no body is perfect: Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse [1. Aufl.] 9783839404270

Der Wunsch nach einer Korrektur und Verbesserung der menschlichen Natur ist so alt wie die Menschheit selbst. Doch heute

183 57 2MB

German Pages 358 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

no body is perfect: Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse [1. Aufl.]
 9783839404270

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Transhumane Expansion
Die biotechnische Neuerfindung des Menschen
»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« Von der ästhetischen Umgestaltung des menschlichen Körpers und der Integrität der menschlichen Natur
Verbesserung als Selbstzweck? Psyche und Körper zwischen Abweichung, Norm und Optimum
Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf. Über die moralischen Grenzen der Forschungsfreiheit
Arbeit am eigenen Fremdkörper
Transhumanismus und Körperfeindlichkeit
Keramos Anthropos. Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese des Körperselbstbildes und dessen Störungen
Freiwillige Verstümmelung. Warum eigentlich nicht?
Bin ich schön? Über Körpertuning
Komplizen der Schönheit? Anmerkungen zur Debatte über die ästhetische Chirurgie
Schöner Hungern. Über den Zusammenhang von Diät und Wahn
Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen
Bin ich schlau? Über Hirntuning
Gedächtnispillen. Mögliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Personen
Dem Gehirn auf die Sprünge helfen. Eine ethische Betrachtung zur Steigerung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten durch Neuro-Enhancement
Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit. Was wäre dagegen einzuwenden?
Der Schmerz der Zeit
Vom Recht des Schmerzes. Grenzen der Körperinstrumentalisierung im Sport
Hart an der Grenze. Skizze einer Anamnese spätmodernen Körperkults
Hybridisierung oder Anerkennung? Zwei Politiken des Körpers in den Filmen David Cronenbergs und der Farrelly-Brüder
Anhang
Die Autorinnen und Autoren
Abbildungsnachweise

Citation preview

no body is perfect

2006-02-06 17-37-40 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

1

) T00_01 schmutztitel.p 107239490742

2006-02-06 17-37-43 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

2

) T00_02 vakat.p 107239491598

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.)

no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper Bioethische und ästhetische Aufrisse

2006-02-06 17-37-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

3

) T00_03 innentitel.p 107239491886

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Arnd Pollmann, Berlin Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-427-1

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2006-02-06 17-37-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

4

) T00_04 impressum.p 107239492006

Inhalt

Johann S. Ach, Arnd Pollmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Transhumane Expansion Ludwig Siep Die biotechnische Neuerfindung des Menschen

................

21

Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt »Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« Von der ästhetischen Umgestaltung des menschlichen Körpers und der Integrität der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Christian Lenk Verbesserung als Selbstzweck? Psyche und Körper zwischen Abweichung, Norm und Optimum . .

63

Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf. Über die moralischen Grenzen der Forschungsfreiheit

79

..........

Arbeit am eigenen Fremdkörper Matthias Kettner Transhumanismus und Körperfeindlichkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

2006-02-06 17-37-53 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

5-

7) T00_05 inhalt.p 107239492190

Benigna Gerisch Keramos Anthropos. Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese des Körperselbstbildes und dessen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Thomas Schramme Freiwillige Verstümmelung. Warum eigentlich nicht? . . . . . . . . . . . 163

Bin ich schön? Über Körpertuning Johann S. Ach Komplizen der Schönheit? Anmerkungen zur Debatte über die ästhetische Chirurgie Alexandra Deak Schöner Hungern. Über den Zusammenhang von Diät und Wahn

. . . . . . . 187

. . . . . . . . . . . . . . . . 207

Julia Schoch Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Bin ich schlau? Über Hirntuning Katja Crone Gedächtnispillen. Mögliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Davinia Talbot, Julia Wolf Dem Gehirn auf die Sprünge helfen. Eine ethische Betrachtung zur Steigerung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten durch Neuro-Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

2006-02-06 17-37-54 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

5-

7) T00_05 inhalt.p 107239492190

Bettina Schöne-Seifert Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit. Was wäre dagegen einzuwenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Der Schmerz der Zeit Volker Caysa Vom Recht des Schmerzes. Grenzen der Körperinstrumentalisierung im Sport

. . . . . . . . . . . . . 295

Arnd Pollmann Hart an der Grenze. Skizze einer Anamnese spätmodernen Körperkults

. . . . . . . . . . . . . 307

Robin Celikates, Simon Rothöhler Hybridisierung oder Anerkennung? Zwei Politiken des Körpers in den Filmen David Cronenbergs und der Farrelly-Brüder

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Anhang Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

2006-02-06 17-37-54 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

5-

7) T00_05 inhalt.p 107239492190

2006-02-06 17-37-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

8

) vakat 008.p 107239492342

Einleitung | 9

Einleitung

So viel steht fest: Der Wunsch nach einer Korrektur und Verbesserung der menschlichen Natur ist so alt wie die Menschheit selbst. Heute jedoch bieten sich für derart tief greifende »Baumaßnahmen am menschlichen Körper« immer perfektere (medizinische) Technologien an. Man denke dabei z.B. an Phänomene wie die derzeit boomende Schönheitschirurgie oder die augenfällige Zunahme eines buchstäblich unter die Haut gehenden Körperschmucks (Tätowierungen, Piercings etc.), an die unter dem Stichwort body shaping firmierende Fitness-Welle oder das Doping im Leistungssport, an Anti-Aging-Programme oder den sich verschärfenden Schlankheitswahn (Essstörungen, Diätpillen etc.), an den steigenden Konsum so genannter Lifestyle-Psychopharmaka (Viagra, Prozac u.a.) oder die medizinisch-neurologische Manipulation von Hirnvorgängen durch »Hirnschrittmacher« sowie nicht zuletzt auch an die bereits in naher Zukunft machbar erscheinende Praxis gentechnischer Perfektionierung. Während die biopolitische Diskussion um die Frage, inwiefern die medizinisch-technischen Fortschritte unserer Zeit legitime Hoffnungen auf eine zunehmende Befreiung des Menschen von Krankheiten und Leiden nähren, unvermindert anhält, gerät erst langsam in den Blick, dass sich etwas abseits der damit verknüpften ethisch-moralischen Grundsatzfragen, längst ein in evaluativer Hinsicht noch wenig erschlossenes, wenngleich äußerst zukunftsträchtiges Anwendungsgebiet von eben solchen Körpertechniken aufgetan hat, die eine nicht-krankheitsbezogene Behandlung und Manipulation, ja, eine Verbesserung der menschlicher Natur bewirken sollen. Im Mittelpunkt all dieser und ähnlicher Techniken aktiven Life Stylings steht der Versuch einer gezielten Manipulation, Modifikation und Potenzierung des menschlichen Körpers, der derzeit auf neue und erst noch aufzuklärende Weise an seine natürlichen Schranken stößt. Im Rahmen einer zunehmend »nachfrageorientierten« Medizin ändern sich die Rollen: Der

2006-02-06 17-37-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

10 | Johann S. Ach, Arnd Pollmann Patient wird zum Kunden, der Arzt gerät zum Dienstleister, aus Therapie wird »Enhancement«.1 Wo aber liegen die Grenzen zwischen kreativer Selbstgestaltung und autoaggressiver Selbstverstümmelung, zwischen autonomer Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Anpassung, zwischen einer Befreiung des Menschen von den Fesseln der Natur und der Hybris einer »transhumanen Expansion«? Fragen dieser Art sind es, die im vorliegenden Sammelband unter dem Motto no body is perfect aus philosophischer, medizinethischer, psychologischer, ästhetischer und kulturwissenschaftlicher Sicht diskutiert werden sollen. Der Titel des Buches kann dabei einerseits als motivierende Selbstbeschreibung jener spätmodernen Individuen gelesen werden, die auf die genannten Körperselbsttechniken zurückgreifen, andererseits aber auch als die eher unaufgeregte Reaktion ihrer Kritiker, von denen hier einige zu Wort kommen werden. Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes wollen Standpunkte markieren, aus deren Sicht der beschriebene Phänomenbereich weder unkritisch als Ausdruck eines spät- oder gar postmodernen Lebensgefühls gepriesen, noch simplifizierend als Verfallszeichen einer degenerierten Kultur denunziert wird. Das Themenfeld soll daher weder dem bisweilen gefährlich affirmativ wirkenden Diskurs um so genannte patchwork identities noch den durchweg kulturpessimistischen Deutungsversuchen der konservativen Kulturkritik überlassen werden. Dabei lassen sich – phänomenübergreifend – mindestens fünf zentrale Leitfragen unterscheiden, die im Rahmen der hier versammelten Beiträge jeweils unterschiedlich akzentuiert werden: (1) Welche wachsende Bedeutung bzw. Funktion kommt manipulativen Körperselbsttechniken im Rahmen der existenziellen Lebensführung einzelner Individuen zu? Fragt man nach dem persönlichen Stellenwert, den perfektionierende Enhancement-Maßnahmen im Leben jener Menschen besitzen, die sie – an sich selbst – vornehmen oder vornehmen lassen, so ist häufig von »Lebensqualität«, »wichtigen Erfahrungen«, »Selbstüberwindung« oder schlicht von »Spaß« die Rede. Aus Sicht der Betroffenen ergibt sich somit ein gänzlich neues medizinisch-technisches Anwendungsfeld: die wunscherfüllende Medizin. Dem vermeintlichen Zuwachs an Wohlbefinden auf Seiten der Nutznießer entsprechender Praktiken stehen jedoch auf Seiten kritischer Beobachter zahlreiche Befürchtungen gegenüber. Gewarnt wird z.B. vor fatalen Selbsttäuschungen und zwanghafter gesellschaftlicher

1 | Einen ersten thematischen Überblick verschaffen: Michael Fuchs u.a.: Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, drze-Sachstandsbericht, Bonn 2002; President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003.

2006-02-06 17-37-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

Einleitung | 11

Anpassung, vor unwiderruflichen Grenzüberschreitungen oder gar vor einer sich ausweitenden Tendenz zur Selbstzerstörung. (2) Wie lässt sich die gemeinte Entwicklung darüber hinaus kulturhistorisch einordnen? Zweifelsohne belehren uns zahlreiche kulturhistorische, anthropologische und ethnologische Studien darüber, dass es zu allen Zeiten und in allen Kulturen Techniken der Körperverschönerung und -perfektionierung gegeben hat. Das wachsende Aufkommen medizinisch-technischen Enhancements wirft aber die Frage auf, ob es sich hierbei um eine bloße Fortsetzung von historisch und kulturell eher vertrauten Phänomenen der Körperzucht und -zierde handelt oder ob damit nicht doch eine gänzlich neue Stufe der menschlichen Selbstverbesserungspraxis erreicht ist. Der Verdacht ist kaum mehr von der Hand zu weisen, dass der in unseren westlichen Gesellschaften zu beobachtende Zuwachs entsprechender Praktiken längst ein bedrohliches, zumindest aber diskussionswürdiges Ausmaß angenommen hat. (3) Mit der kulturhistorischen Perspektive eng verknüpft ist die Frage, wie diese Phänomene zeitdiagnostisch verortet werden müssen. Was hat der augenfällige Zuwachs an perfektionistischen Körpermanipulationen mit der kulturellen und sozioökonomischen Lage zu tun, mit der sich spätmoderne Individuum nach der Jahrtausendwende konfrontiert sehen? Reagieren die Anhänger des Körper-Enhancements auf Stimmungen, Erwartungen und vielleicht auch Zwänge ihrer Lebenswelt? Der mitunter geradezu monströs anmutende Umbau des menschlichen Körpers im Zuge von Schönheitschirurgie, Bodybuilding, Piercing u.Ä. weckt nicht zuletzt den Verdacht, dass man es mittlerweile mit einer Dialektik der Selbstvervollkommnung zu tun hat: Das menschliche Streben nach Selbstperfektion schlägt mehr und mehr in Selbstzerstörung um. (4) Welche, im weitesten Sinne, politischen Implikationen ergeben sich aus der hier skizzierten Enhancement-Problematik? Einst stand die medizinisch-technische Verbesserung der conditio humana im Dienste der Befreiung des Menschen von den Zwängen einer übermächtigen Natur. Diese Verbesserung galt als fester Bestandteil jenes größeren politischen Projekts, das menschliche »Emanzipation« genannt wurde. Ist dem noch immer so oder haben sich die gemeinten Umbautätigkeiten inzwischen verselbständigt? Fragt man nach dem normativen Fluchtpunkt der heute gängigen oder aber in naher Zukunft machbaren Körperselbsttechniken, so kann von einer radikalen Individualisierung utopischen Denkens gesprochen werden, wenn man den biopolitischen Umstand bedenkt, dass der Angriffspunkt dieser Praktiken längst nicht mehr der großformatige Körper des Gesellschaftlichen, sondern der gestählte body Einzelner ist. Offenbar lautet das politische Programm derzeit: Vom Sonnenstaat zum Astralkörper. (5) All diese Überlegungen laufen auf die grundlegende Frage hinaus,

2006-02-06 17-37-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

12 | Johann S. Ach, Arnd Pollmann ob sich die in diesem Buch diskutierten Körperselbsttechniken am Ende einer spezifisch ethisch-moralischen Bewertung unterziehen lassen. Bei der Beschreibung und soziokulturellen Verortung von eindeutig nicht-krankheitsbezogenen Praktiken ist man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob es »objektive« Kriterien gibt, anhand derer die gemeinten Techniken begrüßt oder aber kritisiert werden können. Gibt es moralische Grenzen der Selbstund Fremdverfügung über den Körper? Was darf ich selbst, was dürfen andere meinem Körper antun? Gehen mit den auf der »Verbraucherseite« gehegten Hoffnungen auf eine wunscherfüllende Medizin nicht auch entsprechende Rechte auf Erfüllung dieser Wünsche einher? Und welche Verantwortlichkeiten ergeben sich auf Seiten derjenigen, die beim Enhancement tatkräftig behilflich sind? Kurz: Wann und wem muss Enhancement verboten werden, wann und wem sollte es erlaubt sein? Zusätzlich erschwert wird die Bearbeitung der mit diesen fünf Problemkomplexen verknüpften Fragen dadurch, dass man es bei der Beurteilung von einzelnen, konkreten Enhancement-Maßnahmen mit einigen konzeptionellen Schwierigkeiten zu tun hat: Unklar ist, erstens, wo genau die Grenze zwischen Therapie und Enhancement zu ziehen ist und wie diese Grenzziehung begründet werden kann. So dürfte z.B. die pharmakologische Versorgung eines an Grippe erkrankten Menschen als fraglos legitim eingestuft werden, während der Einsatz von Dopingmitteln im Leistungssport überwiegend als ethisch-moralisch problematisch angesehen wird. Wie aber verhält es sich im Fall der präventiven Impfung? Wird nicht auch hier eine gezielte »Verbesserung« der menschlichen Natur vorgenommen? Zu bedenken ist, zweitens, dass die gleiche medizinische Technik einmal als Therapiemaßnahme begrüßt, im anderen Fall als unzulässiges Enhancement kritisiert werden kann. Man nehme das Beispiel der Schönheitschirurgie: Dient eine medizinische Operation der Wiederherstellung eines bei einem Unfall schwer verletzten Gesichts, wird sie einhellig als sinnvoll und wünschenswert angesehen; geht es hingegen um die völlige Umgestaltung von ansonsten unversehrten Gesichtszügen nach dem Vorbild eines berühmten Pop- oder Filmstars, wird der Eingriff vermutlich auf Kritik stoßen. Schließlich wird man, drittens, bei der Sichtung und Evaluation des Phänomenbereichs stets zwischen ausgleichenden oder aber Vorteile verschaffenden Formen von Enhancement unterscheiden müssen. Handelt es sich um den Versuch einer Kompensation unverschuldeter, natürlicher Benachteilungen, z.B. von körperlichen Behinderungen, dürften entsprechende Maßnahmen weniger kontrovers diskutiert werden, als wenn es darum geht, sich auf künstlichem Wege einen »unnatürlichen« Vorsprung zu verschaffen; etwa durch die Verlängerung der Arme und Beine eines Basketball-Spielers. Wie auch immer man sich in diesen drei konzeptionellen Grundsatz-

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

Einleitung | 13

fragen zu positionieren versucht, rasch wird dabei deutlich werden, dass bislang keine klaren Maßstäbe absehbar sind, die eine genauere Grenzziehung zwischen Therapie und Enhancement sowie zwischen eindeutig legitimen, medizinisch indizierten Anwendungen und gegebenenfalls illegitimen Formen einer perfektionistischen Körpermanipulation möglich machen würden. Entsprechend begeben sich die in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren auf die Suche nach derartigen Beurteilungskriterien, mit dem Ziel, dadurch zu einem besseren Verständnis der unter den Enhancement-Begriff fallenden Einzelphänomene beizutragen.

Zu den Beiträgen Der diskursive Horizont, der durch die Beiträge des Buches abgesteckt wird, lässt sich in etwa wie folgt umreißen: Was hat das medizinisch-technisch unterstützte Life Styling unserer Tage mit dem ethisch, moralisch, psychologisch und auch ästhetisch gelingenden Leben zu tun? Dabei soll das genuin transdisziplinäre Thema aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven in den Blick kommen. Die im ersten Abschnitt unter dem Titel »Transhumane Expansion« versammelten Beiträge sondieren zunächst, und zwar vornehmlich aus philosophischer Sicht und eher grundsätzlich, das spezifische Terrain, das mit der Frage nach der medizinisch-technischen Perfektionierung und Überwindung der menschlichen Natur betreten ist. Liegt in der biotechnischen Neuerfindung oder Überschreitung der bisherigen biologischen Grenzen der Gattung nicht auch ein Wert? Vor dem Hintergrund dieser Frage ordnet Ludwig Siep die Argumente, die jeweils für und gegen das Vorhaben einer Verbesserung der Natur des Menschen sprechen. Dabei, so Siep, müssen mindestens drei irreduzible Grundsatzfragen unterschieden werden, bevor es zu einer ethisch-moralischen Bewertung einzelner Enhancement-Maßnahmen kommen kann: Ist medizinisch-technisches Enhancement grundsätzlich »geboten«? Oder muss es vielmehr prinzipiell »verboten« werden? Und wenn dies beides nicht der Fall ist: Unter welchen Umständen sollte es »erlaubt« sein? Ein Argument, das für die Verbotenheit von Enhancement sprechen könnte, lautet, dass die »menschliche Natur« einen intrinsischen Wert besitzt. Kurt Bayertz und Kurt W. Schmidt skizzieren in ihrem gemeinsamen Beitrag einige der Hintergrundannahmen dieses Arguments. Sie weisen auf die Begründungslasten hin, die wir uns aufbürden, wenn wir der menschlichen Natur einen inhärenten Wert zuschreiben, und diskutieren anschließend – vor dem Hintergrund des heute populären Ideals der »Authentizität« – zentrale Motive der Körperveränderung bzw. Körperverbesserung. Was aber meinen wir überhaupt, wenn wir von »Verbesserung«

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

14 | Johann S. Ach, Arnd Pollmann oder »Optimierung« sprechen? Welche Maßstäbe können wir heranziehen, um Defizite unserer Psyche oder unseres Körper zu identifizieren, deren Normalität zu definieren oder aber ihre Optimierung in den Blick zu nehmen? Christian Lenk problematisiert in seinem Beitrag einige der derzeit gängigen Theorien über Krankheit und Gesundheit, um mit Blick auf die Beurteilung der Enhancement-Frage für einen handlungstheoretischen Ansatz im Anschluss an Lennart Nordenfelt zu plädieren. Andreas Bachmann und Klaus Peter Rippe treten in ihrem Beitrag noch einmal einen Schritt zurück und diskutieren die Frage, ob es Ziele einer auf Enhancement gerichteten Forschung gibt, die intrinsisch moralisch falsch sind. Im Rückgriff auf Beispiele aus Film und Literatur gehen sie der Frage nach, wo die modernen Technologien an eine Grenze stoßen, die aus ethischen Gründen nicht überschritten werden darf. Der zweite Abschnitt »Arbeit am eigenen Fremdkörper« spürt den autoaggressiven Tendenzen der unter den Enhancement-Begriff fallenden Körperpraktiken nach. Unter dem Motto »Wer vom Transhumanen sprechen will, kann über Humanismus nicht schweigen« setzt sich Matthias Kettner mit unterschiedlichsten Varianten des so genannten Trans- oder Posthumanismus auseinander, dessen Anhänger dazu neigten, das Interesse an Emanzipation einseitig individuell auszulegen. Ein humanistisches Selbst- und Weltverhältnis könne sich jedoch nur dort entfalten, so Kettner, wo sich die Einsicht durchsetzt, dass das eigene Leben, wenn es gelingen soll, nicht autark, sondern in »transindividuellen Lebensformen« geführt und verkörpert werden müsse, sonst werde es in transhumane Körperfeindlichkeit umschlagen. Aus genuin psychoanalytischer Sicht bringt Benigna Gerisch Licht in die lebensgeschichtliche Genese selbstschädigenden Verhaltens. Trotz zahlreicher seelischer und biographischer Gemeinsamkeiten, die vor allem das verdinglichte »Körperselbstbild« der sich selbst schädigenden Akteure betreffen, müssen nicht zuletzt geschlechtsspezifische Unterschiede festgehalten werden. So ist z.B. fraglich, warum Frauen in einem sehr viel höheren Maße als Männer zu autoaggressivem Verhalten neigen. Thomas Schramme sucht eine Antwort auf die Frage, welche spezifischen ethisch-moralischen Gründe überhaupt gegen Praktiken der Selbstverstümmelung sprechen und ab wann paternalistische Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Akteure zu rechtfertigen sind. Nach Zurückweisung der heute geläufigen Erklärungsversuche kommt Schramme zu dem Ergebnis, dass allein der Hinweis auf den Körper als »Quelle anthropologischer Werte« das noch immer weit verbreitete Unbehagen in Bezug auf selbstschädigendes Verhalten zu erklären vermag. Im dritten Abschnitt »Bin ich schön?« werden dann einzelne, konkrete Enhancement-Maßnahmen, die ausdrücklich der Verschönerung des Körpers dienen, unter die Lupe genommen. Johann S. Ach befasst sich in sei-

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

Einleitung | 15

nen Anmerkungen zur ästhetischen Chirurgie mit der – auf den ersten Blick widersprüchlichen – Beobachtung, dass die Schönheitschirurgie einerseits neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung und der Selbsterschaffung zu eröffnen scheint, dass aber andererseits die handlungsleitenden Motiven und Normen bei ästhetisch-chirurgischen Eingriffen zumindest teilweise kulturell und sozial vorgeprägt sind. Alexandra Deak konstatiert einen geradezu offenkundigen, aber nur selten erkannten Zusammenhang von populären Diätpraktiken und psychopathologischen Essstörungen. Der sich im 20. Jahrhundert mehrstufig vollziehende Wandel anerkannter Schönheitsideale vom »runden« weiblichen Körper zunächst zur »Schlankheit« und dann zur »Magerkeit« geht mit einem Siegeszug moderner Diätmethoden und zugleich auch mit einem wachsenden Ausmaß klinischer Essstörungen einher, deren gemeinsamer Ursprung, so Deak, ein ersatzreligiöses Heilsversprechen ist. Ebenfalls von einer unterschwelligen Sehnsucht scheinen Praktiken schmerzhaften Körperschmucks motiviert zu sein, denen sich Julia Schoch am Beispiel von Tätowierungen zuwendet. Deren mittlerweile massenhaftes Aufkommen ist von einem offenkundigen Paradox gekennzeichnet: Das Tattoo soll Individualität und Unangepasstheit signalisieren, dabei ist es längst selbst zur Konvention geworden. Tätowierungen, so Schoch, sind als Zeichen, die nichts mehr zeigen, als »Signal« zu deuten: Heutige Tätowierte bringen das buchstäblich schmerzhafte Verlangen zum Ausdruck, entziffert zu werden, obgleich es immer weniger zu entziffern gibt. Die Beiträge des vierte Abschnittes mit dem Titel »Bin ich schlau?« umkreisen ein kulturgeschichtlich und medizinhistorisch gänzlich neues Phänomen: das so genannte Neuro-Enhancement. Gemeint sind medizinisch-technische und vor allem pharmakologische Manipulationen der menschlichen Psyche. Die in diesem sowie im letzten Abschnitt nahe gelegte Unterscheidung zwischen »Körper« und »Gehirn« sollte hier jedoch nicht ontologisch missverstanden werden. Sie will lediglich auf unterschiedliche phänomenale Zugriffsgrößen verweisen, keineswegs aber eine Vorentscheidung im traditionellen Streit um das Leib-Seele-Problem mit sich bringen. Zunächst sortiert Katja Crone, um eine Grenzziehung zwischen legitimen und illegitimen Formen medizinischer Gehirnmodifikationen vorzubereiten, unterschiedliche Anwendungsbereiche pharmakologischer »Gedächtnismanipulation«. Anschließend wird dann ein hermeneutisch bzw. introspektiv ansetzendes Modell der »Person« skizziert, welches deutlich werden lässt, dass die ethisch-moralischen Grenzen des Neuro-Enhancements immer dann übertreten werden, wenn das individuelle Selbstverständnis, Person zu sein, angetastet wird. Davinia Talbot und Julia Wolf konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf die Frage, ob die aktuelle NeuroEnhancement-Problematik gegenüber anderen, vertrauteren Formen kör-

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

16 | Johann S. Ach, Arnd Pollmann perlicher Selbstperfektionierung gänzlich neue ethische Probleme aufwirft. Trotz vieler Parallelen, so lautet ihre These, ist bei Eingriffen in das Gehirn ein derart zentraler Teil des menschlichen Körpers betroffen, dass sich dadurch überaus grundlegende Fragen nach der Veränderbarkeit des »Kerns« einer Person, ihrer Identität und Authentizität stellen. Im Zentrum der Überlegungen von Bettina Schöne-Seifert stehen weniger die Ziele, als die Mittel, die zu Enhancement-Zwecken herangezogen werden. Was steckt hinter der in der Debatte immer wieder vorgetragenen Behauptung, konventionelle Methoden der »Verbesserung« bzw. der Leistungssteigerung (z.B. Erziehung, Training, Biofeedback) seien »bessere« oder »authentischere« Mittel als chemische oder technische Enhancement-Verfahren? Die Autoren des letzten Abschnittes »Der Schmerz der Zeit« unternehmen eine zeitdiagnostische Verortung der in diesem Buch diskutierten Phänomene; wenngleich in recht unterschiedlicher Perspektive. Zunächst diagnostiziert und kritisiert Volker Caysa am Beispiel des modernen Leistungsports eine wachsende Beliebtheit der Utopie des »schmerzfreien Körpers«, wie sie etwa im Doping oder anderen schmerzlindernden oder gar -verhindernden sportmedizinischen Maßnahmen zum Ausdruck kommt. Im Schmerz, so Caysa, macht sich nicht nur ein spezifisches »Eigenrecht« des Körpers bemerkbar, das wir diesem nicht absprechen sollten. Die Fähigkeit, Schmerz wahrzunehmen, ist in Form des »Mitleidens« zugleich auch zentrale Bedingung eines humanen Miteinanders. Arnd Pollmann geht dem Verdacht nach, dass spätmoderne Individuen auf das schwindende Schmerzaufkommen ihrer Zeit mit einer künstlichen Schmerzerzeugung reagieren, wie sie z.B. in populären Formen peinigenden »Körperkults« zum Ausdruck kommt. Anhand einer Art Krankengeschichte dieses spätmodernen Körperkults fördert Pollmann einige zeittypische, wenngleich soziokulturell unterschwellig wirkende Unzufriedenheiten zu Tage, die das spätmoderne Subjekt am jeweils eigenen Körper autoaggressiv ausagiert. Robin Celikates und Simon Rothöhler schließlich richten ihren Blick auf die künstlerische bzw. filmästhetische Verarbeitung der in diesem Buch umrissenen Körperproblematik. In Analyse und Konfrontation der Filme David Cronenbergs einerseits, der Brüder Farrelly andererseits werden zwei konträre Strategien erkennbar, die transhumane Körperüberwindung in eine filmästhetische und auch politische Programmatik zu übersetzen: entweder durch bizarre Bilder, die das zerstückelte »neue Fleisch« im Zuschauer drastisch, aber auch ein wenig melancholisch anschaulich werden lassen, oder durch witzige Reintegration und Anerkennung des »imperfekten« Körpers, der im vermeintlich unpolitischen Slapstick eine subversive, demokratische Kraft entfaltet.

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

Einleitung | 17

Die beiden Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren des Bandes für ihre Mitwirkung und ihr geduldiges Warten auf dessen Erscheinen. Uns bleibt die Hoffnung, dass es sich für sie gelohnt hat. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von transcript, insbesondere Andreas Hüllinghorst, sei für ihre zuvorkommende und stets rasche Unterstützung gedankt. Die Puppenklinik Schneider in Düsseldorf, mediXtra in Berlin und Gero von Braunmühl aus München haben uns netterweise den Abdruck ihrer schönen Fotos gestattet. Johannes Albers aus Berlin hat uns bei den ersten Entwürfen der fünf Foto-Seiten beraten. Ein besonderer Dank geht an Matthias Wolfschmidt, den Freund und ehemaligen Kollegen, mit dem wir einst gemeinsam, in einer Reihe von für uns wertvollen Zigarettenpausen, das Buchprojekt ins Rollen brachten.

Johann S. Ach, Arnd Pollmann Münster und Berlin, Januar 2006

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

9- 17) T00_06 einleitung.p 107239492622

2006-02-06 17-37-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

18

) vakat 018.p 107239492958

Transhumane Expansion

2006-02-06 17-37-59 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

19

) T01_00 respekt.p 107239493190

2006-02-06 17-37-59 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

20

) vakat 020.p 107239493390

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 21

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen Ludwig Siep

Einleitung Menschen wollten schon immer über sich hinaus.1 Sie wollten den Göttern gleich werden, sich von ihrem Körper trennen oder sich auf der Stufenleiter der niederen und höheren Wesen2 dem Reich der höheren Geister nähern. Zumeist waren Techniken der Askese, der Moralisierung, der Sublimierung der Affekte, der Anstrengung des Denkens oder der Meditation entsprechende Methoden eines solchen Aufstiegs. »Übermenschliche« Leistungen konnten aber auch durch Training des Körpers oder Erlernung von Techniken und Künsten erreicht werden. Übermenschlich kann dabei entweder den Abstand zu »normalen« menschlichen Leistungen bedeuten – so spricht man umgangssprachlich oft von übermenschlichen Leistungen biologisch normaler Menschen – oder eben eine die conditio humana übersteigende Stufe. Derzeit werden Techniken der Überwindung menschlicher Leistungsgrenzen im Zusammenhang mit biotechnischen Entwicklungen wie der Gentechnologie, der medizinischen Anwendung der Nanotechnologie oder der Stammzellforschung erörtert. In der bioethischen Diskussion streitet man über die Differenz zwischen Therapie und Enhancement, der Bekämp1 | Dem folgenden Text liegt ein Vortrag zugrunde, der auf dem XX. Deutschen Kongress für Philosophie, der vom 26.-30. September 2005 in Berlin stattfand, gehalten wurde. Er wird auch in den Kongressakten publiziert werden. 2 | Zu der von der griechischen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung einer aufsteigenden Kette von natürlichen und geistigen Wesen vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt/M. 1985.

2006-02-06 17-38-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

22 | Ludwig Siep fung von Krankheiten gegenüber der Verbesserung körperlicher Leistungen.3 Während Therapie durch das allgemeine Gebot der Hilfeleistung und speziell durch das ärztliche Ethos der Leidensbefreiung sowie der Wiederherstellung körperlicher Leistungsfähigkeit moralisch geboten und jedenfalls unbedenklich erscheint, ist die Erlaubnis zur Verbesserung des menschlichen Körpers ethisch problematisch. In der bioethischen Diskussion liegt der Akzent heute zumeist auf der Frage, ob zwischen Therapie und Enhancement überhaupt eine Grenze zu ziehen ist. Verwischen Implantate und Pharmaka, vor allem Psychopharmaka, aber auch Anti-Aging und Lifestylemedizin nicht schon längst diese Grenzen? Partizipieren sie damit nicht bereits an den ethisch erlaubten, ja, gebotenen Hilfeleistungen? Zeigt ihre Akzeptanz nicht, dass auch Maßnahmen, die nicht Krankheit bekämpfen oder Funktionen wiederherstellen, sondern Wünsche nach Leistungssteigerungen erfüllen, wenn schon nicht als Hilfe geboten, dann doch als unproblematische Wunscherfüllung zumindest erlaubt sind? Und wo könnte dann noch eine Grenze zur Höherzüchtung des Menschen liegen? Im Folgenden möchte ich diese Fragen einmal von der umgekehrten Richtung her angehen: Liegt nicht auch in der biotechnischen Neuerfindung oder der Überschreitung der bisherigen biologischen Grenzen der Gattung ein Wert? Ist eine solche Höherentwicklung nicht eines der vornehmsten Ziele menschlicher Kreativität? Stellt sie vielleicht sogar ein Gebot dar, das wir erfüllen sollten – entweder eines, das die Evolution oder ihr Schöpfer uns auferlegt, oder ein solches, das zukünftige Probleme einer Menschheit mit beschränkten biologischen Fähigkeiten uns aufzwingen? Erst wenn diese Fragen eines Gebotes oder Wertes der Steigerung des Menschen durch Biotechniken beantwortet sind, können konkrete ethische Fragen nach der Erlaubnis medizinischer Verbesserungen, die über Therapie hinausgehen, deutlicher gestellt werden. Es ist dann nämlich klarer, ob jenseits der Therapie überhaupt verbotenes Land liegt oder vielmehr ethisch zu suchendes. Die Argumente der »Bedenkenträger« gegen derzeitige und voraussehbare Formen des Enhancements wären vielleicht entkräftet, der Streit um die Grenze weitgehend überflüssig. Bevor ich auf die Frage der Gebotenheit, Erlaubtheit oder des Wertes einer biotechnischen Neuerfindung des Menschen eingehe, hier vorab einige Hinweise auf die geistes- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der gegenwärtigen Debatte über »Kreativität«.

3 | Vgl. dazu den umfassenden Bericht: President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003.

2006-02-06 17-38-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 23

1. Neuzeitliche Tendenzen der Selbsttranszendierung In der europäischen Neuzeit haben Tendenzen der Selbsttranszendierung des Menschen in drei Hinsichten eine neue Richtung und einen neuen Schub bekommen: Erstens durch die Aufwertung des Schöpferischen gegenüber dem vormodernen Ideal der Nachahmung der Natur als einer vorbildlichen Ordnung; zweitens durch die Säkularisierung der Jenseits-Vorstellungen von einer erlösten und verwandelten Menschheit zu einem Ziel der immanenten Entwicklung innerhalb der menschlichen Gesellschaft und Geschichte; drittens durch die Entwicklung der auf der neuzeitlichen Wissenschaft beruhenden Technik und Medizin, die beide zu einer enorm beschleunigten und erleichterten Verbesserung von Natur und menschlichem Körper in technischer sowie sozialer Hinsicht führen. (1) Über den ersten Aspekt sind wir durch Arbeiten zur Entstehung des Ideals des Schöpferischen aufgeklärt worden. Hans Blumenberg hat in seinem Aufsatz »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen« (1956) die antiken und mittelalterlichen Wurzeln freigelegt.4 Die entscheidende Voraussetzung des neuzeitlichen Kreativitätsideals sieht Blumenberg in der Ablösung eines nach festen Ideen und Begriffen die Natur erschaffenden Gottes durch den allmächtigen Willensgott, der unendlich viel mehr Möglichkeiten realisieren könnte, als die tatsächlich erschaffene Natur zu erkennen gibt. Sich diesem Gott anzunähern, besteht daher nicht in der Nachahmung seiner Schöpfung, sondern seiner Schöpferkraft, d.h. seiner Fähigkeit, Neues, Unvorhersehbares und bislang Unvorstellbares zu imaginieren und zu materialisieren. Blumenberg konnte aber selbst 1956 kaum ahnen, inwieweit das Schöpferische, Kreative, Innovative, Visionäre zum Vorbild bzw. zur Forderung nicht nur an den Künstler und Erfinder, sondern auch an den Politiker, Manager, Wissenschaftler und weitgehend auch an den »Normalmenschen« werden würde. Die Gründe dafür sind zahlreich und komplex und können hier allenfalls angedeutet werden. Zu ihnen zählt die Technifizierung der Lebenswelt mit ihren permanenten Verheißungen von Verbesserungen und Leistungssteigerungen der Apparate, Strukturen und Organisationen; sicher auch die ökonomischen Erfordernisse hoch technisierter rohstoffarmer Länder, die nur durch technisches Know-how und entspre-

4 | Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1956, S. 55-103. Zu den philosophischen Grundlagen dieser Idee speziell in der Renaissance vgl. auch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Die zweite Schöpfung der Welt. Sprache, Erkenntnis und Anthropologie in der Renaissance, Mainz 1994.

2006-02-06 17-38-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

24 | Ludwig Siep chende Produkte ihre Stellung im globalen Verteilungskampf behaupten können. Kreativität ist nicht mehr nur etwas Bewundernswertes, sondern etwas zur Erhaltung von Wohlstand Notwendiges. Zudem kreieren die unvorhersehbaren technischen Entwicklungen und deren Wechselwirkungen unentwegt Probleme, die anscheinend ebenfalls nur durch neuartige technische und organisatorische Vorstellungen zu bewältigen sind. Die Forderung nach Kreativität ist zunehmend auch eine Reaktion gegen die Spezialisierung der Tätigkeiten und sozialen Systeme geworden: Wer Visionär oder »Querdenker« ist, kann die Grenzen dieser Systeme durchbrechen und neue Perspektiven erobern. Schließlich passt diese Forderung auch in eine Gesellschaft und eine Weltregion, in der die Notwendigkeiten der alltäglichen Lebensbewältigung sich in begrenzter Zeit bewältigen lassen und das Verlangen nach Überwindung von Langeweile und ermüdender Wiederholung zunimmt; wobei solche Wiederholungen durch die Serien- und Massenproduktion sowie die weltweit gleichen Standards der Verkehrs- und Konsumwelt selbst produziert und in ihrer Frequenz gesteigert werden. Doch weiter soll der Konjunktur der Kreativitätsforderung als der derzeitigen Gestalt des »Ideals des schöpferischen Menschen« hier nicht nachgegangen werden. Zum Thema Kreativität gehört heute sicherlich auch die Möglichkeit einer kreativen Neuerfindung des Menschen; nicht nur hinsichtlich der Überwindung seiner Mängel, sondern auch in Bezug auf seine Steigerungsmöglichkeiten. Dass ihm diese Steigerungsmöglichkeiten derzeit nicht durch eine Negation seiner Schwächen oder durch Orientierung an körperlosen Wesen, sondern durch die Kapazitäten von ihm selbst erfundener Maschinen vor Augen treten, ist ein Charakteristikum der jüngsten Zeit. (2) Zum zweiten der oben erwähnten Aspekte, der Säkularisierung von sozialen Enderwartungen, sind deshalb einige Bemerkungen nötig, weil die medizinisch-technischen Utopien der Neuzeit vielfach in direktem Zusammenhang mit Sozialutopien entwickelt wurden. Die Gründe für unüberwindliche soziale Konflikte, für Unterdrückung und Ungerechtigkeit liegen ja sowohl in der Knappheit natürlicher Ressourcen wie in der unzureichenden »Sozialausstattung« der Menschen: ihrem Mangel an Sympathie, ihrem Streben nach Exklusivität und ihrer Tendenz zur Aggressivität. Dass dem möglicherweise schon im diesseitigen Leben, nicht erst in jenseitiger Erlösung, und zwar durch Erziehung, Gesetze, aber auch durch technische Verbesserungen abzuhelfen sei, beschäftigte die Utopien und Reformprogramme der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert. Francis Bacon hat in der »Nova Atlantis« (1638) gefordert, dass der Einsatz von Wissenschaft und Technik, gerade auch der Tierzucht und Medizin – darunter Forschungen zur Lebensverlängerung – die Erziehungsprogramme und Staatsord-

2006-02-06 17-38-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 25

nungen ergänzen müsse.5 Auch Züchtungsprogramme zur Verbesserung der Menschen im Rückgriff auf die Platonische politeia finden sich schon im frühen 17. Jahrhundert (z.B. bei Campanella).6 In großem Maßstab werden sie in das Programm einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen freilich erst in Utopien und Sozialexperimenten des 19. und 20. Jahrhunderts aufgenommen. Hier wird Eugenik unter Einsatz der medizinischen Technik zum wichtigen Mittel, den Menschen für die Endzeitgesellschaft fähig zu machen.7 (3) Die Bindung der technischen Naturverbesserung an radikale gesellschaftliche Reformprogramme hat die Tendenz zur Verbesserung der biologischen Anlagen des Menschen aber auch mit erheblichen Problemen und Hindernissen konfrontiert. Sie stand nicht nur den Strukturen der traditionellen Moral und Religion entgegen, sondern auch dem neuzeitlichen Streben nach individueller Autonomie und nach privater Lebensplanung und -führung. Diese Hindernisse werden erst durch den dritten der erwähnten Schritte überwunden. Erst aufgrund der modernen Chemie, der Mikro- und Biotechnik ist die Medizin in der Lage, direkt und gezielt in genetische Informationen und biochemische Prozesse des Körpers einzugreifen. Erst jetzt ist anstelle einer erzwungenen staatlichen Verbesserung eine individuell gewünschte Perfektionierung menschlicher Eigenschaften und Funktionen denkbar: die so genannte »liberale Eugenik«.8 Natürlich liegt der Impuls zur Entwicklung von chemischen, pharmazeutischen und biotechnischen Angeboten solcher Verbesserung nicht nur bei den individuellen Wünschen des »Empfängers«. Vielmehr gibt es große Anreize für Produzenten, Marktanbieter, Bedürfniserzeuger und möglicherweise auch für (politische) Interessenten an Vorhersehbarkeit und Steuerbarkeit menschlicher Wünsche. Allerdings ist die hier vielleicht nahe liegende Unterstellung, bei den Tendenzen zu einer biotechnischen Erneuerung und Verbesserung des Menschen seien dämonische Hintermänner am Werk, zu vage und zu unsicher, um zur Beurteilung der Wünschbarkeit oder Erlaubtheit der gegenwärtig diskutierten Optionen etwas Wesentliches beizutragen. 5 | Francis Bacon: »Neu-Atlantis« (Nova Atlantis. Fragmentorum alterum, 1638), in: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat, Hamburg 1986, S. 171-215. 6 | Vgl. Tommaso Campanella: »Sonnenstaat« (Civitas Solis), in: Heinisch: Der utopische Staat, S. 111-169. Der »Sonnenstaat« ist 1602 entstanden und wurde 1623 zum ersten Mal separat publiziert. 7 | Zur Geschichte der Eugenik in Deutschland vgl. Kurt Bayertz/Jürgen Kroll/Peter Weingart: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988. 8 | Vgl. Allan Buchanan u.a.: From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge, New York 2000.

2006-02-06 17-38-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

26 | Ludwig Siep Um eine solche ethische Bewertung der biotechnischen Erneuerung des Menschen wird es im Folgenden gehen. Zunächst soll die Frage erörtert werden, inwieweit die gegenwärtig anvisierten Verbesserungen des Menschen überhaupt eine Art »Neuerfindung« darstellen oder zumindest qualitativ von den bisherigen körperlichen Veränderungen des Menschen in der modernen Zivilisation abweichen (2). Daran lassen sich die beiden spezifisch ethischen Fragen anschließen, ob eine biotechnische Erneuerung des Menschen gesollt (3) oder zumindest erlaubt ist (4). Aus deren Beantwortung ergeben sich Konsequenzen für den Wert einer möglichen »kreativen« Verbesserung der menschlichen Natur, aber auch für die ethische Beurteilung der derzeitigen Entwicklung medizinischer Therapien gegen degenerative Prozesse des Körpers (5).

2. Was ist das Neue? Technische und medizinische Veränderungen menschlicher Körper gibt es in wachsendem Maße. Dazu zählen Prothesen, Implantate und Transplantate, aber auch chirurgische Eingriffe und die Einnahme von Pharmaka verschiedenster Art. Die Grenzen zwischen einer Therapie von Krankheiten und einer Wiederherstellung normaler körperlicher Funktionen sowie einer gezielten Verbesserung körperlicher Leistungen sind oft schwer zu ziehen. Im Folgenden soll es aber primär nicht darum gehen, ob zwischen Therapie und Leistungssteigerung bzw. einer grundlegenden Veränderung des menschlichen Körpers ein fließender Übergang besteht. Vielmehr geht es um folgende Fragen: Sollen wir den Menschen verbessern, dürfen wir es, und wie sind die wahrscheinlichen Folgen zu bewerten? Um die ethische Bewertung einer kreativen Umgestaltung der menschlichen Natur diskutieren zu können, müssen wir zunächst nach klaren Fällen einer echten Veränderung oder gar Neuerfindung des Menschen fragen. Selbst in den kühnsten Plänen der »Transhumanisten«, die den bisherigen Menschen bewusst übersteigen wollen, ist nicht von der Kreation eines völlig neuen Wesens die Rede.9 Vielmehr geht es ihnen darum, bisherige 9 | Der Begriff »Transhumanismus« wurde geprägt von Julian Huxley in: New Bottles for New Wine, London 1957. Inzwischen gibt es eine weltweit organisierte Vereinigung von Transhumanisten: die World Transhumanist Association (WTA). Siehe deren zahlreiche online-Publikationen auf: http://www.transhumanismus.de/texte. html (Stand: 24. November 2005). Zu den Konzepten einer genetischen Verbesserung des Menschen vgl. auch Gregory Stock: Redesigning Humans: Our Inevitable Genetic Future, Boston 2002; mit Akzent auf den neuen Fortpflanzungstechniken: Lee M. Silver: Remaking Eden: Cloning and Beyond in a Brave New World, New York 1998.

2006-02-06 17-38-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 27

menschliche Leistungsgrenzen sprunghaft zu überwinden. Dazu würden etwa grundsätzliche Erweiterungen der Sinneswahrnehmungen in einen Bereich bisher unhörbarer akustischer Frequenzen oder unsichtbarer optischer Wellenlängen gehören. Sicher auch die Steigerung von Gehirnleistungen in Nachahmung hoch leistungsfähiger Computer. Ferner sind eine radikale Verlängerung der menschlichen Lebensdauer und eine grundsätzliche Änderung der menschlichen Reproduktion, etwa durch Klonierung oder durch extrakorporale Fortpflanzung, denkbar. Auf der Grenze zwischen Therapieverbesserung und fundamentaler Erneuerung stehen Maßnahmen zur Regenerierung ausgefallener Körperteile oder zu ihrem Ersatz durch technische Implantate und Steuerungen. Zu denken ist hier etwa an die Vorstellung, gelähmte Körperteile über implantierte Sender – eventuell durch extrakorporale Vermittlung – wieder gezielt bewegen zu können. Auch wenn dies sicherlich eine die bisherigen Fähigkeiten menschlicher Körper weit übersteigende Leistung wäre, so hätte man es dabei dennoch mit einer bloßen Wiederherstellung normaler körperlicher Funktionen zu tun. Das grundsätzlich Neue an den erwähnten Vorstellungen von einer Verbesserung des Menschen besteht darin, dass es nicht mehr um eine bloße Steigerung körpereigener Funktionen und Leistungen geht, sondern um die Nachahmung von Leistungen nicht-menschlicher Wesen bzw. Geräte. Das Vorhaben, menschlichen Organen oder dem, was sie als Implantat ersetzen soll, Fähigkeiten zu vermitteln, die durch das Studium von Organen anderer Lebewesen oder durch die Konstruktion von Geräten wie Rechnern erst erkennbar und wünschbar geworden sind, ist etwas ganz anderes als die bloße Erhöhung körperlicher Fitness. Technikphilosophen wie Arnold Gehlen haben die Entwicklung technischer Geräte als Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung verstanden.10 Die technische Verbesserung menschlicher Körperfunktionen könnte man in Anlehnung an diese Deutung als eine Art Rückübertragung der verbesserten Organe in den menschlichen Körper verstehen. Aber die moderne Entwicklung, etwa in der elektronischen Datenverarbeitung, lässt sich kaum noch als bloße »Organüberbietung« verstehen. Die kreativ entwickelten Möglichkeiten künstlicher Intelligenz oder Sensortechniken werden zu Maßstäben für Leistungen, die man nun auch dem menschlichen Körper vermitteln möchte. Auf diese Weise käme ein Wesen zustande, dessen Fähigkeiten von deKritisch dazu: Francis Fukuyama: Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002. 10 | Vgl. Arnold Gehlen: »Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie« (1953), in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Hamburg 1972, S. 93-103, hier S. 94.

