped. He had explained at some length the aims of Socialist Ghana and had mentioned that the foreign reserves of the country were depleted, and that carelessness over their allocation would bring the country to its knees.’58 He then said he would consider additional import licences for Seward’s, and even though he had made no firm promises, UAC directors were hopeful they might be allowed to import more raw materials. It was not just manufacturing that suffered from the lack of import licences. UAC’s trading businesses were similarly affected. The UAC Directors noted that the state-owned Ghana National Trading Corporation (GNTC) received preferential treatment, which was in line with the development of Ghana as a socialist state, but contrary to assurances the government had given to them. In this case as well, the London management’s earlier wish for action had been resisted by the local management in Ghana. In fact, the Directors in London had drafted a letter of complaint addressed to President Nkrumah, which they had then torn up in view of the strong reservations expressed by the senior managers in Ghana, who had argued that ‘the import licence situation was leading Ghana in such a serious position that the Government would be forced, without any intervention, to take urgent action’.59 Subsequently, UAC had indeed received import licences, but almost exclusively for goods from socialist countries allied with the Soviet Union. The UAC Board members were worried both by the small number of licences allocated and by the nature of the countries from which they were allowed to import, and also that in not expressing their worries, they might be giving Nkrumah the impression that they were condoning the situation and not too worried about it. They nevertheless agreed not to take any action and avoid a confrontation with Nkrumah, in order not to make matters worse for UAC’s other businesses in Ghana.60

58 UAC/1/1/1/2/22 UAC Ltd Minute Book 19, 87–8 (26 May 1964). 59 UAC/1/1/1/2/22 UAC Ltd Minute Book 19, 74 (5 May 1964). 60 Ibid.

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The UAC directors chose to interpret the problems they were having in Ghana not in relation to the company’s earlier colonial history but rather, in a Cold War frame, as consequence of the Ghanaian government’s socialist policies. This made them also hold back on complaints, as it was clear to them that although most licences went to state corporations, UAC received the majority of the licences that were allocated to private business.61 By 1965, as the Ghanaian economy continued to deteriorate, UAC contemplated trying to sell their businesses in Ghana to the Ghanaian government or to state-owned companies, as they believed their competitor UTC was in the process of doing.62 Several months later, Nkrumah visited London and met with UAC director Pedler to convince UAC to stay, to allay some of the company’s concerns and make specific promises. UAC directors agreed to accept Nkrumah’s assurances, while being clearly unsure as to the extent to which he was going to deliver on them, either because he was no longer in control of the Ghanaian government agenda, or because he was not fully open with UAC. Interestingly, UAC directors were still minded to think that Nkrumah was genuine in his support for UAC, despite his public commitment to socialism and his – and his government ministers’ – frequent denunciations of Unilever and UAC as capitalist imperialist exploiters.63 Within the context of the Cold War as a global social conflict between rival social systems of capitalism and socialism, rather than merely a confrontation between superpowers, Nkrumah had reason to be concerned.64 Ghana was in desperate need of a cash injection to overcome its balance of payments crisis, but by now the USA and the UK had reached the conclusion that it was time for Nkrumah’s rule to come to an end. Being aware of strong rumours of planning for a military coup against Nkrumah, and knowing that the Soviet Union and its allies were themselves short of hard currency and hence not in a position to assist Nkrumah with his economic predicament, Washington and London made sure that none of their own allies agreed to Nkrumah’s requests for help, instead referring Nkrumah to the IMF which would impose severe restrictions on Ghana. In order to accelerate Nkrumah’s downfall the USA government even denied Ghana’s request for food aid, and waited for the military coup to take place, being in regular contact with the coup plotters.65 Already in May 1965, a

61 UAC/1/1/172/22 UAC Ltd Minute Book 19, 141 (15 September 1964). 62 UAC/1/1/172/23 UAC Ltd Minute Book 20, 4 (16 February 1965). 63 UAC/1/1/172/23 UAC Ltd Minute Book 20, 94–6 (29 June 1965). 64 Richard Saull, ‘Locating the Global South in the theorisation of the Cold War: capitalist development, social revolution and geopolitical conflict’, Third World Quarterly, 26:2 (2005), 253–80.

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memo from the USA National Security Council predicted: ‘we may have a proWestern coup in Ghana soon’.66 Eight months later, a military coup put an end to the Nkrumah government. There is no indication that UAC was in contact with the coup plotters. Nevertheless, and regardless of their up till then good relationship with Nkrumah, the UAC directors regarded the coup as on the whole a positive development, that would likely end the socialist experiment in the country. The new military administration had set up an Economic Council to deal with the country’s economic crisis straight away, which was headed by the Chief Statistician who, the UAC directors noted, ‘was a competent operator and a friend of ours’.67 UAC directors soon found themselves part of planning meetings to discuss basic (economic) problems, along with John Hennings of the Commonwealth Relations Office (Head of Development Policy); the conservative Ghanaian economist Robert Gardiner, who was working for the United Nations at that time but had been invited by the military leadership to return to Ghana; the Ghanaian economist (and later Finance Minister) Joseph Mensah, who under Nkrumah had been responsible for drawing up the Seven-Year Development Plan; Amishadai Adu, a previously high-ranking civil servant who had left Ghana in 1961 and had since worked for United Nations and Commonwealth organisations; as well as an unnamed representative of the American Embassy in London. During the meetings, the USA representative had indicated that food aid and other assistance for Ghana would now be forthcoming. The UAC representatives had stated that they were ‘very much in sympathy with the new Ghana’ and were prepared to actively help, but had not committed finances. The meeting also discussed setting up a committee in Accra, to be led by Gardiner, which would keep in close touch with UAC and other businesses, and call them in for consultation.68 A year later, the Board were pleased to report that ‘Ghana had definitely turned to the West,’ but observed that this could easily change if the West did not come up to expectation, as there were still many ‘staunch Socialists’ in positions of influence.69 Meanwhile the UAC, and particularly Pedler, were also in direct contact with Kofi Busia, a political opponent of Nkrumah who had been living in exile in the Netherlands and the UK since 1959. Busia had been among the politicians receiving loans from the UAC during the 1950s, and Pedler had stayed in con65 Matteo Landricina, Nkrumah and the West; ‘The Ghana Experiment’ in British, American, German and Ghanaian Archives (Zürich: LIT Verlag, 2018), 256–62. 66 Ibid., 263. 67 UAC/1/1/172/23 UAC Ltd Minute Book 21, 30 (8 March 1966). 68 UAC/1/1/172/23 UAC Ltd Minute Book 21, 30–1 (8 March 1966). 69 UAC/1/1/172/24 UAC Ltd Minute Book 22, 30 (6 March 1967).

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tact with him over the years. Following the coup, Busia returned to Ghana as an advisor to the military leadership, and he, in turn, consulted with Pedler on economic policy issues.70 Several years later, in 1969, the military handed power back to an elected civilian administration led by Busia. President Busia’s shortlived government was aligned with Britain and the USA, decidedly anti-socialist and business friendly. It was pro-private capital and dismantled a number of state-owned enterprises, yet remained committed to rapid state-led industrialisation as a tool to achieve economic development.71 This episode is interesting, in that it shows a moment where the UAC directors moved beyond a general fear for socialist policies in Africa and the possible impact of those on their business, to an active engagement to ensure socialism in Ghana would not continue, planning with pro-capitalist Ghanaian politicians and meeting with at least one representative of the USA. At other times, UAC directors appear to have been much more circumspect. They continued to build up relationships with civilian and military African leaders alike, and discussed business and economic policy, but they did not actively try to direct economic or social policy. However, when the British Board of Trade was about to approve the sale of arms to the strongly anti-communist South African white minority government, they told the Board of Trade that ‘UAC would prefer that no such deal took place.’72 UAC directors nevertheless remained very concerned about socialism. Now that Nkrumah was in exile, they described him as a ‘nuisance factor’ who continued to inspire socialist policies in other countries after having failed in his own. One UAC manager reporting on the situation in Mali, commented that the economic situation there had become very bad, and that the population was against the socialist ideas that had been embraced by the Malian government.73 UAC directors had no objections in principle to military governments. When discussing the situation in Burkina Faso, for instance, the UAC Board considered that the military government in that country was made up of capable men ‘full of good-will’, although ‘they knew very little about economic affairs.’74 Revealing was the Board Meeting held on 3 January 1966, during which the military coup was discussed that had just taken place in the Central African Repub70 Stockwell, The Business of Decolonization, 152. 71 Frimpong-Ansah, The Vampire State in Africa, 99–107; Agustin Fosu and Ernest Aryeetey, ‘Ghana’s post-independence economic growth 1960–2000’ in: Ernest Aryeetey and Ravi Kanbur, eds, The Economy of Ghana. Analytical Perspectives on Stability, Growth and Poverty (Woodbridge: James Currey, 2008), 36–77, there 49. 72 UAC/1/1/1/2/25 UAC Ltd Minute Book 25, 53 (7 July 1970). 73 UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 21, 32 (8 March 1966). 74 Ibid.

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lic. The meeting arrived at a positive assessment of Colonel Bokassa’s coup d’état: Jean-Bédel Bokassa (‘a military gentleman who had been wellknown to us for some time’75), regarding him as an anti-revolutionary who, along with Colonel Mobutu in Congo-Leopoldville (current DRC), would be part of a cordon sanitaire around the socialist Republic of Congo Brazzaville. The UAC directors therefore noted with approval that Bokassa’s first action as Head of State had been to expel all Chinese from the country within 48 hours. They understood it as a necessary strike against socialist influence, even though in the short run it was likely to lessen purchasing power and thus reduce UAC’s business in that country.76 That company directors considered the blocking of socialist influence more important than short-term profits, provides us with a glimpse of how they saw the position of African states following decolonisation and what that might mean for their business. From the minutes of the meeting it is not clear, however, whether they were aware that Bokassa’s coup had been supported by France. During the 1960s, the London-based directors of UAC were clearly less worried by military coups than by socialism. Not only were they willing to accept military rule as a preferable alternative to a socialist government, they also accepted the idea that military rulers could clean up society and economy after corrupt civilian rule, before handing government back to a new set of civilian politicians. Incidentally, this was a view that was broadly shared among African civilian populations frustrated by what they saw as government mismanagement and corruption.77 Following the military coup in Nigeria in January 1966, for instance, director Pedler reported that he was ‘optimistic’ and ‘greatly impressed by the way the Civil Servants, together with the armed forces, were getting to work on cleaning up corruption and giving decisions which should have been given long before in the interests of efficiency.’ Not only that, the UAC directors decided to work closely with the armed forces, ‘to take advantage of a situation in which we were asked to identify ourselves with a cleanup operation from the point of view of integrity and efficiency.’78 UAC was prepared, for instance, to second senior personnel to take over the administration of produce marketing boards at the request of the new military administration, while making the case for changes to foreign exchange and tax regulations that would be beneficial for local industrial enterprises such as the ones UAC owned in Nigeria.79

75 76 77 78

UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 21, 5 (3 January 1966). Ibid. Nugent, Africa since Independence, 232. UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 21, 18 (31 January 1966).

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This willingness to work together with the perpetrators of military takeovers, following a brief assessment of the new military administration’s likely politics, remained an aspect of the thinking of UAC directors until the closing down of the company in 1987. For instance, after the 30 July 1975 coup in Nigeria, the UAC directors first established that ‘indications were that the new regime were pro private enterprise, pro British and not Left Wing’.80 They subsequently instructed their managers in Nigeria that ‘they must make contact as quickly as possible with those now in power in order to ensure legitimate access.’81 In many other aspects, however, the thinking of UAC directors had a very different focus during the 1970s.

Economic decolonisation reloaded By the mid-1960s, UAC directors were concerned about the threat posed by socialism, about questions of investment and industrial development, as well as about the poor economic performance of some of the countries in which the company was operating. However, they no longer appeared worried about possible threats to the company from anti-imperialist sentiments or from African governments’ policies aimed at decolonising their economies. Not only did UAC feel confident to ask for changes to tax and other regulations and even to associate the company with those committing coups d’état, UAC also felt secure enough to push back against Africanisation policies, articulating a confident argument in favour of employing Europeans in key positions: ‘developing countries required, above all things, successful businesses and industries, and if the basis of appointments was competence and integrity no-one ought to find fault with it.’82 However, when UAC director A. J. Memmott returned from a visit to West Africa in March 1973, his report sounded a lot less confident: ‘Our businesses were doing well, particularly in Nigeria, and were likely to continue to do so for some considerable time, but politically we had problems. There appeared to be hostility on the part of the young intellectuals in the Ministries in Lagos and Accra towards expatriate firms, which would not be easily dissipated.’83 In fact, this combination of a relatively successful business and a pessimistic view of the future was characteristic for UAC Board Room discussions 79 UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 21, 24 (15 February 1966). 80 UAC/1/1/1/2/33 The UACI Minute Book 30, 68 (5 August 1975). 81 UAC/1/1/1/2/33 The UACI Minute Book 30, 81 (16 September 1975). 82 UAC/1/1/1/2/23 UAC Ltd Minute Book 20, 169 (21 December 1965). 83 UAC/1/1/1/2/31 The UACI Minute Book 28, 33 (6 March 1973).

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during the 1970s. As regards to UAC directors’ perception of their company’s role in the global economy during these years, compared to the 1960s the focus was much narrower on the (African) countries in which the company was operating. Aside from the technical discussions about profit, loss, expenditure, and such topics, three themes dominated the conversations in the UAC Board Room: first, a concern about the poor reputation of the company as an exploitative organisation associated with the former colonisers; second, compliance with official decrees aimed at reducing the number of foreign managers or increasing the size of local African ownership of large businesses; and third, the allegedly declining social and economic situation in the countries in which they were operating, including the impact that this would have on the management of the company. These three themes will now be discussed in more detail. Compared to the 1960s, UAC directors’ conversations during the 1970s included many more discussions about how to respond to accusations of imperialism and continued exploitation, and how to communicate that the UAC of the post-independence era had little in common with the UAC of colonial days. This may seem surprising, given that colonial rule was further in the past by then, and it was certainly not the direction of debate that UAC directors had anticipated during the 1960s. However, it did respond to opinions voiced in African countries at the time.84 Indeed, at the beginning of the 1970s UAC directors were surprised to discover that their company had a poor reputation as a foreign and exploitative business in its core markets of Ghana and Nigeria. Surveys held in 1970 among UAC employees showed that in Ghana even the company’s own workers thought that the company was too large and influential, that it was too interested in profits, and that it should pay more taxes.85 In Nigeria, surveys found that the general public considered that the company was too dominant, too interested in making profits, and had taken too much out of Nigeria. Still more worrying was that government officials, trade unionists and university lecturers were much more negative about the company than the general population.86 Clearly the company’s own image as an organisation contributing to local development was not shared by governments and populations in the countries in which it operated, and this situation continued throughout the decade. In 1977, for instance, a frustrated UAC Board of Directors observed that in Zambia ‘the badly managed parastatal enterprises continued to lose 84 UAC/1/11/3/2/20-29 Public Relations Department Newspaper Cuttings Nigeria, 1972–78; UAC/1/11/3/3/12-21 Public Relations Department Newspaper Cuttings Ghana, 1970–79. 85 UAC/2/20/3/6/3 ‘UAC Internal Image Survey’, The Unicorn 17:3 (1971), 8–11. 86 UAC/1/11/4/2/25 Research Bureau Limited, The Image of UAC and the UAC Group of Companies in Nigeria in 1970 (March 1971).

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money and there appeared to be an unwillingness on the part of the Government to accept the need for expatriate drive and know-how.’87 It is thus not surprising that UAC directors’ earlier confident claims that they could hire the best man or woman for the job, regarding of whether he or she was African or European, were met with increasingly strict legislation that aimed to reduce the number of European managers in foreign-owned businesses. For the UAC directors, the forced reduction of expatriate managers was a recurring topic of conversation: they tried to comply with such policies but invariably felt that there were insufficient qualified local candidates for management posts, and hence negotiated with governments for a (temporary) increase in the number of expatriates they were allowed to employ. Unlike African governments, they tended to regard ‘Africanisation’ as a slow process whereby possible candidates for senior management had to gain experience for years while working in the company, as the following comment about Ivory Coast illustrates: ‘There were now several Africans in their early 30s who were of senior management calibre and who in a few years’ time could be Heads of Divisions.’88 However, this same phrasing continued to be repeated over the years, which suggests at the very least that staff development was not as effective as the company claimed. Linked to the Africanisation of management, was the issue of indigenisation of ownership.89 From 1970 onwards, most of the countries UAC was operating in, including Ghana and Nigeria, introduced indigenisation schemes, which mandated the local incorporation of subsidiaries of foreign-owned businesses, along with the sale to local citizens of a certain percentage of the shares in the business. The percentage was usually somewhere between 40 % and 100 % depending on the economic sector and the size of the business, and had a tendency to be increased through additional legislation. UAC directors did not show themselves very concerned with the principle of indigenisation as such, but they frequently debated the question of what would be a fair price for the share of the business, and how to get governments to agree to that price (or to an amount close to it). They also showed themselves frustrated with the process, especially in relation to the Nigerian Enterprises Promotion Decree (NEPD), and complained about delays, intransparency, frequent U-turns on the part of official bodies, and – in the end – very low prices being offered. Reflecting on the share price determined by the Nigerian valuation committee, which 87 UAC/1/1/1/2/35 The UACI Minute Book 32, 24 (1 March 1977). 88 UAC/1/1/1/2/35 The UACI Minute Book 32, 13 (1 Februzary 1977). 89 Chibuike U. Uche, ‘British government, British businesses, and the Indigenization exercise in post-independence Nigeria’, Business History Review, 86:4 (2012), 745–71.

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the UAC Board felt it had no option but to accept, its directors agreed that ‘in accepting this share price we should make it known in the right circles that we felt we had been unfairly treated and that we considered such treatment would not enhance Nigeria’s reputation. If our conduct could be criticised it was that there had been excessive submissiveness and humility on our part.’90 If the general tone of conversations during the 1960s had been one of engagement with an agenda of development and future growth, during the 1970s this turned into a discourse of collapse, both of local African economies and of the local management of UAC’s businesses in Africa. Already in 1972, UAC directors were unsure whether to continue to invest in Ghana because of the country’s many economic problems and the lack of a viable solution in sight.91 Comments about Nigeria, which had emerged out of a civil war in 1970, were initially neutral at best, then took a significant turn for the worse in 1977, with an increasing disillusionment with life in Nigeria, many cases of armed robbery, and a feeling of unease and uncertainty. In 1978, UAC directors commented on pilferage, robbery and thuggery, collapsing infrastructure, the fall in electricity generation, and the state of near collapse of telecommunications and of Nigerian Airways.92 Worse was the assessment of the state of UAC itself: ‘We no longer had he depth of experienced expatriate management in Nigeria and everyone […] would have to be very alert to ensure that we did not lose control in the detailed day-to-day business.’93 UAC noted that in its African subsidiaries accounting standards had been slipping and that management resources were weak.94

Conclusion During the 1960s the debates among UAC directors, about UAC’s relation to formerly colonised African countries and about its – and Africa’s – role in the world, were prominent, future-oriented and partly informed by academic literature. The discussions of the 1970s were more inward-looking and concerned with consolidation and, ultimately, the survival of the Company, rather than with expansion or with the development, role and place of post-independent 90 UAC/1/1/1/2/32 The UACI Minute Book 29, 47 (2 July 1974). 91 UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 27, 10p (1 February 1972). 92 UAC/1/1/1/2/35 The UACI Minute Book 32, 44 (17 May 1977); UAC/1/1/1/2/36 The UACI Minute Book 33, 3–4 (10 January 1978). 93 UAC/1/1/1/2/35 The UACI Minute Book 32, 107 (15 November 1977). 94 UAC/1/1/1/2/37 The UACI Minute Book 34, 48, 124 (17 April 1979, 4 December 1979).

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African countries in the global political economy.95 Therefore, it is to the 1960s that this concluding section returns to place the UAC directors’ debates in the context of broader developments and discourses. In July 1966, the UAC directors discussed a booklet that had been recently published by the Overseas Development Institute: W. M. Clarke’s Private Enterprise in Developing Countries. The text started from two simple propositions that the UAC directors were familiar with: first, that economic development required the investment of foreign private capital and, second, that a foreign enterprise investing in a developing country wanted to be reassured that it would be able to repatriate profits, and that the developing country hated to see profits exported when so much money was needed for development. The report proposed to ensure the continued flow of private investment to developing countries through a scheme to guarantee repatriation of profits and protect against expropriation of investment. However, UAC directors were critical of the proposals. They noted that the World Bank Investment Charter offered better guarantees and that, in general, guarantees sponsored by an international body were more acceptable than any guarantees in a bilateral agreement. Furthermore, they considered that what mattered was not to protect their investments from expropriation, but rather to ensure that in the case of expropriation proper compensation be paid.96 They then shifted their consideration from how the proposals in the booklet would (or would not) affect their own investment decisions to wider questions of development, noting that the amount of development aid provided by private investment was declining and would continue to decline unless some reassurances were given on dividends. They were, however, undecided about the relationship between aid and investment and feared a shift of responsibility for overseas development from government aid to private investment. This was something they thought ‘recipient countries might not welcome’. They were clear that private investment should not become ‘the sole channel of aid’97 and that a shift towards more private investment could give rise to difficulties for developing countries because profits or dividends flowing from private enterprise would not be known in advance, which made development planning difficult. They nevertheless approved of the impact such proposals could have on policy making and attitudes towards foreign business in the recipient countries. They considered that it was a ‘big selling point’ of the

95 UAC/1/1/1/2/37 The UACI Minute Book 34, 124 (4 December 1979). 96 UAC/1/1/1/2/24 UAC Ltd Minute Book 21, 94 (19 July 1966). 97 Ibid., 95. Emphasis (underlined) in the original minute.

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scheme that ‘the government of the developing country would have a direct interest in providing a climate in which profits could be made.’98 This discussion of Clarke’s text shows how, despite talk of socialism, panAfricanism and ‘South-South’ development relations with China or India, former colonised states continued to look towards the north for investment in development. This observation fits Frederick Cooper’s view that North-South relations were defined by the particular pattern of decolonisation, which created small, poorly endowed independent countries, the leaders of which stood more to gain from cultivating patron-client relations with rich countries from the north, international financial institutions and, indeed, multinational corporations than from intensifying economic relations with equivalently poor countries in the south.99 Cooper is correct, of course, but looking at the actions and conversations of UAC senior managers during two decades of decolonisation, it becomes clear that the leaders of multinationals such as UAC were as dependent on such exchanges as the leaders of former colonised states were. Indeed, when speaking of cultivating patron-client relations, it is not always clear who was the patron and who was the client. Of course, this may have something to do with the specific nature of UAC as initially a trading business before diversification into an extremely complex conglomerate including jointly-owned businesses with many other companies from the global north and south, as well as with governments. Figuring out what African leaders wanted was crucial to the continued business success of UAC, because it was this access and the resulting information about government policies combined with its understanding of African markets, that was the currency with which UAC directors negotiated with other businesses and investment partners about setting up industries in former colonies. It is clear that the emphasis on industrialisation-led development was not just a public relations ploy to justify the company’s continued presence in the former colonies, as it regarded such economic development to be essential for the survival of the independent states in which they were operating and thus also for the continued survival of the business. However, it is also clear that UAC did not have the technological knowledge and skills, nor deep enough pockets, to draw up and implement its own industrialisation strategy, and it thus remained dependent on the wishes, technology, and investments of others. What UAC directors were very clear about, was their dislike of socialism and their worries of what that might mean for UAC’s possibilities for doing business in Africa. This concern, however, time and again had to take second place to the need to build 98 Ibid., 96. 99 Cooper, ‘Writing the history of development’, 18–9.

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up relations with those who were in power, regardless of the latter’s ideological orientation. As a result, UAC directors not only maintained cordial relations with African politicians who promote socialism (and every indication is that a UAC director such as Pedler genuinely respected Nkrumah), they also graced anti-capitalist manifestations with their presence. In the end, and in spite of all the panic about the possible spread of socialism in African former colonies, for UAC directors the world (at least as far as it related to the business) during the decades of decolonisation appears to have been determined much more, and much more directly, by their personal relationships with individual African leaders, than by the big ideological, social and political questions of the time.

Daniel Stahl

„The waste of the arms race must be apparent to all the world“: Zum Verhältnis von Entwicklungspolitik und Abrüstung im Zeitalter der Détente Einleitung Die erste UN-Entwicklungsdekade endete in einer Enttäuschung; die ambitionierten Ziele waren nicht erreicht worden. Doch das Jahrzehnt war vorbei und ein neues Schlagwort musste her. 1970 rief Generalsekretär U Thant die Abrüstungsdekade aus. Aus Sicht vieler Zeitgenossen war diese Abfolge sinnfällig. Im Verlauf der sechziger Jahre war wiederholt über die entwicklungshemmende Wirkung von Rüstung diskutiert worden. Einen viel beachteten Vorstoß hatte Präsident Lyndon B. Johnson in Reaktion auf den Sechstage-Krieg im Nahen Osten 1967 unternommen: „We believe that scarce ressources could be used much better for technical and economic development. We have always opposed this arms race and our military shipments to the area [Middle East] have consequently been severely limited. Now the waste and the futility of the arms race must be apparent to all the people of the world and now there is another moment of choice.“1 In den siebziger Jahren intensivierte sich diese Debatte über die Aufrüstung der Entwicklungsländer und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Johnsons Interpretation, dass die USA eine mäßigende Kraft seien, blieb dabei nicht unangefochten. Beispielhaft brachte der Senegalese Kéba M’Baye die Perspektive vieler Entwicklungsländer auf den Punkt. Auf einer 1977 von der UNESCO einberufenen Diskussionsrunde zur Erarbeitung eines Rechts auf Entwicklung führte er aus: It is thus quite clear that in all the conflicts that have occurred since the end of the Second World War, some major power, lurking behind the underdeveloped countries directly involved, has contributed to the conflict, but essentially from a financial standpoint, leaving the losses in human life to the sole responsibility of the underdeveloped countries. […] This accounts for the generosity with which weapons and military equipment are supplied 1 Lyndon Johnson Administration: Speech on Five Principles for Peace in the Middle East, 19.6.1967. In: Jewish Virtual Library. https://www.jewishvirtuallibrary.org/president-johnsonspeech-on-five-principles-for-peace-in-the-middle-east-june-1967 (16.9.19). https://doi.org/10.1515/9783110682625-011

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to the underdeveloped countries, generosity that contrasts sharply with the customary meanness as regards development assistance.2

Die Frage, wer die Verantwortung für die Verschwendung von Ressourcen durch Rüstung trage, spielte in der Debatte über Entwicklung und Abrüstung eine zentrale Rolle. Davon, wie man sie beantwortete, hing ab, wo der Hebel zur Lösung des Problems anzusetzen sei. Wie konnten Rüstungsausgaben zugunsten von Entwicklung reduziert werden? In den sechziger und siebziger Jahren wurde eine Reihe von Vorschlägen in Ministerien, Expertenrunden, zwischenstaatlichen Gesprächen und auf UN-Ebene diskutiert. Dabei ging es nicht nur darum, ob und wenn ja in welcher Höhe Einsparungen bei der Rüstung in Entwicklungshilfe und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen fließen sollten. Abrüstung verursachte auch Kosten, beispielsweise in Form von Stellenstreichungen in der Rüstungsindustrie. Welche Gesellschaften und Staaten sollten für diese Kosten aufkommen? Und schließlich war mit der Frage der Ausgestaltung von Abrüstung auch immer die Frage verbunden, wie die machtpolitischen Kosten zu verteilen seien. Dabei zeigte sich, dass Abrüstung nicht nur eine Frage des Ost-West-Konflikts war. Wie die beiden Eingangszitate andeuten, taten sich ab dem Ende der sechziger Jahre Konfliktlinien zwischen den industrialisierten Staaten und den sogenannten Entwicklungsländern auf. In der historischen Forschung über Rüstungskontrolle im Kalten Krieg ist die Verzahnung von Entwicklungs- und Rüstungspolitik und die sich daraus ergebenden Nord-Süd-Konstellationen bisher nicht beachtet worden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie – anders als die Bemühungen zur Kontrolle nuklearer Waffen – zu keinem Ergebnis führten und heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Nach wie vor ziehen die Verhandlungen über nukleare Abrüstung die Hauptaufmerksamkeit der an Abrüstung und Rüstungskontrolle interessierten Historiker auf sich. In diesen Studien steht nachvollziehbarerweise das Verhältnis zwischen den Atommächten und ihren engsten Verbündeten und somit Verhandlungen zwischen relativ ebenbürtigen Akteuren im Mittelpunkt.3 2 M’Baye, Kéba: Emergence of the Right to Development as a Human Right in the Context of a New International Economic Order, SS-78/CONF.60/8. In: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. https://www.geschichte-menschenrechte.de/recht-auf-entwicklung (16.9.2019). 3 Siehe vor allem Schrafstetter, Susanna: Die dritte Atommacht. Britische Nichtverbreitungspolitik im Dienst von Statussicherung und Deutschlandpolitik 1952–1968. Oldenbourg 1999; Dies./Twigge, Stephen: Avoiding Armageddon. Europe, the United States, and the Struggle for Nuclear Nonproliferation, 1945–1970. London 2004; Schors, Arvid: Doppelter Boden. Die SALT-Verhandlungen 1963–1979. Göttingen 2017; Dietl, Ralph L.: Equal Security. Europe and the SALT process, 1969–1976. Stuttgart 2013; Gavin, Francis J.: Nuclear Proliferation and NonProliferation during the Cold War. In: The Cambridge History of the Cold War. Vol. 2: Crises and

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Dieser Beitrag fragt hingegen danach, welche Rolle das Problem der Ungleichheit zwischen industrialisierten Staaten und Entwicklungsstaaten in den Abrüstungsverhandlungen der Détente spielte. Dies geschieht am Beispiel der eingangs skizzierten Debatten über den Zusammenhang zwischen Entwicklung und Abrüstung. Dabei werden ganz unterschiedliche Akteure in den Blick genommen: Regierungen, Diplomaten sowie andere Regierungsmitarbeiter der zweiten und dritten Reihe und Rüstungsexperten in nichtstaatlichen Organisationen. Dass eine so angelegte Untersuchung auf begrenztem Raum selbstverständlich nicht allen Staaten die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen kann, versteht sich von selbst. Im ersten Teil des Beitrags werden deshalb die Rüstungspolitik der USA und Großbritanniens näher analysiert. Beide spielten aufgrund ihrer bedeutenden Rüstungsindustrien eine zentrale Rolle in der Verteidigungspolitik der Entwicklungsländer. Und sowohl die Johnson Administration als auch die Labour-Regierung verfolgten in den sechziger Jahren eine höchst widersprüchliche Politik. Einerseits suchten sie nach Möglichkeiten, Rüstungsexporte zu steigern, andererseits entwickelten sie Ansätze für eine globale Abrüstung auf dem Gebiet konventioneller Waffen. Im zweiten Teil, der die Position der Entwicklungsländer in den Mittelpunkt stellt, wird dem selbsternannten „sozialistischen Entwicklungsland“ Rumänien besondere Aufmerksamkeit gezollt. Wie noch zu zeigen sein wird, kam der Regierung Ceausescus in der hier analysierten Debatte eine Schlüsselrolle zu.

Die Umverteilung der Abrüstungskosten Der eingangs zitierte Vorstoß Präsident Johnsons fügte sich in eine Abrüstungsstrategie, die auf die Zeit vor dem Sechstage-Krieg zurückging. Militärhilfe gehörte zu den wichtigsten Instrumenten US-amerikanischer Außenpolitik im Kalten Krieg. Bis Anfang der sechziger Jahre war der größte Teil amerikanischer Rüstungsausfuhren nicht auf kommerzieller Basis erfolgt, sondern im Rahmen der auswärtigen Hilfsprogramme.4 Diese bedurften allerdings der Zustimmung durch den Senat und dort sah man die Verwendung von Haushaltsmitteln zur Détente. Hrsg. von Melvyn P. Leffler u. Odd Arne Westad. Cambridge 2010. S. 395–416. Der einzige Band, in dem u. a. der Rolle von Entwicklungsstaaten nachgegangen wird, ist: Popp, Roland [u. a.] (Hg.): Negotiating the Nuclear Non-Proliferation Treaty. Origins of the Nuclear Order. London/New York 2017. 4 Hovey, Harold A.: United States Military Assistance. A Study of Policies and Practices. New York 1965.

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Aufrüstung anderer Staaten zunehmend kritisch. Regelmäßig kürzten die Abgeordneten der Regierung Mittel. Das schränkte die Möglichkeit stark ein, Militärhilfe als Instrument der Diplomatie einzusetzen.5 In dem Versuch, mit diesem Problem umzugehen, entwickelten die verschiedenen Ministerien ganz unterschiedliche Ansätze, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinanderstanden. Das Pentagon richtete 1962 eine Abteilung ein, die für den Verkauf von Waffen im Ausland zuständig war. Kommerzielle Waffenausfuhren konnten weit flexibler gehandhabt werden als militärische Hilfsprogramme.6 Im State Department stand man Rüstungsexporten etwas verhaltener gegenüber und beurteilte sie stärker nach ihrer außenpolitischen Wirkung. Die Ausfuhr komplexer und teurer Waffensysteme an NATO-Partner und Staaten in den sogenannten Forward Defense Areas, die aufgrund ihrer geographischen Nähe zu kommunistischen Staaten strategische Bedeutung hatten (beispielsweise Iran, Vietnam, Pakistan oder Südkorea), stand nicht zur Debatte. Anders war es mit Waffenlieferungen an andere Staaten. Anfang der sechziger Jahre fand ein Umbruch in der amerikanischen Entwicklungspolitik statt. Bereits 1959 hatte das State Department angesichts einer Reihe von Militärputschen einen Bericht angefertigt, der auf der Grundlage der Erfahrungen in Lateinamerika die Bedeutung des Militärs für Entwicklung herausstrich. Diese Interpretation setzte sich in den sechziger Jahren in der amerikanischen Politik durch. In unterentwickelten Ländern sei das Militär ein stabilisierender Faktor. Das Ziel müsse zwar eine Demokratie sein, doch auf dem Weg dorthin gelte es, das Militär zu unterstützen. „Military modernization“ lautete das Stichwort. Die Regierungen Kennedys und Johnsons machte sich diese Sichtweise zu eigen.7 Entwicklungspolitik wurde ab Beginn der sechziger Jahre verstärkt mit Counterinsurgency-Maßnahmen verknüpft. In dieser Konzeption sollte das Militär nicht mehr in erster Linie gegen den äußeren, sondern den inneren Feind eingesetzt werden. Die Strategie sah vor, dass das Militär in zunehmendem Maße zivile Funktionen ausüben sollte, um so auch die Sympathien und das Vertrauen der Bevölkerung zu erlangen. Für diese Aufgaben aber benötigte es keine schweren Waffen wie Kriegsschiffe, Raketen oder hochentwickelte Kampfflugzeuge. Im Gegenteil: Solche Waffen banden wichtige Ressourcen, die für 5 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): The Arms Trade with the Third World. Middlesex [u. a.] 1975. S. 62f. 6 Thayer, George: War Business. Geschäfte mit Waffen und Krieg. Hamburg 1970. S. 163–199. 7 Hier und im Folgenden: Simpson, Bradley R.: Economists with Guns. Authoritarian Development and U.S.-Indonesian Relations 1960–1968. Stanford 2008. S. 31–86; Schmitz, David F.: Thank God They’re on Our Side. The United States and Right-Wing Dictatorships, 1921–1965. London 1999. S. 221–227.

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die Armutsbekämpfung dringend benötigt wurden. Armutsbekämpfung aber war aus Sicht Washingtons zentraler Bestandteil des Kampfes gegen den Kommunismus. Anders als die Verkaufsabteilung im Pentagon hatte das State Department deshalb ein Interesse daran, das Militär in den verbündeten Staaten außerhalb der Forward Defense Areas von der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung in Rüstungsfragen zu überzeugen, was nicht gerade einfach war. Hier kam der regionale Ansatz der Waffenhandelsbegrenzungen ins Spiel. Da die Rüstungsbemühungen der Entwicklungsstaaten in aller Regel regionalen Bedrohungsszenarien folgten, mussten Einhegungsversuche auch hier ansetzen. Wenn sich die Staaten einer Region auf eine Begrenzung bestimmter Waffentypen oder auf ein Verbot technologisch besonders fortschrittlicher Waffen verständigen konnten, dann war das eine Möglichkeit, Rüstungsausgaben einzuhegen. Allerdings war dieser Ansatz nur dann sinnvoll, wenn es gelang, auch die anderen rüstungsproduzierenden Staaten einzubinden. Eine Chance bot sich 1967. Der Sechstage-Krieg schien jene abrüstungsfreundlichen Politiker, Friedensaktivisten und entwicklungspolitischen Akteure zu bestätigen, die Rüstungsexporte in den Nahen Osten als destabilisierenden Faktor angeprangert hatten. Die Frage, ob Exportverbote in Krisenregionen wie dieser, Kriege verhindern konnten, wurde mit neuer Vehemenz diskutiert. Bereits seit Beginn des Jahres lief in den USA eine Debatte über Rüstungsexporte, nachdem bekannt geworden war, dass die Bundesrepublik Kampfflugzeuge, die sie von den USA als Militärhilfe erhalten hatte, über den Iran an Pakistan verkauft hatte. Dabei ging es nicht zuletzt um die Frage, warum die USA Kredite für Rüstungskäufe von Staaten gewährten, die kaum in der Lage seien, diese Kredite zurückzuzahlen.8 Johnson hatte also nicht allein den Nahen Osten im Blick, als er in Reaktion auf den Krieg erklärte: „We believe that scarce resources could be used much better for technical and economic development.“9 Um sicherzustellen, dass Entwicklungsländer ihre Ressourcen nicht verschwendeten, seien vor allem die größeren Staaten in der Pflicht, ihre Exportpraxis zu überdenken. Als ersten Schritt schlug er die Registrierung aller Rüstungsausfuhren in den Nahen Osten durch die UNO vor.10 Die Chancen dafür, dass mit Großbritannien einer der größten Rüstungsproduzenten mitziehen würde, schienen auf den ersten Blick gut zu sein. Die 1964 gewählte Labour-Regierung verfolgte in der Außenpolitik die Strategie, sich eng 8 Thayer, War Business, S. 192–199; Sheehan, Neil: A Huge Business: Armament Sales. U. S. Is Principal Source of Weapons for Other Lands – 46-billion in 17 years. In: New York Times, 19.7.1967; Sheehan, Neil: 16 Companies get Major Share of Profits in Arms Sales by U. S. In: New York Times, 22.7.1967. 9 Lyndon Johnson Administration, Speech. 10 Lyndon Johnson Administration, Speech.

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mit Washington abzustimmen.11 Vor allem aber war sie mit dem Anspruch einer rüstungspolitischen Wende angetreten. Eine der ersten Amtshandlungen Harold Wilsons war es gewesen, Alun Gwynne-Jones zum Staatsminister für Abrüstung im Foreign Office zu ernennen. Gwynne-Jones, der nach seiner Ernennung den Titel Lord Chalfont führen durfte, war einer der bekanntesten Kritiker der britischen Rüstungspolitik. Anfang der sechziger Jahre hatte er mit mehreren Zeitungsartikeln und Fernseh-Dokumentationen zu verschiedenen rüstungspolitischen Themen für Aufsehen gesorgt. Seine Ernennung war ein Signal, dass es die Labour-Regierung mit einer Neuausrichtung der Rüstungspolitik ernst meinte.12 Allerdings stieß die neue Regierung schnell an Grenzen bei der Umsetzung ihrer Politik. Die Diplomaten im Foreign Office hatten bereits vor der Wahl mit Skepsis die Pläne und Verlautbarungen Labours verfolgt.13 Auch Wilsons Äußerungen zum Waffenhandel waren kritisch beäugt worden.14 Die Skepsis gegenüber Labour mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Mitarbeiter in Whitehall über 15 Jahre hinweg ein System konservativer Außenpolitik entwickelt hatten, in dem die verschiedenen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Zielsetzungen fein aufeinander abgestimmt waren. Jede Neuausrichtung der Politik bedrohte dieses austarierte System. Bereits vor dem Sechstage-Krieg hatten sie Chalfont in einer Reihe von Memoranda auflaufen lassen, als er versucht hatte, die britischen Rüstungsexporte einzuhegen.15 Als er auf Johnsons Vorstoß aufgeschlossen reagieren wollte, bekam er erneut den Widerstand der Whitehall-Mitarbeiter zu spüren. In einem Memorandum über Rüstungsexporte in den Nahen Osten, inklusive Ägypten, Algerien und Libyen, brachten sie zahlreiche Einwände gegen regionale Rüstungsbeschränkungen vor. Ihre Einwände zeigten eindrücklich, dass diese dazu angetan waren, andere wichtige wirtschafts- und rüstungspolitische Ziele der Labour-Regierung zu gefährden.16 Zunächst einmal waren da die eng miteinander verflochtenen Probleme des Zugangs zu Öl und des Handelsbilanzdefizits. Auch wenn sich die britische 11 Callaghan, John: The Labour Party and Foreign Policy. A History. London 2007. S. 255–263. 12 Chalfont, Alun: The Shadow of My Hand. Gloucester 2000. S. 85–97. 13 Callaghan, Labour Party, S. 252f. 14 Phythian, Mark: The Politics of British Arms Sales Since 1964. Manchester 2000. S. 5f. 15 The National Archives (TNA), Kew. FO 371/187483. Comments on the Draft Paper on the International Trade in Arms, 12.1965; Paper by the Planning Committee on the International Arms Trade, 6.5.1966; TNA, FCO 10/142. D. L. Benest: Draft Paper on the Control of the Arms Traffic in General and Complete Disarmament, 6.3.1967. 16 Hier und im Folgenden: TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 6.11.1967.

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Wirtschaft in einem relativ guten Zustand befand, als Labour die Regierung übernahm, erbte sie doch ein ungelöstes Problem: Das Handelsbilanzdefizit wuchs beständig. Wilson lehnte eine Entwertung der Währung zur Lösung dieses Problems ab, um sich nicht den Zorn der Wähler zuzuziehen. Stattdessen setzte er auf Ausfuhrsteigerung. Die Exporte in den Nahen Osten waren nicht unbedeutend bei der Lösung des Problems. Großbritannien hing stark von Ölimporten aus diesen Ländern ab, sie machten 11 % der Gesamteinfuhren aus. Um die negativen Effekte dieser Importe für die Handelsbilanz zu mindern, setzte London darauf, möglichst viel Rohöl von britischen Ölfirmen einzuführen und in den unternehmenseigenen Raffinerien auf der Insel zu verfeinern. So fand zumindest ein Teil der Wertschöpfung im eigenen Land statt und das Handelsdefizit mit den Staaten des Nahen Ostens konnte gesenkt werden. Aus diesem Grund gehörte es zum festen Bestandteil der Außenpolitik Londons, die Sicherheit der eigenen Öl-Unternehmen und ihren Zugang zu Öl zu erleichtern.17 Hier kamen Waffen ins Spiel. In dem Memorandum, dass die Diplomaten in Whitehall im Auftrag Chalfonts für das Kabinett angefertigt hatten, erkannten sie an, dass Exporte an Israels Nachbarn in der britischen Gesellschaft sehr kritisch gesehen würden. Allerdings sei das „nationale Interesse“ in den arabischen Staaten und den Golfstaaten konzentriert. Um die Stabilität der Region zu gewährleisten, sei es notwendig, der Verpflichtung nachzukommen und eine angemessene Menge von Waffen an diese Staaten zu liefern, um – wie es hieß – externe Angriffe und interne Subversion abzuwenden.18 Diese Politik knüpfte an die Erfahrungen an, die Großbritannien in den fünfziger Jahren mit dem Iran und dem Irak gemacht hatte. Damals hatten nationalistische Regierungen des Iraks und Irans versucht, die von britischen Firmen dominierte Ölproduktion teilweise zu verstaatlichen. Im Fall des Irans war es London gelungen, diese Politik durch einen Putsch in Teilen rückgängig zu machen. Doch die britischen Unternehmen mussten schwere Einbußen hinnehmen.19 In London fürchtete man nach dem Sechstage-Krieg eine erneute Welle nationalistischer Politik, die man im Foreign Office nach wie vor als das Resultat sowjetischer Agitationsarbeit deutete. Bei einer solchen Politik drohte die

17 Bamberg, J. H.: The History of the British Petroleum Company. Vol. 2. The Anglo-Iranian Years, 1928–1954. Cambridge 1994. S. 311f.; Kuiken, Jonathan: Caught in Transition. Britain’s Oil Policy in the Face of Impending Crisis, 1967–1973. In: Historical Social Research 39 (2014). Nr. 4. S. 272–291. Hier S. 275. 18 TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 6.11.1967. 19 Bamberg, British Petroleum Company, S. 383–457; Painter, David S.: Oil and the American Century. In: The Journal of American History 99 (2012). Nr. 1. S. 24–39. Hier S. 28–33.

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Enteignung britischer Ölunternehmen und die Erschwerung des Öl-Zugangs.20 Waffenexporte sollten dem entgegenwirken: There is a clearly fair division in the Middle East between the Arab states following an evolutionary policy and those following a revolutionary policy. The former are normally more favourable to British interests and it is therefore to our advantage that they should be strong enough to stand up to the latter. The moderates in the Arab world need to acquire arms from the West if they are to avoid being drawn into a still closer relationship with the Soviet Union, and if they are to maintain some degree of independence of action.21

Auch wenn es nicht explizit gesagt wurde, so war doch allen klar, das mit „independence of action“ die Verteidigung britischer Interessen – in erster Linie der Zugang zu Rohöl – gemeint war. Waffenexporte halfen aber auch auf sehr direkte Weise, das Handelsbilanzdefizit zu senken und die damit einhergehende Devisenknappheit zu bekämpfen, wie die Experten im Foreign Office nicht müde wurden zu betonen. Bereits in einem vorangegangenen Papier über Möglichkeiten zur Einhegung des Waffenhandels hatten sie gewarnt: „The sale of arms is an important source of foreign exchange to a number of supplying countries and any policy of inhibiting their arms exports would call for a great deal of self-sacrifice.“22 Das Handelsbilanzdefizit war nicht zuletzt ein Problem der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Nahen Osten. Infolge der ständig wachsenden Nachfrage nach Öl waren die Importe aus dieser Region in den späten sechziger Jahren drastisch gestiegen und es gab keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändern würde.23 Waffenexporte machten grob geschätzt ein Drittel aller Exporte in diese Region aus.24 Und die Aussichten waren noch besser. London hatte umfassende Verträge mit den Staaten des Nahen Ostens abgeschlossen, von denen zwei sogar über 100 Millionen Pfund umfassten. Der Wert der Verträge allein mit Saudi 20 TNA. PREM128/42. Memorandum by George Brown on Arab Attitudes and British Economic Interests in the Middle East, 7.7.1967. 21 TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 611.1967. 22 TNA. FO 371/187483. Paper by the Planning Committee on the International Arms Trade, 6.5.1966. 23 Central Office of Information: Britain 1969. An Official Handbook. London 1969. S. 378f. 24 SIPRI: The Arms Trade Registers. The Arms Trade with the Third World. Cambridge 1975. S. 154f.; Central Office of Information, Britain, S. 380. Ein Vergleich der in diesen beiden Statistiken angegebenen Werte hilft, den Anteil der Waffenexporte einzuschätzen. Es ist allerdings nicht möglich, die Werte der SIPRI-Statistiken unmittelbar in Beziehung zu den britischen Handelsstatistiken zu setzen, da SIPRI eine andere Methode verwendet, den Wert eines Rüstungsguts zu bestimmen.

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Arabien und Libyen lag für die nächsten fünf Jahre nach Schätzungen des Foreign Office bei 350 Millionen Pfund.25 Das waren im Schnitt 70 Millionen Pfund pro Jahr und somit weit mehr als das Gesamtvolumen der 1966 in diese beiden Staaten exportierten britischen Waren, das bei 49 Millionen Pfund lag.26 Diese Waffendeals hatten das Potential, den Nahen Osten zum wichtigsten Waffenimporteur außerhalb der NATO zu machen. Die Mitarbeiter im Foreign Office warnten deshalb: „[We cannot] afford to ignore the considerable commercial advantages of our arms sales to the area. “27 Neben der Handelsbilanz gab es ein zweites Kernanliegen der Labour-Regierung, das eng mit dem Waffenhandel verknüpft war: die Reduzierung britischer Rüstungsausgaben.28 Rüstungsexporte in den Nahen Osten trugen gleich auf mehreren Wegen dazu bei, dieses Ziel zu erreichen. Die konservative Regierung, die Labour vorangegangen war, hatte kurz vor ihrer Ablösung begonnen, über Möglichkeiten zur Steigerung der Rüstungsexporte nachzudenken. Als Labour die Regierungsgeschäfte übernahm, war dieser Prüfungsvorgang noch nicht abgeschlossen. Verteidigungsminister Denis Healey erkannte sogleich eine Möglichkeit, die Effekte der geplanten Kürzungen im Rüstungsbudget mithilfe von Exportsteigerungen abzufedern. Kürzungen waren eine heikle Angelegenheit, wenn – wie im Fall Großbritanniens – das Militär auf im Land produzierte Rüstungsgüter zurückgriff. Nicht nur war die Industrie bedroht. Kürzte man die Produktionsmenge, erhöhte sich der Stückpreis. Exporte konnten helfen, diese Probleme zu lösen, wie Healey schnell erkannte: „if other countries can be induced to buy our weapons systems, the production runs will be longer and the cost to everybody reduced.“29 Also beauftragte Healey den Unternehmer Donald Stokes mit der Leitung einer Kommission, die Vorschläge entwickeln sollte. Ende 1965 lag der Bericht vor. Zu seinen Kernempfehlungen gehörte die Anpassung britischer Waffen und Waffensysteme an die Bedürfnisse importierender Staaten und die Einrichtung einer Abteilung, die den Verkauf von Waffen fördern sollte.30 Die Empfehlungen Stokes stießen auf offene Ohren bei einer Regierung, die bemüht war, die Effek25 TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 6.11.1967. 26 TNA. PREM128/42. Memorandum by George Brown on Arab Attitudes and British Economic Interests in the Middle East, 7.7.1967. 27 TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 6.11.1967. 28 Edgerton, David: Warfare State. Britain 1920–1970. Cambridge 2006. S. 241–244. 29 Im Folgenden siehe Phythian, Politics, S. 58–75, hier S. 61. 30 TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary, 6.11.1967.

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te der Rüstungskürzungen für die eigene Industrie abzufedern. Schon Mitte 1966 wurde die Defence Sales Organization gegründet. Sie war nicht dem Foreign Office zugeordnet, das traditionell vorsichtiger war bei der Gewährung von Waffenexportlizenzen, sondern dem Verteidigungsministerium. Wenn auch keine Studien vorliegen, die den Effekt der Exportsteigerung für die Kostenreduzierung der Abrüstung beziffern, so bleibt dennoch festzuhalten: Von der Intention her handelte es sich bei der britischen Politik ganz klar um den Versuch, andere Gesellschaften an einem Teil der wirtschaftlichen und sozialen Kosten der eigenen Abrüstungspolitik zu beteiligen und somit zu externalisieren. Wenn man auf die Exportzahlen schaut, wird deutlich, dass dem Nahen Osten dabei eine wichtige Rolle zukam. Die neu geschlossenen beziehungsweise in Aussicht stehenden Deals mit dieser Region waren nach Schätzungen des Foreign Office viermal so hoch wie die gesamten Rüstungsexporte des Jahres 1963.31 Und sie waren fast so hoch wie die ca. 400 Millionen Pfund, die Großbritannien 1967 für die eigene Rüstung einplante.32 Waffenausfuhren in den Nahen Osten konnten aber auch auf eine sehr konkrete Weise in die Abrüstungspolitik Großbritanniens eingebettet werden, wie der 140 Millionen Pfund schwere Rüstungsdeal mit Saudi-Arabien zeigte. 1965 hatte die Labour-Regierung die Entwicklung des taktischen Bombers TCR-2 aufgrund der hohen Kosten gestoppt. Auf der Suche nach Ersatz wandte sich London an die USA und meldete Interesse an der F-111 an. Damit hätte man Entwicklungs- und Anschaffungskosten gespart. Allerdings hätte das nach Berechnungen des Kriegsministeriums auch bedeutet, dass mit diesem Deal allein durch Rüstungskäufe in den USA die bilaterale Devisenbilanz auf 725 Millionen Pfund zuungunsten Großbritanniens angestiegen wäre und sich die chronische Dollarknappheit verschärft hätte. Deshalb forderte London im Gegenzug amerikanische Rüstungskäufe bei britischen Herstellern, die mit den Zahlungen für die F-111 hätten verrechnet werden können.33 Die USA ließen sich teilweise auf diese Forderung ein und machten einen weiterführenden Vorschlag: Nachdem der Kongress die Waffenexporte in Entwicklungsländer gedeckelt hatte, konnten nicht mehr alle bereits getätigten Zusagen bedient werden. Großbritannien sollte deshalb Rüstungsexporte in Höhe von 300 Millionen Pfund an Entwicklungsländer von den USA übernehmen. Der Rüstungsdeal mit Saudi-Arabien war Teil dieser Abmachung. Lieferungen 31 Vgl. die Statistiken in TNA. FCO 10/143. Regional Agreements to Limit the Introduction or Further Supply of Sophisticated Weapons, März 1967 und TNA. FCO 10/143. Policy for the Sale of Arms to Israel and the Arab Countries, Note by the Foreign Secretary. 32 United States Arms and Disarmament Agency (ACDA): World Military Expenditures 1969. Washington 1969. S. 14. 33 Hier und im Folgenden: Phythian, Politics, S. 14f, 198–211.

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an die arabischen Staaten waren aus Sicht Washingtons nach dem SechstageKrieg ohnehin unpopulär in der amerikanischen Bevölkerung und man war froh, sie auf diese Weise etwas reduzieren zu können, ohne der Sowjetunion das Feld zu überlassen. Es gab noch weitere Abrüstungsmaßnahmen, die sich unmittelbar auf die britischen Rüstungsexporte auswirkten, deren Effekte allerdings nach Abfassen des Papiers über Rüstungsexporte in den Nahen Osten sichtbar wurden. Die Erhaltung von Stützpunkten im Nahen Osten war teuer. Nach dem SechstageKrieg setzte sich innerhalb des Kabinetts die Überzeugung durch, dass diese Stützpunkte nicht den gewünschten Effekt hatten. Sie ermöglichten es nicht, die Politik der Staaten im Nahen Osten spürbar zu beeinflussen. Deshalb kündigte die Labour-Regierung an, einen großen Teil der Truppen von der arabischen Halbinsel und vom Persischen Golf abzuziehen. Diese Ankündigung hatte zur Folge, dass Staaten wie Kuwait mit dem Aufbau eigener Streitkräfte begannen und Iran Panzer in Großbritannien orderte. Schließlich waren diese Staaten nun verstärkt auf sich gestellt bei der Landesverteidigung. Es lag ganz im Interesse Londons, diesen Wünschen nach Waffen nachzukommen.34 Rüstungsexporte in den Nahen Osten hatten ohne Zweifel größere Bedeutung für die britische Wirtschafts- und Abrüstungspolitik, als dies der Fall für Exporte in andere Regionen war. Deshalb war auch die Ablehnung regionaler Abrüstungsabkommen vonseiten der Whitehall-Experten mit Blick auf andere Regionen nicht ganz so vehement. Für Lateinamerika und Schwarzafrika könne man es gerne versuchen.35 In der Summe aber waren die Waffenausfuhren in Entwicklungsstaaten ein viel zu wichtiges Instrument zur Externalisierung von eigenen Rüstungskosten, als das man darauf hätte verzichten wollen. Chalfont geriet darüber zunehmend in Rage. Im März 1970 schrieb er in einem Brandbrief an einige Mitarbeiter: „The official attitude to an initiative on the Arms Trade is depressing. The Prime Minister has endorsed the idea of such an initiative and in my view there are no insuperable difficulties. […] I realise that there are a number of problems, but that is all the more reason for urgency.“36 Wie diese Probleme gelöst und wie die Senkung britischer Rüstungsausgaben mit einer Reduzierung der Rüstungsexporte in Einklang gebracht werden könnten, dazu machte er allerdings keine Vorschläge. Kurz darauf unternahm die Labour-Regierung ihren letzten Vorstoß in Sachen regionaler Abrüstung. Dieses Mal kam der Impuls von Baron Caradon, 34 Callaghan, Labour Party, S. 270–273; SIPRI, Arms Trade, S. 104f. 35 TNA. FCO 19/144. Regional Agreements to Limit the Introduction or Further Supply of Sophisticated Weapons, August 1968. 36 TNA. FCO 66/208. Lord Chalfont to Thomas Brimelow, 9.3.1970.

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dem britischen Botschafter bei den Vereinten Nationen. Er hatte seine Karriere als Kolonialbeamter im Nahen Osten begonnen, sprach Arabisch und pflegte freundschaftliche Kontakte mit den Delegierten der arabischen Länder. Es besorgte ihn, wie die britischen Rüstungsexporte an Israel die Beziehungen zu diesen Staaten belasteten. Deshalb schlug er vor, Konfliktzonen zu definieren, in die nicht geliefert werden solle. Einen solchen Vorschlag könne man wunderbar anlässlich des 25-jährigen Bestehens der UNO einbringen.37 Premierminister Wilson zeigte sich empfänglich für seine Argumente und Chalfont war froh, einen Verbündeten gefunden zu haben. Er beauftragte Ronnie Hope-Jones mit der Erarbeitung eines Vorschlags. Caradon, Chalfont und Hope-Jones waren sich dessen bewusst, dass eine regionale Einschränkung der Waffenexporte in den betroffenen Regionen schnell als imperialistischer Taschenspielertrick gedeutet werden und dort die Entstehung eigener Rüstungsindustrien befeuern könnte. Gleichzeitig waren es die steigenden Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer, denen ihre Hauptsorge galt: „The main object of the exercise is to bring home to the developing countries the undesirable consequences for themselves of the competitive acquisition of more and more sophisticated weapons.“38 Um dem Imperialismus-Vorwurf entgegenzuwirken, basierte Hope-Jones Vorschlag auf dem Ansatz, Eigeninteresse und -initiative der Entwicklungsstaaten zu stärken. Dazu sollte auf UN-Ebene eine allgemeine 25-prozentige Senkung der Rüstungsausgaben vereinbart werden, um zu verhindern, dass Exportbeschränkungen zur Entstehung neuer Rüstungsindustrien in Entwicklungsländern führten. Ein weiterer Baustein sei ein vom Generalsekretariat in Auftrag gegebener Bericht über die sozialen und wirtschaftlichen Kosten, die die wachsenden Rüstungsausgaben vor allem in den Entwicklungsländern erzeugten. Dieser solle, so die Hoffnung, Entwicklungsländer ermutigen, regionale Abrüstungsabkommen auszuhandeln, denen sich die wichtigen Rüstungsexporteure anschließen würden.39 Hope-Jones wurde nicht müde hervorzuheben, dass die Verknüpfung von Entwicklungspolitik und Abrüstung zentral sei und sich hervorragend in die Dekadenlogik der UNO füge, wo die erste Entwicklungsdekade zu Ende ging und die erste Abrüstungsdekade ausgerufen worden war. Für Großbritannien biete dieser Ansatz den Vorteil, im Jubiläumsjahr als Musterschüler zu glänzen: „It is 37 TNA. FCO 66/208. Note of the Prime Minister’s Meeting with Lord Caradon, 6.2.1970. 38 TNA. FCO 66/208. D. L. Benest (Disarmament Department) to Sir T. Brimelow/ Mr. Renwick, 14.4.1970. 39 TNA. FCO 66/208. Regional Arms Limitation (Draft UK Memorandum), o. D. und UK Disarmament Initiative at United Nations, (o.D.).

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one of the advantages of our proposals that they will enable us to draw attention to the reductions we have ourselves made in our defence budgets in recent years […]. There is therefore no question of our preaching a gospel that we are not prepared to put into practice ourselves.“40 Großbritannien sei ein gutes Beispiel dafür, dass es gelingen könne, durch Abrüstung Ressourcen für wohlfahrtsstaatliche Zwecke freizusetzen. Was Hope-Jones nicht erwähnte und was ihm vermutlich auch nicht bewusst war, war der Umstand, dass Labour durch die Steigerung der britischen Rüstungsexporte nicht nur seinen Teil zur Aufrüstung der Entwicklungsländer beigetragen hatte, sondern dass diese Exporte außerdem den Zweck erfüllt hatten, die eigene Abrüstungspolitik sozial und wirtschaftlich verträglich zu gestalten. Auch Abrüstung hatte ihre Kosten und an diesen waren die Entwicklungsstaaten beteiligt. Bei einem Treffen Mitte April 1970 wurde Hope-Jones Entwurf unter Anwesenheit Chalfonts von den Experten aus den unterschiedlichen Abteilungen des Foreign Office regelrecht auseinandergenommen. Das verwundert wenig; seine auf weitreichenden Vorannahmen beruhenden Vorschläge, die viel Kooperationswillen vonseiten anderer Akteure voraussetzten, konnten den über Jahre hinweg ausgefeilten Argumenten gegen eine Beschränkung von Rüstungsexporten nicht standhalten. Nicht zuletzt warnten seine Kollegen davor, dass der Vorschlag die Entwicklungsstaaten dazu veranlassen könnte, zu fordern, dass die durch Abrüstung freigesetzten Ressourcen für Entwicklungspolitik einzusetzen seien. Dazu sei das Finanzministerium mit Sicherheit nicht bereit. Schließlich einigte man sich darauf, nichts zu unternehmen.41 Bald darauf fanden die vorgezogenen Wahlen statt, die Labour eine Niederlage einbrachten. Die konservative Regierung griff das Projekt zur regionalen Waffenbeschränkung zunächst nicht auf. Wer einen Teil der eigenen Abrüstungskosten umverteilen wollte, tat sich keinen Gefallen damit, andere Staaten zur Abrüstung aufzufordern.

Die Umverteilung der Abrüstungsgewinne Die internationalen Rüstungsexporte in den Nahen Osten stiegen weiterhin unaufhaltsam und weit stärker als in andere Weltregionen. Nach dem Jom-KippurKrieg, der erneut die weitreichenden Interessen Großbritanniens und der USA im Nahen Osten gefährdete, griffen die beiden Staaten schließlich auf ihren Vorschlag zurück, Entwicklungsländer zu stärkeren Abrüstungsbemühungen 40 TNA. FCO 66/208. UK Disarmament Initiative at United Nations, (o.D.), S. 4. 41 TNA. FCO 66/208. Final Record of a Meeting Held in the India Office Council Chamberto Discuss a Possible UK Initiative on Regional Arms Limitation, 9.4.1970.

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anzuhalten. Im Rahmen der 1969 gegründeten Conference of the Committee on Disarmament plädierten sie 1975 für regionale Abrüstungsabkommen. Doch ihnen schlug heftiger Widerstand vonseiten der Entwicklungsländer entgegen, die mittlerweile einen konkurrierenden Vorschlag entwickelt hatten.42 1970 hatte sich eine Gruppe von Entwicklungsländern zusammengefunden, die dem Vorschlag aus dem Norden etwas entgegensetzten. Eine Schlüsselrolle kam dabei nicht etwa den klassischen Entwicklungsländern des Südens zu, sondern Rumänien, das Staatspräsident Nicolae Ceausescu Anfang der siebziger Jahre zum „sozialistischen Entwicklungsland“ erklärte. Mit dieser Eigenbezeichnung verfolgte er gleich mehrere Ziele: Gegenüber Moskau betonte er auf diese Weise erneut den Anspruch, einen eigenen Weg des sozialistischen Fortschritts zu beschreiten. Bereits seit 1964 war die rumänische Regierung um eine eigenständige und unabhängige Politik bemüht. Während sie offensiv eine Annäherung an den Westen vorantrieb – die dort auf Wohlwollen stieß – scheute sie nicht den Konflikt mit der sowjetischen Regierung.43 Gleichzeitig ging es der Regierung Ceausescus darum, den Staaten des Südens Annäherungswillen zu signalisieren, um den Zugang zu Rohstoffen sicherzustellen. Vor allem die großen Ölraffinerien des rohstoffarmen Landes waren auf Nachschub angewiesen, der nicht ausreichend aus der Sowjetunion kam. Und es ging darum, Afrika und den Nahen Osten als Absatzmärkte für eigene Industrieprodukte zu erschließen, die im Westen aufgrund ihrer Qualität geringere Chancen hatten. Gleichzeitig zielte das Bekenntnis, ein Entwicklungsland zu sein, darauf, Zugang zu westlicher Entwicklungshilfe zu erhalten. Anfang der siebziger Jahre intensivierte Ceausescu die Beziehungen mit den Staaten Afrikas und des Nahen Ostens. Eine Reihe von Handelsabkommen wurden unterzeichnet und Rumänien implementierte eine eigene Entwicklungspolitik. Auf der politischen Ebene hatte diese Strategie Erfolg: 1976 wurde Rumänien als Mitglied in die Gruppe der 77 (G-77) aufgenommen, parallel dazu entfaltete Rumänien auf UN-Ebene eine rege Tätigkeit in enger Zusammenarbeit mit den Staaten der „Dritten Welt“, beispielsweise in der UNCTAD. Zwei Themen dominierten die internationale Agenda Rumäniens: Entwicklungspolitik und Abrüstung. Als „sozialistisches Entwicklungsland“ verfolgte Bukarest eine doppelte Strategie: Auf der einen Seite nahm man gegenüber den Staaten der „Dritten Welt“ die Rolle eines Geldgebers ein. Die in diesem Zuge 42 Report of the Conference of the Committee on Disarmament, Vol. 1. New York 1976. S. 47f. 43 Hier und im Folgenden: Barnett, Thomas P.M.: Romanian and East German Policies in the Third World. Comparing the Strategies of Ceausescu and Honecker. Westport/London 1992. S. 7–93; Oprea, Mirela: Development Discourse in Romania. From Socialism to EU Membership. Dissertationsschrift. Bologna 2009. S. 79–261.

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implementierten Maßnahmen – beispielsweise Niedrigzinskredite und die Entsendung von Experten – zielten auf die Erschließung neuer Märkte. Andererseits drängte Ceausescus Regierung zusammen mit den Regierungen des Südens auf ein stärkeres entwicklungspolitisches Engagement der industrialisierten Staaten, das auch dem eigenen Land zugutekommen sollte. An dieser Stelle kam die Abrüstungspolitik ins Spiel. 1970 setzte sich Rumänien an die Spitze einer Gruppe afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten, die erneut eine Verkoppelung von Abrüstungs- und Entwicklungspolitik forderten. Die industrialisierten Länder sollten einen Teil der Gelder, die sie aufgrund sinkender Rüstungsausgaben sparten, für Entwicklungshilfe einsetzen. Um diese Forderung durchzusetzen, mussten sie aber zunächst eine neue Interpretation der weltweiten Rüstungsausgaben durchsetzen. Bisher dominierte die US-amerikanische Lesart den Diskurs, die die steigenden Ausgaben der Entwicklungsländer zum Hauptproblem auf dem Gebiet konventioneller Rüstung erklärten und davon ausgehend regionale Abkommen forderten. Diese Forderung unterstrich die US-Regierung mit Daten. Die Arms Control and Disarmament Agency (ACDA), die sie in Fragen der Rüstungskontrolle beriet, veröffentlichte jährlich einen Bericht über die Entwicklung der weltweiten Rüstungsausgaben, basierend auf den Erkenntnissen amerikanischer Behörden. Seit den ausgehenden sechziger Jahren war nicht etwa das Verhältnis zwischen NATO und Warschauer Pakt das Kernthema, sondern das zwischen industrialisierten Ländern und Entwicklungsländern. Zwar machten die Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer 1970 nur 15 % der weltweiten Gesamtsumme aus. Doch die zentralen Grafiken in den Hauptteilen des Berichts rückten vor allem in den Mittelpunkt, dass sie einen Anstieg aufwiesen, der größer war als das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der jeweiligen Länder. Im Gegensatz dazu veranschaulichten die Tabellen eindrücklich, dass es den NATO-Staaten gelungen sei, den Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt seit den fünfziger Jahren beständig zu senken. Er lag mittlerweile meist bei um die 5 %.44 Dem wollte die Regierung Ceausescus etwas entgegensetzen. Mit der Unterstützung Argentiniens, Kolumbiens, der VR Kongo, Madagaskars, Malis, Marokkos, Mexikos, Nigeria, Perus, Ruandas, Venezuelas und Jugoslawiens setzte sie 1970 und 1975 in der UN-Generalversammlung die Einberufung einer Expertengruppe durch, die die sozialen und ökonomischen Kosten von Rüstung in den Blick nehmen sollten.45 Vor allem beim Verfassen des zweiten Berichts, der 44 ACDA: World Military Expenditures 1969. Washington 1969; dies.: World Military Expenditures 1970. Washington 1970. 45 General Assembly of the UN (UNGA). Res. 2667. 7.12.1970; UNGA. Res. 3462 (XXX), 11.12.1975.

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schließlich 1978 veröffentlicht wurde, kam dem Bukarester Ökonomieprofessor Gheorghe Dolgu eine Schlüsselrolle zu. Als Vorsitzender der Expertengruppe nahm er maßgeblichen Einfluss auf den Text und wirkte darauf hin, dass er die Zustimmung der gesamten Expertengruppe erhielt.46 Die Expertengruppe stand vor dem Problem, wie sie an fundierte und umfassende Informationen über Rüstung gelangen könne. Bis Ende der sechziger Jahre waren die Jahresberichte der ACDA die einzige öffentlich zugängliche Quelle gewesen, die Informationen über weltweite Rüstungsausgaben bereithielt. Nicht zu Unrecht galten sie als Instrument US-amerikanischer Interessen. Die Einholung von Daten aller Mitgliedstaaten mithilfe eines Sekretariats-Rundschreibens an die Regierungen war erfahrungsgemäß wenig ergiebig. Für das Anliegen der Entwicklungsländer, die die beiden Berichte angestoßen hatten, war deshalb ein Umstand von enormem Vorteil: Seit 1969 veröffentlichte das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) Jahresberichte über die weltweiten Rüstungsausgaben. Im Gegensatz zur ACDA handelte es sich um eine regierungsunabhängige Institution, die mit fachlich ausgewiesenen Experten besetzt und als schwedisches Institut weniger verdächtig war als eine USamerikanische Einrichtung. Vor allem aber verstanden sich die SIPRI-Forscher als rüstungskritische Stimme, die sich auch und vielleicht vor allem an die Adresse der westlichen Mächte wandte. Ihre Berichte fußten auf öffentlich zugänglichen Haushaltsdaten und Handelsregistern. Ein großer Teil der Informationen stammte wie auch bei den ACDA-Berichten aus den USA. Die dort mit großer Intensität geführte Debatte über Militärhilfe hatte im Laufe der Zeit zu einem, verglichen mit anderen Staaten, hohen Grad an Transparenz geführt. Die Trends, die sich an den so gesammelten Zahlen ablesen ließen, wichen denn auch nicht nennenswert von denen der ACDA-Berichte ab. Allerdings setzten die SIPRI-Forscher andere Akzente in der Analyse der Daten. Gleich zu Beginn ihres ersten Jahresberichts machten sie deutlich, dass die Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer nur einen geringen Teil der Gesamtausgaben ausmachten und dass der Anstieg in den sechziger Jahren ausschließlich mit dem Wettrüsten im Nahen Osten zu tun habe. Rechne man diese Region heraus, dann seien die Trends in entwickelten und entwickelnden Staaten nahezu identisch.47 Darüber hinaus legten sie einen Schwerpunkt auf Rüstungsexporte in Dritte-Welt-Staaten. Auf diese Weise rückten sie die Verantwortung der großen rüstungsproduzierenden Mächte in den

46 UN Archives and Records, New York (UNARMS). S-1008-0006-07. Rolf Björnerstedt, Assistant Secretary, to Waldheim, SG, 11.7.1977. 47 SIPRI Yearbook of World Armaments and Disarmament 1969/70. Stockholm/London 1970.

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Mittelpunkt und ließen die USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich in einem wenig schmeichelhaften Licht erscheinen.48 Diese Publikationen, die fest im rüstungskritischen Diskurs der Gesellschaften der NATO-Mitglieder verankert waren, lieferten den Entwicklungsländern die empirische Grundlage und das argumentative Material für ihre Forderungen.49 Umgekehrt waren die Stockholmer Experten gerne bereit, der Expertengruppe um Dolgu beizuspringen. Frank Blackaby, der die Arbeiten an den ersten beiden SIPRI-Jahrbüchern geleitet und beide Bände herausgegeben hatte, stellte sich ihnen als Berater zur Verfügung.50 Die Berichte, die der Generalsekretär 1971 und 1978 der Generalversammlung vorlegte, prangerten die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Rüstung an. Das entsprach noch durchaus dem internationalen Konsens der Debatte. Im Bereich der Forschung binde die Entwicklung neuer Waffen und Waffensysteme Kapazitäten und Ressourcen, die man dringend zur Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung benötige. Statt in Entwicklungshilfe zu investieren, rüsteten Staaten auf. Der zweite Bericht verknüpfte diese Kritik darüber hinaus mit der Debatte über die New International Economic Order (NIEO). Aufrüstung sei ein ernstzunehmendes Hindernis bei der Durchsetzung einer neuen ökonomischen Weltordnung. Um eine neue Form der internationalen Arbeitsteilung zu erreichen, seien friedliche Beziehungen zwischen Staaten unabdingbar. Hier spiegelte sich nicht zuletzt die Erfahrung Rumäniens, dessen Entwicklungspolitik wie die so vieler Staaten auf Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu den Ostblockstaaten fußte.51 Die Hauptverantwortlichen für diese Entwicklung seien die sechs großen rüstungsproduzierenden Staaten: die USA, die Sowjetunion, China, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland. Dreiviertel der weltweiten Rüstungsausgaben gingen auf das Konto dieser Staaten und das Wettrüsten zwischen ihnen sei der Hauptantrieb der weltweit steigenden Rüstungsausgaben. In diesen Staaten werde die Waffentechnik ständig weiterentwickelt. Und sie profitierten auch noch ökonomisch: 95 % aller Rüstungsexporte in Entwicklungsländer gingen auf ihr Konto. Zwar seien auch die Rüstungsausgaben der 48 Siehe vor allem die Sonderpublikation SIPRI, The arms Trade. 49 UN Secretary General: Economic and Social Consequences of the Armaments Race and Its Extremely Harmful Effects on World Peace and Security. Report of the Secretary General. A/ 8469. 22.10.1971; United Nations Centre for Disarmament: Economic and Social Consequences of the Arms Race and of Military Expenditures. Updates Report of the Secretary-General. New York 1978. 50 UN Secretary General, Economic and Social Consequences, S. 5. 51 Zur NIEO siehe v. a. United Nations Centre for Disarmament, Economic and Social Consequences, S. 23, 58f., 64f.

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Entwicklungsländer gestiegen, doch dies hänge häufig damit zusammen, dass sie Schauplatz von Stellvertreterkriegen der Großmächte seien. Statt wie die ACDA mit dem Anteil des Bruttosozialprodukts zu argumentieren – eine Argumentation, die industrialisierte Staaten begünstigte –, führten die Verfasser der Berichte das Verhältnis der Rüstungsausgaben zur Gesamtbevölkerung ins Feld: In Südasien und Mittelafrika kämen auf jeden Bewohner fünf Dollar Rüstungsausgaben jährlich. Das seien lediglich 1 bis 2 % des Wertes in den hochindustrialisierten Staaten. Um den Missständen zu begegnen, sei es dringend notwendig, die beiden Politikfelder Entwicklungspolitik und Abrüstung eng miteinander zu verzahnen: „Disarmament should be so designed that this close connexion between disarament and developmet gets full recognition.“52 Ein wichtiger Schritt in Richtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung sei die Senkung der Rüstungsausgaben zugunsten von Entwicklungshilfe. Wenn die entwickelten Staaten nur 5 % ihrer Rüstungsausgaben für Entwicklung einsetzen würden, könne das bisher unerreichte Ziel erreicht werden, 0,7 % der Wirtschaftsleistung in Entwicklungshilfe zu investieren. Forschung und Technologietransfer solle sich stärker mit der Lösung entwicklungspolitischer Probleme befassen – auch das sei eine wichtige Voraussetzung zur Etablierung einer NIEO.53 Wie verhielt sich dieser Bericht zur Politik der Initiatoren? Schaut man auf Rumänien, das bei der Entstehung eine Schlüsselrolle gespielt hatte und das über Dolgu, dem Vorsitzenden der Expertengruppe, maßgeblich Einfluss auf die Ausformulierung genommen hatte, dann bietet sich ein ambivalentes Bild. Einerseits scheint es der Regierung Ceausescus ernst gewesen zu sein mit der Forderung nach Abrüstung. Als die Sowjetunion 1978 die Warschauer PaktStaaten aufforderte, ihren Anteil an den Verteidigungsausgaben zu steigern, lehnte die rumänische Regierung das ab. Sie fiel auch nicht durch besonders hohe Ausgaben auf und zahlte weit weniger als die DDR, Polen oder die Tschechoslowakei. Gleichzeitig stellten Rüstungsausgaben in den siebziger Jahren mit durchschnittlich 5 % des Bruttoinlandprodukts eine nicht zu vernachlässigende Größe in der Wirtschaft des Landes dar.54 Insofern fügt sich das Engagement für den Bericht in eine Politik, die aus nachvollziehbaren Gründen hohe Rüstungsausgaben zu vermeiden suchte.

52 United Nations Centre for Disarmament, Economic and Social Consequences, S. 74. 53 Siehe v. a. United Nations Centre for Disarmament, Economic and Social Consequences, S. 64–67. 54 Barnett, Romanian Policies, S. 69; ACDA: World Military Expenditures 1982. Washington 1982. S. 42.

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Auf der anderen Seite war man in Bukarest in den siebziger Jahren gerade damit beschäftigt, die eigene Rüstungsindustrie auszubauen. Zusammen mit Jugoslawien entwickelte Rumänien ein eigenes Kampfflugzeug, den IAR 93, was für ein Mitglied des Warschauer Paktes höchst ungewöhnlich war. Darüber hinaus weitete Ceausescu die Lizenzfertigung von Waffen aus und baute dabei nicht nur sowjetische Modelle, sondern auch westliche, wie den französischen Transporthubschrauber Puma.55 Diese Waffen waren nicht nur für die eigene Landesverteidigung gedacht. Ceausescus Ziel war es, der bedeutendste Waffenlieferant des Südens zu werden.56 Tatsächlich waren 1981 rund 5 %, ein Jahr später bereits 10 % aller rumänischer Exporte Rüstungsgüter.57 Man könnte das Eintreten seiner Regierung für Abrüstung deshalb als zynische Symbolpolitik abtun. Man kann sie aber auch vor dem Hintergrund eines Eintretens für eine neue Weltwirtschaft deuten. Wenn es darum ging, etablierte wirtschaftliche und machtpolitische Abhängigkeitsverhältnisse aufzubrechen, waren Rüstungsdeals zwischen Entwicklungsländern, zu denen sich Rumänien immerhin zählte, ein wichtiger Schritt. Es ist nicht leicht zu sagen, was die Entwicklungsländer von den zwei Berichten über die ökonomischen und sozialen Konsequenzen des Wettrüstens erwarteten und Teil welcher Strategie er war. Vor dem Hintergrund der Abrüstungsdebatte der sechziger und siebziger Jahre sowie des Umgangs mit dem Bericht erscheint vor allem ein Erklärungsansatz plausibel: In erster Linie war der Bericht eine Vorsichtsmaßnahme, mit der sich Rumänien sowie die afrikanischen und lateinamerikanischen Entwicklungsländer gegen einseitige Abrüstungsforderungen westlicher Staaten absichern wollten. Der Forderung nach Selbstbeschränkung des Südens angesichts der wirtschaftlichen Lage der Entwicklungsländer, die aus den USA und ab 1975 auch aus Großbritannien zu hören war, setzten sie somit ihre eigenen Deutungen und Forderungen entgegen. Nachdem die Berichte vom Generalsekretär der Generalversammlung vorgelegt worden waren, handelte es sich nicht mehr um schlichte Positionspapiere, sondern um offizielle UN-Dokumente. Hätten die westlichen Staaten den Druck erhöht und Verhandlungen über die Beschränkung konventioneller Waffen gefordert, hätten sich die Entwicklungsländer jederzeit auf diese Dokumente berufen können, um die Verantwortung der industrialisierten Staaten hervorzuheben und Abrüstung mit einer Steigerung der Entwicklungshilfe zu verknüpfen. Für

55 SIPRI: World Armaments and Disarmament. Yearbook 1982. London 1982. S. 245. 56 Coker, Christopher: Pact, Pox or Proxy. Eastern Europe’s Security Relationship with Southern Africa. In: Soviet Studies 40 (1988). Nr. 4. S. 573–584; Pacepa, Ion: Red Horizons. Chronicles of a Communist Spy Chief. Washington 1987. S. 119–121, 363–372. 57 ACDA, World Military Expenditures 1982, S. 84.

