Kommentare: Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis 9783631572948, 9783653011654, 3631572948

Texte, die zu den geistigen Grundlagen einer Gesellschaft gehören, mögen heute nicht mehr oft gelesen werden, aber sie w

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Kommentare: Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis
 9783631572948, 9783653011654, 3631572948

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
Einleitung:DerKommentaralsTransformationsmediumdesTextes 9
Text und Wissen. Die gnostische Beschäftigung mit dem Johannesevangelium 27
Patristische Genesiskommentare am Beispiel von Origenes und Prokop von Gaza 47
Wahrheit oder Methode. Zum De anima Kommentar des Tommaso de Vio Cajetan 65
Gassendis Kommentierung von Diogenes‘ Laertius Vitae philosophorum X – ein Beispiel der Verwissenschaftlichung der Antike? 91
DerKoran–einKommentarohneText? 127
Commentare über das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) – zur Entstehung einer Gattung 145
Vom Verschwinden des Textes in seiner Kommentierung – oder: Wie der Text in seinem Verschwinden zur Geltung kommt 163
Autorenverzeichnis 203

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Thomas Wabel ist Privatdozent für Systematische Theologie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Michael Weichenhan ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ der Humboldt Universität zu Berlin.

www.peterlang.de

ASKR 10-Wabel Weichenhan-57294-A5HC-SH.indd 1

ISBN 978-3-631-57294-8

LANG

Texte, die zu den geistigen Grundlagen einer Gesellschaft gehören, mögen heute nicht mehr oft gelesen werden, aber sie werden kommentiert. Längst scheint es, als sei der Kommentar an die Stelle des Textes getreten. Kommentierung gehört zur Grundlage geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Die Beiträge dieses Bandes reflektieren die eigene wissenschaftliche Praxis des Kommentierens aus der Sicht von Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Religionswissenschaft. Die interdisziplinäre Verständigung über diese Praxis gibt zugleich Hinweise auf die gesellschaftlichen und kulturellen Vollzüge, in denen sich Kommentierung als Aktualisierung fundierender Texte ereignet.

Wabel / Weichenhan (Hrsg.) · Kommentare – Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis

10

Apeliotes

Studien zur Kulturgeschichte und Theologie

Thomas Wabel / Michael Weichenhan (Hrsg.)

Kommentare Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis

PETER LANG

Internationaler Verlag der Wissenschaften

12.08.11 13:49:10 Uhr

Thomas Wabel ist Privatdozent für Systematische Theologie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Michael Weichenhan ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ der Humboldt Universität zu Berlin.

www.peterlang.de

ASKR 10-Wabel Weichenhan-57294-A5HC-SH.indd 1

LANG

Texte, die zu den geistigen Grundlagen einer Gesellschaft gehören, mögen heute nicht mehr oft gelesen werden, aber sie werden kommentiert. Längst scheint es, als sei der Kommentar an die Stelle des Textes getreten. Kommentierung gehört zur Grundlage geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Die Beiträge dieses Bandes reflektieren die eigene wissenschaftliche Praxis des Kommentierens aus der Sicht von Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Religionswissenschaft. Die interdisziplinäre Verständigung über diese Praxis gibt zugleich Hinweise auf die gesellschaftlichen und kulturellen Vollzüge, in denen sich Kommentierung als Aktualisierung fundierender Texte ereignet.

Wabel / Weichenhan (Hrsg.) · Kommentare – Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis

10

Apeliotes

Studien zur Kulturgeschichte und Theologie

Thomas Wabel / Michael Weichenhan (Hrsg.)

Kommentare Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis

PETER LANG

Internationaler Verlag der Wissenschaften

12.08.11 13:49:10 Uhr

Kommentare

Apeliotes

Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling

Band 10

PETER LANG

Frankfurt am Main·Berlin·Bern·Bruxelles·New York·Oxford·Wien

Thomas Wabel / Michael Weichenhan (Hrsg.)