2006-02-06 17-38-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

28 | Ludwig Siep nen des bisherigen Menschen so sehr verschieden wären wie die Fähigkeiten einer bestimmten biologischen Spezies von denen einer anderen oder die Leistungen eines neuen technischen Gerätes von denen einer älteren »Generation«. Eine derartige Verbesserung des menschlichen Körpers nach dem Vorbild außermenschlicher Wesen oder Maschinen ließe sich nicht einfügen in eine gleitende Skala bisheriger therapeutischer und leistungssteigernder Maßnahmen; nicht, weil es keine Zwischenstufen und Übergänge gäbe, sondern weil die Frage, inwieweit menschliche Kreativität auf die »Ummodelung« des eigenen Körpers zielen soll und darf, eine völlig andere ist als die nach der Erlaubnis bestimmter leidensbefreiender Maßnahmen. Umgekehrt kann man die Frage, inwieweit Maßnahmen des Enhancements zulässig sind, nicht allein vom Gesichtspunkt der entgrenzten Therapie her beurteilen. Vielmehr muss auch die Frage erörtert werden, was es mit der Absicht einer gezielten Steigerung des Menschen nach dem Vorbild von anderswo in Natur und Technik realisierter oder realisierbarer Leistungen auf sich hat. Hier handelt es sich um eine technische Nachfolge des alten Strebens des Menschen, höhere Stufen des Kosmos zu erreichen. Allerdings steht diese Nachfolge heute nicht mehr im Rahmen eines Weltbildes, das an fester kosmischer Hierarchie orientiert wäre, sondern in demjenigen der Evolutionstheorie. In der evolutionären Entwicklung finden nicht nur Komplexitäts- und Leistungssteigerung durch Mutation und Selektion statt. Es kommt auch zum Aussterben von Arten, die dem Wettbewerb um körperliche Fitness nicht gewachsen sind. Aus dieser evolutionären Sichtweise ist wiederholt ein Postulat oder sogar ein Gebot zur Verbesserung des Menschen abgeleitet worden. Das ist das erste im Folgenden zu prüfenden Argumente für ein Gebot zur kreativen Steigerung der menschlichen Natur, auf die nun einzugehen sein wird.

3. Ist die Erneuerung des Menschen gesollt? Seit Entwicklung der Evolutionstheorie sind immer wieder Imperative für menschliches Verhalten aus dem bisherigen Verlauf der Evolution abgeleitet worden. In der Gestalt von Sozialdarwinismus oder auch Rassismus waren dies in der Regel Verhaltensvorschriften, die das Überleben von sozialen Gruppen oder Rassen gegenüber Konkurrenten um Lebensraum, Ressourcen, Fortpflanzung, Verbreitung oder Macht sichern sollten. Die meisten dieser Verhaltensvorschriften beruhten schon biologisch auf falschen Voraussetzungen. Die Erhaltung eines bestimmten Genpools in der Evolution hängt im Wesentlichen von der Fortpflanzungsfähigkeit und -rate

2006-02-06 17-38-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 29

der Träger ab, für die höhere körperliche Fähigkeiten und Leistungen, abgesehen von individuell überlebens- und fortpflanzungsnotwendigen, kaum von Bedeutung sind. Außerdem fehlt der Menschheit auf absehbare Zeit ein Konkurrent um die von ihr bewohnte biologische Nische, der die Fortpflanzung der Spezies gefährden könnte. Eine Population, deren Mitglieder fortpflanzungsfähig sind und die zufällig keine Konkurrenten um die gleichen Ressourcen der Selbsterhaltung hat, muss um ihr Fortbestehen gar nicht fürchten – jedenfalls nicht nach »außen« hin.11 Neben diesen biologischen Irrtümern beruhen Theorien, die aus Fakten der Evolution Normen des menschlichen Verhaltens ableiten wollen, aber auch auf einem naturalistischen Fehlschluss: Aus evolutionären Fakten folgen nicht unmittelbar Verhaltensnormen. Ebenso wenig wie das Gebot der Erhaltung ergibt sich auch das Gebot der Höherentwicklung der Menschheit aus Fakten der natürlichen Evolution. Ganz gleich also, ob die Evolution zu einer Höherentwicklung oder zu einer Minderung körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit des Menschen führt: Eine Vorschrift, sie in dieser Entwicklung zu fördern bzw. ihr entgegenzuwirken, gibt es allein auf evolutionstheoretischer Basis nicht. Wenn eine solche Vorschrift aufgestellt wird, so setzt man normative oder evaluative Prämissen, die aus den naturwissenschaftlichen Fakten selbst nicht folgen. Es kann aber sein, dass solche Prämissen durchaus einleuchten und dass ihnen die Evolutionstheorie dann eine zusätzliche Plausibilität verleiht. Welche Prämissen könnten das sein? Die folgenden scheinen eine gewisse »Anfangsplausibilität« zu besitzen: 1) Die Höherentwicklung durch biotechnische Maßnahmen könnte notwendig sein, damit die Menschheit nicht an inneren Konflikten und Problemen zugrunde geht; 2) Sie könnte aus ästhetischen Gründen der Vervollkommnung, Veredlung, Leistungssteigerung der Menschheit geboten sein; 3) Sie könnte aus hedonischen Gründen geboten sein, damit für die Angehörigen der menschlichen Gattung Erfahrungen eines gesteigerten Genusses bzw. der Erfüllung ihrer Träume vom Glück möglich werden; 4) Die Höherentwicklung könnte aus moralischen Gründen gefordert sein, damit mehr gute Handlungen in der Welt möglich werden; 11 | Damit ist natürlich nicht gesagt, dass der Versuch, das Wachstum der Erdbevölkerung nach Wertvorstellungen der Friedlichkeit und Gerechtigkeit zu »verkraften« nicht große Anstrengungen und Leistungssteigerungen nötig machen könnte. Aber diese Überlegung geht über evolutionstheoretische Argumente weit hinaus. In der natürlichen Evolution würden entsprechende Probleme unter Umständen durch drastische Formen der Bevölkerungsreduzierung »gelöst«.

2006-02-06 17-38-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

30 | Ludwig Siep 5) Sie könnte aus theologischen Gründen geboten sein, weil der Schöpfer die Vollendung seiner Schöpfung, d.h. die Fortentwicklung der natürlichen Evolution, durch ein dazu fähiges Geschöpf gewollt hat. Halten diese Thesen einer Prüfung stand? (ad 1) Zur ersten These ist zunächst zu sagen, dass vermutlich nur bestimmte Verbesserungen diesem Ziel dienen würden, andere es aber eher gefährden könnten. So wird für gewöhnlich die Senkung der Aggressivität als notwendige Bedingung der Fortexistenz einer exponentiell wachsenden Menschheit genannt. Auch die Steigerung intellektueller Fähigkeiten zur Lösung von Problemen immer komplexerer sozialer, ökonomischer, technischer und ökologischer Wechselwirkungen wird für überlebensnotwendig gehalten. Dabei muss aber Folgendes berücksichtigt werden: Zum einen ist seit der Diskussion der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts um die Aggressionstheorien der Verhaltensforscher12 klar geworden, dass es »die« Aggression als homogenen Trieb oder einheitliche Disposition nicht gibt. Es existiert vielmehr eine Fülle von Formen und Ursachen, unterschiedlichsten Leidenschaften, Frustrationen, intellektuellen und emotionalen Reaktionen, die alle zu gewalttätigen Aktionen oder Reaktionen führen können. Sie zu beseitigen, würde, wenn es möglich wäre, eine Vielzahl menschlicher Emotionen und Handlungsantriebe treffen, ohne die das menschliche Leben einer erheblichen Verarmung ausgesetzt sein könnte. Für die Steigerung menschlicher Intelligenz zur Lösung von Gattungsproblemen gilt ebenfalls, dass die Begriffe der Leistungssteigerung und Problemlösung – für sich gesehen – ganz unbestimmt sind. Das gilt im Übrigen auch für heutige politische und wissenschaftspolitische Diskussionen: Allenthalben scheint ausgemacht, dass wir Eliten bilden und Exzellenz produzieren müssen, um Probleme der Gesellschaft zu lösen. Welche das sind und welche Lösungen als gute Lösungen zu bezeichnen sind, bleibt dabei meist unbestimmt. Es ist jedoch schon abzusehen, welche Probleme die Züchtung von Eliten und »Spitzen« erzeugen wird: die Degradierung von Institutionen, Gruppen und Individuen, die auf der Skala sozialer Achtung und Selbstachtung absinken, und zwar vielfach ohne überzeugende, nüchterner Kritik standhaltende Kriterien. Es ist zumindest unwahrscheinlich, dass der Versuch, die Intelligenz und Kreativität der Menschen auf biotechnische Weise zu erhöhen, mit egalitären Verteilungen verbunden wäre und weniger Eliten- und Klassenbildungen zur Folge hätte. Die Annahme, dass biotechnische Verbesserungen des Menschen mehr Probleme lösen als schaffen würden, ist also keineswegs überzeugend. 12 | Vgl. etwa Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression (1963), München 199821.

2006-02-06 17-38-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 31

(ad 2) Das ästhetische Argument kann in einer objektiven oder subjektiven Variante vertreten werden. Man kann es als intrinsisch wertvoll ansehen, dass Menschen die höchsten Leistungen erreichen, die ihnen durch technische Steigerung möglich sind – so wie es geboten scheint, das perfekte Kunstwerk zu schaffen oder das bestmögliche Fahrzeug zu konstruieren. Eher subjektivistisch wäre die Version, dass Menschen de facto zur Perfektion streben, oder, selbst wenn sie individuell in diesem Streben resignieren, Perfektion bei anderen Menschen bewundern; sei es sportliche, künstlerische, intellektuelle oder moralische. Allerdings ist umstritten, etwa beim Doping im Sport oder bei unter Drogen geschaffenen Kunstwerken, ob dies auch für solche Leistungen gilt, die mit technischer Hilfe erzielt werden. Für diese Leistungen fehlt dem »normalen« Menschen das Maß, denn er kann nur das schiere Resultat, aber nicht die dafür aufgewandten Anstrengungen und Fortschritte beurteilen. Natürlich könnte er die Leistungen eines biotechnisch verbesserten Menschen so bewundern wie die eines »hochgezüchteten« Autos. Doch dass die biotechnische Vervollkommnung von Menschen an sich ein erstrebenswertes Ziel ist, folgt daraus nicht. Auch große Leistungen, wie sie etwa Niccolò Machiavelli vom Erobererfürsten und Friedrich Nietzsche vom Übermenschen erwarteten, sind bewundernswert in Relation zur normalen conditio humana. Einen Menschen mit übermenschlichen biologischen Eigenschaften zu erschaffen, mag für einige daher ein ästhetisches Ideal sein, objektive oder aber allgemein zu unterstellende subjektive Gründe ästhetischer Art sind jedoch nicht zu erkennen. (ad 3) Überzeugender erscheint die hedonische Prämisse: Es ist kaum zu bestreiten, dass alle Menschen nach Glück streben, dass sie dafür alle möglichen erfreulichen sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Erfahrungen suchen und dass zu den angenehmsten die Freude über eigene körperliche und geistige Leistungen zählt. Wenn es für alle diese Freuden in einem biotechnisch verbesserten Körper Steigerungsmöglichkeiten gäbe, dann sollte dessen Konstruktion doch lohnenswertes Ziel einer aktiv betriebenen Evolution sein. Indessen hat auch dieses Argument mindestens drei »Haken«: Zum einen wären diese Freuden ja wesentlich die Freuden anderer, zukünftiger Menschen. Man muss schon ein gehöriges Maß an Altruismus ansetzen, wenn man diese hedonischen Ziele auch schon für heutige Menschen als wünschenswert bezeichnen will. Zum Zweiten kennen wir zwar die Freuden, die von normalen menschlichen Körpern innerhalb der Bandbreite bisheriger Resultate der biologischen Entwicklung erwartet werden können. Wir wissen aber nicht, welche Freuden und auch Enttäuschungen von erhöhten körperlichen Leistungsfähigkeiten zu erwarten sind. Wie z.B. steht es mit der Ruhe und Intimität der Nacht, wenn Menschen in der

2006-02-06 17-38-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

32 | Ludwig Siep Dunkelheit sehen können wie einige Tiere und Maschinen? Wie erfreulich ist das Kalkulieren und Jonglieren mit Zahlen, wenn das Gehirn die Leistung eines Großcomputers aufweist? Sind die Leiden eines Hochbegabten, der das ihm ermöglichte Potenzial am Ende individuell doch nicht ausschöpft, durch seine Erfolgserlebnisse auszugleichen? Der dritte »Haken« schließlich betrifft erneut die Verteilung der gesteigerten Gaben. Die Gefahren wachsender Ungleichheiten, einer Privilegierung von Eliten und einer Herrschaft, die diese Eliten über die »Nicht-Verbesserten« ausüben könnten, wurden schon erwähnt. Ob dem jedoch durch eine wirkliche Gleichverteilung der gesteigerten Möglichkeiten zu entgehen wäre, wird noch zu diskutieren sein. (ad 4) Wie steht es mit der ebenfalls nicht unmittelbar von der Hand zu weisenden Annahme, dass eine biotechnische Steigerung des Menschen die Bedingungen für moralisch richtiges Handeln verbessern könnte und darum geboten sei? Lässt sich nicht mit besseren intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten entsprechend überlegter, vorausschauender, kontrollierter und effektiver handeln; und zwar im Dienste anderer ebenso wie im Dienste eigener Interessen? Ließen sich nicht Autonomie steigern, Frustration verhindern, Aggressivität abbauen und damit die – schon von Aristoteles erwähnten – glücklichen Voraussetzungen für tugendhaftes Handeln allgemein verbreiten? Wer dies verneint und die Moral, als etwas unbedingt Erhaltenswertes, an die bisherigen biologischen Gattungseigenschaften der Hinfälligkeit, Hilfsbedürftigkeit, begrenzten Sympathie oder an andere Anlässe und Voraussetzungen verdienstvollen Handelns binden will, gerät in ein Dilemma: Er muss das, was durch moralisches Handeln gemildert werden soll, z.B. Armut, Krankheit, Hinfälligkeit, zugleich als Bedingung verdienstvollen Handelns erhalten wollen. Doch zugunsten mitleid- und verdienstvoller Elendsmilderung oder Bekämpfung Elend erhalten zu wollen, grenzt an Zynismus.13 Wenn die Moral allein in dem Willen zur Einpassung eigener Maximen in universale Gesetze besteht und wenn erst die Existenz einer solchen Moral dem biologischen Dasein des Menschen Sinn und Zweck verleiht, wie

13 | In dieses Dilemma gerät auch Jürgen Habermas mit seiner Konzeption des »Gattungsethos«, wenn diese nicht nur die Ungeplantheit des Individuums hinsichtlich seiner genetischen Anlagen, sondern auch die Hilfsbedürftigkeit und Defizienz der biologischen Ausstattung des Menschen generell zur Bedingung der Moral macht. Vgl. ders.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? (erweiterte Neuauflage), Frankfurt/M. 2005. Dazu auch meine Besprechung der Erstauflage (2001) des Buches: Ludwig Siep: »Moral und Gattungsethik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/2002, S. 111-120.

2006-02-06 17-38-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 33

Kant postuliert14, dann ist in der Tat kaum zu erkennen, warum dieses biologische Dasein nicht moraltauglicher gemacht werden darf bzw. soll. Was jedoch das moralische Argument zugunsten der Gesolltheit biotechnischer Verbesserungen des Menschen zweifelhaft macht, ist zweierlei: Zum einen wissen wir nicht, wie sich menschliche Emotionen und Wünsche durch eine Verbesserung der genetischen Anlagen verändern würden. Zum anderen ist der Inhalt einer Ethik für Menschen mit enorm erweiterten intellektuellen und körperlichen Anlagen unklar; zumindest dann, wenn zur Ethik mehr als nur rationale Gesetzgebung und -befolgung gehört.15 Eine inhaltlich unbestimmte Ethik kann aber nicht die Bedingungen ihrer Ermöglichung verlangen. Und umgekehrt kann die derzeitige Moral nicht die Herstellung biologischer Bedingungen für etwas fordern, das mit ihr selbst nicht mehr identifizierbar ist bzw. sie zumindest in gravierenden Hinsichten verändern würde. Solange wir also nicht wissen, welche Verhaltensweisen »höhere« Menschen für ethisch richtig hielten und ob diese Urteile für uns noch als moralische Urteile wiederzuerkennen wären, kann es kein ethisches Gebot zur Erfindung und Herstellung solcher Menschen geben. Es gibt im Übrigen nicht einmal ein unbedingtes Gebot, die menschliche Art zu erhalten; auch wenn Hans Jonas in manchen Formulierungen seines Buches Das Prinzip Verantwortung so verstanden werden konnte.16 An anderer Stelle macht er klar, dass es sich dabei um das Überleben einer menschlichen, zum Befolgen moralischer Normen fähigen Menschheit handeln muss.17 Eine – genetisch bedingt – allein noch zu gänzlich amoralischen Verhaltensweisen, etwa zu strukturellem Sadismus, fähige Menschheit hätte keinen moralischen Anspruch auf Fortexistenz. Die Erhaltung der

14 | Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, § 84, S. 434ff. 15 | Eine »anthropologiefreie« Ethik, wie Kant sie intendiert, mag davon nicht berührt sein. Aber selbst ein differenzierter Begriff von pleasure and pain im Rahmen einer utilitaristischen Ethik hinge von körperlichen und emotionalen Eigenschaften eines zukünftigen Menschen ab. Zur Kritik an der Idee einer anthropologiefreien Ethik vgl. Ludwig Siep: »Ethik und Anthropologie«, in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt/M. 1996, S. 274-298. 16 | Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979. Dort heißt es: »Der erste Imperativ: dass eine Menschheit sei« (S. 90). 17 | Ebd., S. 91. Zur »Idee des Menschen«, so lautet die Formulierung hier, gehört die »humane« Eigenschaft, moralische Pflichten – gemeint sind die Grundlagen der traditionellen Moral – erfüllen zu können; was etwa mit einer genetisch zum Sadismus veränderten Spezies nicht mehr gegeben wäre.

2006-02-06 17-38-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

34 | Ludwig Siep Menschheit ist insofern ein hypothetischer, an die mögliche Fortdauer guter oder zumindest erlaubter Handlungen gebundener Imperativ. (ad 5) Das theologische Argument zugunsten eines göttlichen Gebotes zur Vollendung der Schöpfung hat in der Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Bei einem der bedeutendsten Reformer der neuzeitlichen Philosophie, Wissenschaft und Gesellschaft, bei John Locke, wird die Unvollkommenheit der menschlichen und außermenschlichen Natur sowie die Fähigkeit des Menschen, durch Selbstverbesserung und Naturbeherrschung sein Leben zu erleichtern und sich dadurch zugleich ewige Verdienste zu erwerben, als unverkennbarer Auftrag Gottes an den Menschen verstanden.18 Sprachkritik, Erkenntniskritik, empirische Wissenschaft, Arbeit und Technik sind nach Locke verschiedene Weisen, den göttlichen Auftrag zu erfüllen. Wenn aber die Unvollkommenheiten und die Ursachen für Mangel und Mühsal eine Herausforderung und einen Auftrag zu ihrer Verbesserung enthalten, warum soll das nicht auch für den Menschen selbst gelten? Erfordert die Nachahmung des Gottmenschen nicht eine Verbesserung der gewöhnlichen menschlichen Natur? Nach traditioneller theologischer Deutung ist diese Nachahmung allerdings primär als moralische Verbesserung zu verstehen. Und die Berechtigung, sich zur Erleichterung des diesseitigen Lebens »die Erde untertan zu machen«, wurde zunächst als Erlaubnis zur Zucht und zum Verbrauch von Pflanzen und Tieren, allenfalls zu medizinischen Eingriffen in natürliche Prozesse verstanden. In der modernen Diskussion sind dann sogar technische Optionen wie die industrielle Nutzung der Kernenergie mit dem Auftrag begründet worden, die Schöpfung zu vollenden. Was es aber auch im Rahmen schöpfungstheologischer Überlegungen fragwürdig macht, von einem Gebot zur Transzendierung der menschlichen Natur auszugehen, ist wohl das Folgende: Der Begriff der Vollendung bzw. Vervollkommnung setzt voraus, dass in der Natur und den Anlagen des Menschen eine Intention erkennbar ist, die weiter geführt werden kann. Wenn aber menschliche Vollendung allein in der Erweiterung der Möglichkeiten des Wahrnehmens, Erlebens, Leistens liegen soll, inwiefern kann dann überhaupt von einer unvollkommenen, aber positiven und zielgerichteten Anlage die Rede sein? Warum soll man dann nicht auch die Leistungen anderer Geschöpfe steigern? Wenn hingegen die Schöpfung durch den Sündenfall grundsätzlich verdorben ist, dann wäre es ohnehin menschliche Hybris, ihre Erlösung

18 | Vgl. etwa John Locke: Über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Human Understanding, 1689) (dt. von Carl Winckler), vierte durchgesehene Auflage, Hamburg 1981, Bd. II, 4. Buch, S. 340f., 351 u. 437.

2006-02-06 17-38-03 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 35

durch biotechnische Steigerung eigener Leistungsfähigkeit bewirken zu wollen. Man müsste schon die Gesamtevolution als ein Reservoir an Möglichkeiten physischer und intellektueller Leistungen verstehen, die den Plan eines Wesens vorzeichnen, das all jene positiven Leistungen enthielte, die bisher aufgetreten sind oder die sich technisch realisieren lassen. Was aber technisch möglich ist, vollstreckt nur zu einem sehr geringen Teil das in der Natur Angelegte. In weiten Teilen ermöglicht die Technik Leistungen durch gänzlich unnatürliche Prinzipien, was Hans Blumenberg am Beispiel des Fliegens mithilfe von Verbrennungsmotoren illustriert hat.19 Von einem in der Schöpfung liegenden Gebot der Vollendung könnte demnach allein im Hinblick auf eine unendliche Schöpferkraft gesprochen werden, die dem Menschen die eigene grenzenlose Neuerfindung zur Aufgabe machte. Dies jedoch auf einen mit der Schöpfung – oder der Offenbarung – gegebenen göttlichen Auftrag zurückzuführen, erscheint als eine allzu gewagte theologische Spekulation.

4. Ist die Erneuerung des Menschen erlaubt? Die genannten fünf Argumente für ein Gebot zur biotechnischen Erweiterung der Möglichkeiten des menschlichen Körpers sind also von geringer Überzeugungskraft. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass eine solche Erweiterung verboten ist (1). Insofern sie das nicht ist, müsste sie demnach als erlaubt gelten (2). (ad 1) Fragen wir daher zunächst, ob und aus welchen Gründen eine grundlegende Verbesserung des Menschen verboten sein könnte. Drei Gründe bieten sich an: a) die Schädigung der Interessen anderer; b) ein Verstoß gegen die Würde des Menschen; c) eine Schädigung öffentlicher oder gemeinschaftlicher Güter. a) Durch die Herstellung von Menschen mit grundsätzlich erweiterten körperlichen Möglichkeiten würden diejenigen gefährdet, die auf die unterlegenen Kompetenzen beschränkt bleiben. Bei einer Ungleichverteilung neuer Möglichkeiten würden ja viele leer ausgehen. Die Gefahr erscheint in der Tat groß, im Wettbewerb mit den »Übermenschen« den Kürzeren zu ziehen, an Achtung und Wohlstand einzubüßen, möglicherweise sogar unterdrückt zu werden. Auf zwei Weisen wäre der Gefahr zu begegnen: zum einen durch eine ausnahmslose Verbesserung der gesamten Menschheit, zum anderen dadurch, dass zugleich auch die moralischen Fähigkeiten der neuen Menschen verbessert würden. Auf diese Weise könnte das Risiko der 19 | Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, S. 60f.

2006-02-06 17-38-03 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

36 | Ludwig Siep Ausnutzung von Vorteilen und der Beherrschung oder Missachtung von Unterlegenen gemildert werden. Über die Schwierigkeit, Kriterien für eine moralische Verbesserung zu bestimmen, ist schon gesprochen worden. Eine gezielte Verbesserung solcher Eigenschaften ist schwer vorstellbar, weil moralische Urteile und Verhaltensweisen eine Gesamtleistung der körperlichen, emotionalen und intellektuellen Verfassung des Menschen voraussetzen. Außerdem gibt es hierzu keinerlei Vorbilder an Leistungen von Tieren oder Maschinen, an denen sich die biotechnische Verbesserung des Menschen orientieren könnte. Wenn also besondere Rücksichtnahme und Verzicht auf die Ausnutzung körperlicher Vorteile von den verbesserten Menschen kaum zu erwarten ist, kommt alles auf die gerechte Verteilung der Fähigkeiten an. Nach den bisherigen Erfahrungen mit verbessernder Medizin, etwa im Bereich des Anti-Aging, der Lifestylemedizin oder des Doping, muss zunächst sicher mit erheblichen ökonomischen Kosten gerechnet werden. Diese könnten bei massenhafter Verbreitung sinken. Biotechnische Eingriffe zur Verbesserung des Genoms oder gar zur Klonierung besonders günstiger Genome sind aber bereits in technischer Hinsicht höchst aufwendig. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nur für wenige Menschen erschwinglich wären, solange sie nicht auf dem Wege natürlicher oder kostengünstiger künstlicher Reproduktion weitergegeben würden. Sich einen derartigen evolutionären Vorteil über »ehemalige« Artgenossen zu verschaffen, stellt für letztere sicher eine Schädigung dar. Erträglich wäre diese Schädigung nur dann, wenn die Gesellschaft denjenigen, die nicht zum Erwerb derartiger Eigenschaften in der Lage sind, Kompensation leisten würde. Damit sind die öffentlichen Güter der Gleichheit und der Solidarität betroffen. b) Doch bleiben wir zunächst bei Schädigungen individueller Rechte und Ansprüche. Verstößt eine grundlegende Änderung der menschlichen Natur nicht gegen die Menschenwürde? Dabei kommt es sicher auf die Art der Veränderung an. Eine weitgehende Ausdehnung der Lebensdauer, etwa um das Doppelte der bisherigen Lebensspanne, würde allenfalls dann als Verletzung der Menschenwürde gelten können, wenn den Langlebigen in ihrer letzten Lebensperiode kein menschenwürdiges Leben mehr möglich wäre; man denke hier nur an Jonathan Swifts Karikatur der Vierhundertjährigen, auf die Gulliver bei seiner Reise nach Luggnagg trifft.20 Fraglich ist allerdings, ob eine Verletzung der Menschenwürde auch dann vorläge, 20 | Die Reise nach Luggnagg, der Insel der Unsterblichen (»Struldbruggs«), ist ein Teil der dritten Reise Gullivers. Siehe Jonathan Swift: Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver (1726) (dt. von Knut H. Hansen), München 1958, S. 321ff.

2006-02-06 17-38-04 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 37

wenn die Verbesserung mit autonomer Zustimmung zustande gekommen wäre. Schließlich sehen auch wir heute die Menschenwürde von stark pflegebedürftigen alten Menschen nur dann verletzt, wenn ihr Zustand durch vermeidbare äußere Umstände oder Handlungen anderer verursacht ist. Entsprechend werden wir bei Steigerungen perzeptiver, motorischer oder intellektueller Fähigkeiten generell nur dann von Verstößen gegen die Menschenwürde sprechen können, wenn die moralischen Fähigkeiten der Betreffenden sozusagen durch das technische Design beeinträchtigt sind. Allerdings ist hier, wie schon erörtert, eine Abschätzung nur schwer durchführbar. Besonders brisant ist die Frage, ob eine Vermehrung von Gliedmaßen oder Organen, eine erhebliche Veränderung der Maße von Körpern und Körperteilen o.Ä. mit der Menschenwürde vereinbar sind. Transhumanisten21 z.B. bestehen auf dem Recht, solche Veränderungen freiwillig durchführen zu dürfen. Dieses Recht ergibt sich für sie als Folge aus dem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Deren Gegner sehen darin eine Entstellung jenes gewohnten Bildes vom menschlichen Körper und seiner Maße, an dem unsere Vorstellung von der Würde der Gattung orientiert sei. Allerdings sprechen wir diese Würde auch solchen menschlichen Wesen zu, die mit einem zum Teil weit vom Durchschnitt abweichenden Körper unter uns leben. Auf der anderen Seite gibt es zwar mit Blick auf das äußere Erscheinungsbild von Personen noch immer Beschränkungen erlaubter Bekleidungs- und Verhaltensweisen, deren Verletzung als Erregung öffentlichen Ärgernisses geahndet wird. Der rasche gesellschaftliche Wandel auf diesem Gebiet macht es jedoch schwer, in der Wahrung eines gemeinsamen Erscheinungsbildes der Menschen eine Forderung der Würde zu sehen. Offenbar handelt es sich um gemeinsame Konventionen und Rücksichtnahmen, die eher im Bereich öffentlicher Güter liegen als dem des Individualrechts auf Schutz der Menschenwürde. c) Was ist zur möglichen Schädigung öffentlicher Güter zu sagen? Ohne an dieser Stelle ausführlich auf ökonomische oder ethische Theorien öffentlicher und kommunaler Güter einzugehen22, kann man öffentliche Güter als positiv bewertete Zustände, Einrichtungen oder Gegenstände verstehen, die nur durch Mitwirkung aller oder einer großen Zahl von Mitgliedern der Gemeinschaft zustande kommen, und von deren Genuss man auch die nicht dazu beitragenden Mitglieder, d.h. die so genannten Schwarzfahrer, nicht ausschließen kann.23 Zu diesen Gütern gehören etwa

21 | Zum Transhumanismus vgl. Fußnote 9. 22 | Dazu mehr in: Ludwig Siep: Private und öffentliche Aufgaben, Münster 2005. 23 | In der ökonomischen Theorie sind public goods charakterisiert durch einen

2006-02-06 17-38-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

38 | Ludwig Siep ein breit zugängliches Bildungs- und Gesundheitssystem sowie ein hohes Maß an sozialer Konfliktfreiheit, Toleranz und wechselseitiger Achtung. Es ist leicht ersichtlich, dass eine ganze Reihe derartiger Güter, z.B. Chancengleichheit, Solidarität und Toleranz, durch die Herstellung einer neuen Generation wesentlich verbesserter Menschen erheblich gefährdet wäre. Die Leistungen solcher Übermenschen würden hohe Gratifikationen rechtfertigen, ihre Solidarität mit den Schwächeren könnte als eine immer heroischere Aufgabe erscheinen. Vor allem jedoch löste sich das Maß von Gesundheit und Normalität auf, an dem bisher Ansprüche auf Hilfe und Kompensation gemessen werden. Ohne die Idee einer derart normalen Verfassung des Menschen wird sich nur noch schwer feststellen lassen, wer mehr als zumutbare Leiden und Mängel aufweist, d.h. solche, für die eine Gesellschaft mit Gleichheitsund Solidaritätsidealen einstehen muss. Hier lässt sich einwenden, dass eine derartige Situation schon heute bestehe und durch eine biotechnische Überwindung von Krankheit und körperlichen Nachteilen eher gebessert werden könnte. Mit der bisherigen Verteilung natürlicher körperlicher und geistiger Gaben sind vielleicht auch nur diejenigen zufrieden, die dabei günstig weggekommen sind. Allerdings besteht bei der bisherigen menschlichen Verfassung zumindest der Vorteil, dass die körperlichen und geistigen Unterschiede nicht so groß sind, dass gemeinsame oder zumindest verständliche und nachvollziehbare Erfahrungen von Leid und Freude, Achtung und Missachtung, Erfolg und Frustration verhindert würden. Ob sie auch dann noch möglich sind, wenn Menschen mit Übermenschen zusammenleben, ist dagegen fraglich. Um sich klar zu machen, wie viele private und öffentliche Güter z.B. durch eine scheinbar so universal wünschbare Eigenschaft wie die Langlebigkeit betroffen sind, sollte man sich Folgendes überlegen: Ob eine beträchtliche Lebensverlängerung wirklich ein erstrebenswertes Gut ist, hängt nicht nur von der gegebenenfalls erreichbaren Lebensqualität im hohen Alter ab. Die längere »Verweildauer« einer Generation auf der Erde führt auch zu einem verbreiteten Interesse an Verlangsamung der Reproduktion. Dies würde zur Folge haben, dass immer weniger Menschen immer länger die Ressourcen für ein möglichst erfreuliches Leben für sich in Anspruch nehmen und »nachrückende« Menschen möglichst verhindert werden müssen. Damit stellt sich eine ganz neue Frage der Generationengerechtigkeit. Es würde zu einer erheblichen Abnahme an Jugend, Erneuerung, Veränderung, vermutlich auch an Kreativität kommen. Es geht also nicht darum, dass wir unseren Kindern ein so unbezweifelbares Gut wie die Lang»high degree of non-diminishability and non-excludability«. Siehe Robert H. Frank: Microeconomics and Behavior, Boston 20004, S. 626.

2006-02-06 17-38-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 39

lebigkeit nicht vorenthalten dürfen.24 Es handelt sich vielmehr um eine Gesamtabwägung von individuellen sowie gemeinschaftlichen Gütern und deren mögliche Beeinträchtigung durch eine erhebliche Verlängerung der menschlichen Lebensdauer. (ad 2) Dennoch kann die Frage nach der Erlaubtheit einer Neuerfindung des Menschen nicht so eindeutig beantwortet werden wie die nach ihrer Gebotenheit. Die möglichen Schäden und Risiken vor allem durch Gefährdung der Gleichheit und Unabhängigkeit von Individuen sowie einer Anzahl gemeinsamer und öffentlicher Güter sind zwar deutlich erkennbar. Ob sie zu vermeiden wären, hängt aber teils von den Kosten und der Zugänglichkeit der jeweiligen Verbesserungen ab, teils von der Art der Fähigkeiten, deren Verbesserung angestrebt wird. So könnte etwa die Steigerung des menschlichen Seh- oder Hörvermögens sozial relativ unschädlich sein, auch wenn die Frage nach dem Verhältnis zu den bisherigen erfreulichen Erfahrungen mit den normalen menschlichen Organen offen bleibt.

5. Konsequenzen kreativer Verbesserung Als Resultat der bisherigen Überlegungen lässt sich festhalten, dass also weder von einem Gebot der Verbesserung des Menschen im Sinne einer aktiven Fortsetzung der Evolution noch von einer generellen Erlaubnis solcher Maßnahmen gesprochen werden kann. Auch der private Erwerb einer verbesserten biologischen Ausstattung stellt die Gesellschaft vor Gleichheits- und Gerechtigkeitsprobleme, solange sie an einer Gerechtigkeitsvorstellung festhält, die biologische und schicksalhafte Nachteile durch gesellschaftliche Maßnahmen abzumildern gebietet.25 Durch eine biologische Verfassung, deren Freuden und Leiden, Leistungen und Leistungsdefizite, Gesundheit und Krankheit von bisherigen Erfahrungen gravierend abweichen, gehen die Maßstäbe für öffentliche Leistungen verloren. Eine Reihe von öffentlichen Gütern ist gefährdet. Die Folgen für die Stellung der menschlichen Art in der Natur insgesamt oder die Verteilung der Ressourcen auf der Erde sind ohnehin kaum zu übersehen. Das Ziel einer biotechnischen Steigerung der menschlichen Art ist demnach von sehr zweifelhaftem Wert. Gründe für gesellschaftliche An24 | Wie etwa Nobelpreisträger James Watson postuliert. Zu dessen Auffassung von einem Gebot der Perfektionierung des Menschen vgl. Carolyn Abram: »Gene Pioneer Urges Human Perfection«, in: Toronto Globe and Mail, 26. Oktober 2002. 25 | Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt. von Hermann Vetter), Frankfurt/M. 1975.

2006-02-06 17-38-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

40 | Ludwig Siep strengungen in dieser Richtung gibt es wenige, und sie sind mit starken Einwänden konfrontiert. Hingegen sind medizinische und biotechnische Leistungen zur Therapie oder Verhütung von Krankheiten oder von Einschränkungen normaler menschlicher Kompetenzen legitimiert durch die gebotene Hilfeleistung der Menschen untereinander und zudem durch Forderungen der Gerechtigkeit. Das alles spricht dafür, die Grenze zwischen Therapie und Enhancement, so weit es geht, einzuhalten. Es heißt aber nicht, dass die Entwicklung medizinischer Therapien gegen degenerative Prozesse des Körpers insgesamt unerlaubt wäre. Eine maßvolle Verlängerung der Lebensdauer durch Bekämpfung von Krankheiten und Alterungsprozessen führt, wenn sie allen Bürgern zugute kommt, nicht schon zu den zuvor erörterten Schäden. Sicher bringt die derzeitige Verlängerung der Lebenszeit gesellschaftliche Probleme mit sich. Aber noch ist nicht sichtbar, dass sie die fundamentalen Wertekonsense und die Kompromissfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen prinzipiell überforderte. Überdies kommen die meisten der derzeit von der regenerativen Medizin angezielten Therapien, von Stammzelltherapien über somatische Gentherapien bis hin zu diagnostischen und kompensatorischen Mikroimplantaten, nicht nur Patienten hohen, sondern auch mittleren Lebensalters zugute. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass es im Einzellfall eine Reihe schwieriger Abwägungsprobleme gibt. Die Prophylaxe altersdegenerativer Prozesse des Gehirns, z.B. durch Mittel, die die Leistungen des jungen und gesunden Hirns erhöhen, um späteren degenerativen Ausfällen vorzubeugen, können die Chancengleichheit und die Maße für normale menschliche Leistungen bereits gefährden. Hier ist ein Prinzip der Vorsicht (precautionary principle) durchaus angebracht. Ebenfalls weder ganz verwerflich noch ganz unproblematisch sind auch Formen der Anti-Aging-, Sport- und Lifestylemedizin. Dass Menschen sich von subjektiv empfundenen körperlichen Beeinträchtigungen ihrer Lebensqualität oder entsprechenden Hindernissen ihrer Leistungen und Lebenspläne befreien wollen, ist nicht illegitim. Welcher Beruf sich zur Erbringung solcher Leistungen für zuständig und geeignet hält, ist bei gesicherter Kompetenz und medizinischer Versorgung eine Frage von Berufsethos und Gewerbefreiheit. Problematisch wird diese Wunscherfüllung aber dann, wenn gesellschaftliche Ungleichheiten entstehen, mit deren Ausgleich oder Kompensation die Gesellschaft überfordert wird. Es ist durchaus möglich, dass sich die Fähigkeiten und Grenzen der biologischen Verfasstheit des Menschen auch auf dem Weg einer primär therapeutischen Medizin und Biotechnik langsam verschieben und erweitern. Mit jeder dieser Erweiterungen werden neue Wünsche wach, an diesen Möglichkeiten teilzunehmen. Entsprechend sieht sich die Gesellschaft jedes Mal aufgefordert, den Abstand zwischen den Begünstigten und den

2006-02-06 17-38-06 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

Die biotechnische Neuerfindung des Menschen | 41

Benachteiligten nicht zu groß werden zu lassen. Dieser Prozess einer ständigen Spannung und graduellen Verschiebung der Grenzen menschlicher Fähigkeiten ist meiner Ansicht nach aber grundsätzlich ethisch akzeptabler und für die Gattung weniger gefährlich als der Versuch, entweder die Verbesserung bewusst und aktiv voranzutreiben oder aber die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement für obsolet zu erklären und damit alles dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. So wenig wir bedenkenlos den Abstand zwischen geistigen Eliten und der Masse normal Begabter und Geschulter vergrößern sollten, um unbekannte Probleme nach unbekannten Maßstäben zu lösen, so wenig erscheint es ethisch gut, die biologische Verbesserung des Menschengeschlechts – de facto vermutlich ohnehin nur die einer schmalen Elite – voranzutreiben oder von interessierten Gruppen vorantreiben zu lassen. Aufgrund unserer bisherigen körperlichen Verfassung und unserer gemeinsamen Geschichte haben wir für wertvolle Ziele des individuellen Lebens sowie für gemeinsame Werte, die das soziale Zusammenleben tolerabel oder gar erfreulich machen, ziemlich stabile, zuweilen auch interkulturelle Erfahrungen. Diese können sich durch medizinische und technische Entwicklungen erweitern. Sie aber durch die Erfindung einer an den Leistungen von Maschinen orientierten Übermenschheit außer Kraft zu setzen, dafür sprechen keine guten Gründe. Nicht einmal der heute allenthalben so strahlende und unumstrittene Wert der Kreativität.

Literatur Abram, Carolyn: »Gene Pioneer Urges Human Perfection«, in: Toronto Globe and Mail, 26. Oktober 2002. Bacon, Francis: »Neu-Atlantis« (Nova Atlantis. Fragmentorum alterum, 1638), in: Heinisch: Der utopische Staat, S. 171-215. Bayertz, Kurt/Kroll, Jürgen/Weingart, Peter: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988. Blumenberg, Hans: »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1956, S. 55-103. Buchanan, Allan u.a.: From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge, New York 2000. Campanella, Tommaso: »Sonnenstaat« (Civitas Solis) (1602), in: Heinisch: Der utopische Staat, S. 111-169. Frank, Robert. H.: Microeconomics and Behavior, Boston 20004. Fukuyama, Francis: Our Posthuman Future, Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002.

2006-02-06 17-38-06 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

42 | Ludwig Siep Gehlen, Arnold: »Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie« (1953), in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Hamburg 1972, S. 93-103. Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Die zweite Schöpfung der Welt. Sprache, Erkenntnis und Anthropologie in der Renaissance, Mainz 1994. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, erweiterte Neuauflage, Frankfurt/M. 2005. Heinisch, Klaus J. (Hg.): Der utopische Staat, Hamburg 1986. Huxley, Julian: New Bottles for New Wine, London 1957. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968. Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression (1963), München 199821. Locke, John: Über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Human Understanding, 1689) (dt. von Carl Winckler), vierte durchgesehene Auflage, Hamburg 1981. Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (The Great Chain of Being, 1933), Frankfurt/M. 1985. President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt. von Hermann Vetter), Frankfurt/M. 1975. Siep, Ludwig: »Ethik und Anthropologie«, in: Barkhaus, Annette u.a. (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt/M. 1996, S. 274-298. Siep, Ludwig: »Moral und Gattungsethik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/2002, S. 111-120. Siep, Ludwig: Private und öffentliche Aufgaben, Münster 2005. Silver, Lee M.: Remaking Eden: Cloning and Beyond in a Brave New World, New York 1998. Stock, Gregory: Redesigning Humans: Our Inevitable Genetic Future, Boston 2002. Swift, Jonathan: Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver (1726) (dt. von Kurt H. Hansen), München 1958.

2006-02-06 17-38-06 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

21- 42) T01_01 siep.p 107239493550

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 43

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« Von der ästhetischen Umgestaltung des menschlichen Körpers und der Integrität der menschlichen Natur Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt

Einleitung Zufrieden waren die Menschen mit ihrem eigenen Körper noch nie. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit in praktischen Dingen, sondern vor allem auch in ästhetischer Hinsicht. So wie der Mensch ist, wie wir ihn als Teil der Natur vorfinden, bleibt er stets hinter den Idealen und Wünschen zurück. Wie weit wir in der Geschichte auch zurückgehen mögen: Immer werden wir finden, dass die Menschen nicht nur die äußere Natur (die Landschaft), sondern auch ihre eigene Natur ästhetisch zu gestalten versucht haben. Bereits in »primitiven« Kulturen finden wir eine Fülle äußerlicher Veränderungen an Haut (Bemalung) und Haaren (Frisur) und darüber hinaus mehr oder weniger elaborierte Techniken, die zu permanenten Umgestaltungen führen: kunstvolle Vernarbungen der Haut, Feilen der Zähne oder Formung der Köpfe von Neugeborenen. In der »modernen« Gesellschaft finden wir grundsätzlich dieselben Praktiken, nun allerdings auf der Basis avancierterer technischer Möglichkeiten. Hier reicht das Spektrum von kurzfristigen Eingriffen wie dem Stylen der Haare, über das Bemalen des Gesichts und das Lackieren der Fin-

2006-02-06 17-38-07 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

44 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt gernägel1, über Piercing und Tätowieren2 bis hin zu langwierigen Prozeduren durch Sport, Bodybuilding oder Diät. Die Besonderheiten von Veränderungen des Körpers mit den Mitteln der plastischen Chirurgie liegen nicht nur in ihrer – relativen – Dauerhaftigkeit, sondern auch in deren eingeschränkter und mit hohem Aufwand verbundener Reversibilität.3 Dabei spielt heute für viele das eigene Aussehen im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf eine wichtige Rolle. Es ist ein Faktor, durch den man »gewinnt oder verliert«. Somit ist es »eine Dimension, die man nicht vernachlässigen darf«, denn durch das Aussehen macht der oder die Einzelne Werbung für sich selbst.4 Die Ästhetisierung und Kultivierung des menschlichen Körpers mit Hilfe des Skalpells scheint immer beliebter zu werden; die Zuwachsraten der entsprechenden Eingriffe sind beträchtlich. Im Jahr 1999 sollen etwa 4,6 Millionen Amerikanerinnen eine kosmetische Operation haben durchführen lassen, in Deutschland spricht man derzeit von 100.000 bis 400.000 ästhetischen Eingriffen pro Jahr; genau weiß das allerdings wohl niemand.5 Es sind längst nicht mehr allein die Folgen des Alterns, gegen die das Skalpell eingesetzt wird. Wie die Deutsche Gesellschaft für ÄsthetischPlastische Chirurgie berichtet, ist etwa ein Viertel aller Schönheitspatientinnen 15 bis 25 Jahre alt.6 Glaubt man Presseberichten, so kann die in England lebende Amerikanerin Cindy Jackson mit (bislang) 38 chirurgischen Eingriffen einen inoffiziellen Weltrekord beanspruchen. Ihrem Wunsch, auszusehen wie »Barbie«, ist sie damit recht nahe gekommen.7 Sie habe sich zu dem machen lassen, was sie schon immer sein wollte, und damit ihr persönliches Schönheitsideal erreicht.8 Im Übrigen sind es aber nicht nur 1 | Vgl. Kathy Peiss: Hope in a Jar: The Making of America’s Beauty Culture, New York 1998. 2 | Vgl. Eric Gans: »The Body Sacrificial«, in: Tobin Siebers (Hg.): The Body Aesthetic. From Fine Art to Body Modification, Ann Arbor 2000, S. 159-178. 3 | Vgl. Erik Parens (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. 4 | Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003, S. 195. 5 | Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (Hg.): Spieglein, Spieglein an der Wand... Zur Diskussion um den Schönheitswahn, Berlin 2005, S. 8; »Wieviel schöner müssen wir noch werden?«, in: Freundin, 20/2004, S. 101. 6 | Andrea Charlie/Franziska Kulessa: »Wenn es ans Polster geht. Plastische Chirurgie ist teuer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2004. 7 | Carmen Butta: »Die handgemachte Frau«, in: Die Zeit, 2/2002. 8 | Siehe die Homepage von Cindy Jackson, auf: http://www.cindyjackson. com (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 45

Frauen, die ihrer Attraktivität mit chirurgischen Mitteln aufhelfen wollen; auch Männer streben zunehmend danach, auf diesem Gebiet mit dem weiblichen Geschlecht gleichzuziehen. Bei jedem fünften Eingriff, so schätzt man, liegt heute bereits ein Mann unter dem Messer. Doch so leistungsfähig die plastische Chirurgie heute auch sein mag (sofern keine unerwünschten Zwischenfälle das angestrebte Ziel vereiteln), sie teilt mit den übrigen verfügbaren Techniken zur ästhetischen Gestaltung des Körpers den Nachteil, stets Reaktion auf eine unerwünschte äußere Form zu sein. Es handelt sich immer nur um nachträgliche Maßnahmen; wie bei einem Buchsbaum, den man zur Hecke, zur Pyramide oder zur Kugel schneiden lässt. Wäre es nicht angenehmer und einfacher, wenn der Buchsbaum von vornherein zur Hecke, zur Pyramide oder zur Kugel wachsen würde; wenn die Menschen schon von Geburt an den Idealen der Schönheit entsprächen? Die Mittel und Möglichkeiten zu einer genotypischen Ästhetisierung des Menschen waren bislang allerdings auf indirekte Mechanismen beschränkt, und zwar im Wesentlichen auf den Mechanismus der sexuellen Selektion. Auch die Fortschritte der Biotechnologie in den letzten Jahrzehnten haben die einschlägigen Möglichkeiten nicht nennenswert erweitert. Zwar bieten Ei- und Samenbanken in den USA schon seit Jahren das genetische Material »besonders attraktiver Spender« feil, biologisch gesehen handelt es sich dabei jedoch nur um eine technisch aufwändigere Variante der sexuellen Selektion mit allen ihren Unwägbarkeiten. Erst die Gentechnologie vermag eine qualitativ neuartige und leistungsfähigere Strategie zur ästhetischen Verbesserung des Menschen aufzuzeigen. Obwohl solche ästhetischen Gesichtspunkte in den gegenwärtig vorliegenden Konzepten zu einem genetischen Enhancement keine vorrangige Rolle spielen, waren und sind sie doch ein kaum zu vernachlässigendes Motiv einschlägiger Visionen.