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diese Interpretation spricht vor allem der Umstand, dass die Resolution, mit der ein zweiter Bericht gefordert wurde, 1975 kurz nach dem erneuten Vorstoß der USA und Großbritanniens zugunsten regionaler Abkommen eingebracht wurde.58 Als Verhandlungsposition war diese Forderung somit auf dem Tisch. Es scheint allerdings nicht so gewesen zu sein, dass sich die Entwicklungsländer um Rumänien viel davon versprachen, sie zum Ausgangspunkt einer eigenen Initiative zu machen. Ceausescu griff das Thema 1979 bei seiner Rede vor der UNCTAD auf und betonte nochmals den Nexus zwischen NIEO, Abrüstung und Entwicklungspolitik.59 Weitere Anläufe blieben aus. Der einzige Vorstoß, der auf konkrete Maßnahmen zielte, ging von der Sowjetunion aus. Sie schlug bereits 1973 in der Generaldebatte vor, dass alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ihre Rüstungsausgaben um 10 % reduzieren sollten. 10 % der so gesparten Mittel seien in einen Fond für Entwicklungshilfe einzuzahlen. Angesichts der Tatsache, dass die nationalen Ökonomien der NATO-Staaten weit stärker waren als die des Warschauer Paktes, ist es nachvollziehbar, dass Moskau weitere Rüstungssteigerungen vermeiden wollte. Und die Taktik, mithilfe des Entwicklungshilfe-Versprechens die Entwicklungsländer hinter dem Vorstoß zu versammeln, war gewiss nicht unklug.60 Bei den westlichen Staaten stieß dieser Vorstoß auf Ablehnung. Die US-Delegation erklärte, dass eine Verknüpfung von Militärausgaben mit Entwicklungshilfe nicht unbedingt hilfreich sei. In London waren die Mitarbeiter des Foreign Office schon unter Labour entschieden gegen eine solche Option eingetreten. Die konservative Regierung Allan Warrens hatte daran noch weniger Interesse und verwies deshalb ausweichend darauf, dass dann zunächst der Begriff „militärisches Budget“ zu definieren sei. Die Entwicklungsländer hingegen begrüßten den Vorschlag erwartungsgemäß ausdrücklich. Mit ihrer Unterstützung wurden zwei Resolutionen verabschiedet, die alle Sicherheitsratsmitglieder zu einer 10-prozentigen Ausgabenreduzierung aufriefen und an sie appellierten, Teile der gesparten Ausgaben in Entwicklungshilfe zu investieren. Als auf die Einwände Großbritanniens hin eine Arbeitsgruppe begann, Vorschläge für eine Vereinheitlichung der unter „militärisches Budget“ fallenden Ausgaben zu erarbeiten und dafür auch Informationen von den Ostblockstaaten verlangten, verlor die Sowjetunion das Interesse an dem Thema. Die Warschau58 Economic and Social Consequences of the Armaments Race and Its Extremely Harmful Effects on World Peace and Security. Report of the First Committee. A/10430. 6.12.1975. 59 Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development. Fifth Session. Manila, 7.5.–3.6.1979. New York 1981. S. 122f. 60 Hier und im Folgenden: The United Nations Disarmament Yearbook. Vol. 1: 1976. New York 1977. S. 233–243.

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er Pakt-Staaten pflegten im Vergleich zu den NATO-Staaten ein weit größeres Geheimnis aus ihren Rüstungsausgaben zu machen. Nun kehrten sich die Verhältnisse um: Die NATO-Staaten forcierten die Arbeiten an der Vereinheitlichung von Rüstungsbudgets als Mittel, um den Warschauer Pakt zu mehr Transparenz zu zwingen; die wiederum wandten sich ab von dem Projekt. Zeitgleich verlor auch die NIEO-Debatte angesichts der vehementen Opposition der USA und der Schuldenkrise der Entwicklungsländer ihre Zugkraft. Und vor dem Hintergrund eines erneuten Wettrüstens Anfang der achtziger Jahre hatten Abrüstungsvorschläge kaum noch Aussichten auf Erfolg. Die Diskussion darüber, wie Abrüstung zu Zwecken der Entwicklungshilfe genutzt werden könnte, versandete.61

Schluss Dabei hatte sich seit dem Ende der sechziger Jahre in Ost und West, in Süd und Nord die Ansicht durchgesetzt, dass die hohen Rüstungsausgaben ein Entwicklungshemmnis seien. Niemand zweifelte diese Deutung ernsthaft an. Doch bei der Frage, welche praktischen Schritte aus dieser Erkenntnis abzuleiten seien, gingen die Ansätze weit auseinander. Mehr als die Verhandlungen über nukleare Abrüstung war diese Diskussion vom Gegensatz zwischen entwickelten Staaten und Entwicklungsländern und somit von asymmetrischen Machtverhältnissen geprägt. Und mehr als bei jenen abrüstungspolitischen Streitfragen, die im Vordergrund der Verhandlungen zwischen den Großmächten standen, kam der wirtschaftspolitischen Frage nach der globalen Verteilung von Rüstungs- und Abrüstungskosten eine Schlüsselrolle zu. All das bedeutet jedoch nicht, dass die Regierungen der wirtschaftlich stärkeren Staaten des Nordens ihre Macht unmittelbar in einen verhandlungsstrategischen Vorteil hätten ummünzen können. Das lag nicht zuletzt an ihren eigenen finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen. Wie das Beispiel Großbritannien zeigt, stand die Forderung der Labour-Regierung nach einer Selbstbeschränkung des Südens in Fragen der konventionellen Rüstung in einem spannungsreichen Verhältnis zu dem Wunsch, die eigenen Rüstungsausgaben zugunsten einer Ausweitung des Wohlfahrtsstaates auszuweiten. Schließlich spielten Rüstungsexporte in Entwicklungsländer bei dem Versuch, die Rüstungsausgaben der wirtschaftlich angeschlagenen, ehemaligen Weltmacht sozial verträglich zu senken, eine wichtige Rolle. Das war der Grund, 61 The United Nations Disarmament Yearbook. Vol. 6: 1981. New York 1982. S. 319–321.

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warum sich die Regierung Harold Wilsons trotz aller Ambitionen bis zum Ende ihrer Amtszeit nicht durchringen konnte, mit einem Vorschlag zur Begrenzung der Rüstung in Entwicklungsländern an die Öffentlichkeit zu gehen. Allerdings gründete die Macht der Entwicklungsländer in Fragen der konventionellen Rüstung und Abrüstung zu großen Teilen auf ihre Eigenschaft als Waffenimporteure und als strategisch Verbündete. In dieser Hinsicht waren die Kräfteverhältnisse unter den Entwicklungsländern höchst ungleich verteilt. Den Staaten des Nahen Ostens kam eine besondere Bedeutung zu – auch das lässt sich am Beispiel Großbritanniens gut erkennen. Die Exporte in diese Region spielten in den britischen Abrüstungsplänen eine wichtige Rolle. Diese Staaten zeigten allerdings kein Interesse an der Debatte über die Umwidmung von Rüstungsausgaben zugunsten entwicklungspolitischer Projekte. Weder behagte ihnen der US-amerikanische Vorschlag regionaler Abrüstungsabkommen, mit deren Hilfe Ressourcen von Entwicklungsländern freigesetzt werden sollten, noch schlugen sie sich auf die Seite jener Gruppe von Staaten, die eine globale Umverteilung der Abrüstungsgewinne forderten. Stattdessen nutzten sie ihr wirtschaftliches und strategisches Gewicht, um immer neue Rüstungsdeals abzuschließen. Die Entwicklungsstaaten, die eine Umverteilung der Abrüstungsgewinne forderten, hatten hingegen kaum Machtmittel, ihre Forderungen durchzusetzen. Ihnen blieb allein die UN, um ihre Forderungen vorzubringen. Sie nutzten dieses Forum nicht zuletzt, um die rüstungspolitischen Unterschiede zwischen dem Nahen Osten und anderen Entwicklungsländern hervorzuheben. Für ihr Anliegen war das Klima bei der UNO in den siebziger Jahren relativ günstig. Die NIEO befeuerte Überlegungen zur Umgestaltung wirtschaftlicher Beziehungen und die rüstungskritische Stimmung, die sich angesichts der Détente breitmachte, rückte Abrüstungsverhandlungen in den Bereich des Machbaren. Vor dem Hintergrund der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ und des „Zweiten Kalten Krieges“ veränderten sich allerdings auch die Diskussionen bei den UN. Am Ende der Abrüstungsdekade stand – wie so oft bei Abrüstungsfragen: Nichts.

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Von Sendern und Empfängern: Der NordSüd-Dialog und die Debatte um eine Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung Einleitung Als der letzte Sommer des Kalten Krieges heranbrach, blickte der kenianische Politologe Ali A. Mazrui in seiner Streitschrift Cultural Forces in World Politics bereits auf die bevorstehenden Verschiebungen in der globalen Konkurrenz der Mächte. Dabei charakterisierte er die Beziehung zwischen dem „Westen“ und der „Dritten Welt“ als ein einziges Missverständnis. Speziell die Amerikaner seien begnadete Kommunikatoren, so Mazrui, aber armselige Zuhörer. Der Dialog „zwischen den Welten“ sei daher ein „Dialog der Tauben“.1 Schon einmal, im November 1982, hatte Mazrui diese Wendung bemüht, als er in einem Kolloquium des Institute on World Affairs in den USA von den eklatanten Kommunikationsproblemen zwischen den „reichen und den armen Ländern“ der Erde berichtete. Wie in vielen Statements dieser Jahre klang auch in seiner Kritik zwischen den Zeilen der Groll über die erbitterte Auseinandersetzung der vorangegangenen Dekaden an, in der die Debatte um eine „Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung“ (NWICO) eine entscheidende Rolle gespielt hatte.2 In der Auseinandersetzung um die NWICO spiegelten sich die globalen Ordnungskonkurrenzen des Kalten Krieges und die konfligierenden Weltordnungsentwürfe am Ende des Kolonialzeitalters wider. Die Frage nach der Ausgestaltung einer

1 Mazrui, Ali A.: Cultural Forces in World Politics. London 1990. S. 45, 116–118. 2 Ders.: The dialogue of the deaf between poor and rich countries. 1982. University Lecture Series. Annual Institute on World Affairs. Iowa State University Archives. Ames, IA. „The North-South dialogue. Cooperation and confrontation.“; vgl. Atwood, L. Erwin/Murphy, Sharon M.: The dialogue of the deaf. The New World Information Order debate. In: Gazette 30 (1982). S. 13–23. Note: Frühere Fassungen dieses Textes wurden in Seminaren und Kolloquien an der Harvard University und am Institute of Economic Growth in New Delhi vorgetragen. Dabei danke ich vor allem Sven Beckert, Charles Maier und Sugata Bose aus dem Weatherhead Research Cluster on Global Transformations (WIGH) und Veena Naregal vom IEG für den Austausch, die konstruktive Kritik und die vielen klugen Kommentare und Anregungen. https://doi.org/10.1515/9783110682625-012

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„postkolonialen Weltordnung“ stand dabei im Zentrum unzähliger Kollisionen und Konvergenzen dieses Systems „internationaler governance“ nach 1945.3 Die Kämpfe um die Neuregelung des Nachrichtenverkehrs bestimmten Diskurs und Praxis der Nord-Süd-Beziehungen ab den ausgehenden 1950er Jahren maßgeblich. Für die Entwicklungsexperten der Hochmoderne war die „Informationstechnik“ des digitalen Zeitalters das ideale Werkzeug, ihre ehrgeizigen Pläne einer „Modernisierung“ der „Dritten Welt“ in die Tat umzusetzen. Die Vereinten Nationen waren ein zentrales Forum der Planungen und zugleich ein wichtiger Akteur, der für die praktische Durchsetzung und lokale Implementierung der Projekte auf der internationalen Bühne verantwortlich zeichnete. Über viele Jahrzehnte avancierte die Modernisierung der Kommunikationsmittel und -wege so zu einer tragenden Säule der „technischen Hilfe“, mit der sich weitreichende staatspolitische Zielsetzungen und sozial- und kulturpolitische Erwartungen verbanden. Dabei prägten die neuen Technologien die Vorstellungen und Konzepte von Entwicklung nachhaltig. Die Ausgestaltung einer globalen „Informationsordnung“ provozierte bis in die Mitte der 1980er Jahre eine hitzige Debatte. Deren Nachwehen waren noch an der Schwelle des 21. Jahrhunderts spürbar. So erinnerte der von den Vereinten Nationen gesponserte „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft“ im Jahr 2003 ausdrücklich an die lange Vorgeschichte der gegenwärtigen Kontroverse um die „digitalen Gräben“ zwischen Nord und Süd.4 In der Geschichte der Nord-Süd-Beziehungen hat die Debatte um die NWICO bislang nur wenig Beachtung gefunden.5 Das spärliche Interesse der historischen Forschung mag sich auch aus der Tatsache erklären, dass es der Mediengeschichte erst in den letzten Jahren langsam gelungen ist, in die Gefilde der

3 So Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig und Frank Reichherzer in der Einleitung dieses Bandes. Zur Ausgestaltung dieses Systems im 20. Jahrhundert vgl. Macekura, Stephen/Manela, Erez (Hrsg): The Development Century. A Global History. Cambridge 2018; James, Leslie/Leake, Elisabeth (Hrsg.): Decolonization and the Cold War. Negotiating Independence. London 2015. 4 Stauffacher, Daniel/Kleinwächter, Wolfgang (Hrsg.): The World Summit on the Information Society. Moving from the Past into the Future. New York 2005; Frau-Meigs, Divina [u.a.] (Hrsg.): From NWICO to WSIS. 30 Years of Communication Geopolitics. Actors and Flows, Structures and Divides. Chicago 2012. 5 Als ersten Überblick vgl. Brendebach, Jonas: Towards a New International Communication Order? UNESCO, development, and „national communication policies“ in the 1960s and 1970s. In: International Organizations and the Media in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Hrsg. von dems. [u.a.]. London 2018. S. 158–191. Zur Vorgeschichte der Debatte vgl. Beyersdorf, Frank: Freedom of communication. Visions and realities of postwar telecommunication orders in the 1940s. In: The Journal of Political History 27 (2015). Nr. 3. S. 492–520.

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Internationalen Geschichte vorzudringen.6 Bis heute fristen medienhistorische Ansätze und Themen für die Jahre nach 1945 auch im Bereich der Globalgeschichte eher ein Schattendasein.7 Das muss umso mehr verwundern, als die Neue Kultur- und Politikgeschichte beharrlich die bestimmende Rolle der Medien, multinationaler Kooperationen, NGOs und internationaler Organisationen hervorgehoben hat.8 Marc Frey, Sönke Kunkel und Corinna Unger haben überzeugend argumentiert, dass die Neuordnung der internationalen Beziehungen in einem System der „global governance“ ab den 1960er Jahren neue Macht- und Interaktionsräume hervorbrachte und dabei ganz wesentlich mit dem Siegeszug transnational agierender Akteursnetzwerke und Expertenzirkel einherging, die auf der Bühne der „Weltöffentlichkeit“ agierten.9 So veränderte sich mit der Emergenz dieser „wirkmächtigen globalen Regulierer“ auch die Form der Normaushandlung, „die sich immer stärker multilateral und massenmedial vollzog.“10 Um den Prozess der Globalisierung als Ergebnis verflochtener, „geteilte[r] Geschichten“ beziehungsweise als „glokales“ Phänomen zu verstehen,11 muss deshalb auch und gerade die Rolle der Medien als Glokalisierungsmaschine stärker in den Fokus rücken. Die Techniken, Visionen und Strategien der Experten erschienen – von der lokalen bis zur globalen Ebene – hochgradig „medialisiert“. 6 Zentrale Schneisen schlagen hier vor allem: Bösch, Frank/Geppert, Dominik (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th century. Augsburg 2008; Hoeres, Peter/Tischer, Anuschka (Hrsg.): Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln 2017. 7 Vgl. Beckert, Sven/Sachsenmaier, Dominic (Hrsg.): Global History, Globally. Research and Practice Around the World. London 2018. Hingegen zählt die Geschichte medientechnischer Innovationen und Umbrüche als Motoren politischer, sozialer und kultureller Umwälzungsprozesse gerade zu den Masternarrativen der Forschung zur Globalisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts; vgl. Conrad, Sebastian: What is Global History? Princeton 2016. S. 103. 8 Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001; Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005; Büschel, Hubertus: Internationale Geschichte als Globalgeschichte. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011). Nr. 3. S. 439–445. 9 Vgl. Frey, Marc [u. a.]: Introduction. In: International Organizations and Development, 1945– 1990. Hrsg. von dens. Basingstoke 2014. S. 1–22. Hier S. 3–5. 10 Kunkel, Sönke: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012). Nr. 4. S. 555–577. Hier S. 558f. 11 Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hrsg. von dens. Frankfurt a. M. 2002. S. 9–48. Hier S. 17; Robertson, Roland: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Perspektiven der Weltgesellschaft. Hrsg. von Ulrich Beck. Frankfurt a. M. 1998. S. 192–220.

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So erwies sich bereits die „Stimmgewalt“ einzelner Akteure als direkte Folge des ungleichen Medienzugangs. Die Auseinandersetzung um die Dynamiken der Wissenszirkulation zwischen „Nord“ und „Süd“ in Diskurs und Praxis war daher ohne die bestimmende Funktion der Massenmedien undenkbar. Der vorliegende Beitrag untersucht aus einer wissenshistorischen Perspektive die zentralen Akteure der Auseinandersetzung um einen „freien Informationsfluss“ zwischen „Nord“ und „Süd“, ihre Netzwerke und Konkurrenzen und ihre Versuche, die Theorien in die Praxis zu übersetzen. Dabei werden in drei Schritten die markanten Konfliktlinien und die wichtigsten Etappen der Kontroverse analysiert. Erstens wird dazu untersucht, wie aus der internationalen Auseinandersetzung um die Grenzen der Informationsfreiheit, deren Wurzeln bis in die Geburtsstunde der Vereinten Nationen zurückreichen, ab den späten 1950er Jahren eine entwicklungspolitische Debatte über die Rolle der Informationstechnologien im globalen Süden wurde. Hier übernahm die UNESCO rasch die Rolle des Agenda Setters. Im Space Age weckte gerade die Computer- und Satellitentechnik die Hoffnungen der Planer. So wurde der Kommunikations- und Nachrichtenverkehr vor allem im „Norden“ als Vehikel der Bildungspolitik und Demokratisierung gepriesen. Im „Süden“ erschien er indes zugleich als Motor des Nation Building und Werkzeug der Herrschaftssicherung. Zweitens wird daher die konfliktreiche Übersetzung westlicher Modernisierungstheorien in die konkrete entwicklungspolitische Praxis beschrieben und als Phase der schleichenden Desillusionierung und Revision des entwicklungspolitischen Kurses gelesen. Am Beispiel des Satellite Instructional Television Experiments (SITE) 1975 in Indien rücken die Dynamiken lokaler Aushandlungsprozesse in den Fokus. Drittens schließlich wird es um die Zuspitzung des Nord-Süd-Konflikts gehen, in dessen Zuge die aufstrebenden „Bündnisfreien Staaten“ die Frage nach der Ausgestaltung einer „Weltinformationsordnung“ in den 1970er Jahren zum Politikum erhoben. Sichtbarer Ausdruck des zunehmenden Antagonismus zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern, der sich in der MassenmedienDeklaration des Jahres 1978 manifestierte, war die Gründung eines unabhängigen Pools an Nachrichtenagenturen. Mitte der 1980er Jahre erreichte die Auseinandersetzung schließlich ihren Höhepunkt; die Eskalation spiegelte so zugleich die Dynamiken des globalen Kalten Krieges wider.

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Medien, Macht, Menschenrechte: der Diskurs um „Informationsfreiheit“ nach 1945 Mit der Durchsetzung des Leitbildes eines „free flow of ideas by word and image“, wie es 1945 in der Charta der UNESCO unter der Prämisse wechselseitiger Verständigung und Friedenssicherung verankert worden war, verbanden sich von Beginn an politische und ökonomische Interessen. Erste Anstrengungen zur Regulierung des Nachrichtenverkehrs in Kriegs- und Krisenzeiten reichen indes bereits bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Der Internationalismus der Zwischenkriegsära hob die Vereinbarungen zur Liberalisierung der Informationspolitik dann auf die Ebene des Völkerbundes. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, der die Probleme von Zensur, Propaganda und Falschmeldungen deutlich hatte hervortreten lassen, adressierten schließlich auch die Vereinten Nationen das Problem der „Informationsfreiheit“ als besonders dringlich.12 Für die Vereinigten Staaten, die bereits zu Kriegszeiten für eine Neuordnung der Informationsmärkte eingetreten waren, war die Durchsetzung der „Free Flow“-Doktrin Teil eines globalen New Deal. Der Versuch, die Nachrichtenwelt, die sich vorrangig in US-amerikanische und (west-)europäische Interessensphären teilte, neuerlich zu regulieren, um so einerseits politische Interessen durchzusetzen und andererseits die technologische und ökonomische Dominanz unter den Bedingungen eines „freien Marktes der Informationen“ auszuspielen, stand so der menschenrechtspolitischen Auseinandersetzung um „Informationsfreiheit“ nach dem Krieg Pate.13 Ein wichtiger Meilenstein der Debatte war die Genfer Konferenz zur Informationsfreiheit im April 1948. Carlos Peña Romulo, der später zum Präsidenten der UN-Generalversammlung aufsteigen sollte, unterzeichnete die von den Genfer Delegierten verabschiedete Grundsatzerklärung bereits mit den feierlichen Worten, dies sei nichts weniger als die „Magna Charta der Meinungsfreiheit“ und des „freien Denkens“.14 Die Delegierten erinnerten derweil an die Resolution der UN-Generalversammlung zwei Jahre zuvor: der Austausch und die Teilhabe an Informationen, also das Recht, diese zu verbreiten und zu rezipieren, sei „a fundamental human right 12 Zur Geschichte dieses Diskurses vgl. Homberg, Michael: Die Mass Media Declaration (1978). In: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. Herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert. www.geschichte-menschenrechte.de/die-mass-media-declaration1978/ (1.10.2018). 13 Vgl. Beyersdorf, Freedom; Borgwardt, Elizabeth: A New Deal for the World. America’s Vision for Human Rights. Cambridge 2005. 14 Freedom of information. Geneva conference seeks common ground. United Nations Bulletin, 15.4.1948. New York 1948. S. 338f.

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and […] the touchstone of all the freedoms to which the United Nations is consecrated“.15 Die Genfer Konferenz inspirierte nur wenig später die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), die „Informationsfreiheit“ als das Recht definierte, „über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“.16 In Zeiten des Kalten Krieges stand die Frage nach der ungehinderten Verbreitung von Nachrichten, dem Abbau der Zensur und der moralischen Verantwortung der Journalisten allerdings zugleich stets im Zeichen einer ideologischen Blockkonkurrenz, die sich in der wechselseitigen Anklage einer Einschränkung beziehungsweise Instrumentalisierung der Presse niederschlug. Die Londoner Times bemerkte: „the conference has resolved itself into an ideological showdown“.17 Für die Vertreter der großen westlichen Nachrichtenagenturen blieb die Free Flow-Doktrin dagegen in erster Linie ein ökonomisches Kalkül. Sie sahen in den zwischenstaatlichen Regulierungsbestrebungen empfindliche Angriffe auf die eigenen Monopole des Nachrichtenmarktes. Politische Bestrebungen verdächtigten sie daher in der Folge nur zu gerne der Zensur und Manipulation demokratischer Meinungsbildung.18 Der Ausbau der weltweiten Kommunikationsnetze und die Förderung der Informationsinfrastrukturen in der „Dritten Welt“ zählten zu den erklärten entwicklungspolitischen Zielen der Vereinten Nationen in den 1950er Jahren. Die UNESCO hatte im Rahmen der „Technical Needs Commission“ bereits 1947 eine Sektion zur Entwicklung der Massenmedien eingerichtet, die sich der praktischen Ausbildung von Journalisten und der Förderung von Medienanstalten in Europa, Lateinamerika und Asien widmete.19 Zu den ersten Aktionsprogrammen zählte der „Wiederaufbau“ des Pressewesens im Nachkriegseuropa. Nahezu gleichzeitig rückte auch die Stärkung der „Pressefreiheit“ in den Mitgliedsstaa15 Calling of an International Conference on Freedom of Information, 14.12.1946. Doc. A/RES/ 59(I). In: United Nations General Assembly Official Records. Res. adopted by the General Assembly during its resumed 1st Session. Vol. 2. 23.10.–15.12.1946. New York 1947. S. 95. UN Digital Library UNA (01)/R3; Vgl. Resolution No. 1 (Fundamental Principles). Final Act. Geneva, 22.4.1948. In: United Nations Conference on Freedom of Information. Geneva, Switzerland, 23.3.–21.4.1948. Report of the United States Delegates. Washington, D. C. 1948. S. 25. 16 Universal Declaration of Human Rights, 10.12.1948, Doc. A/RES/217(III) A. United Nations General Assembly Official Records, Res. adopted by the General Assembly during its 3rd Session. New York 1948. S. 71–78. Hier S. 75. 17 „U.N. and Freedom of Information“. In: The Times, 3.4.1948. S. 3. 18 Palmer, Michael: NWICO. Reuters’ Gerald Long versus UNESCO’s Seán MacBride. In: FrauMeigs [u.a.], NWICO. S. 43–55. 19 UNESCO Archives. Paris. 307 A 20/02. Mass communication – Technical Needs Commission (I). UNESCO Technical Needs Commission studies press, film and radio facilities of 17 countries, 11.8.1948. S. 1.

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ten des globalen Südens in den Fokus des Interesses. Die UN-Menschenrechtskommission und ihr Unterausschuss zur „Informations- und Pressefreiheit“ stellten ausgangs der 1940er Jahre zudem einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Entwicklung einzelner Länder und der Förderung der lokalen Medien her.20 Die ersten Ansätze einer internationalen Entwicklungspolitik nach dem Krieg bedeuteten keinen harten Bruch mit den Überzeugungen und Praktiken kolonialer Herrschaft, obschon sich das Modell der Entwicklungshilfe, unter dem Einfluss neuer Akteure und Interessen, bis in die 1970er Jahre grundlegend wandeln sollte.21 Eine klassische Meistererzählung der Forschung hat den Vereinigten Staaten die wegweisende Rolle des Stichwortgebers und Finanziers des entwicklungspolitischen Unternehmens zugeschrieben. Harry Trumans berühmte Regierungserklärung wurde dazu vielfach als Fanal der „great American mission“ gelesen. Die neuere Forschung deutete sie als „a pervasive belief that the modernization of ‚backward‘ societies could be catalyzed by relatively small amounts of technology, expertise, or capital“.22 Unbestritten erwies sich der Dualismus der Supermächte und die Dynamik der Dekolonisierung als Katalysator neuer Konzepte der Entwicklungspolitik.23 Doch ließe sich zugleich die Bedeutung der Technischen Mission der Vereinten Nationen betonen, in der die amerikanische Regierung zwar gleichsam bis zu 60 % des Kapitals stellte, grosso modo aber den Weg der internationalen Vereinbarungen gehen musste.24 Die UNESCO zeigte von Beginn an großes Interesse für die „informationellen“ Ungleichgewichte zwischen Ost und West sowie Nord und Süd. Bereits 1953 kritisierte eine Studie die anglo-amerikanische Dominanz auf dem globa-

20 UNESCO: Mass Media in the Developing Countries. A Unesco Report to the United Nations. Paris 1961. S. 7f. 21 Vgl. dazu allg. Unger, Corinna R.: International Development. A Postwar History. London 2018; Bose, Sugata: Instruments and Idioms of Colonial and National Development. India’s Historical Experience in Comparative Perspective. In: International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge. Hrsg. von Frederick Cooper u. Randall Packard. Berkeley 1997. S. 45–63. 22 Ekbladh, David: The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order. Princeton 2010. S. 109. Dabei verstand auch Truman das Programm als „cooperative enterprise in which all nations work together through the United Nations and its specialized agencies“; vgl. Truman, Harry S.: Inaugural Address. In: Department of State Bulletin 20 (30.1.1949). Nr. 500. S. 123–126. Hier S. 125. 23 Vgl. Unger, International, S. 12–14; Brendebach, UNESCO, S. 160. 24 Vgl. Webster, David: Development advisors in a time of Cold War and decolonization. UN Technical Assistance 1950–1959. In: Journal of Global History 19 (2011). Nr. 3. S. 249–272. Hier S. 252.

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len Nachrichtenmarkt.25 Dabei reflektierte die Kritik bis zu einem gewissen Grad auch die Mitgliedsstruktur der Pariser Behörde. Schon unter den Gründungsmitgliedern waren zahlreiche Länder des globalen Südens gewesen. Im Zuge der Dekolonisierung kamen bis in die 1970er Jahre viele weitere neu entstandene Staaten hinzu. Allein im Jahr 1960 wurden 17 afrikanische Staaten unabhängig, die binnen kürzester Zeit in die UNESCO eintraten. So stieg die Zahl der Mitglieder zwischen 1950 und 1960 von rund 60 auf 99. 1970 waren es gar 125 und 1980 schließlich 153 Mitgliedsnationen. Dabei adressierte die UNESCO ihre Mitglieder stets in mehreren Sprachen. Die Übersetzung des eigenen Wirkens war ein wichtiges Strukturprinzip der globalen Anstrengungen: Expertendelegationen, Publikationen und Radiosendungen richteten sich, wann immer möglich, unmittelbar an die einheimische Bevölkerung.26 Ausgangs der 1950er Jahre erhielt die Debatte um die Modernisierung der „Dritten Welt“ neuen Schwung. Ein Bericht der UNESCO an den Wirtschaftsund Sozialausschuss der Vereinten Nationen zeichnete 1957 ein dramatisches Bild: 60 % der Weltbevölkerung besäßen nur unzureichenden Zugang zu Informationen – zu Tageszeitungen, Radio- und Fernsehgeräten.27 Derweil war der „Kampf“ um die Entwicklung der „Dritte Welt“ unter dem Eindruck des Kalten Krieges schon lange zu einem Thema von geostrategischer Relevanz geworden. Der amerikanische Präsidentschaftsanwärter John F. Kennedy hatte Asien an der Schwelle der 1960er Jahre zum entscheidenden Schauplatz des anbrechenden Jahrzehnts erklärt.28 Als die Vereinten Nationen im gleichen Jahr die erste „Entwicklungsdekade“ ausriefen, stand den Experten in New York die Schlüsselrolle der neuen Kommunikationstechnologien klar vor Augen. 1962 konstatierte die UN-Generalversammlung einmal mehr, dass „70 Prozent der Weltbevölkerung keine ausreichende Informationsinfrastruktur besitzen und daher von der Inanspruchnahme eines ‚Rechts auf Information‘ ausgeschlossen“ seien.29 Im Kielwasser des „technologischen Wettrüstens“ etablierte sich daher die 25 Vgl. Williams, Francis: Transmitting World News. A Study of Telecommunications and the Press. Paris 1953. 26 McAnany, Emile G.: Saving the World. A Brief History of Communication for Development and Social Change. Urbana 2012. S. 35–38. 27 Vgl. United Nations Digital Archives. E/2947. UN ECOSOC, 23rd Session, Freedom of Information. Media of Information in Under-Developed Countries, 4.1.1957. S. 3f. 28 Vgl. The choice in Asia – Democratic development in India, Speech to the United States Senate, 25.3.1958. In: Kennedy, John F.: A Compilation of Statements and Speeches Made During His Service in the United States Senate and the House of Representatives. Washington, D. C. 1964. S. 591–608. 29 UN General Assembly Resolution 1778, 7.12.1962. In: Resolutions Adopted on the Reports of the 3rd committee. Hrsg. von den United Nations. New York 1963. S. 31f; vgl. Burnet, Mary: A UNESCO world enquiry. In: The UNESCO Courier 15 (1962). Nr. 5. S. 4–13.

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Computer- und Satellitentechnik schon bald als Heilsversprechen einer neuen Entwicklungspolitik. Die Vereinten Nationen traten zusehends als diplomatischer Akteur in Erscheinung. Dabei kam der „technischen Hilfe“ besondere Bedeutung zu. John H. Fried, leitender Justiziar der UN Technical Assistance Administration, verkündete in einem Memorandum an den Generaldirektor des Programms, Hugh Keenleyside, voller Stolz: „International technical assistance is a new form of diplomacy“.30 Die „Technical Assistance Mission“ der UNESCO, die der indische Entwicklungsökonom Malcolm Adiseshiah ab 1950 leitete, sollte die großen Pläne ins Werk setzen.31 So förderte die UNESCO in Zusammenarbeit mit der Weltbank, allen voran der Internationalen Entwicklungsbank (IBRD), zu Beginn vor allem „Big Science“.32 Im Zuge der Kritik an solchen Großvorhaben suchte Adiseshiah indes nach lokalen Lösungen. „Bildung für alle“ lautete das Credo. In den 1960er Jahren diskutierten drei Regionalkonferenzen die Rolle von Forschung und Technologie in Afrika, Asien und Lateinamerika.33 Ab der Mitte des Jahrzehnts standen die Maßnahmen unter dem Dach des „United Nations Development Programme“ (UNDP). Der Vorstoß der Vereinten Nationen auf dem Feld der Entwicklungskooperation beschnitt die Interessen der ehemaligen Kolonialmächte. Der kanadische Ökonom Benjamin Howard Higgins konstatierte so bereits 1955 eine ausgemachte Entwicklungskonkurrenz: „The job done by the colonial powers in the past can now be done by the United Nations and other foreign aid programs.“34 Für die Vereinten Nationen waren know-how und show-how zum Programm geworden. Hier spielten auch die praktische Förderung der Presse im globalen Süden und der Ausbau der Kommunikationsnetze eine zentrale Rolle. So avancier30 United Nations Archives (UNA), New York City. S-0441-1416-01. 330/01 Part A. Technical assistance – policy. 05.12.1950–08.08.1956. John H. E. Fried and Hugh Keenleyside, 15.1.1952. S. 4. Zum Programm der TAA vgl. auch Owen, David: The United Nations Program of Technical Assistance. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 270 (1950). S. 109–117. 31 Vgl. Adiseshiah, Malcolm S.: Let My Country Awake. The Human Role in Development. Thoughts on the Next Ten Years. Paris 1970. S. 125–133, 199–203. 32 Hier nahm die Gründung von Hochschulen und Forschungszentren und die Förderung des internationalen Expertenaustauschs eine zentrale Rolle ein. Die Gründung der Indian Institutes of Technology war ein Symbol dieser Politik. 33 Die „United Nations Conference on the Application of Science and Technology for the Benefit of the Less-Developed Areas“ (UNCSAT) kam 1963 in der Schweiz zusammen. Es folgten Konferenzen in Lagos (1964), in Santiago de Chile (1965) und in New Delhi (CASTASIA 1968). 34 Higgins, Benjamin Howard: Nationalism and Colonialism. Radio Address – Canadian Institute on Public Affairs Annual Conference, 17.8.1955. MIT Center for International Studies. Cambridge 1955. S. 3f.

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ten die Entwicklungsexperten, wie Daniel Speich-Chassé und Eva-Maria Muschik überzeugend nachgewiesen haben, zu Schlüsselakteuren der „global governance“. Dabei legitimierten sie als Agenda Setter ihr Handeln über ein Modell der scientific rationality, das – ganz im Sinne von James Fergusons „Entwicklungsmaschine“ – politische Fragen in technische Probleme übersetzte.35 Die 1950er und 1960er Jahre waren Dekaden radikaler Medienumbrüche und tiefgreifender technologischer Veränderungen. Die Satellitentechnik schien eine neue Ära der zivilen Kommunikation einzuläuten, und so eröffnete die Weltraumforschung auch dem Technikoptimismus der Entwicklungsexperten alsbald ungeahnte Räume. Nach dem „Sputnik-Schock“ 1957 erfasste das Wettrennen um den Weltraum die Konkurrenz um die orbitale Kommunikation. Wie Alexander C. T. Geppert eindrücklich gezeigt hat, bestimmten die „Zukunft in den Sternen“ und die „imaginäre Kolonisierung“ des „freien Weltalls“ die Vorstellungswelt des „Space Age“.36 Vor allem die Allbringung des ersten zivilen Kommunikationssatelliten „Telstar“ nährte dabei die Träume der Zeitgenossen. Auch die Modernisierungstheoretiker der ersten Stunde standen unter diesem Eindruck und maßen schon deshalb den Massenmedien eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der „Dritten Welt“ bei. Für sie waren die Medien zugleich eine fundamentale Bedingung ökonomischen Wachstums und ein zentrales Vehikel der sozialen Anpassung an Prozesse des politischen und kulturellen Wandels. Der Dreiklang einer technologischen, ökonomischen und sozialen Modernisierung prägte die in diesen Jahren besonders dominante US-amerikanische Theoriebildung, zu deren herausragenden Vertretern Daniel Lerner, W. W. Rostow, Everett M. Rogers, David McClelland, Lucian Pye und Wilbur Schramm zählten. Der Soziologe und Propaganda-Forscher Daniel Lerner postulierte in The Passing of Traditional Society (1958), das als Gründungsurkunde der Modernisierungstheorie beschrieben werden kann, eine statistische Korrelation zwischen der Mediendichte, das heißt der Zahl der Radiogeräte, Kinositze oder auch Zei35 Muschik, Eva-Maria: Managing the world. The United Nations, decolonization, and the strange triumph of state sovereignty in the 1950s and 1960s. In: Journal of Global History 13 (2018). Nr. 1. S. 121–144. Hier S. 125; vgl. Speich Chassé, Daniel: Der Blick vom Lake Success. Das Entwicklungsdenken der frühen UNO als „lokales Wissen“. In: Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit. Hrsg. von dems. u. Hubertus Büschel. Frankfurt a. M. 2009. S. 143–174; Speich Chassé, Daniel: Technical internationalism and the economic development at the founding moment of the UN System. In: Frey [u. a.], International Organizations, S. 23–45; Ferguson, James: The Anti-Politics Machine. Development, Depoliticization, and Bureaucratic Power. Cambridge 1990. 36 Geppert, Alexander C.T.: Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972. In: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft. Bd. 25: Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015. S. 218–250. Hier S. 218f., 221.

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tungsexemplare pro tausend Einwohner, und Variablen wie Bildung und Einkommen. Zugleich seien die Medien ein Transmissionsriemen des Modernisierungsparadigmas: „the pull of the West is mainly exerted through the mass media“.37 So seien die Massenmedien in der Arena der Weltpolitik zu einem bestimmenden Faktor geworden. Vor allem aber lege die Datenlage nahe, „that these information flows will interact with the distribution of power, wealth, status“. Lerners apodiktischer Schluss lautete daher: „no modern society functions efficiently without a developed system of mass media.“38 In gleicher Weise verwies auch der Ökonom W. W. Rostow in The Stages of Economic Growth 1960 auf die treibende Kraft der Medien.39 Lucian Pyes Kompendium Communication and Political Development versammelte drei Jahre später die zentralen Ergebnisse der Debatte, die sich auch in den Publikationen der UNESCO widerspiegeln. Dabei erwies sich auch der Kommunikationssoziologe Wilbur Schramm, der als Begründer des Institute of Communications Research an der University of Illinois in Urbana-Champaign ab 1947 und als leitender Direktor des gleichnamigen Instituts an der Stanford University ab 1955 heute zu den Gründungsvätern der Massenkommunikationsforschung gezählt wird, als prägende Stimme des Diskurses. Für Schramm spielten die Massenmedien eine elementare Rolle im Prozess des Nation Building in den Entwicklungsländern.40 Indem sie die Massen ansprachen, schienen sie zugleich einen der ärgsten Hemmschuhe bevölkerungsreicher Nationen zu lösen. Im Geiste der Modernisierungstheorie schloss er ökonomische und soziokulturelle Ziele der Bildungspolitik kurz: „education aims at the formation of a new person, with new horizons, new skills, new goals.“41 37 Lerner, Daniel: The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East. New York 1958. S. 200. 38 Lerner, Passing, S. 43–75, hier S. 55. Zu den Grundsätzen der Modernisierungstheorie vgl. allg. Engerman, David C. [u.a.] (Hrsg.): Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War. Cambridge 2003; Melkote, Srinivas Raj/Steeves, H. Leslie: Communication for Development. Theory and Practice for Empowerment and Social Justice. New Delhi 2015. S. 92f. 39 Vgl. Rostow, Walt W.: The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto. Cambridge 1960. S. 75–80. Rostow, später nationaler Sicherheitsberater unter Lyndon B. Johnson, „wanted to put ‚television sets in the thatch hutches of the world‘ to defeat both tradition and communism with the spectacle of consumption.“ Cullather, Nick: Miracles of modernization. The green revolution and the apotheosis of technology. In: Diplomatic History 28 (2004). Nr. 2. S. 227–254. Hier S. 231; vgl. Halberstam, David: The Best and the Brightest. New York 1972. S. 123. 40 Vgl. Schramm, Wilbur: Communication Development and the Development Process. In: Communications and Political Development. Hrsg. von Lucian W. Pye. Princeton 1963. S. 30–57. Hier S. 41, 52–57. 41 Schramm, Wilbur: Mass Media and National Development. Stanford/Paris 1964. S. 26.

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Nachdem in den Vereinten Nationen bereits 1953 erste Pläne zur Analyse des neuralgischen Zusammenhangs von Kommunikation und Entwicklung vorlagen, dauerte es bis 1960, bis die UNESCO drei Symposien zur Erörterung dieser Frage in Bangkok (im Januar 1960 für Südostasien), Santiago de Chile (im Februar 1961 für Lateinamerika) und Paris (im Januar 1962 für Afrika) veranstaltete. Auch Schramm, der bereits in die Vorbereitung der Tagungen involviert gewesen war, zählte zu den geladenen Experten. Im Jahr 1960 konzipierte er ein erstes Forschungsprogramm, das zentrale Probleme und Zielstellungen einer Entwicklungskommunikation adressierte. Diese reichten von der Alphabetisierung der Bevölkerung über die Ausbildung von Spezialisten im Bereich Management, Ingenieurswesen und Ökonomie bis hin zur Begleitung bildungspolitischer Maßnahmen durch Soziologen und Psychologen. Zwar seien dazu zu Beginn Fachleute aus dem Ausland unabdingbar, so Schramm, doch müsse rasch auch die einheimische Forschung einbezogen werden, um zu gewährleisten „that its media will contribute effectively to its national strength“.42 Schramms Zeilen strotzen vor Vertrauen in die Forschung und die Bedeutung einer zentralisierten, staatlichen Planung, das später auch sein berühmtes Werk Mass Media and National Development (1964) beseelen sollte.43 Darin schien er sich – speziell mit den 15 Direktiven gegen Ende des Buches – unmittelbar an die Regierungen zu richten. Sichtbarer Ausdruck des geradezu ansteckenden Entwicklungsoptimismus waren die Schlusszeilen: After so many pages spent analyzing the problems – the difficulties, the complexities, the things to be done – let us not lose sight of the essential challenge of the idea. How fortuitous, how almost miraculous it seems that, at this moment of greatest need for swift and widespread information in the developing countries, modern mass communication should be available to multiply information resources! It is hardly possible to imagine national economic and social development going on at its present pace without some modern information multiplier; and, indeed, without mass communication, probably the great freedom movements and national stirrings of the last few decades never would have come about at all.44

42 Schramm, Wilbur: A programme of research for mass media development. Paris 1960 (MC/ DEVLA/4). S. 7. 43 Die neuere Forschung hat auf den herausragenden Einfluss Schramms im System der UNESCO hingewiesen. Vgl. Brendebach, UNESCO, S. 160–162; UNESCO: Professional Training for Mass Communication. Paris 1965. S. 12f. Zu den Konferenzen vgl. überdies Developing mass media in Asia. Papers of Unesco meeting at Bangkok. Paris 1960 (MC.60/XVII.30/A); Mass media in developing countries. Paris 1961 (COM.67/XVII.33b/A); Developing information media in Africa. Press, radio, film, television. Paris 1962 (MC. 62/XVIII.37/A). 44 Schramm, Mass Media, S. 271; vgl. dazu McAnany, Saving the World, S. 24–27.

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Wie schon Lerner zuvor, beschwor auch Schramm die Massenmedien als universales Heilsversprechen, die er, gemäß der „Diffusionstheorie“, wie sie sein Schüler Everett M. Rogers in The Diffusion of Innovations (1962) vertreten hatte, nun in die neuen Länder zu exportieren gedachte. 1967 luden Schramm und Lerner ihre Kollegen an das 1960 vom US-Kongress zur Förderung des kulturellen Austauschs zwischen Asien und Nordamerika etablierte „East-West-Center“ nach Honolulu ein, um den Status quo der Beratungen kritisch zu evaluieren. Dabei betonte der Ökonom Max F. Millikan emphatisch: „Of all the technological changes which have been sweeping through the traditional societies of the underdeveloped world in the last decade […] the most fundamental and pervasive in their effects on human society have been the changes in communication.“45 Ohne zu stark von ihren Grundüberzeugungen abzuweichen, gaben Lerner und Schramm indes auch kritischen Stimmen Gehör, die sich nun immer klarer gegen den paternalistischen Gestus der amerikanischen Planer wandten. So erinnerte der indische Anthropologe S. C. Dube skeptisch daran, dass die Massenmedien bislang „a largely untried weapon in underdeveloped societies“ seien, und gab zu bedenken: „The developing countries do not have a clear image of modernity. Nostalgia for the past pulls them back powerfully toward tradition. Many of these countries have acquired national independence through struggles that were intensely anti-Western.“ Sein pakistanischer Kollege Inayatullah wurde sogar noch deutlicher. In Richtung Schramms bemerkte er, „that this new concept of development and modernization rests on shaky assumptions […] it shows remarkable ethnocentrism by equating modern [Western] society with paradise“.46 Als der Stern der Modernisierungstheorie zu sinken begann, stand auch das Modell der Entwicklungskommunikation zur Disposition. Innerhalb der UNESCO entzündete sich die Kritik vor allem an der schleppenden Umsetzung der Planungen, die, gerade im Fall der überdimensionierten Großvorhaben zur Förderung von Presse, Radio und Fernsehen in der „Dritten Welt“, durch die bürokratischen Mühlen der internationalen Vereinbarung mussten. Zugleich trug die bisweilen heikle Übersetzung der Vorhaben in die Praxis zu einer nachhaltigen Desillusionierung der Akteure und zur Diskreditierung ihrer Planungen bei. 45 Millikan, Max F.: The most fundamental technological change. In: Communication and Change in the Developing Countries. Hrsg. von Daniel Lerner u. Wilbur Schramm. Honolulu 1967. S. 3f. Hier S. 3. 46 Zur Kritik: Eisenstadt, Shmuel N.: The changing vision of modernization and development. In: Lerner/Schramm, Communication, S. 31–44, hier S. 38–42; Dube, Shyama C.: A note on communication in economic development. In: Lerner/Schramm, Communication, S. 92–97, hier S. 96; Inayatullah, Sohail: Towards a non-Western model of development. In: Lerner/ Schramm, Communication, S. 98–102, hier S. 100f.

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Zwischen dem Ende der 1960er und der Mitte der 1970er Jahre sponserte die UNESCO eine Reihe internationaler Tagungen, die zu einem Richtungswechsel beitrugen. Die bereits 1957 in Paris gegründete „International Association for Mass Communication Research“ (IAMCR) war ein Forum dieser neuen Richtung. Ab 1970 übernahm der britische Kommunikationswissenschaftler James D. Halloran, der Gründer und Direktor des „Centre for Mass Communication Research“ in Leicester, rasch das Ruder. Nur zwei Jahre später wurde er zum Präsidenten des Verbands gewählt.47 Zwei seiner Schüler, Philip Elliott und Peter Golding, kritisierten auf der Jahrestagung des britischen Soziologenverbands die Theorien von Schramm, Lerner und Rogers in Grund und Boden.48 Sie schlossen sich den Thesen der Dependenztheoretiker an, die – wie André Gunder Frank in seinem berühmten Essay Sociology of Development and Underdevelopment of Sociology (1967) – gerade in der Struktur der internationalen Entwicklungsmission die Ursache für die neue Abhängigkeit, die Probleme und den Rückstand der Entwicklungsländer erkannten. Der argentinische Entwicklungsökonom und Direktor der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) Raúl Prebisch, dessen Thesen in diesen Jahren zu einer wichtigen Inspirationsquelle der Dependenztheorie wurden, übersetzte derweil die Annahmen des lateinamerikanischen Strukturalismus – im Rahmen der UN und der Gruppe der 77 – in konkrete politische Konzepte der Globalsteuerung.49 Im Rahmen der UNESCO zogen Forscher wie Kaarle Nordenstreng, Armand Mattelart, aber auch Luis Ramiro Beltrán den Diskurs an sich und suchten den Schulterschluss von Wissenschaft und Politik. In Opposition gegen das überkommene Modell der Modernisierung50 etablierten sich die „Bündnisfreien Staaten“ als Sprachrohr der Staaten des globalen Südens im Rahmen des Nord-Süd-Konflikts. Sie hatten mit der Konferenz von Belgrad zu Beginn der 1960er Jahre die Bühne der Weltpolitik betreten und rasch den Kampf gegen Imperialismus und (Neo-)Kolonialismus zu ihrem Programm erhoben. Von den technokratischen Plänen und (macht-)politischen Interessen des Nordens emanzipierten sich die Staaten ausgangs des Jahrzehnts 47 International Association for Mass Communication Research: Past, Present, Future. A Collection of Papers and Letters from Some Members of the International Council. Leicester 1980. 48 Vgl. Elliott, Philip/Golding, Peter: Mass communication and social change. The imagery of development and the development of imagery. In: Sociology and Development. Hrsg. von Emanuel de Kadt u. Gavin Williams London 1974. S. 229–254. Hier S. 232–235. 49 Vgl. Kunkel, Globalisierung, S. 562. 50 Eine kritische Bilanz ziehen Schramm und Lerner Mitte der 1970er Jahre: Schramm/Lerner, Communication; Rogers, Everett M.: Communication and development. The passing of the dominant paradigm. In: Communication Research 3 (1976). Nr. 2. S. 213–240.

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in diesem Rahmen als eigenständige Stimme im Diskurs und erarbeiteten eine eigene politische Agenda, in der auch die Medienpolitik eine immer größere Rolle einnahm.51 An den zentralen Umschlagspunkten der Wissenszirkulation – im „Entwicklungszentrum“ der OECD oder auch im IAMCR, wo der Diskurs einer Normierung und Verwissenschaftlichung des Entwicklungswissens vorangetrieben wurde – waren nun Delegierte und Experten aus dem globalen Süden vertreten.52 Ihre Kritik eines westlichen Medien- und Kulturimperialismus stand erkennbar im Zeichen des Versuchs, eine umfassende politische, ökonomische und kulturelle Neuordnung der internationalen Beziehungen anzubahnen.

Das Fernsehen als „Fenster zur Welt“ und Medium der „technischen Hilfe“: „Globale Dörfer“ in Indien Im Rahmen der Vereinten Nationen war ab 1960 hitzig über die Ausgestaltung einer gemeinsamen Kommunikationspolitik gestritten worden. Noch im selben Jahr steckten UN und Internationale Fernmeldeunion (ITU) gemeinsam die politischen und technischen Ziele der kommenden Dekade ab. Mit der Gründung der Satellitenvereinigungen INTELSAT und INTERSPUTNIK verstetigte sich derweil die Systemkonkurrenz unter der Ägide des globalen Nordens. Eine Expertentagung der Vereinten Nationen sah sich vor diesem Hintergrund im Dezember 1965 in Paris genötigt, UNESCO-Generaldirektor René Maheu an das gemeinsame Ziel zu erinnern, die „Weltraumkommunikation im Interesse aller Völker“ zu nutzen. Kritisch merkte ein indischer Delegierter an, dass noch immer viele Staaten von eben dieser Kommunikation ausgeschlossen seien. Überdies gelte es im Blick zu behalten, dass die Kehrseite der Freiheitsdoktrin die ungefilterte Verbreitung von Propaganda bedeuten könne.53 Die „Bündnisfreien“ drangen 1968 entschieden auf die Wahrung „staatlicher Souveränität“ und eine Regulierung des Nachrichtenverkehrs, die im Kern dem ungleichen Zugang zu Nach51 Zur Rolle der „Bündnisfreien Staaten“ vgl. grundlegend Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik, 1927–1992. Berlin 2015. Hier insbes. S. 212–218. 52 Vgl. Schmelzer, Matthias: A club of the rich to help the poor? The OECD, „development“ and the hegemony of donor countries. In: Frey [u. a.], International Organizations, S. 171–195. 53 Zur indischen Position vgl. UNESCO: Communication in the Space Age. The Use of Satellites by the Mass Media. Amsterdam 1968. S. 123–128. Zur Tagung im Jahr 1965 vgl. UNESCO: Broadcasting from Space. Paris 1971. S. 15.

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richtennetzwerken und den Kartellen der großen westlichen Nachrichtenagenturen ein Ende bereiten sollte. Auf der 15. Generalkonferenz der UNESCO in Paris setzten sich die Delegierten dazu für eine „größere Ausgewogenheit“ im internationalen „Fluss von Bildnachrichten“ ein.54 Vor dem Hintergrund des „Outer Space Treaty“ von 1967 drängte es sie zu einer völkerrechtlichen Bestimmung der Rolle der Massenmedien. Die „Declaration of Guiding Principles for the Free Flow of Information, the Spread of Education and Greater Cultural Exchange“ vom 15. November 1972 war schließlich ein wichtiger Meilenstein in der Auseinandersetzung um eine globale Kommunikationsordnung. In Artikel 5 der so genannten „Satelliten-Deklaration“ gab die UNESCO das Ziel einer Stärkung des „Free Flow“ aus – „to ensure the widest possible dissemination, among the peoples of the world, of news of all countries, developed and developing alike.“55 Dabei kreiste die Debatte schnell um den vermeintlichen Gegensatz von „Informationsfreiheit“ und „Staatssouveränität“. Mit der Formel vom „freien und ausgewogenen Informationsfluss“ zeichnete sich hier ab der Mitte der 1970er Jahre ein Kompromiss ab. Doch blieb die Idee einer „Informationsordnung“ auch in der Folge ein besonders kontroverses Feld des entwicklungspolitischen Diskurses.56 Im Sturm dieser Debatten um die Ausgestaltung der Kommunikationspolitik begann eines der größten Experimente im Bereich der „technischen Hilfe“ in Indien. Im August 1975 hatte die indische Regierung – unter maßgeblicher Unterstützung der NASA – begonnen, ein Satellitennetz zu spannen, das die Idee des Bildungsfernsehens über die großen Metropolen hinaus insbesondere in die ländlichen Regionen des Landes bringen sollte. Das „Satellite Instructional Te54 Vgl. UNESCO, Broadcasting, S. 7–9; Breunig, Christian: Kommunikationspolitik der UNESCO. Dokumentation und Analyse der Jahre 1946–1987. Konstanz 1987. S. 70f. Auch die Verteilung der Funk-Frequenzen nach dem Windhundprinzip war hochgradig umstritten. Die Delegierten des globalen Südens beklagten diese am Rande der „World Administrative Radio Conferences for Space Telecommunications“ als neuen „Kolonialismus“. 55 Zum Konnex von „Free Flow“ und „Entwicklungskommunikation“ vgl. Naesselund, Gunnar: International Problems of Television via Satellite. In: UNESCO Courier 26,2 (1973). S. 21–23; Bohrmann, Hans [u.a.] (Hrsg.): Informationsfreiheit. Free Flow of Information. München 1979. S. 104–107. Hier S. 106; Legum, Colin/Cornwell, John: A Free and Balanced Flow. Lexington 1978. Vgl. zudem kritisch: Righter, Rosemary: Whose News? Politics, the Press and the Third World. New York 1978. Insbesondere die Idee der vorherigen Zustimmung („prior consent“) der Länder zur Verbreitung der zirkulierenden Medieninhalte erhitzte die Gemüter. 56 Vgl. Mansell, Robin: ICTs, discourse and knowledge societies. Implications for policy and practice. In: Frau-Meigs [u.a.], NWICO, S. 125–139, hier S. 125f. Melody, William H.: The role of communication in development planning. In: Perspectives in Communication Policy and Planning. Hrsg. von Syed A. Rahim u. John Middleton. Honolulu 1977. S. 24–41; Breunig, Kommunikationspolitik, S. 75–85.

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levision Experiment“ (SITE) erreichte in seinem knapp 12-monatigen Bestehen rund 2,8 Millionen Menschen in über 2.330 Dörfern: die lokalen Fernsehanstalten produzierten circa 1.350 Stunden, teils in fünf Sprachen, ein Viertel davon sowohl in Hindi als auch in Englisch. Für die Einrichtung der Hard- und Software veranschlagten die Experten etwa 3.300 „Mannjahre“. Der britische Physiker und Science-Fiction Autor Arthur C. Clarke, der zum Beraterstab des Projekts gehörte, nannte es „the greatest communications experiment in history“.57 SITE besaß eine lange Vorgeschichte. Schon Mitte der 1950er Jahre hatte die UNESCO ein Pilotvorhaben zur Verbreitung des Radioempfangs in der Bombay-Poona-Region gefördert. Dazu wurden in 150 Siedlungen Diskussionsgruppen eingerichtet, in denen auch und gerade über die „Entwicklung“ des Landes gesprochen werden sollte. Nach einer positiven Evaluierung hob man das Vorhaben anschließend auf die nationale Ebene. Einmal mehr spiegelten die Reports den überbordenden Enthusiasmus der ersten „Entwicklungsdekade“ wider. Schramm zitierte in Mass Media and National Development diese Begeisterung: Die Idee der ländlichen Foren sei, so die Planer, „a success beyond expectations“ gewesen. Die Foren seien ein Vehikel der Nationsbildung und der Demokratisierung des Landes, „an agent for transmission of knowledge“.58 Obschon nun aber bis Juni 1963 rund 10.000 Diskussionsgruppen entstanden, blieb das Ergebnis doch deutlich hinter den Zielvorgaben zurück. Die geplante Erschließung der ländlichen Regionen und der über 550.000 Kommunen erwies sich innerhalb des gesteckten Kostenvolumens rasch als illusorisch. Zudem erschwerte die mangelnde Ausbildung der lokalen Ansprechpartner die Durchführung des Projekts. Hinzu kamen diverse technische und logistische Schwierigkeiten, die die Ziele der Planer in weite Ferne rücken ließen. Nach ermutigendem Beginn wurde die Idee so ausgangs der 1960er Jahre still und heimlich begraben. Das gleiche Schicksal ereilte ein Vorhaben, das 1960 maßgeblich von der Ford Foundation und All India Radio vorangetrieben worden war und Fern-

57 Vgl. Pal, Yash: A visitor to the village. In: Bulletin of the Atomic Scientists 33 (1977). Nr. 1. S. 55; vgl. Agrawal, Binod C: Television Comes to Village. An Evaluation of SITE. Bangalore 1978. S. 1–8; Mody, Bella: Lessons from the Indian Satellite Experiment. In: Educational Broadcasting International 11 (1978). Nr. 3. S. 117–120. 58 Mathur, Jagdish Chandra/Neurath, Paul: An Indian Experiment in Farm Radio Forums. Paris 1959. S. 101, 105; UNESCO: Radio Broadcasting Serves Rural Development. Paris 1965. S. 8f.; Schramm, Mass Media, S. 153f.; vgl. Pavarala, Vinod/Malik, Kanchan K.: Other Voices. The Struggle for Community Radio in India. New Delhi 2007. S. 90–93. Zur Bedeutung der Medien im Prozess der Nationsbildung vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 2006. S. 32–36.

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sehen in die Klassenräume der lokalen Schulen bringen sollte. Auch hier gestaltete sich die Umsetzung als schwierig.59

Abb. 1: Times of India, 23.7.1972. S. A1. | Abb. 2: Times of India, 22.4.1975. S. 1.

Nichtsdestoweniger knüpften sich große Erwartungen an die Verbreitung der neuen Technik. Das Fernsehen erschien so als „Fenster zur Welt“ und Medium des „globalen Dorfs“, wie es der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1960er Jahren beschrieben hatte. In der Times of India war bereits von einer „TV-Explosion“ zu lesen, die dem gesamten Land einen Innovationsschub zu geben versprach.60 Ein Soziologe kommentierte euphorisch: „Television could prove to be one of the greatest aids to progress and development in India.“61 Neben den Vereinigten Staaten warben daher auch die UdSSR um Indien. Die Förderung eines indischen Wettersatelliten durch Moskau stellte das Satellitenprogramm indes 1975 in den Verdacht, primär der militärischen Nutzung von Raum- und Raketentechnik zu dienen. So schieden sich auch in New Delhi rasch die Geister an den kostspieligen Experimenten, die die indische Presse vor dem Hintergrund der desaströsen Haushaltslage der 1960er und 1970er Jahre nur mehr mit ostentativem Zynismus quittierte. 59 Vgl. Kumar, Narenda/Chandiram, Jai: Educational Television in India. New Delhi 1967. S. 9–13; vgl. Rockefeller Archive Center (RAC). Sleepy Hollow, NY. Ford Foundation Records. FA739A. Box 70. TV goes to school in Delhi. Ford Foundation Program Letter, 8.5.1962; FA739A. Box 203. School ztelevision in Delhi 1968. 60 The magic box? In: Times of India, 21.9.1975. S. 8; Teacher in the sky. In: Times of India, 10.7.1975. S. 6; Television. The impending explosion. In: Times of India, 23.7.1972. S. A1; vgl. überdies allg. B. D. Dhawan: Development of television in India. Retrospect and prospect. Paper presented at the Round Table Discussion on Indian Television. A Challenge for Change, 12.4.1973. Centre for Development of Instructional Technology. New Delhi, LTC Files, Land Tenure Center Library, University of Wisconsin, USA. S. 1. 61 Kapadia, Coomi: Radio and Television in India. Boston University. Master’s Thesis. Boston 1970. S. 81.

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Vikram Sarabhai, der Direktor des 1962 gegründeten Indischen Nationalkomitees zur Weltraumforschung (INCOSPAR), und der Physiker und Computerpionier Homi J. Bhabha, der die indischen Belange über die Grenzen der Scientific Community hinaus zu vertreten verstand, waren derweil darum bemüht, die Förderung der Satellitentechnik spätestens nach dem chinesisch-indischen Grenzkrieg 1962 und den ersten chinesischen Atomtests 1964/65 zu einer Frage der nationalen Sicherheit zu erklären. Sie erhoben die technologische Entwicklung zur Staatsräson. 1968 betonte Sarabhai vor den Delegierten der Vereinten Nationen die revolutionäre Bedeutung der neuen Technik: „The question has often been asked: ‚Can one afford to undertake space research?‘ But I’m sure there are many here like myself, who will ask: can anyone afford to ignore the applications of space research?“62 Ein Jahr später begann die indische Raumfahrtbehörde (ISRO) ihre Arbeit; 1972 wurde sie Teil des neu gegründeten nationalen Raumfahrtministeriums (DOS). 1973 schloss sich Indien dem Konsortium INTELSAT an.63 In Sarabhais Strategiepapier A Profile for the Decade avancierte die Förderung der Kommunikationspolitik ausgangs der 1960er zu einem Kalkül des Kalten Krieges.64 1967 gab es lediglich in Delhi eine Station zur Fernsehübertragung. Die Planungen für einen indischen Satelliten (INSAT) steckten in den Kinderschuhen. Mit der Investition in Satellitenkommunikation unterstrich die indische Regierung nun ihren Anspruch auf eine Führungsrolle in der afro-asiatischen Region. Nach einer ersten Verständigung zwischen den USA und Indien 1962/63 unterzeichneten ISRO und NASA am 18. September 1969 ein Abkommen über SITE.65 Im März 1970 berichtete Sarabhai auf der landesweiten „Conference on Electronics“ in Bombay von den Plänen, die technologische Vorrangstellung Indiens auszubauen.66 Die Satellitenexperimente waren Teil eines groß angelegten Förderprogramms der Industrie. So betrauten die Ingenieure der indischen 62 Vgl. Practical benefits of space exploration. A digest of papers presented at the UN Conference on the Exploration and Peaceful Uses of Outer Space, Vienna 1968. New York 1969. S. 1. 63 Vgl. Snow, Marcellus S.: International Commercial Satellite Communications. New York 1976. S. 115–117. 64 Atomic Energy Commission: Atomic Energy and Space Research. A Profile for the Decade 1970–80. Bombay 1970. S. 27–40; vgl. dazu kritisch Parthasarathi, Ashok: Technology at the Core. New Delhi 2008. S. 140–142. 65 Krige, John [u. a.]: NASA in the World. Fifty Years of International Collaboration in Space. New York 2013. S. 211–248. Hier S. 235; zur Planung vgl. überdies National Archives of India, New Delhi. Prime Minister Office. File No. 17/1433/1973 PMS. Regarding selection of village clusters for SITE (1973). 66 Sarabhai, Vikram A. [u.a.]: INSAT. A national satellite for television and telecommunication. In: Proceedings of National Conference on Electronics. Bombay 1970. S. 487–499; vgl. auch ders.: Television for Development. New Delhi 1969. S. 1–13.

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Raumfahrtbehörde etwa bis 1972 die Electronics Corporation of India Limited (ECIL) mit der Herstellung der gesamten Hardware des Versuchs. Für die Vereinigten Staaten war die neue Technik gleichsam von elementarer geostrategischer Bedeutung.67 Die Kommunikationssatelliten Echo, Telstar und Relay waren globale „Botschafter“. Firmen wie AT&T oder COMSAT wurden Nutznießer des Booms. Arthur C. Clarke stellte nachdrücklich die Bedeutung der Bildmedien in Zeiten des Kalten Krieges heraus: Living as I do in the Far East, I am constantly reminded of the struggle between the Western World and the USSR for the uncommitted millions of Asia. The printed word plays only a small part in this battle for the minds of largely illiterate populations, and even radio is limited in range and impact. But when line-of-sight TV transmissions become possible from satellites directly overhead, the propaganda effect may be decisive [and] […] the impact upon the peoples of Asia and Africa may be overwhelming. It may well determine whether Russian or English is the main language of the future. The TV satellite is mightier than the ICBM [inter-continental ballistic missile, M.H.].68

Die Förderung ziviler Kommunikationstechnologien in Indien stand so erkennbar im Dienste der Eindämmungspolitik.69 Doch ging das amerikanische Interesse zugleich deutlich darüber hinaus. Im Mai 1966 umriss NASA-Administrator James E. Webb gegenüber U. Alexis Johnson, dem Under Secretary of State im US-Außenministerium, die vielgestaltigen Ziele des Engagements: India could learn […] new technological and management approaches to education and to the uses of informational media to weld together a nation-state. The U. S. would, in turn, learn more about the Indians and their most pressing problems. […] India would, on its own initiative and with its own resources, begin the accelerated development of a modern electronics industry. This „bootstrapping“ operation would materially raise India’s technological base and contribute thereby to the development of other, similar industries. Some Indian energies might also be diverted from concern with nuclear weapons development, the more so perhaps as the success of the experiment contributed to India’s prestige in Asia. The posture of the U. S. would also be improved through a generous demonstration of its willingness to share the benefit of advanced space technology with underdevel-

67 Vgl. Slotten, Hugh R.: Satellite communications, globalization and the Cold War. In: Technology and Culture 43 (2002). Nr. 2. S. 315–350; Whalen, David J.: The Origins of Satellite Communications 1945–1965. Washington D. C. 2002. 68 Clarke, Arthur C.: The Next Ten Years in Space, 1959–1969, Staff report of the Select Committee on Astronautics and Space Exploration, United States. Congress. House. Washington D. C. 1959. S. 32. 69 Vgl. Krige [u.a.], NASA, S. 237; vgl. dazu allg. National Archives and Records Administration (NARA), College Park, Maryland. RG 255. Entry No. UD-13W 59. Box 1–2.

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oped nations. […] Even should it prove infeasible in the end, both we and the Indians could not fail to have profited by the intimacy of our cooperation in a joint technological venture.70

Arnold W. Frutkin, leitender Angestellter und späterer Direktor des Büros für Internationale Angelegenheiten der NASA, war in der Folge bemüht, die Bildungs- und Kommunikationspolitik zugleich als Werkzeug zur Lösung drängender Probleme – allen voran der „Hungerkrise“ und der Bevölkerungsexplosion – zu bewerben: „the great social problems confronting the government of India, including population control and agricultural productivity, can be attacked only through education and communication directed to education.“71 Tatsächlich testete man dazu ab 1967 ein TV-Programm, Krishi Darshan, das – ausgehend von Delhi – die Modernisierung der Landwirtschaft, insbesondere in ländlichen Regionen, voranbringen sollte. Am 30. April 1970 warb Frutkin im amerikanischen Kongress dann einmal mehr für die Idee des Bildungs-Fernsehens. Indien sei anderen Entwicklungsländern wie Brasilien ein leuchtendes Vorbild „in an increasingly technological world“72. Freilich besaß der amerikanische Vorstoß eine modernisierungstheoretische Schlagseite. Für Wernher von Braun, den vormaligen Direktor des Planungsbüros der NASA und Technischen Leiter des Luft- und Raumfahrtkonzerns Fairchild Industries, war die Verbreitung der neuen Kommunikationstechnologien das Vehikel einer neuerlichen Zivilisierungsmission. In neokolonialem Duktus brachte das Fernsehen, so Braun, „Erleuchtung“ in die „dunklen Winkel“ der Erde.73 Auch die Vereinten Nationen zeichneten die Vorzüge des indischen Modellversuchs in hellen Farben:

70 NASA History Office (NASA HQ). Historical Reference Collection. Washington D. C. Folder India-U.S. Relations. Record No. 14639. James E. Webb, NASA Administrator, an U. Alexis Johnson, Deputy Under Secretary for Political Affairs, Department of State, 19.5.1966. S. 2f.; vgl. dazu des Weiteren: Folder India – Space. Record No. 14638. 71 Frutkin, Arnold W.: Direct/community broadcast projects using space satellites. In: Journal of Space Law 3 (1975). Nr. 1. S. 17–24. Hier S. 18. 72 United States. Congress. House. Committee on Foreign Affairs. Foreign policy implications of satellite communications. Hearings before the Subcommittee on National Security Policy and Scientific Developments, 91st Congress, 2nd Session. Washington D. C. 1970. S. 112–135. Hier S. 117. Die Experimente seien „one of those widely-sought but rarely-grasped opportunities to use modern technology in a developing country so as to leapfrog historical development stages.“ NASA HQ. Folder India – SITE (1/2). Record No. 14641. Arnold W. Frutkin: The India-U.S. satellite broadcasting experiment. S. 2. 73 Vgl. Braun, Wernher von: Lighting up Earth’s dark corners with – TV from the sky. In: Popular Science 206 (1975). Nr. 3. S. 70–73, 143f.

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SITE can be considered a pace-setter and fore-runner of satellite television systems particularly of those meant for development. It is an example of technological and psychological emancipation of the developing world. Its most important element was the commitment and dedication of all people and organizations involved to the one overriding goal of rural development in India.74

Yash Pal, der Direktor des Space Applications Center in Ahmedabad, erinnerte 1975 an die politische Bedeutung des Experiments: „Since we have got into this technology with a social purpose in mind, many of our engineers realize that technology is not value-free.“ Im lokalen wie globalen Maßstab seien die „informationellen“ Ungleichgewichte zwischen Arm und Reich allgegenwärtig. Die Satellitenkommunikation stelle eines der Instrumente dar „which can help to decentralize communication, at the same time leaving the possibility of interaction with the country or the world […] there is a new atmosphere of hope […] that even now action is infectious.“75 Der Überschwall der Planer verstärkte gleichzeitig den Argwohn. Dieser richtete sich zum einen gegen die einseitige Konzentration auf prestigeträchtige Großvorhaben im Bereich der Hochtechnologie. Der britische Ökonom E. F. Schumacher forderte 1973 mit seinem Buch Small is beautiful eine radikale Abkehr vom Gigantismus der ersten „Entwicklungsdekade“; auch im Bereich der Kommunikationspolitik erregte die Frage nach Kosten und Nutzen von „big media“ und „little media“ große Aufmerksamkeit.76 Zum anderen rückten die Motive der Planungsexperten in den Fokus. Im Rahmen eines Symposiums des In-

74 UNA. S-0442-0414-02. Practical applications of space technology. SITE Winter School, India, 1976. PO 352 (14); UN Library, New York City. United Nations, General Assembly. Doc. No. A/AC.105/177. Committee on the Peaceful Uses of Outer Space. Report on the SITE Winter School, 2.12.1976. S. 13; vgl. Satellite Instructional Television Experiment. SITE Winter School, 16.1.–28.1.1976. Ahmedabad 1977. S. 3. Eine Broschüre der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) warb, die neue „space age technology […] can do the job faster, less expensively, and with fewer undesirable side-effects. As in the case of India, satellite technology was the only feasible way.“ USAID: AIDSAT – Space Age Technology for Development. Washington D. C. 1976. S. 7. 75 Pal, Yash [u.a.]: Some experiences in preparing for a satellite television experiment for rural India [and discussion]. In: Proceedings of the Royal Society of London. Series A. Mathematical and Physical Sciences („A Discussion on the Introduction of Satellites into Education Systems“) 345 (1975). Nr. 1643. S. 437–447. Hier S. 445f. 76 Schumacher, Ernst Friedrich: Small is Beautiful. New York 1973. Zur Adaption der Debatte im Feld der Entwicklungskommunikation vgl. Schramm, Wilbur: Big Media, Little Media. A Report to the Agency for International Development. Stanford 1973. Schramms Reports erschienen 1977 als Buch, vgl. Small is beautiful. In: Times of India, 11.6.1978. S. 10. Zur Kritik des Ansatzes der „Appropriate technology“ vgl. Rybczynski, Witold: Paper Heroes. Garden City 1980.

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ternational Broadcast Institute wurde 1970 massive Kritik an einer zusehends als rücksichtslos beschriebenen Kommunikationspolitik der Industrieländer laut.77 Der globale Nachrichtenverkehr erschien den Teilnehmern als „Einbahnstraße“. Im Mai 1973 kritisierte der finnische Premier, Urho Kekkonen, in seiner Rede zum „International Flow of Television Programmes“: Globally the flow of information between the states – not least the material pumped out by television – is to a very great extent a one-way, unbalanced traffic, and in no way possesses the depth and range which the principles of freedom of speech require. […] The developing countries are at the mercy of informational export by the industrialized Western countries […] on the international arena there is a state of affairs called communication imperialism.78

In diesem Augenblick standen sich Anwälte und Kritiker des entwicklungspolitischen Kurses unversöhnlich gegenüber. Nur drei Monate vor Kekkonens Rede hatten Journalisten, Ökonomen und Ingenieure im Rahmen eines Seminars von All India Radio das Medium noch als Heilsbringer der politischen und sozialen Modernisierung des Landes beschworen: „Television must be used in the development process as an instrument of social change and national cohesion unhesitatingly upholding progressive values and involving the community in a free dialogue. Indian TV has to shun the elitist approach and consumer value system and evolve a true national model.“79 Nachdem der Modellversuch „in an era of optimism about the power of the mass media“ ersonnen worden war, mehrten sich nun, da er unmittelbar bevorstand, die skeptischen Stimmen. Dies verstärkte sich sogar noch, als auch die Grenzen des Vorhabens immer deutlicher wurden, wie die amerikanische Soziologin Bella Mody, die 1975 die Versuche begleitete, zu Protokoll gab. Das Gros der über 2.330 TV-Apparate war in Schulen angeschlossen, wo allmorgendlich ein 22 ½-minütiges Bildungsprogramm zu sehen war. In vier Intervallen produzierte die staatseigene Firma Doordarshan in ihren Studios in Delhi, Cuttack und Hyderabad zudem ein buntes Programm, das vor allem aus Unterhaltungssendungen bestand. Jeden Abend saßen zu Beginn rund 300 Personen vor den Geräten, davon durchschnittlich 30 % Kinder, 50 % männli-

77 Vgl. Morgan, Roger P.: The New Communications Technology and its Social Implications. Report of a Symposium of the International Broadcast Institute at Ditchley Park, November 1970. Oxfordshire 1971. S. 30–33, 44–47. 78 Vgl. Nordenstreng, Kaarle/Varis, Tapio: Television Traffic – a One-Way Street?. Paris 1974. S. 43–45. Hier S. 44. 79 Masani, Mehra: Broadcasting and the People. New Delhi 1976. S. 82; vgl. Rao, B. S. S.: Television for Rural Revelopment. New Delhi 1992. S. 61–93.

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che und 20 % weibliche Erwachsene, größtenteils aus der Landbevölkerung.80 In den Metropolen war der Andrang sogar so groß, dass ein NASA-Verantwortlicher am 3. August 1975 notierte: „Hyderabad, 5000 viewers – required police crowd control.“81 Nach wenigen Wochen sank die Zahl indes beharrlich, doch blieben es noch immer beachtliche 100 Personen pro Station.

Abb. 3: Villagers Curiously Watching TV Programme During SITE. © ISRO 2017. URL: https:// www.isro.gov.in/space-applications-centre-celebrates-ruby-year-of-site (1.10.2018).

In der Praxis ergaben sich derweil zahlreiche Probleme: So waren zu Beginn des Versuchs lediglich 70 % der Geräte einsatzbereit, da der Monsun den Expertenteams die Zufahrtswege zu den Zielregionen verschlossen hatte. Immer wieder brach die Stromversorgung zusammen. Hinzu kamen defekte Receiver. Das Satellitensignal indes erwies sich als ausgesprochen stabil. Schwieriger gestaltete sich allerdings die inhaltliche Konzeption des Programms: gegen das erklärte Ziel der Entwicklungsplaner konzipierte das Doordarshan-Team – nicht zuletzt angesichts des immensen Produktionsdrucks – das Fernsehen weniger 80 Vgl. Mody, Bella: Programming for SITE. In: Journal of Communication 29 (1979). Nr. 4. S. 90–98. Hier S. 94–97; Mody, Lessons, S. 118f.; vgl. überdies die UNESCO-Reports von Chander, Romesh/Karnik, Kiran: Planning for Satellite Broadcasting. The Indian Instructional Television Experiment. Paris 1976. 81 Galloway, Howard L.: Satellite Instructional Television Experiment (SITE). Reports from the NASA resident representative in India. Maryland 1976. S. 2.

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als Bildungs- denn primär als Unterhaltungsmedium. Indem die Oberschicht, die hier ersatzweise den Gang in die urbanen Kinos antreten konnte, indes nun schon bald den Darbietungen fernblieb, verlor sich der zugedachte integrative Charakter der TV-Experimente. Nur unzureichend adressierten die Planer die Landbevölkerung, deren lokal gewachsene sprachliche und kulturelle Netzwerke sich gegenüber den nationalen Planspielen als durchaus widerständig erwiesen. So konterkarierte das Vertrauen in lokale Würdenträger bisweilen die avisierte demokratisierende Wirkung der Mission. Schließlich zensierte das von Indira Gandhi kurz zuvor ausgerufene Notstandsregime die politische Berichterstattung. All dies lehrte, so die Kritiker, zu bedenken, „that efforts to transform the individual without changing his environment may ultimately boomerang if a wise communication strategy is not evolved. No village is a tabula rasa.“82 Insgeheim schien sich der nach außen getragene Optimismus der Entwicklungsexperten ohnehin bereits an den Realitäten der Entwicklungskooperation zerschlissen zu haben. Schramm, der 1967 in Communication and Change in the Developing Countries noch das Lied der Modernisierung gesungen und in seinen Reports an das USAID-Programm die Förderung neuer Kommunikationsvorhaben im globalen Süden hervorgehoben hatte,83 schien kurz nach dem Ende von SITE nachhaltig desillusioniert; als er der Ford Foundation schließlich von seiner einmonatigen Forschungsreise nach Indien berichtete, bat er David M. Davis, den Leiter des Kommunikationsbüros der Stiftung, sogar eindringlich darum, sein Memorandum „vertraulich“ zu behandeln, um kein diplomatisches Fiasko zu riskieren: „I hope you will protect me and all of us from letting this document fall into the hands of or be quoted to Indians, some of whom might be very much offended by it.“84 Bereits Schramms erste Zeilen verraten den Kulturschock, den er bei seiner Einreise erlebte, und auch in der Folge sparte das Memorandum kaum an Kritik. Zwar sei das Vorhaben in technischer Hinsicht 82 Eapen, K. E.: Social impacts of television on Indian villages. Two case studies. In: Institutional Exploration in Communication Technology. Hrsg. von Godwin C. Chu [u.a.]. Honolulu 1978. S. 89–108. Hier S. 108. 83 Schramm, Wilbur/Nelson, Lyle: Communication Satellites for Education and Development. The Case of India. Prepared for Agency for International Development. Washington D. C. 1968. S. 15–18. Ein positives Echo vermittelte auch der Band von Schramm, Wilbur [u.a.] (Hrsg.): The New Media. Memo to Educational Planners. Paris 1967. 84 RAC. Ford Foundation Records. FA739A. Box 684. Reports 013203. A month in India, 3.12.1976. S. 5–7, 21–23. Zur Agenda der Ford Foundation in Indien vgl. allg. Sackley, Nicole: Foundation in the field. The Ford Foundation New Delhi Office and the construction of development knowledge, 1951–1970. In: American Foundations and the Coproduction of World Order in the Twentieth Century. Hrsg. von Ulrich Herbert u. Jörn Leonhard. Göttingen 2012. S. 232–260.