Kommentare Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis

PETER LANG

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISSN 1862-801X ISBN 978-3-631-57294-8

E-ISBN 978-3-653-01165-4

© Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2011 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

Inhaltsverzeichnis 

 ThomasWabel,MichaelWeichenhan Vorwort MichaelWeichenhan Einleitung:DerKommentaralsTransformationsmediumdesTextes JohannaBrankaer TextundWissen.DiegnostischeBeschäftigungmitdem Johannesevangelium KarinMetzler PatristischeGenesiskommentareamBeispielvonOrigenesund ProkopvonGaza FlorianWöller WahrheitoderMethode.ZumDeanimaKommentardesTommasode VioCajetan MichaelWeichenhan GassendisKommentierungvonDiogenes‘LaertiusVitaephilosophorum X–einBeispielderVerwissenschaftlichungderAntike? CatherinaWenzel DerKoran–einKommentarohneText? HelmutPollähne CommentareüberdasReichsstrafgesetzbuch(RStGB)–zur EntstehungeinerGattung ThomasWabel VomVerschwindendesTextesinseinerKommentierung–oder:Wie derTextinseinemVerschwindenzurGeltungkommt  Autorenverzeichnis  

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Vorwort  Texte, die – wie die Bibel oder das Grundgesetz – zu den geistigen GrundlageneinerGesellschaftgehören,mögenheutenichtmehroftge lesen werden, aber sie werden kommentiert. Ein guter Kommentar er möglicht es, den kommentierten Text so gut zu verstehen, dass kein Kommentar mehr benötigt wird und macht sich so idealerweise selbst überflüssig.DemwidersprichtjedochdieschiereMengeanKommentar literatur. Kommentierung gehört zur Grundlage geisteswissenschaftlichen Arbei tens. Wer geisteswissenschaftlich arbeitet, kommentiert selbst bereits kommentierte Texte, setzt sich mit bestimmten (selbst bereits klassisch gewordenen) Kommentaren auseinander, reflektiert die eigene Art die ser Kommentierung an alternativen Formen. Längst scheint es, als sei der Kommentar an die Stelle des Textes getreten. Der interdisziplinäre Diskurs zwischen exegetischen, historischen, systematischen und religi onshermeneutischen Zugängen kann Hinweise auf diejenigen gesell schaftlichenundkulturellenVollzügegeben,indenensichKommentie rungalsAktualisierungfundierenderTexteereignet. Die eigene wissenschaftliche Praxis des Kommentierens zu reflektieren, die im Verfassen und Edieren von bzw. der Auseinandersetzung mit Kommentarenbesteht,wardasZieleinervondenbeidenHerausgebern initiierten Vortragsreihe an der Theologischen Fakultät der Humboldt UniversitätzuBerlin.VondereigenenwissenschaftlichenPraxisgingen dieAutorinnenundAutorenaus,nichtvoneinerTheoriedesKommen tars. Insofern bietet der Band Fallstudien, keine kulturwissenschaftliche Synthese.  VielenhabendieHerausgeberzudanken:DenAutorinnenundAutoren, aber auch all denen, die in Diskussionen deren Perspektiven bereichert haben. PD Dr. Thomas Henne, LL.M. danken wir für vielfache Ermuti gung und hilfreiche Erfahrungen aus dem von ihm im Januar 2006 am MaxPlanckInstitut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main durchgeführteninterdisziplinärenProjektzum„KommentaralsMedium

8Vorwort

derKommunikationüberRecht“.AnnikaHildebrandundLydiaPenzel habendieTyposkriptemitUmsicht,SorgfaltundGeschickdennotwen digen Korrekturen unterzogen, wofür die Herausgeber ihnen herzlich danken.EinbesondererDankgiltProf.Dr.RainerKampling(FreieUni versitätBerlin),dessenfreundlichesInteressediePublikationinderRei heApeliotesallererstmöglichgemachthat.   LanggönsCleeberg/Berlin,imJuni2011      ThomasWabel,MichaelWeichenhan



 