1. Das Unbehagen an der Schönheitschirurgie Entsprechende Zukunftsperspektiven sind für viele Horrorvisionen. Es mag der Schrecken an diesen zukünftigen Möglichkeiten sein, dass von manchen bereits Eingriffe der Schönheitschirurgie so entschieden abgelehnt werden, als käme der »Klon durch die Hintertür der Schönheitsoperation« herein.9 Doch auch dort, wo diese Eingriffe nicht als Vorboten des Schreckens verstanden werden, können die Möglichkeiten der plastischen Chir9 | Vgl. Jordan Meijas: »In drei Monaten zum Sexsymbol. So kommt der Klon durch die Hintertür: Schönheitsoperationen als Quotenknüller im Fernsehen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2004.

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

46 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt urgie ein gewisses Unbehagen auslösen. Das Liften der Gesichtshaut oder die Brustvergrößerung werden als eine Verirrung der modernen Medizin angesehen – und das selbst von manchen Medizinern.10 Auch können Frauen nach allzu offensichtlichen Eingriffen mit kritisch-abfälligen Bemerkungen konfrontiert werden und nicht alle von ihnen haben das Selbstbewusstsein, damit umzugehen. Handelt es sich bei diesen Abwertungen allein um Vorurteile? Um ein Befangenbleiben in verstaubten Konventionen? Oder liegt das Problem tatsächlich auf der gegenüberliegenden Seite? Anders gefragt: Sind es die Kritiker der ästhetischen Kultivierung des menschlichen Körpers, die über ihre jeweiligen Vorurteile nicht hinauskommen, oder sind es die chirurgisch Gestylten, die dem Terror dominanter Schönheitsideale erlegen sind? Betrachten wir das Unbehagen und die Ablehnung der Kritiker, so sollte klar sein: Solche Gefühle sind legitim, aber keine hinreichende Grundlage für ein moralisches Urteil. Da die Gegner solcher Eingriffe ihre Ablehnung meist nicht bloß als ein Geschmacksurteil verstehen, müssen wir fragen, welche moralischen Argumente sie anführen können, um ihre Ablehnung zu rechtfertigen. Die Auskünfte, die man auf diese Frage erhält, sind bisweilen durchaus diffus, wie ein Blick in jene Talkshows bestätigt, die »Schönheitschirurgie« zum Thema haben.11 In medialer Inszenierung streiten Befürworter und Gegner heftigst darüber, wer sich von welchem Schönheitsideal unterjochen lässt und wer wen wozu überredet hat. Sobald jedoch die Angegriffene äußert: »Ich tue es für niemand anderen, ich tue es nur für mich!« kommt die Kritik an ihre Grenze, denn die Toleranz gegenüber einer freien Entscheidung – so unsinnig sie dem Gegenüber auch erscheinen mag – ist eines der wenigen, wenn nicht sogar die moralische Predigtessenz der frohen Fernsehbotschaft.12 Und dennoch: Es bleibt ein Unwohlsein. Auch bei Zeitungsbeiträgen, die zu diesem Thema engagiert kritisch berichten wollen, findet der Leser eine bemerkenswerte Zurückhaltung, die Fahne der freien Entscheidung mit Entschiedenheit zu hissen. Es scheint, dass in vielen Fällen die Idee ei10 | Leon R. Kass: »Regarding the End of Medicine and the Pursuit of Health«, in: Arthur C. Caplan u.a. (Hg.): Concepts of Health and Disease, Reading 1981, S. 3-30. 11 | Als Beispiele dienen hier u.a. »Britt – Talk um Eins« (SAT 1) und die »Oliver Geissen Show« (RTL). 12 | Für uns selbst, so die Soziologin Nina Degele, machen wir uns nicht schön, »auch wenn viele felsenfest davon überzeugt sind. Schön machen wir uns vor allem, weil wir soziale Anerkennung brauchen.« Es gehe beim »Schönheitshandeln« um die Inszenierung der eigenen Außenwirkung zum Zweck der Erlangung von Aufmerksamkeit und Sicherung der eigenen Identität. (Siehe dazu das Interview mit Degele in: Bundesministerium für Gesundheit: Spieglein, Spieglein an der Wand, S. 31.)

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 47

ner Integrität der menschlichen Natur hinter der entsprechenden Ablehnung steht. Demnach hat die menschliche Natur einen ihr innewohnenden Wert, und dieser Wert verbietet es, nach Belieben mit ihr zu verfahren. Die Aufgabe der Medizin besteht darin, die Natur in ihrer Integrität zu bewahren, aber nicht darin, sie zu verbessern oder ästhetisch zu gestalten. So werden von vielen die beeindruckenden Fähigkeiten plastischer Chirurgen anerkannt, wenn es diesen gelingt, schreckliche Verletzungen zu korrigieren, etwa das Gesicht eines Kindes wiederherzustellen, das von einem Kampfhund zerbissen wurde; oder wenn sie Menschen, die nach Unfällen oder durch Verbrennungen schwerste Entstellungen davongetragen haben und sozial ausgegrenzt werden, wieder Lebensqualität zurückgeben. Dass dies keine »rein äußerlichen Eingriffe« sind, sondern solche, die auf die Seele wirken, ist unbestritten. Was uns hier emotional berührt und aus ethischer Sicht passende Argumente für entsprechende Eingriffe liefert, ist der Umstand, dass die plastische Chirurgie nur das wiederherstellt, was verloren gegangen ist bzw. zerstört wurde.13 Eine Einheit ist wiederhergestellt, wenn auch mit Narben, das Verlorene ist zurückgebracht worden von wahren Künstlern und Ästheten.14 Freilich können dieselben Techniken und Kunstfertigkeiten auch für »verbessernde« Eingriffe (Enhancement) verwendet werden. Hier jedoch wird die Natur nicht verbessert, sondern ein »natürliches Erscheinungsbild« restauriert. Wir möchten im Folgenden einige Überlegungen zu dieser Hintergrundannahme einer Integrität der menschlichen Natur skizzieren und anschließend die genaueren Hintergründe und Motive der Körperveränderung diskutieren. Beginnen wir mit der Integrität der menschlichen Natur. Hier sind es im Wesentlichen zwei Fragen, die aufgeworfen werden: Die erste Frage bezieht sich auf den Begriff der menschlichen Natur selbst: Wie kann dieser Begriff hinreichend genau umrissen und definiert werden? Anders 13 | Ob der Eingriff »medizinisch indiziert« ist, hat zudem Konsequenzen für die Kostenerstattung durch die Krankenkasse bzw. das nationale Gesundheitswesen. Vgl. European Commission (Hg.): Beauty and the Doctor. Moral Issues in Health Care with Regard to Appearance, EUR PL 963164/2001. 14 | Da weder »Schönheitschirurg«, noch »Kosmetischer Chirurg« geschützte Berufsbezeichnungen sind, hat der 108. Deutsche Ärztetag beschlossen, die alte Facharztbezeichnung »Plastische Chirurgie« zu erweitern. Die neue Bezeichnung lautet nun: »Facharzt/Fachärztin für Plastische und Ästhetische Chirurgie«. Nur qualifizierte Fachärzte dürfen dieses Bezeichnung führen. Damit soll sichergestellt werden, dass der Patient zwischen ihnen und selbst ernannten Schönheitschirurgen unterscheiden kann. Siehe dazu Birgit Hibbeler: »Top V: Weiterbildungsordnung«, in: Deutsches Ärzteblatt, 13. Mai 2005, A 1346. Und: »Entschließungen zum Tagesordnungspunkt V«, in: ebd., A 1378.

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

48 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt formuliert: Wie kann zwischen dem, was am Menschen »natürlich« ist, und dem, was an ihm »künstlich« ist, unterschieden werden? Obwohl diese Frage ganz offensichtlich von grundlegender Bedeutung ist, werden wir jedoch an dieser Stelle auf sie keine Antwort zu geben versuchen.15 Wir werden unterstellen, dass es möglich ist, mit hinreichender Genauigkeit eine Differenz zwischen dem anzugeben, was am Menschen natürlich ist und dem, was an ihm nicht natürlich ist. Stattdessen werden wir uns von vornherein auf die zweite Frage konzentrieren: Wie kann ein inhärenter Wert der menschlichen Natur begründet werden? Allerdings werden wir zur Beantwortung dieser Frage einen indirekten Weg einschlagen. Wir werden nämlich zu zeigen versuchen, dass die Annahme eines inhärenten Wertes der menschlichen Natur starke metaphysische Voraussetzungen notwendig macht, für die Folgendes gilt: a) diese Voraussetzungen sind nicht konsensfähig; b) diese Voraussetzungen haben problematische Konsequenzen. Um dies beides deutlich zu machen, werden wir zunächst einen Blick zurück auf die antike Philosophie und ihr Verständnis von »Natur« werfen. Denn nahezu alle neueren Konzepte einer Revalidierung der – sei es äußeren, sei es menschlichen – Natur orientieren sich am Vorbild der Antike; auch wenn sie zumeist einräumen, dass es nicht um eine simple Wiederbelebung dieser alten Vorstellungen gehen kann. Ein solcher Rückblick lässt die Lasten erkennen, die wir uns aufbürden, wenn wir der menschlichen Natur einen inhärenten Wert zuschreiben.

2. Klassische Ansichten über die Natur Die Antike war von der Idee eines Kosmos ausgegangen, d.h. von der Vorstellung einer endlichen, geschlossenen und geordneten Welt, in der jeder Prozess sein vorbestimmtes Ziel und jedes Ding seinen vorbestimmten Ort hatte. In Platons spätem Dialog Timaios beispielsweise wird die ganze Welt als ein einziges und einheitliches, lebendes Wesen betrachtet, das eine vernünftige Seele besitzt.16 In einem solchen Weltorganismus existieren die einzelnen Teile natürlich nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ein funktionales, hierarchisches System. Der Begriff »Kosmos« bezeichnet daher eine sinnhafte Ordnung, in der Tatsachen und Werte nicht strikt voneinander zu trennen sind: Jeder Teil hat einen Bezug auf das Ganze und insofern auch einen Wert. Das gilt auch für den Menschen. Wie je15 | Vgl. dazu jedoch Kurt Bayertz: »Human Nature: How Normative Might it Be?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 2/2003, S. 131-150. 16 | Platon: Timaios (dt. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher), Sämtliche Werke, Bd. 4, Hamburg 1994.

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 49

des andere Wesen nimmt auch der Mensch einen ganz bestimmten Platz im Kosmos ein, und aus diesem Platz ergibt sich das Ziel seines Lebens. Die in den verschiedenen antiken Ethiken entworfenen Modelle gelungenen menschlichen Lebens haben allesamt ihren Rückhalt in einer metaphysischen Anthropologie, die wiederum Teil einer Kosmologie gewesen ist. In den »klassischen« Theorien von Platon und Aristoteles wird der Zusammenhang zwischen Kosmologie, Anthropologie und Ethik durch das berühmte ergon-Argument hergestellt, nach dem der Mensch ein gutes Leben nur dann führen kann, wenn er die für ihn spezifischen Potenzen – seine Rationalität – in bestmöglicher Weise realisiert und kultiviert. Die Einsicht, die der Mensch in seine eigene Natur (und ihren Platz in der Gesamtnatur) gewinnt, ist daher gleichbedeutend mit der Erkenntnis, wie man leben soll. Von diesem Bild grenzt sich die moderne Auffassung vom Menschen, wie sie sich seit der Renaissance herausgebildet hat, scharf ab. Diese Auffassung besagt auf der kosmologischen Ebene, dass die Natur kein geordneter Kosmos, sondern ein unendliches Aggregat von Tatsachen und Prozessen ohne inhärenten Sinn ist; und auf der anthropologischen Ebene, dass der Mensch in einem ethisch relevanten Sinne kein Teil dieser Natur ist: Während alle übrigen Lebewesen durch äußere Tatsachen und innere Determinanten in ihrem Verhalten festgelegt sind, ist der Mensch nicht fixiert. In Pico della Mirandolas berühmter Rede über die Würde des Menschen aus dem Jahre 1496 wird dies unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und nahezu die gesamte nachfolgende Anthropologie ist ihm darin gefolgt.17 Auf dieser anthropologischen Grundlage haben sich nun verschiedene Ideen und Ideale entwickelt, die als konstitutiv für das neuzeitliche Bewusstsein angesehen werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee der Freiheit. Insofern der Mensch nicht von Natur aus auf einen bestimmten Platz in der Welt oder auf eine bestimmte Lebensform festgelegt ist, kann (und muss) er darüber selbst entscheiden. Der emphatische Freiheitsbegriff der Neuzeit kommt demnach in der Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch selbst darüber entscheiden kann, wer und was er ist. Dieser Gedanke einer Selbstschöpfung des Menschen bezieht sich auf zwei Ebenen: a) Zum einen auf die individuelle Ebene. Nicht nur der Mensch im allgemeinen, sondern jedes Individuum hat die grundsätzliche Möglichkeit Verschiedenes aus sich zu machen. Und diese Möglichkeit ist ein Wert – vielleicht der höchste überhaupt – und verdient als solcher nicht nur Respekt, sondern Schutz. b) Zum anderen bezieht sich der Selbstschöpfungsgedanke auf die Gattungsebene. Wenn der Mensch auch als Gattung etwas aus sich machen kann, so heißt das: Er befindet sich – zumindest der 17 | Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen (1496), Zürich 19964.

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

50 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt Möglichkeit nach – in einem Prozess des Fortschritts und der Vervollkommnung. Dies schließt ein, dass der Mensch auch der Schöpfer seiner Moral ist. In einer Welt, in der dem Menschen kein Platz und kein Plan vorgegeben ist, kann und muss er sich die moralischen Gesetze seines Handelns selbst geben. Es war bekanntlich Immanuel Kant, der diese Idee der Autonomie zur Grundlage seiner Ethik gemacht hat. Wir sehen an dieser knappen Skizze, dass die genannten Schlüsselbegriffe der Moderne und ebenso die sich daraus ergebenden Konzepte von Individualität und Menschenwürde ihre Basis in einem Verständnis von äußerer Natur als einem bloß faktischen, nicht sinn- und werthaft strukturierten Zusammenhang und von menschlicher Natur als etwas Offenem und normativ Unverbindlichem haben. Um es pointiert zu sagen: Ohne ein »materialistisches« Weltbild keine Freiheit, keine Selbsterzeugung, keine Autonomie, keine Individualität und keine Menschenwürde. Es ist schwer zu sehen, wie diese Ideen – nicht nur im Hinblick auf die technische Manipulation des menschlichen Körpers – aufrechterhalten werden können, wenn die zugrundeliegende Naturkonzeption aufgegeben wird. Die Rückkehr zu einer starken Normativität der menschlichen Natur würde einschneidende Restriktionen des menschlichen Handlungsspielraums in allen Handlungsbereichen mit sich bringen. Wenn die obersten Lebensziele aus der Naturordnung abgelesen werden können, stehen sie nicht mehr für eine rationale Wahl zur Verfügung. Wer diesen objektiven Zielen nicht folgt, handelt irrational und (moralisch) falsch. Es bleibt dann nur noch die Wahl zwischen der einen richtigen Lebensweise und den vielen falschen Lebensweisen. Eine Wahl zwischen verschiedenen richtigen Lebensweisen hätten wir nicht mehr; was z.B. auch die Auffassung von Platon gewesen ist. Mit einem Wort: Ein starker Begriff von Freiheit und Individualität ist mit einem starken Begriff von der »Natur des Menschen« nicht vereinbar. Die hier skizzierten Überlegungen enthalten keine »Widerlegung« der Idee einer normativ verbindlichen menschlichen Natur. Sie sollen lediglich plausibel machen, dass eine solche Idee mit erheblichen Folgelasten verbunden ist. Wir müssten, wenn wir diese Idee ernst nähmen, gravierende Revisionen am Weltbild der Moderne vornehmen; und zwar in der Metaphysik über die Ethik bis hin zum politischen Denken. Obwohl es Autoren gibt, die diesen Preis zu zahlen bereit sind, wird man nach einer nüchternen Abwägung doch eher zu dem Resultat kommen, dass dieser Preis – alles in allem – zu hoch ist. So lässt sich an dieser Stelle vermuten, dass Maßnahmen zur ästhetischen Umgestaltung der menschlichen Natur moralisch erst einmal nicht zu beanstanden sind, jedenfalls nicht per se, solange die betroffenen Individuen, erstens, über die mit diesen Maßnahmen verbundenen Risiken umfassend informiert worden sind und ihnen, zweitens, frei zustimmen.

2006-02-06 17-38-08 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 51

3. Was »verdeckt« die Schönheitschirurgie? Betrachten wir die folgende Patientengeschichte: Ein 28-Jähriger betritt eine Berliner Privatpraxis und klagt gegenüber dem Chirurgen, dass er unter der Form seiner Nase leide. Wohin er auch gehe, die Leute starrten ihn an. Häufig sei er Opfer von Bemerkungen und Zielscheibe von Belustigungen gewesen. Mittlerweile habe er sich völlig von der Öffentlichkeit zurückgezogen, er sei melancholisch geworden und wünsche sich nichts sehnlicher als eine Korrektur seiner Nase. Der Arzt unternimmt daraufhin erfolgreich einen chirurgischen Eingriff und berichtet später auf einem Kongress, dass die depressive Verstimmung seines Patienten völlig verflogen sei. Der Mann bewege sich wieder frei in der Öffentlichkeit. Seine Frau habe erfreut berichtet, dass er wieder glücklich sei, und wo er früher soziale Kontakte gemieden habe, nehme er wieder gerne am sozialen Leben teil, ja, gebe sogar Partys. Der Patient fühle sich nicht länger von seiner Nase unterdrückt. Der Arzt hatte nach eigenen Angaben die Operation mit dem Ziel durchgeführt, die psychologische Erkrankung des Patienten effektiv zu heilen. Dies sei ihm dadurch gelungen, dass er das entsprechende körperliche Merkmal seines Patienten zum Verschwinden gebracht habe. Der Patient sei nun »geheilt«, auch weil der Eingriff »unsichtbar« geblieben sei und der Patient die Möglichkeit bekommen hatte, in die »Reihe der Unauffälligen« zurückzutreten. Diese Fallgeschichte hat der deutsche Chirurg Jaques Joseph (18651934) am 11. Mai 1898 vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft vorgestellt. Obwohl in Europa schon andere Nasenkorrekturen durchgeführt worden waren, so wird dieser Eingriff doch medizinhistorisch zum Meilenstein; und zwar zum einen wegen der dabei angewandten, relativ »einfachen« Technik, die bis heute Anwendung findet, zum anderen wegen der daraufhin einsetzenden Nachfrage nach derartigen Eingriffen.18 Die Komplexität der ethischen Beurteilung plastisch-chirurgischer Eingriffe bei »gesunden« Patienten macht das Beispiel bereits deutlich: Das Leiden eines individuellen Patienten an seinem äußeren Erscheinungsbild kann durch den chirurgischen Eingriff zwar beseitigt werden, ein wichtiger Grund für das Leiden ist jedoch oft eine soziale Problematik, herbeigeführt durch Diskriminierung, Benachteiligung oder gar Unterdrückung, die ein Minderwertigkeitsgefühl

18 | Zum Beispiel wenden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt jüdische Bürger mit der Bitte an ihren Arzt, durch einen chirurgischen Eingriff die Form ihrer »Judennase« zu verändern, um ihre Herkunft zu verbergen. Dieser historische Kontext ist aus heutiger Sicht zweifellos beklemmend. Vgl. Sander L. Gilman: The Jew’s Body, New York 1991, S. 179ff.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

52 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt auslösen, das die plastische Chirurgie dann wiederum ändern bzw. verdecken soll. Verdecken ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselwort, denn ihrer historischen Wurzeln nach war die ästhetische Chirurgie stets mit dem Verdecken äußerer Merkmale befasst. War z.B. das Abschlagen einer Nase ein für jeden erkennbares Zeichen für eine erfahrene Gerichtsstrafe, so sollte mit dem chirurgischen Ersatz der Nase dieser biografische Makel verdeckt werden. Ähnliches gilt für die im 16. Jahrhundert vom gerade erst entdeckten amerikanischen Kontinent nach Europa eingeschleppte Syphilis, die in hohem Maße eine stigmatisierende Erkrankung war. Der Ersatz einer durch die Syphilis zerfressenen Nase verfolgte demnach nicht zuletzt das Ziel, die Erkrankung für die Umwelt des Patienten schwerer erkennbar werden zu lassen.19 Verdeckt werden sollten somit körperliche Merkmale, die zur sozialen Ausgrenzung führten bzw. die soziale Integration erschwerten. Gerade Immigranten genügte es oft nicht, die Sprache des neuen Landes zu lernen und sich mit dessen kulturellen Gepflogenheiten vertraut zu machen. Um ein »echter Bürger des Landes« zu werden, wollten sie auch ihre körperliche Erscheinungsform ändern, was sich aufgrund der entwickelten chirurgischen Techniken, vor allem aber seit der Einführung der Anästhesie im Jahre 1846 und der Antisepsis 1867, zunehmend verwirklichen ließ.20 Ein prominentes Beispiel aus heutiger Zeit ist Michael Jackson, der durch zahlreiche Eingriffe seine ethnische Herkunft bis hin zur Änderung der Hautfarbe zu verdecken sucht.21 Frauen in Afrika sind bemüht, mit teuren und gesundheitsgefährdenden Chemikalien ihre Haut aufzuhellen. Und asiatische Frauen unterziehen sich, um »westlich« zu erscheinen, einer Augenlid-Operation.22 Doch damit, so behaupten Kritiker, versuchten die Betroffenen ihre eigene Natur zu verfälschen, ja, stärker noch, ihr jeweiliges Gegenüber zu täuschen. Dieser könne sich nun nicht mehr darauf verlassen, was er sehe. Hier klingt eine problematische Verknüpfung von »äußerer Erscheinung« und »inneren Werten« an, für die ein klassisches Beispiel aus der Literatur und Filmgeschichte angeführt sein soll: Robert Louis Stevensons Die seltsame

19 | Sander L. Gilman: »Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie«, in: Angelika Taschen (Hg.): Schönheitschirurgie, Köln 2005, S. 62-109. 20 | Vgl. Sander L. Gilman: »Ethnische Fragen in der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 112-137. 21 | Vgl. Elizabeth Haiken: Venus Envy. A History of Cosmetic Surgery, Baltimore 1997, S. 175ff. 22 | Vgl. Kathy Davis: Dubious Equalities & Embodied Differences. Cultural Studies on Cosmetic Surgery, Lanham 2003, S. 87ff.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 53

Geschichte des Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus dem Jahre 1886, die für die Abgründigkeit der menschlichen – oder besser – männlichen Natur steht. Dem Forscherarzt Dr. Jekyll gelingt es, ein Elixier herzustellen, das die guten Anteile der Seele von den bösen Anteilen spaltet bzw. die »guten moralischen Empfindungen«, so die Vorstellung der damaligen Zeit, von den »niederen Trieben« der Gewalt, Schadenfreude oder auch ungehemmten Sexualität. Alles das, was sich Dr. Jekyll in der puritanischen Gesellschaft Englands nicht gestatten darf, kann Mr. Hyde nun lustvoll – durch die Abspaltung der Gewissensinstanz – ausleben.23 Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun, dass diese innere Befreiung und Ich-Spaltung mit einer äußerlichen Veränderung einhergeht: Aus dem schönen Aristokraten Dr. Jekyll wird ein behaarter Affe, der so hässlich ist, dass sich Mr. Hyde zu verstecken sucht (engl. hide, »verbergen«).24 Seine innere Verfasstheit – Boshaftigkeit und zügellose Gewaltbereitschaft – wird in der hässlichen äußeren Erscheinung von Mr. Hyde sichtbar, auf den seine Umwelt entsprechend verängstigt reagiert.25 Mit Blick auf das Verhältnis von »Außen« und »Innen« ist Die seltsame Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde eine Vorher-Nachher-Geschichte, wie wir sie – formal – auch aus Darstellungen der Verläufe von Schönheitsoperationen kennen, allerdings mit einer ganz besonderen Pointe: Hier nämlich verwandelt sich der schöne Dr. Jekyll im Zuge eines inneren, d.h. »chemischen« Eingriffs in seine Seele zum hässlichen Mr. Hyde, und seine »wahre« Seite kommt zum Vorschein, indem das Innere fortan das Äußere bestimmt. Umgekehrt soll gelten: Wenn sich das Äußere – innerhalb eines gewissen chirurgischen Spielraums – frei gestalten lässt, wird das Ergebnis dann vermutlich auch Rückschlüsse auf die innere Befindlichkeit eines Menschen zulassen. So startete z.B. im Jahre 1927 in den USA ein Pilotprojekt, bei dem Strafgefangenen aus San Quentin kosmetische Gesichtsopera-

23 | Kurt W. Schmidt: »Two souls, competing in one breast – Ethical problems surrounding ›the dark side of man‹ in screen adaptions of Robert L. Stevenson’s ›The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde‹ (1886)«, auf: http://www.fictionethics.org/ aps/Paper/8 (Stand: 24. November 2005). 24 | Der Universalgelehrte Dr. Jekyll wird, weil er die menschliche Natur verändern will, zu einem hässlichen Tier. Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Der Mensch als Affe, Hürtgenwald 1989, S. 78ff. 25 | Dass der Körper das Innere des Menschen offenbart, ist eine alte Vorstellung. Bereits der Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater (1741-1801) hat die These vertreten, die Form des menschlichen Gesichts bringe das wahre Wesen des Menschen zum Ausdruck, denn es sei eine körperliche Ausprägung der Seele. Siehe ders.: Physiognomische Fragmente (1775) (hg. von Christoph Siegrist), Stuttgart 1999.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

54 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt tionen angeboten wurden, die ihre Rehabilitation erleichtern sollten.26 Nach Ansicht des Verhaltensforschers Karl Grammer gibt es »einen Stereotypen, der permanent von unserem Gehirn produziert wird: Was schön ist, ist auch gut. Evolutionsbiologen belegen, dass alles, was in unserer Vergangenheit positiv war, immer mit positiven Emotionen verbunden sein wird. Viele Studien belegen, dass bereits im Kindergarten hübsche Kinder geringere Strafen bekommen. In der Schule erhalten sie die besseren Noten, obwohl es viele Lehrer nicht wahrhaben wollen. Dieses Prinzip gilt übrigens auch bei Gericht: Schönere Verbrecher erhalten geringere Strafen – mit Ausnahme von Heiratsschwindlern. Die erhalten die höheren Strafen, weil sie die Attraktivität dafür einsetzen.«27

Schönheit zu lieben, ist biologisch tief in uns verwurzelt.28 Das schöne Äußere stellt für den Betrachter nicht nur eine ästhetische Qualität dar, sondern es gaukelt ihm auch eine moralische Qualität vor und provoziert die Zuschreibung ganz bestimmter Eigenschaften. Aus dieser Perspektive sind dann z.B. entsprechende Alterserscheinungen nicht als solche ein Problem, sondern nur das, was in einer Leistungsgesellschaft mit dem Alter verknüpft ist oder wird: geringere körperliche Leistungsfähigkeit, sinkende Potenz, geistige Schwäche, erhöhte Hilfsbedürftigkeit, geringere Autorität oder Machtverlust. Die andere Seite der Medaille ist auch hier, dass der chirurgische Eingriff etwas vor dem Gegenüber verbergen helfen soll. Ähnlich wie bei einem Pokerspieler, der die innere Erregung über sein Blatt nicht zeigen will, soll nach dem chirurgischen Eingriff keiner mehr Einblick in die eigene Innenwelt bekommen. Dass dies selbst wieder zu ungeahnten Problemen führen kann, verdeutlicht die Geschichte einer amerikanischen Fernsehmoderatorin, die darunter litt, schnell und unkontrollierbar zu erröten. Durch einen operativen Eingriff an den Nervenbahnen ließ sie dies beseitigen. Glücklich über den Erfolg stellte sich bei ihr jedoch schon bald ein neues Unbehagen ein: Sie machte sich Sorgen, ob ihr Gegenüber aus der Beobachtung, dass sie nun nicht mehr errötete, auf ihr Geheimnis kommen könne, und was ihr Gegenüber dann darüber denken werde, dass sie eine derartige Maßnahme ergriffen habe.29 26 | Carl Elliott: Better than Well. American Medicine Meets the American Dream, New York 2003, S. 122. 27 | Robert Schotter: »Bin ich schön? Dem ewigen Rätsel perfekter Schönheit auf der Spur«, auf: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/30/0,1872,2044542,00.html (Stand: 24. November 2005). 28 | Nancy Etcoff: Nur die Schönsten überleben. Die Ästhetik des Menschen, München 2001, S. 262. 29 | Vgl. Elliott: Better than Well, S. 91ff.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 55

Mit Blick auf derartige Beispiele wird häufig eingewendet, dass die äußere Veränderung eines Menschen eben doch nicht alle inneren Probleme lösen könne. Kosmetische Eingriffe seien vielmehr als »Psychotherapie mit dem Skalpell« ungeeignet. Entscheidend sei der »Einklang« zwischen Körper und Geist, zwischen innerer Vorstellung und äußerem Erscheinungsbild. Entsprechend wäre also etwas dran an der These: Wahre Schönheit kommt von innen. Denn die These besagt, dass denen, die äußere Veränderungen vornehmen lassen, diese Körperkorrekturen nicht viel nützen, solange sie diese »nicht zu tragen wissen«. Die Attribute der Schönheit muss der Einzelne mit Leben füllen: »Denn eigentlich ist Schönheit nicht ein Prädikat, sondern eine Weise zu sein.«30 In dieser Vorstellung finden sich nicht nur alte Traditionen wieder, sondern auch ein Ideal der Moderne: Authentizität.31

4. Authentizität »Werde Du selbst!«, so lautet die Aufgabe des modernen Menschen. Was aber heißt es, authentisch zu sein? Muss ich das, was in mir steckt und bereits vorhanden ist, bloß offen legen und realisieren? Oder habe ich das, was in mir als Potential angelegt ist, herauszuarbeiten? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Aufruf »Werde Du selbst!« auf tief sitzende Mythen zurückgeht, die wir aus der Kindheit kennen, z.B. aus Märchen: Bei Hans Christian Andersen leidet Das hässliche Entlein darunter, dass es wegen seines Äußeren geärgert, verletzt und verstoßen wird.32 Ergriffen von der Schönheit der Schwäne, wendet es sich ihnen in letzter Verzweiflung zu und ist selbst bereit, in den Tod (!) zu gehen, da erblickt es im Wasser sein Spiegelbild und erkennt, dass es selbst ein schöner Schwan ist.33 30 | Böhme: Leibsein als Aufgabe, S. 206. 31 | Nach dieser Ansicht stellt z.B. eine operative Geschlechtsumwandlung eine hilfreiche Maßnahme dar, wenn sie für den Betroffenen insofern einen Einklang zwischen Innen und Außen schafft, als es dabei, nach dem Empfinden des Patienten, lediglich um eine geschlechtsangleichende Operation geht. Vgl. Kurt W. Schmidt: »Stabilizing or Changing Identity? The Ethical Problem of Sex Reassignment Surgery as a Conflict Among Individuals, Community, and Society«, in: Julia Tao Lai Po-wah (Hg.): Cross-Cultural Perspectives on the (Im)Possibility of Global Bioethics, Dordrecht 2002, S. 237-263. 32 | Hans Christian Andersen: »Das hässliche Entenküken«, in: ders.: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2003, S. 290-301. 33 | Als der Privatsender Pro 7 die amerikanische Fernsehshow »The Swan« im deutschen Fernsehen ausstrahlte, konnten die Zuschauer überprüfen, was von der

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

56 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt Carl Elliott hat darauf hingewiesen, dass wir auch in dem KinderbuchKlassiker Der Zauberer von Oz34 mit Wesen konfrontiert werden, die ihrer selbst nicht sicher sind: etwa mit dem ängstlichen Löwen, der aufgrund von Furcht seine Rolle als Herr der Wildnis nicht erfüllen kann. Der Zauberer heilt ihn, indem er ihm seine Selbstsicherheit zurückgibt. Dies gelingt ihm dadurch, dass er ihm einen Orden der Tapferkeit (!) verleiht. Nun sieht alle Welt, dass der Löwe das Symbol der Furchtlosigkeit trägt, was dem Löwen selbst wiederum Sicherheit gibt. Diese Sicherheit kann jedoch nur deshalb nach außen treten, weil sie tief im Inneren des Löwen bereits vorhanden und doch verschüttet war. Der Zauberer verändert somit nicht grundsätzlich die Natur des Löwen, sondern er hilft ihm, zu sich selbst zu finden, er selbst zu werden, authentisch zu sein. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis einer gelungenen (Körper-)Veränderung: Die Unglücklichen gehen nicht zum Heiler, weil sie verbessert werden wollen, sondern weil sie sie selbst sein wollen.35 Allerdings: »Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja!«, sagt die Transsexuelle La Agrado in Pedro Almodovars Spielfilm Alles über meine Mutter (1999) und spielt damit auf die finanziellen Kosten ihrer zahlreichen kosmetischen Operationen an: Korrekturen an Brust, Lippen, Stirnfalten, Hüften, das Zurechtfeilen der Kinnpartie, dauerhafte Laserepilation. »Und in diesen Dingen sollten wir nicht knauserig sein. Wieso? Weil wir um so authentischer sind, je ähnlicher wir dem Traum werden, den wir von uns haben«. Für La Agrado ist ihr eigener Körper (»alles maßgeschneidert!«) sogar »mehr als authentisch!«36 Dabei müssen wir uns aber stets mit jeder Körperveränderung neu auseinandersetzen und uns diesem neuen Zustand anpassen. So sehr es nämlich darauf ankommt, selbst in Erscheinung zu treten und das Äußere mit Leben zu füllen, so wird der Einzelne – ob schön oder nicht – niemals ganz Herr der eigenen Erscheinung.37 Nach Elliott ist Authentizität dann auch der Grund, warum die Kultur der Selbsthilfe-Seminare und -Bücher derzeit so starken Zuspruch findet:

Moral der Geschichte übrig geblieben ist. Denn im Märchen heißt es: Beschämt steckte der Schwan seinen Kopf unter die Fittiche, als die anderen Schwäne seine Schönheit rühmten. Er war glücklich, »jedoch nicht stolz, denn ein gutes Herz wird niemals stolz« (ebd., S. 301). 34 | Lyman Frank Baum: Der Zauberer von Oz, Würzburg 2001. 35 | Elliott: Better than Well, S. 173. 36 | Der Film gewinnt bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes 1999 die Goldene Palme für die »Beste Regie« und im Jahr 2000 den Oscar als »Bester Ausländischer Film«. 37 | Böhme: Leibsein als Aufgabe, S. 207.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 57

Wir müssen in uns selbst hineinschauen und entdecken, was wir wirklich sind und was wir wirklich wollen. Wenn diese Entscheidung dann getroffen ist, bleibt dem aufgeklärten Zeitgenossen nichts anderes übrig, als – mitunter kopfschüttelnd – Toleranz zu üben. Doch der Wunsch des Patienten nach körperlicher Veränderung trifft auf ein Gegenüber, und zwar den Arzt, der sich die Frage stellen muss, ob er einen derartigen Eingriff vornehmen möchte und wo aus seiner Sicht die Grenzen der Verantwortbarkeit verlaufen. Damit ist nicht nur das berufliche Selbstverständnis des jeweiligen Arztes, sondern auch das Grundverständnis der Medizin insgesamt berührt.

5. Zwischen Heilauftrag und Serviceleistung In diesem Streit plädierte der amerikanische Arzt Leon Kass schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dafür, sich wieder auf die ursprüngliche »Reinform der Medizin« zu besinnen, um sich von deren wahren, ureigensten therapeutischen Zielen und Aufgaben leiten zu lassen.38 Medizin in Reinform ist für Kass somatische Medizin, konzentriert auf das Beheben körperlicher Leiden und Krankheiten. Damit weist der Arzt viele Ansprüche an die heutige Medizin als unangemessene Forderungen zurück; so zählen für Kass weder Schwangerschaftsabbrüche noch kosmetische Operationen zu den medizinischen Handlungen im engeren Sinne. Demgegenüber sieht H. Tristram Engelhardt Jr. in der Medizin von alters her eine »Serviceleistung«, die stets auch auf die Erfüllung der Wünsche von Patienten ausgerichtet war.39 Krankheit sei keine feste normative Größe, die über Jahrhunderte hinweg unverändert geblieben ist, sondern ihre Definition unterliege medizinhistorischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen. Deshalb müsse jeder Versuch scheitern, zeitlos allgemeine Therapieziele für die Medizin zu benennen. Die Medizin habe zwar immer versucht, Krankheiten zu heilen, doch sei die Medizin stets auch bemüht gewesen, jenen Menschen zu helfen, die zwar an keiner »Krankheit« litten, aber dennoch um Hilfe nachsuchten. Die Ziele der Therapie, so Engelhardt, werden von Individuen oder Gruppen bestimmt und entziehen sich jeder Generalisierung. Die Medizin stellt Handlungsoptionen zur Verfügung und ist marktorientiert:

38 | Leon R. Kass: »Regarding the End of Medicine and the Pursuit of Health«, in: Arthur C. Caplan u.a. (Hg.), Concepts of Health and Disease, Reading 1981, S. 3-30. 39 | H. Tristram Engelhardt Jr.: »Goals of Medical Care. A Reappraisal«, in: Nora K. Bell (Hg.): Who Decides: Conflicts of Rights in Health Care, Clifton 1982, S. 4966.

2006-02-06 17-38-09 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

58 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt »Es lässt sich höchstens soviel sagen, dass die Medizin es mit Leiden zu tun hat, die sich nicht sofort willentlich kontrollieren lassen und deren Erscheinen sich in pathophysiologischen und pathopsychologischen Termini ausdrücken lassen. Unter Medizin versteht man am besten ein Bündel von Strategien, die helfen sollen, menschliche Probleme zu lösen und menschliches Wohlbefinden (well-being) zu etablieren.«40

Die Positionen von Kass und Engelhardt verdeutlichen die enorme Spannweite des Medizinverständnisses und den damit verbundenen Zielsetzungen und gesellschaftlichen Erwartungen: vom Heilauftrag, der aus einem eng umrissenen Verständnis der Behandlung des kranken Körpers abgeleitet wird, bis hin zur kundenorientierten Serviceleistung, die an keine vorformulierten Inhalte mehr gebunden ist, sondern nur noch an die Einhaltung der formalen Bedingungen eines »Vertragsabschlusses« zwischen Anbieter (Arzt) und Kunde (Patient).41 Ein solcher Behandlungsvertrag lässt sich dann schließen, wenn der Patient angemessen aufgeklärt wurde (informed consent) und es sich bei ihm/ihr um eine volljährige, entscheidungsfähige Person (»rechtsfähiges Subjekt«) handelt. Ein Austausch der Leistungen zwischen Arzt (Anbieter) und Patient (Konsument) gilt als fair, solange es zu keiner arglistigen Täuschung, zu Betrug oder einer Überlistung kommt.42 Wir können diese beiden Positionen auch als Vertreter unterschiedlicher Lager der Bioethik verstehen.43 Auf der einen Seite befinden sich die sokratischen Vertreter der Ethik, die nicht müde werden, nach dem guten Leben zu fragen und im Dialog mit anderen klären möchten, welche Art von Gesundheit Teil des guten Lebens sein kann. Auf der anderen Seite steht die protektionistische Fraktion, die die medizinische Behandlung als Produkt be40 | Engelhardt Jr.: »Goals of Medical Care«, S. 57 (unsere Übersetzung, K. B. u. K. S.). 41 | Siehe auch Kathy Davis: Reshaping the Female Body. The Dilemma of Cosmetic Surgery, London 1995, S. 17ff. 42 | Grundstrukturen des Vertragsverhältnisses zwischen Arzt und Patient (Wahrung der Geschäftsbedingungen u.a.) sind bereits in der hippokratischen Ausrichtung auf das »Wohl des Kranken« enthalten. Vgl. Hans Georg von Manz: »Typen medizinischer Ethik«, in: Eberhard Amelung (Hg.): Ethisches Denken in der Medizin. Ein Lehrbuch, Heidelberg 1992, bes. S. 78. Im Mittelalter führt das Vertrauens-/Misstrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt zu übergeordneten vertraglichen Regelungen (Festlegung von Honoraren, Strafen bei Kunstfehlern etc.). Vgl. Pedro Laín Entralgo: Arzt und Patient. Zwischenmenschliche Beziehungen in der Geschichte der Medizin, München 1969, S. 75f. 43 | Vgl. Arthur W. Frank: »Emily’s Scars. Surgical Shapings, Technoluxe, and Bioethics«, in: Hastings Center Report, 34(2)/2004, S. 18-29.

2006-02-06 17-38-10 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 59

trachtet und ihre Aufgabe darin sieht, die Rechte des Patienten als eines Kunden zu verteidigen und somit bei der Einhaltung ethischer Prinzipien, wie informed consent, letztlich nichts anderes als den »Verbraucherschutz« im Blick hat.

6. Ausblick Der Mensch der Neuzeit, so fasst es Wolfgang Reinhard in seiner Kulturgeschichte Lebensformen Europas zusammen, hat die Macht über den eigenen Körper erlangt.44 Dieser ist nicht mehr heilig oder ein unantastbares »naturgegebenes Schicksal«, sondern veränderbar und formbar. Und wenn der Körper als ein wichtiges Mittel der beruflichen und sozialen Kommunikation angesehen wird, wenn das Individuum sich selbst als Planer und Vollbringer des eigenen Schicksals betrachtet, dann ist es auch selbst für den eigenen Erfolg verantwortlich. Angesichts der rasanten Entwicklungen der Leistungsgesellschaft scheint dann für viele weniger der Wille oder Zwang, der oder die Erste, Beste und Schönste zu werden, im Vordergrund zu stehen als vielmehr die Angst zurückzubleiben. Die treibende Kraft zur Korrektur des eigenen Körpers ist somit die Furcht, aus (der Mitte) der Gesellschaft herauszufallen, der »terror of being left behind«, wie Elliott sagt.45 Es ist ein schwieriger Spagat feministischer Kritik, Frauen aus den Zwängen der Schönheitsideale zu befreien und ihnen zugleich nichts vorzuschreiben. So hat Naomi Wolf in ihrem zornigen Buch The Beauty Myth zwar einerseits aufgezeigt, wie Schönheitsideale gegen Frauen benutzt werden, und dieses scharf angeprangert, sie musste aber andererseits eingestehen, dass sie selbst Frauen nicht vorschreiben könne, keine kosmetischen Operationen durchführen zu lassen, ohne dabei selbst patriarchales Verhalten an den Tag zu legen. Folgerichtig weist Wolf im Vorwort der 2. Auflage darauf hin, sie wolle lediglich erreichen, dass eine »Frau das Recht haben soll zu entscheiden, wie sie selbst aussehen und was sie sein will«. Sie dürfe diese Entscheidungen nicht vom Markt bzw. der Schönheitsindustrie aufgezwungen bekommen.46 Oder auch vom (Lebens-)Partner. Das amerika44 | Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004. 45 | Auch Kathy Davis kommt in ihren Interviews zu dem Ergebnis, dass die befragten Frauen durch kosmetische Chirurgie nicht »schöner« werden wollten, sondern »ordinary, normal, or just like everyone else«. Siehe dies.: Reshaping the Female Body, S. 161. 46 | Naomi Wolf: The Beauty Myth. How Images of Beauty Are Used Against Women, New York 20022, S. 2.

2006-02-06 17-38-10 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

60 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt nische Pop-Trio TLC stürmte vor einigen Jahren mit dem Song »Unpretty« die Charts, in dem es um die Leiden eines jungen Mädchens ging, das in Bezug auf die eigene Schönheit verunsichert war, nachdem der Freund ihre natürliche Schönheit in Frage gestellt und operative Veränderungen verlangt hatte. In seinem Video plädierte das Pop-Trio dafür, den Freund in die Wüste zu schicken.47 Gleichwohl wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass Schönheit nie der »Besitz« einer Person ist, sondern sich zwischen den Personen ereignet.48 Auch wenn es dabei keine normativ allgemein verbindlichen Grenzen der menschlichen Natur mehr gibt, so bleibt es dennoch legitim, sich die Idee einer Integrität der menschlichen Natur verbindlich zu Eigen zu machen und der individuellen Lebensführung als Leitlinie zugrunde zu legen. Wenn diese Idee Grundwert einer Privat- oder Gruppenmoral, aber auch einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft wird, können von ihr wichtige Impulse ausgehen, dem gesellschaftlichen Trend oder gar Zwang zur Selbstveränderung nicht zu erliegen. Allerdings wäre es nicht legitim, aus diesem Grundwert ein universal-moralisches Werturteil über die Handlungen anderer Individuen abzuleiten.

Literatur Andersen, Hans Christian: »Das hässliche Entenküken«, in: ders.: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2003, S. 290-301. Baum, Lyman Frank: Der Zauberer von Oz, Würzburg 2001. Bayertz, Kurt: »Human Nature: How Normative Might it Be?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 2/2003, S. 131-150. Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003. Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (Hg.): Spieglein, Spieglein an der Wand... Zur Diskussion um den Schönheitswahn, Berlin 2005. Butta, Carmen: »Die handgemachte Frau«, in: Die Zeit, 2/2002, S. 9-13.

47 | TLC: »Unpretty«, in: dies.: now & forever – the video hits, Arista Records 2003. Vgl. auch Kurt W. Schmidt: »Schönheit und Skalpell. Ethische Fragen der Körperveränderungen«, in: rheinweiber, November 2004, S. 16-19. 48 | Durch Schönheit macht man sich allerdings nicht – wie häufig kritisiert – zum Objekt für den Blick des Anderen, man bemächtigt sich vielmehr seines Blickes und schwächt dessen Zugriff. Vgl. Böhme: Leibsein als Aufgabe, S. 190.