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„a shining example for all developing countries“. Und es sei auch besonders ermutigend, dass ein Entwicklungsland wie Indien ein solches Vorhaben „managen“ könne: „the work got done on time. SITE went on the air on schedule, and enough programs were always in the can to keep it going.“ Die sozial- und kulturpolitische Dimension des Modellversuchs aber sei zu lange vergessen worden. Ein Team aus Soziologen und Anthropologen, das SITE begleitete, bemühe sich zwar redlich, doch arbeite – zumal mangels Routine – kaum produktiv zusammen, und auch das Beratungskomitee, das die Forscher anleiten und ihre Ergebnisse koordinieren sollte, sei eher Teil des Problems als der Lösung: „each meeting was apparently like a war […] With the dubious aid of that committee on the survey, those youngsters in SITE put together the SITE research package. That they got as much out of it as they did is at least as remarkable as any of the miracles in the Bible.“ So nehme es kaum Wunder, dass die Ergebnisse der Unternehmung hinter den Zielen zurückblieben: […] the results will show a certain amount of learning and attitudinal effect, not much behavioral effect. How could it? These people gathered in front of a distant rectangle of light to watch a half hour or so of television each night bearing on some better way to farm or keep well or limit their families. Nothing was built around that – no planned discussion, no expert consultation on the heels of the program, no change in the support structure, no loosening of the iron grip on land or resources, to enable them to make a change even if they wanted to.

In die gleiche Kerbe stieß der indische Bildungs- und Kommunikationsexperte K. E. Eapen. Er monierte „many avoidable errors in program planning, production, distribution, and evaluation“. Für Eapen bewies der Versuch vor allem die schwer zu berechnenden Eigendynamiken eines dergestaltigen Kommunikationsexperiments: The assumption that a professionally competent team of communicators could effectively put across messages, if only necessary technology were at their disposal, did not prove true on the touchstone of SITE. […] SITE exploded the myth that facilities, if made available, will be used, or that they will be used in the way that is intended. When new media are introduced, they appear to fit into existing communication and behavioral patterns rather than radically altering them.85

Wie hier, so zerbrachen die großen, technokratischen Träume der Experten in Nord und Süd nicht selten an der Praxis. Nach einem Jahr zerschlugen sich so auch die Pläne, das indische Modellvorhaben auf die nationale Ebene auszuweiten. Dies lag vor allem an ökonomischen Planspielen. Der Einsatz kommerzi85 Eapen, K. E.: The cultural component of SITE. In: Journal of Communication 29 (1979). Nr. 4. S. 106–113. Hier S. 112.

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eller Satelliten sollte nach Maßgabe der amerikanischen Planer in erster Linie Geld in die Kassen der heimischen Kommunikationsunternehmen wie Ford Aerospace spülen.86 Mit der Gründung einer Agency for International Development Satellite Demonstration (AIDSAT) suchten die USA gleichzeitig die Reichweite ihres Engagements im globalen Süden zu vergrößern.87 Nur wenige Projekte, wie die Implementierung eines stärker partizipatorisch angelegten, lokal produzierten Fernsehprogramms in der Provinz Kheda, hatten länger Bestand.88 In das wachsende Unbehagen an der Umsetzung solcher Vorhaben mischte sich daher in den 1970er Jahren eine immer drastischere Kritik an den Grundannahmen des Kurses der ersten „Entwicklungsdekade“. Zum Jahreswechsel 1977 wies diese Kritik bereits über den engen Zirkel der Experten hinaus. Für die Regierung Gandhis, die den Ausbau der landesweiten Kommunikationsnetze in die Dienste von Kontrolle und Überwachung zu stellen und zugleich die niedrigen Popularitätswerte der Kongresspartei zu steigern suchte, war das übereilte Ende des Modellversuchs ein harter Schlag. Die indische Planungskommission bezeichnete SITE vor dem Hintergrund der immensen sozialen und kulturellen Erwartungen als „failure […] as total as it could possibly be“.89 Dies zeigte, wie rasch die Träume einer politischen und kulturellen Erneuerung des Landes zuvor gen Himmel geschossen waren. Im Spiegel der Auseinandersetzung um die Free Flow-Doktrin markierte der Feldversuch gleichwohl einen Meilenstein. Die Satellitentechnik besaß das Potential, den globalen Süden an die audiovisuellen „Informationsnetze“ anzuschließen und ihm zugleich perspektivisch eine „Stimme“ im Diskurs zu verlei86 NASA HRC. Oral History Transcript, Arnold W. Frutkin, interviewed by Rebecca Wright, 11.1.2002. S. 21–25; vgl. World-wide space activities. Report prepared for the Subcommittee on Space Science and Applications of the Committee on Science and Technology. U. S. House of Representatives, 95th Congress, 1st Session. Washington D. C. 1977. S. 403f. Harsche Kritik an diesem Ende des Modellexperiments kam aus dem globalen Süden. Brian Murphy, Berichterstatter des Inter Press Service – einer Nachrichtenkooperative des Nord-Süd-Dialogs – gab der Kritik eine Stimme: The World Wired Up. Unscrambling the New Communications Puzzle. London 1983. S. 98–123. 87 Vgl. dazu: Ferguson, Stewart: The Implications in Satellite Television for Social and Political Change in the Third World. Indiana University. Dissertation. Indiana 1977. S. 158–175. 88 Vgl. Thomas, Pradip Ninan: The Political Economy of Communications in India. New Delhi 2010. S. 67; Agrawal, Binod C. [u.a.] (Hrsg.): Communication Research for Development. The ISRO Experience. Ahmedabad 1986; Bhatia, B. S./Karnik, K. S. (Hrsg.): The Kheda Communications Project. Ahmedabad 1989. S. 2f. Hier stand die Idee des lokalen „empowerments“ deutlich im Vordergrund. Das Vorhaben, das 1985 den IPDC-UNESCO „Prize for Rural Communication“ erhielt, überdauerte von 1975 bis 1990. 89 Chander, Romesh: The SITE Experience. Paris 1983. S. 50, 55–58. Zur Einordnung der Krise des Entwicklungsparadigmas vgl. allg. Sparks, Colin: Globalization, Development and Mass Media. London 2007. S. 38–42.

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hen. Zudem erlaubte SITE den indischen Journalisten – bereits vor den Starts der Satelliten INSAT-1A und INSAT-1B in den Jahren 1982/83 – eigene Nachrichten und Unterhaltungsbeiträge zu produzieren. Und schließlich inspirierte die Praxis der Satellitenexperimente auch im globalen Süden eine breite Forschung zur entwicklungspolitischen Bedeutung der Massenkommunikation. Hier avancierte das 1965 gegründete Indian Institute of Mass Communication in New Delhi um die Mitte der 1970er Jahre zu einem zentralen Forum des internationalen Austauschs.90

One-Way Free Flow? Die Stimme des „Südens“ im globalen „Informationsfluss“ Ab den 1970er Jahren war der Konnex von „Informationstechnik“ und „Menschenrechten“ zu einem Fixpunkt des entwicklungspolitischen Diskurses geworden. Das Recht, zu kommunizieren, wie es Jean d’Arcy, der Direktor der United Nations Radio and Visual Services Division bereits ausgangs der 1960er Jahre vorgeschlagen hatte, rückte nun in den Fokus des Interesses.91 Über die bloße Durchsetzung der „Meinungs- und Pressefreiheit“ hinaus bezeichnete dieses die Teilhabe am globalen „Informationsfluss“ und so das Recht, Nachrichten sowohl zu verbreiten als auch einzuholen und zu rezipieren. Jean d’Arcy erklärte die sich wandelnden Kommunikationstechnologien zum Motor der wachsenden globalen Interdependenz über Nations- und Kulturgrenzen hinweg. Nach mehreren Expertentreffen in Stockholm, Manila und London ging die Debatte alsbald allerdings in der zusehends hitzigen Auseinandersetzung um die NWICO unter.92 Diese Auseinandersetzung, die in unmittelbarem Zusammenhang zu der in der UNESCO einsetzenden Kontroverse um kollektive Solidaritätsrechte stand, veranschaulichte – wie später auch das „Recht auf Entwicklung“ – den Entstehungsprozess eines neuen Rechts, dessen besondere Relevanz sich gerade aus der Verbindung von Fragen der Entwicklungspolitik und der Menschenrechte ergab. Die Artikulation dieses Rechts resultierte aus der Übersetzung politischer 90 Zur Gründung des Instituts vgl. Singhal, Arvind/Rogers, Everett M.: India’s Information Revolution. New Delhi 1989, S. 38f. UNESCO und Ford Foundation waren in den Prozess der Planung von Beginn an eingebunden. 91 Vgl. Arcy, Jean de: Direct broadcast satellites and the Right to Communicate [1969]. In: Right to Communicate. Collected Papers. Hrsg. von L. S. Harms [u.a.]. Honolulu 1977. S. 1–9; ders.: The Right to Communicate. Paris 1978. 92 Vgl. Fisher, Desmond: The Right to Communicate. A Status Report. Paris 1982. S. 5.

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und ökonomischer Forderungen in Menschenrechtsdebatten.93 Gegen das Schreckbild des Medien- und Kulturimperialismus des Nordens brachte der Süden hier die Rede von der „kulturellen Vielfalt“ der Länder in Stellung. Die Debatte um die NWICO war um die Mitte der 1970er Jahre endgültig zu einem machtpolitischen Kräftemessen geworden. Die Länder des globalen Südens hatten durch ihren Zusammenschluss in der „Bewegung Bündnisfreier Staaten“ und in der OPEC an politischer und ökonomischer Autorität hinzugewonnen. Die seit 1964 in der UNCTAD geführten Debatten um eine Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten gewannen ab 1973 – vor dem Hintergrund des Ölpreisschocks und des Zusammenbruchs des Bretton-WoodsSystems – an Aufwind und zielten auf eine grundsätzliche Neujustierung der Verhältnisse von Industrie- und Entwicklungsländern ab. Die radikale Rhetorik der New International Economic Order drängte den Westen zurück, während die Entwicklungsländer, unterstützt durch die sozialistischen Staaten, in die Offensive gingen.94 Die Asymmetrie der globalen Kommunikationsordnung kam bereits auf der Gipfelkonferenz der „Bündnisfreien Staaten“ in Algier 1973 zur Sprache. Der Imperialismus des Westens erstrecke sich, so die Delegierten im Geiste der Dependenztheorie, schon lange nicht mehr nur auf die politischen und ökonomischen Felder, sondern durchdringe vielmehr auch die kulturelle und soziale Sphäre. Eine „konzertierte Aktion“ im Bereich der Massenmedien sei daher dringend erforderlich.95 Rasch wurde der Ruf nach einer Neuen Weltinformations- und Kommunikationsordnung immer lauter. Nur wenige Monate nach dem Gipfel in Algier legte der Schwedische Völkerrechtler Hilding Eek der UNESCO im Januar 1974 eine erste „Draft Declaration of Fundamental Principles Governing the Use of Mass Media“ vor, die die nationale „Souveränität“ der Nachrichtenproduktion als zentralen Faktor internationaler Verständigung hervorhob. Die daran anschließenden Beratungen in Paris im Januar, März und November des Jahres 93 Vgl. Plath, Christoph: Kéba M’Bayes Arbeitspapier über das Recht auf Entwicklung (1977). In: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. Hrsg. vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert. www.geschichte-menschenrechte.de/schluesseltexte/recht-auf-entwicklung/ (1.10.2018). Zum Verständnis von Menschenrechten als Ergebnis einer „Konfliktgeschichte“ vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Einleitung. Genealogie der Menschenrechte. In: Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert. Hrsg. von dems. Göttingen 2010. S. 7– 37. Hier S. 35f. 94 Zum Konnex der Debatten um eine Weltwirtschafts- und Weltinformationsordnung vgl. Pavlic, Breda/Hamelink, Cees J.: The New International Economic Order. Links between Economics and Communications. Paris 1985. 95 Vgl. United Nations. General Assembly Reports, 22.11.1973. A/9330. Documents of the 4th Conference of Heads of State or Government of the Non-Aligned Countries. Algiers 1973. S. 73, 88.

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standen einmal mehr im Zeichen der Blockkonkurrenz. An der Seite der „Bündnisfreien Staaten“ plädierte die UdSSR für eine egalitäre, die nationalen Interessen des globalen Südens berücksichtigende Politik, die sich im Kern freilich vor allem gegen die bestimmende Stellung der amerikanischen (Nachrichten-)Konzerne richtete. Die Vereinigten Staaten hingegen sahen im Vorstoß der „Bündnisfreien“ nichts als den wenig verhohlenen Versuch einer Kontrolle des Nachrichtenwesens. So scheiterte auch der Versuch, der wachsenden Kritik des Südens durch einen „Marshall-Plan für Kommunikation“ den Wind aus den Segeln zu nehmen, letztlich krachend.96 Auf der Generalversammlung der UNESCO in Nairobi im Dezember 1975 war der Bruch zwischen den Delegierten bereits spürbar. Derweil verabschiedete ein Symposium der „Bündnisfreien Staaten“ zur Informationspolitik im März 1976 in Tunis eine Resolution, die erstmals konkrete Pläne zur Errichtung einer Weltinformationsordnung vorlegte. Zu dieser Zeit kontrollierten die großen Agenturen – Associated Press, United Press, Tass, Reuters und Agence France-Press – nach verschiedenen Angaben zwischen 75 und 97 % des Nachrichtenmarktes.97 Dabei machten die Nachrichtenexporte des globalen Nordens 93 % aller Presseinhalte und 92 % aller Fernsehnachrichten aus. Der Süden indes, der rund 75 % der Weltbevölkerung stellte, zeichnete lediglich für rund 20 % der Buchproduktion und der audiovisuellen Programme verantwortlich; nur ein Viertel aller weltweit verkauften Zeitungen wurde hier abgesetzt, und auch die Verbreitung von Radio- und Fernsehgeräten war ausgesprochen gering.98 Der indische Journalist D. R. Mankekar kritisierte daher in seinem Buch One-Way Free Flow die gängige amerikanische Interpretation der Free Flow-Doktrin als Vehikel westlicher Hegemonieansprüche.99 Insbesondere die Rolle der multinationalen Konzerne – Nachrichten- und Werbeagenturen – 96 Vgl. Nordenstreng, Kaarle: Free flow doctrine in global media policy. In: The Handbook of Global Media and Communication Policy. Hrsg. von Robin Mansell u. Marc Raboy. Chichester 2011. S. 79–94. Hier S. 83. 97 Vgl. Dinkel, Bewegung, S. 213; Carlsson, Ulla: From NWICO to global governance of the information society. In: Media and Glocal Change. Rethinking Communication for Development. Hrsg. von Oscar Hemer u. Thomas Tufte. Buenos Aires 2005, S. 193–214. Hier S. 208210; Metze-Mangold, Verena: Die alternativen Nachrichtenagenturen. Nachrichtenpool der blockfreien Staaten und Inter Press Service. In: Medienmacht im Nord-Süd-Konflikt. Die Neue Internationale Informationsordnung. Hrsg. von Reiner Steinweg u. Jörg Becker. Frankfurt a. M. 1984. S. 202–228. Hier S. 207–212. 98 Zu den Zahlen vgl. die Reports der „International Commission for the Study of Communication Problems“: ICSIP: Interim-Report. Paris 1978. S. 37–42; vgl. zudem Masmoudi, Mustapha: The New World Information Order. Paris 1978. S. 20f. und Sreberny-Mohammadi, Annabelle [u.a.] (Hrsg.): Foreign News in the Media. Paris 1985. 99 Vgl. Mankekar, Dinker Rao: One-Way Free Flow. New Delhi 1978. S. 66–93.

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war hoch umstritten.100 Zudem rückte der Nachrichtenverkehr als Teil grenzüberschreitender Datenströme („Transborder Data Flows“) in den Fokus der Kritik: die steigende Relevanz von Computer-Datenbanken und Netzwerktechnik wies dem Teilen und Beherrschen, Verbinden, Synchronisieren und Speichern von „Informationen“ eine Schlüsselrolle zu.101 Die Resolution des Symposiums in Tunis zielte vor diesem Hintergrund expressis verbis auf eine „Dekolonisierung der Informationen“. Im Juli 1976 rief die Ministerkonferenz der „Bündnisfreien Staaten“ in Neu-Delhi dann einen Pool an Agenturen ins Leben, der in Konkurrenz zu den globalen Spielern des Nachrichtenbusiness treten sollte. Informationelle Selbstbestimmung, schrieb Indiens Premierministerin Indira Gandhi den Delegierten in ihrer Ansprache ins Stammbuch, sei ebenso wichtig wie politische und technologische Autarkie.102 „In synchroner Perspektive“ stand die Gründung dieses Nachrichtenpools der „Bündnisfreien“, wie Jürgen Dinkel treffend bemerkt, im „Einklang mit den politisch motivierten Versuchen sozialer Bewegungen in Europa und den USA, nationale Gegenöffentlichkeiten zu etablieren“.103 Indes besaß der Vorstoß durchaus einen globalen Anspruch. Zur zentralen Agentur innerhalb des Pools avancierte TANJUG als Sprachrohr des sozialistischen Jugoslawiens. Pero Ivačić, der Direktor der Agentur und vormaliger Präsident der Allianz europäischer Nachrichtenagenturen, löste ausgangs der 1970er Jahre D. R. Mankekar als Vorsitzenden des Pools ab. Unter seiner Regie entstand ein weltweites Informationsnetz aus über 80 Agenturen, das bis 1982 täglich rund 40.000 Wörter verschickte. Im Vergleich zu Reuters oder der Associated Press, die über eine Million Wörter zirkulierten, war diese Zahl gleichwohl verschwindend gering.104 So erzielte der Pool, obgleich die Verein100 Vgl. Hamelink, Cees J.: Informationstechnologie im Nord-Süd-Konflikt. In: Steinweg/Becker, Medienmacht, S. 115–147; Janus, Noreene: Werbung, Massenmedien und die Formierung einer Dritte-Welt-Kultur. In: Steinweg/Becker, Medienmacht, S. 166–185; Mattelart, Armand/ Schmucler, Hector: Communication and Information Technologies. Freedom of Choice for Latin America? Norwood 1985. 101 Vgl. Gassmann, Hans-Peter: Data networks. A new information infrastructure. In: OECD Observer 95 (November 1978). S. 10–16. Hier S. 12; vgl. auch Becker, Jörg/Bickel-Sandkötter, Susanne (Hrsg.): Datenbanken und Macht. Konfliktfelder und Handlungsräume. Opladen 1992. S. 63–82. 102 Gandhi, Indira: Self-reliance in information. Conference of Non-Aligned Countries in Press Agencies Pool. In: Communicator. Quarterly Journal of the Indian Institute of Mass Communication 11 (1976). Nr. 2–3. S. 15f. 103 Vgl. Dinkel, Bewegung, S. 216. 104 Zum Wirken des Pressepools vgl. Indian Institute of Mass Communication: News Agencies Pool of Non-Aligned Countries. A Perspective. New Delhi 1983; NAMEDIA. Media Conference of the Non-Aligned. Final report and documents. New Delhi 1983. Vor allem die reicheren und

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ten Nationen dazu übergingen, auch die Nachrichten-Bulletins der „bündnisfreien“ Agenturen über ihren Presseverteiler zu schicken, letztlich nie die erhoffte Reichweite. Dies hatte verschiedene Gründe: zum einen mangelte es den Agenturen an technischem Equipment; während die AP ab 1975 ein computergestütztes, datenbankbasiertes System („DataStream“) zur Nachrichtenübertragung an ihre Kunden im In- und Ausland nutzte und bereits neue Wege der Satellitenkommunikation erprobte, tippten die Korrespondenten der „bündnisfreien“ Agenturen noch ausgangs der 1980er Jahre ihre Berichte auf der Schreibmaschine, die sie per Radiotelex oder gleich höchstpersönlich mit dem Motorrad in die Agenturzentrale übermittelten.105 Zum anderen fehlte es aber auch an einer Standardisierung der Nachrichten-Formate und einer Qualitätskontrolle der Nachrichteninhalte sowie der Aus- und Weiterbildung der Journalisten. Zensur und Propaganda verhinderten zudem eine stärkere Rezeption der Poolnachrichten und torpedierten die Glaubwürdigkeit.106 Die Implementierung einer globalen Informationsinfrastruktur blieb so primär ein Vehikel zur Sicherung (inter-)nationaler Herrschaftsansprüche und zur Durchsetzung politischer Forderungen.107 Zugleich bezeugen die Auseinandersetzungen der Nachrichtenagenturen exemplarisch, wie sich die Debatte um die Kontrolle von Nachrichten in den politisch „ambitionierteren“ Länder speisten Nachrichten ein. Die Dominanz der TANJUG und die Tendenz zur Zentralisierung des Nachrichtenverkehrs provozierte indes Kritik. So ergänzten den Pool rasch neue regionale Netzwerke und Zusammenschlüsse nationaler Agenturen. 105 Vgl. Associated Press. 75th Annual Volume. New York 1975. S. 3–5; 77th Annual Volume. New York 1977. S. 8f. 78th Annual Volume. New York 1978. S. 8–10. AP Corporate Archives. New York City; Jürgen Dinkel: Dekolonisierung und Weltnachrichtenordnung. Der Nachrichtenpool bündnisfreier Staaten (1976-1992). In: Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Frank Bösch u. Peter Hoeres. Göttingen 2013. S. 211–231. Hier S. 225; Musa, Mohammed: News agencies, transnationalization and the new order. In: Media, Culture & Society 12 (1990). S. 325–342. Hier S. 338f. 106 Vgl. National Archives. Kew, London. FCO 58/1307. The Non-Aligned Movement. Problems in the Non-Aligned News Agency Pool. August 1976; Speech of D. R. Mankekar at the 2nd Meeting of the Inter-Governmental Coordination Council for Mass Media and Information in NonAligned Countries. Havanna. April 1978. Bl. 1–5. Die Probleme waren auch vor den Kunden kaum zu verbergen. Eine Studie des WDR schrieb eindrücklich vom „Staats-KommuniquéStil und Huldigungs-Charakter“ der Poolmeldungen. Vgl. Dinkel, Dekolonisierung, S. 223–228. 107 Zur Rolle der Nachrichtenagenturen im globalen Süden vgl. Brennan, James: The Cold War battle over global news in East Africa. Decolonization, the free flow of information and the media business, 1960–1980. In: Communicating global capitalism. Hrsg. von Heidi Tworek u. Simone Müller. Special Issue, Journal of Global History 10 (2015). Nr. 2. S. 333–356. Hier S. 351–355. Zu den Anstrengungen einer medialen „Dekolonisierung“ vgl. überdies allg. Heinze, Robert: Decolonizing the mind. Nationalismus und nation building im Rundfunk in Namibia und Sambia. In: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008). S. 295–315.

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1970er Jahren entlang der Konfliktlinien des Nord-Süd-Gegensatzes strukturierte. So brachte die Emergenz der „bündnisfreien“ Agenturen ein Zweckbündnis der großen europäischen und amerikanischen Agenturen hervor, die sich als Garanten der „freien Presse“ gegen die doppelte Bedrohung aus Kommunismus und nach-kolonialem Nationalismus zu stilisieren begannen. Gerald Long, der geschäftsführende Direktor bei Reuters, attackierte die Idee einer neuen Informationsordnung in diesem Geiste am Rande eines Kongresses im International Press Institute. Für Long waren die Ziele der NWICO „verworren“ und die Methoden ihrer Apologeten „zwielichtig“. Die Förderung einer Autonomie der „Dritten Welt“ – wie sie Ivačić propagierte108 – schien ihm Ausdruck autokratischer Machtansprüche und Manipulationen. Dabei verhärtete die Polemik, mit der Long und andere Journalisten gegen die Anwälte des neuen Kurses in der UNESCO vorgingen, die Fronten.109 Unter der Ägide des senegalesischen Generaldirektors der UNESCO (1974– 1987), Amadou-Mahtar M’Bow, spitzte sich der Gegensatz auch innerhalb der Vereinten Nationen zu. Zwischen 1973 und 1978 verhandelte die UNESCO in Arbeitsgruppen und Symposien – in Tunis, Mexiko City und San José – die konkrete Ausgestaltung einer neuen „Weltinformationsordnung“. Gegen die Phalanx der Free Flow-Kritiker gründete eine Gruppe aus Journalisten und Verlegern Nord- und Südamerikas in San José das „World Press Freedom Committee“ und startete eine Kampagne, die das Zerrbild der Zerstörung der „Pressefreiheit“ bemühte, um eine internationale Vereinbarung zu verhindern. In der Folge nutzten beide Seiten die Bühne des Medienereignisses für ihre Zwecke.110 Mit der „Massenmedien-Deklaration“ des Jahres 1978111 und dem Bericht der „MacBride-Kommission“112 1980 unter dem Vorsitz des irischen Journalisten, Rechtsanwalts und Politikers Sean MacBride, der als Träger des Friedensnobelpreises und des Leninpreises allgemeine Anerkennung genoss, erreichte 108 Vgl. Indian Institute of Mass Communication, News Agencies Pool, S. 7; ders.: The flow of news. Tanjug, the pool, and the national agencies. In: Journal of Communication 28 (1978). Nr. 4. S. 157–162. 109 Reuters Corporate Archives. London. Gerald Long Papers. Box LN852, 1/990405, G. Long an H. E. Baron Rüdiger von Wechmar, New York, 3.11.1980; Box LN851, 1/990404, G. Long an L. J. Theberge, Chicago, 31.10.1980; vgl. dazu überdies auch Palmer, NWICO, S. 47. 110 Vgl. dazu in extenso: Brendebach, UNESCO, S. 167–173. 111 UNESCO: Historical Background of the Mass Media Declaration. Paris 1980; Homberg, Media. 112 UNESCO: Many Voices, One World. Towards a New, More Just, and More Efficient World Information and Communication Order. Paris 1980; vgl. Nordenstreng, Kaarle [u.a.] (Hrsg.): New International Information and Communication Order. A Sourcebook. Prag 1986; McGonagle, Tarlach/Donders, Yvonne (Hrsg.): The United Nations and Freedom of Expression and Information. Critical Perspectives. Cambridge 2015.

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die Kontroverse um die neue Ordnung schließlich zu Beginn der 1980er Jahre ihren Höhepunkt. Die Mitglieder der MacBride-Kommission traten emphatisch für eine Regulierung des Nachrichtenwesens und ein Menschenrecht auf Kommunikation ein. Die 312 Seiten starke Publikation ihrer Ergebnisse, die unter dem Titel Many Voices One World 1980 erschien, schloss sich den eindringlichen Appellen zur Überwindung des „Informationsungleichgewichte“ zwischen Nord und Süd an. Im gleichen Jahr verabschiedete die UNESCO alsdann auch eine Medienresolution, die sich dem Tenor der MacBride-Kommission anschloss. Für MacBride bedeutete die Stärkung nationaler Nachrichtenmedien nichts weniger als die Voraussetzung der Emanzipation des globalen Südens. Dagegen erkannten die westlichen Kritiker in den Vorstößen der Kommission lediglich die Versuche einer dirigistischen (Zensur-) Politik und das Werk sozialistischer Propaganda. Jede Regulierung des „Informationsflusses“ erschien ihnen als Weg in die Sackgasse eines neuen Nationalismus, der sich unter dem Vorwand, die eigene nationale „kulturelle Identität“ zu wahren, vor der Globalisierung verschließe. Da war es Wasser auf die Mühlen der Kritiker, dass einzelne repressive Regime die Errichtung einer neuen „Weltinformationsordnung“ dazu instrumentalisierten, die Standards der Meinungs- und Pressefreiheit, wie sie in Europa oder den USA bestanden, zu umgehen.113 Trotz der eingangs positiven Rezeption der neuen Ordnung drängte die US-Kritik in der Folge die Idee und Rhetorik des Vorhabens entschieden zurück.114 Die Querelen boten der Reagan-Regierung einen geeigneten Anlass, aus der UNESCO auszutreten. Als die USA, Großbritannien und Singapur 1984/85 die Organisation verließen, verlor die Forderung der „Weltinformationsordnung“ an Boden. Die 25. Generalkonferenz der UNESCO erklärte so später, zur ursprünglichen Konzeption des „Free Flow“ zurückzukehren. Die Wege des globalen Südens in die „Wissens- und Informationsgesellschaft“ blieben indes hochgradig umstritten. Ein über mehrere Dekaden angelegtes internationales Programm zur Entwicklungskommunikation (IPDC) war dazu angetan, die überhitzte politische Diskussion Ende der 1980er Jahre wieder zu versachlichen. Freilich gingen 113 Vgl. exempl. Roth, Paul: Cuius regio, eius informatio. Moskaus Modell für die Weltinformationsordnung. Köln 1984; zur Einordnung der Debatte vgl. überdies allg. Weiß, Norman: Neue Weltinformationsordnung reloaded? Eine globale Informationsordnung als Herausforderung für das Völkerrecht. In: Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt. Hrsg. von Isabella Löhr u. Andrea Rehling. München 2014. S. 167–198. Hier S. 187–190. 114 Zu dieser Kritik vgl. Gerbner, George: UNESCO in the U. S. Press. In: The Global Media Debate. Its Rise, Fall and Renewal. Hrsg. von dems. [u. a.]. Norwood 1993. S. 111–121; vgl. überdies allg. Jørgensen, Rikke Frank (Hrsg.): Human Rights in the Global Information Society. Cambridge 2006.

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auch hier die Meinungen über die Ausgestaltung der Vorhaben stark auseinander.115 Die Politisierung des Diskurses zeitigte gleichwohl bedeutende Anstrengungen zur Konzeption einer „Informationsethik“. Zahlreiche internationale Organisationen – darunter das „Intergovernmental Bureau of Informatics“ der UNESCO und NGOs wie „Reporter ohne Grenzen“ oder auch „Transparency International“ – nahmen sich der Frage des „digital divide“ zwischen Nord und Süd an.116 Die Kritik des „elektronischen Kolonialismus“ in den 1970er und 1980er Jahren wies so der gegenwärtigen Diskussion um die Auswirkungen einer „Global Algorithmic Governance“ den Weg.117

Fazit Die Geschichte des Nord-Süd-Dialogs war voller widersprüchlicher Wahrnehmungen, hochfliegender Erwartungen und komplizierter Lernprozesse. Wie die Debatte um die „Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung“ zeigte, nahm die Kommunikationspolitik hier rasch eine Schlüsselrolle im System der internationalen Entwicklungskooperation ein. Dabei stießen die großen Pläne – wie im Fall der Satellitenexperimente in Indien – in der Praxis immer wieder an ihre Grenzen. Die Staaten des globalen Südens waren viel mehr als nur der Spielball technokratischer Pläne und (macht-)politischer Interessen der Supermächte; sie nutzten die Bühne der Weltöffentlichkeit, um eigene Ziele durchzusetzen und rangen ihrerseits um die Führung in der Gruppe der „Bündnisfreien“. Die Gründung eines Pools an Nachrichtenagenturen, der der Dominanz des Nordens begegnen sollte, scheiterte allerdings in gleichem Maß an der globalen Konkurrenz wie an der mangelnden Einigkeit, den Rivalitäten der sich emanzipierenden Staaten und den bisweilen brüchigen Süd-Süd-Beziehungen.

115 Zur Geschichte des IPDC ab 1980 vgl. Boyd-Barrett, Oliver: Free flow of information. In: Encyclopedia of Journalism. Hrsg. von Christopher H. Sterling. Bd. 1. Los Angeles 2009. S. 640– 644; ders.: Global communication orders. In: International Development Communication. A 21st century perspective. Hrsg. von Bella Mody. Thousand Oaks 2003. S. 35–52; Mowlana, Hamid: International Flow of Information. A Global Report and Analysis. Paris 1985. 116 Vgl. Strategies and policies on informatics. IBI background documents. New York 1978; UNESCO: Informatics. A Vital Factor in Development. Paris 1980; Data regulation. European & Third World Realities. Uxbridge 1978. 117 McPhail, Thomas L.: Electronic Colonialism. Beverly Hills 1987; vgl. hierzu kürzlich Butt, Danny: New International Information Order (NIIO) revisited. Global algorithmic governance and neocolonialism. In: Fibreculture Journal. FCJ-198. Nr. 27. http://twentyseven.fibreculturejournal.org (1.10.2018).

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So wichen die überbordenden Erwartungen der ersten Jahre, die sich an die Durchsetzung moderner (Kommunikations-)Technologien banden, einer rasanten Desillusionierung, die den versöhnlichen Ton des Dialogs alsbald in einen hitzigen Schlagabtausch verwandelte. Verhieß die Satellitentechnik als Medium der „Demokratisierung“ und einigendes Band der „Weltgemeinschaft“ noch die großen Träume der 1960er Jahre, so erschienen der ungleiche Zugang zu und die einseitige Verbreitung von „Informationen“ bereits ab Mitte der 1970er Jahre als Musterbeispiel eines westlichen Medien- und Kulturimperialismus. Dabei oszillierte die Sprache der grenzüberschreitenden Kommunikation zwischen einer Semantik der Völkerverständigung und der kriegerischen Propaganda, in der sich die Asymmetrien der globalen Ordnung nach 1945 deutlich widerspiegelten. Die ideologische Konkurrenz des Kalten Krieges dirigierte so von Beginn an das vielstimmige Konzert dieses Streits um den Äther.118 In den 1970er Jahren verschafften sich hier die Spieler des globalen Südens Gehör. Indem sie – ausgehend von der Idee des unverbrüchlichen Rechts der „freien Rede“ – lautstark den ungehinderten und gleichen Zugang zu den Kommunikationsnetzwerken des Nordens reklamierten, gelang es ihnen, über Blockgrenzen hinweg Allianzen zu Journalistenverbänden, Regierungsvertretern und NGOs zu kreieren. Das Sendungsbewusstsein der Geberstaaten zeigte sich in den Augen der Kritiker gerade in der Ordnung des Nachrichtenverkehrs zwischen Nord und Süd. Indem der globale Süden, der bis dato in der Rolle des Publikums der Medienkonkurrenz gewesen war, nun die Stimme erhob, erinnerte er an das Versprechen eines gleichberechtigten „Dialogs“. So besaß das Ringen um die Mitspracherechte des Südens nicht zuletzt eine große symbolpolitische Strahlkraft. Zugleich aber war es auch ein elementarer Baustein im Prozess der Nationsbildung der neuen Staaten in einer heranbrechenden Ära der Globalisierung. Die „Global Media Debate“ bezeugte so eindrucksvoll die kollidierenden Weltordnungsentwürfe des Kalten Krieges und des ausgehenden Kolonialzeitalters.

118 Ruchatz, Jens: Kanalisierung des freien Informationsflusses. Semantiken transnationaler Kommunikation. In: Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Hrsg. von Irmela Schneider u. Jens M. Spangenberg. Wiesbaden 2004. S. 99–124. Hier S. 120.

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Die globalpolitische Selbstverortung frankophoner afrikanischer Filmschaffender in den 1960er und 1970er Jahren: Oder warum afrikanische Filmschaffende (lange) nicht vom globalen Norden sprachen Afrikanische Filmschaffende der 1960er und 1970er Jahre einte die Kolonisierungserfahrung und das Bewusstsein für die postkolonialen Lebensumstände. Damit verbunden war die erzwungene Konfrontation mit Kulturen des Kolonialen. Beispielsweise kamen die in afrikanischen Kinos gezeigten Filme größtenteils aus Europa sowie den USA und repräsentierten nicht die Lebensrealitäten von Afrikanerinnen und Afrikanern. Auf diese Weise stützte die Filmkultur während der Kolonialzeit und subtiler auch darüber hinaus die kolonialen Projekte europäischer Mächte.1 Gleichzeitig unterdrückten die kolonial-politischen Verhältnisse zum Beispiel durch Zensur das Filmschaffen von Afrikanerinnen und Afrikanern bis zu den formalen Unabhängigkeiten der kolonisierten Länder. In der Folge existierte auch nach der Dekolonisierung keine Infrastruktur zur Filmproduktion auf dem afrikanischen Kontinent. Mein Beitrag betrachtet die unmittelbare nachkoloniale Phase der 1960er und 1970er Jahre und fragt nach der Semantik, die frankophone afrikanische Filmschaffende verwendeten, um nachkoloniale kulturpolitische Beziehungen und damit auch ihre globalpolitische Selbstverortung zu thematisieren. Diese Frage ist deswegen von Relevanz, da Kino und Filmschaffen nach der Dekoloni1 Zur Theorie der kinematografischen Repräsentation im postkolonialen Kontext vgl. Stuart Halls grundlegenden Aufsatz: Cultural identity and cinematic representation. In: The Journal of Cinema and Media 36 (1989). S. 68–81. Hall befasst sich in dem Aufsatz zwar explizit mit dem Karibischen Kino. Seine Reflexionen lassen sich jedoch auch auf andere (post-)koloniale Kontexte beziehen. Note: Über das afrikanische Filmschaffen oder die afrikanischen Filmschaffenden zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen, denn dies setzt die Annahme einer monolithischen Kinokultur voraus. So unterschiedlich die Lebensrealitäten afrikanischer Filmschaffender waren und sind, so vielfältig waren auch die Impulse, die das Filmschaffen auf dem afrikanischen Kontinent und die Entstehung afrikanischer Filmkulturen beförderten. Die jüngere Publikation „Afriques 50. Singularités d’un cinéma pluriel“, in der zahlreiche afrikanische Filmschaffende selbst zu Wort kommen, widmet sich der Diversität des Afrikanischen Kinos. Ruelle, Catherine [u.a.] (Hrsg.): Afrique 50. Singularités d’un cinéma pluriel. Paris 2005. https://doi.org/10.1515/9783110682625-013

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sierung von den am Aushandlungsprozess der Kulturbeziehungen beteiligten Akteuren als ein Bereich nachkolonialer Identitätsstiftung gedacht wurde und sich als ein stark politisiertes Feld2 erwies. Bislang hat die Forschungsliteratur das afrikanischen Filmschaffen vor allem unter drei Perspektiven untersucht: Zum einen ist der Produktionskontext afrikanischer Filmschaffender unter vornehmlich strukturgeschichtlichen Gesichtspunkten von Interesse.3 Zum anderen untersucht filmwissenschaftliche Literatur den Inhalt der Filme afrikanischer Filmschaffender.4 Darüber hinaus lassen sich afrikanische Filmschaffende auch als Akteure der Dekolonisierung verstehen.5 Dabei ist der Begriff des ‚Dritten Kinos‘ ein feststehender Begriff in der filmwissenschaftlichen Literatur und entspringt dem Manifest Hacia un Tercer Cine der argentinischen Filmschaffenden Pino Solanas und Octavio Getino aus dem Jahr 1969. Das Selbstverständnis dieser Filmschaffendenbewegung ist zur filmwissenschaftlichen Analysekategorie geworden.6 Die Nord-Süd-Semantik hingegen ist in der Forschung ein wenig verwendeter Begriff und es existiert kaum entsprechende Literatur.7 Zentrale Quellen für die Untersuchung der globalpolitischen Selbstverortung der Filmschaffenden werden Pamphlete und Manifeste sein, die im Rahmen von Konferenzen und Treffen entstanden. Im Fol2 Mit James A. Genova soll an dieser Stelle betont werden, dass es nicht die afrikanischen Filmschaffenden waren, die die Politisierung vorantrieben, sondern dass sich die Filmschaffenden von Anbeginn an in einem Kontext der Politisierung befanden und gezwungen waren, sich damit auseinanderzusetzen: „African filmmakers of the pioneer generation did not inaugurate the idea of a politics of film or even of political film. They adapted the concepts of a film politics and political film to the contexts of societies newly free from nearly a century of foreign rule, a century during which cinematography was invented and certain structural aspects of the cinema as an industry and an art form emerged.“; Genova, James A.: Cinema and Development in West Africa. Bloomington/Indianapolis 2013. S. 3. 3 Armes, Roy: African Filmmaking. North and South of the Sahara. Edinburgh 2006.; Armes, Roy: Third World Filmmaking and the West. Berkley 1987; Diawara, Manthia: African Cinema. Politics & Culture. Bloomington/Indianapolis 1992.; Vieyra, Paulin Soumnaou: Le Cinéma Africain. Des Origines à 1973. Paris 1975. 4 Barlet, Olivier: Afrikanische Kinowelten. Die Dekolonisierung des Blicks. Bad Honnef 2001.; Niang, Sada: Nationalist African Cinema. Legacy and Transformation. Langham [u. a.] 2014; Ukadike, Nwachukwu Frank: Black African Cinema. Berkeley [u. a.] 1994. 5 Ein umfassender Literaturbericht findet sich bei Dinkel, Jürgen: Dekolonisation und Film – Ein Literaturbericht. In: Werkstatt Geschichte 69 (2015). S. 7–22. 6 So z. B. bei Foerster, Lukas [u. a.] (Hrsg.): Spuren eines Dritten Kinos. Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinemas. Bielefeld 2013.; Ekotto, Frieda/Koh, Adeline (Hrsg.): Rethinking Third Cinema. The Role of Anti-Colonial Media and Aesthetics in Postmodernity. Münster 2009. 7 In dem Sammelband „Afrique 50“, in dem vor allem Akteure des frankophonen afrikanischen Filmschaffens selbst zu Wort kommen, existiert ein Unterkapitel „Du rêve du Sud à la diversité culturelle“, s. Ruelle, Afrique 50.

Die globalpolitische Selbstverortung 

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genden werde ich zuerst auf die französische Filmpolitik eingehen, da diese den Rahmen für die nachkolonialen filmpolitischen Auseinandersetzungen wesentlich bestimmte. Daran anschließend werde ich in einem zweiten Schritt die Genese des Kollektivakteurs ‚afrikanische Filmschaffende‘, den ich als soziale Bewegung verstehe, unter den nachkolonialen Bedingungen in den 1960er Jahren beleuchten. In einem dritten Schritt werde ich dann die zunehmende Komplexität hinsichtlich des Deutungsrahmens zur globalpolitischen Selbstverortung der Filmschaffenden beschreiben und einen Ausblick auf die 1980er Jahre geben.

Das Filmschaffen unter (post-) kolonialen Bedingungen Die Bedingungen für afrikanische Filmschaffende der ersten Generation8 waren stark durch die jeweilige Kinopolitik der englischen, französischen oder portugiesischen Kolonialmacht bestimmt. Die Situation im frankophonen Afrika unterschied sich von der des anglophonen9 Afrikas wie auch von der Situation im lusophonen10 Afrika wesentlich. Da die erste Generation afrikanischer Film8 Roy Armes beschreibt drei Generationen von afrikanischen Filmschaffenden: Von der ersten Generation spricht er in Bezug auf eine kleine Gruppe von vor 1940 Geborenen, wie z. B. Ousmane Sembene und Med Hondo. Die zweite Generation ist, Armes Einteilung zufolge, zwischen Anfang der 1940er und Ende der 1950er Jahre geboren. Sie waren Kinder oder Teenager zur Zeit der Dekolonisierung – so z. B. Gaston Kaboré und Idrissa Ouedraogo. Hingegen sei die dritte Generation nach der Dekolonisierung geboren. Den drei Generationen ordnet Armes unterschiedliche ästhetische Perspektiven zu. Armes, Filmmaking, S. 62–67. 9 Im Hinblick auf das anglophone Afrika beschreibt Manthia Diawara die Situation folgendermaßen: Bereits in den 1940ern hatte die britische Colonial Film Unit eine Filmschule ins Leben gerufen. Afrikanerinnen und Afrikaner wurden in einem sechsmonatigen Training ausgebildet und assistierten britischen Filmteams bei Dreharbeiten. Man erhoffte sich auf diese Weise eine bessere Ansprache der Kolonisierten. Die Filme der britischen Colonial Film Unit dienten weniger der Unterhaltung als politischen Zwecken – sie produzierte Propaganda- und Lehrfilme. Nach der Unabhängigkeit gelang es den anglophonen Ländern – mit Ausnahme von Ghana und Nigeria – nicht, das Filmschaffen als Teil ihrer Kulturpolitiken aufzubauen. Vgl. Diawara, Cinema, S. 1–9. 10 Die Unabhängigkeiten des lusophonen Afrikas von der portugiesischen Kolonialmacht vollzogen sich vergleichsweise spät und stehen am Ende des mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 eingeleiteten Prozesses der weltweiten Dekolonisierung. Portugal hielt lange an seinen Kolonien fest, woraufhin sich Befreiungsbewegungen innerhalb dieser Kolonien zunehmend radikalisierten. Erst Mitte der 1970er Jahre erlangten Angola, Guinea-Bissau, Kap-Verde, Mosambik wie auch São Tomé und Príncipe die Unabhängigkeit. Während der Kolonialzeit, so

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schaffender weitestgehend aus frankophonen Ländern kam, wird im Folgenden die Filmpolitik Frankreichs umfassender dargestellt. Die formale Unabhängigkeit der ehemaligen afrikanischen Kolonien von Frankreich im Jahr 1960 stellte für die französische Politik eine Herausforderung dar. Dennoch pflegte der Präsident der Fünften Republik, Charles de Gaulle, den Mythos einer durch Frankreich in die Wege geleiteten Dekolonisierung, die quasi ein Geschenk Frankreichs an Afrikanerinnen und Afrikaner gewesen sei. Dass diese Darstellung jedoch vor allem eine geschickte Inszenierung war und erinnerungspolitisch nur durch die Verdrängung anti-kolonialer Widerstände funktionierte, haben Forschungsarbeiten bereits gezeigt.11 Durch die Förderung afrikanischer Künstlerinnen und Künstler konnte sich Frankreich auf dem internationalen Parkett als „Treuhänder“ der ehemaligen Kolonien präsentieren.12 Charles de Gaulle etablierte nach Jahrzehnten des Kulturpessimismus in der Zwischenkriegszeit13 eine neue Kulturpolitik, die der – durch zahlreiche Krisen und den Zweiten Weltkrieg geschwächten – französischen Nation zu Zusammenhalt im Inneren und zu neuer Größe (grandeur) und Strahlkraft (rayonnement) nach Außen verhelfen sollte. Der General und Präsident richtete 1959 zu diesem Zweck ein Kulturministerium ein und besetzte es mit dem Schriftsteller und Abenteurer André Malraux.14 Manthia Diawara, beschränkte sich die Filmproduktion im lusophonen Afrika auf kolonialpropagandistische Wochenschauen und pornographische Filme. Die Postproduktion habe in Portugal und Südafrika stattgefunden. Nach Ende der Kolonialzeit seien weder technische Infrastruktur noch einheimische Filmschaffende in den ehemaligen lusophonen Kolonien existent gewesen. Ausländische Filmschaffende wie der Jugoslawe Dragutin Popovic oder die in Frankreich geborene Filmemacherin mit familiären Wurzeln in Guadeloupe, Sarah Maldoro, erstellten Filme über die militanten Freiheitsbewegungen – z. B. FRELIMO in Mosambik oder die MPLA in Angola. Solche im Untergrund gedrehten Filme wurden dann auch von den Befreiungsbewegungen für ihre Ziele eingesetzt. Auch nach den Unabhängigkeiten seien im lusophonen Afrika ausschließlich ausländische Produktionen zu sehen gewesen und es dauerte bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre, bis Filme von Filmschaffenden aus dem lusophonen Afrika entstanden. Vgl. Diawara, Cinema, S. 88–92. 11 Zum Beispiel Chafer, Tony: The End of Empire in French West Africa. France’s Successful Decolonisation? Oxford 2002. 12 Lebovics, Herman: Mona Lisa’s Escort. André Malraux and the Reinvention of French Culture. Ithaca/London 1999. S. 170. 13 Lebovics, Mona Lisa’s Escort, S. 3–4. François Chaubet und Laurent Martin verorten den Beginn einer staatlich-systematischen internationalen Kulturpolitik in Frankreich am Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945. Für die Zeit des Zweiten Weltkriegs beschreiben sie vor allem die Nutzung von Medien zu Propagandazwecken. Vgl. Chaubet, François/Martin, Laurent: Histoire des relations culturelles dans le monde contemporain. Paris 2011. S. 88, 95. 14 Zur Kulturpolitik unter André Malraux vgl. Lebovics, Mona Lisa’s Escort.

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Dem neuen Ministerium wurde unter anderem das Centre National de la Cinématographie (CNC) zugeordnet, welches vor allem für die nationale Filmförderung zuständig war, aber auch in die Kino- und Filmpolitik Frankreichs auf dem afrikanischen Kontinent involviert war. Auch das dem französischen Ministerium für die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kolonien (Ministère de la Coopération) unterstellte Bureau de Cinéma etablierte kinopolitische Beziehungen zu den gerade formal unabhängig gewordenen frankophonen afrikanischen Ländern.15 In regelmäßigen interministeriellen Treffen, an welchen beispielsweise auch das Finanzministerium beteiligt war, wurden grundlegende, die Kinopolitik betreffende Entscheidungen getroffen. Motive für die Kinopolitik der Regierung de Gaulle waren informationspolitischer und wirtschaftlicher Natur. Die Beibehaltung und weitere Verbreitung von französischer Sprache und Kultur in den ehemaligen französischen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent war dabei zentral. Denn ein Zusammenschluss aus den großen Filmfirmen Hollywoods, die American Motion Picture Export (MPEA), zeigte Interesse an dem zu kolonialen Zeiten gewachsenen Monopol auf Kinolokalitäten und Filmverleih der Firmen COMACICO und SECMA.16 Amerikanische Produktionen würden, so schrieb der unter der Ägide des fran15 Zum Bureau de Cinéma vgl. Diawara, Cinema, S. 23–28. Diawara umreißt einige der Aufgaben des Bureau de Cinéma. Seiner Darstellung, dass die Coopération Cinématographique weitgehend auf das persönliche Engagement des langjährigen Leiters dieser Abteilung innerhalb des Kooperationsministeriums, Jean René Débixs, zurückgeht, muss widersprochen werden. Die Recherchen zu meiner in Arbeit befindlichen Dissertation zeigen deutlich, dass die Kinoförderung nach der Dekolonisierung unmittelbar durch die französische Regierung beschlossen wurde und durch nationalpolitische Interessenslagen bedingt war. 16 Die Auseinandersetzungen der französischen Regierung mit der amerikanischen MPEA sind Teil der Forschung im Rahmen meines Dissertationsprojekts. Der COMACICO und der SECMA war es gelungen, während der Kolonialzeit ein privatwirtschaftliches Monopol auf Kinolokalitäten und den Filmverleih auf dem afrikanischen Kontinent aufzubauen. Während der Kolonialzeit zeigte die französische Regierung kein Interesse am Kinobetrieb auf dem afrikanischen Kontinent. Zur Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung war für die französische Regierung lediglich relevant, dass keine unerlaubten Filme in den Kolonien gedreht wurden. Der Großteil des Filmstocks der COMACICO und der SECMA bestand aus US-amerikanischen B-Movies und französischen Filmen. Letztere waren zu kolonialen Zeiten vor allem durch in den Kolonien lebende französische Kinogängerinnen und Kinogänger rezipiert worden. Nach der Dekolonisierung und vor dem Hintergrund der französisch-amerikanischen Differenzen während des Kalten Krieges sowie der geschwächten globalpolitischen Position Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Monopol der privatwirtschaftlichen und international agierenden COMACICO und SECMA auf die afrikanischen Kinos ein Problem für die französische Regierung dar. Ein Kauf der COMACICO und der SECMA alleine durch die französische Regierung erwies sich als kostenintensiv und schwierig. Der französische Kulturminister, André Malraux, bemühte sich um Verhandlungen mit der amerikanischen MPEA zum gemeinsamen Kauf der Monopol-Firmen.

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zösischen Kulturministeriums agierende CNC-Mitarbeiter Michel Carriere 1963 in einem Bericht an die französische Regierung, die Kinosäle in den frankophonen afrikanischen Ländern bald mit Nachrichtenfilmen, Propaganda und Werbung für ihre Produkte überschwemmen. Bald, so zeichnete er das Bedrohungsszenario weiter, würden Amerikaner dann auch die Kontrolle über die Gestaltung des Fernsehprogramms gewinnen, die bislang durch das französische Office de coopération radiophonique (OCORA) betrieben wurde: Et surtout, les circuits cinématographiques, c’est-à-dire le marché cinématographique d’Afrique noir d’expression française, passant sous contrôle américaine, c’est les salles envahies de productions USA, de bandes d’information, de propagande, de publicité pour lespproduits [sic.] d’outre Atlantique, c’est l’éviction des journaux d’actualités montés avec l’aide du Ministère de la Coopération par le Consortium audiovisuel, c’est bientôt la main mise sur la programmation des émetteurs de Télévision installé par l’OCORA et c’est aussi, comme cela arrive à Léopoldville dans les salles du circuit lié aux compagnies américaines, l’apparition de productions en version original sur les écrans.17

Die Einschätzungen Carrieres zur baldigen und raschen Verbreitung von Fernsehgeräten auf dem afrikanischen Kontinent müssen im Rückblick dem weit verbreiteten Fortschrittsoptimismus der Zeit zugeordnet werden. Fernsehgeräte sollten in den folgenden Jahren weniger in den Fokus des politischen und kommerziellen Interesses rücken – umso mehr aber das Kino. Neben Überlegungen, wie das Monopol der COMACICO und der SECMA zerschlagen werden könne, verfolgte die französische Regierung die Aushandlung von kulturpolitischen Kooperationsverträgen mit den einzelnen afrikanischen Regierungen auf dem Gebiet des ehemaligen französischen Kolonialimperiums. Der Großteil des französischen Engagements und der französischen Finanzmittel floss dabei in Kooperationen im Bereich der Produktion von actualités filmées. Diese actualités filmées waren kurze Nachrichtenfilme, die in afrikani-

17 Archives Nationales de France. Cote 20050584/41. Note de M. Carriere relative à la vente des circuits COMACICO et SECMA, 30.12.1963. „Und vor allem bedeutet die amerikanische Kontrolle über die Kinofilmdistribution, also über den kinematographischen Markt im frankophonen Schwarzafrika, dass die Kinosäle mit Produktionen aus den USA, mit Wochenschauen, mit Propaganda und mit Werbung für Produkte von jenseits des Atlantiks überschwemmt werden. Wochenschauen, die mit Hilfe des Kooperationsministeriums und des CAI erstellt wurden, werden verdrängt werden. Und bald wird die amerikanische Kontrolle dann auch die Übernahme der Programmgestaltung von Fernsehersendern, die durch die vom französischen Office de Coopération Radiophonique (OCORA) eingerichtet wurden, bedeuten. In der Folge werden originale englischsprachige Produktionen auf den Bildschirmen laufen, wie es bereits in Léopoldville der Fall ist.“ [Übersetzung durch S. St.]

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schen Kinos vor dem Hauptfilm gezeigt werden sollten.18 Für die Erstellung der actualités filmées erwirkte die französische Regierung die Gründung des Consortium Audiovisuel International (CAI). Das CAI entstand als gemischtwirtschaftliche Gesellschaft mit staatlicher Anteilsmehrheit. Es bestand aus den Firmen Pathé, Gaumont, Éclaire und den staatlichen Actualités Françaises. Über die Gesellschaft handelte die französische Regierung mit afrikanischen Regierungen Kooperationsverträge zur Nachrichtenfilmproduktion aus. Die Finanzierung der Produktion wurde zur Hälfte durch die jeweilige afrikanische Regierung und zur anderen Hälfte durch das CAI getragen. Französische Filmtechniker wurden in die Länder der Vertragspartner entsandt, wo sie – häufig unterstützt durch einen afrikanischen Auszubildenden – Filmaufnahmen anfertigten. Die Aufnahmen wurden anschließend nach Frankreich gesandt, wo das Bildmaterial geschnitten und die actualités filmées für die afrikanischen Länder erstellt wurden. Bald erweiterte das CAI seinen Zuständigkeitsbereich um die Erstellung sogenannter films d’animations, die im Rahmen von Entwicklungskooperationen und allgemein zur Belehrung vor allem der ländlichen afrikanischen Bevölkerung zum Einsatz kamen. Zu einer Zeit, in der auf dem europäischen Kontinent Fernsehgeräte Einzug in die Wohnzimmer hielten und die Kinofilmproduktionen für europäische Leinwände in erheblichem Maße zurückgingen, konnten die im CAI repräsentierten Firmen über die Verträge mit afrikanischen Regierungen Einnahmen aus der gewohnten Produktionsweise beziehen. Das französische Finanzministerium glich wirtschaftliche Verluste aus, wenn afrikanische Länder ihre Anteile zur Produktion der actualités filmées und der films d’animations nicht aufbringen konnten. Neben diesen wirtschafts- und informationspolitisch motivierten Maßnahmen förderte Frankreich die Verbreitung der französischen Sprache und Kultur auch im afrikanischen Bildungs- und Kultursektor. Zu diesem Zweck handelte die französische Regierung Allianzen im Bereich der allgemeinen Kulturkooperation mit afrikanischen Regierungen aus und richtete beispielsweise Kinematheken an den französischen Botschaften ein und bezuschusste Kulturveranstaltungen. Weiterhin förderte sie Filmschaffende aus den ehemaligen Kolonien

18 Die actualités filmées sind ansatzweise mit Wochenschauen, wie sie in Deutschland existierten, zu vergleichen. Der deutsche Begriff soll an dieser Stelle jedoch vermieden werden, da die propagandistisch genutzten Nachrichtenfilme immer in spezifischen politischen Kontexten zu verorten sind. Eine vergleichende Untersuchung der Entstehungsgeschichte von deutschen Wochenschauen und französischen actualités filmées, die beide Formate systematisch in die jeweiligen länderspezifischen politischen Kontexte einbetten und eventuell damit verbundene Gestaltungskontexte aufzeigen würde, steht noch aus.

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durch Ausbildungsstipendien19 und ließ ihnen finanzielle wie technische Hilfe bei der Realisierung ihrer Filme zukommen. Für die Unterstützung mussten die Filmschaffenden die nicht-kommerziellen Rechte an ihren Filmen an das französische Kulturministerium abtreten, was zur Folge hatte, dass Filme afrikanischer Regisseure und Regisseurinnen vor allem auf europäischen Filmfestivals gezeigt wurden. Denn der kommerzielle Filmverleih zeigte kein Interesse an den Filmen.20 Für die 1960er und 1970er Jahre lässt sich somit festhalten, dass die interministeriell organisierte und im französischen Regierungsapparat umfassend verankerte Kinopolitik gegenüber dem frankophonen Afrika vor allem der Selbstversicherung und dem Geltungsanspruch Frankreichs als Weltmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der formalen Dekolonisierung diente. Die für den afrikanischen Kontinent produzierten Filme kamen im Kontext von Propaganda- und Entwicklungspolitik zum Einsatz. Auch die Förderung afrikanischer Filmschaffender war kein Selbstzweck, sondern fügte sich in die Außendarstellung des gaullistischen Frankreichs als Treuhänder der ehemaligen Kolonien ein. Die französische Kinopolitik war monodirektional und deutlich einfluss- und machtpolitisch konzipiert. Sie fügte sich ein in eine gaullistische Hegemonialpolitik, die durch das Festhalten an einer, den politischen und kulturellen Raum des ehemaligen Kolonialimperiums umfassenden, franko-afrikanischen Gemeinschaft manifestiert werden sollte.

Die Bewegung Afrikanischer Filmschaffender Die mit der Dekolonisierung einhergehende geänderte Rechtslage stellte für afrikanische Filmschaffende einen einschneidenden Wendepunkt dar. Denn all die Jahre zuvor hatte ein Verwaltungserlass des französischen Kolonialministers Pierre Laval aus dem Jahr 1934 das Filmschaffen in den französischen Kolonien

19 Frankreich war zwar mit Abstand der größte Förderer, es war jedoch nicht das einzige Land, das afrikanischen Filmschaffenden ein Studium an Filminstituten ermöglichte. Souleymane Cissé, Sarah Maldoro, Ousmane Sembène und Abderrahmane Sissako beispielsweise lernten das Filmhandwerk unter anderem in der Sowjetunion. Vgl. dazu Woll, Josephine: The Russian connection. Soviet cinema and the cinema of Francophone Africa. In: Focus on African Films. Hrsg von Françoise Pfaff. Bloomington/Indianapolis 2004. S. 223–240.; Pfaff, Françoise: Twenty-Five Black African Filmmakers. A Critical Study with Filmography and Bio-Bibliography. New York [u. a.] 1988. 20 Eine prägnante Beschreibung der französischen Filmförderung gegenüber afrikanischen Filmschaffenden findet sich z. B. bei Diawara, Cinema, S. 26f.

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quasi unterbunden.21 Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass ein in Paris gedrehter Film als Geburtsstunde des Afrikanischen Films gilt. Dabei handelt es sich um Afrique-sur-Seine – 1955 von Paulin Soumanou Vieyra, einem senegalesischen Filmstudenten an der Pariser Filmhochschule IDHEC gedreht.22 Mit der Dekolonisierung schließlich konnten afrikanische Filmschaffende erstmals Filme in ihren Herkunftsländern machen. Roy Armes charakterisiert die Filmschaffenden als Teil einer in Übersee – in der Regel in Frankreich – ausgebildeten Elite.23 Diese Einschätzung trifft wohl auf einen Teil der Filmschaffenden zu. Gleichsam verkennt der Begriff der ‚Elite‘ die individuellen Erfahrungen, die oftmals mit prekären Lebensverhältnissen und kulturellen Entfremdungserfahrungen im Ausland einhergingen. Der mauretanische Regisseur Med Hondo (*1936) beispielsweise hatte als Koch in Frankreich gearbeitete und habe dabei, wie er selbst konstatierte, viel über das französische Proletariat gelernt. Außerdem hatte er Theaterunterricht bei der französischen Schauspielerin Françoise Rosay genommen. Bald jedoch gründete er eine eigene Theatergruppe namens Shango, da er sich durch den klassischen Theaterunterricht mit Stücken von Molière oder Shakespeare kulturell entfremdet gefühlt habe. Mit Shango führten er und seine Mitspieler schließlich Stücke afrikanischer und südamerikanischer Autoren auf.24 Auch die Arbeits- und Ausbildungserfahrungen des senegalesischen Buchund Filmautors Ousmane Sembene (*1923) entsprechen nicht dem Bild einer ‚in Frankreich ausgebildeten Elite‘. Nach dem Besuch einer Koranschule ging Sembene auf eine französische Schule in Dakar (Senegal), die er jedoch nicht abschloss. Im Alter von 14 Jahren beendete er seine Schullaufbahn und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Ab seinem 20. Lebensjahr diente er für vier Jahre in der französischen Kolonialarmee. Später verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hafenarbeiter in Marseille. Bereits 1947/48 hatte sich Sembene am Dakar-Niger-Eisenbahnstreik – einem mehrmonatigen Streik zu Gleichstellung 21 Ein Abdruck des Erlasses findet sich in: Dupré, Colin: Le Fespaco, une affaire d’État(s). Festival Panafricain de Cinéma et de Télévision de Ouagadougou. 1969–2009. Paris 2012. S. 362–365. 22 Vieyra, der seit seinem 11. Lebensjahr Schulen in der französischen Hauptstadt besucht und auch den Zweiten Weltkrieg in Paris verbracht hatte, thematisiert in Afrique-sur-Seine das Leben afrikanischer Studierender in Paris. Neben Vieyra waren noch Jacques Mélo Kane und Mamadou Sarr an dem Film beteiligt. Über diese beiden Filmschaffenden ist im Gegensatz zu Vieyra, der später bei Jean Rouch promovieren und im senegalesischen Informationsministerium arbeiten sollte, wenig bekannt. Zur Biographie Vieyras vgl. Pfaff, Filmmakers, S. 289– 303. 23 Armes, Roy: Third World Filmmaking and the West. Berkley 1987. S. 21. 24 Pfaff, Filmmakers, S. 157f.

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einheimischer Bahnangestellter mit französischen Eisenbahnern – beteiligt. Auch in Frankreich war er gewerkschaftlich aktiv und Angehöriger der Kommunistischen Partei. 1957 reiste er in die Sowjetunion und 1958 nahm er am Ersten Kongress der Afrikanischen und Asiatischen Schriftsteller in Taschkent teil, wo er auch dem hochbetagten afro-amerikanischen Schriftsteller, Wissenschaftler und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois begegnete. Sembenes literarisches Interesse galt vor allem afrikanischen, afro-amerikanischen und karibischen Autoren. Er war in der Szene Schwarzer25 Intellektueller in Paris gut vernetzt. Er kannte unter anderem Mongo Beti, Laye Camara, Léon-Gontran Damas und Ferdinand Oyono. Darüber hinaus pflegte er auch Kontakte zu Vertretern der Weißen französischen Linken, wie Louis Aragon, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Im Hinblick auf seine literarische und filmische Arbeit war Sembene weitestgehend Autodidakt.26 An diesen beiden hier skizzierten Lebensläufen zeigt sich, dass der Begriff der ‚afrikanischen Elite‘ insofern zutreffend ist, als dass die Filmschaffenden einem avantgardistisch-intellektuellen Milieu zuzurechnen sind. Ihre wirtschaftliche Situation war jedoch weitgehend prekär. Und in Abgrenzung zu Vertretern der Regierungselite der jungen afrikanischen Staaten, hatten Med Hondo und Ousmane Sembene keine unmittelbaren Verbindungen zum französischen Regierungs- und Verwaltungsapparat. Das Beispiel des Festival Mondial des Arts Nègres, welches 1966 unter der Ägide des Präsidenten des Senegals, Leopold Sedar Senghor, stattfand, verdeutlicht hingegen die engen Verbindungen zwischen französischer und – in diesem Fall – senegalesischer regierungspolitischer Funktionselite. Verwaltungsakten des französischen Kooperationsministeriums zeugen davon, dass die französische Administration in die Gestaltung des Festivals involviert war. So veranlasste das Kooperationsministerium, dass Filme der französischen Filmemacher Jean Rouch und François Reichenbach am Filmwettbewerb des Festivals teilnahmen.27 Darüber hinaus hatte Alioune Diop28 als einer der Organisatoren des 25 Die Großschreibung des Wortes soll darauf verweisen, dass SCHWARZ hier nicht als ein auf eine Farbe rekurrierendes Adjektiv, sondern als sozio-politische Kategorie verwandt wird. Ebenso wird im weiteren Text mit WEISS verfahren. Zu diesem Themenkomplex vgl. Husmann, Jana: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von Rasse. Religion, Wissenschaft, Anthroposophie. Bielefeld 2010. 26 Pfaff, Filmmakers, S. 237–239. 27 „La chasse au lion à l’arc“ (Jean Rouch), sollte in der Kategorie Bester dokumentarischer Langfilm ins Rennen gehen, „Goumbé“ (Jean Rouch) in der Kategorie Bester dokumentarischer Kurzfilm und „Un coeur gros comme ça de François“ (François Reichenbach) in der Kategorie bester schwarzer Darsteller (Abdou Faye); Archives Nationales de France. Cote 19930381/1. Brief Jean René Debrix an Pierre Braunberger von Films de la Pleiade, 18.2.1966. 28 Der senegalesische Schriftsteller Alioune Diop war ein führender Vertreter der NégitudeBewegung und Gründer der bis heute existierenden Zeitschrift ‚Présence Africaine‘.

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Festivals den Leiter des Bureau de Cinéma innerhalb des französischen Kooperationsministeriums, Jean René Debrix, als Jurymitglied angefragt.29 Weiterhin koordinierte das Bureau de Cinéma die Erstellung eines Films über das Festival, der schlussendlich durch den Franzosen François Reichenbach und den Senegalesen Paulin Soumanou Vieyra realisiert werden sollte.30 Regierungschefs der jungen afrikanischen Republiken erhofften sich von der engen Zusammenarbeit mit der ehemaligen Kolonialmacht politische Stabilität. Offizielle Inszenierungen von harmonischer Nähe zwischen den Regierungen der jungen afrikanischen Staaten und der ehemaligen Kolonialmacht waren keine Seltenheit. Es sei an dieser Stelle mit Éloïse A. Brière darauf verwiesen, dass Filmschaffende und Schriftsteller vor dem Hintergrund des politischen Schulterschlusses zwischen afrikanischer politischer Eliten und französischer Regierung zu Erzählern von aus der offiziellen Narration verdrängten antikolonialen lieux de mémoire wurden: Ce sont les écrivains et les cinéastes qui remettront en question la vieille fable impérialiste selon laquelle la France octroi bénévolement aux Africains leur indépendance. Ils replaceront alors l’histoire de la résistance africaine anticoloniale sur l’échiquier historiographique africain pour lutter contre l’amnésie collective sur laquelle est inscrite l’histoire dite nationale par le parti unique et son chef d’état. 31

Afrikanische Filmschaffende verstanden ihre Filme als Mittel zur Befreiung aus kolonialen Entfremdungserfahrungen. Dennoch sahen sie sich im Hinblick auf ihre Arbeitssituation mit nach-kolonialen strukturellen Abhängigkeiten konfrontiert. Wie weiter oben bereits erläutert, war die französische Regierung der wichtigste Geldgeber für Filmschaffende des frankophonen Afrikas. Auch die Postproduktion der afrikanischen Filme fand in Ermangelung an Alternativen in der Regel in teilstaatlichen Einrichtungen in der französischen Hauptstadt statt.32 Somit waren die Regisseure und Regisseurinnen stark abhängig von der ehemaligen Kolonialmacht. 29 Archives Nationales de France. Cote 19930381/1. Brief Jean René Debrix an Alioune Diop, 7.3.1966. 30 Diverse Briefwechsel aus dem Jahr 1966 belegen den Planungsprozess zum Film. Vgl. Archives Nationales de France. Cote 19930381/1 31 Brière, Éloïse A.: Recycler l’histoire de la décolonisation. Fiction et lieux de mémoire. In: French Colonial History 8 (2007). S. 140f. „Es sind die Schriftsteller und Filmemacher, die das alte imperialistische Märchen in Frage stellen, wonach Frankreich den Afrikanern die Unabhängigkeit freiwillig zugestanden hätte. Sie platzierten die Geschichte antikolonialer Widerstände in der historiographischen Arena, um so gegen das kollektive Vergessen zu kämpfen, in das sich die sozusagen ‚nationale Geschichte‘ von Einparteienregierungen und des jeweiligen Staatschefs eingeschrieben hatte.“ [Übersetzung S. St.]. 32 Diawara, Cinema, S. 26f.

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Bereits ab Ende der 1950er Jahre hatten Filmschaffende Vorstellungen zur Förderung des Afrikanischen Films formuliert. Anfangs geschah dies noch eher durch Einzelpersonen, wie Paulin Soumanou Vieyra oder Timité Bassori.33 Zunehmend organisierten sich Filmschaffende in Kollektiven und versuchten, ihren Forderungen gegenüber politisch Verantwortlichen Nachdruck zu verleihen. Damit wirkten sie herausfordernd auf afrikanische Regierungen ein. Am 3. Januar 1964 wandte sich beispielsweise die Association Cinéma Africain, in der sich afrikanische Filmschaffende in Paris organisiert hatten, in einem Brief an die Regierung Obervoltas (heute Burkina Faso). Darin baten die Filmschaffenden den Präsidenten der jungen Republik, Maurice Yaméogo, um Anerkennung ihrer Organisation. Doch diese Bitte wurde in den ersten Jahren nach der Dekolonisierung keineswegs als harmlos abgetan. – „Cette affaire est dangéreux pour notre réputation“, ist in einer handschriftlichen Notiz auf dem Brief vermerkt.34 Im gleichen Jahr, in dem das oben erwähnte Premier Festival Mondial des Arts Nègres in Dakar stattfand (1966), veranstalteten afrikanische Filmschaffende die ersten Journées Cinématographiques de Carthage (JCC) in Tunis. Auf dem Treffen forderten die Filmschaffenden eine kulturelle und wirtschaftliche Befreiung von der dominanten französisch-amerikanischen Kinokultur. Diese sollte durch die Verstaatlichung des unter dem Monopol der COMACICO und der SECMA stehenden Kinoverleihs und der Kinos erreicht werden.35 Die COMACICO und die SECMA wurden von den Filmschaffenden als ‚französisch-amerikanisches Monopol‘ wahrgenommen.36 Die Filmtage in Tunis gelten außerdem als wichtiger Meilenstein im Gründungsprozess des bis heute existierenden und damit ältesten Zusammenschlusses afrikanischer Filmschaffender – die Fédération Panafricaine des Cinéastes (FEPACI).37 In den folgenden Jahren fanden konti33 Diawara, Cinema, S. 36–38. 34 Archives Nationales de Burkina Faso. Cote 7V 127. Brief Association Cinéma Africain, 3.1.1964. „Diese Angelegenheit ist gefährlich für unser Ansehen“ [Übersetzung S. St.]. 35 Diawara, Cinema, S. 40. 36 Unbewusst verfolgten die Filmschaffenden damit ein ähnliches Ziel wie die französische Regierung, die, wie weiter oben beschrieben, bemüht war, die COMACICO und die SECMA zu kaufen, um so das Monopol der beiden privatwirtschaftlichen Gesellschaften zu zerschlagen. Die Motive waren jedoch unterschiedlich: Während die Filmschaffenden ihre eigenen Filme in afrikanischen Kinos sehen wollten, ging es der französischen Regierung vor allem darum, den nicht kontrollierbaren Einfluss der zu kolonialen Zeiten entstandenen privatwirtschaftlichen Gesellschaften zu minimieren. 37 Über das genaue Gründungjahr der Vereinigung gibt es unterschiedliche Angaben. Manthia Diawara nennt die Journées Cinématographiques de Carthage im Jahr 1966 als Gründungsmoment der FEPACI. Diawara, Cinema, S. 40. Einstimmigkeit herrscht in der Fachliteratur zumindest bezüglich der Bedeutung der Filmtage bei der Herausbildung der FEPACI-Organisation.

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nuierlich weitere Treffen und Konferenzen afrikanischer Filmschaffender statt: 1968 die zweiten JCC, 1969 das Festival Culturel d’Alger und das erste Festival Africain de Cinéma de Ouagadougou, 1970 das zweite Festival Africain de Cinéma de Ouagadougou und das dritte JCC, 1972 das Festival Panafricain de Cinéma de Ouagadougou (FESPACO), 1973 das FESPACO.38 Die Filmschaffenden formulierten Kritik an den post-kolonialen Strukturen, die Auswirkungen auf ihre Arbeit hatten, unterschiedlich drastisch. Im Wesentlichen ist erkennbar, dass sie eine Veränderung der Bedingungen für die Entstehung einer afrikanischen Filmkultur anstrebten und zur Erreichung dieses Ziels konstruktiven Einfluss auf politische Entscheidungsträger auszuüben suchten. Ein Zitat Ousmane Sembenes verdeutlicht jedoch, dass hinter den politischen Forderungen auch deutliche Frustration über (subsaharische) afrikanische Regierungen und die ehemalige Kolonialmacht steckte. In einem Interview von 1969 beschreibt der senegalesische Filmemacher die postkoloniale Situation als ein ihn ‚einschließendes Netz aus Widersprüchlichkeiten‘. Afrikanische Regierungen bezeichnet er als ‚Komplizen des Neokolonialismus‘ und die ehemalige Kolonialmacht als Teufel: I always repeat that African cinema cannot depend eternally on the ‚goodwill‘ of the French. On the one hand this is because that can hold surprises for us, on the other hand, because it is not normal. All that returns to the general problem of the neocolonialism which we are in with the complicity of our governments. We are enclosed in a web of contradictions. Under these conditions it is necessary to act as well as possible. I will not wait, sitting on a chair, for my country to take in hand all its economic and political destinies. The crafty ones criticize me for working with French money. It was indeed with an advance on receipts from Malraux that I could make ‚Mandabi‘. I answer that indeed it is a contradiction. But I did not have the choice: between two contradictions, it is necessary to choose the smallest evil. […] I am ready to make an alliance with the devil if the devil gives me the money to make films. But I will not disavow any of my political convictions.39

Außerdem rechtfertigt sich Sembene dafür, dass er seinen Film ‚Mandabi‘ mit finanzieller Unterstützung des französischen Kulturministeriums – er nennt den Kulturminister André Malraux – realisiert habe. Offensichtlich hatte es Kritik an dieser Form der Filmfinanzierung gegeben.

38 Die Listung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ist entnommen aus Dupré, FESPACO, S. 391f. 39 Ousmane Sembène interviewt durch Guy Hennebelle. In: Busch, Annett/Annas, Max: Ousmane Sembène. Interviews. Mississippi 2008. S. 10. [Interview erstmals veröffentlicht in L’Afrique Littéraire et Artistique 7 (1969)]

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Ende der 1960er Jahre hatte sich unter Teilen der Filmschaffenden radikale Positionen etabliert: Zusammenarbeit mit ehemaligen Kolonialmächten sowie kapitalistischen und imperialistischen Ländern wurde radikal abgelehnt. Diese radikaleren Standpunkte wurden auf Konferenzen in Nordafrika formuliert, was nicht dem Zufall geschuldet sein mag. Denn, wie Éloïse A. Brière schreibt, charakterisierten sich die nordafrikanischen Länder Algerien und Tunesien durch ein anderes nationales Selbstverständnis. Im Gegensatz zu einem Großteil der frankophonen subsaharischen Staaten sei der anti-koloniale Widerstand in Nordafrika für das nationale Selbstverständnis der post-kolonialen Staaten grundlegend gewesen.40 Somit war es in diesen Ländern für Filmschaffende eher möglich, anti-koloniale oder anti-imperiale Positionen in Pamphleten öffentlich zu postulieren, ohne politische Restriktionen fürchten zu müssen. Durch den politischen Gestaltungswillen der Filmschaffenden und dessen Formulierung auf kulturpolitischen Treffen entwickelte sich eine kollektive Identifikation. Die Filmschaffenden verstetigten ihre gemeinsamen Ziele in Manifesten und in Fachkreisen entwickelte sich eine Öffentlichkeit für ihre Belange. Diese Öffentlichkeit war stark durch publizistische Möglichkeiten in Frankreich bedingt. Zeitschriften wie die in Paris ansässigen Présence Africaine und L’Afrique Litteraire et Artistique41 oder die durch den französischen Journalisten und Filmkritiker Guy Hennebelle gegründete CinémAction boten eine Plattform. Aber auch darüber hinaus interessierten sich Journalisten und Journalistinnen wie beispielsweise Catherine Ruelle für das afrikanische Filmschaffen. Bei der Entstehung einer Öffentlichkeit für die Forderungen afrikanischer Filmschaffender in Frankreich mögen auch allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen ausschlaggebend gewesen sein. Christoph Kalter hat das Aufkommen des Dritte Welt-Konzeptes und einer damit verbundene politische Re-Orientierung innerhalb der französischen Linken beschrieben. Diese, wie Kalter schreibt, [neue radikale Linke] erklärte die Dritte Welt einerseits zum nachahmenswerten Modell oder Impulsgeber für die antikapitalistische Linke der Ersten Welt. Damit würdigte sie die Dynamik des Neuen und stellte bekannte Hierarchien auf den Kopf. Andererseits sah auch die radikale Linke in der außereuropäischen Welt einen Spiegel Europas – und in der ‚Dritten Welt‘ und ihrer als ‚Kolonialrevolution‘ gedeuteten Dekolonisierung die Akteure und Etappen eines marxistischen Befreiungsplans.42

40 Brière, Histoire, S. 140. 41 Eine Auswahl von Artikeln zum afrikanischen Filmschaffen, die bis 1972 in L’Afrique Litteraire et Artistique erschienen, finden sich in Vieyra, Paulin Soumanou: Le Cinéma Africain. Des Origines à 1973. Paris 1975. S. 426–427. 42 Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt a. M. 2011. S. 11–16.

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Das Konzept der Dritten Welt sollte auch für das Filmschaffen von Bedeutung werden, wie ich im nächsten Unterkapitel zeigen werde. Bis hierher lässt sich festhalten, dass sich afrikanische Filmschaffende spätestens ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in regelmäßigen Abständen auf Kongressen und Festivals trafen und gemeinsame Positionen aushandelten. Eine kritische Haltung gegenüber dem zu kolonialen Zeiten entstandenen kulturellen Einfluss imperialistischer Mächte einte die Filmschaffenden. Die Bewegung afrikanischer Filmschaffender konstituierte sich bereits in ihrer Anfangszeit transnational und transkontinental. Neben dem interafrikanischen Austausch – oder im Selbstverständnis der Filmschaffenden panafrikanischen Austausch – bestanden auch Verbindungen in die französische Hauptstadt. Anti-koloniale und anti-imperiale Kritik verband afrikanische Filmschaffende und Vertreter einer neuen radikalen Linken in Frankreich. Inwiefern also bildete auch das Interesse der französischen Linken an der Dritten Welt einen entsprechenden Nährboden bei der Entwicklung einer Öffentlichkeit für die Belange der Filmschaffenden?