   Einleitung:DerKommentaralsTransformations mediumdesTextes  MICHAELWEICHENHAN  Kommentare sind allgegenwärtig. Die Regale insbesondere der geistes wissenschaftlichen Bibliotheken sind angefüllt mit Kommentaren zu Homer, Vergil, Dante und Goethe, zu den Büchern der Bibel, zu den WerkenvonAristoteles,DescartesundKant,zumCorpusiuriscivilisund zumStrafgesetzbuch.Selbstdann,wenneinengerBegriffvonKommen tardiesenvonanderenFormenderInterpretationunterscheidet,machen Kommentare einen beträchtlichen Teil der geisteswissenschaftlichen Produktionaus. Der Kommentar in einem engeren Sinn, wohl am besten als „philolo gisch“zubezeichnen,dienteinemTextundbeanspruchtnicht,ihnindie Gegenwartfortzuschreiben.SeineAufgabeerfüllterinderRekonstruk tion dessen, was einem Autor präsent war, aber dem Leser des Textes nichtmehrohneweiterespräsentist.InsofernerseineLeserlediglichmit Informationen versorgt, die idealer Weise die einen Sinn ermittelnde Interpretation ermöglichen, also bspw. auf linguistische Probleme auf merksam macht, Quellen identifiziert, Anspielungen erklärt und über Realien aufklärt, ist er von der Interpretation mindestens der Tendenz nach zu unterscheiden.1 Laut Schleiermacher ermöglicht er das Verste hen,indemersichaufdie„HinwegräumungdervorläufigenSchwierig keiten“beschränkt.2InwieweitnurdiesephilologischeFormKommentar genannt und von anderen Formen der Interpretation auch terminolo gischabgegrenztwerdensollte,stehthierebensowenigzurDebattewie



1

Vgl. A. Thomasberger, Über die Erläuterungen zu Hofmannsthals Lyrik. In: Kom mentierungsverfahrenundKommentarformen,hgg.vonG.Martens,Tübingen 1993,11–16.

2

Vgl.F.D.E.Schleiermacher,HermeneutikundKritikmitbesondererBeziehungauf dasNeueTestament(1838),hgg.vonM.Frank,Frankfurt/M.1977,78f.

10MichaelWeichenhan 

die Frage, ob sich diese Abgrenzung tatsächlich streng durchführen lässt.3 BeiallenindiesemBanddiskutiertenKommentarenhandeltessichnicht um Beispiele derartiger, rein philologischer Erläuterungen, – die von KARIN METZLER diskutierten Passagen des Origenes kommen ihnen al lerdingsnahe–sondernumeinebestimmteArtvonSchriften,dieeinen anderen,einenälteren,ursprünglichenundinsoweit„kanonischen“Text erläutern, aber eben auch interpretieren. Das gilt von Kommentaren zu biblischenBüchernausdenerstennachchristlichenJahrhunderten,diein den Beiträgen von KARIN METZLER und JOHANNA BRANKAER behandelt werden,innichtgeringeremMaßevonsolchenzuAristotelesoderDio 

3



AufdieBegriffsgeschichtevon  und commentariusisthiernicht ein zugehen (vgl. F. Bömer: Der Commentarius: Zur Vorgeschichte und literarischen FormderSchriftenCaesars.In:Hermes81(1953),210–250),dainunseremthema tischen Horizont die bei Platon belegbare Bedeutung von    als Auf zeichnung,dieimZusammenhangdesUnterrichtszurErinnerungentsteht,und der commentarius (zu comminisci, sich erinnern: was zum Erinnern verwendet wird) stets als eine Art von Texten gilt, die etwas erläutern. Vgl. exemplarisch Hieronymus, Commentarius in epistolam ad Galatas III, prooem., (PL 26, 400C): „IchschreibekeineLobredeodereineStreitschrift,sonderneinenKommentar, d.h. ich habe nicht vor, meine eigenen Worte in den Mittelpunkt zu stellen, sonderndassdas,wasvonandernbereitsgutgesagtwordenist,soverstanden wird,wieesgesagtist.MeineAufgabebestehtdarin,Dunkleszuerklären,Of fensichtlicheskurzzustreifen,beiZweifelhaftemzuverweilen.Daherwirdvon denmeistenderSinnvonKommentarenalsErläuterungbestimmt.“(„menon panegyricum,autcontroversiamscribere,sedcommentarium,idest,hochabere propositum,nonutmeaverbalaudentur,sedutquaeabaliobenedictasunt,ita intelliganturutdictasunt.Officiimeiestobscuradisserere,manifestaperstringere,in dubiis immorari. Unde et a plerisque commentariorum opus explanatio nomina tur” (Hervorhebung MW). Weiter geht Simplikios, In Aristotelis Categorias (ed. KalbfleischCAG8,S.3,5f.):„MeinZielwar,eingenaueresVerständnisdesGe sagten zu befördern, zugleich den tiefen Geist des Autors, der der Menge un zugänglich ist, zu verdeutlichen und fasslicher zu gestalten” (      [...]           ,      !  ""   #$ %#  & # '  * *).BoethiuserklärtamBeginnseinesgroßenKom mentarszuDeinterpretatione(ed.C.Meiser,3),dieserseigeschriebenworden, umdenSchwierigkeitenabzuhelfen,diesichausderaußerordentlichknappen Darstellungsweise ergeben und noch über die üblichen Verständnisschwierig keiteneinesTextesdesAristoteleshinausgehen.