2006-02-06 17-38-10 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

»Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!« | 61

Charlie, Andrea/Kulessa, Franziska: »Wenn es ans Polster geht. Plastische Chirurgie ist teuer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2004, S. 21. Davis, Kathy: Reshaping the Female Body. The Dilemma of Cosmetic Surgery, London 1995. Davis, Kathy: Dubious Equalities & Embodied Differences. Cultural Studies on Cosmetic Surgery, Lanham 2003. Dokumentation: 108. Deutscher Ärztetag: »Entschließungen zum Tagesordnungspunkt V«, in: Deutsches Ärzteblatt, 13. Mai 2005, A 1378. Engelhardt Jr., H. Tristram: »Goals of Medical Care. A Reappraisal«, in: Bell, Nora K. (Hg.): Who Decides: Conflicts of Rights in Health Care, Clifton 1982, S. 49-66. Elliott, Carl: Better than Well. American Medicine Meets the American Dream, New York 2003. Etcoff, Nancy: Nur die Schönsten überleben. Die Ästhetik des Menschen, München 2001. European Commission (Hg.): Beauty and the Doctor. Moral Issues in Health Care with Regard to Appearance, EUR PL 963164/2001. Frank, Arthur W.: »Emily’s Scars. Surgical Shapings, Technoluxe, and Bioethics«, in: Hastings Center Report, 34(2)/2004, S. 18-29. Gans, Eric: »The Body Sacrificial«, in: Siebers, Tobin (Hg.): The Body Aesthetic. From Fine Art to Body Modification, Ann Arbor 2000, S. 159-178. Gerigk, Horst-Jürgen: Der Mensch als Affe, Hürtgenwald 1989. Gilman, Sander L.: The Jew’s Body, New York 1991. Gilman, Sander L.: Creating Beauty to Cure the Soul. Race and Psychology in the Shaping of Aesthetic Surgery, Durham 1998. Gilman, Sander L.: Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton 1999. Gilman, Sander L.: »Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 62-109. Gilman, Sander L.: »Ethnische Fragen in der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 112-137. Haiken, Elizabeth: Venus Envy. A History of Cosmetic Surgery, Baltimore 1997. Hibbeler, Birgit: »Top V: Weiterbildungsordnung«, in: Deutsches Ärzteblatt, 13. Mai 2005, A 1346. Kass, Leon R.: »Regarding the End of Medicine and the Pursuit of Health«, in: Caplan, Arthur C. u.a. (Hg.): Concepts of Health and Disease, Reading 1981, S. 3-30. Laín Entralgo, Pedro: Arzt und Patient. Zwischenmenschliche Beziehungen in der Geschichte der Medizin, München 1969.

2006-02-06 17-38-10 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

62 | Kurt Bayertz, Kurt W. Schmidt Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente (1775) (hg. von Christoph Siegrist), Stuttgart 1999. Manz, Hans Georg von: »Typen medizinischer Ethik«, in: Amelung, Eberhard (Hg.): Ethisches Denken in der Medizin. Ein Lehrbuch, Heidelberg 1992, S. 76-91. Meijas, Jordan: »In drei Monaten zum Sexsymbol. So kommt der Klon durch die Hintertür: Schönheitsoperationen als Quotenknüller im Fernsehen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2004. Parens, Erik (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. Peiss, Kathy: Hope in a Jar: The Making of America’s Beauty Culture, New York 1998. Pico della Mirandola, Giovanni: Über die Würde des Menschen (1496), Zürich 19964. Platon: Timaios (dt. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher), Sämtliche Werke, Bd. 4, Hamburg 1994. Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004. Schmidt, Kurt W.: »Stabilizing or Changing Identity? The Ethical Problem of Sex Reassignment Surgery as a Conflict Among Individuals, Community, and Society«, in: Tao Lai Po-wah, Julia (Hg.): Cross-Cultural Perspectives on the (Im)Possibility of Global Bioethics, Dordrecht 2002, S. 237-263. Schmidt, Kurt W.: »Schönheit und Skalpell. Ethische Fragen der Körperveränderungen«, in: rheinweiber, November 2004, S. 16-19. Schmidt, Kurt W.: »Two souls, competing in one breast – Ethical problems surrounding ›the dark side of man‹ in screen adaptions of Robert L. Stevenson’s ›The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde‹ (1886)«, auf: http: //www.fictionethics.org/aps/Paper/8 (Stand: 24. November 2005). Schotter, Robert: »Bin ich schön? Dem ewigen Rätsel perfekter Schönheit auf der Spur«, auf: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/30/0,1872,20445 42, 00.html (Stand: 24. November 2005). Taschen, Angelika (Hg.): Schönheitschirurgie, Köln 2005. TLC: »Unpretty«, in: dies.: now & forever – the video hits, Arista Records 2003. Wolf, Naomi: The Beauty Myth. How Images of Beauty Are Used Against Women, New York 20022.

2006-02-06 17-38-10 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

43- 62) T01_02 bayertz schmidt.p 107239494158

Verbesserung als Selbstzweck? | 63

Verbesserung als Selbstzweck? Psyche und Körper zwischen Abweichung, Norm und Optimum Christian Lenk

Einleitung Welche Maßstäbe setzen wir für unsere Psyche und unseren Körper an, welche Definitionsmöglichkeiten gibt es für Normalität und daher für Abweichung und Devianz, und was kann als Verbesserung oder mögliches Optimum gelten? Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich überwiegend mit diesen theoretischen Möglichkeiten und präsentiert und problematisiert einige gängige Antworten. Analytischer Ansatzpunkt ist damit, Modifikationen der Psyche und des Körpers von unserem Verständnis des Normalen und des Nicht-Normalen, des Gesunden und des Pathologischen her zu betrachten. Der Beitrag befindet sich damit in einem gewissen Spannungsfeld zum Titel des Sammelbandes, no body is perfect, da er die Psyche als Ort möglicher Modifikationen mit in die Thematik hineinzieht. Dies weniger in kritischer Absicht, als vielmehr um darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung von Psyche und Körper in Grenzbereichen schwer zu realisieren ist und dass das Vornehmen von Modifikationen, von Verbesserungen und Optimierungen an der Psyche-Körper-Grenze nicht halt macht und sozusagen ein ganzheitliches Unternehmen darstellt. Sollte man aber überhaupt von unseren Maßstäben von Psyche und Körper sprechen, oder zeichnet sich das beginnende 21. Jahrhundert nicht gerade dadurch aus, dass die Individualisierungs- und Enttraditionalisierungstendenzen auch auf diese Bereiche übergreifen und die mühsam erzeugten Konventionen des Rationalismus und der Moderne zunehmend

2006-02-06 17-38-11 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

64 | Christian Lenk verschwinden lassen? Diese Beobachtung ist sicherlich nicht vollständig von der Hand zu weisen; zugleich wäre es jedoch ein Fehler und eine historische Naivität, das moderne Selbstverständnis der Medizin, nach dem man eben durch naturwissenschaftliche Experimente am menschlichen Körper wisse, was das Gute, Gesunde und Richtige sei, für gegeben zu nehmen, ohne nach tatsächlich existierenden Alternativen zu fragen. In diesem Sinne werden im weiteren Verlauf dieses Artikels neben der klassischen Antwort auf die Frage nach einer durchgängigen Norm der Psyche und des Körpers auch alternative Möglichkeiten diskutiert, die freilich den meisten Leserinnen und Lesern aus ihrer Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit bereits bekannt sein dürften. Der Blick auf Modifikationen der Psyche und des Körpers beinhaltet auch einen Hinweis auf reale oder vorgestellte Grenzüberschreitungen. In der Medizinethik werden solche Grenzüberschreitungen an Psyche und Körper seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts unter der Überschrift des Enhancements, also von – tatsächlichen oder eher fraglichen – Verbesserungen geführt.1 Die Debatte entsprang der überwiegend fundamental geführten Diskussion über die Erlaubtheit genetischer Eingriffe am Menschen. Hier ist etwa an Paul Ramseys Fabricated Man zu denken.2 Innovative Ansätze der Gentherapie gingen über solche grundsätzlichen Ansätze aus den 70er Jahren – unter Hinweis auf zu heilende Krankheiten – hinweg und erzeugten ein neues ethisches Forschungsparadigma. Die Leitfrage in der Ethik der Humangenetik war nun nicht mehr, ob generell genetische Eingriffe am Menschen gestattet seien, sondern unter welchen Umständen derartige Eingriffe ethisch zulässig oder sogar geboten erscheinen. Der Begriff Enhancement fungiert dabei als Gegenüber der Therapie und als Möglichkeit einer Grenzziehung zur Eugenik. In diesem Sinne wurde er jedenfalls in den früheren Arbeiten von French W. Anderson gebraucht.3 1 | Vgl. Christian Lenk: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002; ders.: »Health and Enhancement« in: Antje Gimmler/Christian Lenk/Gerhard Aumüller (Hg.): Health and Quality of Life. Philosophical, Medical, and Cultural Aspects, Münster 2002, S. 37-46. 2 | Paul Ramsey: Fabricated Man. The Ethics of Genetic Control, New Haven 1970. 3 | W. French Anderson/Joseph C. Fletcher: »Gene Therapy in Human Beings: When Is It Ethical to Begin?«, in: The New England Journal of Medicine, 303/ 1980, S. 1293-1297; W. French Anderson: »Prospects for Human Gene Therapy«, in: Science, 226/1984, S. 401-409; ders.: »Human Gene Therapy: Scientific and Ethical Considerations«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 10/1985, S. 275-291; ders.: »Human Gene Therapy: Why Draw a Line?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 14/1989, S. 681-693.

2006-02-06 17-38-11 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 65

In den 90ern treten andere Aspekte in den Vordergrund. Einmal beginnt die ästhetische Chirurgie ihren Siegeszug in breiteren Bevölkerungsschichten, zum anderen stehen durch biotechnische Fortschritte, z.B. bei der Produktion von Wachstumshormonen, zunehmend mehr Möglichkeiten für nicht-therapeutische Eingriffe zur Verfügung. In der ethischen Debatte finden nun auch traditionelle Formen der künstlichen Verschönerung größere Aufmerksamkeit (angeregt z.B. von historischen Arbeiten wie etwa von Sander L. Gilman4), und heben, wie paradigmatisch etwa in dem Sammelband von Erik Parens5, die Verengung der Debatte auf genetische Manipulationen auf. Die Universalität der ethischen Problematik für verschiedene Teilbereiche tritt also stärker ins Bewusstsein. Außerdem finden sich in der ethischen Debatte diverse Stimmen aus dem liberal-aufgeklärten Lager, die einer Deregulierung entsprechender Praktiken das Wort reden: teilweise aus Gründen sozialer Gerechtigkeit bzw. gerechter Chancenverteilung6, teilweise mit resignativen Untertönen bzw. einer Affirmation der »Weltläufe«7, teilweise aber auch mit eugenischer Grundausrichtung.8 Michael Fuchs definiert Enhancement als »allgemein korrigierenden Eingriff in den menschlichen Körper, durch den nicht eine Krankheit behandelt wird bzw. der nicht medizinisch indiziert ist.«9 Die Definition verweist darauf, dass die Bestimmung des Enhancements sich daran ausrichtet, was wir als krank oder gesund, als pathologisch oder unpathologisch, als medizinisch behandlungswürdig oder als unauffällig, normal verstehen. Jeder, der auch nur in Ansätzen mit Definitionen von Gesundheit und Krankheit vertraut ist, weiß, wie schwierig eine solche Aufgabe fallen muss. Dennoch ist es in vielen sozialen Kontexten notwendig, solche Definitionen zur Anwendung zu bringen, so z.B. bei der Entscheidung in einem öffentlichen Gesundheitswesen, welche Medikamente und Eingriffe für die Versicherten bezahlt werden sollen: Als Beispiele seien nur die Verschrei4 | Sander L. Gilman: Making the Body Beautiful: A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton 1999. 5 | Erik Parens (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. 6 | Gemeint ist die Ansicht, es wäre gerecht, wenn alle Menschen eine ähnlich leistungsfähige genetische Ausstattung hätten. Vgl. Allen Buchanan u.a.: From Chance to Choice. Genetics & Justice, Cambridge 2000. 7 | William Gardner: »Can Human Genetic Enhancement Be Prohibited?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 20/1995, S. 65-84. 8 | Julian Savulescu: »Procreative Beneficence: Why We Should Select the Best Children«, in: Bioethics, 15/2001, S. 413-426. 9 | Michael Fuchs: »Enhancement«, in: Wilhelm v. Korff/Lutwin Beck/Paul Mikat (Hg.): Lexikon der Bioethik, Gütersloh 2000, S. 604-605.

2006-02-06 17-38-11 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

66 | Christian Lenk bung von Viagra, das Anlegen abstehender Ohren, die Korrektur von Zahnstellungen oder der Einsatz von Wachstumshormonen genannt. Allein um die Handlungsfähigkeit im praktischen Kontext zu erhalten, bedarf es also einer mehr oder weniger verbindlichen Auffassung von den Grenzen von Gesundheit und Krankheit. Darüber hinaus besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem modernen Traum von einer Verbesserung des Menschen – sei dieser Traum kollektiver oder individueller Natur – und unserer eigenen Gewohnheit oder Erwartung, Dinge des täglichen Gebrauchs, Arbeitsabläufe oder menschliche Leistungen für immer weiter optimierbar zu halten. Leider allzu oft, ohne darüber zu reflektieren, was denn der Endpunkt einer solchen Optimierung sein könnte. Die Kultur der Optimierung hat sich mittlerweile auf eine Art und Weise verselbständigt, dass nicht mehr die Veränderung und der Versuch einer Verbesserung der Begründung bedürfte, sondern nun vielmehr begründet werden muss, dass eine Optimierung unterlassen werden kann. Manchmal, z.B. bei der Erhöhung der Produktivität in ökonomischen Zusammenhängen, kann ein Unterlassen von Optimierung in der Tat eine Bedrohung, etwa für die Lebensgrundlage der Beschäftigten, darstellen. Aus dieser Perspektive mag es verständlich, in gewissem Sinne sogar vernünftig erscheinen, auch von der menschlichen Natur weitere Verbesserungen zu erwarten. Der antike Gedanke einer wie immer gearteten menschlichen »Vollkommenheit« ist dieser Mentalität jedoch fremd. Die Kultur der Optimierung kennt keine eigentlichen Ziele mehr. Verbesserung als solche ist zum Selbstzweck geworden.

1. Theoretische Ansätze zur Beschreibung von Gesundheit und Krankheit Die moderne, naturwissenschaftlich geprägte Medizin pflegt einen dezidierten theoretischen Nihilismus, der u.a. auf schlechte Erfahrungen mit überbordenden Denksystemen zurückzuführen ist, die nur mangelhaft mit der Wirklichkeit korreliert sind. Die Gegenposition, dass man auf theoretische Systeme ganz verzichten und nur mit experimentellem Erfahrungswissen eine Medizin als reine Handlungswissenschaft aufbauen könnte, ist allerdings gleichfalls nicht zu halten. Begriffe wie Gesundheit und Krankheit erscheinen vor diesem Hintergrund jedenfalls als besonders suspekt, da sie zweifellos neben ihrer deskriptiven Aussage eine normative Komponente beinhalten. Und diese normative Komponente kann sogar in Richtung eines moralischen Urteiles changieren, wie die reiche Metaphorik aus der Medizin bei der umgangssprachlichen Bezeichnung abweichenden Verhaltens zeigt. Doch ist mit einem Verzicht auf übergeordnete Begriffe wie Ge-

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 67

sundheit und Krankheit nichts gewonnen – einerseits werden sie paraphrasiert, wie zum Beispiel bei den Konzepten von Funktionalität oder Pathologie, und in wissenschaftlichere Synonyme umgewandelt; andererseits kann ein begriffliches Vakuum entstehen, das in der Praxis als reine Orientierungslosigkeit erlebt wird. Der Arzt, der nicht mehr weiß, ob er sich als Heiler oder Dienstleister verstehen soll, der Patient, der meint, auch seine Schönheitsoperationen müssten vom staatlichen Gesundheitswesen anstandslos bezahlt werden, sind dafür nur zwei Beispiele. Mit der Philosophie der Medizin hat sich in der internationalen Diskussion eine wissenschaftliche Disziplin etabliert, die theoretische Fragen dieser Art, gewissermaßen in der Rolle eines Stellvertreters der Medizin, systematisch untersucht. Im Folgenden werde ich einige verschiedene Ansätze und Definitionen von Krankheit und Gesundheit vorstellen, die, wie ich meine, jede für sich eine gewisse Plausibilität in Anspruch nehmen können. Gewissermaßen am »konservativen« Ende des Spektrums theoretischer Ansätze liegen alle Versuche, Gesundheit und Krankheit unter Bezugnahme auf eine biologische Norm bzw. eine Abweichung von dieser Norm zu beschreiben. Die Bedingungen für Gesundheit sollen, dieser Vorstellung zufolge, ziemlich minimalistisch, dafür aber möglichst objektivierbar sein. Eine wesentliche Erkenntnis in diesem Bereich lautet zunächst, dass die reine Abweichung von der Norm überhaupt noch keine Krankheit darstellt. Zudem ist unter wissenschaftstheoretischen Aspekten zu fragen, was überhaupt die Norm konstituiert. Hier ist im Bereich der Medizin etwa auf historisch-anatomische Prozesse hinzuweisen, die im 16. Jahrhundert beginnen und allmählich zu einer hinreichend adäquaten Vorstellung vom menschlichen Körper führen. Diese Konstitution einer Norm des menschlichen Körpers ist im Übrigen wieder vielerlei anderen Einflüssen unterworfen, z.B. zu Beginn der wissenschaftlichen Anatomie althergebrachten Dogmen der Medizin über das Zusammenspiel und den Aufbau der einzelnen Organe, aber auch Ordnungsvorstellungen von Symmetrie etc. Das Bild des menschlichen Körpers, das wir heute in medizinischen Atlanten sehen, ist ein von Besonderheiten bereinigtes – die Norm konstituiert sich erst in der Schaffung eines artifiziellen Idealbildes, das lokal und historisch variieren kann. Auf einer solchen Norm baut einer der bekanntesten »konservativen« Ansätze der Philosophie der Medizin auf, der so genannte biostatistische Ansatz von Christopher Boorse. Unter seinen Arbeiten ist insbesondere der 1977 erschienene, brillante Aufsatz »Health as a Theoretical Concept«10 zu nennen. Boorse schlägt vier grundlegende definitorische Elemente vor: 10 | Christopher Boorse: »Health as a Theoretical Concept«, in: Philosophy of Science, 44/1977, S. 542-573.

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

68 | Christian Lenk (1) Die so genannte Referenzklasse ist eine natürliche Klasse von Organismen mit einheitlichem funktionalem Design; also etwa Mitglieder einer Art, die zum selben Geschlecht und derselben Altersgruppe zählen. Das funktionale Design wären die wesentlichen funktionalen Eigenschaften einer solchen Gruppe von Organismen. (2) Eine normale Funktion innerhalb dieses funktionalen Designs wird definiert als ein, statistisch gesehen, typischer Beitrag zum individuellen Überleben und zur Reproduktion. Die Bedeutung der einzelnen Funktionen resultiert demnach aus einer Anknüpfung an die Evolutionstheorie. (3) Die Gesundheit der einzelnen Mitglieder der Referenzklasse ist nichts anderes als die normale funktionale Fähigkeit oder die aktuell vorhandene Fähigkeit jedes inneren Teils, alle seine normalen Funktionen zu typischen Gelegenheiten mit wenigstens typischer Effizienz auszuüben. (4) Die Krankheit ist dementsprechend ein Zustand, der die Gesundheit beeinträchtig, indem er eine oder mehrere funktionale Fähigkeiten unter ihre typische Effizienz vermindert. Als eine entscheidende Stärke dieses Gesundheitskonzeptes ist anzusehen, dass hier tatsächlich ein Brückenschlag aus der Philosophie der Medizin in die Physiologie des menschlichen Körpers gelungen ist, der wichtige Anknüpfungspunkte zum medizinischen Denken schafft. Kritischer zu sehen ist allerdings die Frage nach der Übertragbarkeit dieses Konzeptes in den Bereich der Psychologie und Psychiatrie. Denn hier gibt es zwar ein Organ, auf dessen Funktionalität wir bei affektiven und mentalen Vorgängen angewiesen sind – das Gehirn – aber funktionale Zusammenhänge zwischen einzelnen Hirnregionen und psychischen Fehlfunktionen sind uns in weitaus geringerem Maß bekannt als im Fall des Körpers. Zudem enthält der Rückschluss von der Funktion auf Teile des Gehirns die Gefahr eines materialistischen Fehlschlusses, weil wir schlicht nicht wissen, wie unser Bewusstsein und einzelne unserer Bewusstseinszustände zustande kommen. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass Boorses Funktionalismus – jedes Organ, jeder Zellverband hat seine Funktion – zugleich unterstellt, dass Gesundheit insgesamt eine Funktion oder Fähigkeit darstellt. Das ist meines Erachtens zwar ein wichtigen Punkt bei der Beschreibung von Gesundheit, fraglich ist allerdings, ob sich etwa das subjektive Gesundheitsempfinden in dieser Beschreibung erschöpft. Lebensqualität und Wohlbefinden sind weitere wichtige Begriffe, mit denen Gesundheit in Verbindung gebracht wird. Auf zwei Kennzeichen derartiger Theorieansätze sei besonders hingewiesen: (a) Sie enthalten eine mehr oder weniger ausgeprägte subjektive Komponente, da verbindliche Aussagen über die Lebensqualität und das Wohlbefinden letztlich nur vom Subjekt selbst gemacht werden können. Zwar sei zugestanden, dass beide Begriffe auch um objektive Anteile ergänzt werden können, z.B. um die Einschätzung der Mobilität eines Patienten oder seiner Fähigkeit, berufli-

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 69

che, soziale oder private Aufgaben und Tätigkeiten zu erledigen, entscheidend ist jedoch die erlebte individuelle Bedeutung dieser Fähigkeiten für den Betroffenen. Behinderung und gute Lebensqualität können daher, müssen aber keineswegs zueinander in Widerspruch stehen, wie z.B. Philip Brickman, Dannie Coates und Ronnie Janoff-Bulman demonstriert haben.11 (b) Derartige Ansätze sind gewöhnlich holistisch oder nicht-reduktionistisch, d.h. sie rekurrieren in ihren Aussagen über Gesundheit und Krankheit nicht allein auf das materiale Substrat des Körpers, sondern beziehen soziale, psychische und lebensweltliche Zusammenhänge mit ein. Diese Eigenschaft ist vor allem auch deshalb wichtig, weil sie dem traditionellen Gesundheitsverständnis und auch dem Gesundheitsverständnis von Laien (hier: Nicht-Medizinern) entgegen kommt. Als Beleg sei etwa die Gesundheitsdefinition von Christoph Faust aus seinem Gesundheitskatechismus von 1794 genannt: »Der Gesunde fühlt sich stark, voll Leben und Kraft; es schmeckt ihm Essen und Trinken, er kann Wind und Wetter ertragen, die Bewegung oder die Arbeit wird ihm nicht sauer, und es ist ihm gar wohl.«12

Ein solches Gesundheitsverständnis hat selbstverständlich eine höhere lebensweltliche Bedeutung für potenzielle Patienten als das reduktionistische Verständnis der modernen Medizin. Dort muss die Relevanz z.B. der Hypertonie oder der Hypercholesterinämie für den Betroffenen oft erst mühsam hergestellt werden, will man ihn zu einer Verhaltensänderung bewegen. Durch die berühmte Gesundheitsdefinition der World Health Organization (WHO) aus dem Jahre 1946 ist ein derart subjektiv geprägtes und holistisches Gesundheitsverständnis auch als Zielvorgabe auf politischer Ebene bedeutsam geworden. Dieser Definition zufolge ist Gesundheit »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease and infirmity«.13 Ein solches, in der Öffentlichkeit zumeist positiv gedeutetes Gesundheitsverständnis ist allerdings nicht unproblematisch. Einerseits lässt sich ein derartiger Gesundheitszustand nicht allein mit medizinischen Mitteln erreichen. Die Definition leistet damit einem gewissen 11 | Philip Brickman/Dannie Coates/Ronnie Janoff-Bulman: »Lottery Winners and Accident Victims: Is Happiness Relative?«, in: Journal of Personality and Social Psychology, 36/1978, S. 917-927. 12 | Zit. nach Dietrich v. Engelhardt: »Gesundheit.«, in: Korff/Beck/Mikat: Lexikon der Bioethik, hier S. 111. 13 | World Health Organization: Constitution, New York 1946, auf: http:// whqlibdoc.who.int/hist/official_records/constitution.pdf (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

70 | Christian Lenk Neopaternalismus der modernen Medizin Vorschub: Vollkommenes Wohlbefinden ist immer auch Sache des Betroffenen, seines Verhaltens, seiner inneren Disziplin und nicht nur Sache des Arztes. Andererseits: Wo befindet sich in einem solchen Konzept der Endpunkt für mögliche Modifikationen und Optimierungen des menschlichen Körpers? Radikal weitergedacht, fehlt dem subjektivistischen und holistischen Gesundheitskonzept eine Grenze für Veränderungen über normale Variationen der menschlichen Natur hinaus, die der biostatistische Ansatz aufgrund seiner Einbeziehung der biologischen Norm bereits mitbringt. Schließlich sind relationale Ansätze zur Beschreibung von Gesundheit und Krankheit zu erwähnen, d.h. Konzepte, die den Zustand oder die Fähigkeiten eines Organismus zu äußeren Bedingungen in ein Verhältnis setzen. Auch biologische Adaptationstheorien rekurrieren auf ein solches Verständnis von Gesundheit oder – wie es in diesem Zusammenhang wohl passender heißen muss – biologischer Fitness. An dieser Stelle soll allerdings ein medizinphilosophischer Ansatz vorgestellt werden, der relational und spezifischer zur Beschreibung der humanen Existenz geeignet ist als biologische Ansätze. Gemeint ist der handlungstheoretische Ansatz von Lennart Nordenfelt, nach dem derjenige Mensch gesund ist, der, bei Standardverhältnissen in seiner Umgebung, in der Lage ist, diejenigen Ziele zu erreichen, die notwendig und zusammen hinreichend für sein minimales Glück sind.14 Anders gesagt: Eine Person, die trotz Standardbedingungen nicht in der Lage ist, einen minimalen Glückszustand zu erreichen, hat ein existenzielles Problem, das Nordenfelt mit einer Form von Krankheit identifiziert. Offensichtlich kann man aber, diesem Ansatz zufolge, auch krank oder behindert und trotzdem in einem übergeordneten Sinn gesund sein, wenn man in der Lage ist, die glücklich machenden Ziele zu erreichen. Die jeweiligen Standardbedingungen sind nach Nordenfelt historisch und kulturell kontingent, woraus folgt, dass auch Gesundheit und Krankheit historisch und kulturell variabel sind. Eine Eigenschaft, etwa Kurzsichtigkeit, die für den mittelalterlichen Goldschmied oder Buchillustrator eine nützliche Fähigkeit darstellen mag, kann in einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern eine starke Beeinträchtigung beim Erreichen wichtiger Ziele bedeuten. Dagegen kann es in einer schriftlosen Gesellschaft keine Behinderung wie die Legasthenie geben, denn wenn die Standardbedingungen nicht vorsehen, dass ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, ist es auch kein Defizit, das betreffende Ziel – Literalität – nicht zu erreichen. Ein geschickter Schachzug Nordenfelts besteht darin, die Bestimmung der Ziele definitorisch an das zu erreichende persönliche Glück zu koppeln. Dadurch 14 | Lennart Nordenfelt: On the Nature of Health. An Action-Theoretic Approach, Dordrecht 1995.

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 71

entzieht er sich der Debatte um die Frage, welche Mindeststandards bei der Verwirklichung von Zielen gegeben sein müssen, um von Gesundheit sprechen zu können. Diese Standards, so Nordenfelts Antwort, entsprechen den jeweiligen Ansprüchen des Individuums. Wer in bescheidenem Maße in der Lage ist, seine Ziele zu verwirklichen, kann gesund sein, insofern die von ihm avisierten Ziele in den Rahmen seiner persönlichen Möglichkeiten passen.

2. Beliebigkeit der Definition von Gesundheit und Krankheit? Die Vielschichtigkeit und Diskrepanzen der theoretischen Ansätze zur Beschreibung von Gesundheit und Krankheit sind faszinierend, werfen aber auch eine Reihe von kritischen Fragen auf: Kann ein Begriff, der auf so unterschiedliche Weise definiert werden kann, im wissenschaftlichen Diskurs überhaupt sinnvoll verwendet werden? Führt ein Rekurs auf derartige Begriffe nicht zwangsläufig zu einer babylonischen Sprachverwirrung? Können solche Begriffe überhaupt sachhaltig sein, wenn sie ein und denselben Gegenstand mit gänzlich unterschiedlichen Instrumentarien beschreiben? Schließlich, und zwar mit Blick auf Modifikationen am menschlichen Körper: Müssen einer Vielzahl von Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit nicht zwangsläufig eine Vielzahl von Vorstellungen über die Normalität oder den erstrebenswerten Idealzustand von Psyche und Körper korrelieren? Ich habe in einer früheren Publikation einen eigenen Vorschlag zur Vermittlung der wesentlichen theoretischen Konzepte gemacht.15 Daneben bedarf es einer kritischen Analyse, inwiefern die einzelnen Aspekte eines umfassenden Gesundheitsverständnisses tatsächlich kohärent und tragfähig für eine Richtungsbestimmung in der theoretischen Debatte sind. Ich möchte im Folgenden insbesondere drei Probleme diskutieren, und zwar erstens die Frage von Normalität und Normabweichung, zweitens die Frage nach der Möglichkeit einer Abgrenzung zwischen einem basalen und einem weitergehenden Gesundheitsverständnis und drittens die Frage nach der besonderen Schwierigkeit, aber auch nach der Wichtigkeit einer Definition der psychischen Gesundheit. (1) Normalität, die physiologische Norm, kann geradezu als eines der Schlüsselkonzepte der modernen Medizin gelten. Dabei ist zu bedenken, dass die Möglichkeit einer Normierung physiologischer Parameter geeigneter Instrumente – z.B. Thermometer, Blutdruckmessgeräte, Magnetresonanztomografen – sowie eines dezidierten Wissens über die Bandbreite des 15 | Lenk: Therapie und Enhancement, bes. Kap. I u. VI.

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

72 | Christian Lenk Auftretens klinischer Parameter bedarf. Weiterhin muss die Norm in einer theoretischen Anstrengung hinreichend genau definiert werden, um praktische Anwendung zu finden. Die Norm ist oft, aber nicht immer das zahlenmäßig Überwiegende, kann aber auch in einem zu definierenden Idealzustand bestehen, der von der Mehrzahl der Patienten nicht erreicht wird. Beispielsweise werden in Deutschland aktuell zwei Drittel aller Schwangerschaften als Risikoschwangerschaften klassifiziert und sind damit, gemessen an den Ansprüchen der Gynäkologinnen und Gynäkologen, in irgendeiner Hinsicht defizitär.16 In praktischer Hinsicht ist ein Wissen von der Normalität des menschlichen Körpers zweifellos eine enorme Arbeitserleichterung, bieten Anomalitäten doch nahe liegende Ansatzpunkte für diagnostische und therapeutische Anstrengungen – auch dann, wenn man die zugrundeliegenden Krankheitsursachen nicht kennt. Dennoch birgt der Rekurs auf eine vermeintliche oder tatsächliche Norm eine Reihe von Gefahren: Zunächst kann die Norm ganz einfach falsch oder unangemessen sein, wie z.B. im Fall der Medikalisierung der Homosexualität. In psychiatrischen Grundlagenwerken wurde und wird teilweise auch heute noch davon ausgegangen, dass Heterosexualität die Norm und Homosexualität entsprechend eine Normabweichung darstellt. In diesem Fall scheint bereits die Konstitution der Norm auf einem fatalen Missverständnis zu beruhen, nämlich, dass es eine durchgängige Norm partnerschaftlichen Sexualverhaltens geben müsse, die keine Variabilitäten zulassen könne. Zudem gibt es den Fall einer Anomalie bei einer zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe, die dann im Gegensatz zur Mehrheit als Träger einer behandlungswürdigen Krankheit gilt. In den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vermutete man z.B. bei Trägern des XYY-Chromosomensatzes, sie seien prädisponiert für kriminelles Verhalten. Schließlich gibt es den Fall der Durchsetzung einer Norm ohne Einverständnis der Betroffenen, wie z.B. im Bereich der Intersexualität bzw. des Hermaphrodismus, wo sexuell nicht als weiblich oder männlich zuzuordnende Kinder, ungeachtet späterer Neigungen oder Vorlieben, unmittelbar nach der Geburt operiert werden, um ihnen eindeutig ein Geschlecht zuordnen zu können. Den Hintergrund für derartiges Handeln bieten nicht zwangsläufig nur medizinische, sondern oft auch kulturelle und weltanschauliche Einstellungen, die dann im medizinischen Setting exekutiert werden. (2) Die Unterscheidung zwischen einem basalen und einem weitergehenden Gesundheitsverständnis ist in vielerlei Hinsicht von zentraler Bedeutung: im Kontext sozialer Rechte, wie am Beispiel der WHO-Definition 16 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland, Berlin 2001, auf: www.bmfsfj. de/Politikbereiche/gleichstellung,did=4122.html (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 73

von Gesundheit zu sehen, in Fragen der Ressourcenallokation und bei Entscheidungen, welche Arten medizinischer Versorgung den Versicherten zukommen sollen, aber auch in der Frage nach einer möglichen Grenzziehung zwischen Therapie und optimierenden Modifikationen am menschlichen Körper. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es eine Analogie in der Rede von Funktionen des menschlichen Körpers und den Zielen von Subjekten gibt. In beiden Fällen handelt es sich um teleologische Auffassungen, auch wenn unterschiedliche Zielvorgaben für die Definition von Gesundheit und Krankheit für maßgeblich gehalten werden. Hinsichtlich der Ziele von Subjekten können basale und gewissermaßen universell vorhandene Ziele von weitergehenden und individuellen Zielen unterschieden werden, wie es etwa Amartya Sen in seinem »capability-approach« tut.17 Die basalen Ziele orientieren sich im Rahmen gesellschaftlicher Ressourcen und Möglichkeiten wesentlich an der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse. Sen nennt hier etwa Bedürfnisse nach ausreichender Ernährung und Behausung, einer guten Gesundheitsversorgung etc. Er unterscheidet allerdings auch zwischen dem Bemühen, das eigene Wohlbefinden zu verbessern (im engeren Sinne: gesundheitsbezogene Ziele) und so genannten overall goals, d.h. etwaigen anderen, darüber hinaus zu verfolgenden Zielen.18 Die Nordenfeltsche Gesundheitsdefinition, die sich am individuellen Glück orientiert, kennt diese Unterscheidung – auch wenn das minimale Glück als entscheidend angesehen wird – allerdings nicht. Das dürfte dann auch eine entscheidende grundsätzliche Alternative bei der Bestimmung von Gesundheits- und Krankheitskonzepten sein: Ist es sinnvoller, sich an einer Basisvariante von Gesundheit zu orientieren (die im biologischen Sinne vor allem ein ausreichendes Funktionieren der Organe und das reine Überleben bedeutet) oder ein ausgeweitetes Gesundheitsverständnis zu wählen, das mehr in Richtung persönlichen Glücks oder individueller Selbstverwirklichung geht? In den oben genannten praktischen Kontexten sind wir natürlich mehr oder weniger darauf angewiesen, ein allgemeineres, d.h. notwendiger Weise eingeschränkteres Gesundheitsverständnis zugrunde zu legen. Auf der anderen Seite birgt ein solcher Ansatz immer auch die Gefahr, elementare Bedürfnisse von Individuen nicht wahrzunehmen und bereits auf Ebene des theoretischen Ansatzes auszuschließen. Ein weit gefasstes Gesundheitsverständnis birgt allerdings auch Probleme und bringt das etwas paradoxe Ergebnis mit sich, dass eingeschränkte Möglichkeiten der Verwirklichung persönlichen Glücks oder fehlende Selbstverwirklichung als eine Form von Krankheit erscheinen und 17 | Amartya Sen: »Capability and Well-Being«, in: Martha Nussbaum (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1993, S. 30-53. 18 | Ebd., S. 35.

2006-02-06 17-38-12 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

74 | Christian Lenk damit dem Prozess einer Medikalisierung zugänglich sind. Fest steht jedenfalls, dass aus der Perspektive eines solchen ausgeweiteten Gesundheitsverständnisses Modifikationen der Psyche und des Körpers als plausibel erscheinen und individuell als therapeutisch motiviert verstanden werden können. (3) Die Definition psychischer Gesundheit stellt meiner Ansicht nach ein noch größeres Problem dar, obgleich sich hier beim Einsatz von Psychopharmaka selbstverständlich die gleiche Notwendigkeit einer Grenzziehung ergibt. Der vom Behaviorismus postulierte Maßstab normalen Verhaltens objektiviert die Problematik nur teilweise und enthält selbst jedenfalls keinen eigenen Maßstab zur Abgrenzung psychopathisch-abweichenden Verhaltens zu amoralischem Verhalten. Boorses Versuch einer funktionalen Definition der psychischen Gesundheit scheitert letztlich daran, dass mentale Funktionen erst im Gefolge theoretischer Überlegungen postuliert werden können.19 Es bleibt die Übereinstimmung von psychischer Gesundheit mit subjektiven Empfindungen der Zufriedenheit, des Wohlergehens oder des Glücks – abzüglich objektiv krankhafter Zustände, die der Betroffene mit einem Gefühl der Euphorie oder des Enthusiasmus erlebt. Ein solches Ergebnis ist durchaus nicht nur negativ einzuschätzen, belässt es doch den Bereich des Bewusstseins und der psychischen Erfahrung in der Definitionsgewalt des Individuums. Leider ist dadurch aber auch kein Bereich eindeutiger psychischer Gesundheit festzustellen, so dass immer wieder Therapieversuche bei nicht eindeutig als Krankheit zu klassifizierenden Verhaltensweisen zu registrieren sind. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist das so genannte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), das psychiatrisch mit dem der Gruppe der Amphetamine zugehörigen Methylphenidat (Ritalin) behandelt wird. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass in einer Zeit, in der bei Kindern häufig über nicht vorhandene motorische Fähigkeiten, überwiegend sitzend ausgeübte Freizeitbeschäftigungen und zunehmendes Übergewicht geklagt wird, ein Krankheitsbild wie ADS oder das verwandte Hyperkinetische Syndrom (HKS) konstituiert wird, das gerade darin besteht, dass Kinder sich bewegen, exploratives Verhalten zeigen, laut, spontan und daher unangepasst sind – jedenfalls im Vergleich zu ihren ruhigen und konzentrierten Altersgenossen. Die medikamentöse Behandlung verhaltensauffälliger Kinder mit Methylphenidat kann daher als gutes Beispiel für die Medikalisierung von Verhaltensweisen einer bestimmten Personengruppe im Rahmen des Wandels gesellschaftlicher Anforderungen und der verstärkten Einforderung individueller (Selbst-)Disziplin gelten. Disziplin in Elternhaus und Schule ist na19 | Christian Lenk: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002.

2006-02-06 17-38-13 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 75

türlich seit der Durchsetzung bürgerlicher Verhaltensnormen schon immer gefordert, und jede Zeit findet »ihre« Lösung des Problems: körperliche Disziplinierung, Zucht und Ordnung im wilhelminischen Zeitalter, ein rational-medizinischer Ansatz, der eine Verdeckung dahinter liegender, möglicher Weise weniger rationaler Verhaltensnormen erlaubt, heute.

3. Norm, Normverfehlung und Körperaneignung Ethnologisch betrachtet, dient die Modifikation des eigenen Körpers wohl in erster Linie der Konstitution des Sozialen, z.B. als Zeichen der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe oder zur sichtbaren Abgrenzung gegenüber den »Anderen«. Ohne Zweifel besitzt sie aber auch ein Element der kulturellen Aneignung oder Kultivierung der Physis, der naturhaften Erscheinungsweise des eigenen Körpers. Deshalb hat es eine gewisse Bedeutung, die Optimierung der Psyche und des Körpers im Kontext einer kulturellen oder subkulturellen Bezugsgruppe zu interpretieren. Kennzeichnend für die europäische Moderne und ihren Umgang mit Modifikationen ist einerseits der Rousseausche Ansatz – Zurück zur Natur –, andererseits das Verständnis der körperlichen Modifikation in Form von Tattoos, Schmucknarben, indigenen Piercings, Teilamputationen als barbarische und kulturell minderwertige Praktiken, während die Psyche und der Körper des Europäers nur indirekt über Erziehung und Gymnastik kultiviert werden, aber ansonsten naturhaft bleiben sollen. Praktiken wie das Zusammenbinden des Fußes im mittelalterlichen China werden überwiegend unter dem Gesichtspunkt der funktionellen Einschränkung, der Gehbehinderung betrachtet, was aus Sicht der chinesischen Tradition eine merkwürdige Verkürzung darstellt – war es doch gerade ein Privileg der Oberschichtenfrauen, nicht laufen zu müssen, sondern versorgt zu werden und ein luxuriöses Leben zu führen. Ähnlichkeiten zu heutigen subkulturellen Praktiken, seien es die Tattoos der Jugendlichen, der Körperkult und Muskelfetischismus der Bodybuilder-Szene oder so genannte Botox-Parties20 sind hier mit Händen zu greifen. Fraglich ist unter den Bedingungen der westlichen Moderne eigentlich nur, worin die weitergehende Bedeutung solcher Praktiken noch bestehen könnte, nachdem die Individuen verbindlicher traditioneller Anweisungen und sozialer Normen zur Gestaltung des eigenen Körpers weitgehend beraubt sind. Prägend für unsere eigene Kultur sind ja nicht mehr irgendwel20 | Weibliche Angehörige der Mittelschicht bekommen Besuch von einem Mediziner, der faltenerzeugende Teile der Gesichtsmuskulatur mit einer Injektion des Nervengiftes Botox lähmt.

2006-02-06 17-38-13 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

76 | Christian Lenk che kulturellen Vorschriften oder Tabus, gegen die der Einzelne rebellieren müsste, sondern im Gegenteil das anything goes und die weitgehende Beliebigkeit und Sinnentleertheit der äußeren Erscheinungsweise. Mit anderen Worten: Körperliche Erscheinungsweisen, die in anderen kulturellen Settings bereits fest vorgegeben waren, müssen in unserer Kultur erst mühsam als bedeutungsvoll und sinnrelevant konstituiert werden. Allerdings hat Ada Borkenhagen im Rahmen einer psychologischen Studie mit Patientinnen der plastisch-ästhetischen Chirurgie einen interessanten Zusammenhang herausgearbeitet. Sie stellt fest, dass Patientinnen, die eine Brustreduktion bzw. einen Brustaufbau vornehmen lassen wollen, oft unter Entfremdungserfahrungen gegenüber Teilen ihres Körpers leiden, die mit der chirurgischen Behandlung kompensiert werden sollen: »Weiterhin findet sich in den Interviewsequenzen eine Dissoziation des veränderungsbedürftigen Körperteils vom Rest des Körpers, wobei der als veränderungsbedürftig betrachtete Körperteil mit negativ konnotierten Beschreibungen wie diese Dinger, Strippen, Fleischmassen, Ballast, Wampe usw. charakterisiert wird. Dabei erscheinen die veränderungsbedürftigen Körperteile dinghaft, fremd und aufgezwungen, gleichsam bösartig gegen die Intentionen der Frauen handelnd.«21

Zumindest in diesen Fällen handelt es sich also aus Sicht der Betroffenen nicht um eine Form von Optimierung über den Normzustand (der Gesundheit) hinaus, sondern um die Behandlung eines subjektiv als existenziell verstandenen Problems, nämlich einer Entfremdungserfahrung gegenüber Teilen des eigenen Körpers, die mit Hilfe der ästhetischen Chirurgie geheilt werden soll. Auch hierbei scheint es sich also um einen genuinen Aneignungs- oder Wiederaneignungsprozess zu handeln, der die fremden oder fremd gewordenen Körperteile über das Medium der ästhetischen Chirurgie in die eigene Identität und das eigene Körperbild reintegrieren soll. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine ästhetische Norm, deren Verfehlen von den Betroffenen als Desintegration des eigenen Körpers wahrgenommen wird. Wie ist mit solchen Phänomenen vom Standpunkt theoretischer Konstruktionen von Gesundheit und Krankheit umzugehen? Weiter oben wurde bereits auf die praktische Bedeutung einer Grenzziehung zwischen im engeren Sinn therapeutischen und optimierenden Eingriffen am Menschen hingewiesen – in verstärktem Maße übrigens bei optimierenden Eingriffen, die ohne Zustimmung an anderen durchgeführt werden sollen. Augen21 | Ada Borkenhagen: »Gemachte Körper: Aspekte des Körpererlebens von Brustreduktions- bzw. Brustaufbaupatientinnen«, Leipzig 2002, auf: http://www.unileipzig.de/~medpsy/pdf/ab_gemachte_koerper.pdf (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-13 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Verbesserung als Selbstzweck? | 77

scheinlich ist jedoch bei umfassenderen Gesundheitsdefinitionen, dass sie sehr wohl Probleme der Selbstverwirklichung und Defizite der individuellen Sinn- und Glücksfindung in den Bereich der gesundheitsrelevanten Probleme hineinziehen. Meiner Ansicht nach sollten wir es jedoch vermeiden, derartige Probleme als eine Form gesundheitlicher Störungen zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist auf eine weitere problematische Konsequenz der Medikalisierung solcher Defizite hinzuweisen, die darin besteht, dass die Symptombehandlung und chirurgische Kompensation als eine befriedigende Alternative zur Suche nach den sozialen Ursachen dieser Defizite angesehen wird. Eine solche Herangehensweise kann letztlich nicht befriedigen, weil sie die jeweils zugrunde liegenden Dissoziationsund Entfremdungserscheinungen nicht berücksichtigt.