Dritte-Welt-Filmschaffende 1969 veröffentlichten die argentinischen Filmemacher Pino Solanas und Octavio Getino ihr berühmtes Manifest zum Dritten Kino. Darin beschrieben sie ein militantes, „eigenständiges Kino der Dritten Welt“ im Dienste anti-kolonialer Kämpfe.43 Sada Niang bringt die Entstehung dieses Manifestes in Verbindung mit der Aufbruchsstimmung, die von der ’68er-Revolte in den westlichen Ländern ausging. Darüber hinaus erachtet er Solanas’ und Getinos’ Manifest als einflussreich auch im Hinblick auf Debatten, die kurze Zeit später im Rahmen von Treffen der weiter oben bereits erwähnten Fédération Panafricaine des Cinéastes (FEPACI) angestellt wurden: „This document and the films which later articulated its proposals have framed the debates leading to the formation of the FEPACI and the adoption of several of its manifestos.“44 Im Dezember 1973 kam es in Algier zu einem Austausch zwischen Filmschaffenden aus dem subsaharischen Afrika, Nordafrika, Südamerika wie auch europäischen Filmemachern und Filmemacherinnen. Die Zusammenkunft wurde als Treffen der Dritte Welt-Filmschaffenden deklariert. Das algerische Office nationale pour le commerce et l’industrie cinématographique hatte das Treffen

43 Foerster, Spuren, S. 11. 44 Niang, Cinema, S. 4.

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gefördert. In der Resolution des Treffens wird vom globalen Kapitalismus als Hauptproblem auch für den Kultursektor ausgegangen. Die Ausdehnung des Kapitalismus habe sich im Kolonialismus manifestiert und zeige sich ebenso in subtileren Spielarten beziehungsweise im Neokolonialismus. Der Kolonialismus habe die Kultur der Kolonisierten infiltriert und beeinflusse über das Vehikel der Sprache auch die sozialen Beziehungen der Kolonisierten bis hinein ins Familienleben. Auf diese Weise werde Sprache ein Element der Entfremdung, anstatt der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur. Für unterdrückte Völker gelte es vor diesem Hintergrund, ihre eigene Kultur zu verteidigen. Der Imperialismus sei für sogenannte unterentwickelte Länder ein Entwicklungshindernis. Ebenso wird darauf hingewiesen, dass die Kultur des Kolonialismus und das kapitalistische System auch Menschen in den kolonisierenden Ländernausbeute. Folglich sollten Filme die Lebensumstände unterdrückter Menschen im Allgemeinen reflektieren und so der kulturellen und sozialen Entfremdung entgegenwirken. Die Dritte Welt-Filmschaffenden hofften auf diese Weise „with the acquisition of films from the Third World countries and the progressive countries, of swinging the balance of the power relationship in favor of using cinema in the interest of the masses“.45 Ohne Zweifel muss es für die zahlreichen Konferenzteilnehmenden eine anspruchsvolle Herausforderung gewesen sein, die unterschiedlichen Lebensumstände und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen aller Beteiligten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht zu haben. So erscheint dann auch die dichte Argumentation der umfassenden Resolution theoretisch überbordend.46 Neben den theoretischen Erörterungen sprachen die Filmschaffenden auch konkrete Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Ziele an. Da eine Zusammenarbeit mit imperialistischen Ländern zur kulturellen und ökonomischen Ausbeutung führe, sei es notwendig, Koproduktionen innerhalb der Dritten Welt zu arrangieren. Den „revolutionary film-makers of the third world“ sollten nationale Kinoinfrastrukturen bereitgestellt werden. Filmproduktionen der kapitalistischen Länder sollten nicht weiter genutzt werden. Auf Regierungen solle Einfluss genommen werden, Kooperationen zwischen nationalen Filmorganisationen innerhalb der Dritten Welt zu fördern. Der Präsidenten der Bündnisfreien Staaten, Houari Boumedienne47, solle dabei behilflich sein. Weiterhin solle eine Organi45 Resolution of the Third World Film-makers Meeting Algiers, abgedruckt in: Cinemas of the Black Diaspora. Diversity, Dependence, and Oppositionality. Hrsg. von Michael T. Martin. Detroit 1995. S. 463–472. 46 Die ideengeschichtlichen Hintergründe dieses Manifestes zu untersuchen, wäre eine herausfordernde, eigenständige Forschungsaufgabe. 47 Boumedienne war zu diesem Zeitpunkt außerdem Vorsitzender des algerischen Revolutionsrates.

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sation der Dritte-Welt-Filmschaffenden gegründet werden, deren ständiges Sekretariat auf Kuba installiert werden solle. Bis dahin organisiere die Union des Arts Audio-Visuels d’Algérie das Sekretariat. Auch im Hinblick auf den Filmverleih solle eine zentrale Stelle eingerichtet werden und finanzielle Unterstützung bei internationalen Organisationen und Dritte Welt-Ländern, in denen die Kontrolle über ihre Kinos in staatlicher Hand läge, gesucht werden. Wie María Roof darlegt, war dieses Treffen im Jahr 1973 lediglich ein Ausgangspunkt für den weiteren Austausch zwischen Dritte Welt-Filmschaffenden.48 Parallel dazu kamen afrikanische Filmschaffende weiterhin im Rahmen von FEPACI-Treffen zusammen. Ebenfalls in Algier und nur ein gutes Jahr später verabschiedete beispielsweise die FEPACI nach einer Konferenz am 18. Januar 1975 einstimmig die Charte d’Alger. Auch dieses Pamphlet beschreibt die kulturelle Dominanz imperialistischer Mächte als Gefahr: „La domination culturelle, d’autant plus dangereuse qu’elle est insidieuse, impose à nos peuples des modèles de comportements et des systèmes de valeur dont la fonction fondamentale est de renforcer l’emprise idéologique et économique des puissances impérialistes.“49 Um dieser kulturellen Dominanz zu begegnen, solle eine afrikanische Kultur entgegengesetzt werden, die sich an den eigenen Realitäten orientiere: Afin d’assumer un rôle réel et actif dans le processus global de développement, la culture africaine doit être une culture populaire, démocratique et progressiste, s’inspirant de ses propres réalités et répondant à ses propres besoins. Elle doit également être solidaire de toutes les cultures militantes dans le monde. Le problème n’est pas de chercher à rattraper les sociétés capitalistes développées, mais plutôt de permettre aux masses de s’approprier les moyens de leur propre développement, en leur redonnant l’initiative culturelle par l’exploitation des ressources de la création populaire complètement libérée.50

48 Vgl. Roof, María: African and Latin American cinemas. Contexts and contacts. In: Pfaff, Focus, S. 241–272. 49 Archives Nationales de France. Cote 19930381/19. Charte d’Alger. „Die kulturelle Fremdherrschaft, die umso gefährlicher da schleichend ist, zwingt unseren Völkern Verhaltensmodelle und Wertesysteme auf, deren Grundfunktionalität den ideologischen und ökonomischen Einfluss der imperialistischen Mächte bestärkt.“ [Übersetzung S. St.]. 50 Archives Nationales de France. Cote 19930381/19. Charte d’Alger: „Damit die afrikanische Kultur eine reelle und aktive Rolle im globalen Entwicklungsprozess übernimmt, soll sie eine populäre, demokratische und fortschrittliche Kultur sein, die sich von den eigenen Realitäten inspirieren lässt und Antworten auf die eigenen Bedürfnisse findet. Gleichzeitig soll sie sich solidarisch mit den militanten Kulturen in der Welt zeigen. Das Problem besteht nicht darin, dass die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften eingeholt werden müssen. Vielmehr muss den Volksmassen ihre eigene kulturelle Aktivkraft durch die Aufdeckung von kreativen Ressourcen breiter Bevölkerungsschichten ermöglicht werden, damit sie sich so eigene, grundlegend befreite Mittel der Entwicklung aneignen.“ [Übersetzung S. St.].

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Die Charte d’Alger kann als unmittelbare Bezugnahme auf die Argumentation der Dritte Welt-Filmschaffenden gesehen werden. Auch kann davon ausgegangen werden, dass sich die personelle Mitarbeit an den beiden Manifesten zum Teil überschnitt. In Abgrenzung zur Resolution der Dritte Welt-Filmschaffenden ist jedoch festzustellen, dass sich die in der FEPACI organisierten afrikanischen Filmschaffenden lediglich solidarisch mit „militanten Kulturen“ erklärten, die eigene Filmkultur jedoch nicht als revolutionär beschrieben. Außerdem fällt auf, dass keine anti-kapitalistische Haltung erklärt wurde und der Text mit keinem Wort die koloniale Vergangenheit erwähnte. Der vergleichsweise moderate Ton lässt sich durch die kinopolitischen Umstände zu Beginn der 1970er Jahre erklären: Denn das durch die FEPACI initiierte Panafrikanische Filmfestival FESPACO war durch die Regierung Obervoltas (heute Burkina Faso) zur Staatsangelegenheit erklärt worden und erfuhr, wie der französische Filmemacher und Filmhistoriker Colin Dupré schreibt, eine rasche Institutionalisierung. Außerdem hatte die Regierung Obervoltas die Kinosäle im Land verstaatlicht, um so gegen das Monopol der COMACICO und der SECMA vorzugehen.51 Die FEPACI stand in einem engen Austausch mit der Regierung Obervoltas. Französische Verwaltungsakte zeugen außerdem davon, dass als Reaktion auf die Verstaatlichung der Kinosäle in Obervolta die Frankreich-nahe Organisation Commune Africaine et Malgache (OCAM) über eine gemeinsame Kinopolitik beriet. Somit schien es zu Beginn der 1970er Jahre so, als wenn die 1966 auf den Journées Cinématographiques de Carthage gestellten Forderungen der FEPACI nach Verstaatlichung der Kinosäle und des Kinoverleihs erfüllt würden. Der politische Dialog mit subsaharischen Regierungen – allen voran der Regierung Obervoltas – schien nach Jahren der politischen Agitation durch die Filmschaffenden Resonanz hervorzubringen. Somit sind also ab dem Ende der 1960er, zu Beginn der 1970er Jahre unterschiedliche Tendenzen in der Bewegung afrikanischer Filmschaffender erkennbar. Diese Zeit muss als eine Phase beschrieben werden, in der die Bewegung der afrikanischen Filmschaffenden auf der einen Seite eine Radikalisierung erfuhr, indem die Dritte Welt-Filmschaffenden idealistische Positionen und ein militant-revolutionäres Selbstverständnis formulierten. Kulturbeziehungen sollten ihrer Ansicht nach zwischen Dritte Welt-Ländern und mit Unterstützung der Bewegung Blockfreier Staaten etabliert werden. Die Zusammenarbeit mit als imperialistisch wahrgenommenen Ländern wurde abgelehnt. Auf der anderen Seite war durch die Verstaatlichung der Kinosäle in Obervolta eine der grundlegenden Forderungen der FEPACI erreicht worden. Die FEPACI positionierte sich in der Folge zwar weiterhin gegen Kulturimperialismus; von einer globalen Revo51 Dupré, FESPACO, S. 123–129, 115–118.

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lution sprachen die in der FEPACI organisierten Filmschaffenden jedoch nicht. Vielmehr betonten sie die Notwendigkeit zum Aufbau von Infrastruktur, um so die sozio-kulturelle Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften selbständig voranbringen zu können. Kulturbeziehungen wurden hier interafrikanisch in Form von Regionalkooperationen gedacht.

Ein Ausblick: die 1980er Jahre In den 1980er Jahren gab es wesentliche Veränderungen für das Filmschaffen auf dem afrikanischen Kontinent. Diese gingen mit der Einführung neuer Kameratechniken und einer stärkeren Verbreitung des Fernsehens einher. Aber auch die französischen Filmförderstrukturen änderten sich. Bereits ab Mitte der 1970er Jahre beriet die französische Regierung, wie die Kinopolitik auf dem afrikanischen Kontinent neu zu organisieren sei. Hauptziel war eine Dezentralisierung. Finanzielle Mittel sollten nicht mehr unmittelbar aus Paris kommen, sondern an afrikanische Organisationen fließen, die diese verwalten sollten. Zum einen hatte, wie Manthia Diawara schreibt, die politische Radikalität einiger der durch Frankreich geförderten Filme von subsaharischen Filmschaffenden die Beziehungen zwischen der französischen Regierung und afrikanischen Staatsführern belastet.52 Zum anderen hatte es in Frankreich einen Regierungswechsel gegeben. 1981 war eine neue Regierung unter dem Sozialisten François Mitterand ins Amt gewählt worden. Frankreich unter Mitterand präsentierte sich als Reformer der Weltwirtschaftsordnung; die Dritte Welt erschien als „neue Dimension französischer Außenpolitik“.53 Eine Politik post-kolonialer Abhängigkeit und Verstrickung passte dabei nicht mehr ins Bild und galt es für die Sozialisten nach Möglichkeit zu vermeiden. Vom 14. bis zum 18. Dezember 1981 fand an der Universität Paris X Nanterre eine Konferenz zum afrikanischen Filmschaffen statt. Diskutanten auf dieser Konferenz waren Mitarbeiter aus dem französischen Kooperationsministerium, französische Wissenschaftler, Journalisten und Filmschaffende sowie der tunesische Regisseur und Filmkritiker Férid Boughedir als Vertreter des afrikanischen Kinos. Bemerkenswert ist, dass auf dieser Konferenz zum afrikanischen Kino zahlreiche Filme afrikanischer Regisseure und Regisseurinnen gezeigt wurden, jedoch kein Filmschaffender des subsaharischen Afrikas als Diskutant geladen war. Wie die neue französische Regierung kulturpolitische Beziehun52 Diawara, Cinema, S. 27. 53 Woyke, Wichard: Die Außenpolitik Frankreichs. Eine Einführung. Wiesbaden 2010. S. 183– 185.

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gen gegenüber der Dritten Welt und gegenüber afrikanischen Filmschaffenden verstand, beschrieb auf dieser Konferenz Jean-Pierre Mounier, Berater im französischen Kooperationsministerium. Seiner Darstellung nach zielte die von der Regierung Mitterand anvisierte Entwicklungspolitik auf eine Änderung der globalen Wirtschaftsordnung ab. Der Kultur käme bei der ökonomischen und sozialen Entwicklung eine fundamentale Funktion zu, denn ohne die verschiedenen Kulturen der am Entwicklungsprozess beteiligten Akteure zu beachten, könnten keine Entwicklungsmaßnahmen angewendet werde. Daher sei es wichtig, einen globalen Austausch mit dem Ziel des Kennenlernens und der Sensibilisierung zwischen Nord-Süd, Süd-Süd und Süd-Nord anzustoßen.54 Mounier verwendete auf dieser Konferenz zu Beginn der 1980er Jahre also Nord-Süd-Semantiken. Außerdem fällt auf, dass die von Mounier mit Nord-Süd-Semantik belegten Kulturbeziehungen vor allem auf ein wechselseitiges Kennenlernen verschiedener Kulturen abzielten. In diesem Verständnis erscheinen Kulturbeziehungen eher als ein Mittel der wechselseitigen Verständigung. Damit stand Mouniers Darstellung von Kulturbeziehungen im Kontrast zu dem zu Beginn der 1960er Jahre geprägten gaullistischen Verständnis von kinopolitischen Kulturbeziehungen zu afrikanischen Ländern, die, wie das Zitat Ousman Sembenes weiter oben belegt, als Vehikel einer als neokolonial wahrgenommenen politischen Einflussnahme stark in die Kritik geraten waren. Ebenfalls auf der Konferenz an der Pariser Universität äußerte sich der tunesische Regisseur Férid Boughedir. Er übte Kritik an der FEPACI: Der panafrikanische Zusammenschluss der Filmschaffenden sei in einen Zustand der „tota54 Im Wortlaut äußerte Mounier unter anderem: „Il s’agit évidemment d’une recherche commune entre nos partenaires et nous, pas du tout de modèle qu’il s’agirait d’imposer, une recherche commune dans un respect commun. Il s’agit, en quelque sorte, d’échanges, au sens très profond du terme. D’échanges que nous souhaitons évidement être Nord-Sud mais aussi Sud-Sud, que nous comptons bien encourager autant que faire se pourra et aussi […] dans la domaine culturel au sens étroit, d’échanges Sud-Nord tout-à-fait renforcés. Et la France soutiendra tous les efforts qui seront faits pour augmenter ces échanges Sud-Nord, qui permettront une meilleure appréhension, une meilleure connaissance, une meilleure sensibilisation des cultures du Sud par les populations du Nord.“; „Es handelt sich dabei um eine gemeinsame Untersuchung zwischen unseren Partnern und uns, eine Untersuchung im gegenseitigen Respekt und nicht um ein aufgezwungenes Model. Es geht dabei in gewisser Hinsicht um einen Austausch im wortwörtlichen Sinne. – Ein Austausch, den wir uns zwischen Nord-Süd aber auch zwischen Süd-Süd wünschen; den wir eher anregen als unmittelbar durchführen können Und Frankreich unterstützt alle Anstrengungen, die gemacht werden, um den Austausch zwischen Süd und Nord voranzubringen, und die ein besseres gegenseitiges Verständnis und seine höhere Sensibilisierung der Bevölkerung des Nordens gegenüber den Kulturen des Südens erlaubt.“ [Übersetzung S. St.]. In: Afrique Noire: Quel Cinéma? Actes du colloque. Université Paris X Nanterre. Dezember 1981. S. 18f.

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len Paralyse“ gefallen. Die neue Leitung reise überall in der Welt umher, aber erreiche kein Fortkommen für die Organisation und keine Verbesserung der Situation für afrikanische Filmschaffende.55 Boughedirs Statement verdeutlicht, dass die unterschiedlichen Tendenzen innerhalb der Filmschaffendenbewegung vom Beginn der 1970er bis in die 1980er Jahre hinein tiefe Gräben gezogen hatten. In Stellungnahmen der FEPACI aus dieser Zeit hatte sich der Ton gegenüber früheren Texten der Organisation deutlich gewandelt. Das Manifest de Niamey beispielsweise liest sich nicht als politisches Pamphlet. Sachbezogene Analysen anstelle von Imperialismuskritik prägen den Charakter des Textes. Das Treffen, auf dem das Manifest entstand, fand vom 1. bis zum 4. März 1982 in der Hauptstadt des Nigers, in Niamey, statt. Filmschaffende, Verantwortliche für Kinound Fernseheinrichtungen afrikanischer Länder sowie internationale Experten berieten hier über die Zukunft des Filmschaffens auf dem afrikanischen Kontinent. Diese Zusammensetzung an Konferenzteilnehmenden lässt auf Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse der FEPACI schließen. Anstelle unabhängiger Kulturschaffenden und Intellektuellen waren nun Experten und Verantwortliche staatlicher Einrichtungen Gesprächspartner. Indirekt an die Charte d’Alger anknüpfend, unterstrich das Abschlussmanifest zur Konferenz in Niamey die Fokussierung auf die spezifisch afrikanischen Kontexte und den Aufbau von Möglichkeiten zur Etablierung eigener Kinoproduktionen, welche als historische Notwendigkeit verstanden wurden. Die Kultur sei ein Mittel zum wechselseitigen Kennenlernen der afrikanischen Völker untereinander sowie der Verständigung mit dem Rest der Welt. Mit diesem Verweis auf internationalen Austausch unterscheidet sich das Manifest de Niamey von früheren FEPACITexten, in denen ausschließlich von inter-afrikanischen Kooperationen die Rede war. Gleichzeitig ähnelt dieses Verständnis von Kultur als Mittel der Verständigung dem Kulturverständnis des französischen Kooperationsministeriums, wie es Mounier darlegte. Der Aufbau von Kulturindustrie solle hingegen vor allem durch Regionalkooperationen und interafrikanische Kooperationen erreicht werden. Als Hauptziel beschreibt das Manifest den Aufbau einer noch immer nicht vorhandenen Filmindustrie im subsaharischen Afrika. Internationale Kulturkooperationen – ob mit Dritte Welt-Ländern, Frankreich oder anderen Akteuren – sind in diesem Manifest nicht angesprochen.56 Bemerkenswerterweise zeichnete die Praxis afrikanischer Filmschaffender bei ihrer Suche nach Produktionswegen jedoch ein gegensätzliches Bild: Der Filmhistoriker Nwachukwu Frank Ukadike beschreibt für die 1980er Jahre verstärkte Koopera55 Férid Boughedir. In: Afrique Noire, S. 65. 56 Manifeste de Niamey. In: Dupré, FESPACO, S. 372.

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tionen mit Ländern Lateinamerikas, arabischen Ländern und Großbritannien. Die beachtliche Quantität und Qualität der Filme afrikanischer Filmschaffender in den 1980er Jahren sowie die Suche nach eigenständigen Produktionswegen fernab post-kolonialer Produktionsmechanismen interpretiert Ukadike als koordinierten Widerstand gegen das Ausbleiben von verbesserten Bedingungen für das Filmschaffen in den frankophonen subsaharischen Ländern.57 An dieser Stelle muss also deutlich zwischen den offiziellen Texten der panafrikanischen Organisation der Filmschaffenden und der Praxis von Filmschaffenden in ihrer Suche nach Produktionswegen unterschieden werden.58 Auch Férid Boughedir berichtete auf der Konferenz an der Pariser Universität trotz seiner Kritik an der FEPACI von einer jüngeren Generation afrikanischer Filmschaffender – er nennt explizit ein Filmkollektiv namens l’Oeil Vert –, welche die Zukunft des afrikanischen Filmschaffens in ‚Süd-Süd-Kooperationen‘ und nicht alleine in ‚NordSüd-Kooperationen‘ sähen.59 Auch Boughedirs Äußerungen zeugen also von der Verwendung von Nord-Süd-Semantiken bei der Beschreibung kinopolitischer Kulturbeziehungen. Der gabunische Filmemacher Imunga Ivanga hingegen äußerte jüngst Kritik an dem Begriff ‚Kino des Südens‘, da er ihn als eurozentrisch versteht: […] l’expression Cinémas du Sud, en opposition à celui du Nord correspond à une vision eurocentriste, la construction par l’Occident d’une certaine représentation, souvent figée, des images provenant du Sud. Cette vision élabore un catalogue de ce qu’elle estime être représentatif des cultures et des comportements et ne prend pas en compte la diversité et la modernité d’un Sud en perpétuel mouvement.60

Allem Anschein nach, hielten Nord-Süd-Semantiken ab dem Beginn der 1980er Jahren Einzug in das Vokabular zur Beschreibung kinopolitisch intendierter Kulturbeziehungen. Im Gegensatz zum Dritte Welt-Konzept, welches durch die 57 Ukadike, Cinema, S. 200f. 58 Trotz der infrastrukturell ernüchternden Situation war das Engagement subsaharischer Filmschaffender nach wie vor ungebrochen – es hatte sich auf kreativ-ästhetische Schaffenskraft verlagert. Ukadike spricht von einer introspektiven Phase des subsaharischen Afrikanischen Kinos, die sich in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt habe und mit der eine bemerkenswerte ästhetische Vielfalt einhergegangen sei. Ukadike, Cinema, S. 166. 59 Férid Boughedir. In: Afrique Noire, S. 65. 60 Ivanga, Imunga: Au Sud, des cinémas. In: Ruelle, Afrique 50, S. 175. „[…] der Begriff Kino des Südens, in der Gegenüberstellung zum Kino des Nordens, verweist auf eine eurozentrische Sichtweise, auf die Konstruktion einer spezifischen, in der Regel starren Repräsentation von Bildern aus dem Süden durch den Okzident. Diese Sichtweise produziert einen Katalog, von dem angenommen wird, er sei repräsentativ für Kulturen und Verhaltensweisen und trägt dabei der Diversität und der Modernität des sich immer weiter verändernden Südens keine Rechnung.“ [Übersetzung durch S. St.].

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anti-koloniale, anti-imperiale und antikapitalistische Rhetorik mit einer Semantik der Konfrontation belegt worden war, erscheint die Nord-Süd-Semantik als weniger ideologiebehafteter terminus technicus. Mit der Rede von Nord-Süd konstituierte sich ein Deutungsrahmen, der es sowohl der französischen sozialistischen Regierung wie auch dem nordafrikanischen Regisseur Férid Boughedir als Vertreter der radikaleren Strömung innerhalb der Filmschaffendenbewegung erlaubte, scheinbar über dasselbe zu reden und in einen Austausch zu treten. Es ist zu vermuten, dass die Nord-Süd-Semantik an die Stelle des durch mit der Mächtekonfrontation im Kalten Krieg und der globalen ’68er-Bewegung stark gewordenen Konzeptes der Drei Welten trat und einer kosmopolitisch orientierten Linken neue Diskursmöglichkeiten eröffnete. Unter welchen Akteuren die Nord-Süd-Semantik Anwendung fand, ist eine ausstehende Forschungsfrage, die der vorliegende Tagungsband unter anderem zu erhellen sucht. Im Hinblick auf die Pariser Konferenz zum afrikanischen Filmschaffen ist kritisch anzumerken, dass Férid Boughedir als einziger Filmschaffender des afrikanischen Kontinents an der Diskussion beteiligt war und französische Verwaltungsmitarbeiter, Wissenschaftler, Journalisten und Filmschaffende weitgehend über anstatt mit Filmschaffenden des globalen Südens sprachen.

Fazit Auf die eingangs formulierte Frage, weshalb afrikanische Filmschaffende in den 1960er und 1970er Jahren bei der Beschreibung von Kulturbeziehungen keine Nord-Süd-Semantiken verwendeten, lässt sich keine einfache Antwort geben. Eine Erklärung versuchte der Aufsatz im Wesentlichen über in politischen Pamphleten und Manifesten beschriebene Kulturbeziehungen und die globalpolitische Selbstverortung der Filmschaffenden zu geben. Der erste Teil des Aufsatzes skizzierte die Kulturbeziehungen, die die gaullistische Regierung Frankreichs nach der formalen Dekolonisierung im Bereich der Kinopolitik etablierte. Es konnte gezeigt werden, dass Frankreich den Aufbau kinopolitischer Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien im subsaharischen Afrika mit der formalen Dekolonisierung forcierte. Die Kinopolitik Frankreichs zielte darauf ab, auch über das formale Ende der Kolonialzeit hinaus kultur-, informations- und entwicklungspolitischen Einfluss auf die ehemaligen Kolonien auszuüben. Mit einem Großteil der subsaharischen Regierungen pflegte Frankreich eine enge Politik der Kooperation, welche auch offiziell – zum Beispiel in Form von actualités filmées (Wochenschauen) oder anderen gemeinsamen Filmprojekten – inszeniert wurde.

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In den weiteren Teilen wandte sich die Untersuchung der Perspektive und den Handlungsmöglichkeiten frankophoner afrikanischer Filmschaffender zu. Dabei konnte ein prozessualer Wandel aufgezeigt werden: Bis zum Ende der 1960er Jahre konsolidierte sich eine Bewegung afrikanischer Filmschaffender. Diese Bewegung, die sich als panafrikanisch verstand, entstand im Austausch zwischen nordafrikanischen und subsaharischen Filmschaffenden. Ab etwa der Mitte der 1960er Jahre tauschten sich die Filmschaffenden auf Kongressen und Festivals aus und diskutierten ihre politischen Positionen. Dabei konstituierte sich die Bewegung von Anbeginn an transnational und transkontinental. Mit der globalen ’68er Bewegung bildeten sich unterschiedlich radikale Tendenzen in der Filmschaffendenbewegung heraus, die stark durch die politischen Handlungsmöglichkeiten zum einen in nordafrikanischen und zum anderen in subsaharischen afrikanischen Ländern bestimmt war: Auf der einen Seite sahen sich afrikanische Filmschaffende einer globalen Dritte Welt-Bewegung zugehörig. Von Algerien aus und im Austausch unter anderem mit südamerikanischen Filmschaffenden entwickelte sich ein Selbstverständnis eines revolutionär-militanten Filmschaffens mit deutlich anti-kolonialer, anti-imperialer und antikapitalistischer Haltung. Auf der anderen Seite organisierten sich afrikanische Filmschaffende in der zunehmend eher subsaharisch geprägten Fédération Panafricaine des Cinéastes (FEPACI). Diese suchte den Austausch mit subsaharischen afrikanischen Regierungen, deren Politik vergleichsweise stark durch die Zusammenarbeit mit der ehemaligen Kolonialmacht bestimmt war. Die FEPACI positionierte sich in der Folge moderater als die Dritte Welt-Filmschaffenden. Bezugnahmen auf Antikolonialismus und Antikapitalismus sind in den Texten der FEPACI nicht zu finden. Mit einem militant-revolutionären Filmschaffen erklärte sie sich lediglich solidarisch. Anstelle von Kooperationen mit Dritte Welt-Ländern strebte die FEPACI inter-afrikanische Regionalkooperationen an. Die sich bereits ab der Mitte der 1970er Jahre abzeichnenden unterschiedlichen Tendenzen innerhalb der Bewegung afrikanischer Filmschaffender schienen sich in den 1980er Jahren mit der Professionalisierung der FEPACI zu verstetigen. Das Sprechen über den globalen Norden und den globalen Süd zu Beginn der 1980er Jahre erfolgte in den hier untersuchten Quellen durch einen Mitarbeiter im französischen Kooperationsministerium sowie durch den tunesischen Regisseur Férid Boughedir. Die subsaharische FEPACI verwendete hingegen keine NordSüd-Semantiken; stattdessen proklamierte die Organisation wie auch in den Jahren zuvor interafrikanische Regionalkooperationen. Das Sprechen vom globalen Norden und Süden erfolgte im Bereich des afrikanischen Filmschaffens erst in den 1980er Jahren und somit vergleichsweise spät. In den 1960er und 1970er Jahren war ein panafrikanisches Selbstverständnis beziehungsweise ein Verständnis als Dritte Welt-Filmschaffende dominant.

Katja Naumann

Globale Partizipation und universalistisches Wissen: Der Umgang mit der Dekolonialisierung in den sozialwissenschaftlichen Foren der UNESCO Die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) wurde nicht nur geschaffen, um Bildung, Kultur und Massenkommunikation zu fördern, sondern ihr wurde auch die internationale Entwicklung der Natur- sowie der Sozialwissenschaften ins Aufgabenbuch geschrieben. Im Sekretariat der UNESCO gab es deshalb auch eine Abteilung für Sozialwissenschaften. Sie war zwar die kleinste und ist bis heute von Instabilität gekennzeichnet, jedoch wurde von ihr aus ein ambitioniertes Projekt verfolgt, das hineinführt in die Aushandlungen einer neuen Welt- und Wissensordnung: der Aufbau einer globalen Infrastruktur zur Koordination sozialwissenschaftlicher Forschung, verbunden mit der Entwicklung eines neuen Forschungsansatzes, des länderübergreifenden und transkulturellen Vergleichs. Eingeschrieben war diesem Vorhaben zum einen das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts an (west-)europäischen und US-amerikanischen Universitäten entstanden waren. Diese beanspruchten für sich, durch die Erforschung ihrer Gesellschaften zu einem universalgültigen Wissen über Gesellschaft zu gelangen, unter Hinzuziehung der empirischen Befunde der Disziplinen, die andere Kulturen studierten. Die Trennung der sogenannten systematischen Fächer von den Wissenschaften, die sich afrikanischen, lateinamerikanischen, asiatischen und arabischen Gesellschaften widmeten, ist deutlicher Ausdruck einer epistemologischen Hierarchisierung des Eigenen über die Anderen. Diesen Universalismus trug auch das Internationalisierungsprojekt des Department of Social Sciences (DSS) der UNESCO in sich. Zum anderen beruhte dieses Projekt auf einem Organisationsmodell, das sich an die internationale politische Ordnung der Nachkriegszeit anlehnte, die auf nationaler Souveränität und regionaler sowie internationaler Kooperation und Regulation beruhte. Es war geplant, weltweit nationale Sozialwissenschaften aufzubauen und diese in regionale Forschungsräte – sogenannte Zentren zur Koordination sozialwissenschaftlicher Forschung und Dokumentation in Europa, Asien, Lateinamerika, Afrika und in der arabischen Welt – zu integrieren, welche wiederum in internationalen Gremien wie dem DSS sowie dem dar-

https://doi.org/10.1515/9783110682625-014

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an angebundenen International Social Science Council (ISSC) zusammengeführt sind. Ende der 1940er Jahre existierten nur in einigen westeuropäischen Ländern sowie in Nordamerika breite Forschungsstrukturen in dem Feld und im östlichen Europa wurde an einer eigenen, marxistisch inspirierten Gesellschaftsforschung gearbeitet. Deshalb wollten die führenden Köpfe in der UNESCO vor allem in den Regionen außerhalb Europas wirksam werden, durch den Aufbau von nationalen Strukturen sowie deren regionaler und internationaler Bündelung durch Kooperationsplattformen und der Vergleichenden Sozialwissenschaft. Dieses Projekt geriet im Zuge der Dekolonialisierung in Konflikte. Auch für die UNESCO weitete sich der Kalte Krieg von einem Konflikt zwischen den sozialistischen Staaten in Osteuropa und der kapitalistischen Welt zu einer globalen Konstellation, schon allein da die Zahl der Mitglieder durch die Aufnahme der neuen asiatischen und afrikanischen Länder in den 1950er und 1960er Jahren rasch und massiv zunahm.1 In diesem Zuge diversifizierten sich die Interessenlagen und verschoben sich Mehrheitsverhältnisse sowie Prioritäten. Das war auch in dem Aufbau einer globalen Infrastruktur für sozialwissenschaftliche Forschung spürbar. Neue Erwartungshaltungen an die UNESCO kamen ins Spiel, umso mehr, als sie im Unterschied zu den UN-Entwicklungshilfeorganisationen als eine Arena wahrgenommen wurde, in der die genuinen Belange der neuen Staaten Gehör finden würden. Internationale Unterstützung bei der Schaffung eines eigenen Bildungs- und Kulturwesens wie dem Wissenschaftssektor war vielen, die mit der postkolonialen Transformation in Asien und Afrika befasst waren, hoch willkommen. Allerdings gestaltete sich die Partizipation der neuen Staaten an der Internationalisierung der Sozialwissenschaften, wie sie vom Pariser Generalsekretariat aus betrieben wurde, als ein ambivalentes Unterfangen. Das universalistische Wissenschaftsverständnis geriet in die Kritik und der beabsichtigte Organisationsaufbau mit Repräsentationen in regionalen und internationalen Steuerungsgremien erwies sich angesichts des fehlenden nationalen Unterbaus als schwierig. Zudem traf er auf Zurückhaltung angesichts der Sorge, dass mit den neuen Infrastrukturen neokoloniale Verhältnisse geschaffen würden. Die aus dieser Konstellation erwachsenden komplexen Aushandlungsprozesse sind für die Überlegung dieses Bandes, dass globale Ungleichheit und die Nord-Süd-Beziehungen in der Aushandlung einer postkolonialen Weltordnung in den 1960er bis 1980er Jahren zu wesentlichen Bezugspunkten wurden, in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Erstens zeigen die sozialwissenschaftlichen Foren der UNESCO, wie lange die intellektuelle und organisatorische Spreng1 Maurel, Chloé: L’Histoire de L’UNESCO. Les Trente Premières Années, 1945–1974. Paris 2010.

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kraft der Dekolonialisierung in manchen Bereichen eingehegt werden konnte. Im Grunde geriet der universalistische Erklärungsanspruch erst nach dem Ende des Kalten Krieges in eine massive Krise, obwohl manche Beteiligten bereits in den späten 1960er Jahren nach einer postkolonialen Haltung suchten oder Vertreter aus den neuen Ländern die Kritik aus den entstehenden Postcolonial Studies aufgriffen. Doch über weite Strecken versuchte man in der Pariser UNESCO-Zentrale und im ISSC, die Unvereinbarkeiten in den Griff zu bekommen, die durch die globale Partizipation an der Arbeit an einem universalistischen Gesellschaftswissen aufbrachen. Diese Vermittlungsbemühungen wird man aus heutiger Sicht als einen abwehrenden Umgang mit den sich auftuenden Nord-Süd-Verhältnissen lesen, auch wenn es Protagonisten gab, die die strukturellen Herausforderungen der postkolonialen Lage in Asien und Afrika sahen oder ahnten. Zweitens hat man hier einen Fall zur Hand, in dem die neuen weltpolitischen Gegebenheiten erst sehr spät als eine Nord-Süd-Konstellation gedeutet wurden. Zumeist wurde im Rahmen des Drei-Welten-Modells argumentiert und der globale Süden in den arabischen Raum, in Afrika, Asien und Lateinamerika eingeteilt. Indem der Süden nicht als eine Einheit begriffen, sondern in vier Regionen gesplittet wurde, wurde auch das Problem der globalen Ungleichheit fragmentiert. In einer Vielzahl von Teilaspekten war es adressiert, nicht aber in seiner strukturellen Dimension. Ein Großteil der westlichen Wissenschaftler*innen ordnete bis in die 1980er Jahre die Welt zumeist mit integrativen Theorien wie der Modernisierung, weil diese scheinbar erlaubten, der globalen Differenzen Herr zu werden. Das damit verbundene Schema westlich/nichtwestlich bzw. entwickelt/entwickelnd prägte die Sichtweisen und verband sich mit dem Glauben an eine universale Gesellschaftstheorie, die man intellektuell durch internationale Vergleichsforschung und organisatorisch durch eine auf Weltregionen basierende Kooperationsinfrastruktur realisieren wollte. Ich möchte nachfolgend zeigen, dass die Inklusion der sich dekolonialisierenden Länder in die internationale (Wissenschafts-)Politik nicht nur der Anerkennung einer neuen weltpolitischen Realität geschuldet war, sondern bereits in dem universalistischen Projekt der internationalen Sozialwissenschaften angelegt war, das in den späten 1940er Jahren begann. Die Dekolonialisierung gab den nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierten Konzepten neuen Schwung, denn mit der politischen Repräsentation der neuen Staaten in der UNESCO schien es so, als könne man nun tatsächlich weltweit Organisationsaufbau betreiben. Nur langsam wurden die Widersprüche offensichtlich, die für das Projekt aus der Partizipation Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und des Nahen Ostens erwuchsen. Inklusion bedeutet also auch hier keine gleichberechtigte Teilhabe. Denn ihr lag ein Organisationsmodell zu Grunde, das den neuen

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Staaten viel abverlangte – die Partizipation an einem intellektuellen Projekt und dessen organisatorischer Umsetzung, das den globalen Süden mehr fragmentierte, denn als solchen adressierte. Um das zu verdeutlichen, werde ich in einem ersten Teil eine Initiative Mitte der 1970er Jahre vorstellen, die darauf zielte, die regionalen Forschungsräte zur Zusammenarbeit zu bewegen. Diese Initiative für Süd-Süd- und Nord-SüdKooperationen versandete. Aber in den Konflikten, die dort aufkamen, werden die massive Infragestellung von afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen und arabischen Akteuren wie die geringe Rezeption ihrer Erwartungen sichtbar. Daran anschließend schildere ich die Tätigkeit des DSS und des ISSC seit den frühen 1950er Jahren, um zu verdeutlichen, dass die Initiative für interregionale Kooperation aus einer Programmatik erwuchs, die primär universalistisch und nur nachgeordnet partizipativ angelegt war. Sie war Mitte der 1970er Jahre fest etabliert und deshalb waren die Spannungen zwischen den verschiedenen Ansichten, die bei der Initiative für interregionale Kooperation aufeinandertrafen, kaum auflösbar. In einem dritten Abschnitt wird es um zwei regionale Forschungsräte gehen. Anhand des European Coordination Centre for Research and Documentation in Social Sciences in Wien (Vienna Centre) möchte ich illustrieren, dass in konkreten Forschungsverbundprojekten asymmetrische Vergleichsanordnungen überdacht wurden. Als Kontrast dazu wird anhand des afrikanischen Forschungsrates, dem Conseil pour le Développement de la Recherche en Sciences Sociales en Afrique (CODESRIA), gezeigt, wie die Anerkennung von eigenständigen Sozialwissenschaften im globalen Süden bis in die 1990er Jahre begrenzt wurden. Die Kritik an dem sozialwissenschaftlichen Universalismus, die seit den 1970er Jahren zirkulierte, schlug erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch. Dann erst wurde begonnen, sich von den Asymmetrien der eigenen Wissensordnung zu lösen und globale Ungleichheiten als solche auch direkt zu adressieren, was sich u. a. an der sich durchsetzenden Rahmung als Nord-Süd-Problematik zeigt. Insofern war das Ende des Kalten Krieges in diesem Kontext in einen längeren Prozess eingebettet. Insgesamt möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die eingangs erwähnte Trennung in systematische und regionsbezogene Wissenschaften nach 1945 und bis zum Ende des Kalten Krieges auf einer anderen Ebene reproduziert wurde – die westlichen Sozialwissenschaften lieferten den epistemologischen, konzeptionellen und organisatorischen Rahmen, in den sich die Sozialwissenschaften aus anderen Teilen der Welt einfügen sollten. Insofern war das UNESCO-Projekt einer globalen Infrastruktur für die Koordination sozialwissenschaftlicher Forschung ein Projekt des Nordens über den Süden.

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Initiative zum Aufbau interregionaler Kooperationen in den Sozialwissenschaften Die Generalkonferenz der UNESCO beschloss im Jahr 1974, Sozialwissenschaft einerseits vor allem in den Ländern des globalen Südens aufzubauen, andererseits regionale und interregionale Kooperationen anzuregen. Der Beschluss war ein Zeichen seiner Zeit, aber er bestätigte einen etablierten Fokus. Bereits seit den frühen 1950er Jahren waren Forschungseinrichtungen und koordinierende Zentren außerhalb von Europa auf den Weg gebracht worden. Die Umsetzung der Vernetzung Mitte der 1970er Jahre gelang zwar nicht,2 aber ein Expertentreffen, das im August 1976 konkrete Schritte erarbeiten sollte, illustriert eine massive Infragestellung der universalistischen Agenda, die das Pariser Vorhaben leitete. Grundlage der Debatten waren Lageberichte von führenden Vertretern der Forschungsräte aus Afrika, Lateinamerika, Asien, dem arabischen Raum und Europa sowie aus der Pariser Zentrale. Jene formulierten starke Skepsis und einen Katalog von Minimalbedingungen für eine Zusammenarbeit auf überregionaler Ebene. Das war mehr als eine Reaktion auf die in der Tagungsordnung fixierte Befragung, ob in den Entwicklungsländern überhaupt relevante Forschungsprioritäten gefestigt waren.3 Die abwehrende Grundhaltung vor allem der asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Teilnehmer war vielmehr Teil einer tiefergehenden Auseinandersetzung über die Deutungshoheit in der Forschungssteuerung sowie über den Stellenwert der nichtwestlichen Sozialwissenschaften in der geplanten globalen Infrastruktur. Ein Blick in die Lageberichte sowie in den finalen Bericht soll das veranschaulichen.

2 An anderer Stelle wurde die Idee gleichwohl aufgegriffen. 1976 gründeten die Leiter des Institute for Development Studies der Universität Sussex und das Development Center der OECD einen Zusammenschluss von regionalen Entwicklungshilfeorganisationen, vgl. Chabbott, Colette: Constructing Education for Development. International Organizations and Education for All. New York 2003. S. 112f. 3 Die Berichte, Teilnehmerliste und Tagesordnung sind mit jeweils eigenem Document Code im UNESCO-Archiv überliefert, liegen aber auch publiziert vor: UNESCO. Inter-regional Cooperation in the Social Sciences (Reports and Papers in the Social Sciences, 36). (SS/22/36). Paris 1977.

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Die Positionen des asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Forschungsrates Die Situation im asiatischen Raum stellte Ramashray Roy in seiner Funktion als Generalsekretär der Association of Asian Social Science Research Councils (AASSREC) dar. Sein Befund hatte zwei Stoßrichtungen, eine harsche Kritik der Sozialwissenschaft als Paradigma des Westens und ein Plädoyer für Indigenisierung. Die von ihm attestierte Schwäche des Feldes in Asien führte er auf drei Ursachen zurück: Erstens werde ein Beitrag zur Bewältigung der fremdinduzierten (!) Modernisierung und anwendungsorientiertes Wissen, nicht Theoriebildung erwartet, was einer Vernetzung und einer internationalen Vergleichsforschung entgegenwirke. Zweitens zeige die historische Erfahrung, dass die Bildungs- und Wissenschaftssysteme in der Region von den Kolonialmächten nach ihren eigenen Modellen etabliert worden waren. Die importierten westlichen Modelle seien jedoch leer, weil losgelöst von der sozialen Realität vor Ort.4 Drittens habe sich das Feld nach der Dekolonialisierung in der „Asymmetrie des transnationalen Systems der Sozialwissenschaften “ entwickelt, in dem die Theorien aus den Industrieländern weiter als Maßstab dienten und Forscher aus den Entwicklungsländern im Westen ausgebildet werden, worin sich die grundsätzlichen ökonomischen und politischen Ungleichheiten in der Welt spiegelten. Gleich, ob es sich um anti-, nicht-, oder marxistische Theorien handelt, sie seien aus den kulturellen Traditionen und historischen Erfahrungen des Westens abgeleitet und deshalb ungeeignet für die Situation in den Entwicklungsländern.5 Noch schwerwiegender, so Roy, sei die Verbindung von Empirismus und allgemeiner Theoriebildung in den westlichen Sozialwissenschaften, weil in der Regel der Einzelfall und die Variabilität der menschlichen Entwicklung ausgeblendet sind; von einer ahistorischen Position aus würden Totalerklärungen entworfen. Dem stellte der Autor die laufenden Bemühungen um eine Distanzierung von diesen Theoremen durch eine Indigenisierung von Fragestellungen und Theoriebildung sowie durch Regionalisierung gegenüber, wobei mit Letzterem eine direkte Vernetzung von Forschern und Forschungsräten aus den Entwicklungsländern ohne Umweg über westliche Zentren gemeint war. Beide Bewegungen zielten darauf, „to provide for the much needed corrective to the deficiencies in the dominant paradigms of research [and] to transform the centre-pe4 Roy, Ramashray: Social Science Cooperation in Asia. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation, S. 13–24 (SS/22/36), S. 14f. 5 Roy, Social Science Cooperation in Asia, S. 16.

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ripheric relationship that exists now into a polycentric world of social scientists“.6 Im Fazit grenzte Roy unumwunden die Ansprüche der westlichen Sozialwissenschaften ein – die postulierte Universalität des Feldes könne sich nur auf den Gegenstandsbereich, die soziale Welt, nicht auf die Theoriebildung beziehen und großangelegte Kooperationen würden angesichts der fragilen Forschungsstrukturen in den meisten Entwicklungsländern bestehende Abhängigkeiten eher stärken.7 Roys Positionierung vis-à-vis der geplanten Kooperation ebenso wie seine welt- und wissenschaftspolitische Ordnung in „West“, „Asia“, „developing/developed countries“ erklärt sich aus seiner akademischen Biographie.8 Wie viele andere, die an US-amerikanischen, britischen und französischen Universitäten studiert hatten, nutzte er die Kenntnis der „westlichen Sozialwissenschaften“ zur Kritik an den globalen Asymmetrien und zur Fürsprache für nationale Bestrebungen und Souveränitätsansprüche. Zugleich belegen die Fußnoten seines Berichtes, dass er auf einen Kreis von Forschenden aus verschiedenen Teilen der Welt aufbaute, die den globalen Wissenschaftstransfer im Zuge der Dekolonialisierungsprozesse mit aushandelten. Seine Kritik an den Großtheorien basierte etwa auf Schriften von Kalman H. Silvert (einem der Begründer der Lateinamerika-Studien in den USA) sowie auf Jan Szczepański, einem polnischen Soziologen, der Ende der 1960er Jahre die International Sociological Association leitete. Für die kolonialen Ursprünge zitiert er ein Sonderheft des ISSJ (1969/3) über die Lage des Feldes in der „Dritten Welt“. Die Perpetuierung von Abhängigkeiten thematisiert er mit Verweis auf ein internationales Seminar in Bellagio von 19739 und die Indigenisierungsbewegung begründet er mit Verweis auf einen Vortrag von Rajni Kothari auf dem Internationalen Orientalistenkongress 1973, wo die Grundzüge einer neuen Welt- und Wissensordnung ebenfalls rege diskutiert wurden. Zurück zu dem Expertenseminar im Jahr 1976. Enrique Oteiza, Ingenieurwissenschaftler und der früherer Geschäftsführer des lateinamerikanischen Forschungsrats (Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales, CLASCO), äußerte sich ähnlich ablehnend gegenüber der anvisierten institutionellen Vernetzung, 6 Roy, Social Science Cooperation in Asia, S. 21. 7 Roy, Social Science Cooperation in Asia, S. 21f., 24. 8 Nach seiner Promotion in Politikwissenschaften an der University of California, Berkeley, wirkte er in Indien federführend am Aufbau sozialwissenschaftlicher Einrichtungen mit, u. a. leitete er das Centre for the Study of Developing Societies in Delhi, das Indian Social Science Research Council sowie den asienweiten Forschungsrat. Später machte er an der Universität Delhi Karriere, arbeitete aber auch wiederholt in den USA. 9 Siehe dazu den Bericht von Chadwick Alger und Gene M. Lyons: Social Sciences as Transnational System. In: International Social Science Journal (ISSJ) 26 (1974). Nr. 1. S. 137–149.

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wenngleich mit einer anderen Argumentation. Er betonte zum einen die gewachsene Kooperation in Lateinamerika, mit der eine bessere Position und größere Souveränität in der internationalen Wissenschaft gelungen sei. Zum anderen forderte er eine grundlegende Neugestaltung der interregionalen Beziehungen. Der Austausch zwischen den rückständigen und entwickelten Ländern sei bisher geprägt von „academic imperialism, lack of symmetry or unbalanced flow of exchange, scientific dependence and one-way transfers of knowledge, wrong procedures for the definitions of research priorities and the irrelevance and inadequacy of training outside the region“.10 An anderer Stelle hatte Oteiza mit Samir Amin und anderen ausführlich dazu geschrieben. Als zweites schweres Defizit benannte er die geringe Zusammenarbeit innerhalb des globalen Südens. Durch koloniale Verbindungen und die gegenwärtige Position Asiens, Afrikas und Lateinamerikas im internationalen Gefüge seien lediglich ZentrumPeripherie-Netzwerke entstanden, an Verbindungen untereinander und Wissen übereinander fehle es hingegen. Ein dritter Mangel bestehe in dem geringen Austausch zwischen Ländern der „Dritten Welt“ und den sozialistischen Staaten in Europa. Die Schlussfolgerung seines Befundes lautete folgerichtig, dass in erster Linie internationale Ressourcen zur Förderung des Kontaktes zwischen den nichtwestlichen Regionen nötig seien. Nur so könne ein breites Wissen über Rückständigkeit, wechselseitiges Lernen, aber auch ein tieferes Verständnis der Entwicklung in den führenden kapitalistischen Ländern sowie den industrialisierten sozialistischen Ländern entstehen.11 Im Grundtenor ähnlich, in der Herleitung noch einmal anders, präsentierte Mpekesa Bongoy, Ökonom, damals Vizedekan der Wirtschaftsfakultät an der Nationaluniversität von Zaire und Leiter des Centre de Coordination des Recherches et de la Documentation en Sciences Sociales pour l’Afrique Subsaharienne (CERDAS) in Kinshasa, die Lage in Afrika. Sozialwissenschaftliche Forschung sei hier als Ableger der kolonialen Zentren zum eigenen Machterhalt etabliert worden. Die politischen Unruhen nach der Unabhängigkeit hätten nicht nur in der Wissenschaft den Aufbau eigener Strukturen verzögert. Doch maßgeblich für den Rückstand sei etwas anderes, „neo-colonialist forces have often encouraged and taken advantage of the trouble situations in order to infiltrate into Africa and consolidate certain colonial structures with interest outside

10 Oteiza, Enrique: The Latin American Experience and Inter-regional Cooperation in the Social Sciences. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation, S. 25–31 (SS/22/36), S. 29; Amin, Samir [u. a.]: New Forms of Collaboration in Development Research and Training. In: ISSJ 27 (1975). Nr. 4. S. 710–795. 11 Oteiza, The Latin American Experience, S. 30.

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the continent“.12 Einige Länder seien zu bilateralen Kooperationen und Entwicklungshilfeprogrammen mit den früheren Kolonialmächten gedrängt worden, die die bestehenden Zentrum-Peripherie-Beziehungen perpetuieren. Weiterhin dominierten in den Ländern südlich der Sahara Methoden und Modelle der alten Kolonialmächte und es werde vorrangig zu deren Leitthemen, der Kultur, Musik und traditionellen Lebensweisen geforscht, mit einer „böswilligen Freude über bestimmte Aspekte des sogenannten rauen, barbarischen Lebens der Ureinwohner“,13 zumeist deskriptiv, ohne Bezug zu den Problemen vor Ort und durch ausländische Forscher, die nur kurzzeitig zu Forschungszwecken einreisten. Erst seit Kurzem existierten, so Bongoy weiter, panafrikanische Organisationen – neben dem CERDAS vor allem CODESRIA, die Organisation of African Unity oder disziplinäre Fachverbände (viele davon mit Unterstützung der UNESCO geschaffen) –, in denen afrikanische Wissenschaftler Forschung planen und eigens betreiben können. Immerhin habe das zu einer Afrikanisierung der Forschung geführt, was an einer Aufmerksamkeit für die lokale Bevölkerung im ländlichen Raum ablesbar sei und daran, dass dafür gesorgt werde, dass erhobene Daten vor Ort verbleiben. Der Bericht schließt mit einer Forderung. Für Kooperationen zwischen Afrika und der industrialisierten Welt müssen klare Regeln gelten, die gewährleisten, dass Kosten gleichmäßig verteilt und die Art der Forschung, die Ziele wie die Bewahrung der Ergebnisse spezifiziert sind. Andernfalls laufe man Gefahr, „erneut in einen wissenschaftlichen Neokolonialismus zu verfallen“.14 Internationale Harmonisierung dürfe nicht zu einer Ignoranz der Spezifik der untersuchten Gesellschaften führen. Angesichts der kritischen Stellungnahmen von Roy, Oteiza und Bongoy verwundert es zunächst, dass die Initiative scheiterte. Denn die Argumente und Infragestellung des wissenschaftlichen Universalismus waren Mitte der 1970er Jahre keine Minderheitenposition. Es ist die Zeit, in der Samir Amin, Edward Said und andere die asymmetrischen Beziehungen und neokoloniale Konstellationen weithin hörbar herausforderten und damit teils auch in den UNESCO-Foren Zuspruch fanden.

12 Bongoy, Mpekesa: Social Science Cooperation in Africa. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation. S. 32–37 (SS/22/36), hier S. 32. 13 Bongoy, Social Science Cooperation in Africa, S. 33. 14 Bongoy, Social Science Cooperation in Africa, S. 36f.

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Der Bericht aus dem europäischen Koordinationszentrum und die Positionen von DSS und ISSC Adam Schaff, der die europäische Koordinationsstelle leitete und ebenfalls an dem Expertentreffen teilnahm, scheint in seinem Bericht die Skepsis seiner Kollegen sogar zu antizipieren. Sein Erfahrungsbericht über die europäische Koordinationsstelle beinhaltet mehrere Ratschläge. So führt er aus, dass eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern aus den sozialistischen und kapitalistischen Ländern in Europa erst durch gewandelte politische Rahmenbedingungen, und zwar die Ausrufung einer Politik der Entspannung und friedlichen Koexistenz im Jahr 1962 eine reale Chance hatte. Konfliktvermeidung habe sich für das Wiener Zentrum als ein Schlüssel zum Erfolg erwiesen und dafür war wiederum entscheidend, dass das Zentrum als ein Expertengremium und nicht als zwischenstaatliche Organisation etabliert wurde; dass eine strikt ausgewogene Partizipation an den Gremien des Zentrums und eine gleichberechtigte Beteiligung an den initiierten Verbundprojekten in den Statuten verankert war; dass der internationale Charakter durch eine Finanzierung aller beteiligter nationaler Forschungseinrichtungen gewahrt wurde; und dass die Leitung des Zentrums eine Balance zwischen einer rein administrativen Rolle und der wissenschaftlichen Steuerung der initiierten Kooperationen fand. Angesichts der fehlenden Führungsfigur im CERDAS – Bongoy hatte die Geschäftsführung 1976 gerade erst nach dreijähriger Vakanz übernommen – liest es sich wie eine direkte Orientierungshilfe, dass Schaff ausführlich die Bedeutung von engagierten Mitarbeitern in der Leitung des Wiener Zentrums unterstrich. Und sein Hinweis, dass man sich in Europa nicht von den großen Unterschieden im Grad der Institutionalisierung und Professionalisierung abschrecken lasse, sondern gerade die Länder einbeziehe, die erst am Anfang stehen, ist ein Zeichen, dass dem Autor die Herausforderungen in anderen Teilen bewusst waren. Sein Angebot einer Partizipation an laufenden Projekten über die Zukunft der ländlichen Gemeinschaften und die Kosten städtischen Wachstums war, so scheint mir, tatsächlich als ein Angebot zur gemeinsamen Arbeit gedacht, was der explizite Hinweis unterstreicht, dass man bereits gute Erfahrungen mit transkontinentaler Forschung mit Kollegen aus Japan, Mexiko und den USA gemacht habe.15 Auch die zuständige UNESCO-Abteilung, die im Vorfeld des Expertentreffens einen Arbeitsbericht zirkuliert hatte, griff die Einwände und Erwartungen von asiatischer, lateinamerikanischer und afrikanischer Seite auf, wenngleich auf ambivalente Weise. Einerseits teilte sie die Ansicht, dass sozialwissenschaft15 Schaff, Adam: Social Science Cooperation in Europe. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation. S. 43–50 (SS/22/36).

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liche Forschung die nationalen Entwicklungsbemühungen begleiten sollte, andererseits wollte sie in erster Linie intergouvernementale Kooperationen und Wissenstransfers fördern.16 Einerseits unterstütze die UNESCO die Ansätze zur Indigenisierung und Regionalisierung. Die UNESCO fördere den Trend und lerne von ihm, internationale Forschungspolitik müsse die spezifischen Belange aus den Regionen aufgreifen. Indigene Ressourcen, lokale Forscher, die zu vor Ort relevanten Themen arbeiten, seien Voraussetzung für eine kultur- und kontextsensible Forschung. Andererseits, so hieß es, engagiere sich die Abteilung nicht sui generis in Afrika, Asien und Lateinamerika, sondern ihr gehe es um die Schaffung einer globalen Infrastruktur zur arbeitsteiligen Grundlagenforschung über gesellschaftliche Entwicklung, die darauf ziele, „to create a universal scientific language and universal principles of a nature to render different scientific propositions translatable and acceptable by the communis opinio doctorum“.17 Das Scharnier stellten aus Pariser Sicht regionale Forschungsverbünde dar, die die vor Ort relevanten Themen identifizieren und vergleichend angelegte Studien initiieren sollten. Damit, so das Kalkül, werde eine nationale Aufsplitterung der Wissensproduktion verhindert und es entstünden integrierte Wissensbestände über Entwicklungsprozesse in verschiedenen kulturellen sowie soziopolitischen Räumen, aus denen universale Einsichten gewonnen werden können. Die Widersprüche dieser Haltung räumte der Bericht immerhin ein, auch die Grenzen einer regional organisierten und interregional vernetzten Wissensproduktion deutete er an.18 Deutlich anders reagierte Samy Friedman, der als Generalsekretär des ISSC eingeladen worden war, die Berichte der regionalen Forschungsräte zu kommentieren. Er bündelte die vorgebrachten Einwände in fünf Punkten und hielt in wenig respektvoller Weise dagegen. Roys Kritik, dass die dominierenden Theorien für Entwicklungen in großen Teilen der Welt ungeeignet sind, begegnete Friedman mit dem Hinweis, dass auch zahlreiche Kollegen aus Europa und den USA die dominierenden Theorien kritisch sehen würden, ohne auf diametral verschiedene Stoßrichtungen einzugehen. Den Neokolonialismusvorwurf von Bongoy führte er unter dem Stichwort „ideological slant“ mit einem länge16 UNESCO-Secretariat: Priorities for Social Science Research in Developing Countries, In: UNESCO, Inter-regional Cooperation, S. 67–84 (SS/22/36), hier S. 67. 17 UNESCO-Secretariat, Priorities, S. 71. 18 Eine Erhebung der zwischen 1973 und 1976 geförderten Initiativen in Asien, Lateinamerika, Afrika und dem arabischen Raum ergab zwar eine Schnittmenge von Schwerpunkten (ländliche Entwicklung und Urbanisierung), aber eine breite internationale Analyse von Prioritäten in mehreren Ländern pro Region, so der Kommentar, würde zu einem anderen gemeinsamen Nenner führen, nämlich Multiethnizität und soziokulturelle Milieus. UNESCO-Secretariat, Priorities, S. 84.

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ren Zitat an, ohne darauf einzugehen. Das Problem der ungleichen Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse konterte er mit Verweis darauf, dass dies international bereits verschiedentlich adressiert wurde. Zudem zitierte er den mexikanischen Soziologen Rodolfo Stavenhagen, der die existierenden Asymmetrien u. a. auf eigene Fehlstellen zurückführte, „they study us, but we do not study them“.19 Und schließlich führte er Syed Hussein Alatas an, der neben Edward Said und Ranajit Guha die Postcolonial Studies begründete. Dieser habe vor einigen Jahren eine grundlegende methodische Erneuerung des Feldes gefordert, plädiere nun aber dafür, die westlichen Modelle anzupassen, wobei ihn Friedman wie folgt wiedergab: „their generally valid universal aspects have simply to be separated from their particular association with Western values.“20 Die Kritik an dem Westzentrismus sei ebenfalls von europäischen und nordamerikanischen Kollegen formuliert worden. „It is, perhaps, dangerous to yield to the temptation to ‚throw the baby out with the bathwater‘, and to reject all ‚Western‘ social science theories and methods on the grounds that they have been developed in the West.“21 Alle Kritik resultiere aus Problemen, die den Nachwehen einer unlängst vergangenen kolonialen Situation geschuldet – und deshalb, so der Tenor, nur begrenzt relevant seien. Ohnehin würden die Berichte zeigen, so Friedman, dass wissenschaftsfeindliche Traditionen, fehlende Ausbildung, ungenügende Ressourcen und überhaupt ein Mangel an kritischer Masse die Lage in den Entwicklungsländern kennzeichne. Vor diesem Hintergrund müsste interregionale Kooperation zunächst einmal ein förderliches Klima für gesellschaftliche Studien schaffen. Forschende in den neuen Staaten müssten verstehen, dass Dependenzen veränderbar sind und gerade regionale und überregionale Zusammenarbeit den nationalen Infrastrukturaufbau leiten könnte. Indigenisierung laufe Gefahr, in das Fahrwasser von Nationalismus, Chauvinismus und dem Primat der Anwendungsorientierung zu geraten. Viele US-amerikanische Wissenschaftler hätten bei ihren Studien vor Ort lokale Forschende engagiert. Friedman schloss seinen Kommentar mit der Einschätzung, dass die vorgelegten Lageberichte keine adäquate Grundlage für eine Vermessung von Erfahrungen und Möglichkeiten regionaler Kooperation seien. Die weiteren Planungen sollten sich an tauglicheren Berichten aus der UNESCO-Abteilung orientie-

19 Friedman, Samy: The Developing Countries and Inter-regional Co-operation in the Social Sciences. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation, S. 58–66; (SS/22/36), hier S. 60. 20 Friedman, The Developing Countries. Seine Ausführungen schlossen auch den Bericht von Ahmad M. Khalifa zu den arabischen Sozialwissenschaften ein. 21 Friedman, The Developing Countries, S. 60f.

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ren22 und globale Zusammenarbeit sollte am besten über internationale Fachverbände aufgebaut werden, auch wenn deren Dezentrierung durch die Aufnahme von Mitgliedern aus den neuen Staaten einer Indigenisierung entgegenwirke. Dass eine Dezentrierung Konsequenzen für die Programmatik der Verbände haben könnte, war fraglos nicht mitgedacht.

Umgang mit der Kritik im Abschlussbericht Friedmans Reaktion verdient deshalb Aufmerksamkeit, weil sie durchschlug. Auch der Abschlussbericht des Expertentreffens ist von diesem abwehrenden Duktus gegenüber der massiven Infragestellung der Teilnehmer aus dem globalen Süden durchzogen. Darin wurden zwar die kolonialen Ursprünge des wissenschaftlichen Feldes in der „Dritten Welt“ sowie die anhaltenden Abhängigkeiten anerkannt. Institutionelle und konzeptionelle Modelle aus Europa, Großbritannien und den USA, so die Sichtweise, dominierten und verzögerten einen qualitativen Wandel hin zu postkolonialen Forschungen vor allem in Afrika. Da die Zahl indigener Forschung zwar gestiegen sei, diese aber weiter nur mit Kollegen aus dem Westen in Kontakt stünden und Fragestellungen, Paradigmen sowie Visionen für die Zukunft wie gehabt aus dem Westen importiert würden, sei es evident, dass Sozialwissenschaft in der „Dritten Welt“ als irrelevant und fremd gelte. Zugleich setzte der Bericht der Inklusion aus dem globalen Süden enge Grenzen. Kooperation wurde kaum als eine offene, gleichberechtigte Zusammenarbeit verstanden, vielmehr sollte sie der Durchsetzung festgelegter Forschungsprioritäten sowie einer Zentralisierung und Steuerung in Richtung gesetzter Problemstellungen dienen. Im Kern ging man in den beiden Pariser Schaltstellen, in der UNESCO-Abteilung und im ISSC, davon aus, dass es ein allgemeines Format sozialwissenschaftlicher Forschung gibt, mit dem sich weltweit spezifische kulturelle Gegebenheiten und zeitgenössische Entwicklungen erschließen. Indigenisierung verstand man dort als einen Ausbau der nationalen Bildungssysteme mit Forschern vor Ort. Man forderte zwar eine Neuaufstellung der Bildungssysteme und eine Neuausrichtung von Lehre und Forschung mit Blick auf die national relevanten Themen und eine Zuarbeit zu den Entwicklungsagenden. Doch bei Lichte besehen, wollte man die Dominanz westlicher Sozialwissenschaftler nur quantitativ reduzieren, nicht aber deren Theorien ver22 Franz, Marie-Anne de: Implanting the Social Sciences. A Review of UNESCO’s Endeavours. In: ISSJ 21 (1969). Nr. 3. S. 406–419; dies.: Regionalization of Social Sciences in Latin America, Asia and Africa. In: ISSJ 25 (1973). Nr. 4. S. 557–560.

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ändern. Das Feld sollte sich pluralisieren, doch nationale Denkweisen wollte man im globalen Süden nicht entstehen sehen. So heißt es denn auch: „Die Ziele und Methoden der Sozialwissenschaften sind überall gleich, nur die Probleme unterscheiden sich.“23 Zwar wollte man an der Behebung der Schieflage arbeiten, dass der Westen „ready-made conceptual models, theoretical frameworks, research techniques“ liefere, „whereas the flow in the reverse direction has been the raw data, whether collected by foreigners or ‚native‘ scholars“.24 Doch bezüglich einer Auflösung des Ungleichgewichts zwischen dem intellektuellen Import in die „Dritte Welt“ und dem Export von Theorie aus den „entwickelten Nationen des Westens“ hielt man an der eigenen Position fest. Indigenisierung müsse vor Provinzialismus bewahrt werden und die sich bildenden nationalen Ansätze sollten in regionalen sowie interregionalen Kooperationen abgestimmt und angeglichen werden. Die Sozialwissenschaften seien polyzentrisch geworden, die Angst vor intellektueller Hegemonie könne überwunden werden. Die Verantwortung dafür liege in Europa und den USA.25 Der Umgang mit der Kritik an den globalen Asymmetrien in der Wissensproduktion sowie der universalistischen Theoriebildung in dem Abschlussbericht spricht Bände: Einzelne Aspekte der Infragestellung wurden aufgegriffen, die strukturellen Probleme und deren Folgen für das Gesamtprojekt jedoch nicht adressiert. Damit waren den Handlungsspielräumen der Teilnehmenden aus dem afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Raum enge Grenzen gesetzt. Über die genauen Gründe des Scheiterns dieser Initiative lässt sich nur spekulieren. Unterschiedliche Einschätzungen in Paris, wie weit man auf die Forschungsräte zugehen sollte, mögen eine Ursache sein. Positionskämpfe in den Regionen spielten ebenfalls eine Rolle. Schwerer als die divergierenden Haltungen von ISSC und DSS oder mehrgleisige Institutionalisierungsprozesse in den Regionen wogen m.E. die Resistenz in den Pariser Foren gegenüber der Kritik am Universalismus, der dem Vorhaben einer globalen Infrastruktur zur Forschungskoordination eingeschrieben war, sowie gegenüber der Forderung nach einer Inklusion, die eine gleichberechtigte Mitsprache in prinzipiellen Fragen vorsah. Die Ambivalenz zwischen postkolonialen Ansprüchen und dem Festhalten an Epistemologien, Forschungsprogrammen und Organisationsmustern einer universalistischen Wissensordnung und -produktion hatte weit über die 1970er Jahre Bestand, wie der Beitrag am Ende zeigen wird. Der Ursprung dieser 23 Inter-regional Cooperation in the Social Sciences. Final Report of the Meeting, UNESCO, Paris 23–27 August 1976. In: UNESCO, Inter-regional Cooperation, S. 7–12 (SS/22/36), S. 11. 24 Inter-regional Cooperation in the Social Sciences. Final Report, S. 9. 25 Inter-regional Cooperation in the Social Sciences. Final Report, S. 11.

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Beharrungskraft führt in die Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in denen die konzeptionellen und intellektuellen Rahmenbedingungen einer internationalen Politik für sozialwissenschaftliche Forschung gelegt wurden.

Die Abteilung für Sozialwissenschaften im UNESCO-Sekretariat und das International Social Science Council Die Abteilung für Sozialwissenschaften (DSS) im UNESCO-Sekretariat arbeitete an der Internationalisierung der Wissensproduktion in ihrem Feld sowie der Anwendung dieses Wissens für eine globale gesellschaftspolitische Steuerung.26 Ersteres hatte eine organisatorische Dimension, bei der es um den weltweiten Aufbau von Forschungsstrukturen, um Vernetzung sowie Koordination ging. Die Internationalisierung hatte aber auch eine inhaltliche Komponente, denn man wollte die Komparatistik und globale Betrachtungen in der Methodologie der Sozialwissenschaften verankern.27 Das Programm war, wie die Arbeit der UNESCO insgesamt, von dem Glauben getragen, dass eine Inklusion von Sozialwissenschaftlern aus allen Ländern sowie eine allumfassende Repräsentation von Standpunkten zu einem universal gültigen Wissen über soziale Prozesse, Strukturen und Verhaltensweisen führen würden.28 Von solch einem Wissen versprach man sich viel, es sollte den Weg in Richtung einer friedlichen Welt weisen, die für viele der Gründungsfiguren auf liberalen Demokratien und kapitalistischen Wirtschaftsordnungen beruhen würde. Die Arbeit des DSS war in den ersten Jahren von Aufbaugedanken infolge des Zweiten Weltkrieges geprägt. So wurden internationale Dachverbände der Soziologie, Politik-, Wirtschafts- und Vergleichenden Rechtswissenschaft initiiert und nach dem International Committee for Social Science Documentation 26 Sozialwissenschaft schloss hier folgende Fächer ein: Soziologie, Wirtschafts-, Politik- und Rechtswissenschaft, aber auch die Psychologie, Anthropologie, Geographie und Geschichte. 27 Report on the Programme of UNESCO, 15.9.1946 (UNESCO/C/2, 15.9.1946). S. 103–111; Report of the Social Science Committee. Preparatory Commission of UNESCO, 1946. S. 3; Dokumentation des Treffens der Kommission im Juni 1946. UNESCO/C/Prep.Com./Soc.Sci.Com.; Brodersen, Arvid: UNESCO’s Tenth Anniversary. A Retrospective Sketch. In: ISSJ 8 (1956). Nr. 3. S. 401–407; Hochfeld, Julian: Patterns of UNESCO’s Social Science Programme. In: ISSJ 18 (1966). Nr. 4. S. 569–588. 28 Selcer, Perrin: The View From Everywhere. Disciplining Diversity in Post-World War II International Social Science. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 45 (2009). Nr. 4. S. 309–329.

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(1950) das International Social Science Council (1952) geschaffen. Diese Strukturen waren Teil einer breiten Institutionalisierungsdynamik.29 Gesellschaftswissenschaften galten vielen als hochgradig relevant für die Gestaltung der internationalen Nachkriegsordnung. Inhaltliche Eckpunkte hatte bereits die UNESCO Preparatory Commission formuliert. Das damals große Interesse an sozialpsychologischen Studien wurde u. a. in dem Pilotprojekt „Study of Tensions affecting International Understanding“ unter der Leitung von Otto Klineberg aufgegriffen. Untersucht wurden hier die Rolle von Vorurteilen, nationale Loyalitäten sowie ethnische Minderheiten oder Migration.30 Später rückten technologischer Wandel, Industrialisierung und Urbanisierung sowie Race Relations als Ursachen sozialer Friktionen ins Zentrum.31 In den 1950er Jahren bildeten sich, durchaus in Reaktion auf die Dekolonialisierung, weitere Schwerpunkte heraus. Allerdings veränderten sich die Deutungsrahmen auch in späteren Jahren kaum. Die Ordnung der Welt in „Entwicklungs- und „Industrieländer“ blieb konstant und dominierend. Das Gleiche gilt für die universalistische Grundierung der Programme. Dabei war die strukturelle Dimension der Nord-Süd-Verhältnisse nicht nur ausgeblendet, vielmehr wurde das Problem der globalen Ungleichheit fragmentiert, in eine Vielzahl von Einzelthemen zerlegt und diese jeweils für sich genommen untersucht, ohne die Ursachen der Differenzen auf grundlegende Asymmetrien zurückzuführen. Der Bewältigung der Ausdrucksformen von Ungleichheit nach noch zu findenden universalen Parametern galten die Bemühungen.

Eine globale Infrastruktur zur Grundlagenforschung über gesellschaftliche Entwicklung Die erste Programmlinie sah den Aufbau von nationalen und regionalen Gremien vor. Tatsächlich entstand in wenigen Jahren das Gerüst einer gestuften, an die internationale politische Ordnung angelehnten Wissensproduktion und Forschungssteuerung. Von Anfang an reichte der Blick über Europa und den trans29 Mitte der 1960er Jahre war die Sozialwissenschaft in über einem Dutzend internationaler Institutionen organisiert, wobei sowjetisch geprägte Organisationen hier nicht eingerechnet sind, siehe Marshall, T. H.: International Organizations in the Social Sciences. Paris 1965. 30 UNESCO/SS/2. Report „Studies on Social Tensions 1947–1952“. 31 UNESCO Archive. 1 C/Resolutions, UNESCO/C/30. Report of the Subcommission on Social Sciences, Philosophy and Humanistic Studies. In: Records of the General Conference, First Session, held at UNESCO House, Paris from 20 November to 10 December 1946 (including Resolutions). S. 233–235; UNESCO et Son Programme. Les Sciences Sociales. (MC.54/II.16/F), Paris 1954. S. 32ff.

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atlantischen Raum hinaus. Die UNESCO war nicht nur in die Eröffnung des Instituts für Sozialforschung (Köln, 1952) und des Bureau International de Recherche sur les Implications Sociales du Progrès Technique (BIRISPT, Paris, 1953)32 involviert, sondern initiierte Einrichtungen in Athen, Teheran, Bogotá und Dhaka. 1956 nahm in Kalkutta das Research Center on Social Implications of Industrialization in Southern Asia die Arbeit auf, bis 1969 folgten Zentren in Tunis und Bamako. Bald darauf wurden regionale Kooperationsstellen geschaffen. Den Anfang machten kleine Büros in Kairo, Neu-Delhi und Havanna. 1957 wurde in Santiago de Chile mit der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) eine zentrale Ausbildungsstätte gegründet, ein Jahr später ein weniger erfolgreiches Pendant für die Forschung, das Centro Latinoamericano de Investigaciones en Ciencias Sociales (CENTRO). An Dynamik gewann die regionale Forschungssteuerung in den 1960er Jahren, nachdem die Vereinten Nationen im Jahr 1960 eine „decade of development“ ausgerufen und die Entwicklung der dekolonialisierenden Welt in den Mittelpunkt gerückt hatten. Immer stärker entwickelte sich der Kalte Krieg in den Folgejahren von einem Ost-West-Konflikt zu einem globalen Geschehen.33 Nach der Gründung des Wiener Koordinationszentrums wurde 1967 das CLASCO eröffnet, ein Jahr später CERDAS sowie die Asian Association of Social Science Research Councils (AASSREC) und im Jahr 1978 kam das Arab Regional Centre for Social Sciences (ARCSS) hinzu.34 Auf den ersten Blick erscheint der Aufbau von nationalen Forschungsstrukturen und regionalen Kooperationsstellen wie eine Anerkennung der Nord-SüdProblematik. Tatsächlich jedoch reproduzierte die Inklusion von Sozialwissenschaftlern aus den Ländern des globalen Südens die strukturelle Asymmetrie,

32 Siehe dazu: Le Bureau International de Recherche Sur les Implications Sociales du Progrès Technique. In: Civilisations 4 (1954). Nr. 2. S. 219–224. 33 Nach Erscheinen des Buches von Odd Arne Westad, The Global Cold War (Cambridge 2005), hat sich die Erforschung des Kalten Krieges zunehmend auf die (proaktive) Rolle der „Dritten Welt“ in der Konfrontation zwischen Ost und West gerichtet und hat nicht mehr nur den europäischen Schauplatz, sondern das Geschehen in allen Teilen der Welt im Blick. Vgl. u. a. James, Leslie/Leake, Elisabeth (Hrsg.): Decolonization and the Cold War. Negotiating Independence. London 2015; Dinkel, Jürgen: The Non-Aligned Movement. Genesis, Organization and Politics (1927–1992). Leiden 2018. 34 Lengyel, Peter: International Social Science. The UNESCO Experience. New Brunswick 1986; Agrawal, S. P./Aggarwal, J. C.: UNESCO and Social Sciences. Retrospect and Prospect. New Delhi 1988; Elzinga, Aant: UNESCO and the Politics of International Cooperation in the Realm of Science. In: Les Sciences Coloniales. Figures et Institutions. Hrsg. von Patrick Petitjean. Paris 1996. S. 163–202.

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die dem Feld inhärent war. Denn das DSS und das ISSC35 galten als Dachverbände, die in dem Gesamtgefüge eine konzeptionell leitende Rolle spielen sollten. Ein Bottom-up-Prozess, bei dem die Arbeit auf den nationalen und regionalen Ebenen die internationalen Gremien informiert, war mehr Rhetorik, denn tatsächlich gewollt.

Die Ausarbeitung und globale Verbreitung der Vergleichenden Sozialwissenschaft Die zweite Programmlinie des DSS, die wesentlich über das ISSC realisiert wurde,36 betraf die Profilierung von vergleichender Forschung.37 Die Möglichkeit dazu ergab sich mit einer Erweiterung der Mitglieder des ISSC. In den ersten Jahren hatte das ISSC fast ausschließlich aus Briten, US-Amerikanern und Franzosen bestanden. Jedoch bereits ab 1961 durften nicht mehr als zwei Vertreter des Executive Committee dieselbe Nationalität haben und es wurden Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt eingebunden. In diesem Zuge wechselte Kazimierz Szczerba-Likiernik von der Leitung des DSS auf den Posten des Generalsekretärs im ISSC; sein polnischer Kollege Adam Schaff sowie Stein Rokkan aus Norwegen wurden als Mitglieder in das ISSC aufgenommen.38 Die neuen Prot35 Der internationale Forschungsrat ging aus einer US-amerikanischen Initiative hervor, die sich gegen die französischen Bemühungen um ein internationales Forschungszentrum richtete, welche in das BIRISPT mündeten. Am Ende wurde BIRISPT als eine Art Forschungsabteilung in das ISSC eingebunden. Vgl. UNESCO Archives. Records Secretariat. Box 105. Fd. 3 A 01 ISSC 06 „56“. Part I up to 31/X/52. Statement Concerning Proposal for an International Social Science Research Centre for the Study of Social Consequences of Technological Change, 26.9.1952. 36 Der Verband basierte auf einer Strategie, die sich auch in anderen UNESCO-Abteilungen beobachten lässt. Man schuf flankierende Expertengremien – nominell, um sich auf den Rat von Fachleuten stützen zu können, de facto, um von dort aus das eigene Programm umzusetzen. Das Outsourcing sollte den Einfluss der Mitgliedstaaten sowie der politischen Machtkonflikte mindern, insofern lief die in den Statuten vorgesehene Beratungsfunktion des ISSC gegenüber der UNESCO auf eine Umsetzung des DSS-Programms hinaus. Siehe hierzu: Draft Agreement zwischen UNESCO und ISSC, 1954; Establishment of the ISSC. Paris, 23.5.1952. UNESCO, 30/EX 11; Final Report, 1st General Assembly of the ISSC, 15.–18.12.1953. UNESCO, SS/10; Erik Rinde u. Stein Rokkan, Analytical Survey of Problems and Proposals Relating to the Organisation of the ICSS; UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 01. ISSC „-66“. Box 105. Fd. 3. Part I (A) up to 30/XI/51. 37 International Social Science Council: The First Six Years 1953–1959. Paris 1959; Working Document, Department Social Sciences to Second General Assembly of the ISSC, 1955 (UNESCO/SS/ISSC, Paris, 25 May 1955, WS 055.49). S. 7–13; zudem das Themenheft „Comparativ Cross-National Research“ des International Social Science Bulletin 7 (1955). Nr. 4. 38 Platt, Jennifer: Fifty Years of the International Social Science Council. Paris 2002.