Einleitung11 

genes Laertios, wie FLORIAN WÖLLER und MICHAEL WEICHENHAN an HandfrühneuzeitlicherBeispielezeigen.DassdieseFormderKommen tierung, die im Gegensatz zum philologischen Kommentar dem Text eineAktualitätsichert,keineswegseinPhänomenderVergangenheitist, zeigtHELLMUTPOLLÄHNEaufdemGebietderRechtsprechung.Fasstman denBegriffdesKommentarssoweit,dassersichnahezuaufalleTexte erstreckt, die sich auf andere Texte beziehen, sie fortsetzen, weiterfüh ren,aberauchderenEinflusszuminimierenundunkenntlichzumachen versuchen, lässt sich mit CATHERINA WENZEL die auf den ersten Blick paradox erscheinende Frage Franz Rosenzweigs wieder aufnehmen, ob essichbeimKoranumeinenKommentarohneeinenTexthandelt.Hin ter Rosenzweigs Frage steht die Voraussetzung, den Koran von vorn hereinalseinenauktorialenTextzuverstehen,dervonMohammedver fasst worden sei, um die religiösen Traditionen, von denen er ausging, das Judentum, ein nestorianisch geprägtes Christentum und schließlich auch das arabische „Heidentum“ zu verdrängen. Hinsichtlich der heili gen Schriften der Juden und Christen fungiert der Koran dann als ein sekundärer Text, der das, was er vorgeblich kommentiert, in Wahrheit ersetzt.4UnabhängigvonderFrage,obeinesolcheSichtweisehistorisch angemessen ist – was Wenzel verneint –, so lenkt sie den Blick auf ein grundsätzlichesProblemdesKommentars:seinprekäresVerhältniszum Text.THOMAS WABELhatesalsdenZusammenhangzwischendemVer schwindendesTextesundderSicherungderAktualitätindessenKom mentaren bezeichnet.  Kommentare sind, so könnte man sagen, gerade deshalb interessant, weil sie nicht nur, gleichsam selbstlos, vorläufige Verständnisschwierigkeitenhinwegräumen,sondernauchselbsteinText sind.EinigewenigeBemerkungensollendiesverdeutlichen. 

Kommentare sind meist stattlichen Umfangs, darüber hinaus zahlreich, und schon deshalb haben sie etwas Einschüchterndes. Weil selbst der „dienende“ philologische Kommentar der subtilen Dialektik, die Hegel am Verhältnis von Herr und Knecht aufgedeckt hat, nicht entkommt, indemerdenBlickinbestimmterWeiselenktunddieLektüreinsoweit prägt,ist dieBeziehungzwischenTextundseinemKommentarproble matisch. George Steiner, der den philologischen und historischen Kom 

4

Vgl.dazujüngstA.Neuwirth,DerKoranalsTextderSpätantike.Eineuropäischer Zugang,Berlin2010,besonders37–44. 