Literatur Anderson, French W./Fletcher, Joseph C.: »Gene Therapy in Human Beings: When Is It Ethical to Begin?«, in: The New England Journal of Medicine, 303/1980, S. 1293-1297. Anderson, French W.: »Prospects for Human Gene Therapy«, in: Science, 226/1984, S. 401-409. Anderson, French W.: »Human Gene Therapy: Scientific and Ethical Considerations«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 10/1985, S. 275291. Anderson, French W.: »Human Gene Therapy: Why Draw a Line?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 14/1989, S. 681-693. Boorse, Christopher: »Health as a Theoretical Concept«, in: Philosophy of Science, 44/1977, S. 542-573. Borkenhagen, Ada: »Gemachte Körper: Aspekte des Körpererlebens von Brustreduktions- bzw. Brustaufbaupatientinnen«, Leipzig 2002, auf: http://www.uni-leipzig.de/~medpsy/pdf/ab_gemachte_koerper.pdf (Stand: 24. November 2005). Brickman, Philip/Coates, Dannie/Janoff-Bulman, Ronnie: »Lottery Winners and Accident Victims: Is Happiness Relative?«, in: Journal of Personality and Social Psychology, 36/1978, S. 917-927. Buchanan, Allen u.a.: From Chance to Choice. Genetics & Justice, Cambridge 2000. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland, Berlin 2001, auf: www.bmfsfj.de/Politikbereiche/gleichstellung,did=4122.html (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-13 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

78 | Christian Lenk Engelhardt, Dietrich v.: »Gesundheit.«, in: Korff/Beck/Mikat: Lexikon der Bioethik, S. 108-114. Fuchs, Michael: »Enhancement«, in: Korff/Beck/Mikat: Lexikon der Bioethik, S. 604-605. Fuchs, Michael u.a.: Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, drze-Sachstandsbericht, Bonn 2002. Gardner, William: »Can Human Genetic Enhancement Be Prohibited?«, in: The Journal of Medicine and Philosophy, 20/1995, S. 65-84. Gilman, Sander L.: Making the Body Beautiful: A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton 1999. Korff, Wilhelm v./Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hg.): Lexikon der Bioethik, Gütersloh 2000. Lenk, Christian: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002. Lenk, Christian: »Health and Enhancement« in: Gimmler, Antje/Lenk, Christian/Aumüller, Gerhard (Hg.): Health and Quality of Life. Philosophical, Medical, and Cultural Aspects, Münster 2002, S. 37-46. Nordenfelt, Lennart: On the Nature of Health. An Action-Theoretic Approach, Dordrecht 1995. Parens, Erik (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. Ramsey, Paul: Fabricated Man. The Ethics of Genetic Control, New Haven 1970. Savulescu, Julian: »Procreative Beneficence: Why We Should Select the Best Children«, in: Bioethics, 15/2001, S. 413-426. Sen, Amartya: »Capability and Well-Being.«, in: Nussbaum, Martha (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1993, S. 30-53. World Health Organization: Constitution, New York 1946, auf: http:// whqlibdoc.who.int/hist/official_records/constitution.pdf (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-13 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

63- 78) T01_03 lenk.p 107239494614

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 79

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf. Über die moralischen Grenzen der Forschungsfreiheit Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe

Einleitung Kybernetik, Nanotechnologie, Biotechnologie und Neuropharmakologie werden oftmals als Instrumente gesehen, den Menschen künstlich zu optimieren.1 Die Frage ist, wo die modernen Technologien an eine Grenze stoßen, die aus ethischen Gründen nicht überschritten werden darf. Unbestritten ist, dass Forschungsfreiheit in dem Sinne begrenzt ist, dass bestimmte Mittel in der Forschung nicht eingesetzt werden dürfen. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass auch bestimmte Ziele nicht verfolgt werden dürfen.2 Der Freiheit, den Körper und die Persönlichkeit des Menschen zu gestalten, sind aus ethischer Sicht Grenzen gesetzt. Dies ist selbst dann der Fall, wenn nicht-krankheitsbezogene Veränderungen des eigenen Körpers – zu denken ist etwa an Eingriffe, die zu einer radikalen Verlängerung der Lebenszeit oder einer massiven Steigerung der Intelligenz führen – und damit unter Umständen verbundene Veränderungen der Persönlichkeit im Prinzip ethisch zulässig sein sollten. Es gibt gewisse Fä1 | Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, Stuttgart 2002. 2 | Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die revidierte Fassung eines Gutachtens, das die Autoren im Auftrag der Sektion »Forschung am Menschen und Ethik«, Bundesamt für Gesundheit (Bern, Schweiz), verfasst haben. Die Autoren möchten den Mitarbeitenden der Sektion und deren Leiterin Dr. Andrea Arz de Falco für die Zusammenarbeit und ihre konstruktive Kritik danken.

2006-02-06 17-38-14 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

80 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe higkeiten des Menschen, die grundsätzlich nicht negativ manipuliert, d.h. eingeschränkt oder zerstört werden dürfen – auch dann nicht, wenn dies für die Verwirklichung bestimmter Ziele erforderlich wäre. Das Verbot einer negativen Manipulation markiert den Punkt, an dem unsere Freiheit, nach Belieben über unseren Körper zu verfügen, an eine nicht zu überschreitende Grenze stößt. Die wissenschaftliche Forschung muss diese Grenze respektieren. Tut sie dies nicht, ist sie ethisch abzulehnen und daher durch das Recht zu verbieten. Dabei geht es, wie gesagt, nicht um unmoralische Mittel – fehlende Zustimmung, menschenverachtende Behandlung usw. –, sondern um unmoralische Ziele der Forschung in dem Sinn, dass diese Ziele nicht angestrebt werden sollten, ungeachtet der aus ihnen erwachsenden Konsequenzen, wie positiv diese auch sein mögen, aber auch ungeachtet der autonomen Zustimmung der Probanden oder Patienten, also unabhängig davon, ob diese angemessen über die Ziele informiert sind, sie frei und unabhängig zugestimmt haben und auch alle anderen Kriterien einer Good Clinical Practice eingehalten wurden. Um diese These zu belegen, werden wir mit einigen fiktiven Fällen beginnen (1). Wir werden dabei auf Beispiele aus Literatur und Film rekurrieren, in denen Ziele ausgemalt werden, die so problematisch sind, dass die Annahme unmittelbar gerechtfertigt scheint, es müsse in dieser Hinsicht eine ethische Grenze für wissenschaftliche Forschung geben. Man stelle sich vor, jemand würde durch die Einpflanzung eines Chips im Gehirn auf beliebige Weise manipulierbar oder seine Persönlichkeit würde durch Medikamente derart verändert, dass er nicht mehr moralisch empfinden kann. Auf solche Beispiele reagieren wir intuitiv mit starker moralischer Ablehnung, ja, Entrüstung. Dieser Reaktion liegt eine tief sitzende moralische Überzeugung zugrunde, der zufolge es Dinge gibt, die man mit Menschen bzw. mit Wesen, die über bestimmte moralisch relevante Eigenschaften verfügen, ganz einfach nicht macht. Sie negieren gleichsam, was das »Menschliche« ausmacht3, dasjenige, was so wertvoll ist, dass wir es nicht aufgeben wollen und sollten. Was wir hier vorschlagen wollen, ist eine Konzeption von moralisch bedeutsamen Fähigkeiten, die genau diesem Umstand Rechnung tragen kann, ohne deshalb aber auf absolute Werte oder Letztbegründungen zurückgreifen zu müssen. Diese Konzeption soll verständlich machen, aus welchen Gründen bestimmte Forschungsziele in der Tat unmoralisch sind. Auf diese Weise lässt sich zeigen, warum der Gesetzgeber die entsprechende Forschung nicht zulassen sollte. Ein rechtliches Verbot von Forschungszielen ist nur dann denkbar, 3 | Das »Menschliche« steht in Anführungszeichen, weil es hier nicht um den Menschen als Mitglied der Spezies homo sapiens geht.

2006-02-06 17-38-14 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 81

wenn die ethische Argumentation gewissen Begründungsanforderungen genügt (2). Es müssen den Forschenden nachvollziehbare Gründe geliefert werden, wieso ihre Freiheit in der Hinsicht begrenzt wird, dass ihnen untersagt ist, bestimmte Ziele zu verfolgen. Das Problem, das sich unter den Bedingungen eines modernen liberalen Rechtsstaats stellt, ist, wie Verbote mit praktisch uneingeschränkter Geltung auf nicht-religiöse und nicht-metaphysische Weise begründet werden können. Dazu gibt es in der Ethik verschiedene Ansätze. Zwei dieser Ansätze, die in der Diskussion eine prominente Rolle spielen, sind das so genannte Naturrecht und die Kantische Moraltheorie (3). Beide Ansätze können jedoch mit Bezug auf die hier gestellte Frage nicht überzeugen. Die wesentliche Schwierigkeit des Kantischen Ansatzes besteht darin, dass die dem menschlichen Handeln in der Zweckformel des Kategorischen Imperativs gesetzte Grenze auf einer Konzeption beruht, die der Autonomie, d.h. der Fähigkeit, sein Handeln an selbst gesetzten, verallgemeinerbaren Maximen auszurichten, einen absoluten Wert zuordnet. Es ist unserer Ansicht nach jedoch nicht möglich, den absoluten Wert der Autonomie durch logisch zwingende Argumente zu beweisen. Die wesentlichen Schwierigkeiten des Naturrechts hingegen bestehen darin, dass es zum einen die von ihm postulierten absoluten Verbote mit einer religiösen Konzeption moralischer Verantwortung verbindet und dass es zum anderen keine nachvollziehbaren Gründe liefert, wieso jeweils bestimmte Normen gelten sollen. Der Verweis auf Selbstevidenz erweist sich als wenig erhellend, wenn selbst Vertreter dieser Position keine Einigung darüber erzielen, welche Normen selbstevident vernünftig sind. Um inhaltliche Normen festzulegen, scheint uns ein kohärenztheoretischer Ansatz plausibler zu sein, der vortheoretische Überzeugungen mit kulturübergreifenden Betrachtungen sowie mit kritischer Genealogie und moralphilosophischen Überlegungen verknüpft (4). Wir werden die These verfolgen, dass sich auf diese Weise ein Kern von Fähigkeiten bestimmen lässt, der, von wenigen vorstellbaren Ausnahmen abgesehen, unter praktisch allen Umständen geschützt werden muss. Es gibt mithin mit Blick auf das Leben derjenigen Wesen, die diese Fähigkeiten haben, etwas, das eine Grenze darstellt, die von der wissenschaftlichen Forschung nicht überschritten werden sollte (5).

1. Paradigmatische Beispiele Beispiele aus Literatur und Film sind geeignet, sich vor Augen zu führen, welche Forschungsziele unmoralisch genannt werden können. Sie evozieren Reaktionen, in denen tief verwurzelte moralische Intuitionen zum Ausdruck kommen. Diese Intuitionen sind als erste Indizien für das, was mora-

2006-02-06 17-38-14 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

82 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe lisch ge- bzw. verboten ist, ernst zu nehmen; sie reichen als solche aber nicht aus, um die These, es gebe Forschungsziele, die aus ethischer Sicht unzulässig sind, zu rechtfertigen.

1.1 »Manchurian Candidate« und der freie Wille Im Kern geht es in diesem erstmals 1962 verfilmten Stoff4 darum, dass ein Soldat durch eine Gehirnwäsche zu einem willenlosen Attentäter umprogrammiert wird. Dieser Soldat weiß davon natürlich nichts. Er wähnt sich so frei und selbstbestimmt wie immer. Zudem wird er nicht permanent ferngesteuert; es besteht aber jederzeit die Möglichkeit, ihn zu einer ferngesteuerten Marionette zu machen, die ihrem vorgegebenen Zweck gemäß agiert (im Film ist dieser Zweck die Zerstörung des Staatssystems der USA). Angenommen, so etwas wäre möglich, wie wäre es moralisch zu beurteilen? Intuitiv ist die Antwort eindeutig: Wir halten die Fernsteuerung eines Menschen für moralisch zutiefst verwerflich. Es ist etwas, das man mit Menschen nicht macht, selbst dann nicht, wenn es die besten Folgen hätte. Aber woran genau liegt es, dass wir auf diese Weise reagieren? Betrachtet man den Fall genauer, ist es in erster Linie ein ganz bestimmter Aspekt, der die Reaktion auf den Manchurian Candidate erklärt. Durch die Gehirnwäsche wird eine der Person externe Instanz in die Lage versetzt, den freien Willen dieser Person, ihre Fähigkeit, auf Gründe gestützte Entscheidungen zu treffen, jederzeit auszuschalten. Es ist diese Möglichkeit, die wir moralisch ablehnen – und damit auch die »Technik«, die es braucht, um sie zu realisieren. Dagegen kann man einwenden, dass z.B. in einer Hypnose der freie Wille der hypnotisierten Person auch ausgeschaltet wird, dass wir dies aber nicht für – gleichermaßen – bedenklich halten. Wir stufen es nicht als unmoralisch ein, wenn sich Testpersonen für eine Hypnose zur Verfügung stellen. Wohlverstanden: Es geht hier nur um den mit dem Zustand des Hypnotisiertseins verbundenen Verlust des freien Willens. Was in diesem Zustand geschieht, d.h. was die hypnotisierte Person macht, ob sie eine Zitrone isst und diese schmackhaft findet oder ob sie jemanden umbringt, 4 | The Manchurian Candidate (Regie: John Frankenheimer), USA 1962, nach einer Romanvorlage von Richard Condon. Nach der Ermordung von John F. Kennedy erwirkte der Hauptdarsteller Frank Sinatra, dass dieser Film aus Respekt vor dem ermordeten Präsidenten nicht mehr gezeigt wurde. Erst 1987 ist er mit großem Erfolg wiederaufgeführt worden. Die deutsche Fassung trägt den Titel Botschafter der Angst. Jonathan Demme drehte 2004 ein Remake des Manchurian Candidate, in dem die Handlung vom Korea- in den Golfkrieg verlegt wurde.

2006-02-06 17-38-14 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 83

spielt keine Rolle. Allerdings handelt es sich hierbei normalerweise nur um einen kurzfristigen Zustand: die Hypnose dauert einige Momente und wird dann beendet. Im Fall des Manchurian Candidate dagegen handelt es sich um einen dauerhaften (Möglichkeits-)Zustand. Was wir als moralisch verwerflich ansehen, ist nicht das zeitlich befristete Ausschalten des freien Willens (dies allerdings auch nur dann, wenn die betreffende Person einverstanden ist), sondern die dauerhafte Möglichkeit, ihn auszuschalten (und dies unabhängig davon, ob die Person einverstanden ist oder nicht). Dies hielten wir selbst dann für moralisch falsch, wenn diese Möglichkeit nie genutzt werden würde. Dass diese intuitive Reaktion nicht unproblematisch ist und weiterer kritischer Reflexion bedarf, wird deutlich, wenn man sich fragt, warum die Unterscheidung zwischen einer kurzfristigen und einer dauerhaften Ausschaltung des freien Willens ethisch relevant sein soll. Wenn es moralisch verwerflich ist, jemanden seines freien Willens zu berauben, weshalb sollte die zeitliche Dimension dabei eine Rolle spielen? Auf diese Frage geben unsere Intuitionen keine befriedigende Antwort. Es ist zu vermuten, dass der Common Sense zwei Aspekte miteinander vermischt: Zum einen den Umstand, dass der freie Wille ausgeschaltet wird; und zum anderen die Frage, welche Konsequenzen dies nach sich zieht. Aber diese Frage ist in unserem Zusammenhang gerade unerheblich. Man müsste dann ein eigenständiges Argument dafür haben, dass das Ausschalten des freien Willens je nach zeitlicher Dauer ethisch unterschiedlich zu beurteilen ist. Dafür scheint es indes kaum gute Gründe zu geben. Entweder der Kern dessen, was wir für ethisch besonders wertvoll und daher für besonders schützenswert halten, ist verletzt – oder er ist es nicht. Es gibt in dieser Hinsicht keinen Graubereich. Stimmt dies, dann folgt daraus, dass es, anders als die Alltagsmoral meint, grundsätzlich falsch ist, jemanden zu hypnotisieren, also selbst dann, wenn die Hypnose nur einige Momente dauert und selbst wenn sie einen positiven therapeutischen Zweck hat. Kehren wir noch einmal zum Manchurian Candidate zurück. In der Filmfassung wird der Soldat Raymond Shaw gegen seinen Willen Opfer der Gehirnwäsche. Dies macht den Eingriff umso ungeheuerlicher. Wir würden einen solchen Eingriff allerdings auch dann ablehnen, wenn eine Person sich freiwillig und informiert dazu bereit erklärte. Niemand darf sich anderen derart ausliefern, dass diese jederzeit den eigenen freien Willen ausschalten können. Dies käme einer Selbstversklavung gleich. Hier lässt sich einwenden, dieses Urteil sei das Resultat einer unangemessenen Fallbeschreibung. Nicht die Gehirnwäsche sei abzulehnen, sondern die Ziele, zu denen der Soldat Raymond Shaw eingesetzt wird. Allerdings ändert sich das moralische Urteil auch dann nicht, wenn die Eingriffe nicht der Ermordung eines amerikanischen Präsidenten, sondern der Verteidigung der Demokra-

2006-02-06 17-38-14 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

84 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe tie dienen. Die öffentliche Empörung über die (mutmaßlichen) Forschungen der amerikanischen Geheimdienste spricht eine eindeutige Sprache.5 Zudem scheint es kaum möglich, sich hier ein therapeutisches oder anderes Ziel auszudenken, das eine solche Maßnahme rechtfertigte. Selbst wenn man Menschen manipulierte, um sie von Gewalttaten abzuhalten, bleibt – wie unten das Beispiel Clockwork Orange zeigen wird – das ablehnende Urteil bestehen. Der freie Wille und die dauerhafte Möglichkeit, sich seiner zu bedienen, scheinen also unter keinen Umständen eingeschränkt oder gar zerstört werden zu dürfen. Bezeichnenderweise greifen wir zu Begriffen wie »Maschine«, »Marionette«, »ferngesteuert« etc., wenn der freie Wille, wie im Fall des Manchurian Candidate, durch einen Eingriff eine dauerhafte Einschränkung erfährt. Damit bringen wir genau dies zum Ausdruck: dass eine Fähigkeit, die nicht angetastet werden sollte, nicht mehr vorhanden ist. Wir markieren damit eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. In diesem Sinn erachten wir den freien Willen als etwas »Unverfügbares«. Mit Blick auf die uns leitende Fragestellung würde dies bedeuten, dass Forschung, die zum Ziel hat, Techniken zu entwickeln, die diese Grenze zu überschreiten erlauben, Techniken, die es uns jederzeit ermöglichen, den freien Willen auszuschalten, moralisch nicht zu rechtfertigen und deshalb zu verbieten ist. Für dieses Verbot spricht noch ein weiterer Grund. Sobald die dauerhafte Möglichkeit besteht, den Willen einer Person auszuschalten, übernimmt auf gewisse Weise die externe Instanz, die über diese Fähigkeit verfügt, die Kontrolle über deren Leben. Es ist dabei unerheblich, ob die Instanz je aktiv eingreift oder nicht. Die bloße Möglichkeit dazu unterstellt die betreffende Person der Kontrolle dieser Instanz (einer anderen Person). In diesem Sinne führt sie kein selbstbestimmtes Leben mehr. Als Person ein eigenes Leben führen zu können, ist aber eine Fähigkeit, die wir für ebenso unverzichtbar halten wie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Forschung mit der Absicht, diese Fähigkeit zu eliminieren und die Lebensführung der Kontrolle einer anderen Person zu unterstellen, scheint auch aus diesem Grund moralisch falsch und deshalb unzulässig zu sein.

1.2 Traumata und die Fähigkeit, moralisch zu agieren Nach den beiden Golf-Kriegen erkrankte eine große Zahl amerikanischer Soldaten am so genannten Golfkrieg-Syndrom. Dieses wird u.a. auf traumatische Erfahrungen im Krieg zurückgeführt. Die Forschung könnte es sich deshalb zum Ziel setzen, Psychopharmaka zu entwickeln, dank welcher die 5 | Vgl. hierzu Andrew Goliszek: In the Name of Science. A History of Secret Programs, Medical Research, and Human Experimentation, New York 2003.

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 85

Soldaten die Schrecken des Krieges nicht mehr als traumatisierend erleben. Angenommen, solche Psychopharmaka würden bewirken, dass die Empathie – das Einfühlungsvermögen – als ein wichtiger Teil des Vermögens, moralisch zu agieren, ausgeschaltet wird. Die Soldaten würden sich dann in Gefechtssituationen nicht mehr in die Situation ihrer Gegner einfühlen können. Sie hätten keine – oder zumindest sehr viel weniger – moralische Skrupel, ihre Gegner militärisch zu bekämpfen. Auch in diesem Fall würden wohl die meisten spontan mit moralischer Ablehnung reagieren. So etwas macht man mit Menschen nicht, auch nicht mit Soldaten, die unter extremen Bedingungen tätig sind. Man macht es selbst dann nicht, wenn diese aufgrund der Ausschaltung der Empathie ihren Job besser erfüllen könnten. Der entscheidende Punkt ist, dass durch die Psychopharmaka eine zentrale Bedingung für moralisches Handeln außer Kraft gesetzt wird. Das Vermögen, moralisch zu empfinden und zu agieren, ist aber – wie der freie Wille – eine Eigenschaft, die wir für etwas halten, das nicht eingeschränkt oder eliminiert werden darf. Wenn das richtig ist, folgt daraus, dass Forschung, die genau dies zum Ziel hat, moralisch abzulehnen ist und deshalb nicht zugelassen werden sollte. Hier lässt sich erneut einwenden, dieses Urteil sei das Resultat einer unangemessenen Fallbeschreibung. Denn das Ziel der Psychopharmaka und damit das Forschungsziel sei ein prophylaktisches: Es gehe darum zu verhindern, dass Soldaten nach der Rückkehr von ihrem Einsatz Traumata zurückbehalten, weil sie die gemachten Erfahrungen nicht verarbeiten können. Und dieses Ziel sei nicht nur moralisch zulässig, sondern moralisch geradezu vorbildlich. Das ist gewiss richtig. Dennoch ließe sich die Verwendung entsprechender Psychopharmaka ethisch kaum verteidigen. Denn um das mit ihnen angestrebte Ziel zu erreichen, muss man den »Nebeneffekt« in Kauf nehmen, dass die Soldaten während ihres Dienstes zu Menschen werden, denen die Fähigkeit zur Empathie fehlt. Dass dies dem Zweck dient, einen Schaden von ihnen abzuwenden, scheint dafür aber keine hinreichende ethische Rechtfertigung zu sein. Bei diesem Beispiel zeichnet sich zudem ein Abgrenzungsproblem ab: Moderne Psychopharmaka schränken die Persönlichkeit bereits sehr weit ein und haben große Auswirkungen auf das emotionale Empfinden. Allerdings besteht zwischen Auswirkungen auf das emotionale Empfinden und der Ausschaltung der Empathie eine Differenz. Überdies würden wir eine Sedierung nur dann für zulässig halten, wenn sie sehr kurzfristig erfolgt. Sobald Psychopharmaka die Möglichkeit nehmen, Empathie zu empfinden, ist eine Grenze überschritten.

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

86 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe

1.3 »Stepford Wives« und die Fähigkeit, den eigenen Verstand zu gebrauchen Im Film The Stepford Wives6 werden die Frauen einer amerikanischen Kleinstadt, genannt Stepford, im »Men’s Club« einer Verwandlung unterzogen. Aus emanzipierten Frauen werden vollkommen angepasste Wesen, die in der Hausarbeit aufgehen und in jeder Hinsicht auf ihre Männer hören. Sie sind nicht mehr imstande, ihr Tun kritisch zu hinterfragen und entsprechend zu handeln. Diese Verwandlung ihrer Persönlichkeit wird im Film durch einen Austausch der Körper erreicht. Man kann sich aber auch vorstellen – wie im Remake des Filmes angedeutet7 –, sie würde durch ein Gehirntransplantat oder durch das Einpflanzen eines Chips bewirkt. Gesetzt den Fall, die zu dieser »Umpolung« erforderliche Technologie stünde zur Verfügung, wie wäre dies ethisch zu beurteilen? Wiederum fällt die Antwort intuitiv unzweideutig aus: So etwas darf man unter keinen Umständen tun. Der Grund hierfür ist, dass wir das Vermögen, sich seines Verstandes zu bedienen, und zwar in dem Sinn, dass man das eigene Tun kritisch zu reflektieren imstande ist, für ein Vermögen halten, das nicht zerstört werden darf. Es dennoch zu zerstören, bedeutet, eine Grenze zu überschreiten, die nicht überschritten werden sollte. Darum würden wir Forschung, die dies zum Ziel hat, als moralisch unzulässig beurteilen. Für die ethische Beurteilung ist in unserem Zusammenhang allein die Ausschaltung des Verstandesvermögens entscheidend, und nicht, wie man auch meinen könnte, der Umstand, dass durch den Eingriff der Charakter individueller Personen grundlegend geändert wird.8 Mit diesem Vermö6 | The Stepford Wives (Regie: Bryan Forbes), USA 1975, nach einer Romanvorlage von Ira Levin. 7 | Das Remake aus dem Jahr 2004 (Regie: Frank Oz) schwankt hier, weil es teilweise wie im Original von einem Austausch der Körper ausgeht, aber in anderen Szenen gehirnchirurgische Eingriffe andeutet. Die Widersprüche des Remakes sind hier aber irrelevant. 8 | Nicht, dass dies ethisch unproblematisch wäre, vor allem wenn diese Umpolung gegen den Willen der Betroffenen geschieht. Dennoch lassen sich Fälle denken, bei denen eine solche Umpolung zumindest nicht von vornherein als ethisch unzulässig erscheint. Betrachten wir das Beispiel Charly (Regie: Ralph Nelson), die aus dem Jahr 1968 stammende Filmversion von Daniel Keyes’ Roman Flowers for Algernon. Der geistig zurückgebliebene Charly wird mittels eines chirurgischen Eingriffs in einen hochintelligenten Menschen verwandelt. Dadurch wird seine Persönlichkeit tief gehend »umgestülpt«. Ist ein solcher Eingriff ethisch grundsätzlich verboten? Oder kann er unter Umständen zumindest zulässig sein? Wir würden es doch auch moralisch erlauben, jemanden durch pädagogische Maßnahmen zu höherer

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 87

gen verbinden wir insofern eine Art »deontological constraint«, als wir der Überzeugung sind, es dürfe ungeachtet der daraus erwachsenden Konsequenzen nicht eingeschränkt werden. In positiver Hinsicht ergibt sich daraus freilich weder eine Erlaubnis noch gar eine Pflicht, es zu verbessern oder zu optimieren. Prinzipiell unzulässig ist ein persönlichkeitsverändernder Eingriff allerdings dann, wenn mit dem Erwerb einer der in moralischer Hinsicht fundamentalen Fähigkeiten eine andere verloren geht. Nehmen wir als Beispiel Stanley Kubricks Clockwork Orange.9 Der Film erzählt die Geschichte des gewissenlosen Gewalttäters Alexander DeLarge (Alex), der sich im Gefängnis aus freien Stücken einer Umerziehungstherapie unterzieht. Ziel der Therapie ist es, das destruktive Potenzial in Alex vollständig zu eliminieren. Dieses Ziel lässt sich aber nur mittels einer Art von Konditionierung erreichen, die Alex zu einem Menschen ohne freien Willen macht. Die Therapie ist erfolgreich. Schon der Gedanke an Gewalt stößt Alex ab. Er kann buchstäblich keiner Fliege mehr etwas zuleide tun, geschweige denn eine Gewalttat begehen. Insofern ist Alex zu jemandem geworden, der das zentrale moralische Prinzip des Nichtschädigens hundertprozentig umsetzt. Dennoch ist die an ihm vollzogene Therapie ethisch nicht zu rechtfertigen. Denn der Preis für ihr Gelingen ist der Verlust des freien Willens. Fassen wir zusammen: Im Verlauf der Diskussion von – weitgehend fiktiven – paradigmatischen Beispielen haben sich vier Eigenschaften bzw. Fähigkeiten herauskristallisiert, die wir moralisch für so grundlegend halten, dass Forschung, die darauf abzielt, sie einzuschränken oder zu zerstören, ethisch nicht gerechtfertigt werden kann. Hierbei handelt es sich um: – den freien Willen, d.h. die Fähigkeit, sich mit Gründen zwischen Optionen entscheiden zu können; Denkfähigkeit zu erziehen. Gelänge es einer »normalen« Schule, den Intelligenzquotienten ihrer Schülerinnen und Schüler zu verdoppeln, würden wir dies kaum als unmoralisch ansehen. Das Denkvermögen scheint uns ein wichtiger Bestandteil des Verstandesvermögens und deshalb als solches wünschenswert zu sein. Warum sollte es dann aber ethisch falsch sein, einen Menschen, dem dieses Vermögen fehlt, bei dessen Erwerb behilflich zu sein, auch wenn das bedeutet, dass man ihn einem operativen Eingriff unterziehen muss? Die gleiche Erklärung hilft zu verstehen, wieso das Psychopharmaka Prozac moralisch nicht generell abgelehnt wird. Liegt die Wirkung darin, das Selbstwertgefühl der betroffenen Patienten zu steigern, tun diese nichts, was prinzipiell moralisch abzulehnen ist. Denn Selbstwertgefühl als solches ist wünschenswert. Vgl. dazu Fukuyama: Das Ende des Menschen, 67ff. 9 | Clockwork Orange (Regie: Stanley Kubrick), USA 1971, nach einem Roman von Anthony Burgess.

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

88 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe – die Fähigkeit, als Person ein eigenes Leben führen zu können; – die Fähigkeit, moralisch empfinden und urteilen zu können; sowie – das Verstandesvermögen, d.h. die Fähigkeit zu kritischem Reflektieren und schlussfolgerndem, kombinierendem Denken. Diese Fähigkeiten markieren eine Grenze, die gemäß unseren vortheoretischen Überzeugungen (Intuitionen) von der Forschung zu akzeptieren ist. Für das Weitere ist nun entscheidend, dass solche Überzeugungen, selbst wenn sie eine Begründungsfunktion haben, als solche nicht ausreichen, um entsprechende Verbote für die Forschung rechtfertigen zu können. Dies ist erst dann der Fall, wenn wir hierfür Gründe nennen können, die vom bloßen Rekurs auf das intuitiv für richtig Gehaltene relativ unabhängig sind. Was das bedeutet, soll im Folgenden etwas genauer erläutert werden.

2. Wieso es einer und welcher Art von Begründung es bedarf Ein Verbot bestimmter Forschungsziele stellt eine Einschränkung der Forschungsfreiheit dar und verlangt von Forschenden, auf die Durchführung entsprechender Projekte zu verzichten. Argumente, die eine Einschränkung der Forschungsfreiheit fordern, tragen eine besondere Begründungslast: Forschungsfreiheit stellt erstens ein hohes Gut dar, das zweitens nur bei Vorliegen sehr guter Gründe eingeschränkt werden darf. Wird eine praktisch unverrückbare Grenze bestimmt, liegt die Vermutung nahe, hier werde ein Tabu gesetzt, das allein religiös oder metaphysisch begründet werden kann. Man ist damit dem Gegeneinwand ausgesetzt, die Formulierung einer solchen Grenze fordere eine Abkehr von der Neutralität des Staates und beruhe auf Argumenten, welche in liberalen Gesellschaften keine rechtlichen Beschränkungen begründen können. Verbote sollten sich in einem modernen liberalen Rechtsstaat allein auf Erwägungen stützen, denen alle Bürgerinnen und Bürger als rational überlegende Wesen ungeachtet ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zustimmen könnten. Um diesen Einwand zu entkräften, werden wir in diesem Abschnitt etwas ausführlicher auf die Frage eingehen, welcher Art von ethischer Begründung es bedarf. Die Notwendigkeit einer bestimmten Form von Begründung wird offensichtlich, wenn man die Bedeutung, die der Forschungsfreiheit zukommt, in den Blick nimmt.

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 89

2.1 Forschungsfreiheit Zur Begründung, warum Forschungsfreiheit gewährt werden sollte, werden heute vor allem drei Argumente vorgebracht, von denen insbesondere das dritte gute Gründe liefert, Forschenden die Freiheit einzuräumen, sich ihre Ziele selbst zu setzen.10 Das erste Argument wurde bereits von Wilhelm von Humboldt entwickelt. Die Institution der Wissenschaft führt dann und nur dann zu einem Nutzen für andere, wenn sie sich selbst überlassen bleibt.11 Indem die Wissenschaft als eine aristotelische Praxis betrieben wird, in der der Forscher um des Forschens willen forscht, erhält die Gesellschaft jene Güter, die sie sich von der Wissenschaft erhofft: technische Anwendungen, Argumente, die Diskurse rationaler werden lassen, oder Orientierungshilfen in Politik und Leben. Gegen das Humboldtsche Argument kann man einwenden, dass Wissenschaft durch ihre Folgen und Nebeneffekte der Gesellschaft heute eben doch nicht dasjenige bringt, was sie sich erhofft, sondern im Gegenteil dasjenige, was sie sich nicht erhofft. Sollte sie das Führen eines guten Lebens verhindern, müsste sie eingeschränkt werden. Dies ist aber bei jenen Forschungszielen der Fall, die oben aufgeführt wurden. Das zweite Argument lehnt sich an John Stuart Mills On Liberty an. Es verweist darauf, dass Forschungsfreiheit zu gewähren sei, damit neue Wahrheiten auf einem freien Markt der Ideen entdeckt werden können und bereits bekanntes Wissen nicht zum Dogma erstarrt, sondern stets hinterfragt und überprüft werden kann. Jede Einschränkung der Freiheit gefährdet damit den Nutzen, den diese Praxis eines freien Marktes der Ideen hat. Allerdings erstreckt sich die Millsche Überlegung auf die gesamte Freiheit der »Rede«. Forschungsfreiheit ist aber nur ein Aspekt der Redefreiheit. Mill gibt also keinen Grund, warum speziell der Forschungsfreiheit hohe Bedeutung zukommt. Das dritte Argument stammt von Ronald Dworkin.12 Nach Dworkin ist die akademische Freiheit (und damit auch die Forschungsfreiheit) nicht einfach ein Teilaspekt oder eine Anwendung der Freiheit der Rede. Denn wieso werde akademische Freiheit dann nur einigen gewährt und nicht allen? Wieso können Institutionen wie die Kirche die Freiheit der Rede ihrer 10 | Vgl. hierzu auch Richard T. DeGeorge: Academic Freedom and Tenure. Ethical Issues, Lanham 1997, Kap. 3. 11 | Vgl. Klaus Peter Rippe: »Schlag nach bei Humboldt! Gedanken zu einer liberalen Hochschulpolitik«, in: Michael Hermann u.a. (Hg.): Elfenbeinturm oder Denkfabrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft, Zürich 1998, S. 45-54. 12 | Vgl. Ronald Dworkin: »Why Academic Freedom?«, in: ders.: Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, Cambridge 1996, S. 244-260.

2006-02-06 17-38-15 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

90 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe Angestellten einschränken, während die akademische Freiheit auch gegenüber universitären Instanzen geschützt werden muss? Dworkin ist der Ansicht, dass akademische Freiheit ein eigenständiger und grundlegender Wert rechtsstaatlicher Gesellschaften ist. Denn es geht in der akademischen Freiheit um weit mehr als um den Schutz von Akademikern und Forschern. Die durch die akademische Freiheit geschützte Sphäre stellt einen integralen Bestandteil liberaler Gesellschaften dar. Hier wird eine ethische Grundhaltung verkörpert und symbolisiert, in der Personen frei ihre eigenen Ziele bestimmen und weitgehend ungestört durch die Einwirkung anderer verfolgen können. Dworkin spricht von einer »Kultur der Unabhängigkeit«; der Unabhängigkeit, sich nicht zu etwas bekennen zu müssen, was man für falsch hält, sowie der Unabhängigkeit, das zu sagen, was man selbst für wahr hält. Forscher und Universitätsprofessoren haben die besondere Pflicht, diese Kultur zu verkörpern: »They have a paradigmatic duty to discover and teach what they find important and true, and this duty is not, even to the degree that medical responsibility may be, subject to any qualification about the best interests of those to whom they speak. It is an undiluted responsibility to the truth.«13

Indem in einem geschützten Bereich, der akademischen Welt, die Ideale einer liberalen Streitkultur bewahrt werden, werden insgesamt liberale Tugenden und eine offene Gesellschaft befördert. Dworkin ist darin zuzustimmen, dass in der Tat keine andere Sphäre die Kultur der Unabhängigkeit so verkörpern kann wie eine funktionierende und dem eigenen Ethos verpflichtete Universität und Forschungsgemeinschaft. Wenn dies der Fall ist, dann aber ist zu fragen, ob und in welchen Fällen es erlaubt sein darf, den freien Markt der Ideen und die Kultur der Unabhängigkeit aus moralischen Gründen einzuschränken. Forschungsfreiheit garantiert zwar nicht, dass dem Forscher alle Mittel zur Verfügung stehen, sie garantiert aber, dass jeder Forscher die eigenen Fragestellungen und Zielsetzungen nach eigenem Gewissen und eigenem Urteil wählen darf. Wenn dies so ist, bedarf es guter Gründe, sollen bestimmte Forschungsziele verboten werden.

2.2 Welcher Gründe bedarf es? Es gehört zum Wesen eines Rechtsstaates, dass Verbote, ganz bestimmte Forschungsziele zu verfolgen, nicht willkürlich ausgesprochen werden. Das impliziert, dass die Adressaten einer Rechtsnorm – im hier diskutierten Fall: die Forschenden – ein Recht haben, dass man ihnen gute Gründe nennt, 13 | Ebd., S. 251f.

2006-02-06 17-38-16 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 91

warum sie Verzicht leisten sollen. Die Begründung muss von einer Art sein, dass die Normadressaten den gebotenen Verzicht in dem Sinne nachvollziehen können, dass sie im Prinzip in der Lage sind, die Gründe als »gute« Gründe anzuerkennen. In der politischen Philosophie wird diese Überlegung unter dem Konzept des liberalen Legitimitätsprinzips diskutiert. Es ist illegitim, wenn man eine Person zu etwas zwingt, ohne ihr einen zureichenden Grund nennen zu können. Wann hat man es freilich mit »zureichenden Gründen« zu tun? Manchmal wird gesagt, dass die Gründe in dem Sinne allgemein sein müssen, »daß sie von keiner Person vernünftigerweise zurückgewiesen werden können«.14 Wenn die Begründungsanforderung aber derart stark ist, kann sie nur durch zwei Typen von Argumenten erfüllt werden: von Argumenten, die unkontrovers sind, und von Argumenten, die logisch zwingend sind. Keine naturwissenschaftliche Theorie genügte dann dieser Anforderung. Würde der Staat von Wirtschaftsunternehmen eine CO2-Abgabe erzwingen, verletzte er das Legitimitätsprinzip, weil die Auswirkungen von CO2 auf das Klima zwar weitgehend anerkannt sind, aber von einer Minderheit dennoch bestritten werden. Eine solche starke Begründungsanforderung befriedigt nicht. Stützt sich z.B. eine gesundheitspolitische Maßnahme in der Epidemiebekämpfung auf gute und breit angelegte empirische Belege, wird man kaum von einem illegitimen Zwang sprechen wollen. Auch wenn eine Person weiterhin der Auffassung sein kann, dass die Maßnahme unbegründet ist, werden ihr doch für sie nachvollziehbare Gründe gegeben, wieso die Epidemiebekämpfung auf diese und nicht auf andere Art erfolgt. Die betreffende Person muss sich dem Verbot fügen, da ihre eigene Überzeugung keine Mehrheit fand. Sie kann nicht sagen, dass die Mehrheit willkürlich handelte. Die Mehrheit hatte gute Gründe, auch wenn sie diese nicht vollständig teilt. Gegen diese Überlegung könnte man einwenden, dass der Zwang illegitim wäre, wenn es sich um eine moralische oder religiöse Frage handelte. Aber es ist zum einen unklar, wie diese Sonderstellung moralischen Zwangs begründet werden kann. Zum anderen ist eine Beschränkung von »zwingende[n] und unanfechtbare[n] Antworten auf moralische und religiöse Streitfragen«15 epistemisch unangemessen. Denn in der Philosophie werden, wie in den Naturwissenschaften, in der Regel nicht logisch zwingende, sondern kohärente Problemlösungen gesucht. In diesem Sinne schreibt John Rawls: 14 | Rainer Forst: Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994, S. 67. 15 | Michael Sandel: Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien 1995, S. 43.

2006-02-06 17-38-16 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

92 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe »In der Philosophie (werden) die tiefsten Probleme gewöhnlich nicht durch beweiskräftige Argumente gelöst. Was für einige Personen offenkundig ist und von ihnen als grundlegende Idee akzeptiert wird, ist anderen unverständlich. Wir lösen dieses Problem, indem wir überprüfen, welche Sichtweise – wenn sie völlig ausgearbeitet ist – nach gebührendem Überlegen die kohärenteste und überzeugendste Erklärung bietet.«16

Dass in der Ethik Begründungsanforderungen gestellt werden, denen nicht einmal die Naturwissenschaft genügt, hat mit folgendem Punkt zu tun. Als Gesprächspartner des Ethikers wird ein Skeptiker angenommen, der nur durch zwingende Argumente zu etwas bewegt werden kann. Liefert man diesem nicht derart zwingende Gründe, so heißt es, verletzt man das Legitimitätsprinzip. Aber dies ist nicht überzeugend. Erstens muss man bestreiten, dass der Skeptiker der angemessene Gesprächspartner der Ethik ist. Die Figur dieses Skeptikers existiert in Wirklichkeit nicht; sie ist ein reines Konstrukt, ein »paper doubt«. Zweitens forderte das Legitimitätsprinzip hier zu etwas auf, das nicht realisiert werden kann. Es ist angesichts der Erfahrungen aus dreitausend Jahren Philosophie illusorisch zu denken, dass den Normadressaten jemals hinreichende Gründe – im Sinne von zwingenden, nicht sinnvoll bezweifelbaren Gründen – genannt werden, die empfohlene Norm zu erfüllen. Noch bei jeder vorgebrachten Letztbegründung gab es vernünftige Gründe, sie nicht zu der eigenen zu machen. Drittens ist auch fraglich, ob moderne Gesellschaften ein solches Legitimitätsprinzip übernehmen sollten. Eine freie und offene Gesellschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, dass jede Position in Zweifel gezogen werden darf. Es wäre dann pragmatisch unsinnig, ein Rechtfertigungsprinzip anzunehmen, nach dem Rechts- und insbesondere Verfassungsnormen von einer Art sein sollen, dass es unvernünftig ist, sie anzuzweifeln. Die Rede von »zureichenden« Gründen darf also nicht in der Weise verstanden werden, dass den Normadressaten logisch zwingende Gründe genannt werden. Statt eine Maximalanforderung zu formulieren, sollte die Rede von »zureichend« im Sinne einer Minimalanforderung verstanden werden. Für die Normadressaten müssen die genannten Gründe überhaupt als mögliche Gründe in Frage kommen. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Basis: Die Gründe müssen einer intersubjektiven Überprüfung zugänglich sein und damit einem wechselseitigen Rechtfertigungsdiskurs angehören. Um die Normeinhaltung vor sich und anderen rechtfertigen zu können, muss also lediglich ausgeschlossen werden, dass die Normadressaten die gegebenen Gründe nicht rational nachvollziehen können. Es ist im ethischen wie im Falle naturwissenschaftlicher Argumente durchaus möglich, 16 | John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, S. 126.

2006-02-06 17-38-16 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 93

dass die Normadressaten die genannten Gründe nicht vollständig zu den eigenen machen. Zudem ist es auch denkbar, dass es sich nicht um die besten Gründe handelt. Das Legitimitätsprinzip schützt die Normadressaten nur vor Willkür. Wir können damit auch sagen, welche Typen von Argumenten den Anforderungen an eine moralische Begründung nicht genügen. Argumente dürfen sich nicht auf einen »Binnenkonsens« beziehen, der für Personen, die außerhalb dieses Binnenkonsenses stehen, nicht zugänglich ist. Es reicht damit für eine Begründung von Grenzen der Forschungsfreiheit nicht aus, dass es um etwas »Unverfügbares« oder etwas »Heiliges« geht. Dass hier Grenzen bestehen, muss im Prinzip vor jedermann gerechtfertigt werden können.

3. Wie eine Begründung nicht möglich ist Wie die Diskussion paradigmatischer Beispiele gezeigt hat, ist unserer Alltagsmoral die Vorstellung, dass gewisse Forschungsziele absolut (unter allen Umständen) verboten sind, keineswegs fremd, auch wenn diese Verbote heute nicht mehr explizit religiös verstanden werden. Aber lassen sich absolute Verbote überhaupt ohne Bezugnahme auf religiöse oder metaphysische Annahmen rechtfertigen? Wir möchten in einem nächsten Schritt zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Das liegt erstens daran, dass Rechtfertigungen dieser Art ohne Rekurs auf absolute Werte nicht zu haben sind, absolute Werte sich aber einem rationalen Rechtfertigungsdiskurs entziehen; zweitens liegt es daran, dass sie eine Konzeption von Verantwortung bedingen, die im Kern religiös geprägt ist; und es liegt drittens daran, dass die Liste der absoluten Verbote entweder eine dogmatische Setzung ist oder aber wiederum auf Theorien beruht, die sich auf religiöse oder metaphysische Annahmen stützen. Wenn das stimmt, ist gezeigt, dass sich unter der oben beschriebenen Bedingung der rationalen Nachvollziehbarkeit von Gründen absolute Verbote nicht rechtfertigen lassen.17 Im Folgenden möchten wir diese These an zwei einflussreichen Moraltheorien veranschaulichen.18 Hierbei handelt es sich um den Kantianismus und das Naturrecht. 17 | Dagegen folgt daraus nicht, dass es keine absoluten Verbote geben kann. Was folgt, ist lediglich, dass, wer absolute Verbote verteidigen möchte, beweisen muss, dass es Gott gibt und dass diese Verbote von Gott gewollt sind. 18 | Es ist klar, dass die eigentlich erforderliche, ausführliche Begründung dieser starken These im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu leisten ist. Unser Ziel im Folgenden ist es daher lediglich, einige erste Hinweise zu geben, wie eine solche Begründung aussehen könnte.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

94 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe

3.1 Kantianismus Wie könnte man begründen, dass gewisse Forschungsziele absolut verboten sind? Eine mögliche und auf den ersten Blick attraktive Antwort findet man in der Moraltheorie von Immanuel Kant. Ausgehend von Kants Kategorischem Imperativ könnte man argumentieren: Forschungsziele sind dann unmoralisch, wenn sie den Menschen als bloßes Mittel gebrauchen. Bestünde etwa ein Forschungsziel darin, die Autonomie eines Menschen auszuschalten und ihn damit seiner Fähigkeit zu selbstbestimmten Entscheidungen zu berauben, dann würde dies einer vollkommenen Instrumentalisierung gleichkommen. Dieses Ziel wäre deshalb, kantisch gesehen, moralisch absolut verwerflich. Die darauf ausgerichtete Forschung müsste prinzipiell verboten werden. Um deutlich zu machen, warum dieses Argument nicht greift, muss man sich vor Augen führen, was es heißt, jemanden als bloßes Mittel zu brauchen. Die Originalformulierung der so genannten Zweckformel des Kategorischen Imperativs lautet wie folgt: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«.19 Diese Formulierung kann man so verstehen, dass man einen Menschen genau dann als bloßes Mittel braucht, wenn man ihn als Mittel braucht und nicht zugleich als Zweck. Damit stellt sich die Frage, was mit »Zweck« gemeint ist und was es bedeutet, die Menschheit als Zweck zu gebrauchen. Unter »Menschheit« versteht Kant ein Bündel von Fähigkeiten, die alle damit zu tun haben, dass wir als Vernunftwesen in der Lage sind, unsere Ziele frei zu wählen und unser Handeln am moralischen Grundprinzip, dem Kategorischen Imperativ, auszurichten. Schwieriger zu bestimmen ist der Begriff des Zwecks. Ein Zweck ist alltagssprachlich etwas, das wir hervorbringen oder erreichen möchten. Zum Beispiel kann es ein Zweck oder Ziel sein, innerhalb eines Jahres 20 Kilogramm abzunehmen. Die Menschheit ist allerdings nicht in diesem Sinn ein Zweck. Um die Differenz zu markieren, spricht Kant denn auch häufig von »Zweck an sich«. Damit will er etwas bezeichnen, wogegen man nicht handeln darf; etwas, das unser Handeln limitieren soll. Genauer gesagt bedeutet dies: Es gibt absolute Grenzen hinsichtlich der Weise, wie wir Menschen in der Verfolgung unserer Ziele behandeln dürfen; Grenzen, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen. Warum gibt es solche Grenzen? Kants Antwort lautet: Weil Zwecke an sich einen absoluten Wert, eine »Würde«, haben. Wer dies nicht respektiert, 19 | Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Frankfurt/M. 1974, BA 67.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 95

der behandelt die Menschheit in der anderen Person nicht als einen solchen Zweck an sich, sondern als bloßes Mittel. Näher betrachtet ist es eine bestimmte Eigenschaft des rationalen Willens, der dieser absolute Wert zukommt. Kant bezeichnet sie als »Autonomie«. Damit meint er vor allem die Fähigkeit, sich an rationale (selbstauferlegte) Verhaltensstandards, insbesondere an den Kategorischen Imperativ, zu binden. Diese Fähigkeit einzuschränken oder zu vernichten, ist grundsätzlich falsch. Keine noch so positiven Konsequenzen können dies je rechtfertigen. Bezogen auf die Frage nach unmoralischen Forschungszielen würde dies bedeuten: Forschung, die darauf abzielt, unsere Autonomie auszuschalten, ist durch nichts zu rechtfertigen und darf deshalb nicht zugelassen werden. Dieser Ansatz wäre überzeugend, wenn sich der absolute Wert der Autonomie begründen ließe. Hier stehen wir freilich vor einem Problem. Kants Theorie entspricht unseren Erwartungen, dass »Moral mit der Würde und Freiheit des Menschen und mit seiner Selbstbehauptung als freies Wesen zu tun habe«.20 Kant hat vor dem Hintergrund dieser Erwartungen ein elegantes System entworfen. Aber er strebt keine kohärentistische Theorie an, sondern eine Ethik, die jeden Skeptiker mit zwingenden Argumenten überzeugt. Daher wäre es falsch, die Stärke der Kantischen Theorie danach einzuschätzen, wie elegant sie ist oder wie stark sie unseren Erwartungen entspricht. Es kann nur zählen, wie gut die Begründung ist. Kant verweist hier darauf, dass die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt etwas von Wert ist. Aber dieses Argument beweist nicht, dass diese Fähigkeit selbst einen absoluten Wert hat. Sicher ist richtig, dass niemand etwas für wertvoll ansehen kann, wenn er nicht über die Fähigkeit verfügt, sich rationale Verhaltensstandards zu geben. Doch z.B. auch Sauerstoff, Zellteilung oder das Leben sind Voraussetzungen dafür, dass ich mir selbst Verhaltensstandards setzen kann. Gleichwohl muss ich nicht zwingend annehmen, dass Sauerstoff, Zellteilung oder dem Leben ein absoluter Wert zukommt. Kant hat diesen Punkt später korrigiert, indem er den absoluten Wert der Autonomie als ein »Faktum der Vernunft« bezeichnete.21 Als ein solches Faktum ist die Autonomie freilich eine bloße Setzung, ein Dogma. Eine Ethik, die auf einer solchen Setzung basiert, ist aber ein metaphysisches System. Wir dürfen nicht darauf rekurrieren, wenn wir Grenzen der Forschungsfreiheit begründen wollen. Es ist kein Zufall, dass der letztere Begründungsansatz in der Kant-Diskussion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Überzeugungskraft der 20 | Ulrich Steinvorth: Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek 1990, S. 68. 21 | Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Frankfurt/M. 1974, A 55ff.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

96 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe Kantischen Philosophie liegt nicht darin, dass sie eine zwingende Letztbegründung liefert. Die Formulierungen des kategorischen Imperativs haben eine davon unabhängige argumentative Kraft. Dies gilt insbesondere für die Zweckformel: Wir sollten Menschen (bzw. vernünftige Wesen) nicht in einer Weise behandeln, in der sie als bloße Mittel gebraucht werden. Die Plausibilität dieser Formulierung zeigt sich dann, wenn man sie in allgemeine Überlegungen einbettet, was Menschen einander nicht antun dürfen. Um die eigentliche argumentative Kraft dieser Formulierung zu entfalten, muss sie aus der Kantischen Theorie herausgelöst und in andere Begründungsansätze eingebettet werden. Die bloße Instrumentalisierung ist ein Spezialfall jener Verletzungen ethisch besonders wertvoller Fähigkeiten, die wir im Folgenden beschreiben werden. Bevor wir das tun, muss jedoch noch ein weiterer Begründungsansatz, der in unserem Zusammenhang relevant ist, erörtert werden.