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agonisten begannen sogleich eine Programmdiskussion. Zum einen erwogen sie regionale Projekte, etwa den Aufbau einer postgradualen Ausbildungsstätte in Afrika. Im Hintergrund stand ein an der Moskauer Universität geschaffenes Angebot für afrikanische Studierende, zudem hatte kurz zuvor in Moskau die Lumumba-Universität ihre Tore geöffnet. In Kontrast dazu dachte man in Paris an ein Programm vor Ort, das in Kooperation mit der 6. Sektion der École des Hautes Études Pratiques sowie der London School of Economics entstehen und von lokalen Lehrkräften in französischer sowie englischer Sprache unterrichtet werden sollte. Aus Zweifeln an der Finanzierbarkeit gab man die Idee zwar rasch auf, folgte aber dem Vorschlag von Schaff, ein europäisches Koordinationszentrum zu gründen.39 Bereits zuvor hatte Rokkan dafür plädiert, sozialwissenschaftliche Forschung auch direkt mitzugestalten. Seit Ende der 1940er Jahre arbeitete er daran, den Vergleich in den Sozialwissenschaften starkzumachen. Nun schrieb er die Förderung von „comparativ cross-national and cross-cultural research“ dem ISSC auf die Fahnen.40 Ein zentrales Motiv dabei war die Kritik an den US-Amerikanern, die auf postkoloniale Positionen zulief. Besser ausgestattet unternahmen Sozialwissenschaftler aus den USA das Gros der komparatistischen Feldforschung oder steuerten die Auswertung der Daten. Das galt unter den Europäern als „American data imperialism“, den man dafür kritisierte, dass „too many of the questions were phrased and too much of the analysis was carried out in ignorance of the cultural intricacies and socio-political realities of each of the systems covered“.41 Stattdessen wollten Rokkan und seine Mitstreiter kontextbezogene Verbundprojekte initiieren, mit diesen eigene Daten erheben und nach einer eigens entwickelten Methodologie vergleichen. Seit 1953 verfügte das DSS über eine statistische Abteilung, 1961 wurde ein Analysebüro eingerichtet. Beide wurden nun mit dem Vorhaben einer Vergleichenden Sozialwissenschaft verzahnt. Wenngleich die geplante europäische Komparatistik eine größere Sensibilität für kulturelle Eigenheiten und diverse gesellschaftliche Ordnungen proklamierte, war sie im Kern ebenso als For39 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 01. ISSC „-66“ Box 4. Fd. 1. Protokoll. Executive Committee ISSC, 30.–31. März 1961 und Szczerba-Likiernik an Young (Russell Sage), 8.2.1961. 40 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 01. ISSC „-66“. Box 4. Fd. 2. Rokkan, Stein: Notes for Discussion of ISSC Programme 1963–1964 10.4.1962. 41 Szalai, Alexander/Petrella, Riccardo: Introduction. In: Cross-National Comparative Survey Research. Theory and Practice. Hrsg. von Alexander Szalai u. Riccardo Petrella. Oxford 1977. S. ix; Rokkan, Stein: The ISSC Programme for the Advancement of Comparative Research. Frustrations and Achievements. In: A Quarter Century of International Social Science. Papers and Reports on Developments, 1952–1977. Hrsg. von Stein Rokkan. New Delhi 1979. S. 17–26.

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schung über die anderen gedacht. Mehr-Länder-Vergleiche sollten Unterschiede zwischen den Gesellschaften der Welt erklären; man wollte begreifen, „how far the ‚universalist‘ assumptions underlying the majority of cross-cultural studies carried out so far are a valid basis for comparisons ‚across societies differing so fundamentally in structure and ethos‘“.42 Das große Ziel war eine neue Theoriebildung, die es erlaubt, Differenzen zu handhaben. Vergleiche erzeugen Objektivitätseffekte. Es ging um frisches Wissen zur Lenkung gesellschaftlicher Transformationen, vor allem in den neuen Staaten des globalen Südens. Als das ISSC 1965 sein Programm evaluierte, bestätigte es die Arbeit am Vergleich. Einerseits wollte man weiter die dafür nötigen infrastrukturellen Grundlagen schaffen, u. a. durch Entwicklung von Datenarchiven in verschiedenen Ländern. Andererseits versuchte man die Methoden der Forschung stärker zu beeinflussen. Zur Erleichterung systematischer Vergleiche wollte man sich der Ausarbeitung von qualitativen interkulturellen Methoden widmen sowie historisch angelegte Analysen stärken. Die Beschäftigung mit Entwicklung und Modernisierung hatte sich bis dato auf quantifizierbare Daten konzentriert. Nun wollte man Arbeiten initiieren, die solche Daten in einem historischen Kontext analysierte. „The social sciences can only become ‚developmental‘ through close co-operation with the students of the time dimensions of social life, the historians.“43 Von der Zusammenarbeit von Historikern und Soziologen zu Nationalisierungsprozessen, Urbanisierung, Industrialisierung oder regionalen Divergenzen etwa in Südasien, Westeuropa und Osteuropa erhoffte man sich Einblicke in allgemeine Muster des sozialen und politischen Wandels.

Entwicklungsbezogene Forschungen in den neuen Staaten In der dritten Programmlinie wollte die UNESCO-Abteilung unmittelbar entwicklungsbezogene Forschungen in den aus der Dekolonialisierung hervorgehenden neuen Staaten fördern. Hierin spiegelt sich, dass auch in der UNESCO in den 1950er Jahren Entwicklung zum zentralen Thema wird. Hatte man anfangs nur wirtschaftliche Potentiale im Blick, weitete sich das Interesse hin zu 42 Rokkan, Stein: Cross-Cultural, Cross-Societal and Cross-National Research. In: Historical Social Research 18 (1993). Nr. 2. S. 6–54. Hier S. 7. Ursprünglich erschienen in: Main Trends of Research in the Human and the Social Sciences. Paris 1970. S. 645–689. Selcer, Perrin: Patterns of Science. Developing Knowledge for a World Community at UNESCO. PhD Dissertation. University of Pennsylvania 2011. S. 63. Publicly Accessible Penn Dissertations. 32. http://repository.upenn.edu/edissertations/323 (14.10.2019). 43 Rokkan, Stein/Szczerba-Likiernik, Kazimierz: Introduction. In: Comparative Research across Cultures and Nations. Hrsg. von Stein Rokkan. Paris 1968. S. 1–13. Hier S. 6.

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einer Analyse sozialer Faktoren aus, unter den Stichworten Industrialisierung und Urbanisierung.44 Die diesbezüglichen Programmpapiere sind wenig überraschend dezidiert von modernisierungstheoretischen Sichtweisen und Termini geprägt, die häufigste Zuschreibung war die von „developed/underdeveloped countries“ (während an anderen Stellen des sozialwissenschaftlichen Programms eher von „developing countries“ die Rede war). Der Grundtenor hier war, dass die „industrialisierte Welt“ den „rückständigen Regionen“ helfen sollte, sich zu entwickeln. Deutungen im Sinne eines konflikthaften Nord-Süd-Verhältnisses tauchen eher unterschwellig auf; dann, wenn allgemein auf globale Spannungen und Disparitäten verwiesen wird. Vielmehr kämpfte man gegen die Folgen der Dekolonialisierung für das eigene Metier an. Der Fokus der UNESCO auf „development“, die darum rang, in der entstehenden Welt von Entwicklungshilfeorganisationen ihren Platz zu finden, ließ sich noch recht problemlos aneignen. Wesentlich problematischer war es, mit den Vertretern der neuen Staaten umzugehen. Denn es stellte sich rasch heraus, dass diese sich häufig mehr für Unterstützung im Bildungsbereich bzw. beim Aufbau der Natur- und Technikwissenschaften interessierten als für das Feld der Sozialwissenschaften. Peter Lengyel, ein langjähriger leitender Mitarbeiter des DSS, resümierte Ende der 1980er Jahre, dass es an „lokalen Vermittlern“ fehle. „[S]ocial sciences were a pretty unsalable line of goods, not at all prominent on the shopping lists of the Third World.“45 Zudem verfügte die DSS nicht ansatzweise über die Ressourcen, die es gebraucht hätte, um so systematisch nationale Sozialwissenschaften aufzubauen, wie es die eigenen Pläne vorsahen. Das war umso gravierender, als in den USA und in Westeuropa sozialwissenschaftliche Forschung boomte und zu einer Industrie wurde, nicht zuletzt durch neue Technologien wie die elektronische Datenverarbeitung.

Krisenzeichen Angesichts dieser Lage geriet die DSS intern unter immer größeren Rechtfertigungsdruck. Dem versuchte man einerseits mit dem Großprojekt eines internationalen zweibändigen, jeweils tausend Seiten umfassenden Überblicks über

44 Lengyel, Peter: Two Decades of Social Science at UNESCO. In: ISSJ 18 (1966). Nr. 4. S. 554– 568. Hier S. 555; Lengyel, Peter (Hrsg.): Approaches to the Science of Socio-economic Development. Paris 1971; Rangil, Teresa Tomas: The Politics of Neutrality. UNESCO’s Social Science Department, 1946–1956. CHOPE Working Paper. Nr. 8 (April 2011). 45 Lengyel, International Social Science, S. 38.

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Main Trends of Research in the Social and Human Sciences zu begegnen. Die Arbeit daran führte zwar angesichts der federführenden Beteiligung polnischer Soziologen – etwa von Julian Hochfeld und Oskar Lange – zu einem Ost-WestDialog, doch die sich dekolonialisierende Welt nahm daran nur begrenzt teil.46 Andererseits investierte man Zeit und Geld in operative, kurzfristige Projekte in den neuen Ländern. Die strategisch-programmatische Arbeit stagnierte auch deshalb, weil mit Julian Hochfeld oder Albert Métraux47 ambitionierte Führungsfiguren aus der Leitung des DSS ausschieden und deren Nachfolger deutlich weniger intellektuelle Prägekraft hatten. Zwar begannen einzelne wie Hochfeld Mitte der 1960er Jahre ernst zu nehmen, dass man bis dahin die europäischen und US-amerikanischen Wege der Industrialisierung zum Maßstab genommen hatte.48 Aber es fehlte an Ressourcen, um das in eine Neukonzeption des Programms zu übersetzen. Stattdessen widmete sich die DSS neuen Themen, etwa der friedlichen Nutzung der Nuklearenergie, Fragen der Abrüstung, den Menschenrechten oder der Umwelt,49 womit sie aber auch eine Auseinandersetzung mit dem universalistischen Erklärungsanspruch der von ihr propagierten Sozialwissenschaften umging. Selbst das große Vorhaben der Komparatistik hatte Mitte der 1960er Jahre innerhalb des DSS und des ISSC seine größte Spannkraft erreicht. 1965 organisierte die DSS eine prominent besetzte Konferenz, bei der man begann, Rückschlüsse von der Theoriebildung in den Entwicklungsländern auf das westliche Verständnis der Herausbildung moderner Gesellschaften im globalen Süden zu ziehen (wohlgemerkt nicht die Narrative zu den eigenen Gesellschaften zu hinterfragen). Doch grosso modo dominierten modernisierungstheoretische Sichtweisen und viele der geplanten Aktivitäten, wie regionale Konferenzen zu vergleichenden Methoden in Buenos Aires und Delhi oder ein Brückenschlag zu Historikern, um historische Spezifika zu erfassen, schlugen kaum durch.50 46 Es arbeiteten zwar über 250 Forschende zu, aber die meisten Autoren kamen aus Europa und den USA, vgl. UNESCO: Main Trends of Research in the Social and Human Sciences. Bd. 1. Paris 1970; Bd. 2. Paris 1978 sowie Final Report of the Meeting of the Consultants, Juni 1969. UNESCO/SHC/MD/7. 47 Métraux hatte das weitreichende „Race-Statement“ der UNESCO und die Arbeit gegen Rassismus und Diskriminierung auf den Weg gebracht. Siehe Brattain, Michelle: Race, Racism, and Antiracism. UNESCO and the Politics of Presenting Science to the Postwar Public. In: American Historical Review 112 (2007). Nr. 5. S. 1386–1413; Shepard, Todd: Algeria, France, Mexico, UNESCO. A Transnational History of Antiracism and Decolonization, 1932–1962. In: Journal of Global History 6 (2011). Nr. 2. S. 273–297. 48 Hochfeld, Patterns. 49 Die Beschreibung des Programms für 1967–1968; Hochfeld, Patterns, S. 584f. 50 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 01. ISSC „-66“. Box 4. Fd. 5. Recommendations of the Roundtable Conference on Comparative Studies. ISSC, 22.–24.4.1965, Paris. Die Tagung

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Das hatte auch damit zu tun, dass 1965 eine Reorganisation des Generalsekretariats begann, bei der die Abteilungen zu größeren Programmbereichen zusammengelegt wurden. In diesem Zuge wurde das DSS in den Social Sciences, Humanities and Culture Sector eingegliedert. Zwar stand dort weiterhin der internationale Aufbau der Sozialwissenschaften auf dem Programm, aber eigene Ansätze zur Weiterentwicklung von Methoden der Datenerhebung und vergleichenden Auswertung rückten in den Hintergrund. Bald darauf verkleinerte sich der Aktionsradius des ISSC, als der Rat vom DSS gelöst und als interdisziplinärer Dachverband analog zum International Council for Philosophy and Humanistic Studies sowie dem International Council of Scientific Unions aufgestellt wurde. Stein Rokkan versuchte als neuberufener Generalsekretär ab 1973 zwar noch mit neuen Themen – wie dem Beitrag von computerbasierten Modellen zur Prognostizierung langfristiger Trends – den kleiner werdenden Handlungsspielräumen entgegenzuwirken. Doch das gelang nur teilweise. Die anvisierte vergleichende Analyse von Entwicklungen in urbanen Räumen oder eine Auseinandersetzung mit „standortgebundenen Mustern von Ungleichheit“ versandeten ebenso wie eine stärkere Kooperation mit Sozialwissenschaftlern aus dem globalen Süden. In den 1980er Jahren richtete sich der Fokus im ISSC immer stärker auf eine Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften in Sachen Umweltwandel, beispielsweise in der Human Dimensions of Global Chance-Komission (1988).

Ambivalenzen im Umgang mit den Herausforderungen der Dekolonialisierung Die Anzeichen einer Verunsicherung, die in den Neuordnungen von DSS und ISSC zum Ausdruck kamen, deuten zunächst darauf hin, dass die Krise der entwicklungspolitischen Fortschrittseuphorie in den 1970er Jahren angesichts des Auseinanderdriftens von reichen und armen Ländern auch die UNESCO erfasste und zu einem Relevanzverlust für das sozialwissenschaftliche Programm führte.51 Allerdings war dies kein geradliniger Prozess, sondern vielmehr der Beginn von Aushandlungen, die über das Ende des Kalten Krieges andauerten.

ist dokumentiert in: Rokkan, Comparative research across cultures. Siehe auch Szczerba-Likiernik, Kazimierz: The International Social Science Council’s Programme of Comparative Research. In: UNESCO Chronicle 12 (1966). Nr. 3, S. 106–111. 51 Siehe u. a. UNESCO Archives. UNESCO/SHC/MD/9. Consultation on UNESCO and the Second Decade of Development.

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Als Amadou-Mahtar M’Bow 1975 die Leitung der UNESCO übernahm, und damit erstmals ein Vertreter des globalen Südens, stärkte er zunächst den Bereich der Sozialwissenschaften. Für ihn war Wissen über gesellschaftliche Entwicklung eine wichtige Dimension der Anerkennung von kulturellen Unterschieden sowie der Indigenisierung der Welt- und Wissensordnung. Folglich schuf er für sie wieder einen eigenen Bereich – den Sector for Social Sciences and their Applications – und baute diesen mit acht Unterabteilungen sowie rund 50 Mitarbeitern erheblich aus. Eine der Unterabteilungen war der internationalen Entwicklung der Sozialwissenschaften gewidmet und aus eben dieser Schwerpunktsetzung resultierte die eingangs beschriebene Initiative für interregionale Kooperationen. Aber dies war eben nur ein Interesse. Die anderen Unterabteilungen befassten sich mit Menschenrechten und Frieden, Bevölkerungsentwicklung und Entwicklungsplanung. Zwar galt auch hier die unter M’Bow eingeführte Leitlinie, endogene und vielfältige Entwicklungswege zu stärken. Die Arbeit der sozialwissenschaftlichen Bereiche sollte zu „appreciation and respect for cultural identity“ beitragen, „political and economic choices“ verständlich machen und „cultural interactions“ fördern. Doch letzten Endes ging es um eine Suche nach „convergent values, without disregarding the need to recognise differences“.52 Im Großteil der Aktivitäten finden sich kaum Anzeichen für eine problemorientierte Analyse globaler Ungleichheit als Ausdruck asymmetrischer Beziehungen. Phänomene des Problems wurden erörtert, ohne an die Ursachen heranzugehen. Das änderte sich auch nicht, als in den 1980er Jahren öfter von Nord und Süd die Rede war, denn dies erfolgte weiter in der Rahmung von drei Welten: Nord, Süd, Ost.53 Und im Zuge der erneuten Reorganisation des Sekretariats und Wiedereinrichtung eines Social and Human Sciences-Sektor im Jahr 1982 wurde die Unterabteilung für Internationalisierung aufgelöst.54 Die Kritik an der universalistischen Grundierung der Programmatik des DSS von Wissenschaftlern aus dem afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen und arabischen Raum fand sich lange Zeit nur begrenzt in den Schwerpunktsetzungen 52 Stenou, Katerina/Keitner, Chimene (Hrsg.): UNESCO and the issues of cultural diversity. Review and strategy 1946–2003. Paris 2003. S. 11. 53 Beispielhaft ist Peter Lengyels Blick auf die Lage der Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren: „[…]participation was overwhelmingly by the North which included all of continental America, Western Europe (with the exception of Spain, Portugal and Ireland), Australia, New Zealand and Israel. The South was presented through India, Sri Lanka, Philippines, Egypt, Turkey, Lebanon, also Ethopia, Ghana, Syria, Thailand, Iran or Liberia. (…) As for the East, it was gearing up with Poland and Yugoslavia and Soviet Union.“ Lengyel, International social science, S. 29. 54 Seither besteht der Social and Human Sciences Sector.

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wieder. Zweifel am Universalismus der etablierten Sozialwissenschaft blieben weitgehend ungehört. Diese Ambivalenz, die aus dem langen Schatten des Universalismus und der begrenzten Inklusion der nichtwestlichen Wissenschaftler erwuchsen, lässt sich mit zwei Beispielen gut illustrieren. In einzelnen Forschungsverbundprojekten des Wiener Zentrums wurden asymmetrische Vergleichsanordnungen und Fragestellungen bereits früh überdacht. Anhand des afrikanischen Forschungsrates CODESRIA wird aber auch greifbar, dass Status und Anerkennung von eigenständigen Sozialwissenschaften in der „Dritten Welt“ bis in die 1980er Jahre begrenzt war.

Umgangsweisen mit dem globalen Süden im Europäischen Zentrum für Sozialwissenschaften Bereits im Jahr 1960 fanden die ersten Gespräche zur Gründung eines europäischen Institutes für Sozialwissenschaften im UNESCO-Sekretariat statt, anregt besonders von Adam Schaff. Schwung kam in das Vorhaben zwei Jahre später, als die Détente und friedliche Koexistenz zwischen dem sozialistischen und kapitalistischen Lager zu Leitsätzen in der internationalen Politik wurden. Allerdings befürchteten Schaff und andere, dass sich die Konfrontation in ideologischen Fragen eher zuspitzen könnte, weil dieser Bereich aus der Annäherung ausgeklammert war. Zu einem wechselseitigen Verständnis der sozialen Entwicklungen auf beiden Seiten wollten sie mit gemeinsamer Forschung von Sozialwissenschaftlern aus Ost- und Westeuropa beitragen.55 Die Überlegung traf in der UNESCO auf Resonanz. 1962 nahm die Generalversammlung einen Antrag der Delegationen aus Österreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Italien, Polen und Jugoslawien zur Errichtung einer solchem Einrichtung an, und zwei Jahre später fiel der Beschluss, dass das Zentrum als ein Expertengremium (NGO) seinen Sitz in Wien haben würde, um dessen Autonomie und Neutralität anzuzeigen. Das European Coordination Centre for Research and Documentation in Social Sciences (Vienna Centre) wurde nicht als ein Forschungsinstitut geschaffen, sondern als eine Plattform der Zusammenarbeit von Forschungsinstitutio-

55 Schaff, Social Science Cooperation in Europe, S 45.

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nen aus Ländern mit „different social and economic structures“.56 Im Kern sollte die Geschäftsstelle langfristig angelegte, komparatistische Verbundprojekte initiieren und koordinieren, die über den Gegenstand hinaus zu einer Methodologie des Vergleiches sowie entsprechenden Verfahren der Datenerhebung beitragen würden.57 Auch hier leitete die Idee, dass sich mit sozialwissenschaftlichem Wissen die Antagonismen des Kalten Krieges überwinden lassen und gesellschaftliche Entwicklung steuerbar wird.58 Die Akzeptanz des Zentrums, dessen Verwaltung zwar von der UNESCO finanziert wurde, die Verbundprojekte hingegen die beteiligten Forschungsinstitute bezahlten, spiegelt sich darin, dass in der ersten Dekade 19 Forschungsprojekte begonnen wurden, an denen Forschende aus mindestens vier bis sechs Ländern, teils aus bis zu 20 Ländern teilnahmen. Bis 1972 umspannte das von Wien aus koordinierte Netzwerk 216 europäische Forschungsinstitute, darunter 165 aus dem östlichen Europa, aber auch 22 Forschungseinrichtungen aus anderen Teilen der Welt.59 Letzteres hat damit zu tun, dass sich der Blick rasch über den europäischen Raum hinausrichtet. So unternahmen Adam Schaff und sein togolesischer Kollege N’Sougan Agblemagnon Mitte der 1960er Jahre eine Reise durch zehn afrikanische Länder. Angelehnt an das Wiener Zentrum wollten sie etwas Vergleichbares für den afrikanischen Raum gründen.60 Es blieb bei der Idee, aber in die eigenen Aktivitäten integrierte man den globalen Süden zunehmend. Das ist einerseits in den Programmbereichen des Zentrums ablesbar. Komparatistische Forschungen wurden in drei Themenfeldern initiiert: „planning in global 56 European Coordination Centre for Research and Documentation in the Social Sciences. JIU/ HBP/71/13, GE.72-1890. S. 5; Petrella, Ricchardo/Schaff, Adam: Une Expérience de Coopération Européenne Dans les Sciences Sociales. Dix Ans D’activités du Centre de Vienne, 1963–1973. Wien 1973. S. 7–11. 57 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 01. ISSC „-66“. Box 4. Fd. 1. Report of Meeting 28.11.1960. Re: A Proposed European Social Science Institute. 58 Kott, Sandrine: Cold War internationalism. In: Internationalisms. A Twentieth-Century History. Hrsg. von Glenda Sluga u. Patricia Clavin. Cambridge 2016. S. 340–362. Zu anderen Arenen wissenschaftlicher Kooperationen zwischen Ost und West siehe: Berg, Maxine: EastWest Dialogues. Economic Historians, the Cold War, and Détente. In: Journal of Modern History 87 (2015). Nr. 1. S. 36–71; Mikkonen, Simo/Koivunen, Pia (Hrsg.): Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe. New York 2015. 59 Petrella/Schaff, Une Expérience; Charvát, František [u. a.]: International Cooperation in the Social Sciences. 25 Years of Vienna Centre Experience. Wien 1988; Naumann, Katja: International Research Planning Across the Iron Curtain. East-Central European Social Scientists in the ISSC and Vienna Centre. In: Planning in Cold War Europe. Competition, Cooperation, Circulations (1950s–1970s). Hrsg. von Michel Christian [u. a.]. Oldenbourg 2018. S. 97–122. 60 Platt, Fifty Years, S. 26.

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comparison“, „basic concepts of aid to developing countries“, sowie „economic and social consequences of disarmament“.61 In den Titeln der Projekte – u. a. „backward regions in industrialised countries“ ist greifbar, dass auch hier modernisierungstheoretisch geprägte Sichtweisen leiteten. Allerdings bewirkte die Einbindung von Kollegen aus Asien, Lateinamerika und Afrika – und bis 1973 nahmen Sozialwissenschaftler aus elf Ländern aus dem globalen Süden an den initiierten Projekten teil62 – an manchen Stellen ein Umdenken. Eine größere Sensibilität für den eigenen Universalismus zeigt sich etwa in einem Projekt über Formen der Entwicklungshilfe, das auf eine Anregung von Michał Kalecki (Warschau) zurückging und 1964 unter der Leitung von Vladimir Kollontai und A. Arzmanian (UdSSR) sowie Edward Robinson (GB) begann.63 Zu einem der ersten Konzeptpapiere hatte K. Forcart, ein leitender Mitarbeiter des DSS, kritisch eingewandt, dass sich ein guter Teil der Fragestellungen nicht allein mit Experten aus der „Geberländern“ beantworten lässt, vielmehr die Erfahrungen der „Nehmerländer“ einfließen müssen. Gemeinsame Studien seien nötig, umso mehr als sich gegenwärtig ein Trend der Internationalisierung in der Entwicklungshilfe vollziehe. Hilfe würde nicht mehr nur in den ehemaligen eigenen Kolonien, sondern in breiterem Rahmen geleistet. Forcart schwebte ein Vergleich der sich verändernden Strategien der Geberländer mit Blick auf die Reaktionen im globalen Süden vor.64 In der überarbeiteten Fassung des Projektvorschlages war davon wenig zu lesen. Stattdessen war davon die Rede, den Effekten des Geldgebens in zwei bis drei „Nehmerländern“ nachzugehen. Immerhin wollte man nun Said El-Naggar (Universität Kairo) in die Einschätzung der Ergebnisse einbinden.65 In der offiziellen Stellungnahme, die das DSS kurz darauf nach Wien sendete, hieß es deshalb daraufhin, dass die UNESCO die geplanten Fallstudien in den hilfeempfangenden Ländern nicht finanzieren wird und dass man weiterhin der Meinung

61 Petrella/Schaff, Une Expérience, S. 12f. 62 Petrella/Schaff, Une Expérience, S. 16. 63 UNESCO-Archives. Records Secretariat. 3 A 34 ECCRDSS (436) 54 (-77). Part 1, up to 30.09.1965. Report Mission to Vienna, Julian Hochfeld, 2.-6.2.1964. Auch nachfolgend genannte Dokumente stammen aus diesem Bestand. Zu Kaleckis Forschungen siehe: McFarlane, Bruce: Michal Kalecki and the Political Economy in the Third World. In: An Alternative Macroeconomic Theory. The Kaleckian Model and Post-Keynesian Economics. Hrsg. von J. E. Kind. Dordrecht 1996. S. 187–218. 64 UNESCO-Archives. Records Secretariat. Forcart an Szczerba-Likiernik, 24.2.1964. SS/5401/ 10. 65 UNESCO-Archives. Records Secretariat. Forcart an Szczerba-Likiernik, 3.3.1964. SS/5401/10 und Draft Project „Comparisons of Various Forms of Aid to Countries in the Course of Development“. VC/CCD/3.

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sei, dass die Untersuchung allein mit westlichen Experten nicht zu befriedigenden Antworten gelangen könne.66 Gleichwohl begann das Projekt. In den Diskussionen auf dem ersten Treffen verständigten sich die beteiligten sechs Forscher sowie Vertreter von ISSC, DSS und dem Wiener Zentrum auf einen Mittelweg. Der Vergleich sollte sich nun auf die sich ändernden Konzepte der Entwicklungshilfe in einer Auswahl von Geberländer richten, mit Blick auf deren Einschätzungen der Bedürfnisse im globalen Süden und deren Abwägungen, wo Hilfe sinnvoll ist. Erst in einer nächsten Phase wollte man an einer Harmonisierung der Ansätze und Strategien arbeiten, hierfür dann auch gezielt Experten aus den Empfängerländern einbeziehen.67 In der konkreten Planung des Folgeprojekts verschob sich die Haltung. Man ging davon aus, dass neue Ansätze der technischen Hilfe auf „understanding and communication between developing countries and donor countries“ beruhen müssen. In jeden Fall müsse das Projekt fortgeführt werden, denn „the difference in the progress of longterm growth which is to be noted between the countries and the so-called ‚developed‘ countries tends to widen the chasm separating the ‚richer‘ countries from the ‚poorer‘ countries and gives to the problem a permanent character…“.68 Im Zuge der Folgestudie – die den Titel „Absorptive capacities for foreign aid to newly independent countries and problems of transfer of techniques“ trug – verschob sich der Fokus auf die Probleme in den „Geberländern“. Um diese besser zu verstehen, sollte ein Großteil der weiteren Analyse von Forschungsinstitutionen im globalen Süden unternommen werden, wobei explizit festgehalten wurde, dass die Partnerinstitutionen ihre Studien eigenverantwortlich unternehmen und publizieren würden.69

Auseinandersetzung um den Status von CODESRIA in der UNESCO In manchen Konstellationen brachen universalistische Betrachtungsweisen sowie asymmetrische Beziehungen langsam auf. An vielen Stellen stießen die eigenständigen Sozialwissenschaften aus dem globalen Süden auf enge Grenzen. 66 UNESCO-Archives. Records Secretariat. Comments on the Draft by DSS (UC/CCD/3). 67 UNESCO-Archives. Records Secretariat. 3 A 34 ECCRDSS (436) 54 (-77). Part 1. Report of the Preparatory Meeting of Experts 16–18.4.1964 u. Report of the Working Group. 68 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 34 ECCRDSS (436) 54 (-77). Part 2, from 1.10.1965. Report, Meeting of the Working Group, 28.9.1965. Annex III. Resolutions. S. 2. 69 UNESCO Archives. Records Secretariat. 3 A 34 ECCRDSS (436) 54 (-77). Part 2, from 1.10.1965. Progress Report. 30.11.1967, In der zweiten Phase (1965–1968) leiteten das Projekt Ester Boserup (Dänemark) und Ignacy Sachs (Polen).

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Beispielhaft für letzteres ist der Umgang mit dem Conseil pour le Développement de la Recherche en Sciences Sociales en Afrique (CODESRIA) vonseiten des DSS bzw. des Social and Humanities Section als dessen Nachfolger. In der eingangs geschilderten Initiative für inter-regionale Kooperationen war der afrikanische Raum über das CERDAS vertreten. Das Koordinationszentrum war aus einer Anfrage einiger afrikanischer Mitgliedsstaaten an die UNESCO hervorgegangen, beruhte auf einer Vereinbarung der Republik Zaire mit der UNESCO und hatte 1974 seine Arbeit als intergouvernementales Gremium aufgenommen, geleitet von einem Vorstand mit Regierungsvertretern aus Zaire, Togo und dem Senegal sowie Angestellten der UNESCO. Bereits im Jahr zuvor hatte CODESRIA in Dakar als ein Forum von und für afrikanische Wissenschaftler die Arbeit aufgenommen, ohne direkte Verbindungen nach Paris. Hier ging es nicht primär um den Aufbau sozialwissenschaftlicher Infrastrukturen, sondern um die Förderung von Forschung über und Ausbildung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Region. CODESRIA war wie das Wiener Zentrum ein wissenschaftliches Gremium, das aus institutionellen Mitgliedern bestand und sich vom CERDAS auch darin unterschied, dass es nicht nur auf den subsaharischen Raum bezogen war, sondern einem panafrikanischen Ansatz folgte. Resultierte das CERDAS aus der Logik der weltregionalen Einteilung, wie sie in der UNESCO insgesamt üblich war, verkörperte CODESRIA das Bemühen, afrikanische Methoden und Theorien zur Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in Afrika zu erarbeiten und sich mit Institutionen aus Lateinamerika und Asien zu vernetzen, anstatt sich in eine aus Paris geführte Organisationsstruktur zu integrieren.70 Nach wenigen Jahren war unverkennbar, dass CODESRIA über ein stärkeres Profil verfügte und in der Region eine viel größere Anerkennung genoss. Im Pariser Generalsekretariat war die geringe Wirksamkeit des CERDAS wiederholt Thema, doch selbst als eine umfassende Evaluation ein zutiefst negatives Fazit zog, setzte das DSS/SHS weiter auf die selbst geschaffene Institution und die damit verbundenen direkten Einflussmöglichkeiten. 71

70 CODESRIA, Prospectus & Charter (revised 1985); Abdoulaye Barro, Aboubacar: Coopération Scientifique et Débat Sur les „Sciences Sociales Africaines“ au CODESRIA. In: Cahiers de la Recherche Sur L’éducation et les Savoirs. http://journals.openedition.org/cres/362 (5.5.2019). Eine wichtige Plattform der Süd-Süd-Vernetzung stellte das Inter-regional Co-Ordinating Committee of Development Organisations dar, in dem entwicklungsbezogene Organisationen aus allen Weltteilen kooperierten, siehe Fn 2. 71 Eine Evaluierung im Jahr 1986 ergab, dass das CERDAS weiterhin kaum bekannt war, kaum Aktivitäten aufweisen konnte und im Grunde seit den Anfängen Infrage gestellt wurde: UNESCO-Archives. 125 EX/INF.8. Impact Evaluation, CERDAS.

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Ein handfester Ausdruck der Distanz gegenüber der Selbstorganisation sind die Verhandlungen über den Status von CODESRISA vis-à-vis der UNESCO. Mit der Zunahme von internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hatte sich auch in der UNESCO die Frage nach dem Verhältnis zu diesen Institutionen gestellt, umso mehr als man von Paris aus aktiv an der Gründung von NGOs mitwirkte. 1966 wurde daher ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der drei Kategorien einer offiziellen Verbindung zur UNESCO vorsah, mit je unterschiedlichen Rechten, Pflichten und Zugangsbedingungen.72 Im Januar 1982 reichte Abdallah Burja als Generalsekretär des afrikanischen Forschungsrates den Antrag auf Aufnahme ein und begründete das Anliegen u. a. mit vielfältigen Auftragsarbeiten für die UNESCO.73 Ein Jahr später wird CODESRIA der Status einer NGO der Kategorie C „Mutual information relationship“ gewährt. Die Auflagen dafür waren marginal und der Gewinn einer solchen Anbindung symbolischer Natur. Denn neben dem losen Informationsaustausch beinhaltete diese Eingruppierung lediglich die Möglichkeit, zu bestimmten Treffen der UNESCO eingeladen zu werden.74 Es verwundert daher nicht, dass Burja unmittelbar um die Einstufung in die Kategorie B „Information and consultative relations“ bat. Hier waren gezielte Zuarbeiten zum Programm der UNESCO vorgesehen und es wurden im Gegenzug Subventionen in Aussicht gestellt. Die Ablehnung folgte kurz danach, mit der Begründung, CODESRIA verfüge nicht über eine breit aufgestellte Mitgliedschaft.75 Angesichts der festen Verankerung in der Region, die die Evaluierung des CERDAS kurz darauf attestierte, müssen andere Gründe eine Rolle gespielt haben. Aufschlussreich dafür ist der nächste Anlauf, der von Dakar aus unternommen wurde. Im Sommer 1989 wandte sich Thandika Mkandawire an Paris und beantragte die Umgruppierung in die Kategorie A „Consultative and associate relations“. Diese war attraktiv, weil sie eine enge und regelmäßige Einbindung in die Planung und Ausführung des UNESCO-Programms festschrieb und mit der Anwesenheit in eigenen Räumen im Pariser Generalsekretarät unterlegte. In der Begründung verwies Mkandawire auf die eingespielte Kooperation mit dem 72 Martens, Kerstin: The Role of NGOs in the UNESCO System. In: Transnational Associations 2 (1999). S. 68–82; Directives Concerning UNESCO’s Relations with Non-Governmental Organisations, Paris 1966. 73 UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Bujra, Request for NGO Status, 7. Januar 1982 (C-11-82-06). 74 Jede NGO, die international zusammengesetzt war, über gewählte Vertreter verfügte und in mindestens einem der Felder aktiv war, in denen sich die UNESCO engagierte, war hier zugelassen. 75 UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Békri (UNESC) an Bujra (CODESRIA), 23.8.1983 (DG/7.6.2/A.O86).

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UNESCO-Regionalbüro in Dakar (BREDA) sowie auf die vielfältigen Aktivitäten mit CLASCO und anderen UNESCO-Gremien über das Inter-regional Co-Ordinating Committee of Development Organisations (ICCDA). Zudem weise das Programmpapier „UNESCO Priorité Afrique 1990–1995“ zahlreiche Überschneidungen mit der Arbeit von CODESRIA auf. Die Argumente überzeugten nicht, selbst dann nicht, als Mkandawire die aktuelle Mitgliederliste sowie das künftige Arbeitsprogramm von CODESRIA vorlegte. Im Mai 1990 wurde der Verbleib in der Kategorie B kommuniziert, einem internen Dokument zufolge, weil CODESRIA bislang nicht die erforderlichen „major contributions to UNESCO work“ nachweisen könne.76 Es ist bezeichnend, dass man in Dakar weiter an einer engeren Anbindung arbeitete, die Wirksamkeit versprach, u. a. über die Einladung zur eigenen Generalversammlung im Jahr 1992, auf der neue Forschungsprioritäten und eine neues Statut beschlossen werden sollten.77 Ali Kazancigil nahm in seiner Funktion als Leiter der Pariser Abteilung für Sozial- und Geisteswissenschaften daran teil und stellte in seinem Bericht der UNESCO ein trauriges Zeugnis aus. CODESRIA würde fast alle Forschungszentren und universitären Einheiten in dem Feld in ganz Afrika vereinen, sei mindestens ebenso gut aufgestellt wie das CLASCO und bestreite ein beeindruckendes Programm. Nicht nur sei es falsch gewesen, ein Jahr nach dessen Gründung mit CERDAS einen regionalen Rivalen zu schaffen, zumal gegen den Rat der afrikanischen Kollegen. Vielmehr wiederhole man den Fehler derzeit mit der Errichtung des Conseil African des Sciences Social and Humaine (Harare), das ebenfalls weit entfernt sei von den konkreten Lagen in der Region und deshalb keine Unterstützung erfahre. Keiner der führenden Sozialwissenschaftler vor Ort verstehe diese Entscheidung. Inutile puisque faisant double emploi avec CODESRIA, accueilli avec hostilité ou indifférence par la communauté des chercheurs …, sans aucune chance d’avoir un commencement de réalité, le CASSH apparait comme une entreprise condamnée à végéter. … L’UNESCO a donc poursuivi des stratégie pour le moins mal conçues et peu productives en matière du développement des sciences sociales an Afrique […].78

76 UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Mkandawire an Generalsekretär, 23.8.1989 (C.SS.63); UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Thandika Mkandawire an Georges Malempré (Division NGO-UNESCO-Beziehungen), 20.11.1989; UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Frederico Mayor an Thandika Mkandawire 29.5. 1990. 77 UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Mkandawire an UNESCO-Generalsekretär, 15.11.1991. 78 UNESCO Archives. Secretariat Records. Box 206. Fd. 3.1/117-5. Kazancigil an Fournier, 19.2.1992 (SHS/IST/92/memo 62). S. 2.

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Kazancigils Intervention hatte keine Resonanz und auch Jahre später, als 1995 neue Direktiven für den Status von NGOs beschlossen wurden, die auf eine Flexibilisierung zielten und deshalb auch interregionale und regionale Organisationen stärker berücksichtigte, behielt man die Einordnung von CODESRIA in einer nachrangingen Kategorie bei. In der Folge endete die direkte Verbindung zur UNESCO-Zentrale. Mit dem Regionalbüro in Dakar wurde weiter kooperiert und im Zuge einer Revision des Statutes des ISSC, die regionalen Gremien volle Mitgliedschaft ermöglichte, entstand eine neue Arena, die CODESRIA sogleich zu nutzen begann. Die Suche nach einem Platz, der Mitsprache und Mitgestaltung ermöglichte, blieb jedenfalls an zentralen Stellen bis in die 1990er Jahre und darüber hinaus ohne größere Erfolge.

Zusammenfassung Die Dekolonialisierung führte zur konflikthaften Aushandlung einer neuen, postkolonialen Welt- und Wissensordnung. Die UNESCO war nicht nur eine wichtige Arena dieser Aushandlungen, sondern ein zentraler Akteur. In der Abteilung für Sozialwissenschaften des UNESCO-Sekretariats begann wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein großangelegtes Projekt, der Aufbau einer globalen Infrastruktur zur Koordination von sozialwissenschaftlicher Forschung sowie deren Verzahnung über die Begründung der Vergleichenden Sozialwissenschaft. Intellektuell wie politisch zielte das Vorhaben auf eine allgemeine Theorie von Gesellschaftsentwicklung, die aus einer arbeitsteiligen Grundlagenforschung in nationalen Forschungseinheiten, regionalen Koordinationszentren sowie internationalen Dachverbänden erwachsen sollte. Die Dekolonialisierungsprozesse schlugen sich hier zunächst auf ambivalente Weise nieder. Einerseits schien es, als könne man mit den unabhängig gewordenen afrikanischen und asiatischen Staaten, die der UNESCO beitraten, die Pläne umso besser umsetzen und in allen Teilen der Welt Organisationsaufbau betreiben. Andererseits führte die Präsenz der neuen Staaten zu erheblichen Spannungen und Deutungskämpfen. Ihre Interessen entsprachen nicht notwendigerweise den Vorstellungen im Pariser Generalsekretariat. Sie forderten eigenständige Wege in das Feld sowie gleiche Mitsprache bei der internationalen Forschungssteuerung. Mehr noch, sie griffen die Kritik am Universalismus der Sozialwissenschaften, an den anhaltenden asymmetrischen Beziehungen und der Diffusion von westlichen Theorien auf, die Anfang der 1970er Jahre von verschiedenen Seiten, vor allem von Samir Amin, Edward Said und anderen Vertretern der Postcolonial Studies, vorgebracht wurde. Die Konflikte betrafen die Ausrichtung

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des Feldes im globalen Süden und die Souveränität der nichtwestlichen Wissenschaftler vis-à-vis der Autorität, die die internationalen Gremien für sich reklamierten. Sie reichten bis zu Fragen des Zugriffs auf Forschungsdaten und der Deutungshoheit in der Planung von großangelegten Vergleichsstudien. Die Interventionen von Sozialwissenschaftlern aus dem asiatischen, lateinamerikanischen, arabischen und afrikanischen Raum hatten eine begrenzte Reichweite, weil ihre Inklusion nicht in erster Linie aus einer veränderten weltpolitischen Lage resultierte, sondern in dem Projekt einer internationalen Sozialwissenschaft angelegt war, das in den späten 1940er Jahren begann. Da dieses im Kern auf eine Diffusion westlicher Forschung zielte, bedeutete die Inklusion von Wissenschaftlern aus dem globalen Süden auch keine gleichberechtigte Teilhabe. Das gestufte, an die internationale politische Ordnung angelehnte Organisationsmodell ermöglichte ihnen die Teilnahme, jedoch zu einem hohen Preis. Erwartet wurde von ihnen die gemeinsame Umsetzung eines intellektuellen Projekts, das die asymmetrischen Beziehungen eher vertiefte, als sie zu ändern, und das den globalen Süden eher fragmentierte, denn ihn als Einheit zu sehen. Der Pariser UNESCO-Zentrale und dem ISSC gelang es erstaunlich lange, die sich auftuenden Unvereinbarkeiten einzuhegen. Sie hielten an der Idee einer globalen Erarbeitung eines universalen Gesellschaftswissens fest. Die Resistenz gegenüber einer Infragestellung der Grundprämissen zeigt sich gerade auch darin, dass hier die neue internationale Ordnung kaum als eine Nord-Süd-Konstellation aufgefasst wurde. Man beschrieb die Welt mithilfe des Drei-Welten-Modells, mit dem Schema Ost-West, mit integrativen Theorien wie der Modernisierung, samt ihrer Gegenüberstellung von Industrieländern und Entwicklungsländern, und vor allem teilte man den globalen Süden in einzelne Regionen. Die regionale Deutung hatte auch deshalb sehr lange Bestand, weil regionale Kooperationsstrukturen als Instrumente einer universalen Wissensproduktion begriffen wurden. Der Institutionalisierungsprozess gestaltete sich schwierig, aber eine auf Weltregionen basierende Kooperationsinfrastruktur wurde dennoch realisiert. Damit wurden, wissentlich oder nicht, die an anderen Stellen adressierten Nord-Süd-Verhältnisse unterlaufen und das Problem der globalen Ungleichheit ausgeblendet. Das Kernanliegen – universale Gesellschaftstheorie durch internationale Vergleichsforschung – zielte auf die Bewältigung, Ordnung und Steuerung von Differenz, nicht auf deren Akzeptanz. Es gab in den Pariser Gremien und in dem europäischen Zentrum Akteure, die bereits in den späten 1960er Jahren nach einer postkolonialen Haltung suchten, doch die Mehrheit zeigte sich von der postkolonialen Kritik unberührt. Die intellektuelle und organisatorische Sprengkraft der Dekolonialisierung kam in diesem Bereich erst nach dem Ende des Kalten Krieges zum Tragen. Die Kritik an dem sozialwissenschaftlichen Universalismus, die seit den 1970er Jahren zir-

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kulierte, schlug zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch und führte zu einer Krise, in der man begann, sich mit Blick auf die asymmetrischen Nord-Süd-Beziehungen neu aufzustellen. Das Projekt der internationalen Sozialwissenschaften entstand als ein Projekt des Nordens über den Süden. Eine gleichberechtigte Partizipation des Südens wurde in langwierigen Aushandlungen erwirkt, die in den 1970er Jahren begannen und bis in die jüngste Vergangenheit reichen.

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Globales Umweltwissen, Naturgefahren und Wissenschaftsdiplomatie: Katastrophenhilfe in den Nord-Süd-Beziehungen ‚300 Tage Sonne im Jahr‘ – so lautete das Werbeversprechen, das seit den 1950er Jahren Tausende europäischer und amerikanischer Touristen an die Strände der Stadt Agadir in Marokko lockte. Die Stadt war ein Star in der entstehenden Welt des Massentourismus: Touristen priesen sie als einen paradiesischen Ort und beschworen die Schönheit ihrer Strände, ein mondänes Hotel nach dem anderen wurde entlang der Küste hochgezogen und im Hinterland brachte eine neue Rennstrecke den Glamour der Sportwelt in den Ort.1 Um die Jahrhundertwende nicht mehr als eine verschlafene Kleinstadt mit einigen wenigen tausend Einwohnern, verwandelte sich Agadir in den 1950er-Jahren in eine schnell wachsende und geschäftige Touristenhochburg. Nur wenige Einwohner, geschweige denn Touristen, wussten allerdings, dass sich Agadir zugleich in einer Erdbebenzone befand. Schon im Jahr 1731 war an der gleichen Stelle eine spanische Siedlung durch ein Erdbeben zerstört worden, doch war dieses Ereignis weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie aus dem Nichts schien daher jenes Erdbeben zu kommen, das am 29. Februar 1960 die Stadt erschütterte. Zurück blieb nach 15 Sekunden ein Trümmerhaufen: 15.000 Menschen waren ums Leben gekommen, ganze Viertel dem Erdboden gleich gemacht worden. Wie ein Pilot, der in den Tagen danach über die Stadt flog, bemerkte: „Es sah aus, als habe ein riesiger Fuß auf die Stadt getreten und sie unter sich zerquetscht.“2 Das Erdbeben von Agadir markierte den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Naturkatastrophen, die seit den 1960er Jahren die ‚dritte Welt‘3 immer wieder zum Schauplatz existentieller Kämpfe ums Überleben machten. Globale Naturkatastrophen mit hohen Opferzahlen wie die Erdbeben von Agadir, Süd-Chile (1960), Peru (1970), Nicaragua (1972), Guatemala (1976) oder Mexiko (1985), 1 „Das war Agadir“. In: Die Zeit, 11.3.1960. 2 „Disaster in Agadir“. In: New York Times, 6.3.1960. 3 Im Sinne des in diesem Band erfolgenden Ansatzes, Begriffe wie ‚dritte Welt‘, ‚globaler Süden‘ und ‚Entwicklungsländer‘ zu historisieren, ist sich auch der vorliegende Beitrag der Historizität und Problematik solcher Begrifflichkeiten bewusst, wird sie mangels besserer Alternativen jedoch weiterhin nutzen. https://doi.org/10.1515/9783110682625-015

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aber auch Überschwemmungen und Wirbelstürme etwa in Tunesien (1969) oder Ost-Pakistan/Bangladesch (1970/71) fanden eine hohe Medienaufmerksamkeit und mobilisierten regelmäßig transnationale Hilfskampagnen. Zugleich dramatisierten sie aber auch globale Ungleichheiten in den Überlebenschancen und „Gefährdungsschicksalen“4 von Menschen und setzten Versuche in Gang, solche Ungleichheiten abzubauen. Viele Institutionen der Entwicklungshilfe wie die amerikanische Agency for International Development (USAID), die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), das UN-Disaster Relief Office oder die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) begannen seit den 1960er Jahren, transnationale Forschungsprogramme und Strukturen für den Aufbau neuen Wissens über Naturgefahren in Lateinamerika, Afrika und Asien aufzulegen. Auch Wissenschaftler trieben den Transfer von Technologien und Praktiken der Katastrophenvorsorge gegen Erdbeben, Überschwemmungen, tropische Stürme oder Vulkanausbrüche voran. Beispiele wären die jeweils maßgeblich auf das Betreiben der USA und UNESCO zurückgehende Ausweitung transnationaler seismologischer Erdbebenforschung und Einrichtung von Erdbebenzentren in Südostasien und Lateinamerika seit den 1960er Jahren, das von der WMO 1972 in Südasien geschaffene „Tropical Cyclone Programme“, das von der UNESCO lange Jahre koordinierte „Pacific Tsunami Warning System“ oder die zahlreichen von der UN und anderen Organisationen veranstalteten globalen Konferenzen, die im Kontext der „International Decade for Natural Disaster Reduction“ (1990er Jahre) stattfanden. Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, am Beispiel der USA und internationaler Organisationen den Wandel ebensolcher Formen und Spielarten internationaler Katastrophenhilfe gegenüber dem ‚globalen Süden‘ seit den 1960er Jahren zu untersuchen. Der Beitrag lenkt damit den Blick auf eine Dimension der Nord-Süd-Beziehungen, die bisher nur wenig beachtet worden ist. Mein Interesse gilt dabei allerdings weniger der Geschichte humanitärer Hilfe als vielmehr der seit den 1960er Jahren zunehmend aufkommenden Idee globaler Katastrophenvorsorge: Wie und warum rückte diese Idee eigentlich auf die Agenda internationaler Organisationen, auf welchen Theoremen und Wissensformen beruhten die propagierten Vorsorgeansätze und wie wurde Vorsorge vor Ort umgesetzt? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei sich der Beitrag vor allem auf Erdbeben als einen besonders prominenten Gefahrentypus der 1960er- und 1970er-Jahre fokussieren wird. Naturkatastrophen haben in den letzten Jahren immer wieder im Fokus von Historikerinnen und Historikern gestanden, sind bisher aber vor allem in ihren 4 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 2016. S. 8.

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lokalen und nationalen Kontexten untersucht worden. Eine fulminante Studie hat zuletzt Nicolai Hannig vorgelegt, der die longue durée des Umgangs mit Naturgefahren in Europa in den Blick nimmt.5 Auch im Kontext der amerikanischen Geschichte sind Naturgefahren in den letzten Jahren immer wieder untersucht worden, zuletzt etwa von Eleonora Rohland, Uwe Lübken, Scott Gabriel Knowles oder Ted Steinberg, so dass bereits hervorragende Arbeiten zur Geschichte von Naturkatastrophen in Europa und den USA vorliegen.6 Im Gegensatz dazu sind internationale Zusammenhänge allerdings bisher kaum untersucht worden bzw. werden dort, wo sie in den Blick kommen, überwiegend unter dem Blickwinkel einer reinen Geschichte humanitärer Hilfe untersucht. Maßgeblich sind hier im US-amerikanischen Kontext die Aufsätze von Julia Irwin, die derzeit auch an einer Geschichte der amerikanischen humanitären Hilfe im Kontext von globalen Naturkatastrophen arbeitet.7 In Deutschland hat Patrick Merziger erste Studien zur humanitären Hilfe der Bundesrepublik seit 1950 vorgelegt.8 An diese Arbeiten schließt der vorliegende Beitrag an, verschiebt aber die Perspektive auf den Zusammenhang von Politik, Wissenschaft, Umweltwissen und Katastrophenvorsorge. Ein wichtiger Bezugspunkt meiner Überlegungen ist daher auch der noch relativ neue Ansatz der Geschichte von Wissenschaftsdiplomatie, der sich für 5 Hannig, Nicolai: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800. Göttingen 2019. Instruktiv zur Geschichte von Vorsorge überhaupt ist auch: ders./Thießen, Malte (Hrsg.): Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken. Berlin 2017. 6 Rohland, Eleonora: Changes in the Air. Hurricanes in New Orleans from 1718 to the Present. New York 2018; Lübken, Uwe: Die Natur der Gefahr. Überschwemmungen am Ohio River im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2014; Knowles, Scott Gabriel: The Disaster Experts. Mastering Risk in Modern America. Philadelphia 2011; Steinberg, Ted: Acts of God. The Unnatural History of Natural Disaster in America. New York 2006; Rozario, Kevin: The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America. Chicago 2007; Mauch, Christof/Pfister, Christian (Hrsg.): Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies Toward a Global Environmental History. Lanham/Plymouth 2009; vgl. auch die Forschungsüberblicke von Hannig, Nicolai: Katastrophen im 19. und 20. Jahrhundert. Befunde, Kontexte und Perspektiven, in: Neue Politische Literatur 61 (2016). S. 439–463; Lübken, Uwe: Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte. https://www.hsozkult.de/hsk/forum/2010-07-001 (31.7.2017). 7 Irwin, Julia: Connected by Calamity. The United States, the League of Red Cross Societies, and Transnational Disaster Assistance after the First World War. In: Moving the Social 57 (2017). S. 5–24; dies.: Raging rivers and propaganda weevils. Transnational disaster relief, Cold War politics, and the 1954 Danube and Elbe floods. In: Diplomatic History 40 (2016). Nr. 5. S. 893– 921. 8 Vgl. etwa Merziger, Patrick: Humanitäre Hilfsaktionen der Bunderepublik Deutschland (1951–1991) als Medium der Außenbeziehung. Von der Beziehungspflege zur Intervention. In: Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegensart. Hrsg. von Peter Hoeres u. Anuschka Tischer. Köln 2017. S. 490–516.

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die Wechselwirkungen und Verquickungen zwischen Außenpolitik, internationaler Politik und transnationaler Wissenschaftsförderung interessiert.9 Solche Wechselwirkungen sind für die USA etwa von John Krige, Jacob Hamblin oder Greg Whitesides erschlossen worden, während sich Christian Kehrt und Franziska Torma der Außenwissenschaftspolitik der Bundesrepublik am Beispiel der Polar- und Fischereiforschung gewidmet haben.10 Aufbauend auf diesen Arbeiten soll hier unter Wissenschaftsdiplomatie solches institutionelles und individuelles Handeln in internationalen politischen Kontexten verstanden werden, das auf die Schaffung von Strukturen und Mechanismen für den Wissensaufbau und -transfer hin angelegt ist; das heißt, es geht in der Geschichte von Wissenschaftsdiplomatie nicht allein um Wissenspolitik und Wissenstransfers – wie sie etwa in der Geschichte von Entwicklungspolitik bisher schon untersucht worden sind –, sondern es geht um die internationalen Versuche und Initiativen zum Aufbau institutioneller Strukturen für Wissenschaft und Forschung, die solchen Wissenstransfers in der Regel vorausgehen.11 Unter Umweltwissen verstehe ich in einem weitgefassten Sinne Wissen über die natürliche Umwelt einschließlich des Wissens über Strategien des Umgangs mit ihren Eigenheiten, so dass hier auch erdbebenbezogenes Ingenieurswissen unter diesen Begriff fällt. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt zunächst die Entstehung internationaler Mechanismen der Katastrophenhilfe skizzieren und aufzeigen, wie nach den beiden Erdbeben von Agadir und Süd-Chile 1960 die Katastrophenvorsorge neu in den Fokus internationaler Organisationen rückte. Teil zwei untersucht dann genauer die in der internationalen Katastrophenvorsorge zum Einsatz kommenden Wissensbestände und beschreibt am Beispiel der UNESCO Strategien internationaler Wissenschaftsdiplomatie mittels derer Strukturen für den Aufbau und Transfer von Umweltwissen geschaffen werden sollten. Teil drei benennt Grenzen und Probleme des vor allem in den 1960er Jahren populären techno-politischen Ansatzes der Vorsorge und zeigt auf, wie 9 Siehe dazu meinen Beitrag: Emerging field essay. Globales Wissen und Science Diplomacy im 20. Jahrhundert. In: Neue Politische Literatur 3 (2019). Die Geschichte von Wissenschaftsdiplomatie lässt sich verstehen als Teil einer weitergefassten Wissensgeschichte. Vgl. zu jener zuletzt etwa Lässig, Simone: The history of knowledge and the expansion of the historical research agenda. In: Bulletin of the GHI 59 (Herbst 2016). S. 29–58. 10 Krige, John: American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe. Cambridge 2006; Hamblin, Jacob: Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science. Seattle 2005; Whitesides, Greg: Science and American Foreign Relations since World War II. Cambridge 2019; Kehrt, Christian/Torma, Franziska: Einführung. Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren. In: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 40 (2014). Nr. 3. S. 313–322. 11 Vgl. dazu auch den Beitrag von Katja Naumann in diesem Band.

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in den 1970er Jahren ein neuer Ansatz der Vorsorge entstand, der mehr auf soziale Aspekte fokussierte und Katastrophenvorsorge umfassender anlegte.

Naturkatastrophen in den internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts Ob Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tropenstürme oder Hungerkatastrophen – Naturkatastrophen gehören in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens schon lange zu den prägenden gesellschaftlichen Erfahrungen und führten im Zuge der ersten Globalisierung humanitärer Hilfe seit den 1890er Jahren daher auch schon frühzeitig zur Herausbildung erster Formen transnationaler Katastrophenhilfe. Ereignisse wie die indischen Hungersnöte der 1890er Jahre, der Ausbruch des Mount Pelée (1902) oder das Erdbeben von Valparaiso (1906) füllten – wie auch die Erdbeben in San Francisco (1906) und Messina (1908) – die Titelseiten europäischer und amerikanischer Zeitungen und mobilisierten von Russland bis in die USA erste transnationale Hilfskampagnen, in denen Regierungen, humanitäre Organisationen und religiöse Akteure wie Kirchen und Missionen zusammenwirkten. Zugleich begannen die ersten Wissenschaftler damit, Ursachen und Muster von Naturkatastrophen zu untersuchen. In Japan, Großbritannien, Russland, den USA, der Schweiz, aber etwa auch in Ländern wie Chile bildeten sich zwischen den 1880er und 1900er Jahren erste Erdbebenkommissionen und Gesellschaften für Seismologie, auf der ganzen Welt bauten die Kolonialmächte seismologische Messtationen auf, begannen Akademien und Erdbebenwarten damit, seismologische Nachrichtendienste, Zeitschriften, Jahresbände und populäre Berichte über Erdbeben zu veröffentlichen. Im deutschen Kaiserreich initiierte der Geograph Georg Gerland 1901 und 1903 in Straßburg die ersten internationalen seismologischen Konferenzen, aus ihnen ging auch die Internationale Seismologische Gesellschaft hervor. Mit der internationalen Erdbebenforschung entstand so auch das erste globale Grundlagenwissen über Erdbebenmuster und gefährdete Regionen, auch wenn die Katastrophenvorsorge selber noch nicht im Vordergrund stand.12 In den 1920er und 1930erJahren versuchte vor allem der Präsident des italienischen Roten Kreuzes, Giovanni Ciraolo, an solche Entwicklungen anzuknüpfen. Ciraolo, der das Erdbeben von Messina selber miterlebt hatte, gründete 1924 zusammen mit der Geographischen Gesellschaft von Genf eine Zeit12 Vgl. zu den Entwicklungen zwischen den 1870ern und 1914 Hannig, Kalkulierte Gefahren, S. 284–305.

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schrift, die erstmals ganz auf die Erforschung von Naturkatastrophen hin ausgerichtet war – die „Matériaux pour l’étude des calamités“. Veröffentlicht wurden internationale Beiträge aus der Seismologie, Vulkanologie, Meteorologie oder Soziologie, im Mittelpunkt standen Fragen wie die sozialen und wirtschaftlichen Implikationen von Naturkatastrophen, Katastrophenmuster in unterschiedlichen Ländern oder auch die neuesten Präventionstechniken etwa zur Vermeidung von Überschwemmungen.13 Auch in der Hilfspraxis selber differenzierten sich die Strukturen internationaler Katastrophenhilfe weiter aus. Staaten wie die USA begriffen nun zunehmend die internationale Katastrophenhilfe als ein wichtiges außenpolitisches Handlungsfeld und stellten nach den Erdbeben von Tokio (1923), Nicaragua (1931) und verheerenden Wirbelstürmen etwa in der Dominikanischen Republik (1930) immer wieder beträchtliche Hilfssummen bereit.14 1927 wurde mit der International Relief Union auf Initiative Ciraolos zudem eine internationale Sonderorganisation gegründet, die sich erstmals ausschließlich der humanitären Nothilfe widmete.15 Noch wichtiger war allerdings die 1919 gegründete League of Red Cross Societies, die das Mandat der Rotkreuzgesellschaften explizit auf die internationale Katastrophenhilfe ausweitete. In den 1920er und 1930er Jahren veranstaltete die Liga internationale Konferenzen zur Katastrophenhilfe und -prävention, bemühte sich um eine Professionalisierung der Katastrophenhilfe durch die Publikation eines Handbuchs zur Katastrophenbereitschaft und koordinierte internationale Hilfskampagnen.16 Internationale Katastrophenhilfe baute nach 1945 auf solchen Vorläufern auf und wurde mit den Vereinten Nationen nun um eine Institution ergänzt, die sich immer wieder am Wiederaufbau zerstörter Städte und Regionen beteiligte, beispielsweise nach den Erdbeben von Ambato (1949), El Salvador (1951), Pakistan (1953), Libanon (1956), Iran (1957), Chile (1960), Indonesien und Libyen (1963).17 Auch für die USA, seit den 1920er und 1930er Jahren der größte globale 13 Schemper, Lukas: Transnational expertise on natural disasters and international organizations. Historical perspectives from the interwar period. In: Transnational Expertise. Internal Cohesion and External Recognition of Expert Groups. Hrsg. Von Andrea Schneiker [u. a.]. Baden-Baden 2018. S. 29–54. 14 Vgl. etwa Irwin, Julia: The ’development’ of humanitarian relief. US disaster assistance operations in the Caribbean basin, 1917–1931. In: The Development Century. A Global History. Hrsg. von Stephen Macekura u. Erez Manela. Cambridge 2018. S. 40–60. 15 Zur Geschichte der International Relief Union vgl. Hutchinson, John F.: Disasters and the international order. Earthquakes, humanitarians, and the Ciraolo Project. In: International History Review 22 (2000). Nr. 1. S. 1–36; ders.: Disasters and the international order. II: The International Relief Union. In: International History Review 23 (2001). Nr. 2. S. 253–298. 16 Vgl. Irwin, Connected by Calamity. 17 Rehabilitation and reconstruction following natural disasters. Interim report of the United Nations Secretariat. In: Ekistics 17 (April 1964). Nr. 101. S. 246f.

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Hilfsakteur, blieb die internationale Katastrophenhilfe ein wichtiges Handlungsfeld. Kongress und Regierung gingen im Katastrophenfall meist großzügig mit ihrem Scheckbuch um, schickten mobile Krankenhäuser und Hilfsgüter, manchmal auch Ingenieure und Städteplaner für den Wiederaufbau zerstörter Städte. Art und Umfang der amerikanischen Hilfslieferungen waren dabei oft weit gefächert. Nach dem Erdbeben von Skopje (1963) beispielsweise spendeten die USA nicht allein Hunderte an Fertighäusern, sondern auch tonnenweise Lebensmittel wie Butter und Käse. Zum Symbol der amerikanischen Hilfsbereitschaft wurde jedoch vor allem die öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzte Blutspende des amerikanischen Botschafters George F. Kennan.18 Aktionen wie diese verweisen darauf, dass es im Kontext des globalen Kalten Krieges auch darum ging, Menschlichkeit und kollektive emotionale Anteilnahme zu demonstrieren, um mittels Nothilfe die Herzen und Sympathien der betroffenen Bevölkerungen zu gewinnen. Doch stellte die internationale Katastrophenhilfe nicht nur einen Schauplatz des Wettstreits der Systeme dar. In ihr bündelten sich seit den 1960er Jahren zunehmend auch die emotionalen Erwartungen einer transatlantischen Zivilgesellschaft, für die moralische Werte wie Solidarität, Empathie und Hilfsbereitschaft zentral waren und die jene durch eigene Hilfsaktionen auch praktizierte. Im Katastrophenfall führte dies dazu, dass oft Dutzende an internationalen NGOs vor Ort aktiv wurden, ohne dass die Aktivitäten untereinander koordiniert wurden. Auch deshalb gründeten die Vereinten Nationen in den frühen 1970er Jahren ein UN Disaster Relief Office. Im unmittelbaren Nachgang zu den Erdbeben von Agadir und Chile war die Nothilfe für die Opfer der Erdbeben allerdings nicht das einzige Thema. Für viele Zeitgenossen warf die hohe Zahl der Toten sowie das Ausmaß der Zerstörung auch die Frage nach geeigneten Strategien der Katastrophenvorsorge in Entwicklungsländern auf. Ausdruck fanden solche Sorgen vor allem im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der in seiner 30. Sitzung in einer Resolution die Katastrophenvorsorge zur zentralen globalen Aufgabe erklärte und von der „dringenden Notwendigkeit“ sprach, „die internationale Kooperation voranzutreiben, um die Bevölkerungen der Welt mit ausreichenden Sicherungsmaßnahmen“ vor Naturgefahren zu schützen. Zugleich beauftragte der Wirtschafts- und Sozialrat auch den Generalsekretär der Vereinten Nationen mit einer „detaillierten und umfassenden Studie geeigneter Mittel und Wege, um die durch Erdbeben und Tsunamis verursachten Schäden auf ein Minimum zu reduzieren“.19 18 Vgl. „George Frost Kennan“. In: Der Spiegel 32 (1963). 19 Vgl. UN ECOSOC resolution 767 (XXX). International co-operation in the field of seismological research, 8.7.1960.

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In den folgenden Jahren weiteten die Vereinten Nationen zusammen mit der UNESCO ihre Hilfsprogramme in der Katastrophenvorsorge aus. Verschiedene Expertenkommissionen besuchten noch 1961 Dutzende Länder in Südostasien, dem Mittleren und Nahen Osten sowie Südamerika, um die lokalen Rahmenbedingungen und Strukturen seismologischer Forschung und Katastrophenvorsorge zu untersuchen. Dabei ging es nach Ansicht der UNESCO auch darum, Regierungen und Öffentlichkeiten von Lateinamerika bis Asien klarzumachen, dass sich durchaus „einiges tun ließ, um Bevölkerungen und Gebäude gegen Erdbeben zu schützen“.20 Katastrophenvorsorge spielte in vielen Ländern allerdings nur eine untergeordnete Rolle, wie die Experten feststellten. Nur in wenigen Ländern gab es überhaupt Vorschriften für erdbebensicheres Bauen, oft fehlten seismologische Messstationen oder es mangelte schlicht an ausgebildetem technisch-wissenschaftlichem Personal, das Vorsorgemaßnahmen konzipieren und entsprechend umsetzen konnte. Hinzu kam das eher politische Problem, wie die Expertenkommission für Südostasien feststellte, dass „Behörden in einigen der extrem seismischen Regionen praktisch keine Kenntnis der in ihrem Gebiet vorhandenen Erdbebengefahren“ besaßen.21 Als UN-Generalsekretär U Thant schließlich 1962 seinen Bericht vorlegte, war ein zentrales Thema daher die Bedeutung seismologischen Wissens für die Katastrophenvorsorge. Mittels seismologischer Forschung, so U Thant, ließen sich räumliche Verteilungen von Erdbebengefahren darstellen, von denen ausgehend sich dann spezifische Vorsorgemaßnahmen entwickeln ließen. Notwendig sei dazu aber die Ausweitung seismologischer Forschung in Entwicklungsländern sowie der Ausbau eines globalen Netzwerks seismologischer Messstationen, um die nötige Datengrundlage zusammenzustellen.22

20 National Archives and Records Administraion, College Park (NARA). RG 59. Central Files. 1964–1966. Entry 3008d. Box 35. UNESCO. Natural Sciences Department. UNESCO seismological survey missions, aims and objectives, 24.4.1961. 21 Vgl. NARA. RG 59. Central Files. 1964–1966. Entry 3008d. Box 35. Preliminary report of the UNESCO seismological survey mission to South East Asia, 1961. Vgl. zu den Empfehlungen der drei Kommissionen den Appendix zum Report of the Secretary-General of the United Nations on Seismology and Earthquake Engineering. Economic and Social Council. Thirty-Fourth Session, July 1962. 22 Report of the Secretary-General of the United Nations on Seismology and Earthquake Engineering. Economic and Social Council. Thirty-Fourth Session, July 1962.

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Umweltwissen und Wissenschaftsdiplomatie: Katastrophenvorsorge als Techno-Politik Dass UN und UNESCO in den frühen 1960er Jahren den Aufbau seismologischen Wissens als Mittel der Katastrophenvorsorge privilegierten, war kein Zufall. Viele Länder hatten seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Gelder und Ressourcen in seismologische Forschung investiert und entsprechende Institutionen aufgebaut, darunter auch die beiden Supermächte USA und Sowjetunion. Der Grund dafür waren allerdings weniger Naturkatastrophen, als vielmehr der Beginn der Genfer Atomteststopp-Verhandlungen. Atomtests hatten seit 1954 in vielen Ländern zu Protesten geführt und 1958 schließlich die USA und Sowjetunion dazu gebracht, in Verhandlungen über ein Atomteststopp-Abkommen einzutreten. Umstritten blieb aber wie ein solches Abkommen überwacht werden solle. In den USA widmete sich ein Experten-Panel unter Führung Lloyd Berkners diesem Thema und schlug schließlich ein weltweites Netzwerk von seismologischen Stationen vor, das Verstöße gegen das Abkommen leicht aufdecken konnte. Das Panel schlug daher massive Investitionen in die Seismologie vor, und tatsächlich stiegen seit Mitte der 1950er Jahre die Fördermittel für die Seismologie um das dreißigfache.23 Seismologie, zumindest in ihrer amerikanischen Ausprägung, war also im Kern eine typische Cold War Science und als solche auf die Interessen des amerikanischen Sicherheitsstaates hin angelegt. Zugleich schuf der staatliche Geldregen aber auch ganz neue Möglichkeiten für die Erforschung gewöhnlicher Naturkatastrophen – zumal ein Großteil der amerikanischen Fördermittel ins Ausland gingen. Weiterentwicklungen in der Messtechnik wie die strong motion seismology oder Vorzeigeprojekte wie der seit 1957 betriebene Aufbau eines globalen standardisierten Netzwerks seismologischer Messstationen (World Wide Standard Seismograph Network) mochten vorrangig der Überwachung von Atomtests dienen, produzierten aber auch eine Unmenge an weltweit standardisierten Daten und Aufzeichnungen, aus denen sich neue Erkenntnisse über Eigenschaften und Verlaufsmuster von Erdbeben gewinnen ließen – dual use in umgekehrter Richtung. Viele amerikanische Seismologen bemühten sich nun auch darum, neue internationale Netzwerke aufzubauen. 1956 organisierten amerikanische Wissenschaftler in San Francisco einen ersten internationalen 23 Vgl. dazu etwa Barth, Kai-Henrik: The politics of seismology. Nuclear testing, arms control, and the transformation of a discipline. In: Social Studies of Science 33 (2003). Nr. 5. S. 743–781.; Turchetti, Simone: „In God we trust, all others we monitor“. Seismology, surveillance, and the Test Ban Negotiations. In: The Surveillance Imperative. Geosciences During the Cold War and Beyond. Hrsg. von ders. u. Peder Roberts. New York 2014. S. 85–104.

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Kongress über Seismologie und Erdbebenforschung, seit 1960 fanden solche Kongresse unter den Auspizien einer neu gegründeten „Internationalen Vereinigung für Seismologie und Erdbebenforschung“ regelmäßig statt, etwa 1965 in Neuseeland, 1969 in Chile und 1974 in Italien. Teilnehmerfeld und Themen weiteten sich dabei beständig; hatten 1956 Teilnehmer aus elf Ländern 40 Beiträge vorgestellt, so waren es knapp zwanzig Jahre später 844 Beiträge von Autoren aus 42 Ländern.24 Die zentrale Rolle, die UN und UNESCO den Seismologen in der internationalen Katastrophenvorsorge beimaßen, trug dem internationalen Bedeutungszuwachs der Erdbebenforschung Rechnung, erzeugte jedoch vor allem in den frühen Jahren gewisse Pfadabhängigkeiten. Viele Seismologen begriffen Naturgefahren weniger als Gefahren, sondern vielmehr als technische Herausforderungen, die sich durch die richtigen wissenschaftlich-abgestützten Techniken und Technologien lösen ließen.25 Zumindest in der globalen Katastrophenvorsorge dominierte so weiterhin ein wissenschaftliches Epistem, das noch viel stärker Paradigmen der Prävention verbunden war als es etwa in Westeuropa oder den USA der Fall war, wo sich seit dem frühen 20. Jahrhunderts die Idee der Resilienz zum Leitkonzept entwickelt hatte.26 In Anlehnung an Gabrielle Hecht und Timothy Mitchell lässt sich daher auch im doppelten Sinne von einem Ansatz der ‚Techno-Politik‘ sprechen, der einerseits bestimmte Technologien der Katastrophenvorsorge privilegierte, damit zugleich aber solche Formen der Expertise zur Verfügung stellte, die internationale Institutionen dazu befähigte, auf dem Feld der Katastrophenvorsorge zu Schlüsselakteuren zu werden.27 Große Hoffnungen setzten viele Seismologen in die Erdbebenvorhersage, den alten Traum der Erdbebenforscher. Länder wie China und Japan investierten seit Mitte der 1960er Jahre beträchtliche Mittel in entsprechende Forschungsansätze, auch in den USA schlug ein Expertenpanel 1965 ein auf zehn Jahre angelegtes Forschungsprogramm in der Erdbebenvorhersage vor.28 Bis 24 Housner, George W.: Historical View of Earthquake Engineering. Proceedings of the Eighth World Conference on Earthquake Engineering. San Francisco 1984. 25 Vgl. exemplarisch etwa Rinne, John E.: The earthquake challenge to the structural engineer. Special lecture. In: Proceedings of the Third World Conference on Earthquake Engineering. New Zealand, 1965; Bd. 1 davon verfügbar unter: https://www.iitk.ac.in/nicee/wcee/article/ vol%20I_148.pdf (15.3.2019). 26 Vgl. Hannig, Kalkulierte Gefahren, S. 378ff. 27 Hecht, Gabrielle: Introduction. In: Entangled Geographies. Empire and Technopolitics. Hrsg. von ders. Cambridge 2011. S. 1–12; Mitchell, Timothy: Rule of Experts. Egypt, TechnoPolitics, Modernity. Berkeley 2002. 28 „Scientific Panel proposes 10-year research into earthquakes“. In: New York Times, 6.10.1965.

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Mitte der 1970er Jahre erlebte die Erdbebenvorhersage-Forschung so eine regelrechte internationale Blütezeit, die 1975 auf ihren Höhepunkt zusteuerte, als es chinesischen Seismologen gelang, ein Erdbeben nahe der Stadt Haicheng vorherzusagen. Schon bald stellte sich allerdings heraus, dass es sich hier um einen Zufallstreffer gehandelt hatte, da sich die Vorhersagemethodiken nicht reproduzieren ließen. Unumstritten waren Vorhersage-Ansätze ohnehin nie. Koryphäen der Seismologie wie Charles F. Richter, Erfinder der gleichnamigen Richter-Skala, etwa blieben skeptisch. Hinzu kam, dass Vorhersagen auch wirtschaftliche Folgekosten verursachten. In Oaxaca, Mexiko, gelang es Seismologen zwar 1978, ein Erdbeben vorherzusagen, doch klagte die lokale Tourismusindustrie, dass die Vorhersage durch die Abschreckung von Touristen mehr Schäden verursacht hatte als das eigentliche Erdbeben.29 Nicht anders erging es James Whitcomb, dessen Vorhersage für Los Angeles 1976 im Gegensatz zu Oaxaca zwar nicht eintrat, dafür aber den lokalen Maklern zeitweilig die Immobilienpreise ruinierte.30 Dass weitere Vorhersagen dieser Art ganze Wirtschaftsräume ruinieren konnten, zeigte 1976 nicht zuletzt auch eine einflussreiche Studie von Eugene Haas und Dennis Mileti, in der beide die möglichen Konsequenzen einer Erdbebenvorhersage durchspielten. In ihrer Simulation führte diese zur Abwanderung von Unternehmen und ausbleibenden Investitionen, zum Verfall der Grundstückspreise und sinkenden Steuereinnahmen.31 Es waren neben den methodischen, kaum lösbaren Herausforderungen der Vorhersage auch solche Begleitprobleme, die Ende der 1970er Jahre zu einem spürbaren Bedeutungsverlust der Vorhersageforschung führten. Einigkeit herrschte demgegenüber jedoch im Hinblick auf eine andere Idee: die Kartierung von Erdbebengefahren – das sogenannte hazard mapping. Ansätze, die Gefährdungslagen von Städten und Regionen in Risiko- oder Gefahrenkarten zu erfassen, hatte es vorher vereinzelt schon gegeben, wurden im Zuge des Durchbruchs der Theorie der Plattentektonik nun aber systematisch und im großen Maßstab betrieben. Den Seismologen kam dabei entgegen, dass sie nicht mehr allein auf historische Erdbebenstatistiken angewiesen waren, sondern dank des seit den frühen 1960er Jahren aufgebauten integrierten globalen Netzwerks von seismologischen Stationen eine umfassende Datengrundlage zur Verfügung hatten. Damit wurde es möglich, Erdbebenwahrscheinlichkeiten neu zu berechnen und spezifische Gefahrenzonen bis auf die Bezirksebene hinab zu 29 Vgl. Douglas, John: Earthquake research (2). Averting disaster. In: Science News 115 (Februar 1979). Nr. 6. S. 90–92. 30 Hannig, Kalkulierte Gefahren, S. 453. 31 Hannig, Kalkulierte Gefahren, S. 453.

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definieren. Für solche Risikogebiete ließen sich dann wiederum entsprechende Bauvorschriften und Landnutzungspläne aufstellen, eine Praxis, die gerade in den USA der 1960er und 1970er Jahre vom U. S. Geological Survey flächendeckend betrieben wurde, aber auch in vielen Entwicklungsländern aufgegriffen wurde. Einen ungebrochenen Boom erlebten daneben solche Forschungsansätze, die sich das erdbebensichere Bauen auf die Fahnen schrieben. Der Grundgedanke hinter solchen Ansätzen war einleuchtend: „Die Verluste aus Erdbeben“, so erklärte es Charles F. Richter, waren „größtenteils unnötig und vermeidbar“, weil in der langen Geschichte von Erdbeben „etwa 90 % aller Verluste“ an Leben und der Großteil der Schäden auf das Scheitern schlecht konstruierter Gebäudestrukturen zurückzuführen waren, die „unter einem modernen System der Bauregulierung und Inspektion“ niemals errichtet würden.32 Welche Standards erdbebensicheren Bauens wirksam und geboten waren, war in den 1960er Jahren allerdings durchaus noch offen und bildete daher einen entsprechenden Schwerpunkt in der Erdbebenforschung. Dank des Einzugs des Computers in die Seismologie konnten Erdbebeningenieure dabei über die bewährten Feldstudien hinaus auch immer komplexere Gebäudestrukturen modellieren, begannen sie die Verbindungen zwischen Bodenbeschaffenheit und Gebäuden zu ergründen und machten insgesamt große Fortschritte im Verständnis und der Entwicklung avancierter Techniken erdbebensicheren Bauens.33 Solcherlei Expertise war in den 1960er-Jahren in vielen Teilen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas gefragt und stand daher auch im Mittelpunkt vielfältiger wissenschaftsdiplomatischer Initiativen mittels derer lokales Wissen über Naturgefahren aufgebaut werden sollte. Eine führende Rolle spielte dabei die UNESCO, die sich seit den 1940er Jahren zu einem zentralen Akteur in der globalen Wissenschaftsförderung entwickelt hatte, obgleich diese ursprünglich gar nicht Teil ihres institutionellen Auftrags sein sollte. Erst in letzter Minute war sie zusätzlich zu den beiden Hauptaufgaben Bildung und Kultur in das mission statement der UNESCO hineingeschrieben worden.34 Das hielt sie dennoch nicht davon ab, Wissenschaftsförderung seither als Kernaufgabe zu begreifen. In den 1950er Jahren richtete sie Verbindungsbüros in Cairo, Nanking, New Delhi, und 32 Rede von Charles F. Richter. In: NATO Committee on the Challenges of Modern Society. Disaster Assistance. Earthquake Hazard Reduction. Bd. 1. Library of Congress 1972. 33 Housner, George W.: Historical view of earthquake engineering. In: Proceedings of the Eighth World Conference on Earthquake Engineering. San Francisco 1984. http://www.iitk. ac.in/nicee/wcee/article/8_pc%20Vol_25.pdf (15.3.2019). 34 Vgl. zur Geschichte der UNESCO Lamar, Jake (Hrsg.): Sixty Years of Science at UNESCO, 1945–2005. Paris 2006. Siehe auch den Beitrag von Katja Naumann in diesem Band.