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mentarschätzte,hatdieProblematikdessekundärenDiskurses,dersich ininterpretatorischenKommentierungenentfaltet,eindrücklichinsLicht gestellt. Seine unverhohlen axiologische Unterscheidung zwischen dem primärenTextundderMengederihmangelagerten„Kommentare“,die getragenwirdvoneinemtiefenUnbehagenanderakademischenRouti ne,artikuliertdiesichernichtunberechtigteBesorgnis,dassdenTextdie FülleseinerKommentierungenabsorbiert.Kommentaresinddannkeine Wegweiser oder Pfade zum Text selbst. Vielmehr verstellen sie den Blick, verschlingen ihn und fungieren geradezu als dessen Surrogat. FreilichistderNachdruck,mitdemSteineraufderUnersetzlichkeitdes Primärenbesteht,dasPathos,dasausseinerVerteidigungder„logozent rischen“ Auffassung von Sprache, Literatur, ja der gesamten Kunst spricht,nichtnurausderVerstimmungüberdieFluterläuternder,„se kundärer“Textezuerklären.DiewortreichvorgetrageneEmpörunghat ihren Grund letztlich in einer Theologie, die sich zusammenfassen lässt inSätzendesPrologsdesJohannesevangeliums:ImAnfangwardasWort –undGottwardasWort.FürSteiner,nichtandersalsfürDerrida,stellen dieseSätzesoetwaswieeingeheimesZentrumdereuropäischenKultur dar, die vom antiken Griechenland bis ans Ende des 19. Jahrhunderts reicht.5 Einer „logozentrischen“ Kultur, in der ein „primärer“ Text schließlichAbglanzeinesgöttlichenSprechensist:eineFormvonOffen barung.Offenbarungaberkannnichtverständlichgemacht,siekannnur akzeptiertwerden.SteinersidealeraufmerksamerLeserredetnichtüber Texte, erst recht nicht über seine Interpretationen, er sieht auf das, was ihmderText„bedeutet“.ErwirdeinesMysteriumsteilhaftig.DieWen dung zum Text, was hier heißt, zum großen, zum klassischen Text, be deutet deshalb einen Weg gegen den Strom der Zeit nehmen, sich den Fortschreibungen der Kommentare zu entziehen, also der différance sei ner Grenzen Einhalt zu gebieten. Der dekonstruktivistischen Verlo



5



Vgl.J.Derrida,Delagrammatologie,Paris1967;deutscheÜbersetzungvonH.J. RheinbergerundH.Zischler:Grammatologie,Frankfurt/M.1974;G.Steiner,Real Presences, London 1989; deutsche Übersetzung von J. Trobitius: Von realer Ge genwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, Mün chen1990.

Einleitung13 

ckung,dieseimmerweiterhinauszuschieben(différer),stelltSteinerden RufnachdemEndederKommentierungentgegen.6 Freilich ist das nur eine der möglichen Betrachtungsweisen, und eine zweifellos extreme. Was Steiner weniger übersieht als ausblendet, ist die transformatorische Funktion, die Kommentare gegenüber Texten erfüllen. Dies können sie, weil kein Text selbst Sprache, Anrede – oder gar eine „Offenbarung“–ist,sonderngrundlegendeinschriftlichfixiertesObjekt inderzwischenTextundLeser„zerdehntenSituation”,wiediesvonJan Assmann und Konrad Ehlich bezeichnet worden ist.7 Schrift bewahrt das, was nicht mehr präsent ist und somit erinnert werden muss, vor 

6

Steiner: Real Presences, 39f; 44: „Commentary is without end. In the worlds of interpretativeandcriticaldiscourse,book[...]engendersbook,essaybreedses say,articlesparnsarticle.Themechanicsoftheinterminabilityarethoseofthe locust.Monographfeedsonmonograph,visiononrevision.Theprimarytextis only the remote font of autonomous exegetic proliferation. [...] At present, in fact,theprincipleenergiesandanimusoftheacademicjournalisticoutpouring inthehumanitiesisofatertiaryorder.[...]Toachievefinalitiesofmeaningone mustpunctuate(theverytermisthatofa‘fullstop’).Onemustarrestthecan cerous throng of interpretations and reinterpretations.” Den authentischen Text, so gibt Steiner zu verstehen, machen die Interpretationen weniger ver ständlich als dass ihn das kommentierende Gerede profanisiert. Deshalb muss derTextgegendieimGrundeaufEntsakralisierunghinauslaufendeKommen tierunggeschütztwerden.—ÜberdenTextals„wertvollstesZeugnis[...]von dergöttlichenGegenwärtigkeitinderSchöpfung“vgl.H.White,Dasabsurdisti scheMomentinderLiteraturkritikderGegenwart.In:ders.:AuchKliodichtetoder DieFiktiondesFaktischen.StudienzurTropologiedeshistorischenDiskurses, hg. von R. Koselleck. Stuttgart 1986, 303–328, hier 306. –– Dass auch eine zu Steiner konträre Position theologische Argumente ins Feld führen kann, zeigt HaroldBloom(vgl.dessenAMapofMisreading,Oxford1975).FürBloomistein Text gemäß Barthes und Derrida nie primär Sprache, sondern genuin Schrift unddamitdieBasiseinesSpielsdiverserFortschreibungen.EinTextoffenbart deshalbnichtdengöttlichenLogos,sondernist,wieesimAnschlussandieLu rianischeKabbalaheißt,ResultatdergöttlichenSelbstkontraktion(),nicht AbglanzvonPräsenz,sondernZeichenderAbwesenheit.