3.2 Naturrecht Zum Naturrecht gehört eine Gruppe von ethischen Ansätzen, welche davon ausgehen, dass ganz bestimmte moralische Normen nicht von Menschen gesetzt werden, sondern von Natur aus gelten. Die Rede von der »Natur« ist dabei normativ aufgeladen: Dass etwas von Natur aus geboten ist, heißt zugleich, dass es vernünftigerweise und schlechthin geboten ist. In der Regel wird dies mit einem funktionellen Verständnis von Ethik verbunden. Ethik ist erforderlich, um ein gelingendes Leben zu führen. Im Rahmen des Naturrechts wird die These vertreten, dass ein gelingendes Leben ein Leben gemäß dem von Natur aus Gebotenen ist. Weichen Menschen davon ab, führen sie kein gelingendes Leben und schaden sich damit selbst. In unserem Kontext vor allem relevant ist die Behauptung, dass es Handlungen gibt, die stets unterlassen werden sollten. In Robert Spaemanns Aufsatz »Die schlechte Lehre vom guten Zweck« heißt es: »Es gibt aber Handlungen, deren Verwerflichkeit auch ohne Kenntnis der Umstände und der Absichten des Handelnden erkennbar ist. Sie sind immer schlecht, und eine Absicht, die ein gutes Ziel mit Hilfe solcher Handlungen zu erreichen sucht, ist eben keine gute, sondern eine schlechte Absicht. Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel. Darum gibt es keine unbedingten, ohne Ansehung der Umstände geltenden Handlungsgebote, wohl aber unbedingte Unterlassungsgebote. Es gibt Dinge, die ein Mensch zu tun nicht imstande sein soll.«22

22 | Robert Spaemann: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 393.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 97

Dieser Position liegen drei Annahmen zugrunde, die man als die drei Kernannahmen einer »absoluten Deontologie« bezeichnen kann: – Der Handelnde trägt in erster Linie für die unmittelbaren Wirkungen seiner Handlungen Verantwortung, nicht für die Neben- und Fernwirkungen. – Verpflichtungen können nur durch dringlichere Verpflichtungen aufgehoben werden, nicht durch größeren Nutzen. – Einige Handlungstypen sind von jeder Güterabwägung ausgenommen. Diese sind in allen Kontexten zu unterlassen. Ein Handlungstyp, der in diesem Sinn absolut verboten ist, ist die Tötung anderer Menschen. Dieses Verbot soll unabhängig von den zu erwartenden Folgen gelten. Betrachten wir ein extremes Beispiel: Ein von Terroristen entführtes, vollbesetztes Passagierflugzeug rast auf ein Atomkraftwerk zu. Es ist klar: Wenn das Flugzeug nicht abgeschossen wird, wird es in das Atomkraftwerk einschlagen und dieses zur Explosion bringen. Die Folgen wären verheerend: Tausende Strahlenopfer und eine Umwelt, die für unabsehbare Zeit verseucht und unbewohnbar wäre. Selbst in dieser Situation darf gemäß dem absoluten Deontologen das Flugzeug nicht abgeschossen werden. Dies liegt daran, dass sich unsere moralische Verantwortung, seiner Ansicht nach, nur auf das Flugzeug selbst und die Passagiere bezieht. Und diesbezüglich gilt: Wir dürfen sie nicht töten, auch nicht um eines noch so guten Zweckes willen. Für alles Weitere, auch wenn absehbar ist, was geschehen wird, können wir keine Verantwortung übernehmen. Das bedeutet nicht, dass es hinsichtlich der Folgen keine Verantwortung gibt. Aber, so Spaemann, diese trägt nicht der Mensch, sondern Gott.23 Diese auf Augustin zurückgehende Konzeption hat noch einen weiteren Aspekt. Als sündige Wesen tragen wir in erster Linie Verantwortung für unsere eigene Seele. Wer meint, mehr Verantwortung übernehmen zu können und zu müssen, und es in der Folge auf sich nimmt, zwischen gut und schlecht zu entscheiden, maßt sich etwas an. Auf das Flugzeug-Beispiel bezogen heißt das: Unser Seelenheil gebietet es primär, kein Unrecht zu begehen, um uns nicht einer Sünde schuldig zu machen. Wir dürfen daher 23 | Ein strukturell analoges Argument findet sich in Kants Schrift »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen«, in: ders.: Metaphysik der Sitten, S. 635-643. Nur dass Kant hier Gott durch den Zufall bzw. das Schicksal ersetzt: »Jeder Mensch«, so Kant, »hat […] die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder anderen schaden. Er selbst tut also hiermit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht [sic] der Zufall« (A 310).

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

98 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe das Flugzeug nicht abschießen. Denn das Töten von unschuldigen Menschen ist eine Sünde. Für die daraus erwachsenden Konsequenzen tragen wir hingegen keine Verantwortung. Vielmehr wäre es eine Form von Hybris, von Hochmut, zu meinen, man könne und müsse die involvierten Menschenleben gegeneinander abwägen und sich für diejenige Lösung entscheiden, bei der weniger Opfer zu beklagen sein werden. Welche Handlungen sollen unterlassen werden? Teilweise antworten Naturrechtler, dass es selbstevident sei, von welchen Handlungen abzusehen ist. Andere beziehen sich zu deren Auswahl auf eine Theorie der Natur des Menschen. Nach Spaemann z.B. sind jene Handlungen prinzipiell zu unterlassen, die in einem besonderen Zusammenhang zur menschlichen Personalität stehen. Der Mensch ist durch ein spezifisches Selbstverhältnis definiert, durch das er Subjekt eigener Zwecke wird. Der Mensch ist zur Selbstbestimmung fähig: »Dieses Selbstverhältnis ist Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt in vielerlei andere sittliche Verhältnisse eintreten kann.«24 Es setzt unserem Handeln uns und anderen gegenüber Grenzen. Wir dürfen andere nicht so behandeln, dass dabei ihr Status als Subjekt eigener Zwecke vernichtet wird. Es gibt Handlungen, die »immer und überall mit der menschlichen Verantwortung gegen sich und seinesgleichen« unvereinbar sind. Spaemann verweist hier auf die »natürliche«, dem Menschen vorgegebene Struktur der Selbstdarstellung. Die Personalität drückt sich in drei Sphären aus, zu denen man sich nicht instrumentell verhalten darf: das organische Leben, die Sprache und die Sexualität. »Dem entspricht«, so Spaemann, »dass in der klassischen philosophischen und theologischen Tradition die absichtliche und die direkte Tötung unschuldiger und wehrloser Menschen, die absichtliche Täuschung des Vertrauens durch unwahre Rede und die Herauslösung der Sexualität aus ihrem integralen humanen Kontext jeder weiteren Güterabwägung entzogen und für jederzeit unverantwortlich erklärt wurde.«25

Jede Tötung eines Unschuldigen, jede Lüge innerhalb eines Vertrauensverhältnisses (etwa zwischen Ehepartnern oder zwischen Arzt und Patient) und jeder Ehebruch sind unter allen Umständen schlecht. Sie stellen Verstöße gegen die Menschenwürde dar, in denen der Handelnde die eigene und die Würde des anderen verletzt. Allerdings stellt sich die Frage, wie plausibel Spaemanns Auswahl ist. Ihr Vorteil mag sein, dass sie traditionelle Auffassungen wiedergibt, insbesondere die katholische Lehrmeinung. Jedoch verdankt sich die katholische Position einer zusätzlichen Annahme 24 | Spaemann: Grenzen, S. 231. 25 | Ebd., S. 232.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 99

über das Gute. Demnach hat jede Tätigkeit einen (biologischen) Zweck bzw. eine (biologische) Funktion – ein Telos. Übt man diese Tätigkeit in Übereinstimmung mit ihrem Zweck – also natürlich – aus, ist dies gut. Als »unnatürlich« gelten dagegen Handlungen, bei denen das nicht der Fall ist. Da die biologische Funktion der Sexualität die Fortpflanzung ist, wären Masturbation, Homosexualität und Empfängnisverhütung absolut verboten. Die biologische Funktion der Sprache ist die Kommunikation, womit die Lüge als »unnatürlich« abzulehnen ist. Spaemann sagt also nicht notwendig etwas über den Kern der menschlichen Persönlichkeit, sondern vielleicht nur etwas darüber, was in einer bestimmten Tradition moralisch verboten ist. Ein zweites Problem zeigt sich, wenn man fragt, ob es über diese theoretischen Wurzeln hinaus gehende Gründe gibt, gerade diese drei Aspekte zu nennen. Die Spaemannsche Liste würde von anderen Vertretern des Naturrechts abgelehnt. John Finnis etwa geht von sieben Grundwerten aus, die menschlichem Handeln und Wollen neue Dimensionen öffnen: Kunst, Wissenschaft, Religion, das menschliche Leben, Geselligkeit bzw. Freundschaft, Spiel und praktische Vernünftigkeit.26 Auch diese Liste soll einen Kern bezeichnen, auf den gelingendes menschliches Leben angewiesen ist. Sie erscheint uns zwar in vielem als zeitgemäßer als die Liste Spaemanns, aber diese Liste steht vor dem Problem, dass unklar ist, wie man von ihr aus zu unbedingten Verboten kommt. Die wesentliche Schwierigkeit des Naturrechts besteht darin, dass es keine nachvollziehbaren Gründe liefert, warum jeweils bestimmte Normen gelten sollen. Verweist das Naturrecht aber auf eine – normativ verstandene – Natur des Menschen, hängt natürlich alles davon ab, wie diese beschrieben wird. Der Vorteil des Spaemannschen Vorschlags liegt darin, dass hier nicht einfach auf die Natur des Menschen rekurriert wird, sondern dass ein Kern beschrieben wird, der unbedingt schützenswert ist. Auf der anderen Seite scheint seine Auswahl letztlich eine dogmatische Setzung zu sein. Es ist unabhängig vom Dogma wenig plausibel, Sexualität neben Leben und Sprache zu stellen, aber weder Geselligkeit noch Wissenschaft, Religion oder Kunst zu nennen. Im Folgenden soll daher versucht werden, eine plausiblere Auffassung davon zu geben, welche moralisch bedeutsamen Eigenschaften es verdienen, auf besondere Weise geschützt zu werden.

26 | Vgl. John Finnis: Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, S. 85ff.

2006-02-06 17-38-17 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

100 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe

4. Unmoralische Forschungsziele: Eine kohärenztheoretische Begründung Wir vertreten die Auffassung, dass es etwas gibt, das der Forschung eine Grenze setzt, deren Überschreitung einer Rechtfertigung bedarf, die – falls überhaupt – nur in wenigen Ausnahmesituationen möglich ist. Hierbei handelt es sich um die erwähnten vier Eigenschaften oder Fähigkeiten, die so wertvoll sind, dass sie nicht zu Forschungszwecken eingeschränkt oder gar zerstört werden dürfen. Kann dies auf eine Weise begründet werden, welche den oben skizzierten Ansprüchen genügt? Wir verbinden mit unserer Konzeption keinerlei Letztbegründungsansprüche. Solche Ansprüche, so sehr sie von ethischen Theorien immer wieder erhoben werden, haben sich stets als uneinlösbar erwiesen. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich dies je ändern wird. Wir vertreten einen kohärentistischen Begründungsansatz, dem es darum zu tun ist, mit Hilfe einer kritischen Verbindung von vortheoretischen Überzeugungen bzw. Intuitionen, kulturübergreifenden Betrachtungen, kritischer Genealogie und moralphilosophischen Reflexionen zu möglichst differenzierten und stimmigen Aussagen hinsichtlich des zu erörternden Problems zu kommen. Folgende Aspekte fügen sich zu einer Begründung zusammen: Das – ethisch gesehen – für besonders bedeutsam Gehaltene ist durch kollektive historische Erfahrungen, insbesondere durch solche negativer Art, beeinflusst. Es wurden Erfahrungen gemacht, was Menschen einander antun können. Moralische Normen stellen nicht zuletzt Versuche dar, erlebte gesellschaftliche Missstände zu beheben. Die historisch entstandenen und von Philosophie und Theologie beeinflussten Moralsysteme schlagen sich in vortheoretischen Ansichten und Intuitionen nieder. Diese sind ein erstes Indiz, was moralisch ver- und geboten ist.27 Unterschiedliche Kulturen stellen zugleich Modelle dar, wie menschliches (und nicht-menschliches) Leben geführt und geregelt werden kann. Der kulturübergreifende und kulturvergleichende Blick bietet somit eine Möglichkeit, dem Kern dessen näher zu kommen, was wir für besonders bedeutsam halten. Durch diese – etwa von Martha Nussbaum vorgeführte – Ausdehnung der Betrachtung wird der aristotelische Bezugspunkt der doxa, d.h. der kulturellen vortheoretischen Überzeugungen, universalisiert.28 Hierbei geht es nicht um eine rein empirische Analyse, sondern auch, ja, in erster Linie um die evaluative Bestimmung des mit Bezug auf den Men27 | Die einleitend geführte Diskussion paradigmatischer Beispiele hat sich im Wesentlichen auf dieser Ebene bewegt. 28 | Vgl. Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999.

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 101

schen um seiner selbst willen Guten oder Wertvollen. Ziel ist es, diejenigen Eigenschaften zu ermitteln, ohne die menschliches Leben nicht »erkennbar menschlich« und damit auch nicht gut sein kann. In unserem Zusammenhang spielen freilich nur jene Eigenschaften eine Rolle, die aus ethischer Sicht für die Frage nach unmoralischen Forschungszielen relevant sind. Zudem unterscheidet sich unser Ansatz auch in anderen wichtigen Punkten von Nussbaums aristotelischer Konzeption einerseits, Aristoteles’ ursprünglicher Theorie andererseits: a) In methodischer Hinsicht sucht unser Ansatz von vornherein nicht das den Menschen Auszeichnende zu bestimmen, indem er es systematisch vom Nicht-Menschlichen, d.h. vom Tierischen und vom Göttlichen abgrenzt. Vielmehr geht er von einer geschichtlich gewachsenen Alltagsmoral aus und versucht von da aus, diejenigen Eigenschaften (Fähigkeiten) freizulegen, die wir für moralisch besonders bedeutsam halten. Dabei spielt die Abgrenzung vom Nicht-Menschlichen keine Rolle: Es könnten auch solche Eigenschaften für ethisch relevant gehalten werden, die wir z.B. mit Tieren gemeinsam haben. Maßgebend sind allein diese Eigenschaften; nicht, welche Wesen sie haben. b) Es geht daher auch nicht darum, den Menschen (oder sonst ein Tier) biologisch als Gattungswesen aufzufassen und nach etwas zu suchen, das allen Menschen, d.h. allen Mitgliedern der Gattung bzw. Art gemein ist – Embryonen ebenso wie Hundertjährigen, geistig Behinderten und Dementen ebenso wie Hochbegabten. Die moralisch bedeutsamen Eigenschaften sollen nicht auf diese Weise gleichsam auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden. c) Wir vertreten insofern keinen aristotelischen Eudaimonismus, als die gesuchten Eigenschaften oder Fähigkeiten nicht über die Begriffe der Funktion bzw. des Zwecks (ergon) und der Vortrefflichkeit (arete) eingeführt werden. Eine objektivistische Teleologie mit Bezug auf den Menschen (oder jedes beliebige andere Wesen), d.h. die Idee, der Mensch habe einen objektiven Zweck, eine ihn als Gattungswesen definierende Leistung, Fähigkeit oder Tätigkeit, in deren vortrefflicher Ausübung das gute (eudaimonistisch glückliche) Leben besteht, ist heute nicht mehr plausibel zu machen. d) Während in Aristoteles’ Theorie die Frage nach der kategorischen Geltung von moralischen Geboten bzw. Verboten keine tragende Rolle spielt, ist dies für unsere Konzeption insofern relevant, als es darum geht zu klären, ob es Forschungsziele gibt, die aus moralischen Gründen grundsätzlich unzulässig sind. Vortheoretische Überzeugungen und kulturübergreifende Betrachtungen

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

102 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe geben wider, was Menschen meinen. Sie liefern einem Individuum keinen hinreichenden Grund, das für geboten Gehaltene für sich selbst zu übernehmen. Damit dies gelingt, braucht es zweierlei: Es muss für jede einzelne Person nachvollziehbar sein, dass die angegebenen Meinungen und Auffassungen jeweils auch ihr selbst einen Grund liefern, so und nicht anders zu handeln. Diese Auffassungen müssen dabei von einer Art sein, die mit dem eigenen Leben und der eigenen Person in einer Verbindung steht. Die Konzeption eines Kerns von moralisch besonders bedeutsamen Eigenschaften (Fähigkeiten) muss dergestalt sein, dass sie jeder Person aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen plausibel erscheinen kann. Und die Auffassungen müssen darüber hinaus von einer Art sein, dass sie überhaupt als Gründe akzeptiert werden können. Um letztere Bedingung zu erfüllen, müssen die auf den ersten beiden Ebenen – der vortheoretischen Ansichten und kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten – eruierten Überzeugungen einer kritischen rationalen Überprüfung standhalten. Dieser kritischen Überprüfung dient auch ein weiterer Aspekt moralphilosophischer Tätigkeit: die kritische Genealogie. Darunter ist Folgendes zu verstehen: Eine bestimmte moralische Überzeugung mag Teil der derzeitigen vortheoretischen Überzeugungen sein. Zeigt aber eine kritische Rekonstruktion, dass diese Überzeugung nur als Teil einer bestimmten theologischen oder philosophischen Position Bestand hat, hat sie für das Individuum nur dann eine handlungsanleitende Kraft, wenn es diese spezifische Position teilt. Die weiter oben wiedergegebene Annahme z.B., dass Empfängnisverhütung als unnatürlich abzulehnen sei, ist Bestandteil einer spezifischen philosophischen Theorie und kann außerhalb derselben nicht plausibel gedacht werden. Jede Person, die durch eine kritische Genealogie davon erfährt, hat zwei Optionen: Sie kann sich den Gründen der spezifischen Tradition anschließen oder ihre bisherige Meinung aufgeben, weil sie die Gründe nicht teilt, die diese Meinung stützen.29 Die von uns vertretene Position nutzt also sowohl vortheoretische Überzeugungen wie auch historische Erfahrungen. Gleichwohl darf man sie nicht bloß als Ausdruck eines kontingenten geschichtlichen Prozesses begreifen. Sie ist in der Lage, diejenigen wertvollen Eigenschaften zu ermitteln, die für das Selbstverständnis des Menschen, sofern er sich rational, d.h. aus einer von religiöser und kultureller Zugehörigkeit unabhängigen Perspektive heraus betrachtet, von konstitutiver Bedeutung sind. Der Begründungsansatz genügt damit den Anforderungen des liberalen Legitimitätsprinzips.

29 | Die in Abschnitt 3 angestellten Überlegungen zu Kant und insbesondere zum Naturrecht sind dem Konzept einer kritischen Genealogie verpflichtet.

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 103

5. Zurück zu den Beispielen In unseren Beispielen hatten wir vier aus ethischer Sicht besonders bedeutsame Eigenschaften bzw. Fähigkeiten ermittelt: – den freien Willen, d.h. die Fähigkeit, sich mit Gründen zwischen Optionen entscheiden zu können; – die Fähigkeit, ein eigenes Leben zu führen; – die Fähigkeit, moralisch empfinden und urteilen zu können; sowie – das Verstandesvermögen, d.h. die Fähigkeit des kritischen Reflektierens und schlussfolgernden, kombinierenden Denkens. Diese Fähigkeiten markieren eine Grenze, die von der Forschung zu akzeptieren ist. Forschungsziele, die deren Einschränkung oder Zerstörung anstreben, können ethisch, falls überhaupt, allein in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden. Um welche Ausnahmen es sich dabei handeln könnte, möchten wir offen lassen. Wichtig ist hier lediglich, dass man sie, sobald man absolute Verbote nicht mehr für begründbar hält, nicht prinzipiell ausschließen kann. Dennoch können diese Verbote sehr stark sein; eben in dem Sinn, dass sie praktisch immer gelten. Denn sie dienen dazu, diejenigen Fähigkeiten zu schützen, die aus ethischer Sicht besonders wertvoll und daher besonders schützenswert sind. Diese Überzeugung verdankt sich einer bestimmten Auffassung von ethischem Individualismus, die auch im modernen Common Sense angelegt ist. Nach diesem Individualismus sind allgemeine Eigenschaften wie Rasse, Geschlecht, Herkunft oder Art- bzw. Gattungszugehörigkeit keine Gründe, Wesen moralisch zu klassifizieren. Relevant sind einzig Eigenschaften, die man konkreten Individuen zuschreiben kann. Individuen, die über die genannten vier Fähigkeiten verfügen, zählen moralisch besonders viel; so viel, dass ein praktisch uneingeschränktes Verbot, diese Fähigkeiten durch Forschung einzuschränken, gerechtfertigt ist. Weder kulturübergreifend noch mit Blick auf unsere eigene Tradition gibt es Hinweise, dass diese vier Fähigkeiten nicht zu dem gerechnet werden, was moralisch besonders bedeutsam ist. Zudem haben wir damit auch jene Fähigkeiten gefunden, die nach Auffassung vieler philosophischer Theorien einen ganz speziellen Wert haben. Wir haben damit zugleich auch eine weit plausiblere Liste als etwa Spaemann. Betrachten wir hierzu folgendes Beispiel: Ein junger, im 18. Jahrhundert lebender Mann hat eine wunderbare Sopranstimme, die er, wie durch ein Wunder, bis in sein 18. Lebensjahr bewahrt hat. Er entschließt sich aus freiem Willen und vollständig informiert dazu, sich kastrieren zu lassen, um sich und seiner Mitwelt seine Stimme zu erhalten. Damit schränkt er seine Sexualität in einem

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

104 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe weiten Maße ein. Würden wir sagen, eine solche Handlung müsste grundsätzlich verboten werden? Wenn überhaupt, so wäre eine entsprechende vortheoretische Auffassung doch weit unsicherer als in jenen Fällen, in denen sich eine Person freiwillig den Eingriffen unterwerfen würde, welche der Manchurian Candidate oder die Stepford Wives beschreiben. Es geht im Beispiel der Kastration um Wichtiges, aber doch nicht um so Wesentliches wie in den beiden anderen Fällen. Entschließt sich jemand zu einer Kastration, bleibt der Kern dessen bewahrt, was ihn zu einem Wesen macht, das moralisch in besonderer Weise zu berücksichtigen ist. Es steht für uns außer Frage, dass die vier genannten Fähigkeiten moralisch besonders bedeutsam sind. Zu diskutieren wäre allerdings, ob die Liste vollständig ist. Nicht aufgeführt ist z.B. die Fähigkeit, Freude zu empfinden, obwohl es sich auch dabei um ein intrinsisch wertvolles Vermögen handelt. Und wie verhält es sich mit der Fähigkeit, positive und negative Emotionen zu empfinden? Wäre Forschung, deren Ziel die Herstellung von Wesen wie »Spock« (Raumschiff Enterprise) ist, moralisch zulässig? Letzteres hängt wohl davon ab, wie genau die Situation beschrieben wird. Würde ein Wesen durch das Fehlen von Emotionen auch die Fähigkeit verlieren, moralisch zu urteilen, würden wir den Eingriff ablehnen; und dies auch dann, wenn es selbst dem Eingriff zustimmen würde. Niemandem sollte es erlaubt sein, seine Fähigkeit zu Empathie und moralischem Urteilen so weit aufzugeben, dass er zu einer Art Computer wird. Wenn man aber auch bei fehlenden Emotionen noch ein moralisches Wesen sein könnte und in der Lage wäre, Empathie durch rationale Überlegungen zu ersetzen (was Spock tut), würden wir diesen Schritt nicht ablehnen. Denn auch die Erziehung zu einem stoischen Weisen, der von keiner Emotion erschüttert wird, halten wir nicht für unmoralisch. Allerdings müsste die Möglichkeit, dass man allein rational moralisch interagieren kann, erst noch belegt werden. Wir möchten nicht ausschließen, dass unsere Liste moralisch besonders bedeutsamer Fähigkeiten nicht vollständig ist. Für die These, dass es sich um eine abschließende Liste handelt, spricht jedoch folgende Überlegung: Nehmen wir ein Gedankenexperiment vor, in dem ein Dämon aus der Vorhölle eine umfassende Veränderung seiner Persönlichkeit erfahren hat. Er wird von anderen Dämonen nicht mehr akzeptiert und beschließt, unter Menschen zu leben. Nur hat er als Bedingung für die Aufnahme in die menschliche Gesellschaft zu beweisen, dass seine Veränderung so weit ging, dass er »menschlich« ist. Was genau würden wir von diesem Dämon verlangen? Sicherlich werden wir zunächst erwarten, dass er uns beweist, in jenem Sinne menschlich zu sein, dass er mit anderen Wesen mitfühlen kann und fähig ist, moralisch zu urteilen. Sollte sich dann aber zeigen, dass der Dämon aufgrund eines Zaubers verflucht ist, mitfühlend zu sein, änderte sich unser Urteil. Der Beleg, dass er kraft seines Vermögens zur Em-

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 105

pathie und zu moralischen Urteilen in der Lage ist, die Interessen anderer Wesen um ihrer selbst willen zu berücksichtigen, reicht nicht mehr aus. Wir würden ihn noch nicht als »menschlich« charakterisieren. Anders sähe es jedoch aus, wenn der Dämon die Fähigkeit eines freien Willens hätte, er also anders urteilen und anders handeln könnte. Freilich müsste er zeigen, dass der freie Wille nicht ein bloßer Zufallsgenerator ist, sondern auf kritischem Reflektieren aufbaut. Aber selbst dann noch fehlte etwas, um ihn als ein Mitglied der »menschlichen Gemeinschaft« ansehen zu können. Er müsste plausibel machen können, dass er in der Lage ist, ein eigenes Leben zu führen, dass er fähig ist, sich eigene Ziele und Lebenspläne zu setzen. Stellen wir uns vor, der Dämon hätte bewiesen, dass er diese vier Fähigkeiten besitzt. Er wäre weiterhin kein Mitglied der Gattung homo sapiens; aber würden wir bestreiten, dass er »menschlich« ist bzw. dass er ein Wesen ist, das über moralisch besonders wertvolle Fähigkeiten verfügt, die einen speziellen Schutz verdienen? Man kann sich nur schwer vorstellen, welche zusätzliche Eigenschaft wir von dem Dämon verlangten: Neugier, die Fähigkeit, sich fürchten zu können, ein Gefühl für Religion? All diese zusätzlichen Forderungen stellten doch Anmaßungen dar. Ein Wesen, das über die genannten vier Komponenten verfügt, kann nur als »menschlich« bezeichnet werden, d.h. als ein Wesen, dessen ethisch bedeutsamen Fähigkeiten nicht eingeschränkt werden dürfen. Zwischen den vier genannten Fähigkeiten bestehen vielfältige und komplexe Beziehungen. Kann man etwa jemanden überhaupt als moralisches Wesen bezeichnen, wenn er/sie keinen freien Willen hat? Oder ist der freie Wille nicht vielmehr eine notwendige Voraussetzung dafür? Wieweit bedingt der freie Wille das Vorhandensein des Verstandesvermögens? Und umgekehrt: Inwiefern kann jemand in der Lage sein, kritisch zu reflektieren, und dennoch unfähig, sich frei für die eine oder die andere Option zu entscheiden? All diese schwierigen Fragen können hier nicht weiter erörtert werden. Wichtig ist aber festzuhalten, dass die aufgeführten Fähigkeiten irreduzibel sind: Keine kann auf eine andere zurückgeführt bzw. aus einer anderen abgeleitet werden.

Schlussfolgerungen Forschungsfreiheit stellt ein hohes Gut dar. In einer Kultur der Unabhängigkeit wird eine ethische Grundhaltung verkörpert und symbolisiert, in der Personen frei ihre eigenen Ziele bestimmen und diese weitgehend unabhängig von der Einwirkung anderer verfolgen können. Angesichts dessen scheint die These, dass es Forschenden verboten werden soll, bestimmte Ziele zu verfolgen, schwer begründbar zu sein. Sie ist jedoch dann zu be-

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

106 | Andreas Bachmann, Klaus Peter Rippe gründen, wenn Güter auf dem Spiel stehen, die für unsere Gesellschaft noch grundlegender und bedeutender sind. Diese Güter kommen ins Spiel, wenn es um das geht, was wir als ethisch besonders wertvolle Eigenschaften bzw. Fähigkeiten bezeichnet haben: den freien Willen, die Fähigkeit, als Person ein eigenes Leben führen zu können, die Fähigkeit, moralisch empfinden und urteilen zu können, sowie das Verstandesvermögen. Forschung, die das Ziel verfolgt, eine dieser Fähigkeiten aufzuheben, ist verwerflich. Hier würde etwas getan, das man mit Wesen, die über diese Fähigkeiten verfügen, nicht macht; selbst dann nicht, wenn es die besten Folgen hätte. Diese Fähigkeiten bilden die grundlegende Bedingung auch einer Kultur der Unabhängigkeit. Sie markieren eine Grenze, die von der Forschung zu akzeptieren ist. Man könnte versucht sein, das vorgebrachte Argument im Sinne eines slippery slope-Arguments zu deuten. Dann ginge es um die bloße Möglichkeit, dass ein Forschungsvorhaben künftig zu Anwendungen oder anderen Forschungsprojekten führt, die eine oder mehrere der vier ethisch fundamentalen Fähigkeiten aufhebt. Würde man so argumentieren, sprächen vielleicht schon jetzt gute Gründe dafür, Psychopharmaka, Gehirnchirurgie oder Biotechnologie zu verbieten. Diese These vertreten wir nicht. Unserer Ansicht nach ist die Kultur der Unabhängigkeit zu bedeutend, als dass Hypothesen über künftige Entwicklungen ausreichen, sie einzuschränken. Es geht vielmehr darum, dass kein konkretes Forschungsvorhaben das Ziel beinhalten darf, diese Fähigkeiten aufzuheben. Forschungsziele, die deren Einschränkung oder Zerstörung anstreben, können ethisch nicht gerechtfertigt werden. Sie sind verboten, wie positiv die aus ihnen erwachsenden Konsequenzen auch sein mögen. Und sie wären auch dann abzulehnen, wenn Probanden ihre freie und informierte Zustimmung geben würden. Das gilt auch für sämtliche Bestrebungen, den Menschen, etwa im »transhumanistischen« Sinne, zu perfektionieren. Die angepeilte Steigerung unserer physischen und psychischen Kapazitäten steht unter dem grundlegenden ethischen Vorbehalt, dass sie nicht um den Preis einer Einschränkung oder Zerstörung der genannten vier ethisch fundamentalen Fähigkeiten realisiert werden darf. Wie weit man jedoch gehen darf, wenn diese Bedingung erfüllt wird, ist eine andere Frage, zu deren Beantwortung es zusätzlicher Überlegungen bedarf.

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

Wieso es die Stepford Wives nicht geben darf | 107

Literatur Bayertz, Kurt (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie?, Paderborn 2005. DeGeorge, Richard T.: Academic Freedom and Tenure. Ethical Issues, Lanham 1997. Dworkin, Ronald: »Why Academic Freedom?«, in: ders.: Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, Cambridge 1996, S. 244-260. Finnis, John: Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980. Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994. Fukuyama, Francis: Das Ende des Menschen, Stuttgart 2002. Goliszek, Andrew: In the Name of Science. A History of Secret Programs, Medical Research, and Human Experimentation, New York 2003. Kant, Immanuel: »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen«, in: ders.: Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M. 1977, S. 635-643. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Frankfurt/M. 1974. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Frankfurt/M. 1974. Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999. Parens, Erik (Hg.): Enhancing Human Traits. Ethical and Legal Implications, Washington 1998. Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998. Rippe, Klaus Peter: »Schlag nach bei Humboldt! Gedanken zu einer liberalen Hochschulpolitik«, in: Hermann, Michael u.a. (Hg.): Elfenbeinturm oder Denkfabrik. Ideen für eine Universität mit Zukunft, Zürich 1998, S. 45-54. Sandel, Michael: Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien 1995. Spaemann, Robert: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001. Steinvorth, Ulrich: Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek 1990.

2006-02-06 17-38-18 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S.

79-107) T01_04 rippe bachmann.p 107239495014

2006-02-06 17-38-19 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 108

) vakat 108.p 107239495566

Arbeit am eigenen Fremdkörper

2006-02-06 17-38-20 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 109

) T02_00 respekt.p 107239495726

2006-02-06 17-38-20 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 110

) vakat 110.p 107239495886

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 111

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit Matthias Kettner

Einleitung Wer vom Transhumanen sprechen will, kann über Humanismus nicht schweigen. Humanismus ist ein Selbstdeutungsmuster mit antiken Wurzeln und einem modernen, individualistischen und darin zugleich universalistischen Anspruch. Am geistigen Ursprung des europäischen Humanismus liegt die schöpferische Umdeutung griechischer paideia und philanthropia durch die Römer im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Jenen Strömungen der griechischen Philosophie, die wir im Rückblick diesem Ursprung zuordnen, erschien die Erziehung im Sinn der Formung eines höheren Menschen als letzte Rechtfertigung der Existenz menschlicher Gemeinschaft und Individualität. Die Gabe der vernünftigen Rede (logos) galt als privilegierte, Mensch und Tier unterscheidende Fähigkeit und darum auch als der wichtigste Fokus von Erziehung und Bildung: »Die überzeugende Rede hat die Menschen aus der Vereinzelung zu einer Gemeinschaft zusammengeführt, hat sie Städte gründen und sich Gesetze geben lassen, hat sie die handwerklichen Fähigkeiten und Künste gelehrt; kurz, auf der Paideia beruht alle Kultur und Zivilisation.«1

Bildungsstolz (und die Gefahr der Verachtung von Unbildung) sowie Perfektibilität (und die Gefahr der Ausblendung von Unverbesserlichkeit), die viel später, ab der Renaissance, das bürgerliche anthropologische und humanistische Denken prägen werden, sind hier schon vorgezeichnet. Ein 1 | August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, München 1987, S. 14.

2006-02-06 17-38-21 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

112 | Matthias Kettner Gegengewicht gegen die elitären Tendenzen der paideia ist der ursprünglich hierarchische, dann aber zunehmend egalitäre und allmählich auf die Menschheit im Ganzen ausgedehnte, also universalistische Gedanke der philanthropia, Inbegriff positiver Beziehungen zwischen Menschen als solchen.2 Die Evolution dieser Idee erreicht ihre Grundbedeutung, die dann bis ins 20. Jahrhundert maßgeblich bleiben wird, bei Cicero, der dem Begriff des Humanismus endgültig die Bedeutung einer doppelten Funktion gibt: einer sozialen, auf das zwischenmenschliche Verhalten bezogenen Tugend der wechselseitigen Achtung einer tiefen Zusammengehörigkeit aller Menschen (in einer Reihe mit römischen Tugendidealen wie pietas, clementia, iustitia, aequitas und fides) und zugleich auch eines individuellen, auf ein »höheres« Menschsein gerichteten Bildungsideals, das in Geistesbildung, Glücksfähigkeit, Selbstsorge und Muße vorankommt. Der Humanismus gewinnt in der europäischen Moderne an Anziehungskraft dort, wo sich der Bann der Transzendenz löst, der in der Mitte des Menschenbildes keinen anderen Gedanken dulden konnte, als dass wir das ebenbildliche, aber gefallene Geschöpf Gottes sind.3 Wo der moderne Humanismus überhaupt zu einer die Lebensverhältnisse prägenden Größe werden konnte, ist seine Überzeugungskraft derzeit weniger von der Rückkehr religiöser Glaubensmächte bedroht, die er überwunden hat, sondern von Verschiebungen im Selbst- und Weltbild, die man, entsprechend ihrer 2 | Menschenliebe im Sinne der philanthropia bezog sich ideengeschichtlich »ursprünglich auf das Verhalten von Göttern und Halbgöttern gegenüber den Menschen, wurde aber dann auf die Beziehungen der Menschen untereinander übertragen und bedeutete nun die tätige Hilfe gegenüber dem Nächsten bzw. die Bereitschaft dazu.« Siehe Buck: Humanismus, München 1987, S. 15. Markant in der Geschichte dieser Bedeutungsverschiebung ist das Diktum des Aristoteles, auch mit dem Sklaven sei Freundschaft möglich, denn auch dieser sei ein Mensch. 3 | »While some humanists work to build nontheistic religious communities, all modern humanists would agree that gods, devils, and spirits are creations of human imagination. If we are to build a democratic world that educates and supports human freedom, responsibility, growth, and creativity, humanists must not ignore the ways that religious beliefs serve to foster tribalism, nationalism, and violence. Whether or how humanism can or should function as an ethical and nontheistic religion remains a matter of intense debate and experiment. The values of the Enlightenment have global and universal potential. Developing, expanding, and extending these values is the central humanist commitment«. So Robert B. Tapp, Dekan des Humanist Institute, auf: http://www.humanistinstitute.org/ourhumanism.html. Für weitere Selbstdefinitionstexte amerikanischer humanistischer Organisationen gehe auf: http://www.humaniststudies.org/humphil.html oder http://humanists.net/ (alle Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-21 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 113

Herkunft aus Naturwissenschaft, Technik und Kapitalismus, als »naturalistische« Verschiebungen zusammenfassen kann. Die Überzeugungskraft des Humanismus schwindet in dem Maße, wie die moderni in einen neuen Bann geraten, dem zufolge unser aufgeklärtes Selbstverständnis ohne Rest aufgehen muss in Naturgeschichte, natürlicher Evolution und in der kosmischen Epiphänomenalität des Menschen und der Erde. Die gemeinten naturalistischen Verschiebungen im Selbst- und Weltbild sind heute so unübersehbar und in ihren Verabsolutierungstendenzen nicht minder fragwürdig wie die Gegenbewegungen, die sie bereits hervorgerufen haben. Zu diesen kann man die synthetische Spiritualität neuer naturreligiöser Kulte ebenso zählen wie die des New Age. Zu ihnen gehören aber auch sämtliche Versuche einer Verwindung des Humanismus durch futuristische Überbietung seiner Vision einer menschenwürdigen Gesellschaft, die für »Post-« oder »Transhumanisten«, wie sie sich nennen, erst dann erreicht wäre, wenn die Selbstüberhebung des »alten« Menschen aus der Tierwelt abgelöst werden würde durch die rückhaltlose Anerkennung »neuer«, technisch erst noch zu schaffender Androiden, Mensch-MaschineChimären oder biotechnischer Hybridintelligenzen.

1. Meliorismus als Kern des Humanismus Hat der Humanismus einen normativen Kern, einen charakteristischen Anspruch, eine Art Programmformel? Man kann auf diese Frage eine positive Antwort geben, indem man Immanuel Kants auf die neuzeitliche Aufklärung gemünzte Pointe vom »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, deren humanistisches Gepräge unübersehbar ist, zu ergänzen versucht; und zwar um das, was zuerst im dialektischen Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels, dann aber mit ungleich größerer Wirkungsgeschichte im »realen Humanismus« bei Karl Marx als »Aufhebung von Entfremdung« umrissen worden ist. Beide Momente gehören zum Humanismus der westlichen Moderne. Zusammen prägen sie die allem Humanismus wesentliche Intention, vorfindliche Lebensbedingungen, angesichts derer die Menschen, individuell wie in der Gestaltung ihrer sozialen Rahmenordnungen, unnötigerweise hinter ihren besseren Möglichkeiten zurückbleiben, so zu verändern, dass diese Beschränkungen, die weder notwendig noch wünschenswert sind, entfallen. Diese praktische Überzeugung – man kann hier auch von einem »Interesse an Emanzipation« sprechen – gehört zum Kern des Humanismus. Der Humanismus ist ein intelligibles, intern mit vernünftigen Rechtfertigungen verknüpftes und von solcher Reflexion auch gar nicht ablösbares Projekt mit sozialreformerischen Konsequenzen. In einer »Schwundform« wird aus diesem Projekt

2006-02-06 17-38-21 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

114 | Matthias Kettner allerdings nur zu oft ein lediglich sozialutopisches Deutungsmuster für geschichtliche Veränderungen bzw. für die »kritische« Unterscheidung von Fortschritt und Rückschritt innerhalb der gerade feststellbaren oder absehbaren Veränderungen. Und dennoch: Stets, selbst noch in seiner Schwundform, enthält der Humanismus eine normative, über das bloß Faktische hinausgreifende Auffassung von einem Raum der Möglichkeiten zur Gestaltung der Form menschlichen Zusammenlebens (»die menschliche Lebensform«). Überdies will er evaluative Kriterien liefern, welche dieser Formen zu gestalten gut – sinnvoll, wünschenswert, angebracht oder sogar gesollt – wäre. Jede dieser Auffassungen von einem Raum der Möglichkeiten setzt begriffliche Annahmen darüber voraus, welche Eigenschaften des Menschen es typischerweise sind, die einen bestimmter Raum von Möglichkeiten als wertvoll und schätzenswert erscheinen lassen. Doch der Gedanke, dass die Menschen, gemäß solcher Annahmen, so beschaffen sind, dass ein jeweils bestimmter Raum von Lebensmöglichkeiten ein für sie typischerweise wertvoller und schätzenswerter Raum ist, impliziert nicht, dass es eine bestimmte Menge L von Lebensmöglichkeiten gibt, die ausnahmslos für jeden Menschen wertvoll und schätzenswert sind. Umgekehrt ist der im Humanismus eingeschlossene Gedanke einer »Natur« der Menschen aber auch nicht schon dann widerlegt, wenn sich de facto einige Menschen finden, die L tatsächlich nicht wertvoll und schätzenswert finden. Der humanismusinterne Gedanke eines Wesens des Menschen muss ebenso wenig die Annahme beinhalten, dass sich jene Menschen, die L nicht wertvoll finden, irren oder dass sie abnorm sind. In seiner Konsequenz liegt nur, dass diese »Abweichungen« untypisch sind und anderen daher Grund geben, diese abweichenden Wertorientierungen überraschend zu finden und ihre eigenen (für menschentypisch gehaltenen) Einstellungen für begründungsbedürftig zu halten. In den Humanismus sind demnach (fallible) Auffassungen von einer typischen Beschaffenheit der Menschennatur und typischerweise wertvollen Möglichkeiten humanen Zusammenlebens eingebettet. Der Diskurs des Humanismus kommt ohne essentialistische Bestimmungen gar nicht aus. Die Einbettung solcher Annahmen macht aber auch verständlich, warum der humanistische Essentialismus, anders als der am Einzelwesen ansetzende empirische Essentialismus der Biologie, zwischen den für wesentlich gehaltenen Individueneigenschaften und sonstigen, für unwesentlich gehaltenen nicht unmittelbar mit Blick auf das Einzelwesen bzw. den Organismus unterscheidet, sondern mittelbar, und zwar stets im Zusammenhang einer Lebensform, die wir für Einzelwesen bzw. Organismen, die so und so geartet sind, für typisch halten. Der bisherige Gedankengang lässt sich so zusammenfassen: Zum

2006-02-06 17-38-21 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 115

normativen Kern des säkularen Humanismus gehört eine Meliorismus-Erlaubnis. Sie besagt: Was auch immer sonst zum Wesen des Menschen gehören mag, gewiss haben Menschen ein wesentliches Interesse daran, die geteilte menschliche Lebensform im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu einer aus individueller (nicht: kollektiver!) Sicht möglichst guten Lebensform zu gestalten. Und die Absicht, derartige Verbesserungen vorzunehmen, ist ceteris paribus eine moralisch erlaubte Absicht.