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Rio de Janeiro ein, finanzierte Institutionen wie das Internationale Forschungsinstitut für den Amazonas in Manaus, half bei der Gründung von Wissenschaftsorganisationen, etwa im Libanon, und legte Förderprogramme auf, die Entwicklungsländern die Bedeutung von Wissenschaftsplanung und Wissenschaftspolitik deutlich machen sollten.35 Leitend war dabei ein Wissenschaftsverständnis, das weniger auf Verständigung und Austausch hin angelegt war, sondern auf praktische und konkrete sozio-ökonomische Problemlösung durch internationale Wissenschaft abstellte.36 Immer wieder finanzierte die UNESCO daher große Forschungsprogramme, die dezidiert ‚Entwicklungsprobleme‘ adressierten, etwa zur Wüstenbildung, zum Wassermangel oder der Biosphäre. Folgt man den Arbeiten Perrin Selcers legte sie damit auch die Grundlagen für ein Paradigma nachhaltiger Entwicklung.37 Auch in der Katastrophenvorsorge setzte die Wissenschaftsdiplomatie der UNESCO auf verschiedenen Ebenen an. Eine wichtige Praxis war es, Forschungskommissionen zu finanzieren, die im Katastrophenfall zügig in die betroffenen Gebiete reisten. Oft interdisziplinär besetzt, untersuchten diese Kommissionen Schäden an Gebäuden, versuchten das Ausmaß von Bodenbewegungen zu bestimmen und Risikozonen zu kartieren. Zwischen 1962 und 1980 finanzierte die UNESCO knapp zwei Dutzend solcher Missionen. Die dabei erhobenen Messdaten und Befunde füllten ganze Bände und schufen so eine Wissensgrundlage, die es Seismologen und Erdbebeningenieuren in aller Welt ermöglichte, neue Vorsorgetechniken zu entwickeln. Seit 1963 finanzierte die UNESCO außerdem ein in Japan angesiedeltes Internationales Institut für Seismologie und Erdbebenforschung. Dahinter standen zwei Grundüberlegungen: Zum einen verfügten nur wenige Entwicklungsländer in erdbebengefährdeten Ländern überhaupt über die wissenschaftlichen Ausbildungsstrukturen und Experten, um erdbebenspezifisches Wissen aufbauen zu können. Oder besser: verfügten oft nicht mehr über diese, nachdem die Kolonialmächte abgezogen waren. Andererseits machte es aus Sicht der UNESCO wenig Sinn, in jedem erdbebengefährdeten Land entsprechende Aus35 Vgl. Finnemore, Martha: International organizations as teachers of norms. The United Nations Educational, Scientific, and Cutural Organization and science policy. In: International Organization 47 (1993). Nr. 4. S. 565–597. 36 Vgl. Domingues, Bertol/Maria, Heloisa/Petitjean, Patrick: International science, Brazil and diplomacy in UNESCO (1946–1950). In: Science, Technology & Society 9 (2004). Nr. 1. S. 29–50. Hier S. 32; Andersen, Casper: „Scientific independence“, capacity building, and the development of UNESCO’s science and technology agenda for Africa. In: Canadian Journal of African Studies 50 (2016). Nr. 3. S. 379–394. 37 Selcer, Perrin: The Postwar Origins of the Global Environment. How the United Nations Built Spaceship Earth. New York 2018.

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bildungsstrukturen aufzubauen, zumal japanische Universitäten seit den 1950er Jahren ohnehin vermehrt Studierende aus Entwicklungsländern angezogen hatten. Mit der Gründung des Instituts sollten solche Beziehungen institutionalisiert werden. Daneben sollte es dazu beitragen, die Katastrophenvorsorge im ‚globalen Süden‘ zu professionalisieren. Jedes Jahr finanzierte die UNESCO zwölf Stipendien für Studierende aus Entwicklungsländern; zudem gab es Gelder für zwei Seismologen, zwei Erdbebeningenieure und drei weitere Experten, die meist für einen Kurzaufenthalt nach Tokio kamen. Bis 1968 konnten so 155 Ingenieure und Seismologen aus Entwicklungsländern ausgebildet werden.38 Drittens förderte die UNESCO auch den Aufbau neuer Forschungsinfrastrukturen in Entwicklungsländern. In Südostasien finanzierte die UNESCO den Aufbau eines neuen Netzwerks von seismologischen Stationen, in Südamerika die Gründung eines seismologischen Forschungszentrums für Südamerika, das seit 1966 in Peru aufgebaut wurde. Seit 1966 gab es ferner einen „International Fund for the Development of Seismology and Earthquake Engineering“. Flankiert wurden solche Maßnahmen auch von vergleichbaren Initiativen, etwa des UN-Entwicklungsprogramms oder der USA. Seit Mitte der 1960er Jahre förderten die USA zunehmend transnationale Forschungsprojekte zur Abwehr von Naturgefahren, waren an der Einrichtung neuer Erdbebenzentren in Lateinamerika und Südostasien beteiligt und legten für öffentliche Verwaltungen in Asien und Lateinamerika ein Ausbildungsprogramm zur Katastrophenvorsorge auf. In Chile wirkten amerikanische Erdbebeningenieure, finanziert durch die Carnegie und Ford-Foundations, an der Ausarbeitung neuer Vorschriften für erdbebensicheres Bauen mit und organisierten neue Austauschprogramme zwischen amerikanischen und chilenischen Universitäten.39 Auch in Nicaragua war amerikanisches Know-how nach dem Erdbeben von 1972 gefragt und einer der Gründe dafür, warum sich Vorschläge, die zum dritten Mal durch ein Erdbeben weiträumig zerstörte Hauptstadt Managua in eine weniger gefährliche Gegend zu verlegen, nicht durchsetzten: man konnte ja nun erdbebensicher bauen.40

38 Vgl. UNDP/UNESCO. International Institute of Seismology and Earthquake Engineering, Tokyo, Japan. Report Prepared for the government of Japan by the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization acting as executing and participating agency for the United Nations Development Programme, Special Fund Component, for the period 1963– 1968. Paris 1969. 39 Arias, A. [u. a.]: Comments on the new Chilean seismic code for buildings. In: Proceedings of the Fourth World Conference on Earthquake Engineering. Hrsg. von International Association for Earth Engineering. Santiago de Chile 1969. Bd. 3 verfügbar unter: https://www.iitk.ac. in/nicee/wcee/article/4_vol3_B5-41.pdf (15.3.2019). 40 Haynes, Douglas: Every Day We Live is the Future. Surviving in a City of Disasters. Austin 2017. S. 122.

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Aber es waren nicht nur Erdbeben, die im Mittelpunkt der internationalen Wissenschaftsdiplomatie standen. In Lateinamerika waren amerikanische Wissenschaftler auch im Hochwasserschutz vielgefragte Experten. Auch in Ost-Pakistan (später Bangladesch) beteiligten sich US-Experten am Aufbau eines Deichsystems, das Schutz vor den wiederkehrenden saisonalen Zyklonen bieten sollte. Ein vielbeachtetes Vorzeigeprojekt war auch der seit Mitte der 1960er Jahre von der UNESCO koordinierte Aufbau eines „Pacific Tsunami Warning Systems“, das sich neue Forschungsergebnisse etwa zu Ausbreitungsmustern von Tsunamis zunutze machte und eine starke Forschungskomponente enthielt. Nach dem gleichen Muster legten die UN, die Weltmeteorologieorganisation (WMO) und die U.S.-amerikanische Agency for International Development (USAID) nach 1972 auch ein „Tropical Cyclone Programme“ für den Indischen Ozean auf. Wissenschaftler modellierten typische Verlaufsmuster von Zyklonen, untersuchten in verschiedenen Studien Möglichkeiten und Grenzen neuer Vorhersagetechnologien und brachten schließlich ein satellitengestütztes Warnsystem auf den Weg. Entwicklungshelfer der USAID lagen also nicht gänzlich falsch, als sie 1971 feststellten, dass es einen neuen Trend in der internationalen Katastrophenhilfe gäbe: weg von der „post-facto Reaktion auf Katastrophen“ hin zur präventiven „Planung der Katastrophenbereitschaft“ und von einem Fokus auf Katastrophenfolgen hin zu einem auf Katastrophenbedingungen und Vorsorgemaßnahmen.41

Paradigmenwechsel? Wissenskonflikte und Neuansätze auf dem Weg in die UN-Dekade zur Reduzierung von Naturkatastrophen Seit den 1970er Jahren traten dennoch mehr und mehr die Probleme technopolitischer Vorsorgeansätze im ‚globalen Süden‘ zutage. Große Erdbeben in Peru (1970), Nicaragua (1972) und Guatemala (1976) zeigten immer wieder die praktischen Grenzen der Katastrophenvorsorge auf und verwiesen auf ein grundlegendes Problem: In vielen Ländern war es schlichtweg nicht möglich, die Einsichten und Lösungsansätze der Erdbebenforschung auch umzusetzen. Das Problem waren dabei weniger die Wissensbestände der Erdbebenforschung selber als vielmehr die vielen Konflikte, die sich ergaben, wenn dieses Wissen in die Gesellschaft hineingetragen werden sollte. Standards erdbebensicheren Bauens 41 NARA. RG 286. Entry P 398. Box 7. AID. Disaster preparedness information memo, 8.4.1971.

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machten Sinn, wenn neu gebaut wurde, waren in historisch gewachsenen Großstädten aber schon allein wegen der Kosten und der damit verbundenen komplizierten Rechtsfragen nicht durchzusetzen. Gleiches galt für seismische Gefahrenkarten, die in einem Umfeld geordneter und durchregulierter Stadtplanung ihre Funktion besitzen mochten, im Durcheinander schnell wachsender Megacitys aber wenig ausrichten konnten. Wegen Verstößen gegen Gefahrenzonierungen oder Bauvorschriften räumte kaum eine Stadtregierung illegale Siedlungen in Hochrisikozonen, zumal hier auch die städtische Immobilienwirtschaft meist ihre Interessen mit im Spiel hatte.42 Techno-politische Vorsorgestrategien begannen daher seit 1970 vermehrt Kritik auf sich zu ziehen. Einwände kamen vor allem aus der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung, und hier insbesondere von dem Amerikaner Gilbert White, der zum profiliertesten Vertreter eines neuen Verständnisses von Katastrophenvorsorge avancierte.43 White hatte Ende der 1950er Jahre Besiedelungsmuster in den Überschwemmungsgebieten des Mississippi untersucht und dabei ein Paradoxon registriert: Obgleich die Hochwassergefahren entlang des Mississippi weithin bekannt waren, hatten massive Investitionen in den Hochwasserschutz durch Dämme und Deiche dazu geführt, dass nicht weniger, sondern immer mehr Menschen in den Überschwemmungsgebieten siedelten – mit dem Effekt, dass die wirtschaftlichen und sozialen Katastrophenschäden immer weiter stiegen, wenn doch irgendwo ein Damm brach.44 In seinen Studien folgerte White daraus, dass Katastrophenvorsorge daher nicht als rein technische Aufgabe gedacht werden dürfe, sondern im Sinne eines umfassenderen floodplain managements unterschiedliche Dimensionen und Maßnahmen miteinander verzahnen müsse.45 Statt Naturgefahren nur technologisch zu bearbeiten, seien auch die sozio-ökonomischen Voraussetzungen von Naturkatastrophen sowie das Verhalten von Menschen zu berücksichtigen.

42 Vgl. Disaster Programme. Report on the International Meeting on Earthquakes held in San Francisco (United States), 20.–25.5 1971. In: NATO Committee on the Challenges of Modern Society. Disaster assistance. Earthquake hazard reduction. Bd. 1. Library of Congress 1972; UNESCO, Final Report of the Intergovernmental Conference on the Assessment and Mitigation of Earthquake Risk, Paris 10.–19.2.1976. 43 Vgl. zur sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung Stehrenberger, Cécile: Systeme und Organisationen unter Stress. Zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung (1949–1979). In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014). Nr. 3. S. 406–424. 44 White, Gilbert F.: Changes in Urban Occupants of Flood Planes in the United States. University of Chicago, Department of Geography. Research Paper 57. Chicago 1958. 45 White, Gilbert F.: Choice of Adjustment to Floods. Chicago 1964; vgl. zu White auch Lübken, Natur der Gefahr, S. 255f.

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National wie international gut vernetzt, begann White Ende der 1960er Jahre als Mitglied einer von der International Geographical Union eingesetzten Commission on Man and Environment seinen Ansatz auch auf andere Naturkatastrophen zu übertragen. Feldforschungen in Peru, Kenia, Brasilien, Mexiko, Nigeria, Tansania, Indien, Malawi, Bangladesch, Costa Rica, Kanada und den USA sollten eine globale Zusammenschau unterschiedlicher Vorsorgeansätze liefern, dabei aber auch herausfinden, wie sich Menschen im Katastrophenfall verhielten. Grundlage des Forschungsprojekts war daher ein Fragebogen, der sich vornehmlich für lokale Wahrnehmungen von Naturgefahren und soziale Strategien des Umgangs mit ihnen interessierte. Erfragt wurden neben Geschlecht, Beruf und Besitzverhältnissen der befragten Personen auch Informationen zu den Hilfs-, Kommunikations- und Organisationsstrukturen in lokalen Gemeinschaften. Zudem wurden die jeweiligen individuellen Einschätzungen zu den Vorund Nachteilen der persönlichen Wohnsituation oder den zu erwartenden Katastrophenschäden erhoben.46 Whites Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse 1974 und 1977 in zwei Bänden erschienen, rückte also die sozialen Praktiken der Katastrophenvorsorge in ‚Entwicklungsländern‘ in den Mittelpunkt der Analyse. Viele Einzelstudien überraschten dabei mit unerwarteten Ergebnissen: In Bangladesch etwa, 1970/ 71 Schauplatz verheerender Zyklone, die Hunderttausende Menschen das Leben gekostet hatten, zeigte sich, dass die meisten Küstenbewohner sich der Gefahren durch Zyklone bewusst waren, aber trotzdem in gefährdeten Regionen siedelten, weil dies für sie ökonomisch Sinn machte. Zudem hatte ein ambitioniertes, durch die USA und die Niederlande finanziertes Hochwasserschutzprogramm dort in den 1960er Jahren den Eindruck erzeugt, dass die Gefahr von Überflutungen weitestgehend gebannt war. In anderen Ländern wie Sri Lanka, Tansania oder Nicaragua fanden die Forscher heraus, dass es gerade Prozesse der Modernisierung und Industrialisierung waren, mit denen die gesellschaftliche Anfälligkeit für Katastrophen stieg.47 Ansätze wie diese deuteten Naturkatastrophen nicht mehr als plötzlich von außen hereinbrechende Ereignisse, sondern als Produkte gesellschaftlicher Entscheidungen und sozialer Interaktionsmuster. Mit ihnen rückten Katastrophenwahrnehmungen neu in den Fokus. Zugleich betonten die Forscher um White, dass die in der Entwicklungspolitik propagierten Strategien der Katastrophenvorsorge an diesen eigentlichen sozialen Kernproblemen vorbeigehen würden 46 White, Gilbert F.: Natural hazards research. Concepts, methods, and policy implications. In: Natural Hazards. Local, National, Global. Hrsg. von dems. New York 1974. S. 3–18. Hier S. 6f. 47 Burton, Ian: The Environment as Hazard. New York 1978.

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und durch die Engführung auf rein technologische Lösungen die Gefährdungen für Bevölkerungen im ‚globalen Süden‘ eher vergrößerten als reduzierten. Demgegenüber musste in Whites Augen Katastrophenvorsorge anders und vor allem umfassender konzipiert werden: Effektiv vorzusorgen, hieß lokale Praktiken, Wissensformen und Traditionen der Katastrophenabwehr zu berücksichtigen, sie mit ‚modernen‘ Warnsystemen zu verkoppeln, bessere Kommunikationsstrukturen aufzubauen, Pläne für den schnellen Wiederaufbau zerstörter Gebiete in der Schublade zu haben, Versicherungssysteme aufzubauen, lokale Mechanismen der Katastrophenhilfe einzuüben, Einsatzpläne für Verwaltungen und Institutionen zu entwerfen oder Entwicklungsgelder nicht mehr für Vorhaben freizugeben, die neue Gefährdungen schufen. Damit legten White und seine Mitstreiter die Grundlagen für den Aufstieg eines Ansatzes, der in der Entwicklungshilfe heute gewöhnlich unter dem Begriff der ‚Resilienz‘ firmiert und eine doppelte Zielsetzung in sich vereint: die sozialen und wirtschaftlichen Anfälligkeiten für Naturkatastrophen zu minimieren und die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften zu stärken. In Ministerien und internationalen Organisationen setzten sich solche Ideen vor allem seit den späten 1970er Jahren immer stärker durch. In der Karibik etwa stellten die Panamerikanische Gesundheitsorganisation, die League of Red Cross Societies, USAID, das Büro des UN-Koordinators für Katastrophenhilfe und verschiedene karibische Regierungen 1980 zusammen ein Caribbean Disaster Preparedness Team auf, das Ideen für Katastrophenpläne, Warnsysteme, öffentliche Aufklärungskampagnen und Ausbildungsformate für Katastrophenhelfer entwickeln sollte.48 Auf Haiti führte man finanziert durch die USAID 1983 eine große Katastrophenschutzübung durch und in Jamaika arbeiteten U.S.amerikanische Entwicklungshelfer einen umfassenden Natural Hazards Management Plan aus.49 Gleichwohl blieben eher techno-politisch informierte Vorsorgeansätze weiterhin einflussreich, auch weil Seismologen in den 1980er Jahren auf eine neue Idee verfielen: die Ausrufung einer Internationalen Dekade zur Reduzierung von Naturgefahren. Urheber der Idee war Frank Press, und damit ein Wissenschaftsadministrator und Geophysiker, der als Jimmy Carters ehemaliger Direktor des Office of Science and Technology Policy zu den einflussreichsten Stim48 USAID. Caribbean Disaster Preparedness Projects Conference. Santo Domingo, Dominican Republic, 19.–23.5.1980. https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNAAR653.pdf (18.3.2019). 49 USAID. Disaster Assistance Simulation Exercise. https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/ PNABF570.pdf (18.3.2019); USAID. Natural hazards management in Montego Bay, January 1985. https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNAAU421.pdf (18.3.2019); AID: Natural Disasters and the Development Process, Juli 1982. https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNAAL328.pdf (18.3.2019).

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men in der amerikanischen Wissenschaftspolitik zählte. Press formulierte seine Idee 1984 passenderweise erstmals im Kontext der achten Weltkonferenz für Erdbebeningenieurwesen und gab sich entsprechend optimistisch, dass die Dekade Entwicklungsländern große Fortschritte in der Erdbebenvorsorge bringen würde. Möglich schienen ihm die Einrichtung einer internationalen Supercomputer-Facility, die Gebäudemodellierungen und regionale Gefahrenberechnungen in ganz neuen Dimensionen erlauben würde. Auch verbesserte Forschungsinfrastrukturen in Entwicklungsländern sowie internationale Forschungszentren nach dem Muster des CERN schwebten ihm vor und sollten neue Möglichkeiten zur Erforschung erdbebensicherer Bauweisen bieten.50 In den Vereinten Nationen rannte Press damit offene Türen ein, auch wenn sich sein ursprünglicher Titel für die Dekade nicht durchsetzte. Stattdessen wurden die 1990er Jahre zur UN-Dekade der Reduzierung von Naturkatastrophen. Die UN-Dekade fokussierte noch einmal sehr viel weiter die internationale Aufmerksamkeit auf Naturgefahren, sicherte den entsprechenden Wissenschaftszweigen neue Fördermittel und politischen Einfluss, zeigte daneben aber auch, wie sehr die Katastrophenvorsorge ein produktives Feld konkurrierender Wissensansätze geworden war. Dezidiert standen soziale Dimensionen im Fokus. Die 1994 auf der Weltkonferenz zur Reduzierung von Naturkatastrophen verabschiedete „Yokohama-Strategie für eine sichere Welt“ betonte entsprechend, dass der Weg zu einer „globalen Kultur der Prävention“ nur über einen integrierten Ansatz der Vorsorge führen könne, der die üblichen technischen Schutzmaßnahmen wie Risikokarten oder besseres Bauen mit Analysen der gesellschaftlichen Begleitumstände und Strategien des Abbaus von Vulnerabilitäten verband. Maßnahmen sollten explizit von lokalen Gemeinschaften ausgehend gedacht werden, die eng zu beteiligen waren und deren lokale Praktiken, Traditionen und Kulturen der Katastrophenvorsorge berücksichtigt werden sollten.51 In vielen Ländern bildeten daneben öffentliche Aufklärungskampagnen über Naturgefahren und das richtige Verhalten im Katastrophenfall einen wichtigen Schwerpunkt, vor allem in Schulen.52 Einen neuen Akzent setzte auch die Bundesrepublik, die 1998 in Potsdam zur ersten Internationalen Konferenz für

50 Press, Frank [Keynote Address]: The role of science and engineering in mitigating natural hazards. In: Proceedings of the Eighth World Conference on Earthquake Engineering San Francisco 1984. Post Conference Volume. S. 13–24. http://www.iitk.ac.in/nicee/wcee/eighth_conf_California/ (15.3.2019). 51 Vereinte Nationen: Yokohama Strategy and Plan of Action for a Safer World. Guidelines for Natural Disaster Prevention, Preparedness and Mitigation, 1994. 52 Vereinte Nationen: Bericht des UN-Generalsekretärs. Final Report of the Scientific and Technical Committee of the International Decade for Natural Disaster Reduction, 1999.

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Frühwarnsysteme lud und dieses Thema seither zu einem wichtigen Schwerpunkt ihrer Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat.53

Schluss Versucht man eine Bilanz der vielen internationalen Initiativen in der Katastrophenvorsorge seit den 1960er Jahren, so muss diese dennoch ambivalent ausfallen. Katastrophen wie der Tsunami von 2004, der in Südostasien Hundertausende von Menschen das Leben kostete oder wiederkehrende Erdbeben mit hohen Opferzahlen von Pakistan bis Lateinamerika (etwa auf Haiti 2010) führen immer wieder vor Augen, dass der ‚globale Süden‘ von einer flächendeckenden ‚Kultur der Vorsorge‘ immer noch weit entfernt ist. Zu groß sind offenbar die Hürden und Kosten, zu gering der politische Wille, um effektive Vorsorgesysteme zu schaffen, obgleich die Probleme im Grunde seit vielen Jahrzehnten bekannt sind. Angesichts der seit den 1980er Jahren kontinuierlich gestiegenen Zahl von großen globalen Naturkatastrophen – von etwa 200 im Jahr 1980 auf 730 im Jahr 2017 – sind die globalen Diskrepanzen in den Überlebensbedingungen zwischen Nord und Süd dabei eher weiter gestiegen als gesunken. Im bisherigen Katastrophenrekordjahr 2017 verteilten sich 84 % aller Todesopfer von Naturkatastrophen auf Südamerika, Asien und Afrika.54 Dennoch sind die vielen Initiativen seit den 1960er Jahren nicht folgenlos geblieben. In Chile begann die Regierung nach dem Erdbeben 1960 damit, die landesweiten Erdbebenbauordnungen zu überarbeiten und die Implementierung von Standards stärker zu überwachen. Große Erdbeben in den Jahren 1985 und 2010 verursachten daher nur verhältnismäßig moderate Schäden und Todeszahlen. Auch in Mexico-City, 1985 noch Schauplatz eines verheerenden Erdbebens, wurden neue Bauvorschriften erlassen. Seither werden jährliche Warnübungen durchgeführt und in den frühen 1990er Jahren wurde ein Warnsystem installiert. Als 2017 am Jahrestag des Bebens von 1985 wieder ein Erdbeben mit einer Stärke von 7,1 die Region erschütterte kamen etwa 350 Menschen ums Leben; verglichen mit den 10.000 Todesopfern 32 Jahre vorher war das aber eine deutlich niedrigere Zahl. Schließlich führte die Ausarbeitung neuer Evakuierungspläne in Verbindung mit der Einführung des bereits erwähnten Warnsystems auch in Bangladesch dazu, dass Zyklone in den 1980er und 1990er Jahren 53 Auch immer wieder ein Thema entsprechend bunter Werbebroschüren. Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Katastrophenvorsorge. Beiträge der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. BMZ Informationsbroschüre 3 (2010). 54 Münchener Rück: Topics Geo. Naturkatastrophen 2017. München 2018. S. 52f.

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nicht mehr die gleiche zerstörerische Wirkung entfalten konnten wie noch 1970/71. Beispiele wie diese verweisen auf einen langfristigen, wenn auch langsamen Wandel im globalen Umgang mit Naturgefahren. Damit legen sie zugleich den Blick frei auf eine der Grunddimensionen der Nord-Süd-Beziehungen nach 1945: Neben vielem anderen waren diese auch Wissensbeziehungen, die auf der gemeinsamen Annahme beruhten, dass sich mittels Wissen und Wissenschaft Gefahren abbauen und globale Ungleichheiten in den Gefährdungsbedingungen von Menschen beseitigen ließen. Solche Versuche trugen dabei immer wieder eine eigene Konflikthaftigkeit in sich – zum Beispiel, wenn lokale politische Eliten wissenschaftsbasierte Vorsorgekonzeptionen ignorierten – doch folgten sie insgesamt einer Logik der Kooperation, die auf Ausgleich und Annäherung zwischen Nord und Süd hin angelegt war: Wissenschaftsdiplomatie sollte Strukturen und Zugänge zu Wissen schaffen, mit denen Menschen in die Lage versetzt werden sollten, sich auf den Katastrophenfall vorzubereiten. Insofern zeigt sich in der Perspektive einer Geschichte von Wissenschaftsdiplomatie ein differenzierteres Bild der Nord-Süd-Beziehungen seit den 1960er Jahren, das jenseits der vielbeschworenen Konfliktgeschichte um die Neue Weltwirtschaftsordnung oder die globale Umweltpolitik der 1980er- und 1990er Jahre auch Muster der Zusammenarbeit sichtbar macht. Abgeschlossen ist dieser Prozess noch lange nicht, doch hat er dazu geführt, dass keine internationale Entwicklungshilfeorganisation oder westliche Regierung heute mehr am Thema globaler Schutz vor Katastrophen vorbeikommt – auch weil alle Klimamodelle mittlerweile davon ausgehen, dass die Gefahr von Extremwetterereignissen, Überschwemmungen und Hungerkatastrophen infolge des Klimawandels gerade in Asien, Afrika und Lateinamerika weiter steigen wird. 60 Jahre nach dem Erdbeben von Agadir bleibt der Abbau globaler Ungleichheiten in den individuellen und kollektiven Überlebenschancen von Menschen damit weiterhin eine zentrale Aufgabe in den Nord-Süd-Beziehungen.

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Global Commons: Die Figur des „gemeinsamen Erbes der Menschheit“ in den Nord-Süd-Beziehungen 2010 und 2011 hat das Allied Command Transformation (ACT) der NATO mehrere Konferenzen und Konsultationen abgehalten, an deren Ende eine Studie mit dem Titel „Assured Access to the Global Commons“1 stand. Sie definierte zunächst, dass Meer, Luft, Weltraum und Cyber Space als globale Gemeinschaftsgüter zu betrachten seien, und erklärte den Schutz freien Zugangs zu diesen Räumen zu einer zentralen Aufgabe der NATO mit der Begründung: Termed the ‘connective tissue’ of our vibrant global economy, the four domains of the Global Commons – maritime, air, outer space, and cyber space – constitute a universal public good that serves as a crucial enabler of international security and trade. The architecture of the modern international system rests on a foundation of assured access to and stability in the Commons.2

Zurückzuführen ist dieses Interesse der NATO an diesen globalen Gemeinschaftsgütern auf den Bedeutungsgewinn von globalen Waren- und Informationsströmen und ihre Gefährdung durch Piraterie und Terrorismus, vor allem aber – aus der Perspektive der NATO gesprochen – durch neue bzw. erneuerte territoriale Ansprüche der sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). 2007 markierte die russische Regierung ihren Anspruch auf die Arktis, indem sie im Rahmen einer Expedition durch eine Roboterhand eine russische Flagge in den arktischen Meeresboden pflanzen ließ. Dieser performative Akt und die Reaktion der NATO illustrieren, dass der politische Streit um Territorialisierung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung vor dem Hintergrund einer erwarteten Ressourcenknappheit, der so typisch ist für Auseinandersetzungen um globale Gemeinschaftsgüter, neu entbrannt ist. Dies gilt umso mehr 1 Barrett, Major General Mark [u. a.]: Assured Access to the Global Commons. Norfolk 2011. 2 Assured access to the global commons. http://www.act.nato.int/globalcommons (9.4.2019). Note: Viele der hier vorgestellten Überlegungen stützen sich auf die Beiträge des Bandes von Löhr, Isabella/ Rehling, Andrea (Hg.): Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt (= Jahrbuch für Europäische Geschichte/ European History Yearbook, 15), insbesondere auf die mit Isabella Löhr gemeinsam verfasste Einleitung. S. 3–32. http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/429019 (14.9.2019). https://doi.org/10.1515/9783110682625-016

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seit sich abzeichnet, dass der Klimawandel die Bodenschätze des Meeresbodens der Arktis in erreichbare Nähe rückt und eine Öffnung der Nordostpassage für den Schiffsverkehr wahrscheinlich wird.3 Die Inbesitznahmen beschränken sich nicht auf die militärische Eroberung oder die symbolische Landnahme durch das Hissen einer Flagge. Stützpunkte der Festsetzung waren zudem häufig Forschungsstationen oder -(raum)schiffe, deren Aufgabe die wissenschaftliche Erkundung, Erforschung und Bestimmung der Räume war. Insofern versucht die NATO in einem Moment, in dem ihr selbst die aneignende Kontrolle der Räume technisch und/ oder militärisch (noch) nicht möglich ist, einer Aneignung durch andere Akteure zuvorzukommen, indem sie globale Gemeingüter behauptet und einen vermeintlich traditionell bestehenden, universalen Anspruch postuliert. Die dahinterstehende Strategie ist es, die entsprechenden Territorien als gemeinsamen Besitz der Menschheit auszuflaggen, um so eigene Nutzungsansprüche zu verwirklichen, konkurrierende, und unter Umständen besser legitimierte oder positionierte Nutzungs- und Aneignungsansprüche zurückzuweisen, die Gebiete aber gleichzeitig für eine künftige eigene Inbesitznahme unter günstigeren Vorzeichen offen zu halten. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im sogenannten Südchinesischen Meer beobachten, wo Sand zu einer kostbaren Ressource geworden ist. Neben dem Kampf um die Hoheit über Inselgruppen, der vor allem über historische Legitimationserzählungen ausgetragen wird, hat sich das Aufschütten künstlicher Inseln zu einer verbreiteten Praxis entwickelt, um das Territorium der Staaten zu erweitern und dadurch die souveräne Kontrolle über die Straße von Malakka, eine der wichtigsten Schifffahrtsstraßen der Welt, und die im Meeresboden vermuteten Bodenschätze zu reklamieren.4 Diese Technik belebt eine völkerrechtlich bereits verschiedentlich geführte Debatte neu, die um die Frage kreist, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit ein Areal als eigenständige Insel und damit als territoriales Gebiet eines Staates betrachtet werden kann, inwiefern und wo die „Freiheit der Meere“ gilt und welche Territorien der Aneig-

3 Bomsdorf, Clemens/Jung, Elmar: Rohstoffe. Staaten rüsten in der Arktis auf. In: Süddeutsche Zeitung, 21.7.2009; http://www.zeit.de/online/2009/30/arktis-rohstoffe (14.9.2019). 4 Streit um Rohstoffe. China baut vierte künstliche Insel. In: Spiegel Online, 28.11.2014. http:// www.spiegel.de/wissenschaft/technik/china-baut-kuenstliche-insel-im-suedchinesischenmeer-an-spratly-islands-a-1004769.html (14.9.2019); Kornelius, Stefan: Geopolitik. Wettrüsten mit künstlichen Inseln. In: Süddeutsche Zeitung, 19.4.2015. http://www.sueddeutsche.de/politik/geopolitik-besetzt-im-namen-der-wissenschaft-1.2442227 (14.9.2019); zu beiden Konflikten vgl. Paul, Michael: Arktis und Südchinesisches Meer. Ressourcen, Seewege und Ordnungskonflikte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51–52 (2017). S. 29–34.

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nung durch einzelne Staaten entzogen sind.5 In beiden Regionen baut sich das Bedrohungsszenario einer militärischen Auseinandersetzung auf und führt nicht nur auf Seiten der NATO mit der Wiederbelebung des Prinzips der Global Commons zu einer Rückbesinnung auf ein Konfliktlösungsinstrument gemeinschaftlicher Verwaltung, das in ähnlich gelagerten Konfliktlagen entstand und die militärische Austragung von Konflikten durch etablierte multilaterale Vereinbarungen, Foren, Agenturen und Regime globalen Regierens verhinderte. Neben dieser geostrategisch motivierten Ausrufung globaler Gemeinschaftsgüter wird dieses Prinzip auch im Natur- und Umweltschutz wieder verstärkt diskutiert. Prominentestes Beispiel hier ist der brasilianische Regenwald. Um gegen die wirtschaftliche Nutzung und Abholzung vorzugehen, die unter dem neuen Präsidenten Jair Bolsonaro noch wahrscheinlicher geworden zu sein scheint, wird vorgeschlagen, die Wälder zu einem globalen Gemeingut zu erklären und dadurch zu internationalisieren. Die Legitimation für diesen Eingriff in die staatlichen Souveränitätsrechte Brasiliens, zu dessen Durchsetzung durchaus auch militärische Interventionen diskutiert werden, ist der Hinweis auf die universale Bedeutung der Regenwälder im Kampf gegen den Klimawandel, der die künftigen Generationen der ganzen Menschheit bedrohe und dadurch die intergenerationelle Gerechtigkeit in Frage stelle.6 Demgegenüber rekurriert die brasilianische Regierung mit Verweis auf die intragenerationelle Gerechtigkeit auf ihr Souveränitätsrecht, die auf dem eigenen Territorium gelegenen natürlichen Ressourcen nach eigenem Gutdünken für die forst- und landwirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen.7 So tagesaktuell die Beispiele scheinen mögen, sie stehen in einer langen Tradition von Vorstößen, Territorien, Landschaften oder Artefakte als gemeinsamen Besitz der Menschheit zu erklären. Kurz und zugespitzt formuliert: Es ging in der Regel darum, Räume offen zu halten, Einfluss auf die Nutzung von Territorien, aber auch Objekten nehmen zu können, deren einseitige Aneignung nicht möglich war, weil kein direkter Zugriff bestand, Kontrollmöglichkeiten nicht gegeben waren oder eine militärische Auseinandersetzung zu viele Risiken barg. Mit Hilfe der universalen Kategorie wurden konkurrierende Interessen 5 Höhler, Sabine: Exterritoriale Ressourcen. Die Diskussion um die Tiefsee, die Pole und das Weltall um 1970. In: Löhr/Rehling, Global Commons, S. 53–82; Schopmanns, Hendrik: Kampf der Narrative. Inseln im Fokus geopolitischer Konflikte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32–33 (2018). S. 29–34. Siehe auch Johanna Sackels Beitrag in diesem Band. 6 Bosselmann, Klaus: Earth Governance. Trusteeship of the Global Commons. Cheltenham 2015. 7 Hecking, Claus: Brasiliens Wahlsieger Bolsonaro. Der Präsident, dem Umwelt und Klima egal sind. In: Spiegel Online, 30.10.2018. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/jair-bolsonarowahlergebnis-in-brasilien-bedeutet-attacke-auf-weltklimavertrag-a-1235619.html (14.9.2019).

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zurückgewiesen oder im Rahmen von Nutzungsregimen zu einem Ausgleich gebracht. In den 1960er Jahren kam im Zuge der Auseinandersetzungen um interund intragenerationelle Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Entwicklungspolitiken und Umweltschutzforderungen eine weitere Dimension hinzu, die im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen wird. In den Konflikten und Debatten über globale Gemeingüter und den damit verbundenen Weltordnungsentwürfen, nahmen die Parteiungen und Konfliktlinien des Nord-Süd-Konflikts in den internationalen Beziehungen Formen an.8 Es entstanden Fraktionierungen und vermeintlich historisch begründete, ähnlich gelagerte Interessenkonstellationen, welche die Weltdeutung „Kalter Krieg“ seit den 1970er Jahren graduell in den Schatten stellten.9 Die Verschiebungen in diesen Argumentationen werden im Folgenden beleuchtet. Es geht um den strategischen Gehalt der Ausrufung eines gemeinsamen Besitzes oder Erbes der Menschheit: Wer reklamiert ein globales Gemeingut wann mit welcher Begründung? Und wer weist den universalen Anspruch mit welcher Argumentation zurück? In einem ersten Schritt werden die beiden bekanntesten Theoretiker der Commons in ihren historischen Kontext eingeordnet. In einem zweiten Schritt wird die ältere Tradition des gemeinsamen Besitzes oder Erbes der Menschheit betrachtet, um dann mit Blick auf das 20. Jahrhundert zu analysieren, welche qualitativen Unterschiede die Konfliktnarrative des Kalten Krieges und des Nord-Süd-Konflikts erzeugten.

Garret Hardin und Elinor Ostrom Die aktuellen Beispiele schließen begrifflich und argumentativ an die in den Sozialwissenschaften zwischenzeitlich geradezu klassischen Gemeingüter des 20. Jahrhunderts an: die Meere und den Meeresboden, die Antarktis, den Weltraum und die Atmosphäre. Für sie wurde seit 1968 der Begriff der Gemeingüter bzw. Englisch Commons geprägt. Es handelt sich dabei nicht um eine völkerrechtliche Kategorie, sondern eher um eine sozialwissenschaftliche, die vor allem mit den Namen Garret Hardin und Elinor Ostrom verbunden wird. Populär 8 Reichherzer, Frank [u. a.] (Hrsg.): Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung. Berlin 2018. 9 Dinkel, Jürgen: „Third World begins to flex its muscles“. The Non-Aligned Movement and the North-South-Conflict during the 1970s. In: Neutrality and Neutralism in the Global Cold War. The Non-Aligned Movement in the East-West Conflict. Hrsg. von Sandra Bott [u. a.]. Routledge 2016. S. 108–123; Kunkel, Sönke: Zwischen Globalsierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in 1960er und 1970er Jahren. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012). S. 555–577.

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wurde der Begriff der Commons durch einen viel zitierten Aufsatz Garret Hardins, eines US-amerikanischen Biologen, in der Zeitschrift Science. Hardins Aufsatz „The Tragedy of the Commons“10 ist bis heute einer der meist zitierten wissenschaftlichen Aufsätze überhaupt. Hardin vertrat die These, das gegenwärtige Bevölkerungswachstum sei exponentiell und lasse die begrenzten carrying capacities des Planeten Erde an ihre Grenzen stoßen. Er bestritt grundsätzlich die Möglichkeit einer technischen Lösung des Problems und griff zur Begründung seiner Argumentation auf die Figur der Allmende zurück. Die Allmende bezeichnet in diesem Kontext Gemeindeflächen in englischen Dörfern des Mittelalters, die lebenswichtige Ressourcen wie Wasser, Feuerholz oder die Viehweide einer kollektiven Nutzung der Commoners unterstellten. Hardin argumentierte auf spieltheoretischer – nicht historischer – Grundlage, dass es die Tragödie solcher gemeinschaftlich genutzten Areale sei, dass sie aufgrund des Eigeninteresses des gewinnmaximierenden Homo Oeconomicus grundsätzlich übernutzt würden. Nur verantwortungsvoll genutztes Staats- oder Privateigentum und die damit verbundene Möglichkeit zu reglementierenden Zwangsmaßnahmen – so sein Argument – seien in der Lage, eine Übernutzung zu regulieren. Kollektive Bewirtschaftungssysteme schienen ihm grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Die Hauptursache der Übernutzung sah er im Eigeninteresse der Menschen und der Überschreitung des „Bevölkerungsoptimums“, insbesondere in den damals sogenannten Entwicklungsländern. Er plädierte deshalb für rigide Geburtenund Ressourcenkontrollen. Entwicklungshilfe lehnte er wegen ihres begünstigenden Einflusses auf das Bevölkerungswachstum grundsätzlich ab.11 Seine Zielrichtung wird noch deutlicher in seinem Text „Lifeboat ethics. The case against helping the poor“ von 1974: „The fundamental error of spaceship ethics, and the sharing it requires, is that it leads to what I call ‘the tragedy of the commons.’ […] In a crowded world of less than perfect human beings, mutual ruin is inevitable if there are no controls. This is the tragedy of the commons.“12 Daraus folgte für Hardin neben seiner Ablehnung von Entwicklungshilfen auch die des Multilateralismus. Seiner Meinung nach fehlten diesem die Machtmittel, eine nachhaltige bzw. angemessene Nutzung der knappen Ressourcen auf der Erde durchzusetzen. Bestenfalls eine Weltregierung mit der Möglichkeit 10 Hardin, Garrett: The tragedy of the Commons. In: Science 162 (1968). Nr. 13. S. 1243–1248. 11 Hartmann, Heinrich: „No technical solution“. Historische Kontexte einer Moralökonomie der Weltbevölkerung seit den 1950er Jahren. In: Löhr/Rehling, Global Commons, S. 33–52; Locher, Fabien: Les pâturages de la Guerre froide. Garrett Hardin et la „Tragédie des communs“. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 60 (2013). Nr. 1. S. 7–33. 12 Hardin, Garret: Lifeboat ethics. The case against helping the poor. In: Psychology Today (September 1974). S. 800–812; vgl. auch ders.: Living on a lifeboat. In: BioScience 24 (1974). Nr. 10. S. 561–568.

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zu Zwangsmaßnahmen schien eine – wenn auch in seinen Augen nicht realistische – Alternative zu bieten. Insbesondere sein Aufsatz „The Tragedy of the Commons“ wurde breit rezipiert und zitiert, um kollektive Nutzungsregime als zwangsläufig zum Scheitern verurteilt zu brandmarken. Elinor Ostrom trat in den 1990er Jahren an, um Hardins Aussagen empirisch zu testen und zu relativieren. Anders als Hardin ging sie nicht spieltheoretisch vor, sondern erforschte empirisch kollektive Nutzungs- und Wirtschaftsformen unter dem Titel „Governing the Commons“ (Die Verfassung der Allmende).13 Sie erhielt für diese Forschung 2009 den Nobelpreis für Wirtschaft, konnte sie doch nachweisen, dass gemeinschaftliche Nutzung durchaus funktionierte, wenn entsprechende Regeln und Möglichkeiten der sozialen Kontrolle vorhanden waren. Ihre Analyse existierender Commons-Regime stellte in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften die Weichen für die Figur des Homo Cooperativus, der internationale Vereinbarungen und gemeinsam verwaltete Nutzungsregime aufwertete.14 Ostroms Befunde und Überlegungen fanden Eingang in die sogenannte Nachhaltige Ökonomie, die alternative Formen der Verwaltung bzw. des Managements von Gemeingütern „jenseits von Markt und Staat“15 in den Mittelpunkt stellte. Beide wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigten sich nicht mit internationalen Vereinbarungen. Trotzdem wurden ihre Ergebnisse – teilweise schon von Hardin und Ostrom selbst – auf internationale Regime und Vereinbarungen übertragen. Letztere waren durchaus älter als der Begriff der „globalen Gemeingüter“ und fußten auf der völkerrechtlichen Figur der res communis omnium.

Die völkerrechtliche Figur der res communis omnium Hinter den Auseinandersetzungen um globale Gemeingüter steht eine lange Geschichte der Ausarbeitung von Nutzungsregimen und ihrer Kritik16, die das je13 Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Tübingen 1999; dies.: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990. 14 Helfrich, Silke/Bollier, David: Frei, Fair, Lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld 2019; Brink, Alexander [u. a.] (Hrsg.): Themenheft. Menschenbild und Ökonomie. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 14 (2013), Nr. 2; Helfrich, Silke (Hrsg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld 2012; Ostrom, Elinor/Helfrich, Silke (Hrsg.): Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. München 2011. 15 Helfrich, Commons. 16 Radkau, Joachim: Gedanken zu einer aktuellen Metapher. „Global Commons“ oder „Tragedy of the Commons“? In: Rotary Magazin für Österreich und Deutschland, 2.4.2012. https://ro-

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weilige Gut souveräner Kontrolle entziehen, es auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge und Abkommen als Gemeingut ausweisen und/ oder es einer internationalen Gemeinschaft als Ganzes unterstellen sollten. In der Regel ging es darum, Einfluss auf die Nutzung nehmen zu können. Häufig versuchte derjenige, dem eine Aneignung nicht möglich war oder der keinen direkten Zugriff hatte, mit Hilfe der universalen Kategorie konkurrierende Interessen zurückzuweisen. Die Vorstellung einer res communis omnium wurde im Völkerrecht parallel und in gewisser Weise als Antwort auf territorial begründete Souveränitäts- und Eigentumskonzepte des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelt.17 Räume, die (noch) keiner dieser Zuordnungen unterlagen, galten als terra nullius, also Niemandsland. Völkerrechtlich standen diese Gebiete der Eroberung offen. Die Figur des Niemandslandes diente der Legitimation von Landnahmen im Rahmen der so genannten Europäischen Expansion.18 Auch die erste Einschränkung dieser Aneignung steht damit in engem Zusammenhang: In der Geschichte des Völkerrechts wird die Vorstellung, es gäbe ein gemeinsames Eigentum der Menschheit, in der Regel auf Hugo Grotius und seinen anonym erschienenen Text Mare Liberum19 von 1609 zurückgeführt. Es handelte sich bei diesem Text um ein Kapitel aus dem bereits 1603 verfassten, aber erst 1868 veröffentlichten Rechtsgutachten De iure pradae (Prisenrecht). Grotius hatte den Text im Auftrag der niederländischen Ostindienkompanie (VOC) verfasst, um juristisch zu begründen, warum es rechtmäßig gewesen sei, dass ein Schiff der VOC unter Kapitän Jacob van Heemskerck 1603 das portugiesische Handelsschiff Santa Catarina in der Einfahrt zur Straße von Singapur aufgebracht hatte. Die Rechtmäßigkeit des Vorgehens eines privaten Handelsschiffes gegen ein anderes, ohne Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen und ohne Vorliegen eines Kaperbriefes, erschien mehr als fraglich. Grotius machte deshalb eine generellere Frage zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, indem er sich fragte, ob der Anspruch des portugiesischen Staates auf Ostindien sowie das daraus abgeleitete exklusive Recht auf Handel und Schifffahrt in der Region als rechtmäßig zu betrachten tary.de/gesellschaft/global-commons-oder-tragedy-of-the-commons-a-957.html (14.9.2019); ders.: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000. S. 90–92. 17 Maier, Charles S.: Once Within Borders. Territories of Power, Wealth, and Belonging since 1500. Cambridge 2016. 18 Fisch, Jörg: Africa as terra nullius. The Berlin Conference and International Law. In: Bismarck, Europe and Africa. The Berlin Africa Conference 1884–1885 and the Onset of Partition. Hrsg. von Stig Förster [u. a.]. Oxford 1988. S. 347–375; Belmessous, Saliha (Hrsg.): Empire by Treaty. Negotiating European Expansion, 1600–1900. New York 2015; Tully, James: A Discourse on Property. John Locke and His Adversaries. Cambridge 1980; Armitage, David: The Ideological Origins of the British Empire. Cambridge 2000. 19 Grotius, Hugo: Mare liberum, sive de iure quod Batavis competit ad Jindicana commercia dissertation. Leiden 1618 [1609].

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sei. Er argumentierte ganz im Sinne seiner niederländischen Auftraggeber, dass die Meere kein der Aneignung offenes Niemandsland (terra nullius) seien, sondern als ein gemeinsames Eigentum aller Menschen (res communis omnium) zu betrachten seien. Eine Aneignung der Meere sei grundsätzlich unmöglich und sie entzögen sich staatlich-territorialer Souveränität (imperium) ebenso wie privaten Eigentumsansprüchen (dominium), was er naturrechtlich begründete. Deshalb seien die Einschränkungen, welche die niederländische Seefahrt durch die Portugiesen erlitten hätten, unrechtmäßig gewesen und die Aktion des Kapitäns van Heemskerck gewissermaßen ein Akt der Notwehr. Als rechtmäßiger Repräsentant des souveränen niederländischen Staates in Ostindien und als Verbündeter des ebenfalls souveränen Sultans von Johore habe es ihm unter den gegebenen Umständen zugestanden, einen gerechten Krieg zur Befreiung Johores aus der „iberischen Tyrannei“ der Habsburger zu erklären und auf dieser Grundlage die Santa Catarina zu kapern – so die Argumentation.20 Die Überlegungen zur unterschiedlichen Qualität von Eigentums- und Souveränitätsrechten sowie die Idee, dass es Gebiete oder Objekte gab, die beidem grundsätzlich entzogen waren, fanden Eingang in Grotius spätere und umfangreichere Schrift De Iure Belli Ac Pacis (1625), in der er sein Verständnis des Völkerrechtes sowie eines gerechten Krieges erläuterte. Dazu gehörte auch eine Bestimmung von Eigentums- und Souveränitätsrechten. Für den Kontext dieses Beitrags ist an dieser Schrift bemerkenswert, dass Grotius in Buch 3, Kapitel XII und XVI auch erklärte, warum seiner Meinung nach, die Zerstörung und Verwüstung von Natur- und Kunstschätzen sowie ihr Raub illegitim sei und einem künftigen Frieden im Wege stehe. Mit Verweis auf die Menschlichkeit plädierte er für eine Rückgabe der im Krieg zu Unrecht erworbenen Besitztümer und Kunstwerke.21 Grotius juristische Überlegungen gliedern sich in einen breiteren Trend juristischer Schriften ein, die im Zuge der Europäischen Expansion eine Hierarchie von Eigentums- und Souveränitätsrechten etablierten.22 In diesem 20 Grotius, Mare liberum; Vervliet, Jeroen: General Introduction. In: Hugo Grotius. Mare liberum 1609–2009. Hrsg. von Robert Feenstra. Leiden/ Boston 2009. S. IX–XXX; Ittersum, Martine Julia van: Hugo Grotius in Context. Van Heemskerck’s Capture of the Santa Catarina and its Justification in De Jure Praedae (1604–1606). In: Asian Journal of Social Science 31 (2003). Nr. 3. S. 511–548. 21 Grotius, Hugo: De iure belli ac pacis. Libri tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur. Leiden 1919 [1625]. S. 599–609, 622–628; Tuck, Richard: The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order from Grotius to Kant. Oxford 2001. S. 78–108; Miles, Margaret M.: Art as Plunder. The Ancient Origins of Debate about Cultural Property. Cambridge 2008. S. 297–302. 22 Zum Kontext der Texte, vgl. Ittersum, Martine van: Preparing Mare Liberum for the press. Hugo Grotius’ rewriting of chapter 12 of De Jure Praedae in November–December 1608. In: Property, Piracy and Punishment. Hugo Grotius on War and Booty in De Jure Praedae – Con-

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Kontext wurde immer wieder postuliert, es gäbe Gebiete wie das Meer oder natürliche Schätze wie besonders alte Bäume oder das Wild in den Wäldern, die sich einer Aneignung durch Staaten oder Personen grundsätzlich entzögen. Für religiöse Stätten und Objekte sowie Kunstwerke und Monumente, Haustiere und Felder wurde ein Eigentum derer, auf deren Territorium sie sich befanden, angenommen. Trotzdem standen sie nicht einfach der Aneignung des Kriegsgegners offen, weil das dem Prinzip der Menschlichkeit widersprochen hätte. Hier sind in ihrer Begründung, die im einen Fall auf das Universale, hier noch in Gestalt des Göttlichen, und auf die Rechte künftiger Generationen ausgerichtet war und im anderen Fall auf die Menschlichkeit Bezug nahm, bereits der moralische Gehalt des gemeinsamen Besitzes und Erbes der Menschheit angelegt. Langfristig verschmolzen die völkerrechtlichen Vorstellungen einer res communis omnium mit der Idee der Menschlichkeit und fanden in der Vorstellung eines gemeinsamen Besitzes oder Erbes der Menschheit zusammen – zunächst vor allem als mobilisierende, rhetorische Strategie, seit dem 18. Jahrhundert auch zunehmend als juristische Kategorie. Allerdings noch nicht, wie heute manchmal üblich, zur Bezeichnung eines Dings, Kultur- oder Naturerbes, sondern als Legitimation für einen besonderen Rechtsstatus. Ein Ding wurden das Kultur- und Naturerbe erst Ende der 1960er Jahre. Der besondere Rechtstatus tauchte in den internationalen Beziehungen aber schon früher immer wieder und in unterschiedlichen Kontexten auf.

Globale Gemeingüter unter den Vorzeichen des Kalten Krieges So auch als Ende der 1950er Jahre extraterrestrische Räume wie der Mond und das Weltall sowie exterritoriale Gebiete wie die Antarktis technisch in greifbare Nähe rückten. Sie gewannen dadurch strategisch, als Rohstoffspeicher oder als potentielle Expansionsräume an Bedeutung. Sie der einseitigen Aneignung zu entziehen, wurde als eine Möglichkeit gesehen, unkalkulierbare militärische Auseinandersetzungen in schwer beherrschbarem Gebiet sowie atomare Konflikte zu vermeiden. Es ging um Nutzungsregime für technologisch und militäcepts and Contexts. Hrsg. von Hans W. Blom. Leiden 2009. S. 246–280; Ittersum, Martine, van: Profit and Principle. Hugo Grotius, Natural Rights Theories and the Rise of Dutch Power in the East Indies, 1595–1615. Leiden 2006; Weststeijn, Arthur: „Love alone is not enough“. Treaties in seventeenth-century Dutch colonial expansion. In: Belmessous, Empire by Treaty, S. 19–44; Borschberg, Peter: Hugo Grotius, the Portuguese, and Free Trade in the East Indies. Singapore 2011.

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risch neu erschließbare Räume, die durch ein Abkommen, das sich auf das Interesse, den Besitz oder das Erbe aller Menschen bezog, vordergründig auf unbestimmte Zeit entpolitisiert und entmilitarisiert wurden. Der Antarktisvertrag von 1959 wurde ein Vorbild für diese Art Abkommen.23 Er verpflichtete die Unterzeichner „in the interest of all mankind“24 zu einer friedlichen und rein wissenschaftlichen Nutzung des Kontinents sowie zu internationaler Kooperation zugunsten der ganzen Menschheit. Damit der Vertrag zustande kommen konnte, hatten sieben Staaten – Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Großbritannien, Neuseeland und Norwegen – zunächst auf die Realisierung von territorial claims verzichten müssen. Sie hatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedlich legitimierte, sich teilweise überlappende Ansprüche auf die Antarktis erhoben. Unerlässlich für den Passus „Antarctica […] shall not become the scene or object of international discord“25 war in den 1950er Jahren die Beteiligung der USA und der UdSSR, die sich zunehmend in der Antarktis engagierten. Beide hatten zwar nie territoriale Ansprüche erhoben. Das bedeutete aber nicht, dass sie an dem Kontinent kein Interesse hatten – im Gegenteil war die Region strategisch in den wachsenden internationalen Spannungen von immenser Bedeutung. Einen konkreten Anspruch anzumelden, hätte aber den Nachteil gehabt, die eigenen Aktivitäten auf einen geographischen Sektor zu beschränken. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges machten die USA ihr Interesse an dem Kontinent deutlich, indem sie Navy Expeditionen und Manöver – Operation Highjump (1946–47) und Operation Windmill (1947–48) – durchführen ließen. Diese Expeditionen erlaubten ihnen Personal, Material und Transportmittel vor Ort zu stationieren. 1947 warf Rear Admiral Richard Byrd, der die Expeditionen leitete, ein Paket mit den Flaggen aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen über der Antarktis ab. Damit unterstellte er den Kontinent symbolisch internationaler Verwaltung. Diese symbolische Aktion befand sich in Einklang mit Versuchen des US-Außenministeriums, nationale Ansprüche zurückzuweisen und die Antarktis stattdessen unter internationale Verwaltung zu stellen. Allerdings sah die US-Regierung die Verwaltung nicht bei den Vereinten Nationen, sondern in einem Gremium, in dem sie außer sich selbst, die sieben Staaten, die territoriale Ansprüche reklamierten, beteiligen wollte. 1948 stieß dieser 23 Zum Antarktisvertrag stütze ich mich im Folgenden vor allem auf Turchetti, Simone [u. a.]: On thick ice. Scientific internationalism and Antarctic affairs, 1957–1980. In: History and Technology 24 (2008). Nr. 4. S. 351–376; Buck, Susan J.: The Global Commons. An Introduction. Washington D. C. 1998. S. 45–74. 24 The Antarctic Treaty. Washington, D.C., 15.10.1959. In: Secretariat of the Antarctic Treaty. http://www.ats.aq/documents/ats/treaty_original.pdf (14.9.2019). 25 The Antarctic Treaty. Washington, D.C., 15.10.1959, S. 1.

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Vorstoß auf Widerstand aus den sieben Staaten, aber auch aus der Sowjetunion, die aufgrund der Berlin-Blockade in dem internationalen Gremium nicht vorgesehen war, obwohl sie auch Ansprüche auf den Kontinent angemeldet hatte. Im Juni 1950 wandte sich die Sowjetregierung deshalb in einem Memorandum an die nun sogenannten Antarctic Consultative Parties, in dem sie ihren Anspruch, an einer Teilung oder gemeinsamen Verwaltung des Kontinents beteiligt zu werden, unterstrich.26 Durch die nicht erfolgte internationale Anerkennung der souveränen Ansprüche und die Forderung das Gebiet zu internationalisieren, blieb die Antarktis in den 1950er Jahren terra nullius. Die Staaten waren frei quasi überall Stützpunkte zu errichten und Konflikte dadurch vorprogrammiert. Diese Situation der zunächst vor allem wissenschaftlich vorangetriebenen konkurrierenden Eroberung wurde dadurch gelöst, dass der International Council of Scientific Unions 1957/58 mit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr in Anknüpfung an die Internationalen Polarjahre 1882/1883 und 1932/33 eine neue Form internationaler Kooperation etablierte. Die Zusammenarbeit, die von einem Special Committee for the International Geophysical Year organisiert wurde, das von der UNESCO eine Art Anschubfinanzierung erhielt, sollte nun nicht mehr nur regional, sondern global – eine „Operation Globe“27 – sein, die auch die Grenzen des Planeten überwinden sollte.28 Die Tatsache, dass der Satellit „Sputnik“ und die auf ihn folgenden US-amerikanischen Satelliten auch in diesem Jahr gestartet wurden, deutet bereits an, dass die Wiederaufnahme internationaler wissenschaftlicher Kooperation konkurrenzbetonter war, als die Veranstalter den Anschein erwecken wollten.29 Vom International Council of Scientific Unions wurde das Jahr als Forum internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit ausgerufen, das ideologische Gräben und diplomatische Verwerfungen durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt im Namen der Menschheit überwinden sollte Es wurde argumentiert, dass Wissenschaft im Gegensatz zur Politik keine nationalen Grenzen und Interessen kenne. Die Vorbereitungen zu dieser Kooperation ermöglichte es den Staaten, weitere Stützpunkte in der Antarktis zu errichten, deren Standorte von Symbolpolitik und strategischen Überlegungen geleitet wurden. Gleichzeitig wurde mit dem Special Committee on 26 Turchetti [u. a.], On thick ice, S. 351–376. 27 Operation Globe. In: UNESCO Courier. A Window Open on the World 10 (September 1957). Nr. 9: Special Issue. The International Geophysical Year. S. 2. https://unesdoc.unesco.org/ark:/ 48223/pf0000068057 (14.9.2019). 28 The why and how of I.G.Y. In: Operation Globe, UNESCO. S. 4; UNESCO and the I.G.Y. In: Operation Globe, UNESCO. S. 24; Greenaway, Frank: Science International. A History of the International Council of Scientific Unions. Cambridge 1996. S. 149–159. 29 Greenaway, Science International, S. 155.

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Antarctic Research (SCAR, später Scientific Committee) ein internationales Gremium geschaffen, das die internationale Planung und Koordination der Forschung in der Antarktis verbessern sollte. An ihm wurden die sieben Staaten mit territorialen Ansprüchen, die USA und die UdSSR sowie Belgien, die Bundesrepublik Deutschland und Japan beteiligt. Diese Staaten waren es dann auch, die am 1. Dezember 1959 den Antarktisvertrag unterschrieben, der im Juni 1961 in Kraft trat.30 Auslöser für den Vertrag war ein Treffen zwischen den Außenministerien der USA, Großbritanniens, Australiens und Neuseelands während des Internationalen Geophysikalischen Jahres gewesen. Es wurde einberufen, weil sich Australien durch die Präsenz der Sowjetunion in der Antarktis zunehmend in seiner Sicherheit bedroht fühlte. Die australischen Außenpolitiker fürchteten, die Stützpunkte könnten unter dem Deckmäntelchen wissenschaftlichen Engagements der Stationierung nuklearer Waffen dienen. Die Nachrichten vom erfolgreichen Start des Satelliten „Sputnik“ waren nicht dazu angetan, diese Sorgen zu mildern. Im Gegenteil: Der offensichtlich technologisch-wissenschaftliche Vorsprung erhöhte die Sorge um „die freie Welt“ in der südlichen Hemisphäre. Da die sich über die künftige Politik in der Antarktis abstimmenden Außenminister keine Möglichkeit sahen, die sowjetische Präsenz in der Antarktis zu beenden und sie gleichzeitig unzweifelhaft als Bedrohung für die Sicherheit Australiens und Neuseelands wahrnahmen, diskutierten sie, wie der Kontinent dem Kalten Krieg sozusagen entzogen werden könnte. Die positive Resonanz des Internationalen Geophysikalischen Jahres schien den Weg zu einer Lösung zu weisen. Die an den Beratungen Beteiligten kamen überein, den Kontinent einer ausschließlich wissenschaftlichen Nutzung im Interesse der ganzen Menschheit vorzubehalten und so territorialen Ansprüchen sowie militärischer Aufrüstung zu entziehen. Da alle Staaten, die territoriale Ansprüche auf die Antarktis erhoben, sich in militärischen Bündnissen mit den USA befanden, schien diese internationale Lösung auch in dieser Richtung optimal zu sein und liefert eine Erklärung dafür, warum diese Abkommen nicht im Rahmen der UN vorangetrieben wurde. Am 2. Mai 1958 übergaben die US-Botschafter den elf Staaten, die schon am Special Committee beteiligt gewesen waren, Einladungen zu einer Konferenz über die Zukunft der Antarktis. Die Sowjetunion war bereit an diesen Verhandlungen teilzunehmen, weil sie ihre Position in der Antarktis halten und an der Verwaltung des Kontinents beteiligt werden wollte. Dieser Ausgangslage entsprechend, erklärten die Unterzeichner, dass sie mit dem Vertrag auf keine Ansprüche verzichten würden, hielten aber auch ausdrücklich fest, dass sie für die Dauer des Vertrages territoriale Souveränität oder daraus 30 Turchetti [u. a.], On thick ice, S. 351–376; Buck, Global Commons, S. 45–74.

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abgeleitete Rechte zugunsten des wissenschaftlichen Fortschritts und einer friedlichen Nutzung der Ressourcen nicht einfordern würden.31 Auch im Rahmen der Vereinten Nationen etablierten sich inspiriert vom Internationalen Geophysikalischen Jahr Abkommen, in denen territoriale Konkurrenz durch eine Beschränkung der Nutzung auf wissenschaftliche, nicht-aggressiv-militärische Zwecke und den expliziten Verzicht auf einseitige Aneignung gelöst wurde. Anders als der Luftraum, der dem Territorium der Staaten zugeordnet wurde, galt das Weltall im 20. Jahrhundert als exterritorialer Raum. Entsprechend verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14. November 1957, etwa sechs Wochen nach dem Start von „Sputnik“, eine Resolution, die sich insgesamt mit Rüstungsbeschränkungen sowie der Begrenzung atomarer Massenvernichtungswaffen befasste und unter Punkt 1 (f) festhielt, dass „sending objects through outer space shall be exclusively for peaceful and scientific purposes“32, um ein Jahr später noch einmal ausdrücklich auf „the common interest of mankind“ an dieser Art der Nutzung hinzuweisen.33 Auf Initiative der USA und der UdSSR schuf die letztere Resolution ein Committee on the Peaceful Uses of Outer Space, das aus 18 Nationen bestand und 1967 einen Weltraumvertrag entwarf.34 Der Vertrag beinhaltete gegenüber seinen Vorgängern ein neues Element. Es signalisierte, dass sich auf der internationalen politischen Bühne eine neue Fraktion formierte hatte, der es nicht mehr nur darum ging, die exterritorialen Räume vom Rüstungswettlauf auszunehmen, sondern mit Blick auf den Verbrauch von Rohstoffen und die mit ihrer Gewinnung verbundene Schädigung der Umwelt neue, auch ökonomische Teilhabeansprüche vorbrachte, wenn es hieß: „The exploration and use of outer space, including the moon and other celestial bodies, shall be carried out for the benefit and in the interests of all countries, irrespective of their degree of economic or scientific development, and shall be the province of all mankind.“35 Vor allem kleinere Staaten, die nicht über das Budget für ein eigenes Raumfahrtprogramm verfügten, und die sogenannten Entwicklungsländer nutzten 31 Turchetti [u. a.], On thick ice, S. 351–376; Buck, Global Commons, S. 45–74. 32 Regulation, limitation and balanced reduction of all armed forces and all armaments. Conclusion of an international convention (treaty) on the reduction of armaments and the prohibition of atomic, hydrogen and other weapons of mass destruction. General Assembly of the United Nations. Resolution 1148 [XII]. https://undocs.org/A/RES/1148(XII) (14.9.2019). 33 Question of the peaceful use of outer space. General Assembly of the United Nations. Resolution 1348 (XIII). https://undocs.org/A/RES/1348(XIII) (14.9.2019); vgl. Buck, Global Commons, S. 164. 34 Buck, Global Commons, S. 142–149. 35 Treaty on principles governing the activities of states in the exploration and use of outer space, including the moon and other celestial bodies. https://treaties.un.org/doc/Publication/ UNTS/Volume%20610/volume-610-I-8843-English.pdf (14.9.2019).

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den Verweis auf einen gemeinsamen Besitzanspruch der gesamten Menschheit, um eine Beteiligung an den Erkenntnissen und Gewinnen aus der Raumfahrt für sich einzufordern. Im Kontext der Meere kam noch der Wunsch nach Kompensation für die Verschmutzung und Zerstörung des gemeinsamen Menschheitsbesitzes hinzu, der zunehmend in die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung eingebettet wurde. Diese Partizipationsansprüche wurden häufig auch mit einem Verweis auf historisches Unrecht durch den Kolonialismus legitimiert.36

Globale Gemeingüter unter den Vorzeichen des „Nord-Süd-Konflikts“ Der maltesische Botschafter Arvid Pardo führte deshalb ebenfalls 1967 bei den Verhandlungen über ein internationales Seerechtsabkommen in den Vereinten Nationen in Abgrenzung zum terra nullius-Prinzip und als Ergänzung der res communis omnium das Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit (res communis humanitatis) in die Debatte ein.37 Malta war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Gruppe der 77, deren Zustimmung sich die maltesische Regierung relativ sicher sein konnte. Arvid Pardo selbst ging es in seinem Vorstoß darum, zu einem Zeitpunkt, als die Rohstoffe im Meeresboden als zahlreich galten und technisch erreichbar schienen, nationale Inbesitznahmen und die damit einhergehende Konkurrenz zu vermeiden sowie gleichzeitig für eine gerechtere Verteilung der Erkenntnisse und ökonomischen Gewinne aus der Förderung der Rohstoffe zu sorgen. Es ging immerhin um 2/3 der Oberfläche der Erde, die nun einer Aneignung offenzustehen schienen: The process has already started and will lead to a competitive scramble for sovereign rights over the land underlying the world’s seas and oceans, surpassing in magnitude and in its implication last century’s colonial scramble for territory in Asia and Africa. The consequences will be very grave: at the very least a dramatic escalation of the arms race and sharply increasing world tensions, caused also by the intolerable injustice that would re36 Herber, Bernard P.: The Common Heritage Principle. Antarctica and the Developing Nations. In: American Journal of Economics and Sociology 50 (1991). Nr. 4. S. 391–405. 37 Agenda item 92. Examination of the question of the reservation exclusively for peaceful purposes of the sea-bed and the ocean floor, and the subsoil thereof, underlying the high seas beyond the limits of present national jurisdiction, and the use of their resources in the interests of mankind. General debate. United Nations General Assembly. Twenty-Second Session. Official Record. First Committee. 1515th Meeting. 1.11.1967. New York. http://www.un.org/ depts/los/convention_agreements/texts/pardo_ga1967.pdf (14.9.2019).

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serve the plurality of the world’s resources for the exclusive benefit of less than a handful nations.38

Pardo plädierte deshalb für ein internationales Regime, das „rich and poor countries, strong and weak, coastal and landlocked States“39 offen stehen sollte. Gleichzeitig hielt er es nicht für möglich, dieses Regime im Rahmen der Vereinten Nationen zu platzieren, weil er bezweifelte, dass die Staaten, welche die technischen Fähigkeiten zur Ausbeutung des Meeresbodens besäßen, wie die USA oder die Sowjetunion, es hinnehmen würden, von einem kleinen Land wie Malta überstimmt zu werden. Deshalb schlug er vor, eine Agentur zu schaffen, die als „trustee for all countries“ die kommerzielle Verwertung des Meeresbodens regulieren und die Verschmutzung der Meere unter Kontrolle bringen sollte. In diesem Sinne regte er eine Resolution an, deren Leitprinzip sein sollte: First the sea-bed and the ocean floor are a common heritage of mankind and should be used and exploited for peaceful purposes and for the exclusive benefit of mankind as a whole. The needs of poor countries, representing that part of mankind which is most in need of assistance, should receive preferential consideration in the event of financial benefits being derived from the exploitation of the sea-bed and ocean floor for commercial purposes.40

Im Hintergrund stand hier die Forderung nach Technologietransfer und Partizipation an den Gewinnen der Ausbeutung von Rohstofflagern. Gleichzeitig wollten die Staaten, die an den res communis omnium technologisch bisher nicht partizipieren konnten, die Ausbeutung oder den Verbrauch von Ressourcen dieser Räume verhindern, bevor sie selbst über das notwendige technologische Know-how verfügten.41 Der Vorsitzende des ersten Komitees der UN-Vollversammlung Ismail Fahmy, der Vertreter der Vereinigten Arabischen Republik, der zu dem Zeitpunkt faktisch nur noch ein Vertreter Ägyptens war, hielt fest: Here is a new arena where scientists, economists, jurists and politicians can and must deploy their untiring efforts and pool their resources to promote international, peaceful cooperation for the purposes of serving humanity and enabling it to use for the betterment of the human race all the gifts which nature can offer.42

Pardo selbst war davon überzeugt, dass die Rohstoffvorkommen im Meeresboden so reichhaltig sein würden, dass sie bei richtiger Verteilung geeignet sein 38 Agenda item 92, Examination, S. 12. 39 Agenda item 92, Examination, S. 1. 40 Agenda item 92, Examination, S. 2. 41 Vgl. Buck, Global Commons, S. 151–153. 42 Agenda item 92, Examination, S. 3.

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könnten, die Lücke zwischen „Nord“ und „Süd“ zu schließen.43 Viel Unterstützung fand Pardos Vorschlag entsprechend bei den Staaten, die sich als Entwicklungsländer begriffen.44 Dazu trug auch bei, dass sich Avid Pardo mit Unterstützung von Elisabeth Mann Borgese gezielt darum bemühte, das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit nicht nur breit zu propagieren, sondern auch in die Debatten über eine Neue Weltwirtschaftsordnung einzuführen. Die in den USA lebende Elisabeth Mann Borgese, die bereits in den 1940er Jahren zusammen mit ihrem Mann Giuseppe Antonio Borgese an der Universität Chicago an einem Entwurf für eine Weltverfassung beteiligt gewesen war45, hoffte so, ihrem Ziel einer friedlichen und gerechten Weltordnung ausgehend vom „Frieden in den Meeren“ näher zu kommen. Ihr 1972 gegründetes International Ocean Institute war als Nichtregierungsorganisation an den Verhandlungen zum Seerechtsabkommen beteiligt und fand zahlreiche Unterstützer innerhalb und außerhalb der USA.46 Die staatliche Unterstützerallianz aus der Gruppe der 77 für das universale Prinzip stieß allerdings an ihre Grenzen, als es um die Aushandlung von ausschließlichen Wirtschaftszonen (exclusive economic zones) im Seerecht ging, ebenso, als die Internationalisierung der Rohstoffförderung aus dem Meer die Weltmarktpreise zu bedrohen schien und damit in Konkurrenz zur Nationalisierung der auf dem eigenen Territorium befindlichen Rohstoffe unter der Maßgabe einer Permanent Sovereignty over Natural Resources47 trat. In diesem Fall traten die partikularen Interessen als Küstenstaaten oder rohstoffbesitzende Staaten in den Vordergrund und führten zu Neuformierungen der Fraktionen in den Verhandlungen, die auch die Differenz „entwickelte“ und „unterentwickelte“

43 Buttigieg, Jean: Arvid Pardo – a diplomat with a mission. In: Symposia Melitensia (2016). Nr. 12. S. 13–28. 44 Pardo erhielt dafür 1983 den Third World Prize: Third World Lecture 1984. Arvid Pardo: Ocean space and mankind. In: Third World Quarterly 6 (1984). Nr. 3. S. 559–575. 45 The City of Man. A Declaration on World Democracy. New York 1941. 46 Pardo, Arvid/Mann Borgese, Elisabeth: The New International Economic Order and the Law of the Sea. Malta 1975; Pardo, Arvid: The Common Heritage of Mankind. Selected Papers on Oceans and World Order 1967–1974. Malta 1975; Buttigieg, Arvid Pardo; zu Erika Mann Borgeses Anliegen, die Ozeane zu einem Labor für eine neue Weltordnung zu machen, vgl. auch Allen, Monica: An Intellectual History of the Common Heritage of Mankind as Applied to the Oceans. Master of Arts thesis in Marine Affairs. University Rhode Island 1992; Sackel, Johanna: Food justice, common heritage and the oceans. Resource narratives in the context of the Third United Nations Conference on the Law of the Sea. In: The International Journal of Maritime History 29 (2017). Nr. 3. S. 645–659. 47 UN General Assembly resolution 1803 (XVII), 14.12.1962. Permanent sovereignty over natural resources. https://undocs.org/en/A/RES/1803(XVII) (19.7.2019).

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Staaten auflösten.48 Trotzdem galten die Figuren des gemeinsamen Erbes der Menschheit und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen beide weiter als wichtige Pfeiler bei der Etablierung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, dienten sie doch zur Legitimation einer Vielzahl von Partizipations- und Umverteilungsforderungen.49 Insbesondere der letzte Aspekt löste im US-amerikanischen Repräsentantenhaus große Beunruhigung aus. Präsident Lyndon B. Johnson selbst hatte 1966 von der Tiefsee und dem Meeresboden als „legacy of all human beings“ gesprochen und im Zuge der Präsentation des Berichts seines Science Advisory Boards „Effective Use of the Sea“ auf die Potenziale, welche in den Meeren zur Bekämpfung der Armut in der Welt lägen, hingewiesen und betont, „to create a new form of colonial competion“ sei unbedingt zu vermeiden.50 Eine Umverteilung der Gewinne war damit aber, wie der wiederholte Hinweis auf die Interessen der nationalen Industrien in der Rede zeigt, nicht gemeint. Vielmehr ging es um die Wahrung des Friedens durch den Verzicht auf territoriale Souveränitätsansprüche, wie sie in der Antarktis praktiziert wurden.51 Vielen Mitgliedern des US-amerikanischen Kongresses erschien der nun in der Figur eines gemeinsamen Erbes der Menschheit aufscheinende Anspruch, Gewinne aus Ressourcennutzung vergemeinschaften zu wollen, als Sozialismus. Zahlreiche Resolutionen wurden an das House Committee on Foreign Affairs, Subcommittee International Organizations gerichtet, die sich gegen ein internationales Regime über die Tiefsee aussprachen. Im Zuge der darauffolgenden Anhörungen traten insbesondere Ronald Reagan, zu diesem Zeitpunkt Gouverneur von Kalifornien, und George H. W. Bush, Mitglied des Repräsentantenhauses für Texas und ab 1971 Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen, als Gegner einer Vereinbarung im Rahmen einer internationalen Organisation in Erscheinung. Auch die noch junge Tiefseebergbauindustrie betätigte sich als Lobbygruppe für eine Rückkehr zum Konzept „Freiheit der Meere“, womit in diesem Fall vor allem die

48 Sackel, Food justice. 49 Report of the Secretary-General. Progressive Development of the Principles and Norms of International Law Relating to a New International Economic Order, 23.10.1983, A/39/504/ Add.1. https://digitallibrary.un.org/record/71137/files/A_39_504_Add-1-EN.pdf (14.9.2019); Allen, Intellectual history. 50 Document 326. Remarks at the commissioning of the research ship oceanographer, 13.7.1966. In: Public Papers of the Presidents of the United States. Vol. 2: Public Messages, Speeches, and Statements of the President, 1966. Hrsg. von Lyndon B. Johnson. Washington 1967. S. 724; Allen, Intellectual History, S. 14. 51 Effective use of the sea. Report of the panel on oceanography. President’s Science Advisory Committee. Washington 1966.

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Abwehr von Regulierungen und der Vergemeinschaftung von Gewinnen gemeint waren.52 Nach zähen Verhandlungen wurde 1982 ein Seerechtsübereinkommen im Rahmen der Vereinten Nationen geschlossen, das aber erst 1994 in Kraft treten konnte, weil es über zehn Jahre dauerte, die notwendigen 60 Ratifizierungsurkunden zusammenzubringen. Vorher war kein Staat, der bzw. dessen Industrie technisch zur Nutzung der Bodenschätze des Meeres in der Lage war, dem Abkommen beigetreten. Das änderte sich erst in den 1990er Jahren.53 So hatten die USA die Vereinbarung unter Präsident Ronald Reagan nicht mehr ratifiziert und sind ihr bis heute nicht beigetreten – was insofern bemerkenswert ist, da das US-Außenministerium und seine Diplomaten sowohl in der Konkurrenz um die Nutzung der Antarktis als auch um das Südchinesische Meer Russland und China regelmäßig auf die Vereinbarung verweisen.54 Auch der Mondvertrag von 1979 wurde von keinem Staat unterzeichnet, der ein nennenswertes Raumfahrtprogramm unterhielt, rekurrierte er doch noch deutlicher auf das Prinzip eines gemeinsamen Erbes der Menschheit mit dem Anspruch, Gewinne zu teilen, wenn er vorschrieb: The exploration and use of the moon shall be the province of all mankind and shall be carried out for the benefit and in the interests of all countries, irrespective of their degree of economic or scientific development. Due regard shall be paid to the interests of present and future generations as well as to the need to promote higher standards of living and conditions of economic and social progress and development in accordance with the Charter of the United Nations.55

Staaten mit Raumfahrtprogramm fürchteten künftig in der kommerziellen Nutzung der Mondgesteine beschränkt zu werden. Zwar war auch in diesem Fall die Technologie dazu noch lange nicht vorhanden und eine Nutzung der Rohstoffe Zukunftsmusik. Die durch die Mondlandung geweckten Erwartungen waren allerdings hoch und Staaten, die selbst keine Möglichkeit sahen, sich an der Exploration der Himmelskörper zu beteiligen, versuchten sich mit Verweis auf das gemeinsame Erbe der Menschheit, ihren Anteil an den erwarteten Gewinnen zu sichern. Das galt für einige sogenannte Entwicklungsländer, aber auch Österreich, Frankreich und Australien. Insgesamt war die Nutzung der Rohstoffe

52 Allen, Intellectual History, S. 30f. 53 Buck, Global Commons, S. 75–109. 54 Paul, Arktis und Südchinesisches Meer. 55 Agreement governing the activities of states on the moon and other celestial bodies, 18.12.1979. http://disarmament.un.org/treaties/t/moon/text (14.9.2019).

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aber noch so unwahrscheinlich, dass das Interesse an dem Abkommen schnell abflachte und sich bis heute insgesamt nur 22 Unterzeichner fanden.56

Globales Gemeineigentum als Begründung für Internationalisierungsbestrebungen im „Nord-Süd-Konflikt“ Die Figur des gemeinsamen Erbes der Menschheit fand aber auch in irdischen Verteilungsfragen mit Bezug auf territorial zugeordnete Räume und Objekte Eingang. So etwa als der Assuan-Staudamm gebaut wurde.57 Am 8. März 1960 rief der Generaldirektor der UNESCO Vittorino Veronese eine internationale Kampagne ins Leben, um in Nubien bedrohte Altertümer zu retten. Die insgesamt 20 Jahre dauernde Aktion (Ende 10. März 1980) umfasste neben Rettungsgrabungen und fotographischen Dokumentationen die logistisch wahrscheinlich einzigartige Umsetzung von rund 20 Tempeln bzw. Tempelanlagen.58 In seinem Aufruf wies Vittorino Veronese zum einen darauf hin, wie schwierig die Entscheidung zwischen Tempeln und Getreide beim Bau des Assuan-Staudamms gewesen sei. Er betonte aber gleichzeitig: These monuments, whose loss may be tragically near, do not belong solely to the countries who hold them in trust. The whole world has the right to see them endure. They are part of a common heritage which comprises Socrates’ message and the Ajanta frescoes, the walls of Uxmal and Beethoven’s symphonies. Treasures of universal value are entitled to universal protection. When a thing of beauty, whose loveliness increases rather than diminishes by being shared, is lost, then all men alike are the losers.59

Mit diesen Worten reklamierte er den Besitz der nubischen Altertümer für die ganze Menschheit und forderte deshalb die Weltgemeinschaft auf, einen Beitrag zur Entwicklung Ägyptens und zur Rettung der Artefakte zu leisten:

56 Buck, Global Commons, S. 151–153. 57 Zum Bau des Assuan-Staudamms im Kontext einer globalen Welle des Staudammbaus, vgl. Brendel, Benjamin: Konvergente Konstruktionen. Eine Globalgeschichte des Staudammbaus. Frankfurt a. M. 2019. 58 Säve-Söderbergh, Torgny: Temples and Tombs of Ancient Nubia. The International Rescue Campaign at Abu Simbel, Philae and Other Sites. Paris 1987. 59 March 8 Appeal by the Director-General of UNESCO. In: UNESCO Courier. A Window Open on the World 13 (Mai 1969). Nr. 5. S. 7. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000078452 (14.9.2019).