7

K. Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Be dürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literari schen Kommunikation I, hgg. von Aleida Assmann/ Jan Assmann/ Christoph Hardmeier,München1983,24–43;J.Assmann:TextundKommentar.Einführung. In: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, hgg.vonJ.Assmann/B.Gladigow,München1995,9–33. 

14MichaelWeichenhan 

demVergessen.Aberdie Konservierungist,beziehtmansieaufdiele bendigeRede,unvollständig.Dennschriftlichfixierenlässtsichambes tenderlokutionaleBereicheinerÄußerung,währenddiesaufderilloku tionalen und perlokutionalen Ebene in nur geringerem Maße gelingt; auchentfallenverdeutlichendeGesten.GemessenanderRedeerscheint der Text damit nahezu farblos, als eine matte Aufzeichnung und eine Reduktion.8DaherwirdderRhapsodeIon,einerfolgreicherRezitator,zu Recht dafür bewundert, den Text des Homer „aufzuführen“, d.h. ihm die Plastizität der Rede wiederzugeben und so die Hörer zu Tränen zu rühren.9 Platon,derimIondenUnterschiedmarkierthatzwischeneinemauflite rarischer Überlieferung basierenden Wissen und der Einsicht, die die Philosophieermöglicht,warsichbewusst,dassTextenichteinfachpar tielleSpeicherungvonRedesind,sondernetwasanderes.FürdenAutor oderauchdenLeserfungierensiealsExternalisierungeninnererEinsich ten,siesindMitteleinerreinäußerlichenErinnerung,abernureinSur rogat der maieutischen Rede, die im lebendigen Gegenüber Erkenntnis unmittelbarerzeugt.InihrermateriellenObjektivitätstehensiedemei gentlichen Erkenntnisprozess insoweit geradezu im Wege, als sie den Erkenntnisvorgangzumäußerlichen,lesendenNachvollzugeinesbereits Erkannten und damit zur Simulation von eigentlicher Einsicht geraten zulassendrohen.10DerridahatdiesalsdieVerschleierungdernatürlichen understenAnwesenheitvonSinnbeiderSeeleimLogosbezeichnet.11 

8

Treffend bringt dies die Figur des RobertWalton im 2. Brief an die Schwester zum Ausdruck: „I shall commit my thoughts to paper, it is true; but that is a poormediumforthecommunicationoffeeling.Idesirethecompanyofaman whocouldsympathisewithme;whoseeyeswouldreplytomine”(M.Shelley: FrankensteinorTheModernPrometheus).

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Vgl.Platon,Ion535b–536d.

10 Platon, Phaedrus 275a: „Du hast (in Gestalt der Schrift) kein Heilmittel für die Erinnerung,sondernlediglichfürdasGedächtnisgefunden”(+'- , ).WeilderLesersichaufdieäußerenZei chenkonzentriert,vernachlässigterdenBlicknachinnen,ausdemalleinwahre Einsichtkommenkann,diePlatonalsWiedererinnerungbestimmt.Aufdiesem Hintergrund leuchtet ein, weshalb ein Teil der platonischen Lehre (oder gar diese insgesamt) laut epistula VII, 341a–444d ungeschrieben bleibt: Sie unter scheidet sich von einer Lehre, die man, schriftlich fixiert, ‚getrost nach Hause tragen’kann,geradedadurch,dasssieunmittelbarEinsichterzeugt.(Die–frei 

Einleitung15 

Diese Verschleierung hat Folgen. Anders als beim Verbergen der Ein sichten, die einer esoterischen Unterweisung vorbehalten und unge schriebenbleiben,trittdieverschrifteteErkenntnisnachaußen:Siewird zurLehre,dienichtdasSeiendeselbsterteilt,sondernderAutordesTex tes. Besteht diese Gefahr bereits bei der mündlichen Unterweisung, so wird sie bei deren Verschriftung potenziert.12 Worte sind kraftlos, hatte Platon im siebten Brief festgestellt. Weil sie schwach sind,