2. Kopplungen zwischen Humanismus, Menschenwürde und Menschenrechten Die im säkularen Humanismus immer schon positive Besetzung der menschentypischen Leibgestalt, die in der philosophischen Anthropologie des letzten Jahrhunderts besonders in Deutschland aufgegriffen und theoretisch weitergeführt wurde, erscheint auch aus Sicht der neuesten philosophischen Anthropologie noch nicht veraltet. Denn in jede moderne und überhaupt vorstellbare Vergesellschaftung oder Technologie bringen Menschen wegen ihrer »Positionalität« (Helmuth Plessner) einen gewissermaßen uralten Körper mit hinein; so jung sie selbst auch sein mögen. Eines der zentralen Momente der Positionalität, die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive eines irgendwie intentional aufgefassten Mit-Wesens, halten kulturtheoretisch aufgeklärte Primatenforscher wie Michael Tomasello für eine notwendige Bedingung kulturellen Lernens, auf dessen Grundlage seinerseits eine vergleichsweise robuste Mensch-Tier-Unterscheidung konstruiert werden kann. Das »theory of mind«-taugliche und dadurch zur Perspektivenübernahme fähige Gehirn des Menschen ist aber weder abstrakter Geist noch modulare neuronale wetware. Es lässt sich vom extra-zerebralen Soma überhaupt nicht trennen; entwicklungsgeschichtlich schon gar nicht. Vielmehr ist das Gehirn ein Integral der menschlichen Leibgestalt, die ihrerseits jedoch kein Fixum ist, sondern einer historischen Entwicklung unterliegt. Aber ihr Veränderungstempo ist – besser gesagt: war bisher – wohl sehr gering. Humanisten haben gute Gründe, nicht nur den Meliorismus der Lebensform und die Wertschätzung der Leibgestalt zu akzeptieren, sondern auch die Moralidee der Menschenwürde. Diese Idee schließt nämlich die Begründungslücke im humanistischen Meliorismus, die darin besteht, dass hier die Individuen (und ihre Ideen vom guten Leben) Vorrang haben vor den Kollektiven, die doch Träger jener Lebensformen sind, von denen das gute Leben der Individuen abhängt. Die Moralidee der Menschenwürde muss hierzu freistehend begründbar sein, sonst führt sie innerhalb des humanistischen Meliorismus in einen schlechten Zirkel. Demnach ist die

2006-02-06 17-38-21 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

116 | Matthias Kettner Idee der Menschenwürde zwar an den humanistischen Meliorismus gekoppelt, sie muss ihr rationales Standing aber aus anderen Quellen als dieser Kopplung beziehen. Ich habe an anderer Stelle einen solchen Begründungsweg vorgeschlagen, der auf nichts weiter rekurriert als auf die Fähigkeit des Menschen zur Übernahme von Verantwortung im Rahmen irgendeiner Konzeption von Moral.4 Dies ist eine Fähigkeit, von der Menschen vernünftigerweise wissen können und auch sollten, dass sie menschentypisch ist. Mein Vorschlag läuft darauf hinaus, die moralische Idee der Menschenwürde als einen moralischen Status zu begreifen; und zwar als genau denjenigen Moralstatus, der im Vergleich zu anderen der höchste oder, wenn man so will, der grundlegende ist. Gemeint ist der Status der Statusgeber. Der Menschenwürdebegriff hat demnach den präzisen Sinn, innerhalb des sehr variablen Bereichs möglicher moralischer Berücksichtigungen deren ursprüngliche Voraussetzung hervorzuheben: die Moralakteure selbst. Dieser Statusthese zufolge ist der Begriff der Menschenwürde Ausdruck dessen, dass wir – als menschliche Moralakteure – uns selbst als die tragenden Elemente unserer Moral erfassen. In der Konsequenz dieser moralreflexiven Begründung der Menschenwürde liegt die Einsicht, dass die Menschenwürde – anders als die Menschenrechte, deren überpositiver Rechtsgrund sie doch ist und bleibt – in ihren Anwendungsbedingungen nicht anthropozentrisch ist. Demnach könnten auch solche Wesen, deren typische soziale, physische und psychische Konstitution sich von jenen Menschen unterscheidet, die wir heute als unseresgleichen betrachten, Träger von Menschenwürde sein bzw. von uns als solche anerkannt werden. Die Menschenwürde ist auf jede nur denkbare Konzeption moralischer Verantwortung bezogen. Die deklarierten Menschenrechte hingegen nehmen Bezug auf die jetzige menschliche Lebensform samt der momentanen menschentypischen Leibgestalt, denn ihre spezifische inhaltliche Ausprägung empfangen sie aus prägenden und allgemein nachvollziehbaren Erfahrungen, die wir mit unserer Leibgestalt in unserer Lebensform machen. Das lässt sich durch ein Gedankenexperiment bekräftigen: Offenbar müssten wir die Liste der erklärten Menschenrechte abändern, wenn sich grundlegende Tatsachen der für Menschen typischen sozialen, physischen und psychischen Konstitution ändern würden. Zum Beispiel verlöre Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der ein Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit deklariert, in einer staatenlos gewordenen Welt seinen Sinn. Der in Artikel 16 verkündete Schutzanspruch der Familie qua »natür4 | Matthias Kettner: »Über die Grenzen der Menschenwürde«, in: ders. (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt/M. 2003, S. 292-323.

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 117

liche und grundlegende Einheit der Gesellschaft« liefe leer, wenn die Familie nicht länger die natürliche oder grundlegende Einheit der Gesellschaft bildete. Die in Artikel 19 formulierte »Meinungs- und Informationsfreiheit« würde überflüssig, wenn es für den Menschen eines Tages typisch wäre, Telepath zu sein etc. Damit ist deutlich geworden, dass man die moralische Idee der Menschenwürde auch ohne die emanzipative Idee des säkularen Humanismus unterschreiben kann. Menschenwürde könnte realisiert sein, auch wenn wir kein wesentliches Interesse daran hätten, die menschliche Lebensform im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu einer – aus der Sicht der Individuen – möglichst guten Lebensform auszubauen. Wir könnten konservativ bei einer bestimmten Ausgestaltung bleiben wollen, die uns »gut genug« (oder »erträglich schlecht«) zu sein scheint. Ein solcher Konservatismus mag aus verschiedenen Gründen kritisierbar sein, menschenunwürdig ist er aber nicht. Das Nachdenken über Menschenwürde und der Humanismus fallen gleichwohl nicht auseinander. Ihre Verbindung sind die Menschenrechte, die Rechte von Wesen mit menschentypischer Leibgestalt in menschentypischen Lebensformen formulieren. Ein Strukturkonservatismus gegenüber dem status quo der menschlichen Lebensform ist nur dann nicht menschenunwürdig, wenn das »gut genug« (oder das »erträglich schlecht«) in dem Sinne neutral gegenüber der Moralidee der Menschenwürde ist, dass es in Bezug auf deren normative Konsequenzen keinen Unterschied macht. Wenn nun aber, zumindest aus unserer Sicht, die Menschenrechte in der Konsequenz der Menschenwürde liegen, dann muss der Sinn des »gut genug« ebenso neutral gegenüber dem Anspruch auf Verwirklichung der Menschenrechte sein.5 Soweit Humanisten die Verwirklichung einer menschenwürdigen moralischen Ordnung und, in letzter Konsequenz, die Verwirklichung der Menschenrechte zum Umfang einer guten Gestaltung der menschlichen Lebensform dazuzählen, müssen sie eine jeweils bestimmte menschliche Lebensform schon dann und darum als verbesserungsbedürftig beurteilen, wenn und insoweit in ihr die Menschenrechte nicht so verwirklicht sind, wie sie unter den Bedingungen dieser Lebensform verwirklicht sein könnten. So ist z.B. die Forderung nach einer »Humanisierung der Arbeitswelt« angesichts der Globalisierung von prekärer Erwerbsarbeit und modernem Helotentum für Menschenrechtshumanisten ebenso plausibel wie etwa die Forderung nach besonderen Rechten für 5 | Dieser Anspruch ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Artikel 28 formuliert: »Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.«

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

118 | Matthias Kettner Menschen mit Behinderungen angesichts der hinter den gegebenen Möglichkeiten zurückbleibenden Zugänglichkeit unserer lebensweltlichen Infrastruktur. Den Berechtigungsgrund für solche und ähnliche Forderungen liefert der humanistische Meliorismus.

3. Enger, weiter und metaphorischer Humanismus Wer den Gedanken der Menschenwürde akzeptiert und Menschenrechte anerkennt, ist zugleich ein Humanist, sofern die Überzeugung hinzutritt, dass eine menschliche Lebensform schon dann hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt, wenn darin die Menschenrechte nicht so weit wie möglich zur Geltung gebracht werden. Wie im vorigen Abschnitt ausgeführt, sind die Menschenrechte anthropozentrisch ausgerichtet, d.h. inhaltlich zentriert auf denjenigen anthropos, als den wir unseresgleichen heute kennen und dessen Beschreibung durch unsere Biologen als homo sapiens sapiens wir als biologische Selbstbeschreibung akzeptieren. Die Menschenwürdeidee jedoch ist nicht wesentlich anthropozentrisch. Sie ist auf alle moralfähigen Wesen zugeschnitten, wie auch immer diese Wesen verkörpert und vergemeinschaftet sein mögen. Der »Mensch« der Menschenwürde ist nur kontingenterweise ein Mensch wie wir. Was heute »Menschenwürde« heißt, wäre genauer als die Würde von »typischerweise moralfähigen Wesen« oder, wenn man so will, als Moralwesenwürde zu bezeichnen. Jetzt können wir drei Varianten des Humanismus unterscheiden, deren Vertreter ich jeweils als humanistisch »im engen« Sinne (H1), »im weiten« (H2) und »im metaphorischen« Sinne (H3) bezeichnen will. Alle drei Humanisten sind der Überzeugung, dass es besser ist, in einer Welt zu leben, in der die Moralidee der Menschenwürde (mit ihren normativen Konsequenzen einer menschenwürdigen, menschenrechtlichen Ordnung) Fuß gefasst hat, als in einer Welt, die dessen ermangelt. Humanisten haben Grund zu dieser Überzeugung bereits dadurch, dass sie eingesehen haben, dass die Moralidee der Menschenwürde die stärkste Begründungsbasis für jenen normativen Individualismus darstellt, ohne den kein Humanismus wäre. Denn dieser normative Individualismus versteht sich weder von selbst noch lässt er sich – ohne schlechte Zirkularität – durch Berufung auf den Humanismus selbst begründen. Die drei gemeinten Humanismusvarianten unterscheiden sich folgendermaßen: H1 identifiziert sich mit der Leibgestalt des heutigen Menschen. H2 identifiziert sich hingegen mit der moralischen Gemeinschaft, die in der Phylogenese von homo sapiens sapiens und seiner Vorformen Gestalt angenommen hat und kontinuierlich in dieser biologischen Gattung auch dann noch existent wäre, wenn sich deren typische Vertreter von der Leibgestalt

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 119

des heutigen Menschen mehr und mehr entfernen würden.6 Für H3 schließlich genügt es, dass sich homo sapiens sapiens und eine irgendeine andere Gattung7 zumindest in der Hinsicht gleichen, dass sie Moralgemeinschaften ausbilden und ihre jeweils typischen Lebensform, worin auch immer sich diese voneinander unterscheiden, Spielräume aufweisen, die durch Vermittlung einer moralischen Ordnung gestaltet und umgestaltet werden können. H1 setzt sich für die Menschenrechte, wie wir sie kennen, ein. H2 plädiert für deren flexible Erweiterung und Fortschreibung. Und H3 ergänzt diese Rechte um jeweils gattungsspezifische Menschenrechtsäquivalente oder Quasi-Menschenrechte, z.B. Marsmenschenrechte oder X-Rechte; wobei das X hier für beliebige moralfähige Gattungen steht.

4. Ist der Transhumanismus ein Humanismus? Weder H1 noch H2 noch H3 betrachten das biotische Substrat ihrer Lebensformen als intrinsisch wertvoll.8 Dieses Substrat ist immer nur mittelbar wertvoll, und zwar durch den Wert, den es aus der Sicht jener Lebensform hat, deren Möglichkeiten und Spielräume durch die Bestimmtheit des biotischen Substrats vorgezeichnet und eröffnet werden. Woher die Bestimmtheit dieses Substrats stammt, ist normativ bedeutungslos. Was zählt, ist nicht, ob seine Bestimmtheit »ohne unser Zutun«, d.h. rein aus der natürlichen Evolution stammt, ob es »durch Eingriffe« in die natürliche Evolution zustande gekommen ist oder aber das gänzlich unnatürliche Ergebnis (bio-) technischer »Konstruktion« darstellt. Der zentrale Gedanke lässt sich vielmehr wie folgt formalisieren: Wenn ein wie auch immer beschaffenes Sub6 | Zum Beispiel durch Vermischung mit körperlich andersartigen Lebewesen. Diese zunächst haarsträubende Möglichkeit wird mit großer narrativer Überzeugungskraft in Octavia E. Butlers’ Zukunftsroman Die Gen-Händler, Stuttgart 2002, dargestellt. 7 | Gattung hier im Sinne einer Taxonomie, die biologisch (also üblicherweise nach dem Kriterium der Fortpflanzungsgemeinschaft) bestimmt sein kann, aber so nicht bestimmt sein muss. Zu den unterschätzten Problemen, genetisch oder auf eine andere biologische Weise die Einheit unseresgleichen (die »Menschengattung«) hinreichend scharf zu bestimmen, siehe den instruktiven Beitrag der Molekularbiologin und Philosophin Eva Neumann-Held: »Can we find Human Nature in the Human Genome?«, in: Armin Grunwald/Matthias Gutmann/Eva-M. Neumann-Held (Hg.): On Human Nature. Anthropological, Biological, and Philosophical Foundations, Berlin 2002, S. 141-162. 8 | Die »menschliche« Natur ist so wenig intrinsisch wertvoll wie die »marsmenschliche« Natur.

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

120 | Matthias Kettner strat S die biotische Grundlage dafür ist, dass die entsprechende Lebensform L den Gestaltungsspielraum G hat; und wenn eine Veränderung von S hin zu S’ eine Veränderung von G hin zu G’ nach sich zieht, und zwar derart, dass aus Sicht des Humanisten eine »möglichst gut« zu verwirklichende Lebensform L* in G’ realisierbarer erscheint als in G; dann ist diese Einschätzung für Humanisten ein Grund, wenn auch sicher nicht der einzige zu berücksichtigende Grund, der zugunsten einer Veränderung von S hin zu S’ spricht. Vice versa gilt: Wenn eine Veränderung von G hin zu G’ eine Veränderung von S hin zu S’ nach sich zieht, und L* erscheint in G’ realisierbarer als in G, dann spricht dies aus der Sicht des Humanisten ceteris paribus dafür, die Veränderung von S nach S’ im biotischen Substrat als gut zu beurteilen und zu begrüßen. Ob es aber überhaupt gut ist, die Beschaffenheit von S ändern oder auch beibehalten zu wollen, hängt für Humanisten immer auch, aber nie allein, von der Rolle ab, die S innerhalb der »möglichst gut« zu verwirklichenden, aber zunächst bloß antizipierten Lebensform L* für die tatsächliche Realisierbarkeit von L* spielt. Humanisten im engen Sinne (H1) beschränken die zulässigen Ideen der zu verwirklichenden, möglichst guten Lebensform L* durch die Bedingung, dass L* im Rahmen der Möglichkeiten jener Lebensform L liegen muss, die mit dem biotischen Substrat von homo sapiens sapiens auskommt, d.h. mit der Leibgestalt des heutigen Menschen (»Unsere jetzige Leibgestalt ist gut genug, basta!«). Humanisten im weiten Sinne (H2) lockern diese Bedingung. Sie lassen es zu, dass wir eine instrumentelle Einstellung zu unserer biologischen Gattungsnatur einnehmen, sie als veränderbar behandeln, und zwar im Dienste der Absicht, die als möglichst gut vorgestellte Lebensform L* zu verwirklichen. Humanisten im weiten (H2), aber auch Humanisten im metaphorischen Sinne (H3) lassen es beide zu, dass wir unsere gattungstypische Leiblichkeit der von uns jeweils erwünschten und gewollten Lebensform unterordnen, statt diese im Rahmen der gattungstypischen Leiblichkeit zu identifizieren. Um diese voluntaristische Unterordnung der Leiblichkeit anschaulich zu machen, hilft ein Vergleich mit dem Sport. So wie ein engagierter Sportler, der seinen Körper dem erwünschten und gewollten Sportlerleben und -erfolg unterordnet, der seinen Körperbau und dessen Performanz gezielt verändert (durch Erziehung, Training, Doping, Operationen usw.), sind Humanisten, die einen Humanismus im weiten oder metaphorischen Sinne vertreten, gewillt, die eigene gattungstypische Leiblichkeit der jeweils erwünschten Lebensform unterzuordnen. H1-Humanisten ordnen hingegen – umgekehrt – das Wünschen und Verwirklichen-Wollen unserer jetzt vorfindlichen gattungstypischen Leiblichkeit unter. So erst wird deutlich, wie die Transhumanisten säkularen H1Humanisten vorwerfen können, sie klebten an Einschränkungen, die weder notwendig noch wünschenswert sind, und perpetuierten damit Bedingun-

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 121

gen, unter denen die Menschen ohne Not hinter ihren besseren Möglichkeiten zurückbleiben: »Transhumanismus kann als eine Fortentwicklung des Humanismus, aus dem er teilweise hervorgegangen ist, bezeichnet werden. Humanisten legen auf den Menschen, auf das Individuum Wert. Wir mögen nicht perfekt sein, können aber etwas verbessern und rationales Denken, Freiheit, Toleranz und Demokratie fördern. Transhumanisten stimmen dem zu, unterstreichen aber auch nachdrücklich, dass wir das Potential besitzen, uns selbst weiterzuentwickeln. Wir können rationale Mittel nicht nur einsetzen, um menschliche Lebensumstände und unsere Umwelt positiv zu verändern; wir können sie auch dazu verwenden, um uns selbst, also den menschlichen Organismus, zu verbessern. Und wir sind dabei nicht auf Methoden wie Erziehung, für die der Humanismus gewöhnlich eintritt, beschränkt. Wir können technologische Mittel einsetzen, die uns schließlich befähigen werden, uns über das hinaus zu entwickeln, was die meisten noch als ›menschlich‹ bezeichnen würden.«9

Jene Wesen, deren Existenz die Transhumanisten, die im Licht der vorgeschlagenen Unterscheidung selbst H2-Humanisten sind, als die »Posthumanen« herbeisehnen, wären entweder superliberale H3-Humanisten oder aber menschenverachtende Nicht-mehr-Menschen, die sich zu uns Jetzigen so verhielten, wie wir es richtig finden, uns zu Tieren zu verhalten. Vielleicht würden uns diese Posthumanen – der latinisierte Ausdruck verdeckt kosmetisch die Konnotationen, die das deutsche Wort »Übermensch« hätte – in etwa so behandeln, wie wir heute Menschenaffen behandeln; mal schlechter, mal besser. Dass viele Transhumanisten mit dieser zwiespältigen Möglichkeit liebäugeln, macht sie in gewissem Sinne nicht nur unheimlich, sondern auch moralisch suspekt, da zwischen Menschen und Posthumanen die durch die Menschenwürdeidee gestiftete moralische Gleichwertigkeit aufgebrochen wäre (was unserer humanistischen Kernintuition widersprechen würde), so wie für uns die moralische Gleichwertigkeit zwischen Menschen und Tieren aufgebrochen ist (was unserer humanistischen Kernintuition nicht notwendigerweise widerspricht): »Posthumane könnten völlig synthetisch (auf künstlicher Intelligenz basierend) oder das Ergebnis vieler einzelner Weiterentwicklungen biologischer Menschen oder von Transhumanen sein. Einige Posthumane mögen sogar Vorteile darin sehen, sich ihrer Körper zu entledigen und als Informationsmuster in großen, extrem schnellen Computernetzwerken zu leben. Manchmal wird auch gesagt, dass es für uns Men9 | Erschöpfend erhält man Auskunft über Visionen und Programme der Transhumanisten auf: http://www.transhumanismus.de/Dokumente/1-1 (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

122 | Matthias Kettner schen unmöglich sei, sich vorzustellen, wie es wäre, posthuman zu sein. Posthumane könnten Aktivitäten nachgehen und Bestrebungen hegen, die zu ergründen wir auch nicht ansatzweise im Stande sind, sowenig wie ein Affe je hoffen könnte, die vielen Facetten des menschlichen Lebens zu erfassen.«10

Was ist gegen Transhumanisten einzuwenden, abgesehen von ihrem oft bierernsten und eben dadurch unfreiwillig komisch wirkenden Schwadronieren über Superintelligenzen, Singularitäten und Uploading? Abgesehen von deren bereits diskutierter moralischer Zwiespältigkeit, erkenne ich noch weitere moralische Gründe für Vorbehalte: (1) In ihrer libertär übertriebenen Vorliebe für private Autonomie – im Sinne Richard Rortys: als Freiheit der Selbsterfindung und Selbstveränderung – übersehen sie, dass die Ausgestaltung derartiger Autonomie durch Technologie gar keine reine Privatsache sein kann, weil die Technologie ihrerseits keine reine Privatsache mehr ist. Die technologische Entwicklung ist nicht lebensformneutral, sowenig wie die Entwicklung von Wirtschaftsweisen, und sie wird auch dann nicht lebensformneutral, sondern verändert lediglich die zwischen Lebensformen komparativ erkennbaren Vor- und Nachteile, wenn jeder über die Nutzung oder Nichtnutzung formal selbst entscheiden kann. Jede bedeutende neue Technologie verändert die Einsätze im Spiel der Variation der Lebensformen und ist parteiisch, indem sie bestimmte Lebensformen begünstigt und andere hemmt. Der Einwand gegen Transhumanisten lautet deshalb: Es ist eine verantwortungslose Naivität, Technologie als Universalschlüssel zum guten Leben zu behandeln. Dass dieser Einwand zutreffend ist, zeigen Äußerungen von Transhumanisten wie die folgende: »Transhumanisten sind der Ansicht, dass die Bedingungen menschlichen Daseins verbessert worden sind, wenn die Daseinsbedingungen von Individuen verbessert worden sind. Praktisch heißt das, dass der Einzelne in der Regel darüber zu befinden hat, was gut für ihn/sie ist. Deshalb treten Transhumanisten für individuelle Freiheit ein, insbesondere für das Recht derer, die Technologie zur Erweiterung ihrer psychischen und physischen Kapazitäten einzusetzen beabsichtigen und ihre Kontrolle über ihr Leben zu verbessern wünschen.«11

Derartige Manifeste sind nicht nur kritikwürdig, sondern auch deutungsbedürftig. Die Wertschätzung, die Transhumanisten der Technik entgegenbringen, trägt Züge der Vergötterung. Insofern ist der Transhumanismus eine ihrer selbst unbewusste Religion: 10 | Ebd. 11 | Ebd. (Hervorhebung von mir, M.K.).

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 123 »Der Transhumanismus bietet Richtung und Lebenszweck und zeigt eine Vision, nach der die Menschen etwas Größeres als unsere gegenwärtigen Seinsbedingungen erreichen können. Im Gegensatz zu den meisten religiösen Gläubigen streben Transhumanisten danach, ihre Träume im Diesseits zu verwirklichen, indem sie nicht auf übernatürliche Kräfte vertrauen, sondern auf Rationalität und Empirie, und dabei auf die fortschreitende wissenschaftliche, technische, ökonomische und menschliche Entwicklung bauen. Sogar die ehemals exklusiven Paukenschläge der Kirchen wie Unsterblichkeit, ständige Glückseligkeit und eine göttliche Intelligenz werden von Transhumanisten als hypothetische technische Leistungen diskutiert!«12

Die Verantwortungslosigkeit und Naivität liegt im Ausblenden der Dialektik von individuell erwünschter Technologienutzung und unerwünschten sozialen Auswirkungen. Sie liegt zudem in der Heteronomie der durch Techniknutzung eintretenden technologischen Abhängigkeit. Der letzte Punkt ist womöglich noch wichtiger als der erste. Wenn die Sinnerfülltheit unseres Lebens eines Tages von transhumanistischen Anthropotechniken so abhinge wie unsere heutige Computernutzung vom Galopp der Soft- und Hardware-Versionen, bliebe von individueller Freiheit wenig übrig. Und dennoch: Die verantwortungslose Naivität im Verhältnis zum prometheischen Begehren, das von jeher im Triebleben von Wissenschaft und Technik mitschwang, mag unheimlich und moralisch dubios sein. Unheilbar ist sie wohl nicht. Dass der Transhumanismus an ihr krankt, diskreditiert ihn nicht schon prinzipiell. (2) Ich sehe noch einen weiteren ernst zu nehmendem und deshalb skeptisch stimmenden Einwand gegen die transhumanistische Version des H2-Humanismus; den ich ansonsten akzeptabel finde. Dieser Einwand13 geht von der Beobachtung aus, dass moralische und rechtliche Normativität auf statistische Normalität der Normadressaten und auf die verlässliche Regularität ihrer Normenbefolgung angewiesen ist. Zugespitzt lautet der Einwand: Wer es besser findet, in Lebensformen zu leben, die im präskriptiven Format von allgemeinen Moralnormen und Rechtsnormen normierbar sind, als in solchen, die lediglich im präskriptiven Format von singulären situativen Abwägungen moralisch normiert werden können, hat dadurch einen guten Grund zu wollen, dass die unter unseresgleichen vorfindliche, für die Normierungspraxis relevante Unterschiedlichkeit der Menschen nicht ein Ausmaß hat oder bekommt, das mit der Normierungspraxis einer 12 | Ebd. 13 | In kräftiger Form formuliert diesen Einwand Micha Brumlik in: ders.: »Die Republik der Cybizens – Wie sich die Politik vom Menschen löst«, in: Jörn Rüsen/Michael Fehr/Annelie Ramsbrock (Hg.): Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004, S. 251-255.

2006-02-06 17-38-22 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

124 | Matthias Kettner allgemeinen moralischen und rechtlichen Normenordnung nicht mehr vereinbar ist. Freilich ist schwer zu bestimmen, wann dieses Ausmaß erreicht oder überschritten wäre. Aber die unübersehbaren, massiven Schwierigkeiten, die bereits heute Menschen mit Behinderungen haben, wenn sie ein Leben führen wollen, das auch die Mehrheit der Menschen ohne solche Behinderungen als ein gutes und moralisch integres Leben anerkennen, zeigt die Unausweichlichkeit des Problems.

5. Eine verächtliche Variante des Transhumanismus Im diesem letzten Abschnitt möchte eine Seitenlinie des Transhumanismus kritisieren, die die Technikvergötterung so weit treibt, dass sie mit einem H1-Humanismus nicht mehr vereinbar ist. Innerhalb des humanismusinternen Meliorismus lassen sich perfektionistische Extremvarianten von anderen dadurch unterscheiden, dass die Verbesserungsabsicht nicht allein als eine prima facie moralisch erlaubte, sondern als eine gesollte, d.h. moralisch aufgegebene Absicht dargestellt wird. Es handelt sich um eine aufgrund ihrer Abwertung der menschlichen Leibgestalt, und zwar durch den Imperativ, sie zu technisieren, moralisch dubiose Form von Perfektionismus. Im Hintergrund dieser Form von Humanismus steht die Forderung, dass wir überhaupt aufhören sollten, uns mit der anthropologischen Faktizität unserer Leiblichkeit zufrieden zu geben. Hans Moravec, der Leiter des Mobile Robot Laboratory der Carnegie Mellon University, den man gewiss als einen Chefideologen der Künstlichen Intelligenz (KI) bezeichnen darf, hält Information für das Wesentliche des Menschen und verachtet den Körper. Andere Autoren mit Kultstatus innerhalb der KI-Szene nennen den menschlichen Körper unfreundlich »ein Stück Fleisch«, »Brei« oder »Sülze«. Die Roboter der Zukunft gelten als eine Korrektur und Verbesserung der menschlichen Natur: Wie in einer technofixierten Parallelaktion zum evolutionären Humanismus Julian Sorel Huxleys und in Einklang mit den Manifesten der selbsternannten Transhumanisten, behauptet Moravec, dass solche Maschinen unsere zivilisatorische Evolution vorantreiben können. Er plädiert für den bewussten und steuernden Eingriff in den Prozess der natürlichen Evolution, den er ebenso natürlich für fehlerhaft hält. Die Krone der Schöpfung gebühre allein den Robotern.14

14 | Vgl. auch Joseph Weizenbaum/Bernhard Pörksen: »Das Menschenbild der künstlichen Intelligenz«, in: Bernd Flessner (Hg.): Nach dem Menschen. Der Mythos

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 125

Unschwer lässt sich dieses Phantasma psychoanalytisch deuten, und zwar als Identifikation mit dem Angreifer, genauer: als eine narzisstische Abwehr von »prometheischer Scham« (Günther Anders). Außerdem, so der Kritiker Josef Weizenbaum, sei für KI-begeisterte Männer eine Art »UterusNeid« treibendes Motiv, d.h. der Neid auf Frauen und ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären: »Man tut nun so, als könne man auch Kinder hervorbringen – nur sind diese eben, wie man verbreitet, besser und intelligenter als jedes menschliche Wesen.«15 Aggressive Untertöne sind z.B. unüberhörbar in einem Marvin Minski zugeschriebenen Aperçu, nach dem die Denkkraft der Silizium-Gehirne so phantastisch sein werde, dass wir, die Menschen, froh sein könnten, wenn uns die Roboter der Zukunft als Haustiere behielten. Was aber genau hat Weizenbaum gegen die Chefideologen der KI einzuwenden? Seiner Ansicht nach ist die Frage nach dem Grad der technischen Realisierbarkeit ihrer Visionen zweitrangig. Auch wenn sie bloß Techno-Garn spinnen, müsse man sie ernstnehmen, weil sie ein gefährliches Menschenbild verbreiten. Dieses Menschenbild bestehe in der Vorstellung, »der Mensch sei eine Maschine, die man im Prinzip und in naher Zukunft verstehen und entschlüsseln könne, um sie dann entsprechend zu korrigieren und zu verbessern. Das zentrale Dogma dieses Menschenbildes ist die Idee, dass jeder Aspekt des Lebens computable sei, dass er sich in berechenbare und formalisierbare Vorgänge auflösen ließe.«16

Was aber ist daran gefährlich? Weizenbaum meint zu Recht, eine Gefahr liege darin, dass Maschinenmetaphern der Barbarei genauso entgegenkommen wie Tiermetaphern: »Diese Metaphern vernichten die Ehrfurcht vor dem Menschen; sie lassen sein mögliches Ende erträglich erscheinen. Vor dem Ungeziefer und einer meat machine müssen wir keinen Respekt mehr haben. Man kann, wenn man von solchen Metaphern ausgeht, jede nur vorstellbare Grausamkeit verüben.«17

Visionär veranschaulicht dies Ridley Scotts bekannter Science-Fiction-Film Blade Runner (1982). Die von den auf der Erde lebenden Menschen kaum einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur, Freiburg 2000, S. 265-280. 15 | Ebd., S. 267. 16 | Ebd., S. 269f. 17 | Ebd.

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

126 | Matthias Kettner mehr zu unterscheidenden, doch umso unerbittlicher von diesen fernzuhaltenden Androiden sind in der narrativen Welt des Films rechtlose Sklaven (bewegliche lebende Dinge). Aber gemessen am Maßstab der Menschenwürde, der, wie gezeigt, im humanistischen Denken – ob in H1, H2 oder H3 – enthalten sein soll, ist ihre Versklavung eine Missachtung ihrer Menschenwürde, die wir auch ihnen zuschreiben müssen, weil sie ersichtlich fähig zur Bildung von Moralgemeinschaften sind; und zwar ungeachtet dessen, dass die Androiden, biologisch gesehen, keine Menschen sind, insofern sich ihre Genealogie einer technischen zweiten Schöpfung verdankt: »Die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem Nationalsozialismus und den Ideen eines Hans Moravec [sowie der Androiden-Sklavenhaltergesellschaft in Blade Runner, M.K.] liegt in der Entwürdigung des Humanen und der Phantasie eines perfekten neuen Menschen, der um jeden Preis geschaffen werden muss; am Schluss dieser Perfektionierung ist der Mensch allerdings nicht mehr da; er verschwindet in Moravecs postbiologischer Gesellschaft.«18

Wenn der – auch im Transhumanismus mitschwingende – Meliorismus zum Perfektionismus übersteigert wird, dann entsteht ein maligner Transhumanismus. Oder anders gesagt: Der Transhumanismus, den Ideologen vom Schlage Moravecs propagieren, ist eines sicher nicht mehr: Humanismus. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat in Plessners Gedanken der »exzentrischen Positionalität« des Menschen zugleich eine normative Basis, von der aus Gründe einsichtig gemacht werden können, die es rechtfertigen, die menschliche Leibgestalt wertzuschätzen und gleichwohl deren historische Gewordenheit und intendierte Veränderbarkeit (die durch technische Fortschritte in Zukunft leichter werden wird) anzuerkennen, ohne dass diese Anerkennung in Widerspruch zur Wertschätzung der menschlichen Leibgestalt geraten muss. Anders jedoch als diese vergleichsweise elegante konzeptionelle Lösung, die durch eine doppelte Vermeidung von Naturalismus und Antinaturalismus möglich wird, haben humanistische Anthropologien hiermit weit mehr Probleme, wenn sie, wie im Transhumanismus, voluntaristisch orientiert sind oder, wie im Evolutionismus, naturalistisch. Der Biologe und Zoologe Huxley hat 1957 in seinem Buch Religion without Revelation19 nicht nur den Ausdruck »evolutionäre Ethik« geprägt, sondern auch den Begriff des »evolutionären Humanismus«. Dessen Apo18 | Ebd., S. 271f. 19 | Julian Sorel Huxley: Religion without Revelation, London 1957.

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 127

rien waren schon damals die der heutigen Transhumanisten. Eine Konsequenz des evolutionären Humanismus ist es, dass es keinen Grund mehr dafür gibt, irgendein besonderes Stadium des Lebens als das letzte Wort der Evolution zu betrachten. Einen ebenso (un)berechtigten Anspruch, die Krone der Schöpfung zu sein, haben das große Zeitalter der Reptilien, das Ende des Tertiärs oder eben die gegenwärtige Phase menschlichen Lebens. Auch der Mensch ist ein Organismus, dessen Natur genauso gut verändert werden kann wie die eines Reptils, das zum Säugetier wurde, oder eines Affenwesens, das über den Menschenaffen zum Menschen wurde. Zu diesem Ethos naturalistischer Gelassenheit und evolutionärer Gleichwertigkeit stehen jedoch Äußerungen Huxleys in merkwürdigem Widerspruch, die unseresgleichen – homo sapiens sapiens – gleichwohl als die evolutionär »höchste Form« des Lebens auf diesem Planeten auszeichnen; als den neuesten dominierenden Typ und »einzigen Organismus, der zu größerem Vorwärtskommen oder Fortschritt« fähig ist. Woher nimmt Huxley diese Überzeugung von einem besonderen Wert der Menschenart? Huxley formuliert es zwar nicht so, aber sein bestes Argument hätte lauten können: Der Mensch ist dasjenige Evolutionsprodukt, das sich dadurch auszeichnet, dass es dem negativ unendlichen Verlauf der Evolution von Nahziel zu Nahziel, dem punktuellen Optimieren, eine überlegte und gewünschte Richtung einschreiben kann. Erst durch uns Menschen kann aus dem Verlauf der Evolution ein Vorlauf werden, ein Fortschritt. Aber wohin? Denn die Naturprozesse, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, haben nach der heute in den Naturwissenschaften vorherrschenden Auffassung gar kein Ziel. Sie sind vielmehr teleonom ohne Telos. Huxleys Feier des evolvierenden Lebens fällt daher bei genauerer Betrachtung widersprüchlich aus. Sein evolutionärer Humanismus tönt im Register einer quasi-religiösen Bejahung evolutionärer Schaffenskraft, etwa dann, wenn Huxley es als die höchste Pflicht des evolutionären Humanisten begreift, »die maximale Erfüllung dieses evolutionären Prozesses auf der Welt zu fördern«; was »die volle Realisierung seiner eigenen, ihm innewohnenden Möglichkeiten« einschließt. Für Huxleys evolutionären Humanismus ist daher in moralischer Hinsicht bezeichnend, dass das »Aufblühen des Individuums als innerer Wert angesehen wird, als Endzweck«. Das jedoch ist eine starke und von Huxley nicht weiter begründete Voraussetzung: dass wir im Lebendigen eine Tendenz zur Individualisierung ausfindig machen können und diese Tendenz wertschätzen sollen.20 Dass Huxleys evolutionärer Humanismus unter dem Gesichtspunkt der Begründbarkeit seiner evaluativen und normativen Elemente solche Defizite hat, gibt Grund, die Frage allgemeiner zu stellen, ob der Humanismus 20 | Huxley: Religion without Revelation, S. 218.

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

128 | Matthias Kettner ganz spezifische normative Einstellungen zum Faktum der Evolution impliziert oder zumindest stützt. Wer Humanist ist und glaubt, dass es so ist und nicht anders sein sollte, dass Menschen ein wesentliches Interesse daran haben, die menschliche Lebensform im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu einer – aus der Sicht der Individuen – möglichst guten Lebensform zu gestalten, muss dabei lediglich annehmen, dass diese Möglichkeit in der Evolution nun einmal aufgetaucht ist und dass sie erhaltenswert ist; erhaltenswert aber nicht, weil sie in der Evolution aufgetaucht ist (und alles natürlich Entstandene als ein solches bereits wert und gut wäre), sondern weil wir uns ihr Verschwinden, im Vergleich zu ihrer aktualen Gestalt, nicht anders als ein Minus denken können. Es ist so wie mit der Wertschätzung des eigenen individuellen Lebendigseins: Das eigene Leben wird unweigerlich vergehen, und gleichwohl ist es bedauerlich, wenn es früher endet, als es ohnehin hätte enden müssen – vorausgesetzt, man findet es überhaupt gut, in einer verbesserbaren Lebensform und Leibgestalt am Leben zu sein. Muss jeder Mensch wenigstens das gut finden? Rationaliter muss man es nicht. Weder eine positive Wertschätzung des je eigenen Lebens noch der normative Kern des Humanismus sind, meiner Ansicht nach, letztbegründbar.21 Aber eine positive Wertschätzung des eigenen Lebens in der gattungstypischen Leibgestalt ist selbst gattungstypisch und insofern »normal«, d.h. mit immerhin schwacher universeller Normativität ausgestattet. Sie gehört daher zur Natur des Menschen. Dennoch: Dass die positive Wertschätzung des eigenen Lebens menschentypisch ist, macht nicht auch schon ein humanistisches Selbst- und Weltverständnis zu einer menschentypischen Selbstverständlichkeit. Ein humanistisches Selbst- und Weltverständnis kann sich nur dort entfalten und halten, wo die Einsicht aufgeht, dass das eigene Leben nicht für sich allein und autark geführt wird, sondern in transindividuellen Lebensformen, die veränderbar sind und von deren Beschaffenheit substanziell abhängt, wieweit die Menschen das Leben, das sie führen, als gutes oder aber schlechtes Leben erleben. Erst vor dem Hintergrund dieser vermittelnden Einsicht, die nicht in jeder kulturellen Lage und in jeder Epoche erreichbar ist, entsteht das emanzipatorische Interesse, das jenen Rechtfertigungsgrund liefert, der seinerseits die Absicht des humanistischen Meliorismus, der ansonsten eine bloße Idee bliebe, zu einer moralisch erlaubten Absicht macht.

21 | »Letztbegründbarkeit« soll heißen: aus Gründen anerkennenswert, die allen Personen aus nichts weiter als dem Selbstverständnis, rationale Bewerter von Gründen zu sein, bereits zu Verfügung stehen.

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Transhumanismus und Körperfeindlichkeit | 129

Ein Fazit Ich habe am Anfang dieses Essays über den Transhumanismus an die alteuropäischen Wurzeln des Humanismus erinnert: an die soziale Tugend der Achtung einer tiefen Zusammengehörigkeit aller Menschen und die individuelle Tugend eines auf ein »höheres« Menschsein gerichteten Bildungsideals, das sich in Geistesbildung, Glücksfähigkeit, Selbstsorge und Muße konkretisiert. Doch erst wenn wir die Zuschreibung von Menschenwürde als eine Nachfolgeform jener Tugenden erkannt haben sowie die zentrale Rolle der Menschenrechte im Bildungsprozess von hinreichend guten menschentypischen Lebensformen, kommt die Aktualität des Humanismus zum Vorschein: »Humans are responsible for their destinies in an evolutionary universe. Our ethical choices stem from our genetic structures as well as from the cultures that we have created. Reason and critical intelligence are the best guides in these choices, and the sciences are our best source of knowledge. Artistic and emotional experiences are important in expanding our visions and our joys, and in suggesting new possibilities for human flourishing – and in expanding the common good. Humanists make their ethical choices by weighing the consequences. From earliest statements, humanists have included caring, social well-being, empathy, and compassion among their ethical values.«22

Anhänger des Transhumanismus neigen dazu, das emanzipatorische Interesse einseitig individuell auszulegen und dessen Verklammerung mit transindividuellen Lebensformen zu vergessen. Tatsächlich bildet die Technologie, die sie propagieren, diese Klammer. Aber für die objektive Macht der Technik, die darin besteht, dass sie die Lebensformen aller und so auch derjenigen prägt, die sie sich gar nicht aneignen wollen, bleibt das Auge des Transhumanisten, entzückt vom Glanz fortschreitender Technologie, merkwürdig blind.

Literatur Brumlik, Micha: »Die Republik der Cybizens – Wie sich die Politik vom Menschen löst«, in: Rüsen, Jörn/Fehr, Michael/Ramsbrock, Annelie (Hg.): Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004, S. 251-255. 22 | So eine Verlautbarung des Humanist Institute, auf: http://www.humanist institute.org/ourhumanism.html (Stand: 24. November 2005).

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

130 | Matthias Kettner Buck, August: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, München 1987. Butlers, Octavia E.: Die Gen-Händler. Xenogenesis-Trilogie, Stuttgart 2002. Huxley, Julian Sorel: Religion without Revelation, London 1957. Kettner, Matthias: »Über die Grenzen der Menschenwürde«, in: ders. (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt/M. 2003, S. 292-323. Neumann-Held, Eva-M.: »Can we find Human Nature in the Human Genome?«, in: Grunwald, Armin/Gutmann, Matthias/Neumann-Held, Eva-M. (Hg.): On Human Nature. Anthropological, Biological, and Philosophical Foundations, Berlin 2002, S. 141-162. Weizenbaum, Joseph/Pörksen, Bernhard: »Das Menschenbild der künstlichen Intelligenz«, in: Flessner, Bernd (Hg.): Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur, Freiburg 2000, S. 265-280.

2006-02-06 17-38-23 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 111-130) T02_01 kettner.p 107239496134

Keramos Anthropos | 131

Keramos Anthropos. Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese des Körperselbstbildes und dessen Störungen Benigna Gerisch

»Die halben Versuche zum Entleiben, die er indes fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst, es war weniger der Wunsch des Todes, für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tod; es war mehr in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen an’s Nichtsein grenzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz.« Georg Büchner: Lenz

Am Anfang war der Körper In der griechischen Wendung des »Keramos Anthropos« – dem tönernen Menschen oder: Der Mensch als tönernes Geschirr – klingen drei zentrale Dimensionen der überaus komplizierten und immer schon störanfälligen Menschwerdung und des Menschseins an: Sein Hervorgehen aus einem haltgebenden, bergenden »Gefäß«, dem Uterus, und seine mit dem »Trauma der Geburt«1 beginnende, fortan lebenslange Fragilität und Verwundbarkeit, die, wenn alles mehr oder weniger gut geht, in beglückender Beziehungsfähigkeit und schöpferisch-kreativen Leistungen ihren Ausdruck finden kann. Zugleich verweist diese spezifische Verletzlichkeit auf die 1 | Otto Rank: Das Trauma der Geburt, Wien 1924.

2006-02-06 17-38-24 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

132 | Benigna Gerisch Kehrseite des Tönernen, das immer schon mit der Gefahr einhergeht, durch minimal entgleiste Bewegungen Risse zu bekommen und schlimmstenfalls in tausend Stücke zu zerbersten. Um gut in die Welt zu kommen, um den Übergang vom Gehaltensein zur Selbsterhaltung des zerbrechlichen Körpers und der ihn beherbergenden Psyche zu schaffen, bedarf es, so scheint es, nur wenig, aber eben dieses Wenige erweist sich als so überaus irritierbar. Einmal in die unheimliche und unbekannte Welt geworfen, muss der Säugling nun vor allem selbst von seinem Körper Gebrauch machen: »[E]r muß wahrnehmen, atmen und essen«.2 Diese neuen, körperlichen Aktivitäten und Erfahrungen stürzen das Neugeborene nicht nur in einen reißenden Strudel von Affekten und Phantasien3, sondern das Kind ist von nun an einer irreversiblen Getrenntheit ausgesetzt und zugleich auf den Anderen und dessen psychischen Innenraum – als »Gefäß des namenlosen Schreckens«4 – angewiesen, der ihm hilft, mit diesen Affektüberschwemmungen fertig zu werden, und gleichsam eine Übersetzungshilfe des unsagbar Bedrohlichen leistet. Für gewöhnlich haben wir es im klinischen Alltag mit Menschen zu tun, deren In-die-Welt-Kommen von Anfang an auf die eine oder andere Weise, lautlos oder lärmend, verunglückt ist, und die nun nicht unerheblich angeschlagen sind, die Risse im Tönernen haben oder sich bereits ganz und gar zerbrochen fühlen. Was wir da an Lebens- und Leidensgeschichten zu hören und zu sehen bekommen, sprengt manchmal die menschliche Vorstellungskraft. Wenn etwa eine auf ihrem Gebiet geschätzte Wissenschaftlerin beschreibt, wie schrecklich es sei, dass niemand begreifen könne, wie es sich anfühle, nach einem Vortrag vom Podium zu steigen und zwanghaft getrieben sowie verfangen in ein unauflösbares sadomasochistisches Dilemma ein Pornokino aufsuchen zu müssen, um sich dort von einer ihr völlig fremden Internetbekanntschaft zusammenschlagen zu lassen. Oder wenn sich junge Frauen infolge sprachloser Verzweiflung mit einem Cutter die Arme und die Brüste zerschneiden. Zuweilen ist beim selbstverletzen-

2 | Jutta Gutwinski-Jeggle: »Netze und Gefäße zum Bergen von Abwesendem und Verlorenem – Gedanken zur Rolle der Sprache im Rahmen einer psychoanalytischen Theorie der Symbolbildung«, in: Hildegard Lahme-Gronostaj (Hg.): Symbolisierung und ihre Störungen, Bad Homburg 2002, hier S. 50. 3 | Lilli Gast: »Metamorphosen des Todestriebs bei Melanie Klein. Überlegungen zum Verhältnis von Phantasie, Geschlecht und Leiblichkeit«, in: Elfriede Löchel (Hg.): Aggression, Symbolisierung, Geschlecht, Göttingen 2000, S. 62-84. 4 | Klaus Heinrich: »Der Staub und das Denken. Zur Faszination der Sophokleischen Antigone nach dem Krieg«, in: Gisela Greve (Hg.): Sophokles. Antigone, Tübingen 2002, hier S. 48.