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‚Egypt is a gift of the Nile‘; for countless students this was the first Greek phrase which they learnt to translate. May the peoples of the world unite to ensure that the Nile, in becoming a greater source of fertility and power does not bury beneath its waters marvels which we of today have inherited from generations long since vanished.60

Folgerichtig wandte er sich deshalb auch nicht nur an Staaten, sondern an „governments, institutions, public or private foundations and men of goodwill“61. Sie sollten die finanziellen, technologischen und logistischen Mittel zur Verfügung stellen, um neben dem Bau des Staudamms auch die Erhaltung der Altertümer sicherzustellen. Die Resonanz auf den Aufruf der UNESCO war groß. Diese Nubian Campaign galt als großer Erfolg internationaler Kooperation und Beispiel für die finanzielle und technologische Unterstützung eines Entwicklungslandes durch die internationale Gemeinschaft.62 In der Folge häuften sich bei der UNESCO die Anfragen aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Staaten, die sich als Entwicklungsländer begriffen, zur Erhaltung von Denkmälern und Monumenten beizutragen. Schnell stellte sich bei insgesamt begrenzten finanziellen Mitteln die Frage, wie der universelle Wert eines Denkmals zu messen sei und wie sichergestellt werden könne, dass Gelder und Unterstützungsleistungen den wichtigsten und existentiell bedrohten Monumenten zu Gute kämen. Schon früh stellten Vertreter des deutschen und britischen Außenministeriums fest, dass eine Liste der bedeutendsten, hilfsbedürftigen Monumente förderlich sein könnte.63 Die Idee, ein solches Verzeichnis anzulegen, fasste in der UNESCO schnell Fuß, versprachen sich doch alle Beteiligten mehr Einfluss auf die Bestimmung der erhaltenswerten Monumente. 1968 fand deshalb ein Expertentreffen statt, das Kriterien für ein internationales Schutz- und Unterstützungssystem ausarbeiten sollte. Letztendlich konnte zunächst allerdings keine Einigung über ein internationales Register erzielt werden, weil die Expert*innen davor zurückschreckten, einen Kanon der Wert- oder Aufmerksamkeitshierar-

60 March 8 Appeal by the Director-General of UNESCO. 61 March 8 Appeal by the Director-General of UNESCO. 62 Säve-Söderbergh, Temples; Maurel, Cloé: Le sauvetage des monuments de Nubie par l’Unesco (1955–1968). In: Égypte/Monde arabe 3 (2013). Nr. 10. S. 255–286; Betts, Paul: The warden of world heritage. UNESCO and the rescue of the Nubian monuments. In: Past & Present 226 (2015). Beiblatt 10. S. 100–125. 63 UNESCO Archiv Paris. SCH/CS/27/7. Conclusions of the meeting of experts. Meeting of experts to co-ordinate, with a view to their international adoption, principles and scientific, technical and legal criteria applicable to the protection of cultural property, monuments and sites. Paris, 1.3.1968. S. 7. http://whc.unesco.org/archive/1968/shc-cs-27-7e.pdf (14.9.2019).

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chien zu etablieren.64 Stattdessen hielten sie in ihrem Fazit über die Natur des internationalen Schutzes fest: The protection of monuments, groups and areas and sites of universal importance and interest does not imply the internationalization of such cultural property or any form of extra-territorial status. It is a moral and philanthropic enterprise, scientific, technical and practical in its nature, and will be carried out by the international community for the benefit of all countries.65

Diese Feststellung reagierte auf Vorstöße, Objekte und Monumente, aber auch Nationalparks und Naturschutzgebiete internationaler Kontrolle zu unterstellen, wenn die Regierung des Staates, auf dessen Territorium sie sich befanden, ihrer Verpflichtung zu Schutz und Erhaltung vermeintlich nicht nachkam. Die Sorge, die Dekolonialisationswelle Mitte des 20. Jahrhunderts gefährde die in Afrika bestehenden Naturschutzgebiete und stehe weiteren Unterschutzstellungen im Weg, war unter Naturschützern insbesondere in Europa und den USA weit verbreitet. Sie projizierten ihr Idealbild unberührter Natur insbesondere auf die Tierwelt Afrikas, die sie mehrheitlich aus eigener Anschauung von Reisen, Safaris und/oder Jagd zu kennen meinten.66 Gleichzeitig unterstellten sie ein unverhältnismäßiges Bevölkerungswachstum in den sich neu etablierenden Staaten, das in ihren Augen einerseits das exponentielle Anwachsen der Weltbevölkerung anschob und andererseits den Raum knapp werden ließ, welcher der Flora und Fauna zu Verfügung stehen konnte.67 Landwirtschaftliche 64 UNESCO Archiv Paris, SCH/CS/27/8. Final report of meeting of experts to co-ordinate, with a view to their international adoption, principles and scientific, technical and legal criteria applicable to the protection of cultural property, monuments and sites. Paris, 31.12.1968. http://whc.unesco.org/archive/1968/shc-cs-27-8e.pdf (14.9.2019); Cameron, Christina/Rössler, Mechthild: Many Voices, One Vision. The Early Years of the World Heritage Convention. Farnham 2013. S. 14–17. 65 UNESCO Archiv Paris. SCH/CS/27/8. Final report, 31.12.1968. 66 Huxley, Julian: African View. London 1932; vgl. dazu hier nur exemplarisch außerdem die Autobiographien von Train, Russel E.: Politics, Pollution, and Pandas. An Environmental Memoir. Washington/London 2003; Dasmann, Raymond F.: Called by the Wild. The Autobiography of a Conservationist. London 2002; zur langen Tradition des Jagdtourismus, vgl. Gißibl, Bernhard: The conservation of luxury. Safari hunting and the consumption of wildlife in 20th century East Africa. In: Luxury in Global Perspective. Commodities and Practices. Hrsg. von Bernd-Stefan Grewe u. Karin Hofmeester. Cambridge 2016. S. 261–298. 67 Zu dieser Verquickung von Umweltschutz und globaler Bevölkerungspolitik, vgl. u. a. Robertson, Thomas: The Malthusian Moment. Global Population Growth and the Birth of American Environmentalism. New Brunswick 2012; ders.: „Thinking globally“. American foreign aid, Paul Ehrlich, and the emergence of environmentalism in the 1960s. In: Beyond the Cold War. Lyndon Johnson and the New Global Challenges of the 1960s. Hrsg. von Francis J. Gavin u. Mark Atwood Lawrence. Oxford 2014. S. 185–206.

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und industrielle Entwicklungspolitiken sowie die Notwendigkeit, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, schienen den Interessen der Menschheit bzw. des Planeten Erde entgegen zu stehen. Bereits 1958/59 hatte Bernhard Grzimek in seinem 1960 mit dem Oscar prämierten Film Serengeti darf nicht sterben, der Position bei der Neuziehung der Grenzen eines Serengeti-Nationalparks beziehen wollte, die afrikanische Tierwelt zu einem „kulturellen Gemeinbesitz der ganzen Menschheit“ erklärt, vergleichbar den Kathedralen, der Akropolis, dem Petersdom und dem Louvre.68 Der Bezug auf diesen Gemeinbesitz sollte die an vielen Punkten paternalistische Intervention internationaler Naturschützer in Afrika legitimieren. Auch die bereits angesprochenen Texte von Garret Hardin reagierten auf die als naturgefährdend wahrgenommenen Partizipations- und Selbstbestimmungsansprüche, ebenso wenn er sich auf die US Nationalparks bezog, als er erklärte: The National Parks present another instance of the working out of the tragedy of the commons. At present, they are open to all, without limit. The parks themselves are limited in extent–there is only one Yosemite Valley–whereas population seems to grow without limit. The values that visitors seek in the parks are steadily eroded. Plainly, we must soon cease to treat the parks as commons or they will be of no value to anyone.69

Seine Regulierungsforderungen bauten vor allem auf mögliche Zwangsmaßnahmen – sei es im Rahmen von Privatbesitz oder Staatsintervention. In seinen Augen war in einer Welt der Knappheit eine freie Entfaltung aller Menschen nicht hinnehmbar. An eine Weltregierung oder den Multilateralismus der UNO glaubte Hardin – wie bereits erwähnt – nicht, so dass seine Texte im Grunde genommen ein Plädoyer an die US-Regierung waren, die in seinen Augen notwendige Politik global mit ihren Machtmöglichkeiten durchzusetzen – vor allem aber auf Entwicklungshilfen, die er als destabilisierenden Eingriff in ein optimales Bevölkerungswachstum begriff, zu verzichten. Die rassistische Grundorientierung, die seinen Annahmen zugrunde lag und die entsprechend unterschiedliche

68 Serengeti darf nicht sterben. BR Deutschland 1958/1959 Dokumentarfilm; Grzimek, Michael und Bernhard : Serengeti darf nicht sterben. 367.000 Tiere suchen einen Staat. Frankfurt a. M. 1959. S. 241; vgl. zum Kontext des Films Torma, Franziska: Eine Naturschutzkampagne in der Ära Adenauer. Bernhard Grzimeks Afrikafilme in den Medien der 50er Jahre. München 2004; dies.: „Serengeti darf nicht sterben!“. In: Ökologische Erinnerungsorte. Hrsg. von Frank Uekötter. Göttingen 2014. S. 133–156; Gißibl, Bernhard/Paulmann, Johannes: Serengeti darf nicht sterben. Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Hrsg. von Jürgen Zimmerer. Frankfurt a. M. 2013. S. 96–108. 69 Hardin, Tragedy, S. 1245.

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Maßstäbe an menschliche Fortpflanzungsfreiheiten anlegte, ist offensichtlich.70 Eine an vielen Punkten ähnliche Position, wenn auch weniger radikal, vertraten Joseph L. Fisher und Russell E. Train, als sie 1965 bei der US White House Conference on International Cooperation ihr Konzept eines World Heritage Trust vorstellten. Ihr Vorstoß entstammte dem von Fisher gegründeten Think Tank Resources for the Future, der von der Ford Foundation finanziert wurde und Umweltschutz mit zukunftssicherer Energiepolitik und künftigem wirtschaftlichen Wachstum verknüpfen wollte. Dadurch wurde der World Heritage Trust ein Projekt einer US-amerikanischen Außenpolitik, die unter den Präsidenten Johnson und Nixon darauf zielte US Environmental Leadership zu etablieren. Entsprechend bezogen sich Fisher und Train bei ihrem Vorschlag auf Yellowstone als Modell und vermeintlichen Ausgangspunkt einer globalen Nationalparkbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Das hundertjährige Bestehen des YellowstoneNationalparks sollte zum Anlass genommen werden, um eine neue globale Umweltbewegung unter Führung der USA zu starten.71 Insofern war der World Heritage Trust eine Version der sogenannten American mission, die einen moralischen Anspruch mit der Forderung nach politischer Führung verknüpfte. Entsprechend sollte ein solcher Trust explizit nicht im Rahmen einer der zahlreichen UN-Sonderorganisationen angesiedelt sein.72 Diese Ablehnung der UN als Verwalterin des Weltnaturerbes sowie die Namensgebung, die nun explizit auf ein Welterbe und nicht (mehr) auf ein gemeinsames Erbe der Menschheit rekurrierte, dienten zur Abgrenzung und Abschottung gegen die anderen bereits erwähnten Debatten in den Vereinten Nationen. 1972 versuchte die US Regierung deshalb, die UN-Umweltkonferenz in Stockholm zu nutzen, um eine Vereinbarung über den Schutz eines Weltnatur- und Kulturerbes bei der Weltnaturschutzunion (IUCN) zu verankern.73 Das gelang ihr zum einen nicht, weil in der UNESCO seit 1948 zahlreiche Vorarbeiten für internationale Konventionen zum Schutz von Kulturgütern und Umwelt liefen, so dass der US-Vorstoß vielen Re70 Hardin, Lifeboat ethics; vgl. auch Radkau, Natur und Macht, S. 92. 71 Train, Politics, Pollution, and Pandas, S. 121–155; Stott, Peter H.: The World Heritage Convention and the National Park Service, 1962–1972. In: The George Wright Forum 28 (2011). Nr. 3. S. 279–290; zur zwischenzeitlich stark relativierten Rolle des Modells Yellowstone bei der Etablierung einer weltweiten Nationalparksbewegung, vgl. Gißibl, Bernhard [u. a.] (Hrsg.): Civilizing Nature. National Parks in Global Historical Perspective. New York/Oxford 2012; Howkins, Adrian [u. a.] (Hrsg.): National Parks Beyond the Nation. Global Perspectives on „America’s Best Idea“. Norman 2016. 72 Robertson, Tom: „This is the American earth“. American empire, the Cold War, and American environtalism. In: Diplomatic History 32 (2008). Nr. 4. S. 561–584; Stott, World Heritage Convention. 73 Schleper, Simone: Planning for the World. Environmental Expertise and the International Union for Conservation of Nature and Natural Resources, 1960–1980. Oxford 2019. Kapitel 3.

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gierungsvertretern als kostspielige Doppelstruktur erschien.74 Zum anderen wurde der strategische Gehalt des US-Vorstoßes durchschaut, schien der US Regierung die Unterstützung einer Welterbekonvention bei der Weltnaturschutzunion unter Umgehung der intergouvernementalen Organisation außenpolitisch vor allem deshalb opportun, weil die sogenannten Entwicklungsländer 1968 die Stimmenmehrheit in der UNESCO erlangt hatten.75 Es war also klar, dass es schwierig sein würde, die Entscheidungen dort im eigenen Sinne zu beeinflussen. In der Weltnaturschutzunion wäre durch die starke Position der Wissenschaftler*innen und über die Frage der Finanzierung des Programms eine faktische Dominanz der finanzstärksten Beitragszahler eingeführt worden und damit der sogenannten Industriestaaten, allen voran der USA. Mit diesen Plänen konnte sich die US Regierung deshalb nicht durchsetzen, ebenso wenig wie mit der Forderung, die zu internationalisierenden Stätten nach rein wissenschaftlichen Maßstäben durch die Weltnaturschutzunion bestimmen zu lassen. Die sogenannten Entwicklungsländer wiesen in der Auseinandersetzung wie schon in den vorherigen Debatten auch auf das im Kolonialismus erlittene Unrecht und die daraus entstandene ungerechte Weltwirtschaftsordnung hin, die es nicht hinnehmbar mache, vor allem sie für den Schutz der Umwelt in Haftung zu nehmen, waren doch aus dieser Perspektive vor allem die Industriestaaten für die weltweite Umweltverschmutzung verantwortlich. Diese Argumentation, eines in der Vergangenheit erlittenen Unrechts mit Anspruch auf Wiedergutmachung76, legitimierte auch die Forderung einer Beteiligung nicht nur der ehemaligen Kolonialmächte, sondern auch der von der ungerechten Struktur des Weltwirtschaftssystems profitierenden sogenannten Industriestaaten, sich finanziell an der Erhaltung von Denkmälern, Monumenten und Artefakten, aber auch Naturschutzgebieten und Nationalparks zu beteiligen, ohne dass daraus Mitspracherechte entstehen sollten. Am Ende der zum großen Teil informell geführten Verhandlungen stand ein Kompromiss, der Ende 1972 in Paris ein Welterbeprogramm im Rahmen der UNESCO schuf.77 Bereits 1971 wurden die entsprechenden Vorschläge für ein Instrument zum Natur- und Monumentenschutz zusammengeführt, für das nun auch ein Verzeichnis entweder der besonders schützenswerten oder besonders bedrohten Stätten vorgesehen wer-

74 Cameron/Rössler, Many Voices; Batisse, Michel/Bolla, Gérard: L’invention du „patrimoine mondial“. Paris 2003. 75 Partan, Daniel G.: Documentary Study of the Politicization of UNESCO. Boston 1975. 76 Vgl. zu diesen Argumentationsstrategien und ihren unterschiedlichen Gerechtigkeitskonzeptionen Unfried, Berthold: Vergangenes Unrecht. Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive. München 2014. 77 Cameron/Rössler, Many Voices.

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den sollte.78 In der 1972 geschlossenen Konvention oblag schließlich die Entscheidung darüber, ob eine Kultur- oder Naturerbestätte für die Welterbeliste – die nun als Verzeichnis von Kultur- und Naturstätten mit universaler Bedeutung angelegt wurde – nominiert werden sollte, ausschließlich dem Staat, auf dessen Territorium sich die Stätte befand. Die Entscheidung über die Einschreibung einer Stätte in die Welterbeliste traf das Welterbekomitee, nachdem es ein Expertenvotum des Internationalen Rates für Denkmalpflege (ICOMOS) für Kulturerbestätten und der Weltnaturschutzunion (IUCN) für Naturerbestätten gehört hatte. Mit dieser Setzung privilegierte die UNESCO-Welterbekonvention die Kultur- und Naturhoheit der Staaten als Teil ihrer staatlichen Souveränität gegenüber Internationalisierungsbestrebungen. Diese eingeschränkte Internationalisierung führt dazu, dass dem Welterbeprogramm der Charakter eines globalen Gemeingutes in der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur heute oft abgesprochen und ein entsprechender Status im Umweltschutz immer wieder „neu“ ins Feld geführt wird. Die Definition der globalen Gemeingüter als exterritoriale Gebiete täuscht aber darüber hinweg, dass auch das Welterbeprogramm auf der völkerrechtlichen Figur des gemeinsamen Erbes der Menschheit basiert und historisch in die entsprechenden Debatten eingebettet ist.

Fazit Die Debatten über globale Gemeingüter dienten traditionell und auch noch im Rahmen des Kalten Krieges dazu, Räume offen zu halten, Einfluss auf die Nutzung von Territorien, aber auch Objekten nehmen zu können, deren einseitige Aneignung nicht möglich war, weil kein direkter Zugriff bestand, Kontrollmöglichkeiten nicht gegeben waren oder eine militärische Auseinandersetzung zu viele Risiken barg. Mit Hilfe der universalen Kategorie wurden konkurrierende Interessen zurückgewiesen oder im Rahmen von Nutzungsregimen zu einem Ausgleich gebracht. In den 1960er Jahren wurde der gemeinsame Besitz der Menschheit oder ihr gemeinsames Erbe zur Legitimationsfigur in den Auseinandersetzungen um inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Entwicklungspolitiken und Umweltschutzforderungen. Die Formulierung eines Anspruchs auf globale Gemeingüter diente nun dazu, Teilhabe-, aber auch Kontrollansprüche zu artikulieren und zu begründen. Nicht zuletzt der immer wieder ins Feld geführte Verweis auf eine historische Schuld 78 UNESCO Archiv Paris. SHC/MD/17. International instruments for the protection of monuments, groups of buildings and sites. Paris, 30.6.1971. https://whc.unesco.org/archive/1971/ shc-md-17e.pdf (14.9.2019).

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und Verantwortung der Kolonialmächte und Industriestaaten kreierte die Parteien eines „Nord-Süd-Konflikts“, der sich vor allem in den Auseinandersetzungen über eine neue Weltwirtschaftsordnung und eine gerechte Verteilung vermeintlich knapper Ressourcen entfaltete. Diese durch eine scheinbar eindeutig historisch begründete Interessengemeinsamkeit begründeten Fraktionierungen sollten aber nicht über die Flexibilität der Allianzen in den Verhandlungen, die Nord-Süd-Kooperationen ebenso kannte wie Süd-Süd-Konflikte, hinwegtäuschen. So wogen bei der Seerechtskonvention 1982 die Interessenunterschiede zwischen Staaten mit und ohne Küsten mindestens ebenso stark wie die zwischen technologisch zum Tiefseebergbau fähigen und denen, die dazu (noch) nicht in der Lage oder bereit waren, sowie den Vertretern einer nördlichen und südlichen Hemisphäre. Neben wissenschaftlichen Expert*innen speisten hier auch Nichtregierungsorganisationen und Industrieunternehmen ihre Weltdeutungen ein, kreierten aber auch Allianzen und Koalitionen, die über das Narrativ eines Nord-Süd-Konflikts weit hinauswiesen. Kooperation, Austausch und Kompromisse in multilateralen Beziehungen waren bei der Aushandlung und Bestimmung von globalen Gemeingütern von entscheidender Bedeutung und verliehen ihnen, obwohl sie immer interessengeleitet ins Spiel gebracht wurden, eine erstaunlich friedenssichernde Qualität, die auch im „Nord-Süd-Konflikt“ in Richtung Kooperation wies. Gerade die Verhandlungen über ein gemeinsames Erbe der Menschheit zeigen aber auch, dass Staaten, die sich in der Lage wähnten, ihre Interessen unilateral besser verwirklichen zu können, die multilateralen Abkommen regelmäßig ignorierten. Diese Diagnose darf aber nicht zu der Annahme verleiten, die entsprechenden Abkommen seien wirkungslos geblieben. Sie setzten internationale Standards, was ebenso regelmäßig dazu führte, dass Nicht-Unterzeichner sich in veränderten Interessenkonstellationen auf eben diese entsprechenden multilateralen Vereinbarungen beriefen, um ihren normativen Druck für die eigenen Interessen einzusetzen.

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Solidarität vs. Ressourcensouveränität? Die dritte Seerechtskonferenz als Herausforderung für die Süd-Süd-Beziehungen „The needs of poor countries, representing that part of mankind which is most in need of assistance, should receive preferential consideration in the event of financial benefits being derived from the exploitation of the sea-bed and ocean floor for commercial purposes“1, konstatierte der maltesische Botschafter Arvid Pardo in einer vielbeachteten Rede vor der UN-Generalversammlung 1967. Mit emphatischen Worten rief er die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Meeresboden außerhalb der staatlichen Hoheitsgewässer als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ zu deklarieren.2 Er begründete diesen Vorstoß damit, dass die Entdeckung der Tiefsee als wirtschaftlich nutzbares Gebiet einen Regelungsbedarf offenbart hatte, der die Initiative der Vereinten Nationen erfordere. Im Fokus der ökonomischen Erwägungen standen besonders prominent Manganknollen, die kurz zuvor von John L. Mero, Wissenschaftler am Institute of Marine Resources an der University of California, als Möglichkeit beworben worden waren, die Industrienationen von Rohstoffdeals mit Entwicklungsländern unabhängig zu machen.3 Denn die kartoffelgroßen Knollen enthielten wertvolle und nachgefragte Metalle wie Kupfer, Nickel, Cobalt und seltene Erden. Pardo befürchtete nun, dass die Industriestaaten, die bereits mit der Exploration des Tiefseebodens begonnen hatten, ihren technischen Vorsprung ausnutzen würden. Nicht nur, dass sie die Ressourcen alleinig würden ausbeuten können, auch eine Nuklearisierung des Meeresbodens durch die Installation von Atomwaffen seitens der Supermächte hielt er für möglich. Eine Erklärung des Meeresgrunds und seiner Ressourcen als common heritage of mankind, als gemeinsames Erbe der Menschheit (GEM), sollte demgegenüber nationale Aneignungen verhindern. Dies beinhaltete auch die Schaffung einer gesonderten Behörde 1 UN Doc. A/C.1/PV.1515: Speech of Arvid Pardo. First Committee of the General Assembly at its 22nd Session. New York. 1.11.1967. S. 17. 2 Speech of Arvid Pardo. 3 Mero, John L.: The mineral resources of the sea. Amsterdam [u. a.] 1965; Sparenberg, Ole: Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel der Tiefseebergbaus. Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Auf dem Weg der Nachhaltigkeit? Erträge der 25. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 3. bis 6. April 2013 in Salzburg. Hrsg. von Günther Schulz u. Reinhold Reith. Stuttgart 2015. S. 109–124. https://doi.org/10.1515/9783110682625-017

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(agency) unter dem Dach der Vereinten Nationen. Als Treuhänderin sollte diese die Nutzung des Meeresbodens überwachen sowie koordinieren und dafür sorgen, dass die aus der Ausbeutung der marinen Ressourcen erzielten Profite im Interesse der gesamten Menschheit und insbesondere der Entwicklungsländer verwendet würden.4 Diese Internationalisierung des Meeresbodens sollte demnach auch dazu beitragen, globale Ungleichheiten zu beseitigen, und die Idee fand deswegen großen Anklang bei den innerhalb der Vereinten Nationen als Gruppe der 77 (G-77) zusammengeschlossenen Entwicklungsländern und ihrem Projekt einer New International Economic Order (NIEO), im Rahmen derer die wirtschaftliche Vormachtstellung der Industrieländer abgebaut und die nationale Souveränität der Entwicklungsländer gestärkt werden sollte.

Der globale Süden im Spiegel der NIEO Für das vorläufige Scheitern der NIEO Anfang der 1980er Jahre sind sowohl von Zeitgenossen als auch in der Forschung verschiedene Ursachen diagnostiziert worden. Zum einen habe der globale Norden und insbesondere der Westen die Bemühungen der Entwicklungsländer um eine Neuformierung der globalen Wirtschaftsstrukturen untergraben. Durch eine Appeasement-Politik und die Betonung der Interdependenz von Nord und Süd sei man den Entwicklungsländern scheinbar entgegengekommen, habe aber auf der anderen Seite eine hinhaltende Taktik betrieben, in Zuge derer Verhandlungsgegenstände aufgespalten und Verhandlungen verzögert worden seien.5 Darüber hinaus verlagerten die westlichen Industrieländer die Verhandlungen über Fragen der Weltwirtschaft aus der vom globalen Süden präferierten Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in die von ihnen selbst dominierten internationalen Finanzinstitutionen und schufen sich mit den G7-Gipfeln ein exklusives Forum, innerhalb dessen sie die Herausforderungen der „Interdependenz“6 verhandel-

4 Speech of Arvid Pardo, S. 8. 5 Sargent, Daniel J.: North/South. The United States Responds to the New International Economic Order. In: Humanity: An international journal of human rights, humanitarianism, and development 6 (2015). Nr. 1. S. 201–216. Hier S. 202; Matthies, Volker: Neue Weltwirtschaftsordnung. Hintergründe, Positionen, Argumente. Opladen 1980. S. 26. 6 Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Deuerlein in diesem Band.

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ten.7 Oftmals wird der „Aufstieg des Neoliberalismus“ als Todesstoß für die Reformierungsversuche des Südens gesehen.8 Der mangelnde Erfolg der NIEO lag aber nicht nur in der Ablehnung seitens des globalen Nordens begründet, sondern hatte seine Ursachen auch in Interessendivergenzen und der mangelnden Kooperationsbereitschaft unter den postkolonialen Staaten selbst.9 Dies trat prominent während der „Ölkrise“ zutage. Die Preissteigerungen der OPEC und das von der OAPEC vorangetriebene Lieferembargo wurden zunächst von den Entwicklungsländern als „oil revolution“ gefeiert.10 Der Erfolg dieser Maßnahmen schien zu belegen, dass sich durch Solidarität unter den rohstoffproduzierenden Staaten auch hinsichtlich anderer natürlicher Ressourcen Druck aufbauen ließe. Auf der psychologischen Ebene hatten das Öl-Embargo und die Preissteigerungen demnach eine hohe Bedeutung für die spätere Formulierung einer NIEO.11 Auf der materiellen Ebene trat jedoch schon bald die Spaltung zwischen den Ölproduzenten und den -importeuren des globalen Südens zutage.12 Obwohl die Entwicklungsländer insbesondere innerhalb der Vereinten Nationen Verhandlungsmacht aufbauen konnten und das UN-System zu beeinflussen vermochten,13 bestand ihre Solidarität nur insofern, als sie den eigenen nationalen Interessen dienlich war. Zwar war die politische und wirtschaftliche Souveränität ein gemeinsames Ziel der Regierungen der teilweise sehr jungen Staaten, jedoch handelte es sich bei diesen sich keineswegs um einen monolithischen Block. Vielmehr schwächte der postkolo7 Salomon, Margot F.: From NIEO to Now and the Unfinishable Story of Economic Justice. In: International and Comparative Law Quarterly 62 (2013). Nr. 1. S. 31–54, Hier S. 46f.; Böhm, Enrico: Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975–1981). München 2014; Karczewski, Johannes von: „Weltwirtschaft ist unser Schicksal“. Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel. Bonn 2008. 8 Vgl. hierzu Helleiner, Eric: States and the Reemergence of Global Finance. Ithaca, NY 1994; Özsu, Umut: Neoliberalism and the New International Economic Order. A History of „Contemporary Legal Thought“. In: Searching for contemporary legal thought. Hrsg. von Christopher L. Tomlins; Justin Desautels-Stein. Cambridge 2017. S. 330–347; Ogle, Vanessa: State Rights against Private Capital. The ’New International Economic Order’ and the Struggle over Aid, Trade, and Foreign Investment, 1962–1981. In: Humanity 5 (2014). Nr. 2. S. 211–234. 9 Vgl. die Beiträge von Rüdiger Graf, Jonas Kreienbaum und Andrea Rehling in diesem Band. 10 Vgl. Dietrich, Christopher R.W.: Oil Revolution. Sovereign Rights and the Economic Culture of Decolonization. Cambridge 2017. 11 Gilman, Nils : The NIEO. A Reintroduction. In: Humanity 6 (2015). Nr. 1. S. 1–16. Hier S. 3. 12 Graf, Rüdiger: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren. Berlin 2014. S. 283; vgl. hierzu ausführlich: Dietrich, Oil Revolution, S. 281. 13 Kunkel, Sönke: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 60 (2012). Nr. 4. S. 555–577.

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niale Nationalismus die Verhandlungsmacht des globalen Südens und offenbarte sich insbesondere im Streben nach Ressourcensouveränität, wie im Rahmen dieses Beitrags am Beispiel der dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen nachgewiesen werden soll.14 Der folgende Abschnitt gibt zunächst einen kurzen Überblick über die dritte Seerechtskonferenz und ordnet sie in den historischen Kontext ein. Die anschließende Analyse stützt sich auf Statements der G-77 sowie einzelner Mitgliedstaaten während der Konferenz und will Aufschluss darüber geben, welche Interessenkonflikte und Spannungsmomente innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer bestanden und welchen Einfluss dies auf die propagierte Solidarität des Südens und die damit verbundene Frontstellung gegenüber den westlichen Industrieländern ausübte.15

Die Seerechtskonferenz als Aushandlungsort von Ressourcengerechtigkeit Die dritte UN-Seerechtskonferenz (UNCLOS III) fand von 1973 bis 1982 statt und umfasst damit die Hochphase des „Nord-Süd-Konflikts“ bzw. der Auseinandersetzung um die NIEO. Sie war das Resultat eines durch Pardos Rede initiierten Prozesses, an dessen vorläufigem Ende nun die Verhandlung eines umfassenden völkerrechtlichen Vertrags für die Meere und schließlich die Verabschiedung des Seerechtsübereinkommens stand, welches 1994 in Kraft trat.16 Die Delegationen der teilnehmenden Staaten verhandelten während elf Sitzungsperioden in drei Hauptausschüssen u. a. über Schifffahrtsfreiheit, Meeresumweltschutz sowie die Freiheit der Meeresforschung. Den größten Konfliktpunkt stellte jedoch die Frage der Nutzung und Verteilung mariner Ressourcen dar. So 14 Der Beitrag beruht auf einem Kapitel meiner bisher unveröffentlichten Dissertation über Debatten um marine Ressourcen im Rahmen der dritten Seerechtskonferenz. 15 Die Analyse erfolgt hauptsächlich auf Basis der Konferenzdokumentation, siehe Third United Nations Conference on the Law of the Sea. In: United Nations, Codification Division, Office of Legal Affairs. http://legal.un.org/diplomaticconferences/1973_los/ (16.9.2019). 16 Auf der ersten und der zweiten Seerechtskonferenz 1958 und 1960 waren zwar vier Einzelkonventionen verabschiedet worden (über Küstenmeer und Anschlusszone, Hohe See, Fischerei, Festlandsockel), jedoch war es nicht gelungen, weithin akzeptable Regelungen für die Meeresnutzung und damit zusammenhängende Zonen zu etablieren. Vgl. hierzu Barnes, Richard M.: The Law of the Sea, 1850–2010. In: A History of the North Atlantic Fisheries. Vol. 2: From the 1850s to the Early Twenty-First Century. Hrsg. von David J. Starkey u. Ingo Heidbrink. Bremen 2012. S. 177–225; Harrison, James: Making the Law of the Sea. A Study in the Development of International Law. Cambridge 2011 .

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befasste sich der erste Hauptausschuss mit der Meeresbodenfrage und insbesondere mit der Ausgestaltung eines zukünftigen Regimes. Besonders umstritten waren in diesem Zusammenhang der Vorschlag einer Meeresbodenbehörde und die Frage, welche Kompetenzen einer solchen zukommen sollten. Die G-77 wollten der Behörde – ganz im Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit (GEM) – ein Explorations- und Ausbeutungsmonopol einräumen, in Zuge dessen die Gewinne auch denjenigen Staaten zukommen würden, die nicht über die entsprechende Infrastruktur und die benötigten Technologien für den Meeresbergbau verfügten. Demgegenüber bestanden die westlichen Industriestaaten auf einen „nichtdiskriminierenden Zugang“ für ihre Bergbauunternehmen und wollten der Behörde nur eine koordinierende Funktion zugestehen.17 Im zweiten Hauptausschuss verhandelten die Delegierten die komplexe Materie des „traditionellen Seerechts“. Dazu gehörte unter anderem die Frage nach der Breite der Territorialgewässer bzw. möglicher Wirtschaftszonen und der Verfügungsgewalt über die darin befindlichen lebenden und nichtlebenden Ressourcen.18 1945 hatte der US-Präsident mit den nach ihm benannten Truman-Proklamationen begonnen, den von Hugo Grotius 1609 eingeführten Grundsatz der Freiheit der Meere infrage zu stellen, der bis dahin als Völkergewohnheitsrecht praktiziert worden war.19 Nun erhoben die Vereinigten Staaten Anspruch auf die Festlandsockel und die darauf befindlichen Ressourcen.20 Außerdem beanspruchten sie für sich das Recht, Fischereischutzzonen auszurufen.21 Damit entfachten sie eine „beispiellose Expansionswelle“22, bei der zuvorderst die lateinamerikanischen Küstenstaaten unilaterale Souveränitätsansprüche auf die 17 Vitzthum, Wolfgang Graf: Von der Freiheit zur Nationalisierung der Meere? Die dritte Seerechtskonferenz der VN in Caracas vom 20. Juni bis 29. August 1974. In: Vereinte Nationen (1974). Nr. 5. S. 129–135; Kehden, Max Ivers: Abschied von der Freiheit der Meere? Zu den Bemühungen der UNO um eine soziale Ordnung des ozeanischen Raumes. In: Vereinte Nationen (1971). Nr. 5. S. 123–129. Hier S. 124. 18 Stevenson, John R./Oxman, Bernard H.: The Third United Nations Conference on the Law of the Sea. The 1974 Caracas Session. In: The American Journal of International Law 69 (1975). Nr. 1. S. 1–30. Hier S. 3. 19 Grewe, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden 1988. S. 315f. 20 Proclamation 2667: Policy of the United States with Respect to the Natural Resources of the Subsoil and Sea Bed of the Continental Shelf. 28.9.1945. https://www.presidency.ucsb.edu/documents/proclamation-2667-policy-the-united-states-with-respect-the-natural-resources-thesubsoil (16.9.2019). 21 Proclamation 2668: Policy of the United States with Respect to Coastal Fisheries in Certain Areas of the High Seas. 28.9.1945. https://www.presidency.ucsb.edu/documents/proclamation2668-policy-the-united-states-with-respect-coastal-fisheries-certain-areas (16.9.2019). 22 Wolf, Klaus-Dieter: Die dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. Beiträge zur Reform der internationalen Ordnung und Entwicklungstendenzen im Nord-Süd-Verhältnis. Baden-Baden 1981. S. 48.

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Fischereivorkommen vor ihren Küsten stellten, um somit den „Fischereiimperialismus“23 der Industrieländer einzudämmen.24 Ausgehend von diesen chaotischen Zuständen sollte auf der dritten Seerechtskonferenz auch eine endgültige Lösung für die Verfügungsgewalt über natürliche Ressourcen vor den Küsten gefunden werden, um Konflikte zu entschärfen und rechtliche Unwägbarkeiten zu beseitigen.25 Hier wurde die im Kontext der NIEO erhobene Forderung nach permanenter Souveränität über natürliche Ressourcen zum neuralgischen Punkt für die Solidarität unter den Mitgliedern der G-77. Denn diese Art von Souveränität war von geographischen Voraussetzungen abhängig und eng mit dem Territorialitätsprinzip verbunden. Insofern konnte nur derjenige Anspruch auf natürliche Ressourcen erheben, auf dessen Territorium sie sich befanden.26 Da im Kontext der Verhandlungen über ein neues Seerecht auch die nationale Ausweitung der Küstenzonen und damit die Territorialisierung der Meeresgebiete zur Debatte stand, schien sich hier die Möglichkeit aufzutun, Ressourcensouveränität nicht bloß – wie im Rahmen der NIEO gefordert – über die terrestrischen, sondern auch über marine Ressourcen zu erlangen. Doch wie ließ sich dies mit dem Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit vereinbaren, dessen Idee es war, die Ressourcen nicht in nationales Eigentum zu überführen, sondern sie unter die Treuhandschaft der internationalen Gemeinschaft zu stellen? Und welche Rolle spielten hierbei geographische und ozeanographische Faktoren wie der Zugang zum Meer?

23 Nelson, L. Dolliver M.: The Patrimonial Sea. In: The International and Comparative Law Quarterly 22 (1973). Nr. 4. S. 668–686. Hier S. 668. Fn. 4. 24 Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 48; Steiling, Roland: Das Seefischereirecht der Europäischen Gemeinschaften. Eine Darstellung der Entwicklung des gemeinschaftlichen Fischereiregimes vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. Köln 1989. S. 24. 25 Dass die Ausweitungen von Fischereizonen durchaus handfestes Konfliktpotenzial bargen, zeigen die Auseinandersetzungen zwischen Island und Großbritannien sowie der Bundesrepublik Deutschland, vgl. Rupprecht, Katrin: Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972– 1976. Krisenfall für die NATO? Anhand der Akten des Auswärtigen Amtes. Frankfurt a. M. 2011. 26 Vgl. grundlegend zum Prinzip der permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen Schrijver, Nico: Sovereignty over Natural Resources. Balancing Rights and Duties. Cambridge 1997.

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Das gemeinsame Erbe der Menschheit als Element einer NIEO? Für diejenigen Staaten, die der technologischen Mittel und des Know-hows entbehrten, erschien die Internationalisierung des Gebiets außerhalb nationaler Hoheitsrechte vor allem deshalb erstrebenswert, als sich damit eine Monopolstellung der Industriestaaten im Meeresbergbau vermeiden ließ. Hier konnten die G-77, die in der UN-Generalversammlung mittlerweile zahlenmäßig überlegen waren, einen Erfolg verbuchen, indem sie mithilfe ihrer Stimmgewalt eine Moratoriumsresolution für die Nutzung des Meeresbodens außerhalb nationaler Hoheitsgewalt durchsetzten.27 Von großer Bedeutung war auch die Meeresbodendeklaration, die den Tiefseeboden außerhalb nationaler Jurisdiktion bereits 1970 als gemeinsames Erbe der Menschheit erklärte.28 Denn anhand dieses Verfügungs- und Nutzungskonzepts ergab sich eine Möglichkeit, Verhältnisse globaler Ungleichheit aufzubrechen, wie der Botschafter Costa Ricas während der zweiten Sitzungsrunde von UNCLOS III in Caracas betonte: The Conference [has] to ensure that no colonial systems will be established similar to those used in the past by the great Powers to exploit lands which they [have] brought under their domination. The task ahead [is] to formulate for the sea the system of international justice that mankind [has] so far been unable to establish on land.29

Das Meer, das, mit Grotius argumentiert, bis dato als res communis omnium dem Gemeingebrauch offenstand und ergo „frei“ war, eröffnete demnach die Möglichkeit eines Präzedenzfalls für die globale Ressourcenverwaltung. Denn mittels des GEM und der damit verbundenen kooperativen Bewirtschaftung der Ressourcen des Tiefseebodens durch die internationale Gemeinschaft ließe sich das System der Entwicklungshilfe durch wirkliche Partizipation ersetzen. Allerdings schmälerte diesen scheinbaren Erfolg, dass der Status der Tiefseebodenressourcen als gemeinsames Erbe schon bald angefochten wurde. Denn während die Entwicklungsländer davon ausgingen, dass das GEM-Prinzip bereits mit der Meeresbodendeklaration rechtlich bindend geworden war, vertraten die 27 UN Doc. A/Res/2574 D (XXIV): Question of the Reservation Exclusively for Peaceful Purposes of the Sea-Bed and the Ocean Floor, and the Subsoil Thereof, Underlying the High Seas Beyond the Limits of Present National Jurisdiction, and the Use of Their Resources in the Interests of Mankind. 15.12.1969. 28 UN Doc. A/Res/2749 (XXV): Declaration of Principles Governing the Sea-Bed and the Ocean Floor, and the Subsoil Thereof, beyond the Limits of National Jurisdiction. 17.12.1970. 29 A/CONF.62/SR.14: Adress by Gonzalo Facio (Costa Rica). 14th Plenary Meeting. 20.6.1974. S. 39.

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meisten Industrieländer den Standpunkt, dass das GEM in einer zukünftigen Konvention erst noch zu konkretisieren sei.30 In der Lesart der G-77 durfte demnach keine Aneignung der Tiefseebodenressourcen durch einen Staat oder ein Unternehmen stattfinden. Demgegenüber zielten die Befürworter einer Konkretisierung auf freie Aktivitäten in „dem Gebiet“ außerhalb nationaler Jurisdiktion (the Area) ab, bis eine eindeutige rechtliche Regelung verabschiedet würde. Da die Entscheidungsfindung auf der Konferenz im Konsensverfahren und mit einem package deal, also der Abstimmung über ein Gesamtpaket, erfolgen sollte, konnte die G-77 nicht wie in der Generalversammlung auf ihre Stimmgewalt bauen.31 Vielmehr waren sie auf die Kooperation von Meeresbergbaustaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Japan und der Sowjetunion angewiesen. Denn um an den erwarteten Gewinnen aus dem Tiefseebergbau teilzuhaben, bedurften die Entwicklungsländer des Know-Hows und des technischen Equipments eben jener Staaten, ohne deren Mitwirkung schlicht überhaupt kein Meeresbergbau stattfinden würde.32 Ein weiterer Konfliktpunkt zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, anhand dessen die G-77 ihre Einheit demonstrieren konnten, betraf die Ausgestaltung der Meeresbodenbehörde. Die Vorschläge der Industriestaaten präferierten ein Lizenzsystem, innerhalb dessen der Behörde nur sehr eingeschränkte Entscheidungskompetenz, Unternehmen demgegenüber weitgefasste Befugnisse zukamen.33 Das internationalistische Managementkonzept der G-77 hingegen sah vor, dass diese Behörde alle Angelegenheiten des Tiefseebergbaus regeln sollte – von der Exploration bis zur Ausbeutung.34 Für Letzteres sollte ein behördeneigenes Unternehmen (enterprise) geschaffen werden. Des Weiteren sahen die Vorschläge der G-77 vor, bevorzugt qualifizierte Personen aus Entwicklungsländern als Behördenpersonal einzustellen. Darüber hinaus sollte ein Vertrag die Industrieländer dazu verpflichten, der Behörde das notwendige Know-How zur Verfügung zu stellen sowie kontinuierlich Technologietransfer zu leisten.35 Insofern ähnelten die Forderungen der G-77 denen der im selben Jahr verabschiedeten NIEO-Resolution deutlich: vor allem im Hinblick auf den Technologietransfer, die Stärkung der UN-Kontrolle durch internationale Gremien anstelle privater und staatlicher Instanzen sowie die Regulierung internatio30 Statement Christopher Pinto (Sri Lanka). Report of the Chairman of the informal meetings. 11th meeting of the First Committee. 06.08.1974. A/CONF.62/C.1/SR.11. S. 53. 31 Friedheim, Robert L.: Negotiating the New Ocean Regime. Columbia, SC 1993. S. 33. 32 Vgl. Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 125. 33 Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 133. 34 A/CONF.62/C.1/L7: Text on conditions of exploration and exploitation prepared by the Group of Seventy-Seven. Basis conditions. 16.8.1974. 35 A/CONF.62/C.1/L7, Text on conditions of exploration and exploitation.

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naler Konzerne und die Schaffung internationaler Entscheidungsinstitutionen.36 In diesem Sinne stellten die Meere und ihre Ressourcen – und insbesondere der Tiefseeboden – ein Testgebiet für die globale Umverteilung dar. Gleichwohl schwelten bereits bei dieser scheinbar eindeutigen Positionierung der G-77 Konflikte unter der Oberfläche. Denn ein künftiger Meeresbergbau würde die Rohstoffmärkte beeinflussen und damit die Landproduzenten unter den Entwicklungsländern treffen. Während least developed countries ohne nennenswerte Bodenschätze (z.B. Sri Lanka, Mali, Nepal und Honduras) Gewinne aus dem Meeresbergbau als Finanzierungsquelle für Entwicklungsprojekte betrachteten, sahen sich Schwellenländer wie Indien und Brasilien als potentielle Partner in zukünftigen Joint Ventures mit Unternehmen aus Industrieländern. Demgegenüber fürchteten die großen Kupferexporteure wie Chile, Peru, Zaire und Sambia um ihre Exporterträge, die sie durch den Meeresbergbau gefährdet sahen.37 Um mögliche Auswirkungen des Tiefseebergbaus auf die Landproduzenten zu prognostizieren, hatte der UN-Generalsekretär in Kooperation mit der UNCTAD bereits 1970 eine Studie zu diesem Thema in Auftrag gegeben.38 Die Ergebnisse bestätigten die Befürchtungen der Landproduzenten. Der Vertreter der UNCTAD bei der Seerechtskonferenz, Arsenis, schlussfolgerte, dass es zwingend notwendig sei, zusätzliche Erträge aus dem Meeresbergbau in eine umfassende Rohstoffstrategie zu integrieren, da ansonsten die Importstaaten, bzw. vor allem die konsumierenden Industrieländer, profitieren würden. Die Landproduzenten hätten demgegenüber mit Wachstumshemmungen und Einbußen bei den Exporterlösen zu rechnen. Wenngleich die Meeresrohstoffe zu einem weltweiten Wirtschaftswachstum beitrügen, würde sich zugleich der Einkommensunterschied zwischen Entwicklungs- und Industrieländern vergrößern. Um die landproduzierenden Entwicklungsländer zu schützen, schlug er deswegen kompensierende Maßnahmen sowie Preis- und Produktionskontrollen vor.39 Produktionseinschränkungen zugunsten der Landproduzenten konnten aber wiederum den Nutzen der Nichtproduzenten unter den Entwicklungs-

36 A. CONF.62/L.24: Mexico, draft preambular paragraphs. 5.5.1978. Mexiko wollte sogar einen Verweis auf die NIEO in die Präambel der Seerechtskonvention einfügen lassen. 37 United Nations Archives (UNA). Fond Secretary-General Kurt Waldheim (1972–1981). S0913-0001-06. Bernardo Zuleta (Undersecretary-General Special Representative of the Secretary-General to the Third United Nations Conference on the Law of the Sea) to the SecretaryGeneral. 30.12.1977: Mr. Shevchenko’s Memorandum to you of 28.9.1977 regarding Law of the Sea. 38 Economic implications of sea-bed mineral development in the international area: a report of the Secretary-General. A/CONF.62/25. 22.5.1974. 39 Statement made by Mr. G. D. Arsenis on behalf of the Secretary-General of the United Nations Conference on Trade and Development at the 42nd meeting. A/CONF.62/32. 15.07.1974.

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ländern schmälern, wie der UNCTAD-Report nahelegte. Diese Schlussfolgerung führte innerhalb der G-77 zu Uneinigkeit, denn vor allem lateinamerikanische und asiatische Staaten waren nicht bereit, sich zugunsten der Gruppensolidarität einer nichtproduzierenden Minderheit unterzuordnen.40 Einen Vorschlag Chiles aufgreifend versuchte daraufhin Kolumbien, möglichst viele Mitglieder der G-77 davon zu überzeugen, dass sie ebenfalls Landproduzenten von mindestens einem der infrage kommenden Metalle seien.41 Diese Strategie ging auf und mit Unterstützung einflussreicher Industriestaaten wie Australien und Kanada konnten die Landproduzenten ihren Belangen Berücksichtigung verschaffen und die G-77 zumindest zeitweilig nach außen hin Solidarität und Einheit demonstrieren.42

Permanente Souveränität über natürliche Ressourcen als Hemmschuh in der Seerechtsfrage Schienen die Entwicklungsländer also in der Meeresbergbaufrage verhältnismäßig geeint, zeigte sich in den Verhandlungen um ausschließliche Wirtschaftszonen ein gänzlich anderes Bild. Die Bereitschaft der Küstenländer, Konzessionen an Binnen- und geographisch benachteiligte Staaten zu machen, war gering. Bereits vor Beginn der Seerechtskonferenz hatten lateinamerikanische Küstenstaaten das Konzept einer patrimonial sea propagiert. In der Montevideo-Deklaration von 1970 proklamierten sie das Recht der Staaten, maritime Grenzen zu errichten, „in accordance with their geographical and geological characteristics and with factors governing the existence of marine resources and the need for their rational utilisation“.43 Die Santo Domingo-Deklaration von 1972 präzisierte das Konzept weiter: The coastal State has sovereign rights over the renewable and non-renewable natural resources, which are found in the waters, in the sea-bed and in the subsoil of an area adjacent to the territorial sea called the patrimonial sea […]. The breadth of this zone should 40 UNA. Fond Secretary-General Kurt Waldheim (1972–1981). S-0913-0001-06. Briefing on the Status of the Law of the Sea Conference. 08.6.1977/10.06.1977. 41 Written statement by the delegation of Colombia to the Plenary. 03.04.1980. A/CONF.62/ WS/9; siehe auch Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 115; Chile: Working paper on the economic implications for the developing countries of the exploration of the sea-bed beyond the limits of national jurisdiction. A/CONF.62/C.1/L.11. 26.08.1974. 42 Vgl. hierzu etwa die Berücksichtigung der Landproduzenten im Verhandlungstext. Informal Composite Negotiating Text. A/CONF.62/WP.10. 15.07.1977. Section 5. 43 Zitiert in Nelson, Patrimonial Sea, S. 675.

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be the subject of an international agreement, preferably of an international scope. The whole of the area of both the territorial sea and the patrimonial sea, taking into account geographic circumstances, should not exceed a maximum of 200 nautical miles.44

Dies entsprach weitgehend der später auf UNCLOS III verhandelten ausschließlichen Wirtschaftszone, die den Küstenstaaten Souveränität über die lebenden und nichtlebenden Ressourcen innerhalb eines Gebiets von 200 Seemeilen zusprach. Die grundsätzliche Idee setzte sich dort recht schnell durch, entsprach sie doch ebenso den Interessen mächtiger Industriestaaten (so verfügten bspw. Kanada, Australien und Norwegen über besonders lange Küstenabschnitte).45 Lediglich die genaue Ausgestaltung war noch auszuhandeln.46 Die im Konzept der ausschließlichen Wirtschaftszone inhärente Forderung nach Souveränität über die natürlichen marinen Ressourcen passte sich auf den ersten Blick nahtlos in die Programmatik der NIEO ein, innerhalb derer Rohstoffsouveränität und souveräner Handel Kernforderungen waren. Jedoch offenbarte sich hier ein kaum überwindbarer Interessengegensatz innerhalb der G-77, nämlich zwischen den Küstenländern unter ihnen und denjenigen mit keiner oder kurzer Küste. Die Binnenentwicklungsländer forderten eine gleichberechtigte Teilhabe nicht nur am gemeinsamen Erbe auf dem Tiefseeboden, sondern auch an allen anderen marinen Ressourcen. Ihre Forderungen brachten sie 1974, noch vor der zweiten Verhandlungsperiode der Seerechtskonferenz, in Form der Kampala-Deklaration vor. Darin forderten sie einen freien Zugang zum Meer, mit der Begründung „[…] that the peaceful uses of the sea and the development and enjoyment of its resources represent vital and crucial elements of trade, commerce and communications in the world, which in turn play a very significant role in the process of economic development of nations […]“.47 Der Zugang zu marinen Ressourcen stellte demnach einen entscheidenden Beitrag für die Teilhabe am Weltmarkt dar. Basierend auf dem Prinzip der Gleichheit aller Staaten und dem Recht auf Entwicklung forderten 44 Specialized Conference of Caribbean Countries Concerning the Problems of the Sea. Declaration of Santo Domingo. 9.6.1972. In: The American Journal of International Law 66 (1972). Nr. 5. S. 918–921. 45 Platzöder, Renate/Vitzthum, Wolfgang Graf: Zur Neuordnung des Meeresvölkerrechts auf der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. Vorgeschichte, Verfahren, Problemfelder, Vorentscheidungen. Ebenhausen/Isar 1974. S. 59f. 46 So forderten u. a. Chile, Kanada, Neuseeland, Island und Norwegen auch die Kontrolle über Schifffahrts- und Überflugrechte innerhalb der 200 Seemeilen-Zone, was die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wiederum strikt ablehnten, vgl. Canada, Chile, Iceland, India, Indonesia, Mauritius, Mexico, New Zealand and Norway: working paper. A/CONF.62/L.4. 26.07.1974. 47 The Kampala Declaration. A/CONF.62/23. 02.05.1974.

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die Binnenstaaten eine Mitnutzung der Häfen und weiterer infrastruktureller Einrichtungen der Transitstaaten sowie Nutzungsrechte für die Anschlusszonen zu den Küstenmeeren.48 Die Auffassung, dass das Meer in seiner Gesamtheit ein gemeinsames Erbe darstelle, schwang in der Kampala-Deklaration mit, konnte jedoch nicht in dieser Deutlichkeit formuliert werden, da dies die einheitliche Linie der G-77 und die Forderung nach Ressourcensouveränität unterlaufen hätte. Indem die Binnenstaaten nationale Meereszonen prinzipiell anerkannten, dabei aber zugleich Zugang zum Welthandel und Teilhabe an marinen Ressourcen in der Anschluss- bzw. Wirtschaftszone forderten, versuchten sie, diesen Widerspruch zu umgehen.49 Die geographisch benachteiligten und die Binnenentwicklungsländer hatten natürlich prinzipiell ein Interesse daran, den ausbeuterischen Praktiken fernfischender Staaten einen Riegel vorzuschieben. Gleichzeitig gebot es ihre ungünstige geographische Lage, die Ausweitung nationaler Zonen abzulehnen, sofern sie nicht selbst Anteil an darin befindlichen Ressourcen haben würden. So sprach sich Bolivien, von dessen fünf Nachbarstaaten vier zum „200-mile club“ gehörten, ausdrücklich gegen nationale Wirtschaftszonen aus. Stattdessen schlug die bolivianische Delegation eine „regional tributary zone“ vor. Schließlich hätten die auf Boliviens Territorium entspringenden Flüsse erst zum Nährstoff- und damit zum Fischreichtum vor Südamerikas Küsten beigetragen.50 Wenn man es mit der Eliminierung jeglicher Formen der Hegemonie und Abhängigkeiten ernst meine, müsse das GEM-Prinzip ebenfalls auf die Ressourcen innerhalb von 200 Seemeilen angewandt werden.51 Dieser Versuch, die moralische Schlagkraft des GEM auch innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer einzusetzen, schlug fehl. Daran änderten auch die Unterstützung durch den Nachbarstaat Paraguay sowie ein ähnlicher Vorschlag Sambias nichts.52 48 Kampala Declaration. 49 „With respect to the exercise of jurisdiction over resources in areas adjacent to the territorial sea, the land-locked States and other geographically disadvantaged States shall have equal rights with other States and without discrimination in the exercise of such jurisdiction in accordance with international standards to be drawn up by the Third United Nations Conference on the Law of the Sea.“ In: Kampala Declaration. 50 „The sea [must] return to all countries, including non-coastal countries, part of the vast mineral riches which [have] created the regional economic zone or regional patrimonial sea. […] Now the sea must pay tribute to those countries which for millions of years [have] nourished it.“ Statement des bolivianischen Vertreters Tredennick zur Wirtschaftszone. Summary records of meetings of the Second Committee. 25th meeting, A/CONF.62/C.2/SR.25. 5.8.1975. S. 199. 51 Statement Tredennick, S. 199. 52 Bolivia and Paraguay: draft articles on the „regional economic zone“. A/CONF.62/C.2/L.65. 6.8.1974; Zambia: draft articles in keeping with the declaration of developing land-locked and

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Dass sich das GEM trotz seiner Karriere auf dem Meeresboden nicht gegen die nationale Ressourcensouveränität im Rahmen der Wirtschaftszonen durchzusetzen vermochte, belegt auch das Scheitern des nepalesischen Vorschlags eines Common Heritage Fund.53 Wie der Vertreter des Himalayastaates, Shailendra Kumar Upadhyay, 1977 am mittlerweile vierten Verhandlungstext monierte, trügen die aktuellen Vorschläge nicht zu einer gemeinschaftlichen Nutzung der Ressourcen in den Wirtschaftszonen bei, und dies, obwohl sich gerade dort die ertragreichsten Ressourcenvorkommen befänden. Er rechnete vor, dass mit der geplanten 200-Seemeilen-Regelung nur 25 Staaten die Kontrolle über rund 76 % der Wirtschaftszonen erlangen würden. Dreizehn dieser Staaten seien Industrieländer, deren Anteil an den 76 % um die 48 % betragen würde. „It will make the rich richer and the poor poorer“, konstatierte er angesichts der Tatsache, dass folglich nur noch 28 % für zwölf Entwicklungsländer übrigblieben.54 Dies stand sowohl der Idee des gemeinsamen Erbes als auch der einer neuen und gerechteren Weltwirtschaftsordnung diametral entgegen. Gleichwohl schlossen sich GEM- und Wirtschaftszonenkonzept nicht gegenseitig aus. Statt die Ressourcen innerhalb der 200 Seemeilen nationaler Souveränität zu unterstellen, plädierte Upadhyay dafür, insbesondere die mineralischen Ressourcen innerhalb dieser Zonen ebenfalls als GEM zu begreifen und aus deren Abbau erzielte Profite in eine Art Entwicklungsfonds einzuzahlen.55 Sowohl Einzahlungen als auch Ausschüttungen sollten sich am Pro-Kopf-Einkommen der Staaten bemessen. Reiche Staaten hätten demnach einen höheren Beitrag zu leisten, wohingegen die ärmeren Staaten umfangreichere Zuwendungen erhielten.56 Der Common Heritage Fund war also nicht nur ein Versuch, das GEM wiederzubeleben, dessen innovatives Potential im Laufe der Verhandlungen sukzessive in den Hintergrund gerückt war. Gleichzeitig bot sich hier die Möglichkeit, das internationalistische GEM enger mit dem Umverteilungsgedanken zu verbinden, wie er von den G-77 im Rahmen der NIEO propagiert wurde. Einzig, der nepalesische Vorschlag stieß bei den Küstenländern auf wenig Gegenliebe. Weder war eine Vergemeinschaftung der küstennahen Ressourcen im Sinne industrialisierter Staaten wie dem auf der Konferenz einflussreiche Norwegen, das den Aufbau einer eigenen Offshore-Industrie vor Augen hatte,

other geographically disadvantaged States adopted at Kampala in March 1974. A/CONF.62/C.2/ L.95. 20.9.1976. 53 Draft Articles on the Common Heritage Fund. A/CONF.62/65. 8.5.1978. 54 Letter dated 5.5.1978 from the representative of Nepal to the President of the Conference. A/ CONF.62/65. 8.5.1978. 55 Letter Nepal. 56 Common Heritage Fund, Art. 304.

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noch im Interesse der Küstenländer in der G-77.57 Hier waren es vor allem die Staaten mit breitem Schelf, wie bspw. Peru, Senegal, Argentinien und Somalia, die sich ihre nationale Souveränität nicht wieder nehmen lassen wollten.58 Dem Verhandlungsergebnis der Konferenz vorauseilend kam hinzu, dass bereits viele Küstenländer 200-Seemeilen-Zonen ausgerufen hatten und das Konzept der ausschließlichen Wirtschaftszone somit bereits zum Völkergewohnheitsrecht avanciert war.59

Einheit durch Konfrontation? Trotz aller Widersprüchlichkeiten versuchten die G-77 in gemeinsamen Statements auf der Seerechtskonferenz als Einheit aufzutreten. Dass dies noch einigermaßen glaubwürdig wirkte, hing u. a. damit zusammen, dass sie in Opposition zu den Vereinigten Staaten treten und somit Einheit in der Abgrenzung zu einem gemeinsamen Gegner finden konnten. Bereits seit 1976 lag dem US-Kongress ein nationales Gesetz zum Tiefseebergbau vor, welches sich auf die Freiheit der Hohen See á la Grotius berief und damit Meeresbergbau in Eigeninitiative ermöglichen sollte.60 Die G-77 verwahrten sich vor solchen unilateralen Maßnahmen, die sie als Völkerrechtsverletzung empfanden, und beriefen sich dabei auf die Meeresbodendeklaration von 1970, mit der ihrer Meinung nach alle Staaten den internationalen Charakter des Gebiets anerkannt hatten.61 Indem sich die Amerikaner nach dem US-Regierungswechsel von Carter zu Reagan sogar zeitweilig aus den Verhandlungen zurückzogen – die zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor dem Abschluss standen –, erhöhten sie nochmals den Druck auf die Verhandlungspartner, den Konventionstext ihren Wünschen entsprechend anzupassen. Umso deutlicher wurden die Beschwörungsformeln, mit

57 Summary records of the 102nd plenary meeting. A/CONF.62/SR.102. 18.05.1978; vgl. auch Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 271. 58 Vgl. Wolf, Dritte Seerechtskonferenz, S. 270. 59 Extavour, Winston C.: The Exclusive Economic Zone. A Study of the Evolution and Progressive Development of the International Law of the Sea. Geneva 1979. 60 Deep Seabed Hard Minerals Bill. 91th Congress. 2nd Session. S.713. In: Dokumente der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. New Yorker Sessionen 1976, Bd. 4. Hrsg. von Renate Platzöder. Ebenhausen/Isar 1977. S. 1217; Statement by Ambassador Elliot L. Richardson. Special Respresentative of the President for the Law of the Sea Conference to the Plenary Meeting. September 15, 1978. In: Dokumente, Hrsg. von Platzöder, S. 282ff. 61 Statement declaring the position of the Group of 77 on unilateral legislation affecting the resources of the deep seabed. 15 September 1978. In: Platzöder, Dokumente, S. 275f.

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denen die G-77 sich selbst an das übergeordnete Ziel einer reformierten Weltwirtschaftsordnung erinnerten: The Group of 77 has consistently tried in international fora to remove the built in inequities in the present international economic system which discriminates heavily against the countries of the Third World. In this age of interdependence we are committed to improve the lot of our people through a restructuring of international economic relations. The exploitation of the economic resources of the Area which have been declared to be the Common Heritage of Mankind provides us with a unique opportunity to avoid the mistakes of the past.62

Nach außen demonstrierten sie mit derlei Statements nochmals ihre Einheit, die sie in der Tatsache fanden, gemeinsam globalen Ungleichheiten zu unterliegen. Der endgültige Konventionstext, der 1982 in Montego Bay/Jamaica verabschiedet wurde, entsprach im Hinblick auf den Tiefseebergbau in vielen Punkten tatsächlich den Interessen der G-77. So war etwa eine starke Meeresbodenbehörde vorgesehen und auch die Abstimmungsmodalitäten in Rat und Versammlung selbiger waren für die Entwicklungsländer günstig.63 Die Konvention krankte allerdings daran, dass wichtige Industriestaaten ihr die Zustimmung versagten. Der Text war zwar mit großer Mehrheit angenommen worden, jedoch ließen die erforderlichen 60 Ratifikationen auf sich warten. Inkrafttreten konnte das neue Seerecht somit erst 1994, nachdem klar geworden war, dass in absehbarer Zeit kein nennenswerter Meeresbergbau stattfinden würde und die Industrieländer mittels eines „Durchführungsübereinkommens“ eine Änderung in der Meeresbergbaufrage durchgesetzt hatten. Die Dominanz der Behörde war deutlich geschmälert, die Auflagen für den Technologietransfer waren weggefallen und die Behörde durfte keine Produktionsbegrenzungen zugunsten der Landproduzenten mehr festlegen.64 Das Projekt, das GEM als Vehikel im Kampf um eine neue NIEO zu nutzen, war somit gescheitert. Bis heute findet kein kommerzieller Meeresbergbau statt.

62 UNA. Fond Secretary-General Kurt Waldheim (1972–1981). S-0913-16-8. Statement by Imam Ul Haque, Chairman of the Group 77 at the Third United Nations Conference on the Law of the Sea. Plenary. 10.6.1981, S. 10. 63 Sparenberg, Ole: Meeresbergbau nach Manganknollen (1965–2014). Aufstieg, Fall und Wiedergeburt? In: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 67 (2015). Nr. 4–5. S. 128–145. Hier S. 137. 64 Sparenberg, Meeresbergbau, S. 141.

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Schluss Die Agenda der dritten Seerechtskonferenz bot vielfache Anknüpfungspunkte für das Programm einer NIEO. Da der allergrößte Teil der Meere bisher der grotianischen Freiheit unterlegen hatte und nun ein künftiges Nutzungsregime zu verhandeln war, bei dem nicht nur die Aneignung von Raum, sondern auch von natürlichen Ressourcen zur Debatte stand, bestand zudem die Möglichkeit, weichenstellende Präzedenzfälle für die Beseitigung globaler Ungleichheiten zu schaffen. Gleichzeitig barg die Konferenz ein hohes Spaltungspotential, das insbesondere die doch eigentlich an einem gemeinsamen Auftreten interessierte Gruppe der Entwicklungsländer auseinandertrieb. Erstens erzeugten die Konferenzthemen bzw. Verhandlungsgegenstände ein Spannungsfeld zwischen Internationalismus und Nationalismus. Während die einen anhand des Konzepts des gemeinsamen Erbes der Menschheit sowohl die Tiefsee und teilweise die Ressourcen in den Wirtschaftszonen (Common Heritage Fund) internationalisieren wollten, strebten insbesondere die Küstenstaaten unter den G-77 nach Ressourcensouveränität, die sie in diesem Fall als rein nationales Projekt betrachteten und nicht als gemeinschaftliches Ziel der „Dritten Welt“. Zweitens: Statt das GEM als Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe zu verstehen und sich hinter dieses Konzept zu stellen, splitterten sich die G-77 in der Wirtschaftszonenfrage entlang des geographischen Faktors auf. Damit ließen sie das Umverteilungspotential des GEM weitgehend ungenutzt. Einzig die geographischen Aspekte bestimmten über die zeitweiligen Allianzen (Binnenstaaten, Landproduzenten bzw. Länder mit terrestrischen Ressourcen und solche ohne, Küstenländer etc.) und damit letztlich auch über die Solidarität innerhalb der G-77. Obwohl Souveränität über natürliche Ressourcen eine der Hauptforderungen der NIEO war, wirkte diese Forderungen auf der Seerechtskonferenz wie ein Hemmschuh und verhinderte, dass die Entwicklungsländer das für sie günstige Prinzip des GEM nutzten, um Ressourcengerechtigkeit durchzusetzen. Drittens war die in der Meeresbergbaufrage in Opposition zu den Industrieländern zur Schau getragene Solidarität in erster Linie symbolischer Natur. Die unter der Oberfläche schwelende Uneinigkeit zwischen Landproduzenten und Importstaaten in der G-77 führte mitunter dazu, dass das GEM zu einem Papiertiger degradiert wurde. Im Jahr 2019 wird das gemeinsame Erbe der Menschheit immer noch diskutiert (beispielsweise im Kontext mariner Biodiversität und genetischer Ressour-

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cen), jedoch ist seine Anwendung in erster Linie theoretischer Natur.65 Als Folge der Einrichtung ausschließlicher Wirtschaftszonen sehen sich insbesondere Küstengesellschaften im globalen Süden den Folgen sogenannten Ocean Grabbings ausgeliefert, in Zuge dessen marine Ressourcen durch hochtechnisierte und finanziell potente Lizenznehmer ausgebeutet werden.

65 Nyman, Elizabeth [u. a.]: 71 countries are negotiating a new biodiversity treaty. In: The Washington Post, 19.9.2018. https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2018/ 09/19/the-world-has-begun-negotiating-a-marine-biodiversity-treaty-heres-what-you-need-toknow/?noredirect=on (16.9.2019).

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Der Konflikt, der nicht stattfand: Ressourcen, Interdependenz, Sicherheit und die Erwartung des Nord-Süd-Konflikts in den 1970er Jahren Einleitung Um die Jahrtausendwende meinte Hans-Peter Schwarz über die Entwicklung der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, dass der Kalte Krieg nun eine „abgeschlossene Epoche“ und der „Ost-West-Konflikt trotz seiner Ausdehnung, Intensität und Gefährlichkeit“ letztlich ein „transitorischer Konflikt“ gewesen sei.1 Universalgeschichtlich bedeutsamer und von langfristiger, in das 21. Jahrhundert hineinreichender Wirkung sei demgegenüber die Dekolonisierung, aus der ein neues Staatensystem hervorgegangen sei.2 Tatsächlich erschien es schon vielen Beobachtern in den 1960er und verstärkt in den 1970er Jahren so, als ob die weltpolitische Konfliktachse im Begriff sei, sich um 90 Grad zu drehen, sodass bereits die Gegenwart, in noch stärkerem Maße aber die Zukunft weniger von einem Ost-West als vielmehr von einem Nord-Süd-Konflikt geprägt werden würde.3 Weltweit und vor allem in den Foren der Vereinten Nationen, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit äußerten Politiker, Ökonomen, Politik- und Sozialwissenschaftler sowie Journalisten die Beobachtung und Erwartung, dass Konfrontationen zwischen den Ländern der sogenannten Dritten Welt bzw. des globalen Südens und den industrialisierten Ländern des Nordens um Zugänge zu Ressourcen, die Ordnung der Weltwirtschaft und die globale Machtverteilung zunehmen.

1 Schwarz, Hans-Peter: Fragen an das 20. Jahrhundert. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 48 (2000). S. 1–36. Hier S. 15; ders.: Ost-West, Nord-Süd. Weltpolitische Betrachtungen zur deutschen Teilungsepoche. In: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des OstWest-Konflikts. Hrsg. von Hans Günter Hockerts. München 2003. S. 1–27. 2 Schwarz, Fragen an das 20. Jahrhundert. 3 Siehe dazu auch: Graf, Rüdiger: Das Petroknowledge des Kalten Krieges. In: Macht und Geist im Kalten Krieg. Hrsg. von Bernd Greiner. Hamburg 2011. S. 201–222; ders: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren. München 2014. S. 317–351, 358–364; der Beitrag greift empirisch auf diese Arbeiten zurück, generalisiert sie aber in Bezug auf die Nord-Süd-Problematik. https://doi.org/10.1515/9783110682625-018

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Im Folgenden werde ich danach fragen, wie es dazu kam, dass sich die Erwartung eines Nord-Süd-Konflikts in den 1970er Jahren verbreitete und warum sie in den 1980er Jahren wieder zurückging. Dabei versuche ich zugleich zu klären, ob und inwiefern die Nord-Süd-Begrifflichkeit das analytische Potenzial besitzt, die ökonomischen und politischen Konflikte der 1970er Jahre zu erfassen. Meine Antwort auf die letzte Frage fällt grundsätzlich skeptisch aus: In den 1970er Jahren, auf dem angeblichen Höhepunkt des Nord-Süd-Konflikts, fand dieser Konflikt nicht statt, jedenfalls dann nicht, wenn man darunter die Auseinandersetzung einer kohärenten Gruppe von Ländern des Südens mit einer ebenso kohärenten Gruppe des Nordens um die globale Verteilung wirtschaftlicher und politischer Macht versteht. In analytischer Hinsicht unterscheidet sich der Begriff daher vom Ost-West-Konflikt, der die internationalen Beziehungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1989/91 prägte, weil die Hegemonialmächte USA und Sowjetunion dazu in der Lage waren, ihre Verbündeten durch wirtschaftlichen oder militärischen Druck zu Konformität zu zwingen. Demgegenüber waren die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen und politischen Interessen sowohl der Entwicklungsländer des Südens als auch der Industrieländer des Nordens schon in den 1970er Jahren zu heterogen, als dass sich eine auch nur annähernd ähnlich einheitliche globale Konfliktkonstellation entlang der Nord-Süd-Achse ergeben hätte. Auch wenn es sowohl zwischen den Ländern des Nordens als auch zwischen denen des Südens einen kleinsten gemeinsamen Nenner gab, war dieser nur in seltenen Fällen in mehr als Symbolpolitik zu übersetzen. Während die zeitgenössische Diagnose des Ost-West-Konflikts also berechtigterweise in die historiographische Analysesprache übernommen wird, verfügt der Begriff des Nord-Süd-Konflikts nicht über das gleiche analytische Potenzial, die Struktur und Entwicklung der internationalen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erhellen. Vielmehr muss er analog zu vergleichbaren Termini wie Modernisierung oder Globalisierung als Quellenbegriff verstanden und konsequent historisiert werden.4 Angesichts der intellektuellen Durchschlagskraft des Nord-Süd-Konflikts in den Debatten über Weltwirtschaft und internationale Ordnung in den 1970er Jahren ist also danach zu fragen, wie er, obwohl er die ökonomische und politische Gegenwart kaum adäquat erfassen konnte, zu einem wirkmächtigen Erwartungsbegriff5 wurde, der im Süden mit Hoffnung und im Norden mit Furcht

4 Siehe dazu ausführlich: Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley [u.a.] 2005. 5 Zum Konzept des Erwartungsbegriffs siehe klassisch: Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von Otto Brunner u. Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972–1997. S. XIII–XXVII.

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versehen wurde. Wenn Politiker, Ökonomen, Politik- und Sozialwissenschaftler im Norden oder im Süden einen Nord-Süd-Konflikt diagnostizierten, geschah dies immer vor dem Hintergrund konkreter wirtschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Erfahrungen und Interessen. Diese müssen herausgearbeitet werden, um die Wirkung des Nord-Süd-Konflikts als Erwartungsbegriff zu erfassen. Insbesondere, so werde ich im Folgenden argumentieren, basierte die Konstruktion eines globalen Nord-Süd-Konflikts auf drei zeitgenössischen Vorstellungen: der Annahme, dass die natürlichen Ressourcen begrenzt seien und bald knapp würden; der Theorie, dass sich nationale Souveränität unter den Bedingungen komplexer wirtschaftlicher Interdependenz verändere und der Wahrnehmung eines grundsätzlichen Wandels von Sicherheitsverständnissen angesichts der Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Als diese Annahmen in den 1980er Jahren an Überzeugungskraft verloren, wurde es auch zunehmend unplausibler, weltpolitische Konflikte anhand einer Nord-Süd-Dichotomie zu begreifen. Daher entfaltete der Nord-Süd-Konflikt nur in einer kurzen historischen Episode Deutungsmacht. Auch wenn der Konflikt bis in die Gegenwart aufgerufen und aktualisiert werden kann, macht er doch keine wesentliche Konfliktlinie der internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar. Im Zentrum der Erwartung eines die Weltpolitik prägenden Nord-Süd-Konflikts standen die in den Foren der Vereinten Nationen diskutierten Fragen der Verfügungsgewalt über natürliche Ressourcen und der Veränderung der weltwirtschaftlichen Austauschbeziehungen. Sie kristallisierten sich um das Problem des Öls, nachdem die Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) hier in den 1960er Jahren zu einem wirksamen Akteur geworden war, und um die von der Gruppe der 77 (G-77) vorgebrachte Forderung nach einer ‚New International Economic Order‘, die ich im ersten Abschnitt untersuche. Zweitens werde ich dann anhand der Auseinandersetzungen um die Ölkrise 1973/74 sowie der internationalen Rohstoffkonferenzen in der Mitte der 1970er Jahre zeigen, dass Ablauf und Ausgang dieser Konflikte nicht zu verstehen sind, wenn man sie als Frontbildung zwischen den Ländern des Nordens und des Südens begreift, wie das zeitgenössisch oft getan wurde. Auf diese Weise werden die politischen und diskursiven Annahmen herausgearbeitet, die den Nord-Süd-Konflikt begründeten, um dann abschließend kurz zu beleuchten, wie deren Erosion in den 1980er Jahren zum Abschwung des Nord-Süd-Deutungsmusters führte.

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Permanente Souveränität über Öl und die Erwartung des Nord-Süd-Konflikts In der Dekolonisierungswelle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlangte eine ganze Reihe von Staaten ihre formale Unabhängigkeit, die spätestens mit ihrem Eintritt in die Vereinten Nationen weltweit anerkannt wurde. Die Regierungen der Länder, die aufgrund ihres niedrigeren ökonomischen Entwicklungsniveaus im Zeitalter des Ost-West-Konflikts als ‚Dritte Welt‘ bezeichnet wurden und sich auch selbst als solche zu begreifen begannen, mussten aber rasch feststellen, dass sich ihre neu gewonnene Souveränität nicht im erwarteten Maß in politische Macht und wirtschaftliche Prosperität umsetzen ließ. Denn, so beobachteten auch die zeitgenössischen Dependenztheoretiker, ihre Volkswirtschaften waren auf die ehemaligen Kolonialmächte ausgerichtet und blieben von diesen abhängig.6 Der Mangel an ökonomischer Souveränität ergab sich vor allem aus den Rohstoffbeziehungen, die schon im Zentrum der kolonialen Ausbeutung gestanden hatten. Auch nach der formalen Unabhängigkeit wurden die Rohstoffe der ehemaligen Kolonien zumeist noch immer auf der Basis älterer Konzessionen von multinationalen Konzernen gefördert, deren Hauptsitze in den Metropolen der westlichen Industrieländer lagen. Die antikolonialen Eliten, die oft an Universitäten in Europa und den USA ausgebildet worden waren, machten daher die permanente Souveränität über die auf ihrem Territorium befindlichen Rohstoffe zu ihrem Kernanliegen und wollten sie im internationalen Recht verankert wissen. An die politische Dekolonisation sollte sich eine ökonomische anschließen, um die Grundlage dafür zu schaffen, die ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Metropolen und ehemaligen Kolonien zu deren Gunsten zu verändern.7 Einen ersten Versuch, Ressourcensouveränität herzustellen, unternahm der iranische Premierminister Mohammed Mossadegh, als er zu Beginn der 1950er Jahre die Anglo-Iranian Oil Company verstaatlichte, nachdem diese sich unwillig gezeigt hatte, die iranische Regierung im gewünschten Maß an den Erlösen aus der Ölförderung zu beteiligen, die auf Basis einer Konzession aus dem Jahr 1901 erfolgte.8 Mossadegh scheiterte bekanntlich nicht nur, weil die multinatio6 Anghie, Antony: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge 2005. S. 199. 7 Anghie, Imperialism, S. 211f. und Dietrich, Christopher R. W.: Oil Revolution. Anticolonial Elites, Sovereign Rights, and the Economic Culture of Decolonization. Cambridge 2017. S. 26– 60. 8 Elm, Mostafa: Iran’s oil crisis of 1951–1953. New Documents and Old Realities. In: Harvard Middle Eastern and Islamic Review 2.2 (1995). S. 46–61; Marsh, Steve: HMG, AIOC and the An-

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nalen Ölfirmen ihren Machtverlust verhindern wollten und kein iranisches Öl mehr abnahmen, sondern auch weil die britischen und US-amerikanischen Geheimdienste seinen Sturz orchestrierten, was den westlichen Einfluss in der Region sichern sollte, längerfristig aber untergrub.9 Die gescheiterte Nationalisierung im Iran führte den eng miteinander kommunizierenden antikolonialen Eliten auch in anderen Ländern vor Augen, dass es angesichts der globalen Machtverhältnisse nicht möglich war, permanente Souveränität über die auf dem eigenen Territorium befindlichen Rohstoffe im nationalen Alleingang herzustellen.10 Stattdessen versuchten sie die Foren der Vereinten Nationen, in denen sich die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten veränderten, dazu zu nutzen, ihre Forderungen nach einer grundsätzlichen Reform der Weltwirtschaftsordnung zu formulieren und durchzusetzen. Nachdem die 1960er Jahre von den Vereinten Nationen zur Entwicklungsdekade erklärt worden waren, geschah dies ab 1964 vor allem in der United Nations Conference for Trade and Development (UNCTAD), wo sich die Entwicklungsländer in der Gruppe der 77 organisierten und die Prinzipien einer ‚New International Economic Order‘ entwickelten.11 Um 1970 erhielt die Diskussion über eine Neue Weltwirtschaftsordnung neuen Schwung durch die Politik der OPEC. Die OPEC war 1960 von den Regierungen von Venezuela, dem Iran, Irak, Kuwait und Saudi-Arabien gegründet worden, um ihre Verhandlungsposition gegenüber den Ölfirmen wie auch den westlichen Regierungen zu verbessern, den Preisverfall des Öls zu stoppen und höhere Gewinnbeteiligungen durchzusetzen.12 Im Verlauf der 1960er Jahre wurde die OPEC, der Libyen, Indonesien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Algerien beitraten, tatsächlich immer mächtiger.13 1968 formulierten die Mitgliedsländer das Ziel, ihre Ölförderung selbst zu kontrollieren, und beriefen sich dabei auf das „inalienable right of all countries to exercise permanent sovereignty over their natural resources in the interest of their national developglo-Iranian Oil Crisis. In Defence of Anglo-Iranian. In: Diplomacy & Statecraft 12.4 (2001). S. 143–174. 9 Little, Douglas: Mission Impossible. The CIA and the Cult of Covert Action in the Middle East. In: Diplomatic History 28 (2004). S. 663–701. 10 Dietrich, Oil Revolution. 11 Williams, Marc: Third World Cooperation. The Group of 77 in UNCTAD. London 1991; Rahman, Mahfuzur: World Economic Issues at the United Nations. Half a Century of Debate. Boston 2002. S. 146; Chamberlain, Waldo/Hovet, Thomas/Hovet, Erica: A Chronology and Fact Book of the United Nations 1941–1976. Dobbs Ferry 1976. 12 Skeet, Ian: OPEC: Twenty-Five Years of Prices and Politics. Cambridge 1988. S. 1. 13 Parra, Francisco R.: Oil Politics. A Modern History of Petroleum. London/New York 2004. S. 89–110; Skeet, OPEC: Twenty-Five Years, S. 1; Al-Sowayegh, Abdulaziz: Arab Petropolitics. London/Canberra 1984; Danielsen, Albert L.: The Evolution of OPEC. New York 1982.

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ment“.14 Aufgrund der Entwicklungen auf dem Ölmarkt, der hohen Ölverbrauchssteigerungen und einer internen Strategieharmonisierung gelang es der OPEC zu Beginn der 1970er Jahre in Verhandlungen mit den Ölfirmen sowohl Preissteigerungen als auch eine höhere Gewinnbeteiligung durchzusetzen. Schon die heute weitgehend vergessenen Abkommen von Teheran und Tripolis von 1971 wurden zeitgenössisch als Wende der internationalen Beziehungen gewertet, weil hier erstmals eine Gruppe von Ländern der ‚Dritten Welt‘ machtpolitisch erfolgreich war.15 Parallel begannen Förderländer wie Saudi Arabien, Iran, Algerien, Libyen und Irak, die auf ihrem Territorium befindlichen Ölfelder und Anlagen der multinationalen Ölkonzerne schrittweise oder mit einem Schlag zu verstaatlichen.16 Nachdem der Ölverbrauch in den westlichen Industrienationen weiter anstieg und auf den US-amerikanischen Ölfeldern am Limit gefördert wurde, sodass diese weder Einfluss auf den Ölpreis nehmen noch im Falle von Importausfällen die Förderung erhöhen konnten, hatte sich die Marktposition der OPEC so weit verbessert, dass sie im Oktober 1973 die Verhandlungen mit den multinationalen Konzernen einseitig aufkündigen und den Ölpreis innerhalb weniger Wochen vervierfachen konnte. In Verbindung mit dem zeitgleichen Embargo beziehungsweise Produktions- und Lieferbeschränkungsregime, das die arabischen Förderländer verhängten, um die arabische Seite im Jom-Kippur-Krieg mit Israel zu unterstützen, löste dies hektische Aktivität in den Regierungen der westlichen Industrieländer aus, um die Auswirkungen der nun so genannten Ölkrise zu minimieren.17 Jenseits der Diskussionen um Embargo und Preissteigerungen wurde die Ölkrise von einer breiten Debatte über die gegenwärtige und zukünftige Struktur der Weltwirtschaft begleitet. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Vertreter der OPEC und der Organization of Arab Petroleum Exporting Countries (OAPEC) sich nicht als Kämpfer in eigener Sache, sondern als Speerspitze der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen der ‚Dritten Welt‘ und den Industrieländern präsentierten, die schon länger in der UNCTAD geführt worden war.18

14 Resolutions of the Sixteenth OPEC Conference, Vienna, June 24–25, 1968. In: Official Resolutions and Press Releases. 1960–1980. Hrsg. von Organization of the Petroleum Exporting Countries. Oxford 1980. S. 80–83. 15 Hartsborn, Jack E.: Erdöl als Faktor wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Verhandlungen von Tripolis und Teheran zwischen den OPEC-Staaten und den internationalen Ölgesellschaften. In: Europa-Archiv 26 (1971). S. 443–455; Chevalier, Jean-Marie: Le nouvel enjeu pétrolier. Paris 1973. 16 Dietrich, Oil Revolution, S. 228–262. 17 Dazu ausführlich: Graf, Öl. 18 Garavini, Giuliano: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South 1957–1986. Oxford 2012. S. 162.

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Auch wenn die OAPEC ihre Embargo-Deklaration vor allem mit dem NahostKonflikt begründete, erklärte sie doch auch, man habe bisher die eigenen, begrenzten Ölreserven im Interesse der Industrieländer in einem Maß ausgebeutet, das über die nationalen wirtschaftlichen Interessen hinausgegangen sei. Dazu sei man nun nicht mehr bereit.19 Die sogenannte Ölwaffe wurde also nicht nur im Nahost-, sondern auch im Nord-Süd-Konflikt eingesetzt.20 Auch die OPEC präsentierte sich mit den Verstaatlichungen und Preiserhöhungen als Avantgarde der ‚Dritten Welt‘ und stellte noch 1975 „mit Nachdruck fest“, sie sei „in jener Richtung vorgegangen […], in die alle Entwicklungsländer, als Rohmaterialerzeuger, für die Verteidigung der legitimen Rechte ihrer Völker ihre Hoffnung setzen.“21 Vor allem während des Höhepunkts der Ölkrise, als der saudi-arabische Ölminister Scheich Zaki Yamani und sein algerischer Kollege Belaid Abdessalam aufgrund der Sorgen um Ölengpässe und daraus resultierende wirtschaftliche Probleme in den Hauptstädten westlicher Industrieländer als Staatsgäste hofiert wurden, erklärten Vertreter von OPEC und OAPEC, westliche Politiker erlebten, was ihnen selbst schon lange vertraut sei, nämlich was es bedeute, über wirtschaftliche Belange nicht souverän entscheiden zu können.22 Die Bewegung der Blockfreien und die Gruppe der 77 nutzten ihrerseits das Macht- und Drohpotenzial, das OPEC und OAPEC zu Beginn der 1970er Jahre und vor allem in der Ölkrise entfalteten, um ihren bis dahin im Wesentlichen moralisch begründeten Forderungen nach einer Reform des Weltwirtschaftssystems Nachdruck zu verleihen.23 Innerhalb der Blockfreienbewegung spielten Wirtschafts- und Rohstofffragen auf den Konferenzen in Lusaka (1970)24 und Georgetown (1972) eine immer größere Rolle.25 Schon wenige Wochen vor dem Beginn der Ölkrise zeigten sich die Blockfreien im September 1973 auf ihrem Gipfel in Algier unzufrieden mit dem Stand der Verhandlungen über eine Neue Weltwirtschaftsordnung in der UNCTAD und forderten eine Sondersitzung der 19 OAPEC: Communique. Conference of Arab Oil Ministers. In: The Arab Oil Weapon. Hrsg. von Jordan J. Paust u. Blaustein u. Albert Paul. Dobbs Ferry 1977. S. 42–43. 20 Graf, Rüdiger: Making Use of the Oil Weapon. Western Industrial Nations and Arab Petropolitics in 1973/74. In: Diplomatic History 36.1 (2012). S. 185–208. 21 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (im Folgenden: PA AA). Bestand 71 (Referat 405). 113905. Konferenz der Herrscher und Staatsoberhäupter der Mitgliedsländer der OPEC: Feierliche Erklärung vom 6. März 1975. 22 Graf, Öl. 23 Kunkel, Sönke: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren. In: VfZ 60.4 (2012). S. 555–577. 24 Siehe den Beitrag von Jonas Kreienbaum in diesem Band. 25 Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927-1992). Berlin [u.a] 2015. S. 221f.

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Generalversammlung der Vereinten Nationen zu diesem Thema. Nachdem OPEC und OAPEC im letzten Viertel des Jahres 1973 zeigten, welche Macht rohstoffreiche Entwicklungsländer ausüben könnten, wenn sie sich zusammenschlössen, erhielt diese Forderung neue Brisanz und wurde im folgenden Jahr umgesetzt.26 In der Person ihres Vorsitzenden, des algerischen Staatschefs Houari Boumedienne, war die Blockfreienbewegung eng mit OPEC und OAPEC verbunden. Wesentlich auf sein Betreiben hin kam es im Frühjahr 1974 zur Sondertagung der Vereinten Nationen über Rohstoff- und Entwicklungsprobleme.27 In New York schien sich dann tatsächlich ein Nord-Süd-Konflikt abzuzeichnen, insofern die Vertreter der Industrieländer, die lediglich über die Lösung der Energieproblematik diskutieren wollten, einer relativ einheitlichen Front von Entwicklungsländern gegenüberstanden, die eine Neue Weltwirtschaftsordnung forderten.28 So erinnerte der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen vor der Sondersitzung daran, er habe schon in seinen Berichten über die 26. und 27. Generalversammlung darauf hingewiesen, dass „die Nord-Süd-Konfrontation den Ost-West-Konflikt hier [bei den UN, Anm. RG] weitgehend abgelöst“ habe.29 Im Vorfeld der Sitzung entwickelte Boumedienne die Position von OPEC und Blockfreien, dass die Ölkrise kein begrenzter oder auch nur begrenzbarer Konflikt sei, bei dem es um die Energiebeziehungen zwischen zwei Gruppen von Ländern gehe. Vielmehr sei sie Teil der globalen Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd um die Prinzipien der Weltwirtschaftsordnung und daher auch nur im Rahmen von deren Neugestaltung lösbar.30 In seiner Eröffnungsrede der Sondersitzung betonte er im Rückgriff auf die algerischen Erfahrungen, ohne Kontrolle über die Rohstoffförderung und -preise werde es keine wirtschaftliche Entwicklung in der ‚Dritten Welt‘ geben.31 OPEC und OAPEC hätten diese Einsicht konsequent umgesetzt und bildeten daher die Avantgarde der ‚Dritten Welt‘. Die Ölkrise wurde somit zum Paradigma, wie der Nord-SüdKonflikt ausgetragen werden sollte, weil die Neue Weltwirtschaftsordnung von 26 Williams, Third World Cooperation; Rahman, World Economic Issues, S. 147. 27 Sondertagung der Vereinten Nationen über Rohstoff- und Entwicklungsprobleme. In: Europa-Archiv 29.2 (1974). S. 277–300. 28 PA AA. B1 MB/010. Bd. 580. Unterrichtung für die Kabinettsitzung am 20.3.1974 über Sondersitzung der VN, 19.3.1974. 29 PA AA. B1 MB/010. Bd. 580. unogerma an AA: Entwurf über die Errichtung einer NIEO, 28.3.1974. 30 Le Monde (5.2.1974), zitiert in: Middle East Economic Survey (MEES) 17.16 (1974). S. x. 31 Boumedienne, Houari: „Address to the General Assembly of the UN“. In: Sixth Special Session. Plenary Meetings. Verbatim Records of Meetings 9 April–2 May 1974, 2208th Plenary Meeting, 10 April 1974. Hrsg. von United Nations. General Assembly. New York, NY 1976. S. 1–11. Hier S. 4; als wenig analytischen Gesamtüberblick über die Debatte siehe: Rahman, World Economic Issues, S. 149–160.

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einer Transformation der Rohstoffmärkte ausgehen müsse: „First the developing countries must take over their natural resources, which implies, essentially, nationalizing the exploitation of these resources and controlling the machinery governing the determination of their prices.“32 Nach der Nationalisierung sollten die Regierungen Kartelle mit anderen Ländern bilden und so durch partiellen Souveränitätsverzicht in internationalen Organisationen versuchen, ihre ökonomische Souveränität zu sichern und auch den Prozess der ökonomischen Dekolonisation abzuschließen.33 Den Delegierten der Generalversammlung lagen sowohl eine Deklaration und ein Aktionsprogramm der G-77 als auch ein französischer Entwurf für eine Regulierung der Rohstoffmärkte und ein Hilfsprogramm für die am wenigsten entwickelten Länder vor. Von der Declaration on the Establishment of a New International Economic Order, die auf Basis des Entwurfs der G-77 in der Schlusssitzung angenommen wurde, distanzierten sich die Vertreter der USamerikanischen und der Bundesregierung umgehend. Die Deklaration, wie auch das zu ihrer Verwirklichung verabschiedete Aktionsprogramm, entwarf eine ökonomische Ordnung, die erklärtermaßen auf „equity, sovereign equality, interdependence, common interest and cooperation among all states“ basieren sollte.34 Neben allgemeinen Souveränitätsprinzipien sollte in der ‚New International Economic Order‘ vor allem die „full permanent sovereignty of every state over its natural resources and all economic activities“ gesichert werden und zwar einschließlich des Rechts auf die Nationalisierung und Regulierung transnationaler Firmen, einer Fixierung des Verhältnisses von Rohstoff- und Industriegüterpreisen, um die Verschlechterung der „terms of trade“ zu verhindern, sowie des Rechts, Präferenzregionen und Produzentenvereinigungen zu bilden.35 Vor allem diese Punkte lehnten die Industrieländer ab: Ihrer Ansicht nach musste die Entschädigung für Enteignungen nach internationalem Recht erfolgen, eine Bindung der Rohstoffpreise an die Preise von Fertigprodukten

32 Boumedienne, Address to the General Assembly, S. 6; dies wurde in der Bundesregierung auch so wahrgenommen; PA AA. B1 MB/010. Bd. 580. Hermes an BM: Sondersitzung der VNGeneralversammlung über Rohstoff-Fragen am 9. April in New York, 8.3.1974. 33 Boumedienne, Address to the General Assembly, S. 6; siehe auch Garavini, Giuliano: Completing decolonization. The 1973 ‚oil shock‘ and the struggle for economic rights. In: International History Review 33.3 (2011). S. 473–487. 34 „Declaration on the Establishment of a New International Economic Order 1974“ in United Nations. General Assembly: Resolutions Adopted during Its Sixth Special Session 9 April–2 May 1974. New York 1974. S. 3–5. 35 Declaration; siehe auch: „Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order“. In: United Nations. General Assembly: Resolutions Adopted during Its Sixth Special Session 9 April–2 May 1974. New York 1974. S. 5–12.

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drohte die ohnehin starke Inflation zu verschärfen, und Produzentenkartelle widersprächen den Prinzipien eines offenen Welthandels.36 Der Eindruck, dass die Vereinten Nationen zunehmend von einem Austragungsort des Ost-West- zu einer Arena des Nord-Süd-Konflikts geworden seien, schien sich auf der 29. Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 1974 wie auch auf den Tagungen des UN-Umweltprogramms (UNEP) und der UNCTAD im Oktober 1974 zu bestätigen. Im Dezember 1974 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen – gegen die Stimmen der USA, der Bundesrepublik, Großbritanniens, Belgiens, Luxemburgs und Dänemarks sowie bei zehn Enthaltungen – die Charter of Economic Rights and Duties of States, an der im Rahmen der UNCTAD schon seit 1972 gearbeitet worden war. Die wiederum rechtlich nicht bindende Charta bestätigte die wesentlichen Punkte der Deklaration zur Neuen Weltwirtschaftsordnung: die permanente Souveränität über Rohstoffe, das Recht zu Nationalisierungen nach nationalen Gesetzen sowie zur Bildung von Produzentenvereinigungen.37 Der Konflikt über die rechtliche Grundlage der Nationalisierungen setzte sich auf der dritten Generalkonferenz der UN für industrielle Entwicklung und Zusammenarbeit (UNIDO) im März 1975 genauso fort wie auf der 7. Sondersitzung der Generalversammlung der UN, auf der im September 1975 die Resolution on Development and International Economic Co-Operation verabschiedet wurde.38 Im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik urteilte man schon in Reaktion auf die 6. Sondersitzung der Vereinten Nationen, dass es den Entwicklungsländern vor dem „Hintergrund der Erdölsituation erstmals [gelungen sei] weitreichende wirtschaftspolitische Beschlüsse zulasten der Industrieländer unter Anwendung massiven politischen Drucks und unter Einsatz ihrer Stimmenmehrheit“ durchzusetzen.39 Auch wenn die Beschlüsse rechtlich nicht bindend seien, dürfe man ihre „politisch-moralische Wirkung“ in zukünftigen Auseinandersetzungen nicht unterschätzen. Im Kontext der Ölkrise entfaltete der Nord-Süd-Konflikt

36 PA AA. B 1 (Referat 010). 580. Dohms: Ortex Nr. 48 zur 6. Sondergeneralvers, 3.5.1974. 37 United Nations. General Assembly 1974: 3281 Charter of Economic Rights and Duties of States, Last modified 04 October 2016. https://digitallibrary.un.org/record/190150/files/ A_RES_3281%28XXIX%29-EN.pdf (9.1.2020). 38 United Nations. General Assembly (Hrsg.): Plenary Meetings. Verbatim Records of the 23236th to the 2349th Meetings, 1–16 September 1975. New York 1976; Development and International Economic Co-operation 1976. In: United Nations: Resolutions Adopted by the General Assembly during its Seventh Special Session, 1–16 September 1975. New York 1976. S. 3–10. 39 PA AA. Bestand 71 (Referat 405). 113905. Deutsche Haltung zur Erklärung und zum Aktionsprogramm über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung (6. Sonder-Generalversammlung der VN über Rohstoffe und Entwicklung, 9.4.–2.5.1974 in New York), 21.11.1974.

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also auf symbolisch-rhetorischer Ebene in den Vereinten Nationen eine hohe diskursive Wirkung. Daher erlebte der Topos des Nord-Süd-Konflikts in der Mitte der 1970er Jahre auch einen medialen Aufschwung. Namhafte Politikwissenschaftler und Experten für internationale Beziehungen argumentierten nun ebenfalls, dass die globale Achse der Blockkonfrontation in Bewegung geraten sei und der OstWest-Konflikt von der Auseinandersetzung zwischen dem entwickelten, aber rohstoffarmen Norden und dem rohstoffreichen, aber unterentwickelten Süden verdrängt werde. Schon vor Beginn der Ölkrise hatte etwa C. Fred Bergsten, der von 1969 bis 1971 Kissingers Assistent für internationale Wirtschaftsbeziehungen im National Security Council gewesen war, mit einem Aufsatz in Foreign Policy vor der „Gefahr aus der Dritten Welt“ gewarnt und damit eine breite Debatte ausgelöst.40 Bergsten argumentierte, dass die Länder der ‚Dritten Welt‘ durch die Entwicklungen im Rohstoffbereich Druck auf die Industrieländer ausüben könnten und zwar auch auf die USA, die sich angesichts des Vietnamkrieges nicht mehr sicher sein könnten, eine militärische Konfrontation zu gewinnen. Das Produzentenkartell, das sich im Ölbereich gebildet hatte, so mutmaßte er, würde der Prototyp für kommende, andere Rohstoffkartelle sein.41 Die Erwartung, dass man sich im Westen in naher Zukunft „one, two, many OPECs“ gegenüber sehen werde,42 wurde von der zeitgenössisch weit verbreiteten Annahme gestützt, auf die auch Politiker sowohl im Süden als auch im Norden immer wieder rekurrierten, dass man nicht nur beim Öl, sondern auch bei anderen Rohstoffen in ein Zeitalter knapper werdender Ressourcen eintreten werde. Auch wenn die Schlussfolgerungen des Berichts für den Club of Rome über die „Limits to Growth“ nahezu einhellig von Ökonomen und Politologen abgelehnt wurden,43 entfaltete das Schlagwort von den Ressourcengrenzen doch eine erhebliche diskursive Wirkung, und Ressourcenkriege schienen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. In der New York Review of Books beschrieb beispielsweise der Mediävist Geoffrey Barraclough die Gegenwart als „the opening stage of a struggle for a new world order, a search for positions of strength in a global realignment in which the weapons (backed, naturally, by the ultimate sanction of force) are food and fuel.“44 Weil parallel die Entspannungspolitik 40 Bergsten, C. Fred: The Threat from the Third World. In: Foreign Policy 11 (1973). S. 102–124. 41 Bergsten, Threat, S. 110. 42 One, two, many OPEC’s…? In: Foreign Policy 14 (1974). S. 56–57. 43 Sussex University Science Policy Research Unit: The Limits to Growth Controversy: World Dynamics Models Described and Evaluated, Resources, Population, Agriculture, Capital, Pollution, Energy. Guildford 1973. 44 Barraclough, Geoffrey: Wealth and Power. The Politics of Food and Fuel. In: New York Review of Books 7. August 1975. S. 23–30. Hier S. 23.

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zwischen den Supermächten militärische Konflikte, die der Logik des Kalten Krieges folgten, unwahrscheinlicher machte und zugleich die ‚Sicherheitsdecke‘ („the security blanket“) beiseiteschob, die ökonomische Konflikte bisher abgeschwächt habe,45 schien jetzt Platz für einen grundsätzlichen Konflikt zwischen ‚Erster‘ und ‚Dritter Welt‘ zu sein, wobei die ‚zweite Welt‘ des Ostens in diesen Diskussionen meist nicht reflektiert wurde. In langer historischer Perspektive meinte Barraclough, die epochale Bedeutung der Ölkrise sei „the way it has served as a catalyst for the wider and more fundamental confrontation between the poor nations and the rich, which threatens to engulf the world. The issue today is not oil, in any narrow sense, but whether the existing economic system, upon which Western preponderance is based, can withstand the challenge from the Third World.“46 Auch viele Autoren aus der sogenannten Dritten Welt, wie zum Beispiel der ehemalige iranische Finanzminister Jahangir Amuzegar, lokalisierten die Ölkrise und die Veränderungen auf dem internationalen Ölmarkt innerhalb eines grundsätzlicheren Nord-Süd-Konflikts, der die neue Ära der Weltpolitik kennzeichne: The North-South struggle, brewing for years, had its first climactic manifestation in the 1971–72 negotiations between the Organization of Petroleum Exporting Countries and the multinational oil companies for a higher crude oil price. […] The oil price adjustments of 1973–74, and the consequences of the Arab oil embargo, made the world realize – however reluctantly and painfully – that the inevitable had finally occurred. The blissful era of plentiful and ridiculously cheap hydrocarbon fuels from the Middle East came to a fateful end.47

Unabhängig davon, ob die Begrenzung des Ölflusses aus dem Mittleren Osten politisch oder in letzter Instanz geologisch gedacht wurde, argumentierten Amuzegar und andere, dass die Lösung des Konflikts nur in einer neuen gerechteren Weltwirtschaftsordnung gelingen könne, die den Interessen aller Rechnung trage.48

45 Bergsten, Threat, S. 102–124, hier S. 107. 46 Bergsten, Threat, S. 29. 47 Amuzegar, Jahangir: The North-South dialogue. From conflict to compromise. In: Foreign Affairs 54.3 (1976). S. 547–562. Hier S. 547. 48 Ders.: The Oil Story. Facts, Fiction, and Fair Play. In: Foreign Affairs 51.4 (1973). S. 676–689; ders.: OPEC in the Context of the Global Power Equation. In: Denver Journal of International Law and Policy 4 (1974). S. 221–228; siehe auch den marxistischen Überblick über die intensiven Debatten zur Neuen Weltwirtschaftsordnung von: Hoskins, Linus A.: The New International Economic Order. A Bibliographic Essay. In: Third World Quarterly 3.3 (1981). S. 506–527.

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Damit war Amuzegars Sicht nicht weit entfernt von amerikanischen Interdependenztheoretikern, nach deren Ansicht die Intensivierung der globalen wirtschaftlichen Verflechtungen dazu geführt hatte, dass Industrieländer ökonomisch verwundbarer waren, ohne ihre klassischen militärischen Instrumente zur Machtsicherung einsetzen zu können.49 Selbst hartgesottene Realisten urteilten vor dem Hintergrund der Ölkrise und der sich anschließenden Forderungen aus der ‚Dritten Welt‘, die internationale Konfliktgeographie habe sich grundsätzlich geändert und werde das auch in Zukunft weiter tun. Der britische Politikwissenschaftler Hedley Bull meinte etwa, die OPEC verfüge zwar bisher über nur wenige Instrumente klassischer Machtpolitik, auf längere Sicht würden den Ländern jedoch durch die Öleinnahmen ganz andere Machtmittel zur Verfügung stehen.50 Hans J. Morgenthau sah in der „Trennung von militärischer und politischer Macht“, also der Tatsache, dass militärisch unterlegene Staaten Macht über militärisch, technologisch und wirtschaftlich weit überlegene Länder ausüben konnten, in klassisch konservativer Sprache eine „Perversion“ der Weltpolitik.51 Staaten, die nur in einem sehr begrenzten Sinn souverän zu nennen seien, verfügten mit dem Öl über ein Mittel, die westliche Zivilisation nachhaltig zu zerstören.52 Nationale Souveränität und ihre militärischen Sicherungsinstrumente schienen vielen Beobachtern in einer „komplex interdependenten Welt“ angesichts der kommenden Ressourcenkonflikte obsolet geworden zu sein.53 Die Nord-Süd-Semantik war also ein Versuch, die Veränderungen der globalen Konfliktgeographie in den 1970er Jahren, die sich in der Ölkrise und den Debatten über die ‚New International Economic Order‘ zu zeigen schienen, umfassend zu deuten. Dabei erfolgte die Konstruktion des Nord-Süd-Konflikts mit verschiedenen Intentionen. Vertreter von OPEC und OAPEC wollten sich auf diese Weise die Unterstützung der ‚Drittweltländer‘ ohne eigene Ölvorkommen sichern, denen die Ölpreiserhöhungen und Förderbeschränkungen zunächst einmal unmittelbar schadeten. Die Regierungen der ‚Dritten Welt‘ und der 49 Bergsten, C. Fred/Keohane, Robert O./Nye, Joseph S.: International Economics and International Politics. A Framework for Analysis. In: International Organization 29.1 (1975). S. 3–36. 50 Bull, Hedley: Arms Control and World Order. In: International Security 1.1 (1976). S. 3–16. Hier S. 8; siehe auch den Text von Martin Deuerlein in diesem Band. 51 Morgenthau, Hans J.: World Politics and the Politics of Oil. In: Energy. The Policy Issues. Hrsg. von Gary D. Eppen. Chicago 1975. S. 43–51. Hier S. 44; Hirschman, Albert O.: The Rhetoric of Reaction. Perversity, Futility, Jeopardy. Cambridge 1991. 52 Siehe auch zustimmend: Eppen, Gary D.: Introduction. In: Energy. The Policy Issues. Hrsg. von dems. Chicago 1975. S. xi–xiv. Hier S. xi. 53 Brown, Seyom: New Forces in World Politics. Washington 1974. S. 3; Bull, Arms control, S. 9; Bergsten [u.a.], International Economics.

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Blockfreien-Bewegung gingen auf dieses Angebot ein, weil ihnen die Macht und das Drohpotenzial der OPEC die Möglichkeit zu eröffnen schien, ihren schon länger formulierten Forderungen nach einer grundsätzlichen Revision der Weltwirtschaftsordnung Nachdruck zu verleihen und sie über die Vereinten Nationen durchzusetzen. Auch in den Industrieländern sprachen Politiker vom NordSüd-Konflikt, wenn sie das Ziel verfolgten, Interessengegensätze zwischen den industrialisierten Ländern im Lichte einer gemeinsamen Herausforderung zu überwinden und etwa einheitliche Energiesicherheitsstrategien zu formulieren. Vor allem wer, von der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen ausgehend, für eine ökologische Reform der industriellen Produktion eintrat, nutzte die NordSüd-Problematik. Nicht zufällig saßen in der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen der Vereinten Nationen neben Willy Brandt mit Edward Heath, Haruki Mori und Olof Palme auch andere Politiker, die gerade während der Ölkrise Regierungsverantwortung gehabt hatten und nun nach einem Ausgleich der Interessen von „Nord und Süd“ suchten, um „das Überleben“ auf dem Planeten zu sichern.54 Auch Politikwissenschaftler, die das Szenario eines Nord-Süd-Konflikts entwarfen, taten das nicht nur als desinteressierte Beobachter, sondern oft mit der Absicht, ihre schon zuvor formulierten Thesen zu stützen, dass die internationalen Beziehungen von wachsender Interdependenz gekennzeichnet seien.55

Widerstreitende Interessen und Konfliktdynamiken im Süden und im Norden Nachdem gezeigt wurde, dass die Nord-Süd-Semantik in den 1970er Jahren zu einem verbreiteten Deutungsmuster wurde, um die wesentliche Konfliktlage der internationalen Beziehungen zu beschreiben, dieser Aufschwung aber auch auf mehr oder weniger handfeste Interessen zurückgeführt wurde, soll im Folgenden ihre Validität überprüft werden. Ist es analytisch weiterführend, die Auseinandersetzungen der 1970er Jahre als Nord-Süd-Konflikt zu begreifen oder waren die Interessen und Strategien sowohl im Norden als auch im Süden zu heterogen, als dass die Konfliktdynamiken auf diese Weise erhellt werden könnten? Auch unter zeitgenössischen Politikwissenschaftlern und Experten für internationale Beziehungen war es keineswegs Konsens, dass sich die Welt 54 Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen: Das Überleben sichern. Der Brandt-Bericht der Nord-Süd-Kommission. Frankfurt am Main 1980. 55 Graf, Petroknowledge.

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vom Ost-West- in einen Nord-Süd-Konflikt hineinbewege. Gegen C. Fred Bergstens Warnungen vor der Gefahr aus der ‚Dritten Welt‘ und den kommenden Rohstoffkartellen, die den Westen unter Druck setzen würden, hatte etwa schon Stephen D. Krasner argumentiert, beim Öl handele es sich um eine Ausnahme, die nicht als Blaupause für künftige Zusammenschlüsse von Rohstoffproduzenten dienen könne. Denn nur im Fall von OPEC und OAPEC kämen drei Elemente zusammen, die für die Durchsetzung von Lieferbeschränkungen konstitutiv seien: die stillschweigende Duldung durch multinationale Konzerne, deren Gewinne in der Ölkrise ebenfalls stiegen, vorangegangene hohe Einnahmen, aus denen die Förderländer ausreichende Rücklagen gebildet hatten, und ein von allen geteiltes politisches Ziel.56 Außerdem habe nur das Öl eine so zentrale Stellung für die Wirtschaften der Industrieländer, dass Lieferbeschränkungen ernsthaften Druck auf deren Regierungen ausüben könnten.57 Nachdem sich schon James Akins in der US-Administration nicht mit seiner Auffassung durchgesetzt hatte, dass die Gefahr von Lieferunterbrechungen durch die arabischen Förderländer so groß sei, dass die Nahostpolitik verändert werden müsse, kamen die Experten des National Security Councils schon vor der Sondersitzung der Vereinten Nationen 1974 auch für den Nord-Süd-Konflikt insgesamt zu beruhigenden Schlussfolgerungen: Kartellartige Zusammenschlüsse anderer Rohstoffproduzenten seien sehr unwahrscheinlich und die OPEC folglich kein Modell, nach dem die ‚Dritte Welt‘ eine Auseinandersetzung mit dem Westen führen könne.58 Retrospektiv stellte denn auch der Politikwissenschaftler John C. Campbell bereits 1977 fest, dass die Revolution der internationalen Beziehungen, die 1973/74 viele erwartet hätten, ausgeblieben sei. Stattdessen hätten sich nur die Beziehungen zwischen einigen Ölförder- und einigen Ölimportländern verändert: „We have now had four years in which to observe and absorb some lessons of the oil revolution. Perhaps the principal one is that it remains just that, a changed relationship between some oil producers and some oil consumers. It has not generated OPECs for other commodities. It has not emancipated the Third World from its poverty, nor has it ushered in a new world order.“59 Selbst 56 Krasner, Stephen D.: Oil is the Exception. In: Foreign Policy 14. Spring (1974). S. 68–84. Hier S. 79; siehe auch: Kemp, Geoffrey: Scarcity and strategy. In: Foreign Affairs 56.2 (1978). S. 396– 414. 57 Krasner, Oil, S. 83; ähnlich auch: Löwenthal, Richard: Committee Discussions on Oil and Strategy. Report to the Conference. In: The Middle East and the International System. Vol. 2: Security and the Energy Crisis. London 1975. S. 38–41; Campbell, John C.: Oil Power in the Middle East. In: Foreign Affairs 56.1 (1977). S. 89–110. Hier S. 90. 58 Dietrich, Oil Revolution, S. 283. 59 Campbell, Oil Power.

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im Ölbereich seien die Veränderungen begrenzt: Zwar sei es den Industrieländern tatsächlich nicht möglich, ihre militärischen Machtmittel auszuspielen und die Ölfelder zu besetzen – eine Position, die allerdings auch nicht universal geteilt wurde.60 Zugleich könnten aber auch die Förderländer ihre Macht nicht beliebig nutzen und den Preis immer weiter steigern, ohne sich letztlich selbst zu schaden, weil die Industrieländer ihre Energiesektoren diversifizieren und ihre Ölimporte aus OPEC-Ländern reduzieren würden.61 Selbst die Erwartung verschärfter Ressourcenkonflikte durch insgesamt geringer werdende Reserven hatte sich für Campbell 1977 deutlich relativiert: „But if this twilight of the oil era is but a brief moment in human history, it is going to seem a long, long time to those of this present generation who have to cope with its problems.“62 Entsprechend hielt er eine plötzliche Verschiebung globaler Konfliktlinien für unrealistisch, sondern erwartete lange Anpassungszeiträume, von deren Ausgang es abhing, wie die Machtverteilung aussehen würde. Blickt man auf die tatsächlichen politischen Auseinandersetzungen, die während und nach der Ölkrise ausgetragen wurden, so zeigen sich sehr komplexe historische Machtverhältnisse und Interessenlagen innerhalb des Nordens und des Südens. Die ökonomischen Ausgangslagen und politischen Interessen der Länder waren so unterschiedlich, dass der Nord-Süd-Konflikt immer mehr als Konstrukt erscheint, das nicht geeignet ist, die Konfliktdynamik zu erfassen. Schon innerhalb der OPEC selbst, also innerhalb des paradigmatischen Kartells, das einen Vorgeschmack auf die kommenden Ressourcenkonflikte und Auseinandersetzungen des Nord-Süd-Konflikts geben sollte, waren die Interessen vielfältig. Zwischen den Mitgliedsländern bestand keineswegs Einigkeit über die Preis- und Förderpolitik, sondern ihre Positionen hingen von den jeweiligen nationalen wirtschaftspolitischen Bedingungen ab. So fiel es Ländern mit großer Fördermenge und entsprechend hohen finanziellen Rücklagen wie dem Iran oder Saudi-Arabien erheblich leichter, eine flexible Förder- und Preispolitik zu betreiben als anderen. Aufgrund der hohen Ölreserven des Landes und seiner Stellung als „swing producer“ konnte vor allem die saudi-arabische Regierung die anderen Förderländer zur Übernahme ihrer Strategie zwingen beziehungsweise jede andere Strategie unterlaufen. Folglich nahm sie über ihren Ölminister Yamani die entscheidende Rolle in der OPEC ein. Entsprechend verhandelte auch die US-amerikanische Regierung nicht mit der OPEC insgesamt, sondern Saudi-Arabien stand im Zentrum von Kissingers Bemühungen, die Ölkrise zu 60 Tucker, Robert W.: Oil. The Issue of American Intervention. In: Commentary 59.1 (1975). S. 21–31. 61 Campbell, Oil Power, S. 109. 62 Campbell, Oil Power, S. 110.

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beenden und die gemeinsame Front der Förderländer zu zerstören.63 In der OAPEC bildete Saudi-Arabien das Zentrum der moderaten Kräfte, die allerdings von den radikaleren Ländern wie Libyen und Irak unter Druck gesetzt wurden, eine direkte Konfrontation mit dem Westen zu suchen, die diese mit den ihnen verfügbaren Ressourcen allein nicht führen konnten. Nachdem der Embargobeschluss durch panarabische Solidarität motiviert worden war, wurden die Ziele des Embargos rasch verwässert, um negative wirtschaftliche Konsequenzen für die einzelnen Länder zu vermeiden. Auch während des Embargos gab es immer wieder Nachrichten, dass es von einzelnen Ländern unterlaufen wurde.64 Zudem verhandelten die Förderländer nicht nur als Kollektiv mit den Industrieländern, sondern weiterhin bilateral und nutzten diese Verhandlungen, um jeweils profitable Deals abzuschließen.65 Nicht zuletzt die, nach Aussage des an der Tat beteiligten Hans-Joachim Klein, vom libyschen Staatschef Gaddafi in Auftrag gegebene Geiselnahme der OPEC-Ölminister 1975 in Wien zeigt, dass die Konflikte zwischen den rohstoffproduzierenden Länder des Südens kaum kleiner waren als zwischen Nord und Süd. Zugleich fehlte eine Hegemonialmacht, die dazu in der Lage gewesen wäre, die Blockbildung mit nicht nur wirtschaftlicher, sondern notfalls militärischer Macht zu erzwingen. Bestanden also schon innerhalb der OPEC als Avantgarde des Nord-SüdKonflikts massive Interessenunterschiede und Strategiedifferenzen, so galt das in noch stärkerem Maße für die Entwicklungsländer insgesamt, die G-77 und die Blockfreien. Zwar galt das Ergebnis der Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Energie- und Rohstofffragen gemeinhin als Erfolg für die G-77 und den algerischen Staatschef Boumedienne im Besonderen, weil es gelungen war, die Entwicklungsländer auf eine einheitliche Strategie zu verpflichten und nicht nur über Energie, sondern die Weltwirtschaft insgesamt zu verhandeln.66 Dieser Erfolg war umso größer, als die Ölkrise die Interessengegensätze zwischen den Ländern der OPEC und denen ohne eigene Ölvorkommen zutage treten ließ, die nun nicht mehr nur Geld für Öl zahlen mussten, sondern auch für die Fertigprodukte aus den Industrieländern, deren Preise sich in Folge der Ölpreissteigerungen erhöhten.67 Damit war auch unklar, wie viel mit der symbolischen Einheit erreicht werden würde. Schon im Vorfeld der Sondersitzung waren Spannungen zutage getreten und von den westlichen 63 Graf, Öl. 64 A political evaluation of the Arab oil embargo. In: MERIP Reports 28 (1974). S. 23–25; Maull, Hanns W.: Oil and Influence. The Oil Weapon Examined. London 1975. S. 6. 65 „Bilateral deals. Everybody’s doing it.“ In: MEES 17.13. (1974). 66 PA AA. B1 MB/010. Bd. 580. Dohms: Orteks Nr. 48 zur 6. Sondergeneralvers, 3.5.1974. 67 PA AA. Bestand 36 (Referat 310). 104993, Hermes an den Staatssekretär: Voraussichtliche Auswirkungen der Erdölkrise auf die Entwicklungspolitik der anderen Geberländer, 4.3.1974.

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Regierungen nicht nur aufmerksam registriert, sondern auch von Beginn der Ölkrise an geschürt worden.68 Einerseits betonten ihre Vertreter in öffentlichen Stellungnahmen die Sicht von Wirtschaftsanalysten, dass die am wenigsten entwickelten Länder ohne Öl am härtesten von den Preissteigerungen der OPEC betroffen seien und diese damit ihr eigentliches Ziel verfehlten. Angesichts der verschiedenen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen und Interessenlagen in den Ländern der ‚Dritten Welt‘, sei es nicht sinnvoll von einem Nord-Süd-Konflikt zu sprechen, bilanzierte etwa Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 in einer Grundsatzrede zur Außenpolitik: Die Debatten in den Vereinten Nationen waren lange Zeit so angelegt, daß sie den Eindruck machen sollten […], daß der Nord-Süd-Konflikt sich verschärft habe. In Wirklichkeit stehen wir aber seit anderthalb Jahren vor einer tiefgreifenden, neuartigen Entwicklung: Der Aufspaltung in arme Entwicklungsländer und reiche Industrieländer, die früher richtig charakterisiert war durch die beiden geographischen Bezeichnungen Nord und Süd, steht in zunehmender Weise eine Situation gegenüber, in der es eben auch sehr reiche, ölreiche, Noch-Entwicklungsländer gibt […] Schon innerhalb dieser neuerdings reich gewordenen Ölländer gibt es tiefgreifende, strukturelle Verschiedenheiten.69

Andererseits und wesentlich konkreter wurden westliche Diplomaten angewiesen, die Vertreter der Entwicklungsländer auf die durch die Ölkrise entstehenden „Sachzwänge“ hinzuweisen, ohne jedoch offen Druck auf sie auszuüben, um nicht eventuell ihre Solidarität mit den Förderländern zu stärken: „Die Energieverknappung wird schädliche Auswirkungen nicht nur für die Industrieländer, sondern – unmittelbar und mittelbar – auch für die Entwicklungsländer haben. Eine Quantifizierung dieser Auswirkungen ist zurzeit nicht möglich. Gastarbeiterstop und Produktionskürzungen bei einzelnen Industriezweigen sind erste konkrete Maßnahmen.“70 In ihren jeweiligen Ländern sollten sie Regierungsvertretern erklären, dass die Verknappung des Öls zu Produktionsrückgängen führen könne, dass höhere Ölpreise auch höhere Preise für Fertigprodukte bedeuteten und dass höhere Investitionen in alternative Energien und

68 PA AA. B1 MB/010. Bd. 580. unogerma an AA: Sondersitzung VN. Zwischenbilanz der Vorbereitung, 8.3.1974. 69 Schmidt, Helmut: Leitgedanken unserer Außenpolitik. In: Kontinuität und Konzentration. Hrsg. Helmut Schmidt. Bonn-Bad Godesberg 1975. S. 226–43 70 PA AA. Bestand 71 (Referat 405). 113905. Hermes, Peter: Plurex an vier Vertretungen zu Auswirkungen der Erdölpreiserhöhungen auf internationale Zusammenarbeit, 7.12.1973.

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ein allgemein geringeres Steueraufkommen die Fähigkeit und Bereitschaft, Entwicklungshilfe zu leisten, verringern würden.71 Dass diese Strategie kurzfristig wenig Erfolg hatte, dürfte neben der geschickten Verhandlungsführung Boumediennes auch daran gelegen haben, dass sich die OPEC der Problematik bewusst war und den Entwicklungsländern, die unter den Ölpreissteigerungen litten, finanzielle Hilfe zusagte. Die Finanzhilfe erfolgte sowohl über die Arabische Liga als auch an nicht muslimische Länder über die Arab Bank for Industrial and Agricultural Development in Africa, die zunächst mit 195 und dann mit 231 Millionen Dollar ausgestattet wurde.72 Weitgehend der Selbstbeschreibung der OPEC folgend, bewertet Giuliano Garavini diese Strategie auch als erfolgreich, zumal die Hilfe der OPEC für die Blockfreien die Entwicklungshilfe überstiegen habe.73 Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Verschuldung der Entwicklungsländer, die nicht Mitglied der OPEC waren, in Konsequenz der Ölkrise dramatisch anstieg – nach Schätzungen des Weltwährungsfonds von 9,1 Mrd. USD im Jahr 1973 auf 35 Mrd. im Jahr 1975 – was zu einer massiven Verschuldungskrise führte.74 Zeitgleich „recycelten“ die Förderländer ihre neu gewonnenen Petrodollars lieber in den sicheren US-amerikanischen und europäischen Banken. Zugleich unterminierte aber die US-Regierung aktiv Versuche im Rahmen der Vereinten Nationen und des Währungsfonds zu Schuldenerleichterungen zu kommen, um die Allianz von OPEC und G-77 zu schwächen. Auch wenn sich die Länder der OPEC also 1973/74 als Avantgarde der ‚Dritten Welt‘ präsentierten, lassen die folgenden Entwicklungen es doch fraglich erscheinen, ihre Handlungen als Ausdruck eines allgemeinen Nord-Süd-Konflikts und nicht einer Strategie partikularen Machtgewinns zu interpretieren. Genauso wie der Menschenrechtsdiskurs, den die westlichen Länder in den 1970er Jahren etablierten, inzwischen aus guten Gründen auch als ideologisch motiviert gesehen wird, dürfte das auch für die Rhetorik von Souveränitätsrechten, Dritte-Welt-Solidarität und ökonomischer Dekolonisierung gelten, zumal es sich bei den betreffenden Ländern zumeist um Autokratien handelte. Die analytische Tragfähigkeit des Begriffs „Nord-Süd-Konflikt“ ist allerdings nicht nur aufgrund der massiven Differenzen zwischen den Förderländern sowie zwischen Förder-

71 Hermes, Plurex. 72 Bailey, Richard: Development and Energy Costs. A Third World Perspective. In: Third World Quarterly 1.4 (1979). S. 57–68. Hier S. 66; Shihata, Ibrahim: The Opec Special Fund and the North-South Dialogue. In: Third World Quarterly 1.4 (1979). S. 28–38. 73 Dinkel, Bewegung, S. 224; Garavini, Empires. 74 Dietrich, Oil Revolution, S. 299.

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und Entwicklungsländern fraglich.75 Auch zwischen den Industrieländern des Nordens bestanden erhebliche Differenzen, die sich schon während der Ölkrise aufgetan hatten. Genauso wie die Vertreter der Bundesregierung und der USA nicht müde wurden, die Entwicklungsländer ohne Energieressourcen darauf hinzuweisen, dass sie nicht die gleichen Interessen wie die OPEC hätten und auf die Wirtschaftsentwicklung im Westen angewiesen seien, strichen deren Repräsentanten heraus, dass es Industrieländer mit großen Ölvorkommen gab, die von steigenden Preisen profitierten. Bis in die 1970er Jahre waren die Vereinigten Staaten schließlich das größte Ölförderland und in nur geringem Maße auf Lieferungen aus dem Mittleren Osten angewiesen, von welchen die westeuropäischen Länder und Japan hingegen vollständig abhängig waren. Daher traten von Beginn der Ölkrise an deren massive Interessengegensätze zutage, die es zunächst verhinderten, dass sich die vom Embargo und den Produktionsbeschränkungen betroffenen Länder auf eine gemeinsame Strategie einigten. Auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaften konnten sich die Länder nicht zur Solidarität mit den vom Vollembargo betroffenen Niederlanden durchringen und verfolgten stattdessen individuelle Strategien, ihre Energieversorgung notfalls auch auf Kosten der anderen zu sichern. Erst durch massiven Druck gelang es den USA auf der Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974, ihre Verbündeten zur Gründung eines Blocks der Ölimportländer zu bewegen, wobei Frankreich dies als Provokation gegen die OPEC ablehnte und der Internationalen Energieagentur nicht beitrat.76 Auch danach blieb es aber dabei, dass westliche Regierungen die eigene nationale Energiesicherheit immer wieder über die Solidaritätsanforderungen der Partner des Nordens stellten. Daran änderte auch der französische Versuch nichts, mit einer Konferenz für Internationale Wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Lösung auf kollektivem Wege anzugehen. Nach den Vorstellungen der französischen Regierung sollten zehn bis zwölf Länder – je zur Hälfte Rohstoffexport- und Importländer – auf einer Konferenz nach Auswegen aus der Energie- und Wirtschaftskrise suchen.77 Die Einladungen sollten nach der sogenannten Yamani-Formel versandt werden, das heißt an die EG, die Vereinigten Staaten, Japan, Brasilien, Indien, Zaire, Iran, Venezuela, Saudi-Arabien, Algerien und Venezuela sowie an die Vereinten Nationen, die OECD und die OPEC als Beobachter. Dies war zwar ein im Sinne der allgemeinen Nord-Süd-Problematik lösungsorientierter Vorschlag,

75 United States: Congressional Staff Report on the Conference on International Economic Cooperation. In: International Legal Materials 15.2 (1976). S. 388–394. 76 Graf, Öl, S. 297–316. 77 PA AA. B 2 (Referat 014). 225. Kruse: Analyse der energiepolitischen Ausführungen des Staatspräsidenten Giscard d’Estaing, 31.10.1974.

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aber weder die Industrieländer noch die Entwicklungsländer sahen in dieser Delegationsauswahl ihre nationalen Interessen adäquat repräsentiert. Daher entschied die Vorkonferenz im Oktober 1975 in Paris, den Teilnehmerkreis auszuweiten: 19 Entwicklungsländer sollten durch die G-77 und acht Industrieländer durch die OECD bestimmt werden.78 Auch hier zeigten sich also die Grenzen der Bereitschaft, nationale Interessen im Rahmen allgemeiner Nord-Süd-Verhandlungen aufgehen zu lassen. In der britischen und der US-amerikanischen Regierung war man verärgert über die französische Initiative, die den bestehenden multilateralen Diskussionsforen ein weiteres hinzufügte. Auch in der Bundesregierung war man unsicher, was das genaue Ziel der Konferenz sein würde, und grundsätzlich skeptisch, ob in dieser Zusammensetzung überhaupt konkrete Ergebnisse zu erzielen sein würden.79 Angesichts der unklaren Zielsetzung erarbeiteten alle Regierungen ins Blaue hinein umfangreiche Zielkataloge, was die Abstimmung dann nicht unbedingt einfacher machte.80 Nachdem die Vorkonferenz ergebnislos verlaufen und die Interessen und Strategien im Norden wie Süden diffus heterogen geblieben waren, blieb auch die Konferenz insgesamt ergebnislos. Dies lag vielleicht daran, dass es keinen konkreten Konflikt zwischen den Kollektiven der Länder des Nordens und des Südens gab, zu dessen Lösung die Konferenz ausgerichtet wurde, sondern vielmehr eine Vielzahl widersprüchlicher Konfliktlinien. Zwar gab es im Süden eine gemeinsame Deutung der internationalen Beziehungen als Nord-Süd-Konflikt, aber es fehlten die Bereitschaft und/ oder die Machtmittel, diesen Konflikt auch tatsächlich offen auszutragen. Unter den Ländern des Nordens gab es zwar einen gemeinsamen Nenner, dass existierende Grundprinzipien und Strukturen der Internationalen Wirtschaftsordnung nicht verändert werden, aber diese wurden auch nicht intensiv genug herausgefordert, als dass eine umfassendere Solidarisierung und Strategieharmonisierung notwendig geworden wäre. Ressourcen waren das einzige Machtmittel, über das die Entwicklungsländer verfügten und das sie in der Auseinandersetzung mit den Industrieländern einsetzen konnten. Dazu kam es aber nicht, sondern die OPEC erwies sich als singulär erfolgreiches Produzentenkartell und 78 PA AA. B 1 (MB 010). 178638, Ergebnisse der Pariser Vorkonferenz zur Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 13.–16. Oktober 1975; United States. Congressional Staff Report on the Conference on International Economic Cooperation. In: International Legal Materials 15.2 (1976). S. 388–394. 79 PA AA. B 71 (Referat 405). 113909. Hermes, Abt. 4, an BM: Vorschlag des französischen Staatspräsidenten zur Einberufung einer Konferenz der industrialisierten Verbraucherländer, der Entwicklungsländer und der Erdölexportländer, 6.11.1974. 80 Siehe für die Bundesrepublik das 26-seitige Papier: PA AA. B 71 (Referat 405). 113909. BMWi: Konferenz der Erdölverbraucher- und -erzeugerländer, 26.3.1975.

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setzte das Öl zum eigenen Macht- und Wohlstandsgewinn, aber nicht im Sinne der anderen Entwicklungsländer ein. Insofern wurde der Konflikt nur auf symbolischer Ebene ausgetragen, nicht aber auf realer, machtpolitischer.

Ressourcenknappheit, Interdependenz und Sicherheit Die eben skizzierten Interessengegensätze und Konflikte über Rohstofffragen traten also sowohl im Lager des globalen Südens als auch unter den industrialisierten Ländern des Nordens schon während der Ölkrise und noch einmal verstärkt Mitte der 1970er Jahre offen zutage. Wie kam es also trotzdem zum gleichzeitigen Aufstieg des Nord-Süd-Konflikts als Interpretament, um die Struktur der internationalen Beziehungen zu erfassen? Und warum ebbte die Attraktivität des Nord-Süd-Konflikts als Deutungsmuster in den 1980er Jahren wieder ab? Zunächst ist offenkundig, dass vor allem Politiker und Intellektuelle in der ‚Dritten Welt‘ mit der Formulierung das Interesse verbanden, über innere Differenzen hinweg eine einheitliche Front zu erzeugen und ihre eigene Position auf diese Weise zu stärken. Genauso lag es im Interesse rohstoffreicher Industrieländer wie der Vereinigten Staaten, durch die Rede vom Nord-Süd-Konflikt zu verschleiern, dass sie ungleich weniger von den Preissteigerungen der OPEC betroffen waren als die europäischen Partnerländer und Japan. Sieht man von solchen eindeutigen politischen Motiven ab, lassen sich vor allem drei Ursachen für die Attraktivität der Nord-Süd-Lesart ausmachen. Erstens führte der Glaube an eine zukünftige Verknappung vor allem des Öls, aber auch anderer Rohstoffe zu der Annahme, dass die Macht der rohstoffreichen Länder des Südens steigen werde und es zwangsläufig zu Konflikten um Ressourcenzugang kommen müsse. Diese Auffassung wurde unterminiert, als sich weder beim Öl noch bei anderen Rohstoffen in den 1980er Jahren dauerhafte Preissteigerungen abzeichneten, sondern die Preise im Gegenteil fielen.81 Auch wenn die Umweltbewegung in Teilen noch immer durch die Endlichkeit natürlicher Ressourcen auf dem „Raumschiff Erde“82 motiviert wurde und inzwischen erheblichen politischen Einfluss gewonnen hatte, zeigten sich Rohstoffproduktion und -verbrauch doch deutlich flexibler, als in den 1970er Jahren erwartet worden war und frühere Endlichkeitsszenarien wurden falsifi81 Sabin, Paul: The Bet. Paul Ehrlich, Julian Simon, and our Gamble over Earth’s Future. New Haven 2013. 82 Höhler, Sabine: Beam Us Up, Boulding! – 40 Jahre „Raumschiff Erde“. Karlsruhe 2006.

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ziert. Mit dem Verlust des Glaubens, durch die Verfügungsgewalt über knappe und schwindende Ressourcen ein starkes Machtmittel in denen Händen zu haben, sanken auch die Bereitschaft und Möglichkeit, einen Konflikt mit dem reichen Norden zu riskieren. Genauso ging in Europa und den USA die Erwartung zurück, dass es zu Konflikten mit weiteren Ressourcenkartellen kommen werde. Zweitens machte die in den 1970er Jahren immer weiter verbreitete Annahme, in einer interdependenten Welt zu leben, den Nord-Süd-Konflikt zunächst wahrscheinlicher und dann unwahrscheinlicher. Im Norden wie im Süden sprachen Politiker allenthalben von gewachsener Interdependenz, aus der sie aber verschiedene Schlussfolgerungen zogen. Die G-77 leitete aus der wirtschaftlichen Interdependenz die Forderung ab, dass die Weltwirtschaft radikal umgestaltet werden müsse und die Vertreter der Industrieländer meinten hingegen, dass nur behutsame Reformen möglich seien. Die Interdependenztheoretiker der 1970er Jahre formulierten zwar ihrer Ansicht nach universale Prinzipien, denen zufolge die zunehmenden transnationalen Austauschprozesse zu einem Zustand komplexer Interdependenz geführt hätten, in dem unilaterale Macht- und Hegemonialpolitik nur noch schwer zu realisieren seien. Bei der Untersuchung der Folgen komplexer Interdependenz konzentrierten sie sich dann jedoch vor allem auf den daraus resultierenden Machtverlust der Industrieländer. Selbst wenn die Interdependenz-Diagnose stimmte, folgte aus dem Machtverlust der Hegemonialmächte allerdings nicht unbedingt ein Machtzuwachs auf der Südhalbkugel, der in konkrete Politik umzusetzen gewesen wäre. Vielmehr nahm Interdependenz auch hier zu und führte dazu, dass die Länder, die Rohstoffe lieferten, von ihren Abnehmern zumindest ebenso abhängig waren wie umgekehrt. Wie Stanley Hoffmann beobachtete, hing die Umsetzung konkreter machtpolitischer Strategien wie im Falle der OPEC von vielen Bedingungen ab, die nur schwer zu kontrollieren waren. In den meisten Fällen schränkte Interdependenz die Handlungsfreiheit beider Seiten ein und erzeuge neue Unsicherheit: „When I no longer know where your power ends and mine begins; […] when the more I try to force you to depend on me the more I depend on you; when world politics becomes a test of vulnerability, and degrees of vulnerability are not identical with power supplies, who can feel secure?“83 Drittens ging die Annahme eines kommenden Nord-Süd-Konflikts von einer Abschwächung des Ost-West-Konflikts aus, die erst den Raum für andere Konfliktlinien öffnete. Angesichts der Rüstungsbeschränkungs- und Entspannungsbemühungen, die politikwissenschaftliche Experten ebenso auf die gewachsene Interdependenz zurückführten, erodierten in den 1970er Jahren anscheinend 83 Hoffmann, Stanley H.: Primacy or World Order. American Foreign Policy since the Cold War. New York 1978. S. 143.

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die Blöcke, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die internationalen Beziehungen dominiert hatten. Trotz der Konflikte innerhalb der westlichen Allianz während der Ölkrise kann man aber mit guten Gründen argumentieren, dass die Regierung der Vereinigten Staaten vor allem in der Person Henry Kissingers den Konflikt zwischen Förder- und Verbraucherländern noch immer ganz wesentlich im Lichte des Kalten Krieges interpretierten und den angeblichen NordSüd-Konflikt letztlich instrumentalisierten, um ihre Hegemonie innerhalb des westlichen Bündnisses zu sichern. Schon Ende der 1970er Jahre ging die Epoche der Détente dann ohnehin zu Ende, und der Ost-West-Konflikt erlebte zu Beginn der 1980er Jahre einen neuen Höhepunkt, sodass die Erwartung seiner Ablösung durch einen Nord-Süd-Konflikt spätestens jetzt als kurzfristige Illusion erschien. Dies änderte sich erst wieder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Auseinanderbrechen des Ostblocks 1989/91, das den Kalten Krieg als transitorische historische Epoche erschienen ließ, die einer neuen uni- oder pluripolaren Weltordnung Platz machte.84 Von nun an bestand wieder mehr Raum für Nord-Süd-Deutungen der internationalen Ordnung, die aber nicht hegemonial wurden oder auch nur annähernd die gleiche Bedeutung wie in den 1970er Jahren erhielten. Vielmehr konkurrierten sie mit anderen Deutungen eines angeblichen „Clash of Civilizations“ (Samuel Huntington) zwischen dem Islam und dem Westen oder eines „neuen Kalten Krieges“, für deren Interpretation interessanterweise Ressourcenkonflikte eine zentrale Stellung einnahmen.

84 Schwarz, Fragen an das 20. Jahrhundert. Hier S. 15; ders.: Ost-West, Nord-Süd.

Autor*innen Dmitri van den Bersselaar ist Professor für Afrikanische Geschichte am Institut für Afrikastudien der Universität Leipzig. Seine Forschungsinteressen umfassen den (Post-)Kolonialismus, die Wirtschaftsgeschichte Afrikas mit einem Fokus auf Westafrika (insbes. Ghana und Nigeria im 19. und 20. Jahrhundert) sowie die wechselnden Wahrnehmungen von Status, Kultur, Ethnizität und Identität in dieser Region. Michel Christian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Genf. Er hat sich zuvor mit der Geschichte der kommunistischen Parteien in der DDR und in der Tschechoslowakei beschäftigt. Seine Forschungsinteressen richten sich jetzt auf internationalen Organisationen, Entwicklung und Kleinkinderziehung. Martin Deuerlein ist Akademischer Rat a. Z. am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität zu Köln und am SFB 923 Bedrohte Ordnungen in Tübingen. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Ideengeschichte der internationalen Beziehungen und des globalen Denkens sowie auf der Geschichte der Sozialwissenschaften. Jürgen Dinkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsche und europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte sind die internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Kolonialismus und Dekolonisierung, insbesondere die Geschichte der Bewegung Bündnisfreier Staaten sowie Eigentumsgeschichte und die Geschichte des Erbens und Vererbens seit dem 19. Jahrhundert. Steffen Fiebrig ist assoziierter Wissenschaftler am Department of Law and Anthropology des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle (Saale). Er war zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sein Forschungsinteresse liegt auf der Geschichte der Dekolonisation, der globalen Entwicklungshilfe und der Geschichte internationaler Organisationen, wobei sein Fokus auf der UN sowie den Akteuren des globalen Südens liegt.

https://doi.org/10.1515/9783110682625-019

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Rüdiger Graf leitet die Abteilung für die „Geschichte des Wirtschaftens“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und ist Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität und akademischer Rat auf Zeit an der Ruhr-Universität Bochum. Andreas Hilger ist Stellv. Direktor des Deutschen Historischen Institut Moskau. Forschungsinteressen richten sich auf die internationale Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, hier u. a. Beziehungen der Sowjetunion zum globalen Süden, deutsch-russisch/sowjetische Beziehungen, Kalter Krieg und Entwicklungen nach 1989/90. Michael Homberg, ist Feodor Lynen Research Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Forschungsinteressen richten sich auf die Medien- und Kulturgeschichte des 19.-21 Jahrhunderts, die Geschichte der Globalisierung und des digitalen Zeitalters. Stella Krepp ist Leiterin für Internationale Beziehungen am Departement für Gesundheit an der Fachhochschule Zürich. Vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Bern. Ihre Forschungsinteressen sind die Geschichte Lateinamerikas und des Globalen Südens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sowie US-Lateinamerikanische Beziehungen. Jonas Kreienbaum ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Zuvor studierte und promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Kolonialgeschichte und der postkolonialen Nord-Süd-Beziehungen sowie in der Geschichte von Lagern und Gewalt. Sönke Kunkel ist Juniorprofessor für nordamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die transatlantische Wissenschafts- und Umweltgeschichte seit 1945, die Geschichte von Entwicklungspolitik und humanitärer Hilfe sowie die globale Mediengeschichte. Daniel Maul ist Associate Professor for Contemporary International History an der Universität Oslo. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der internationalen und transnationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der humanitären Hilfe, der Dekolonisierung sowie internationaler Organisationen mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

Autor*innen



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Katja Nauman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO) Leipzig. Ihre Forschungsinteressen richten sich auf die Geschichte internationaler Organisationen und transregionaler Verflechtungen mit Schwerpunkt auf Akteure aus dem östlichen Europa sowie auf die Geschichte der Wissensproduktion in den Sozial- und Regionalwissenschaften und in der Historiographie in ihren transregionalen Bezügen. Frank Reichherzer ist Wissenschaftlicher Oberrat am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Seine Forschungen sind wissens- und ideengeschichtlich orientiert. Seine Interessen richten sich neben Fragen von Militär, Gewalt, Zeitlichkeit und Ordnung auch auf Wissens- und die Ordnungssysteme wie auch Handlungsräume des Globalen insbesondere im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Andrea Rehling ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Jakob-Fugger-Zentrums an der Universität Augsburg. Vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Universalgeschichte des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz sowie an den Universitäten Mannheim und Tübingen. Ihre Forschungsinteressen sind globale und transnationale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit besonderem Schwerpunkt auf der Arbeit internationaler Organisationen, die sie am Beispiel des UNESCO Welterbeprogramms betrachtet. Johanna Sackel ist Akademische Rätin im Bereich Zeitgeschichte an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Umweltgeschichte der Meere sowie dem Verhältnis von Ökologie und Ökonomie. Außerdem arbeitet sie zur Geschichte der globalen Nord-Süd-Beziehungen und untersuchte die Debatten um die Verteilung mariner Ressourcen im Rahmen der dritten UN-Seerechtskonferenz. Sarah Stein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel. Zuvor war sie Forschungsstudentin am Graduiertenkolleg ‚Bruchzonen der Globalisierung‘ der Universität Leipzig. Ihre Forschungsinteressen gelten der Geschichte der Dekolonisierung, der Visual History sowie dem Afrikanischen Filmschaffen. Daniel Stahl ist Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert der Fritz Thyssen Stiftung und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuvor war er Promotionsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung.

450  Autor*innen

Sein Interesse gilt insbesondere der Geschichte der internationalen Beziehungen, des Völkerrechts, der Menschenrechte und der Rüstungspolitik. Andreas Weiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr, Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind transnationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Europäischen Integration mit Schwerpunkt Außenpolitik und die Geschichte internationaler Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Index AASSREC 328, 339 Acheson, Dean 50 Adenauer, Konrad 71, 400 Adiseshiah, Malcolm 271 Agblemagnon, N'Sougan 348 AIDSAT 284, 289 Akins, James 437 Alatas, Syed Hussein 334 Amin, Samir 330–331, 354 Ammar, Abbas 58 Amuzegar, Jahangir 434–435 Anand, Mulk Raj 91–93 Aragon, Louis 308 ARCSS 339 Arcy, Jean d' 290 Armes, Roy 301, 307 Arzmanian, A. 349 ASEAN 4, 76, 83 Ball, George 148–149 Barraclough, Geoffrey 433–434 Bassori, Timité 310 Beauvoir, Simone de 308 Beltrán, Luis Ramiro 276 Bergsten, C. Fred 37, 40, 433–435, 437 Berkner, Lloyd Viel 365 Beti, Mongo 308 Bewegung Bündnisfreier Staaten 8, 12–13, 21, 70, 112, 135, 140, 195–196, 201, 277, 291, 294, 339, 382, 429 Bhabha, Homi J. 281 Blackaby, Frank 257 Bloomfield, Lincoln 40 Bokassa, Jean-Bédel 232 Bolsonaro, Jair 381 Bongoy, Mpekesa 330–333 Borgese, Elisabeth Mann 394 Borgese, Giuseppe Antonio 394 Bose, Subhas Chandra 88 Boti, Regino 119 Boughedir, Férid 317–322 Boumedienne, Houari 36, 155–156, 165, 167, 206, 314, 430, 441 Bouteflika, Abd al-Aziz 132, 161–162, 206

https://doi.org/10.1515/9783110682625-020

Brandt, Willy 38, 42, 65, 70–71, 75, 82, 111, 205, 436 Braun, Wernher von 283 Brežnev, Leonid 107 Brière, Éloïse A. 309, 312 Brzezinski, Zbigniew 41 Bulganin, Nikolaj 89, 103 Bull, Hedley 435 Burja, Abdallah 352 Bush, George H. W. 395 Busia, Kofi 230–231 Byrd, Richard 388 CAI 304–305 Camara, Laye 308 Campbell, John C. 437–438 Campos, Roberto 116 Caradon, Lord (Foot, Hugh Mackintosh) 251– 252 Cardoso, Fernando Henrique 32, 131 Carnegie Foundation 370 Carriere, Michel 304 Carter, Jimmy 41, 62, 374, 418 Castro, Fidel 86, 119 Ceausescu, Nicolae 243, 254–255, 258–260 CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) Siehe ECLAC CERDAS 330–332, 339, 351–353 CERN 375 Chalfont, Lord (Alun Arthur Gwynne Jones) 246–247, 251–253 Chruščev, Nikita 86, 89, 93–98, 100, 102, 106 CIPEC 206 Ciraolo, Giovanni 361–362 Clarke, Arthur C. 279, 282 Clarke, William Malpas 237–238 CLASCO 329, 339, 353 CNC 303–304 CODESRIA 326, 331, 347, 350–354 COMACICO 303–304, 310, 316 Corea, Gamani 175, 190 CPI 88–92 CPP 216 Crawford, John 126

452  Index

Cruz, Hernán Santa 117 Damas, Léon-Gontran 308 Daniels, Paul C. 121 Davis, David M. 287 Debrix, Jean René 308–309 Dell, Sidney 146, 160 Diawara, Manthia 301–302, 310, 317 Diop, Alioune 308–309 Dolgu, Gheorghe 256–258 DSS 323, 326, 332, 336–337, 340–341, 343– 346, 349–351 Du Bois, W. E. B. 224, 308 Dube, Shyama C. 275 Dulles, John Foster 70, 122 Dupré, Colin 307, 311, 316, 319 Durkheim, Émile 24 Eapen, K. E. 287–288 ECA 4, 149 ECE 4 Echeverría Álvarez, Luis 131–132, 163–164, 167 ECLAC 4, 12, 59, 109–111, 114, 116–126, 128– 134 ECOSOC 117, 145, 176, 270, 363 Eek, Hilding 291 Eisenhower, Dwight D. 71, 98, 121–122 Eisenhower, Milton 122 Elisabeth II. 224 Elliott, Philip 276 Emmerij, Louis 58, 61–62 Engels, Friedrich 24 Enlai, Zhou 89, 96 EPTA 50 Ėrenburg, Il'ja 90 ESCAP 4 Europäische Union 66, 68, 76, 78 EWG 4, 66–69, 74–76, 78–80, 82, 144, 153 Fahmy, Ismail 393 Faletto, Enzo 32, 131 Fanon, Frantz 202 FAO 53, 57 FEPACI 310, 313, 315–316, 318–319, 322 FESPACO 311, 316, 319 Fisher, Joseph L. 290, 401 FLN 28 Forcart, K. 349

Ford Foundation 280, 287, 290 Ford, Gerald 39–40, 44, 279, 287, 289, 370, 401 Frank, André Gunder 3, 32, 120, 131, 276 Frank, Isaiah 128, 150 Fried, John H. 271 Friedman, Samy 43, 86–87, 333–334 Friedman, Thomas 43 Fröbel, Folker 193 Frutkin, Arnold W. 283, 289 Furtado, Celso 3, 119, 130–131 Gaddafi, Muammar al- 439 Galenson, Walter 58 Gandhi, Indira 157, 197, 203, 287, 289, 293 Gandhi, Mahatma 95 Gardiner, Robert 230 GATT 31, 72, 116, 141, 143–144, 146–149, 156–157 Gaud, William S. 159 Gaulle, Charles de 71, 302–303 Gemeinsames Erbe der Menschheit 409, 411–412, 416–417, 419–420 Gerland, Georg 361 Getino, Octavio 300, 313 Ghai, Dharam 61 Giscard d'Estaing, Valéry 82, 442 Giscard d‘Estaing, Olivier 81–82 Golding, Peter 276 Goulart, João 130 Grotius, Hugo 385–387, 409, 411, 418 Gruhl, Herbert 80–81 Grunitzky, Nicolas 222 Gruppe der 77 13, 34, 37, 39, 41, 129, 138, 151–156, 159, 161–162, 164–165, 167–169, 254, 406, 408–420, 425, 431, 439, 441, 443, 445 Grzimek, Bernhard 400 Guevara, Ernesto „Che“ 86, 129 Guha, Ranajit 334 Haas, Eugene 367 Haberler, Gottfried 141 Halloran, James D. 276 Hammarskjöld, Dag 97 Hardin, Garret James 382–384, 400 Healey, Denis 249 Heath, Edward 70, 436

Index 

Heemskerck, Jacob van 385–386 Heinrichs, Jürgen 193 Hennings, John 230 Higgins, Benjamin Howard 271 Hochfeld, Julian 337, 344, 349 Hondo, Med 301, 307–308 Hope-Jones, Ronnie 252–253 Howe, Marvine 196 Humphrey, George M. 122 Huntington, Samuel 446 IAMCR 276–277 IAO (Internationale Arbeitsorganisation) Siehe ILO IBRD 271 ICIS 178–180, 186, 191 ICPO 183 IDHEC 307 ILO 45–56, 58–64, 176 IMF 31, 123, 126, 143, 200, 209, 229, 441 Interdependenz 10, 21–25, 28–29, 32–33, 35, 37, 39–40, 42–44, 75, 136, 139, 290, 406, 423, 425, 436, 444–445 Internationale Fernmeldeunion Siehe ITU Internationale Handelsorganisation Siehe ITO Internationalen Entwicklungsbank Siehe IBRD IPDC 289, 296–297 ISSC 324–326, 332–333, 335–336, 340–342, 344–345, 348, 350, 354–355 ITO 142 ITU 277 Ivačić, Pero 293, 295 Ivanga, Imunga 320 IWF (Internationaler Währungsfonds) Siehe IMF JCC 310 Johnson, Lyndon B. 112, 153, 159, 241, 243– 246, 273, 282, 395, 399, 401 Johnson, U. Alexis 283 Johnson, G. Griffith. 129 Kalecki, Michal 349 Kamanga, Reuben 198 Kaunda, Kenneth 195–198, 205, 208 Kazancigil, Ali 353–354 Keenleyside, Hugh 271

453

Kekkonen, Urho 285 Kennan, George Frost 363 Kennedy, John Fitzgerald 52, 72, 95, 97–98, 112, 124, 126, 148, 150, 156–157, 244, 270 Kennedy-Runde 72, 156 Keohane, Robert 32–33, 435 Keynes, John Maynard 56, 115, 142 Khane, Abd-El Rahman 82, 175, 180, 182– 183, 190 Kissinger, Henry Alfred 21–22, 34, 39–40, 44, 162, 205, 433, 438, 446 Klineberg, Otto 338 Kollontai, Vladimir 349 Kosygin, Aleksej 107 Kothari, Rajni 329 Krasner, Stephen D. 200, 437 Kreye, Otto 193 Kristol, Irving 39 Lange, Oskar 344 Laval, Pierre 306 Legum, Colin 198, 207–208, 278 Lengyel, Peter 339, 343, 346 Lerner, Daniel 272–273, 275–276 Lewis, W. Arthur 51, 54, 58, 215–216, 220 Lleras Restrepo, Carlos 60 Long, Gerald 268, 295 Lumumba, Patrice 224, 341 Lüthy, Herbert 27 M'Baye, Kéba 241–242, 291 M'Bow, Amadou-Mahtar 295, 346 MacBride, Sean 268, 295–296 Mahalanobis, P. C. 101 Maheu, René 277 Malinowski, Wladyslaw R. 72, 142, 146 Malraux, André 302–303, 311 Mankekar, D. R. 292 Mao, Zedong 86 Marx, Karl 24, 172 Mattelart, Armand 276 Mazrui, Ali A. 37, 263 McClelland, David 272 McLuhan, Marshall 280 McNamara, Robert 62 Memmott, A. J. 233 Men'šikov, Michail 89 Mensah, Joseph 230

454  Index

Mero, John L. 405 Métraux, Albert 344 Mikojan, Anastas 100, 104 Mileti, Dennis 367 Millikan, Max F. 275 Mitterand, François 317–318 Mkandawire, Thandika 352–353 Mobutu, Sese Seko 232 Mody, Bella 279, 285–286, 297 Morgan, Dan 195 Morgenthau, Hans J. 435 Mori, Fernando Olivares 133 Mori, Haruki 436 Morse, David 50–51, 57 Mossadegh, Mohammed 426 Mounier, Jean-Pierre 318–319 MPEA 303 Mukherjee, Dilip 208 Müller, Gerd 135, 170 Naggar, Said El- 349 Nasser, Gamal Abdel 140 NATO 116, 244, 249, 255, 257, 260–261, 368, 372, 379, 381, 410 Nehru, Jawaharlal 27, 49–50, 88–89, 92, 95–99, 101, 103, 105–106, 139, 169 Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung Siehe NWICO Neue Weltwirtschaftsordnung Siehe NIEO Niang, Sada 300, 313 NIEO 33, 35, 38, 62, 136–138, 152, 161, 168– 169, 172–173, 193, 205, 257–258, 260– 262, 377, 394, 406–408, 411–413, 415, 417, 419–420, 427, 429–430 Nisbet, Robert 33 Nixon, Richard 163, 401 Nkrumah, Kwame 28, 31, 111, 202, 214–216, 221, 224–231, 239 Nordenstreng, Kaarle 276, 285, 292, 295 Noyola, Juan Francisco 119 NWICO 263–264, 268, 278, 290–292, 295 Nye, Joseph 32 Nyerere, Julius Kambarage 30–31, 41–42, 111, 197–198 OAPEC 407, 428–430, 435, 437, 439 OAS 115, 118–119, 121–122, 126, 128–129, 132, 150

OAU 4 OCAM 316 OCORA 304 OECD 144, 149, 168, 175, 184, 189, 192–193, 277, 293, 327, 442 OEEC 4 OPEC 4–5, 13, 18, 66, 82, 162, 165, 206, 291, 407, 425, 427–430, 433–435, 437–445 Orwell, George 26 Ostrom, Elinor 382, 384 Oteiza, Enrique 329–331 Oyono, Ferdinand 308 Pal, Yash 284 Palme, Olof 38, 65, 71, 82, 436 Pardo, Arvid 392–394, 405–406, 408 Pedler, Frederick 215–216, 218, 224–227, 229–232, 239 Peixoto, Ernâni do Amaral 122–123 Pérez-Guerrero, Manuel 160–161, 167, 175 Platon 172 Prebisch, Raúl 3, 32, 34, 38, 54, 109, 114, 117, 119, 121, 124, 126–131, 134, 136, 142– 143, 146–148, 151–154, 156–160, 168–169, 175, 202–203, 276 Press, Frank 374 Pye, Lucian W. 272–273 Reagan, Ronald 42, 193, 296, 395–396, 418 Reichenbach, François 308–309 Rens, Jef 52 Reza Pahlavi, Mohammad 167 RGW 4, 100, 106, 144 Ricardo, David 172 Richter, Charles F. 367–368 Robinson, Edward 349 Rodney, Walter 218–219 Rogers, Everett M. 272, 275–276, 290 Rokkan, Stein 340–342, 345 Romulo, Carlos Peña 29, 267 Roof, María 315 Roosevelt, Franklin Delano 48 Rosay, Françoise 307 Rostow, Walt Whitman 272–273 Roy, Ramashray 88, 300–301, 307, 328– 329, 331 Rusk, Dean 149 Said, Edward 331, 334, 354

Index 

Sarabhai, Vikram 281 Sartre, Jean-Paul 308 Sauvy, Alfred 110 Scali, John P. 168 Schaff, Adam 332, 340–341, 347–349 Schmidt, Helmut 440 Schramm, Wilbur 272–276, 279, 284, 287 Schramms, Wilbur 274–275, 284, 287 Schumacher, Ernst Friedrich 4, 284 SECMA 303–304, 310, 316 Seers, Dudley 58 Seidman, William 39 Selassie, Haile 197 Sembene, Ousmane 301, 307–308, 311 Sen, Amartya 61 Senghor, Leopold Sedar 28, 308 Silvert, Kalman H. 329 Singer, Hans 54, 58, 117, 142 SITE 15, 266, 279, 281, 283–284, 286–290 Smith, Adam 172 Solanas, Pino 300, 313 Soria, Carmelo 133 Spencer, Herbert 24 Stalin, Iosif (Josef) 86–88, 94, 96 Stalins, Iosif (Josef) 50, 92, 96, 100 Stanovnik, J. 156 Stavenhagen, Rodolfo 334 Stevenson, Adlai 145 Stokes, Donald 249 Sukarno 23–24, 138 Szczepański, Jan 329 Szczerba-Likiernik, Kazimierz 340–342, 345, 349 Tinbergen, Jan 38, 58, 174–175 Tito, Josip Broz 86, 140 Tolbert, William R. 166 Tolbert, William Richard 166 Touré, Ahmed Sékou 224 Train, Russell E. 399, 401 Trenchard, Lord (Hugh Montague, 1. Viscount Trenchard) 216–217 Truman, Harry S. 50, 121, 126, 269, 409 Tucker, Robert 39 U Thant 98, 146, 151–152, 160, 241, 364 UAC 15, 210–212, 214–238 Ukadike, Nwachukwu Frank 300, 319–320

455

UNCLOS 408, 411, 415 UNCTAD 9, 12, 19, 34–35, 37, 54, 58, 68, 72, 74, 76, 78, 106, 114, 119, 124, 126–130, 132, 135–138, 142, 145–147, 149–164, 167–169, 171, 173–177, 179, 181–184, 187– 193, 197, 199, 203, 207, 254, 260, 276, 291, 406, 413, 427–429, 432 UNDP 50, 52, 57, 271, 370 UNEP 432 UNESCO 14, 52–53, 57, 241, 264, 266–271, 273–279, 286, 289–291, 295–297, 323– 328, 330–355, 358, 360, 364–366, 368– 372, 389, 397–399, 401–403 UNIDO 12, 54, 58, 82, 171, 173, 175, 177–180, 182–191, 193, 432 Unilever 211– 212, 214, 216, 218, 222–224, 228–229 Upadhyay, Shailendra Kumar 417 USAID 284, 287, 358, 371, 374 UTC 229 Uyl, Johannes Marten (Joop) den 38 Vargas, Getulio 120 Vernon, Raymond 174, 193 Veronese, Vittorino 397 Vieyra, Paulin Soumanou 300, 307, 309– 310, 312 VOC 385 Waldheim, Kurt 165, 256, 413–414, 419 Wallerstein, Immanuel 3, 131 Warrens, Allan 260 Webb, James E. 282–283 Weltorganisation für Meteorologie Siehe WMO Wever, Karl-Heinz 206, 208 Whitcomb, James 367 White, Gilbert F. 372–374 WHO 52–53, 57 Wilson, Harold 246–247, 252, 262 Wilson, Woodrow 26 Wilsons, Harold 246 WIPO 177, 189 WMO 358, 371 World Bank 31, 62–63, 123, 143, 202, 209, 237, 271 Worsley, Peter 110–111 Yaméogo, Maurice 310