2006-02-06 17-38-24 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 133

den Verhalten ein trauriger Nachahmungseffekt nicht von der Hand zu weisen ist: So avancierte das »Schnippeln« in den letzten Jahren zum coolen Kult vieler ausgegrenzter, unbehauster, gestrauchelter Jugendlicher. Gleichwohl kann von einer Bagatellverletzung keine Rede mehr sein, angesichts zweier »in Obhut genommener« – so der prekäre juristische Terminus technicus – Jugendlicher im Kinder- und Jugendnotdienst, denen in Ermangelung eines inneren Halts und kultischer Embleme nichts mehr geblieben ist außer der erschütternden und kläglichen Rivalität um die Frage, wer von beiden den tieferen »Cut« aufzuweisen hat. Was hier anklingt, ist zweierlei: die zunehmende Häufung der nicht selten grausamen Selbstschädigung des Körpers, den es doch eigentlich zu erhalten gilt, und die Zwanghaftigkeit derartiger Sebstzerstörungspassionen, denen jegliche optionale, freie Handlungsmöglichkeit fehlt. Da diesen zerborstenen, sich selbst peinigenden Menschen vor allem ein Interpret ihrer frühen körpernahen Trieb- und Affektstürme, ihrer noch unbenennbaren Ängste und des Taumelns zwischen Deprivation und Überflutung gefehlt hat, können sie nicht anders, als eben diesen Mangel am Körper selbst auszuagieren, um das Unsichtbare zumindest sichtbar zu machen. Und in dieser Verfasstheit kommen sie dann zu uns, den professionellen »Übersetzern«, getrieben in der unbewussten Hoffnung, auf ein Gegenüber zu treffen, das ihnen hilft, jenes Unerklärliche mit Sinn zu versehen. Die psychoanalytische Verstehens- und Deutungsmethodik dient uns wiederum als das Instrumentarium, um einen Zugang zu den Paradoxien des animal rationale einschließlich des Gebotes der Selbsterhaltung und Selbstfürsorge zu finden. Nirgends wird eindringlicher als in Georg Büchners Novelle über den wahnsinnig gewordenen Dichter Lenz (1850) dieses innere und zugleich hochmoderne Drama von spannungsgeladener, intrapsychischer Überschwemmung einerseits und deprivierter Depersonalisation aufgrund des Fehlens hinreichend guter innerer Objekte andererseits aufgespannt. Panisch getrieben, so als sei ihm »der Wahnsinn auf Rossen hinterher«, hofft Lenz, in der ländlich-dörflichen Idylle und heimeligen Geborgenheit bei Pfarrer Oberlin sein Seelenheil zurückzufinden. In dem Maße aber, wie Lenz seine innere, bedrängende Objektlandschaft in die Welt hinein phantasiert, verwandeln sich die Berge, Täler und Wälder in eine verschlingende Weite und in Schreck erregende Ungeheuer, die ihn hinabzuziehen und zu verschlucken drohen. Keuchend und atemlos flieht er in die Enge seiner Stube unterm Dache, um dort jedoch von einer namenlosen Angst und Leere, »die mit nichts mehr auszufüllen war«, gepackt zu werden, und die ihn erneut ins Freie treibt und in den eiskalten Dorfbrunnen stürzen lässt: »Er konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten, er

2006-02-06 17-38-24 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

134 | Benigna Gerisch stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben.«5

Wir treffen hier auf das Skandalon, das uns im Folgenden beschäftigen soll, und zugleich auf eine zentrale und für das Verständnis von schweren Körperpathologien6 aufschlussreiche Formulierung. Gemeint ist das nur scheinbare Paradox, dass körperlicher Schmerz dazu angetan sein kann, identitätsfigurierend zu wirken, weil er einem »das Bewusstsein wiedergibt«. Dieses Paradox kann gesteigert werden, bis gar die totale Selbstauslöschung als die Möglichkeit phantasiert wird, sich wieder selbst zu gehören, wie es am radikalsten von Jean Améry formuliert worden ist.7

1. »The world matters«: Der Körper im Spannungsfeld von Trieb-, Kultur- und Objektbeziehungstheorie Die Begründung der Psychoanalyse selbst ist untrennbar mit dem Körper, genauer: mit den »proteusartigen Verwandlungskünsten«8 des hysterischen Körpers verbunden. Während Sigmund Freud die konvulsivischen Inszenierungen der Hysterikerinnen und ihre organisch nicht begründbare Körpersymptomatik zunächst ätiopathogenetisch als Ausdruck verdrängter realer infantiler Sexualtraumen deutete, verwarf er diese »Verführungstheorie« wenig später, als er erkennen musste, dass vielmehr phantasierte Sexualszenen und verbotene, sexuell getönte, triebhafte Sehnsüchte und insbesondere ödipale Wünsche am Zustandekommen der eigentümlichen hysterischen Symptomatik beteiligt waren. Indem er nun konstatierte, dass die psychische neben der materiellen Realität gewürdigt werden müsse, da sie nicht minder pathogen wirken könne, verstand er das Symptom als symbo5 | Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1980, hier S. 71. Siehe dazu auch Benigna Gerisch: »›Auch ich war in Arkadien‹. Der traumatische Einbruch in den idyllischen Raum«, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 4/2002, S. 343-370. 6 | Nur zur Vereinfachung werde ich im Folgenden den definitorisch unscharfen, gar missverständlichen Begriff »Körperpathologien« verwenden. Im Unterschied zur rein somatischen Organerkrankung ist eine psychodynamische Konzeptualisierung gemeint, mit der davon ausgegangen wird, dass mit, am und durch den Körper – der mehr oder minder beschädigt und zuweilen auch in der Folge organisch krank sein kann – eine zumeist unbewusste, multideterminierte intrapsychische Konfliktdynamik ausagiert wird. 7 | Jean Améry: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1983. 8 | Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, München 1980.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 135

lische Chiffre eines durch die kulturelle Sexualmoral seiner Zeit geprägten intrapsychischen Konfliktes.9 Ausgehend von der klassischen Konversionshysterie sollte fortan dieser »rätselhafte Sprung vom Seelischen ins Somatische« und vice versa, der sich um die bis heute ungelöste Kernfrage des Leib-Seele-Problems zentriert, die Herausforderung für die Psychoanalyse sein. Gleichwohl hat die Psychoanalyse seit jeher ein diffiziles Verhältnis zum Körper, bewegte sie sich doch mit der Triebtheorie stets im Zwischenreich von Biologismus einerseits und einem impliziten Paradigma von Intersubjektivität andererseits, in dem der Trieb als intrapsychische Repräsentanz – die unabhängig vom psychischen Vermögen zur Symbolbildung, die der Interaktion mit einem Anderen bedarf, nicht vorstellbar ist – einer somatischen Reizquelle verstanden wird. Zwar ist der Körper in der psychoanalytischen Metapsychologie der psychischen Instanzen nie verankert worden, aber in Freuds Arbeit Das Ich und das Es (1923), in der er zu der viel zitierten Formulierung: »Das Ich ist vor allem [sinngebender wäre: zu Anfang, B.G.] ein körperliches« gelangt, scheinen zwei, auch für die aktuellen klinischen Konzeptualisierungen zentrale Aspekte auf: Freud postuliert zum einen, dass die Differenzierung zwischen dem rudimentären Ich und dem Körper aus einer undifferenzierten und unlustvollen Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Reaktionen resultiert. Zum anderen behauptet er, dass der Körper sich aus dieser schmerzhaft konnotierten Wahrnehmungswelt als ein anderes Objekt heraushebt.10 Befragt man die Texte Freuds insgesamt nach deren impliziter und expliziter Genese des Körperselbstbildes und dessen Identitätsformierungen, so kommt man nicht umhin, ohne in den feministischen Kanon des Freudbashing einstimmen zu wollen, einen wesentlichen, wenn nicht den zentralen Aspekt der Geschlechterdifferenz in den Vordergrund zu rücken. Gewiss postuliert Freud nicht, dass Frauen einen männlichen Körper haben sollten, aber dieser erweist sich im Kontext des Phallozentrismus als dem weiblichen doch eindeutig überlegen, was in Freuds fatalistischem Credo gipfelt: »Die Anatomie ist das Schicksal.«11

9 | Sigmund Freud: Die Abwehr-Neuropsychosen, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 59-80; ders.: Zur Ätiologie der Hysterie, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 423-459. 10 | Sigmund Freud: Das Ich und das Es, Gesammelte Werke, Bd. 13, hier S. 253f. Der italienische Analytiker Eugenio Gaddini baute auf diesem zentralen Gedanken Freuds sein späteres Werk auf. Vgl. ders.: ›Das Ich ist vor allem ein körperliches‹. Beiträge zur Psychoanalyse der ersten Strukturen, Tübingen 1998. 11 | Sigmund Freud: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, Gesammelte Werke, Bd. 8, hier S. 90.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

136 | Benigna Gerisch Im Kontext des »phallischen sexuellen Monismus«12 lässt sich die Kernaussage der Freudschen Weiblichkeitstheorie und ihrer immanenten Körperselbstbildgenese dahingehend zusammenfassen, dass die Ausbildung defizitärer intrapsychischer Strukturen (mangelnde Über-Ich-Bildung und Sublimierungsfähigkeit), spezifischer Charaktereigenschaften (Tendenz zur Aggressionsumkehr, eingeschränkte Liebesfähigkeit, sexuelle Anästhesie) und Verhaltensweisen (Objektabhängigkeit und -anklammerung) invariante und ubiquitäre Faktoren der weiblichen Entwicklung sind und auf den Versuch der Frau zurückgeführt werden müssen, Zeit ihres Lebens mit ihrer anatomischen Mangelausstattung fertig zu werden bzw. diese zu überwinden oder bestenfalls zu verbergen. So antiquiert diese Denkfigur der Kompensation des Genitaldefektes heute auch erscheinen mag, klingt darin doch etwas an, was in der Psychodynamik weiblicher Körperpathologien tatsächlich auffindbar ist, sich in den Körper gleichsam eingeschrieben hat: die (unbewusste) Identifikation der Frau mit dem Topos des Genitaldefektes, die kompensatorisch als körperfixierte narzisstische Eitelkeit imponiert und eine ausgeprägtere, konfliktträchtige Objektbezogenheit und -abhängigkeit induziert.13 Als Freud im selben Jahr seiner Entwürfe zur Geschlechterdifferenz eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert (1923) rekonstruierte, meinte er, wir dürften »nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zeit im dämonologischen Gewande auftreten, während die der unpsychologischen Jetztzeit im hypochondrischen, als organische Krankheit verkleidet, erscheinen«.14 Freud lenkte also seinen Blick hier bereits auf ein auch in den letzten Jahrzehnten in der Psychoanalyse vielfach diskutiertes Phänomen, wie und in welcher Weise die phantasmatischen Verformungen der inneren Realität, artikuliert als Symptome, durch die äußere Realität – und vice versa – konfiguriert werden.15 Gegenwärtig besteht kein Zweifel daran, dass sich in der Ausgestaltung der individuellen Neurose und ihrer je spezifischen Symptomwahl, also bei der Vernetzung von »Intimität und sozialem Leid«16, stets Spuren epo12 | Sigmund Freud: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds, Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 17-30. 13 | Benigna Gerisch: Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität – Eine kritische Analyse, Tübingen 1998. 14 | Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, Gesammelte Werke, Bd. 13, hier S. 317. 15 | Vgl. Reimut Reiche: »Haben frühe Störungen zugenommen?«, in: Psyche, 12/1991, S. 1045-1066. 16 | Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1984.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 137

chengeprägter, soziokultureller Prozesse auffinden lassen. Und damit im Übrigen – von der Antike bis zur Gegenwart – immer auch Setzungen über die Differenz der Geschlechter und der Körper.17 Während die psychopathologischen Ausformungen im Mittelalter von Inkarnationen des Bösen, wie dem Teufel oder der Hexe, präfiguriert waren, so sind gegenwärtig vor allem paranoide Verfolgungsängste projiziert in das und gespeist aus dem Internet vorzufinden. Aus der Syphilishysterie der Jahrhundertwende sind in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts konkrete und paranoid gefärbte Aidsphantasmen und aktuell zunehmend zum Teil schwere Körperpathologien geworden, d.h. intrapsychische Konflikte, die im, am und mit dem Körper ausagiert werden. »Es wäre nicht schwer gewesen«, schreibt Freud in der Teufelsneurose, »in den Geschichten dieser Kranken [früherer Jahrhunderte, B.G.] die Inhalte der Neurose wiederzufinden, wenn man ihnen damals mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.«18 Was aber finden wir heute in welchem Gewand? Wenn man einmal von der Frage absieht, ob es tatsächlich eine Veränderung der primären seelischen Struktur oder nicht vielmehr eine Veränderung des diagnostischen Instrumentariums gegeben hat19, so ist unübersehbar, dass der Mensch heute weniger unter einer lustfeindlichen Sexualmoral, sondern unter diffusen Identitätszerklüftungen leidet. Während sich die klassische Hysterie nur mehr in ost- und südeuropäischen Regionen finden lässt, so leidet der zur Flexibilität genötigte Mensch der Postmoderne vor allem unter verhüllten oder konkreten Zukunftsängsten, Orientierungslosigkeit und Fragmentierung. Das viel beschworene Ideal von Machbarkeit und Freiheit des modernen Kapitalismus wurde zum Fluch von Entregelung, Enthemmung und Entgrenzung, und das globale Gefühl der Entwurzelung hat offenbar auch zentrale Auswirkungen auf das Körperselbsterleben. Während wir einerseits, wie selten zuvor, über ungeahnte technisierte Körperperfektionierungsmaßnahmen verfügen, die das regressive Phantasma der Realitätsverleugnung bedienen, so ist andererseits der Körper in einer unüberschaubar und bedrohlich gewordenen Welt offenbar zum einzig verlässlichen und verfügbaren Objekt geworden: »Mein Körper jedenfalls verlässt mich nie, mit dem kann ich machen, was ich will«, so die trotzig-selbsttröstende Bemerkung einer 16-Jährigen, die ihren Körper, nachdem sie von ihrem Freund verlassen worden war, mit einem Teppichmesser grausam zugerichtet hatte. Das basale Gefühl der Unsicherheit und Fragmentierung scheint den 17 | Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. 1992. 18 | Freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, S. 317. 19 | Vgl. Reiche: »Haben frühe Störungen zugenommen?«.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

138 | Benigna Gerisch Körper als Agierfeld realer und zugleich immer schon intrapsychisch verwandelter Ängste deshalb so attraktiv werden zu lassen, weil er bzw. die Haut wie kein anderes Organ das Innen vom Außen scheidet und das Selbst begrenzt wie auch zusammenhält. Das fragmentierte Selbsterleben korrespondiert mit einem beunruhigenden Körpererleben, das umgangssprachlich Eingang gefunden hat in Formulierungen wie: »Ich stecke nicht in meiner Haut«, »fühle mich in ihr nicht wohl«, »kann aus ihr nicht heraus« etc. Körpermanipulationen gleich welcher Art, ob durch Fitness oder blutige Selbstbeschädigung, tragen dann dazu bei, sich selbst wieder konturiert, begrenzt und lebendig zu fühlen, und nähren die Illusion, angesichts von außen oder innen kommender identitätsauflösender Bedrohungen wieder Herr im eigenen Körper zu sein. Nur auf dieser Basis – ausgehend von der Hypothese, dass die Integration des Körpers bzw. des Körperselbstbildes eine störanfällige Entwicklungsherausforderung bedeutet, die, wenn sie missglückt, zu einer Dissoziation von Körper und Selbst führen kann – ist das klinisch evidente Phänomen zu verstehen, dass Selbstzerstörung – im Sinne der Desintegrationsabwehr – der Selbstfürsorge dienen kann. Der Körper als Objekt des gegenwärtigen Schönheitswahns, als Objekt destruktiven Agierens oder entsprechender Phantasien scheint auf der Matrix von psychischen Traumatisierungen im soziokulturellen Kontext von Enttraditionalisierung und Individualisierung die Artikulationsweise der modernen Identitätskrankheit zu sein. Schon Anna O., Josef Breuers und Freuds berühmte Hysteriepatientin, bezeichnete ihre hysterische Symptomatik als »Privattheater«, und auch heute wird gern von der »Leib-Bühne« gesprochen, auf der zuweilen ein dramatisch aufgeladenes Zweipersonenstück als Ausdruck soziokulturell geprägter, internalisierter Objektbeziehungserfahrungen zur Aufführung gebracht wird: mit dem Protagonisten Körper und dem Antagonisten Selbst oder aber vice versa. Wollte man so weit gehen, den basalen Zustand der »postmodernen Persönlichkeit« als depersonalisiert – fremd sich selbst gegenüber und fremd im eigenen Körper – zu beschreiben, so nimmt es nicht wunder, dass Körpermanipulationen die Mittel der Wahl sind, um im Dienste der Selbsterhaltung dem unerträglichen Fragmentierungserleben entgegen zu wirken und es zugleich sichtbar zu machen. Diese lebensrettende Maßnahme, gleich einer Kompromissbildung, hinterlässt im Körper, mit Freud gesprochen, ein Erinnerungssymbol, das zum Ausdruck bringt, was es zu verbergen sucht. Während Thomas Szasz20 noch 1955 beklagte, dass der Körper keinen 20 | Thomas Szasz: »The ego, the body, and pain«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association, 3/1955, S. 177-200.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 139

Platz in der Metapsychologie der Psychoanalyse habe, so mag ihm heute nur noch bedingt Recht zu geben sein, denn die psychodynamischen, gleichwohl unsystematischen Konzeptualisierungen des Körpers und seiner Störungen haben unter dem Druck der empirisch belegbaren gewaltigen Zunahme von komplexen und vielschichtig determinierten Körperpathologien in den letzten 15 Jahren eine beachtliche Renaissance innerhalb der Psychoanalyse erfahren. Das Problem stellt sich daher anders dar: Der gegenwärtige Stand der Psychoanalyse ist von einem kaum mehr überschaubaren theoretischen und behandlungstechnischen Pluralismus geprägt, und wir verfügen inzwischen über so viel akkumuliertes psychoanalytisches Wissen, dass sich längst keine für alle Schulen verbindliche Metapsychologie mehr ausmachen lässt. Die damit untrennbar verkoppelte und nicht nur für Laien verstörende Sprachverwirrung brachte der modernen Psychoanalyse unlängst den Vergleich mit dem Turmbau zu Babel ein. Eine konsensuelle Antwort auf die Frage der Genese des Körperselbstbildes und der Ätiopathogenese von Körperpathologien ist daher nicht mehr möglich. Kursorisch lässt sich jedoch festhalten, dass es, in Abgrenzung zur traditionellen medizinsch-psychiatrischen und neurobiologischen Sichtweise, in der Psychoanalyse keine isolierte, normative Betrachtung des Körpers gibt. Nicht der Körper ist Gegenstand der Psychoanalyse, sondern die Bedeutung, die er annehmen kann. In der Tradition Freuds werden psychopathologische Verformungen des Körpers als Ausdruck intrapsychischer Konfliktlösungen verstanden und möglichst exakt – je nach psychoanalytischer Schulrichtung im Hinblick auf die Struktur, die intra- und interpersonelle Dynamik etc. – erfasst. In dem Maße, wie sich die Psychoanalyse von der Triebtheorie zu einer Beziehungspsychologie entwickelt hat, wird die Formierung des Körperbildes nicht mehr losgelöst von Selbstwerdungs-, Identitäts- und Interaktionsprozessen und diese insbesondere in ihrer Reaktualisierung im analytischen Geschehen betrachtet. Entsprechend wird der Körper heute in seinen Erscheinungs- und Ausdrucksformen als Funktion in Beziehungen bzw. werden Körpersymptome und -reaktionen als Niederschläge zumeist unbewusster, intrapsychischer Beziehungserfahrungen angesehen. Das heißt, dass in der modernen Psychoanalyse das herkömmliche Primat der Körpererfahrung durch das Primat der primären Intersubjektivität der Körpererfahrung entscheidend erweitert wurde.21 Demnach hat der aktuelle Diskurs der Psychoanalyse – gleichsam quer zu den Machbarkeits- und Effizienzforderungen eines funktionalistischen Gesundheitssystems – auch eine grundlegende Veränderung des Krank21 | Vgl. Mathias Hirsch (Hg.): Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens, Berlin, Heidelberg, New York 1989; ders.: Der eigene Körper als Symbol. Der Körper in der Psychoanalyse von heute, Gießen 2003.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

140 | Benigna Gerisch heitsbegriffes und der Entwicklungsziele der analytischen Kur hervorgebracht. Im Zuge der radikalen Wende vom intrapsychischen hin zum gleichwohl unterschiedlich definierten intersubjektiven Paradigma, das sich vor allem in der Mikroanalyse des Geschehens zwischen Analytiker und Analysand, sprich des Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesses, manifestiert, wird nicht mehr von Entwicklungszielen der Analyse oder des Analysanden – ursprünglich verdichtet in Freuds Trias: arbeitsfähig, liebesfähig, symptomfrei –, sondern konsequent von einem intersubjektiven Ziel gesprochen, und zwar dem Ziel des Zustandekommens einer analytischen Beziehung. Für die Einleitung der Behandlung sind nicht mehr die Anoder Abwesenheit von Symptomen, die Persönlichkeitsstruktur, das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung oder die von Patient und Analytiker einvernehmliche Einschätzung der Problematik maßgeblich, sondern richtungsweisend ist die Frage, ob eine analytische Beziehung möglich ist oder nicht. Die postmoderne psychoanalytische Krankheitslehre sucht also nicht mehr nach den nosologischen Einheiten, sondern bewegt sich zunehmend weg von der Leitdifferenz gesund/neurotisch hin zu der Leitdifferenz zurAnalyse-bereit/nicht-bereit, d.h. zu der Frage: Entsteht ein psychoanalytischer Prozess oder nicht? Reimut Reiche spricht vom Reflexivwerden der Neurose und pointiert damit die Relevanz der Emergenz des Dritten im analytischen Prozess: »Unser Krankheitsbegriff wird selbstreferentiell. Zum dominanten Kriterium wird jetzt: Können ich und der Andere etwas Drittes zum Werden bringen? Kommt es dadurch, dass sich ich und der Andere der Methode unterwerfen, zu einem Neuen? Das verstehe ich unter Werden des Subjekts.«22

2. Zur Genese des Körperselbstbildes Überblickt man den Diskurs der letzten 20 Jahre zur Thematik des Körperselbstbildes, so wird dessen Entstehung nie losgelöst von der Identitätsentwicklung und der Genese der Geschlechtsidentität betrachtet. In der traditionellen Sichtweise wird von der entwicklungsphasenabhängigen Genese einer mehr oder minder gesicherten Identität ausgegangen, die von soziokulturellen, physischen, psychischen, kognitiven, intrapsychischen und intersubjektiven Prozessen determiniert wird. Angeregt durch die postkleinianischen Konzeptualisierungen jedoch, erfuhr das als statisch kritisierte 22 | Reimut Reiche: »Subjekt, Patient, Außenwelt«, in: Ursula Ostendorf/Holger Peters (Hg.): Vom Werden des Subjekts, Bad Homburg 1998, hier S. 68.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 141

traditionelle Identitätskonzept eine wesentliche Neuformulierung. Dort ist nun vom »Narrativ des Selbst«, vom »Verschwinden des Subjekts« und seiner Dezentrierung die Rede, d.h. davon, dass die Vorstellung eines einheitlichen Selbst und eines integrierten Körperbildes eine Illusion sei. In Konkurrenz zur herkömmlichen Konzeptualisierung, die durchaus noch ihre Vertreter hat, wird Identität hier nicht mehr als eine einmal erworbene, kohärente Struktur verstanden, sondern sie ist eine flexible, hochkomplexe, sich psychisch fließend und prozesshaft entwickelnde Konstruktion, die im intrapsychisch geprägten interpersonellen Austausch zwischen zwei oder mehreren Subjekten immer wieder neu geschaffen und konstituiert wird.23 Im Folgenden kann ich aufgrund der Flut an Konzeptualisierungen nur sehr kursorisch die wesentlichen, zum Teil stark divergierenden Hypothesen zur Genese des Körperselbstbildes zusammenfassen, deren primärer und gemeinsamer Kern jedoch in der Annahme einer psycho-physischen Integrationsleistung des Individuums liegt: 1. Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass der Säugling sich nicht von Anfang an als körperliche Einheit erlebt, sondern dass er seinen Körper ursprünglich als in all seinen Gliedern fragmentiert und als außerhalb seiner Selbst existierend wahrnimmt. Der Körper (in seinen Einzelteilen) ist somit das erste Objekt, das zunächst vor allem als Quelle von Dysphorie und Unwohlsein wahrgenommen wird, wenn nämlich die innere Homöostase durch Hunger, Kälte oder andere Missempfindungen gestört ist. Eine erste psychische Reifeaufgabe besteht darin, die Partialobjekte in ein Ganzes zu integrieren und den Körper allmählich als zu sich selbst gehörig zu erleben. In diesem Prozess kommt der Haut als Wahrnehmungs- und Begrenzungsorgan zwischen Innen und Außen eine besondere Rolle zu, und der Prozess vollzieht sich von der rein zönästhetischen Wahrnehmung – der Körper wird als ganzes Selbst erlebt – hin zur diakritischen Wahrnehmung, in der der Körper als Selbst und als Objekt erlebt wird. Diese Hypothesen entsprechen auch den neueren Erkenntnissen zur neurophysiologischen Repräsentation des Körpers. Hiernach gibt es im Gehirn kein einheitliches Areal, an dem unabhängig vom jeweiligen »Verwendungszweck« das Körperschema gespeichert ist. Vielmehr findet sich ein Mosaik getrennter, aber untereinander verbundener Areale, die einzelne Körperbewegungen und Körperwahrnehmungen repräsentieren.24 23 | Werner Bohleber: »Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität – Identität und die moderne Dezentrierung des Subjekts«, in: Ostendorf/Peters: Vom Werden des Subjekts, S. 22-44. 24 | Ada Borkenhagen/Burghard F. Klapp: »Das Körper-Grid als qualitativ-

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

142 | Benigna Gerisch 2. Über alle Schulgrenzen hinweg besteht Einigkeit darin, dass dieser Integrationsprozess sich immer schon intersubjektiv vollzieht; d.h. die Frage, ob diese Integrationsleistung gelingt, hängt maßgeblich von der empathischen, verstehenden, haltgebenden (»containing-function«) und versorgenden Interaktion zwischen Säugling und Mutterobjekt ab. 3. In der kindlichen Entwicklung sind folglich nicht nur die Befriedigung der elementaren Triebbedürfnisse relevant, sondern auch die Erfahrung einer ganzheitlichen Resonanz auf die Gesamtheit des Kindes. Dabei ist der visuelle Kontakt von eminenter Bedeutung. Um ein sicheres, kohärentes Bild seiner selbst und – damit eng verbunden – ein kohärentes Körperbild sowie ein Gefühl persönlicher Identität entwickeln zu können, bedarf ein Kind von Geburt an der Erfahrung einer ausreichenden Spiegelung und empathischen Antwort auf sein Dasein und Sosein durch die Mutter, und zwar in einem ständigen, für beide Teile befriedigenden Dialog. 4. Darüber hinaus leitet diese existenzielle Basis den Aufbau integrierter und kohärenter Selbst-, Körper- und Objektrepräsentanzen ein und verhilft dem Kind später dazu, reale Trennungen vom zumeist mütterlichen Objekt zu meistern und sich selbst hinreichend über Raum und Zeit hinweg existent zu fühlen. Fehlt der vielfach zitierte, die Existenz sichernde »Glanz im Auge der Mutter«25 und werden diese frühen Entwicklungsschritte traumatisch gestört oder durch die Abwesenheit der Mutter verhindert, so reflektiert ihr Blick (wie entspiegeltes Glas) gar nichts. Das induziert später ein permanentes Angewiesensein auf ein reales äußeres Objekt, um dem konstant drohenden Gefühl der psychischen Vernichtung und Fragmentierung entgegenzuwirken. In diesem Sinne beginnt die Körper-, Selbst- und Objektrepräsentanz im Anderen. 5. Abgesehen von der Bindungstheorie und der empirischen Säuglingsforschung, deren Thesen sich im Stichwort des »kompetenten Säuglings« verdichten lassen, wird insbesondere in den kleinianischen und postkleinianischen Theorien davon ausgegangen, dass in diesem frühen Stadium, der so genannten paranoid-schizoiden Position, die psychischen Entwicklungen und Erfahrungen im Wesentlichen durch quantitatives und gendersensitives Instrument zur Erhebung der zentralen kognitiv semantischen Körpererlebensprofile und der Struktur der Körperselbstrepräsentanz bei bulimischen Patientinnen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen«, auf: http://www.uni-leipzig.de/~medpsy/pdf/ab_koerperbild.pdf (Stand: 30. Oktober 2005). 25 | Heinz Kohut: »Formen und Umformungen des Narzißmus«, in: Psyche, 8/1966, S. 561-587.

2006-02-06 17-38-25 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 143

Spaltungsprozesse (in gut/böse, lustvoll/unlustvoll), einschließlich der Projektion und projektiven Identifikation, strukturiert und codiert werden. Es wird angenommen, dass der heranwachsende Säugling die Vorgänge in seinem Körperinneren und in anderen Körpern – etwa dem der Mutter – mit intensiven, unbewussten Phantasien ausstattet, die im Sinne einer Verbildlichung bzw. Objektivierung von Körpergeschehnissen zu verstehen sind und ihren Niederschlag in inneren Objekten finden. Das Erreichen der depressiven Position geht einher mit der Befähigung zur Dankbarkeit und Wiedergutmachung sowie der Eröffnung eines psychischen Raumes, in dem Trennung und die Anerkennung des Anderen als getrenntes Objekt ertragen werden können. Damit wird aber kein Entwicklungskontinuum behauptet. Vielmehr erscheinen Subjektwerdung und Identitätsbildung im Oszillieren zwischen beiden Positionen und der fortwährenden Anfälligkeit für Spaltungen, Projektionen und projektiven Identifikationen, mit denen sich das Selbst in die Welt der Objekte verstreut, als ein lebenslanges, überaus störanfälliges Projekt. 6. Während dem Körper in der Latenz im Alter von etwa sieben bis zehn Jahren eine eher untergeordnete Rolle zukommt, aktualisieren sich die präödipalen und ödipalen, insbesondere die unbewältigten Konflikte noch einmal mit aller Heftigkeit im Zuge der physiologischen Reifung der Pubertät. Die Adoleszenz markiert eine zentrale und schmerzhafte lebensgeschichtliche Entwicklungsphase und -krise und wird insbesondere unter dem Aspekt der Aneignung einer gesicherten Geschlechtsidentität beleuchtet, die zunächst mit der beunruhigenden, psychisch und physisch bedeutsamen Wahrnehmung morphologischer Umwälzungen einhergeht und mit Konfusions- und Depersonalisationszuständen verbunden sein kann. Die Beobachtung, dass sich insbesondere Körperpathologien wie Essstörungen und Suizidalität etc., aber auch Dissozialität und Drogenkonsum in spezifischer Weise erst in der Adoleszenz manifestieren, während dieselben symptomatologischen Ausformungen in der Kindheit eher eine Ausnahme bilden, hat die Autoren Moses Laufer und M. Eglé Laufer zu der These veranlasst, dass die Psychopathologien der Adoleszenz in einem spezifischen wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Konsolidierung des Körperbildes, der endgültigen geschlechtlichen Differenzierung und der Auflösung des Ödipuskomplexes stehen.26

26 | Moses Laufer/M. Eglé Laufer: Adoleszenz und Entwicklungskrise, Stuttgart 1994.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

144 | Benigna Gerisch

3. Zur Genese von Körperpathologien: Der eigene Körper als Objekt Wie eingangs angedeutet, ist es bemerkenswert, dass es, konträr zur manipulativen Körpermodellierung gleich welcher Art – die letztlich aber alles Maßnahmen sind, die darauf abzielen, den Körper anders erscheinen zu lassen, als er ist, ihn zu kontrollieren oder im Dienste unbewusster Konflikte zu funktionalisieren –, eine unbestrittene Evidenz und Häufung von Körperpathologien gibt, die sich auf einem Kontinuum von leicht bis hin zu schwer pathologisch ansiedeln lassen. Hierzu zählen insbesondere das offene und verdeckte selbstverletzende Verhalten, Essstörungen und Suizidversuche. Psychoanalytisch betrachtet unterscheiden sich diese Symptomatologien je nachdem, ob der Körper nur in der Phantasie als Objekt verwendet wird, wie bei der Hypochondrie und den Depersonalisationsphänomenen, oder ob es zur konkreten Objektverwendung kommt, wie bei den Psychosomatosen, insbesondere den Essstörungen (Anorexie, Bulimie, Adipositas), beim selbstverletzenden Verhalten und der Suizidalität. In diesem Kontext ist es von zentraler, aber bislang vernachlässigter Bedeutung, dass in der Mehrzahl Frauen von diesen Symptomen betroffen sind. Während Männer ihr wie auch immer narzisstisch geschädigtes Selbst eher durch Risiko- und Hochleistungssportarten sowie durch Alkohol- und LifeStyle-Drogenkonsum zu reparieren versuchen, überwiegt, epidemiologisch betrachtet, im Kontinuum von Schönheitsmaßnahmen unterschiedlichster Art (Fitness, dekorative Kosmetik, operative Schönheitseingriffe, Piercing, Diäten etc.) bis hin zu autodestruktiven Körperpathologien signifikant der Anteil der Frauen. Dazu einige empirische Anhaltspunkte: 1. Die Suizidversuchsrate von Frauen ist doppelt so hoch wie die der Männer. Dies gilt insbesondere für den Vergleich von weiblichen und männlichen Jugendlichen. Hier wird von einem Verhältnis von 30:1 ausgegangen. 2. Deutlich mehr Mädchen und Frauen als Männer neigen zu selbstverletzendem Verhalten; üblicherweise wird hier ein Verhältnis von 3:1 bzw. sogar 5:1 angenommen. 3. Deutlich mehr junge Mädchen und Frauen leiden an schweren Störungen des Körperselbstbildes sowie an Ess- und Gewichtsstörungen (Bulimie, Anorexie, Adipositas). 4. Deutlich mehr Frauen als Männer klagen über diffuse körperliche Beschwerden und psychovegetative Irritationen wie Schwindel, Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen etc.27 27 | Überdies erhalten Frauen etwa 30 Prozent mehr ärztliche Versorgung. Bei

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 145

5. Die jährlich rund 135.000 Schönheitsoperationen (in Deutschland) werden noch immer zu 80 Prozent an Frauen vorgenommen. 6. Zahlreiche Untersuchungen weisen überdies daraufhin, dass Patientinnen der ästhetischen Chirurgie überdurchschnittlich häufig – im Vergleich zur Normalbevölkerung – unter psychischen Problemen (Körperbildstörungen, körperdysmorphen Störungen, Störungen des Selbstwertgefühls, starren Geschlechtsrollenidentifizierungen etc.) leiden. Bevor ich mich der Geschlechtsgebundenheit von Körperpathologien aus einer dezidiert psychoanalytischen Perspektive zuwende (vgl. Abschnitt 5), will ich zuvor, nur sehr verkürzt, die wesentlichen, generalisierbaren Ergebnisse zusammenfassen, ohne dabei auf die spezifische Psychodynamik der jeweiligen Pathologie eingehen zu können. Fast übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass alle Körperpathologien ihren Ursprung in der frühesten Entwicklungsphase des fragilen Körper-Selbst-Erlebens haben und es durch mehr oder minder stark ausgeprägte traumatische Einwirkungen und/oder chronische »dialogische Entgleisungen« zu einer Fixierung von und/oder der Tendenz zu Spaltungsprozessen kommt. Die dadurch induzierte missglückte Integration von Körper-, Selbst- und Objektrepräsentanzen begünstigt es, dass der Körper fortgesetzt als Objekt erlebt und zum Austragungsort intrapsychischer Konflikte oder – gemäß der kleinianischen Theorie – innerer Objekte wird. Meine These ist überdies, dass sich in Körperpathologien ein zentraler Kernkonflikt der Subjektwerdung verdichtet und an ihnen evident wird, der sich ein Leben lang um Fusions- und Abgrenzungswünsche, um das Oszillieren zwischen der paranoid-schizoiden und depressiven Position, um Integration und Desintegration, letztlich also um die Nähe-Distanz-Regulation zentriert. Chronische psychische Beschädigungen, in welcher Form auch immer, müssen jedoch nicht zwingend klinisch manifest werden, sofern und solange sie durch ein mehr oder minder starres Abwehrkorsett gehalten werden. Versagen aber die herkömmlichen Abwehrmechanismen, die helfen sollen, mit einer auslösenden Konfliktsituation fertig zu werden, der Medikamentenverschreibung beträgt der Unterschied zwischen dem 19. und 34. Lebensjahr 128 Prozent. Frauen werden insgesamt häufiger als Männer psychosomatisch krank und depressiv diagnostiziert, und ihnen werden ungleich häufiger, auch bei leichten psychovegetativen Irritationen, Psychopharmaka verschrieben. Indes sind die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von erwerbstätigen Frauen und Männern etwa gleich häufig. Vgl. Ingrid Olbricht: »Frauen sind häufiger psychosomatisch krank – warum eigentlich?«, in: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 35/1990, S. 111-120.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

146 | Benigna Gerisch dann werden spezifische Regressionsmechanismen in Gang gesetzt – insbesondere Projektions- und Spaltungsprozesse –, die zu einer Dissoziation von psychischem und Körperselbst oder zu konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Selbstanteilen führen können. In der Regel verdichten sich diese Prozesse zu einem Kernkonflikt zwischen Fusionsund Abgrenzungswünschen, die gleichsam auf die Körperbühne verschoben werden bzw. aus ihr bereits hervorgegangen sind. Dem Körper als Schauplatz einer intrapsychischen Dramatik scheint eine multideterminierte, immer aber auch kompensatorische und stabilisierende Bedeutung beizukommen, so dass, nur vermeintlich paradox, Selbstbeschädigung der Selbstfürsorge dienen kann, um einer totalen Desintegration des Individuums entgegen zu wirken.

4. Körpersymptome als Ausdruck von Symbolisierungsstörungen Angeregt durch die kleinianischen und postkleinianischen Konzeptualisierungen sowie durch Wilfred R. Bions Theorie des Denkens28 werden gegenwärtig die Integration des Körperselbstbildes einschließlich der primären, intersubjektiv geprägten Körpererfahrungen, die Genese der Subjektwerdung sowie psychische Störungen jedweder Art im Kontext der theoretisch und klinisch gleichwohl sehr unterschiedlich konzeptualisierten Mentalisierungs-, Repräsentations- und Symbolisierungsprozesse interpretiert.29 Ein zentraler Fokus ist dabei der Schritt von der körperlich sensomotorisch-geistigen Interaktion über das vorsprachliche Präsymbol hin zum hoch strukturierten, sprachlichen Symbol. Dabei geht es um die Untersuchung eines Prozesses, an dessen Anfang das körperliche Ich des Säuglings und Kleinkindes mit dem wenig gestalteten Rohmaterial somatischer Phänomene steht und an dessen Ende das Symbol als hoch differenzierte innere Repräsentation in emotional reifer, empathisch vermittelter, sprachlich kommunizierbarer Begrifflichkeit als Ausdruck der spezifisch menschlichen Beziehungsform verfügbar ist.30 Theoretisch wie klinisch ist von Bedeutung, ob es dem Heranwachsenden in seiner psychischen Entwicklung 28 | Wilfred R. Bion: Lernen aus Erfahrung, Frankfurt/M. 1962. 29 | Vgl. Lahme-Gronostaj: Symbolisierung und ihre Störungen; Christel BöhmeBloem: »Das Ergriffene im Begriff. Gedanken zum Symbolisierungsprozess«, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 4/2002, S. 371-392; dies.: »›Der Mensch ist, was er isst‹. Ess-Störungen als Ausdruck gestörter Identität und mangelnder Symbolbildung«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Symbol, S. 93-146. 30 | Böhme-Bloem: »Das Ergriffene im Begriff«, S. 371.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 147

gelingen konnte, Gefühle und Affekte zu »denken« und damit sprachlich zu bezeichnen, oder ob diese auf einem vorsprachlichen Niveau stagnieren, auf dem Gefühlszustände nur als diffuses Körpererleben wahrnehmbar sind, so dass zum Teil heftige Affekte weder gespürt noch benannt werden können, sondern unmittelbar in den Körper abgeführt werden müssen. Ganz gleich, ob man nun auf die Theorie Bions, auf die der modernen Semiotik oder aber die der Psychoanalyse schaut, entscheidend ist, dass in all diesen Theorien die Befähigung zum Denken, zur Metaphorisierung und zur Symbolisierung im Kontext triangulärer und somit auch interpersoneller Strukturen konzeptualisiert wird.31 Während Charles S. Pierce von der triangulären Struktur des Zeichens – Signifikanten, Signifikat, Interpretanten – spricht, wird im psychoanalytischen Verständnis der trianguläre Raum und die damit einhergehende mentale und psychische Reifemöglichkeit des Kindes durch die drei Personen der ödipalen Situation und ihrer Beziehung untereinander gebildet. Schon bei Freud32 geht die Befähigung zum Denken und zur Vorstellungsbildung im Sinne der Emergenz des Dritten aus einer erträglichen und integrierbaren Frustrations-, Abwesenheits- und Trauererfahrung hervor, die idealtypisch das Aufspannen eines psychischen Raumes befördert, in dem sich psychische Erfahrungen nun in mentalen Repräsentationen und Symbolisierungen abbilden und fortan frei aktiviert sowie dynamisch verbunden werden können.33 Überdies gibt uns Bions Theorie des Denkens Aufschluss darüber, welche primären interpersonellen Bedingungen und genügend guten Beziehungserfahrungen gegeben sein müssen, damit diese prozessualen Entwicklungen hinreichend gelingen können. Bion versucht zunächst, verallgemeinernd all diejenigen Elemente herauszuarbeiten, die für das Erfassen und Zuordnen von Gefühlszuständen von besonderer Wichtigkeit sind. Diese Elemente stellen eine Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung von Denkprozessen in einem interaktiven Austausch zwischen Subjekt und Objekt dar. Den psychischen Vorgang des containments stellt sich Bion mittels der Annahme einer Funktion in der Mutter vor, die er 31 | Vgl. Wolfgang Loch: »Kommunikation, Sprache, Übersetzung«, in: Psyche, 35/1981, S. 977-998; Matthias Kettner: »Zur Semiotik der Deutungsarbeit. Wie sich Freud mit Peirce gegen Grünbaum verteidigen läßt«, in: Psyche, 52/1998, S. 619-647; Matthias Kettner/Benigna Gerisch: »Zwischen Tabu und Verstehen: Psycho-philosophische Bemerkungen zum Suizid«, in: Kappert/Gerisch/Fiedler: Ein Denken, das zum Sterben führt, S. 38-66. 32 | Vgl. das »Fort-Da-Spiel« in: Freud: Jenseits des Lustprinzips. 33 | Joachim Küchenhoff: »Suizid – Suche nach oder Zerstörung des Dialogs«, in: Benigna Gerisch/Ilan Gans (Hg.): ›Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt‹. Theoretische und klinische Aspekte zur Suizidalität, Göttingen 1999, S. 60-80.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

148 | Benigna Gerisch »Alpha-Funktion« nennt. Gemeint ist die Befähigung der Mutter zur träumerischen Einfühlung (»revêrie«) in die kindliche Innenwelt. In dieser herrschen zunächst Sinneseindrücke, Emotionen und Körpersensationen in einem noch nicht verstehbaren Rohzustand vor, die »Beta-Elemente« genannt werden. Lernen durch Erfahrung heißt, dass diese Rohelemente erst dann dem Denken zur Verfügung stehen, wenn sie mit Hilfe der mütterlichen Alpha-Funktion in verarbeitbare und benennbare Gefühlszustände umgeformt werden. Für diesen Prozess bedarf es eines Raumes, der zunächst nicht intrapsychisch ist, sondern es ist der Raum im Anderen, dem so genannten Container, in dessen Schutz sich Erfahrungen bilden können. Auf diese Weise gelingt es dem Kind allmählich, sowohl die neuen emotional-kognitiven Erfahrungen als auch den Erfahrungsraum selbst zu integrieren.34 Mütter ohne das Vermögen zu einer träumerischen Einfühlung und zur psychischen Offenheit gegenüber den Emotionen des Kindes konfrontieren den Säugling mit etwas, das unaussprechlich ist und keine Bedeutung bekommen kann, sondern eine namenlose Angst zurücklässt. Für gewöhnlich haben wir es im klinischen Alltag mit Patienten zu tun, deren innerpsychischer Raum und Triangulierungskompetenz sowie dreidimensionale Repräsentations- und Symbolisierungsstruktur stark beschädigt, verbogen oder eingeengt sind. Klinisch zeigt sich dies durch die mehr oder minder stark beeinträchtigte Fähigkeit, Realitäten anzuerkennen, Trennung und Getrenntheit zu tolerieren, Affekte und Gefühle annähernd adäquat zu versprachlichen, d.h. zu denken und somit intrapsychisch zu halten. Während die intellektuell-kognitive Kompetenz davon auf erstaunliche Weise gänzlich unberührt bleibt und autonom reifen kann, manifestiert sich der Mangel im »undenkbaren« affektiv-emotionalen Bereich. Es potenziert sich so die Tendenz, unverdautes und unbenennbares seelisches Material mittels einer Körpersprache, also eines primär leibgebundenen kommunikativen Handelns zu artikulieren oder durch spontanes Agieren abzureagieren.35 Zu fragen bleibt folglich stets, an welches innere und/oder reale Objekt sich der Sprachlose wendet und was im körperlichen Symptom kommuniziert wird, wenn man davon ausgeht, »dass es sich beim Symptom um verschüttete Worte [handelt], die reden ohne etwas auszusagen, und die sich in eine Sprache ohne Zukunft verwandelt haben. Das dem 34 | Vgl. Gertrud Reerink: »Theorie des Denkens. Freud und Bion«, in: Rosemarie Kennel/Gertrud Reerink (Hg.): Klein – Bion. Eine Einführung, Tübingen 1997, S. 101-112. 35 | Gerisch: Suizidalität bei Frauen; dies.: »Suizidalität als Ausdruck einer Symbolisierungsstörung«, in: Lahme-Gronostaj: Symbolisierung und ihre Störungen, S. 313-326.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 149 Körper eingeschriebene Symptom ist das Sediment oder die Ablagerung einer Geschichte, die nicht mehr weiß, wovon sie spricht.«36

Zusammengefasst lautet meine zentrale These also: Je geringer die Fähigkeit zur Symbolisierung, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Somatisierung oder konkretistischen Indienstnahme des Körpers als »Not-Container«37, Objekt oder Symbol.

5. Geschlechterdifferenz, Symbolisierung und Autodestruktion Aufgrund der klinischen Evidenz der Häufung von Körperpathologien bei Frauen möchte ich in diesem Abschnitt noch einmal die Frage aufgreifen, warum die Funktionalisierung des Körpers als Objekt und Symbol ein spezifisch weiblicher Konfliktlösungs- und Bewältigungsmodus zu sein scheint.

5.1 Sozialisationstheoretische Aspekte: »Auf den Leib geschrieben« Die jahrhundertelange Patriarchatsgeschichte, die zu einer basalen Asymmetrie der sozial konstruierten Geschlechter geführt hat, hinterließ unbestritten ihre Spuren im weiblichen Körper. Die vielfältigen (männlichen) Projektionen, für die der weibliche Körper schon immer als Folie diente, sind von einer eigentümlichen, widersprüchlichen Logik geprägt. Der von Natur aus andere Körper der Frau wird einerseits als verführerisch-schön dämonisiert, zugleich aber als mangelhaft, besonders störanfällig und pathologisch, für minder leistungs- und sublimierungsfähig erklärt. Entsprechend wird der Frau die Ästhetisierung des Körpers üblicherweise als Faktum ohne Hintergrund bescheinigt, ohne Reflexion dessen, dass die Frau einerseits zur Pflege und Modellierung ihres Körpers verpflichtet ist (äußere Attraktivitätskriterien), dieser ihr andererseits aber als besonders irritierbar und unvollständig gespiegelt wird. Schon Freud hat ja die »narzißtische Eitelkeit des Weibes« als kompensatorische Reaktion der Frau auf ihre anatomische Mangelausstattung gedeutet. Freud zufolge wird der Blick in 36 | Jean Starobinski: Kleine Geschichte des Körpergefühls, Frankfurt/M. 1991, S. 132. 37 | Jutta Gutwinski-Jeggle: »Das Körper-Ich als Kommunikationsmittel«, in: Rainer M. Holm-Hadulla (Hg.): Vom Gebrauch der Psychoanalyse heute und morgen, Frankfurt/M. 1995.

2006-02-06 17-38-26 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

150 | Benigna Gerisch den Spiegel für die Frau nur selten zu einer grandiosen Selbstbespiegelung, sondern oftmals nur zu einer selbstkritischen Suche nach dem Mangel; wobei der antizipierte männliche Blick in diese Suche bereits eingebunden ist und identitätsfigurierend immer wieder aufgesucht werden muss.38 Klinische Erfahrungen und empirische Studien zeigen, dass es überdurchschnittlich häufig Frauen sind, die ihren als unzureichend und mangelhaft erlebten Körper als ursächlich für Kränkungen, Zurückweisungen und Objektverluste erklären. Das auf den Körper verschobene und an ihm festgemachte quälende Gefühl, nicht zu genügen, das sich insbesondere in der Adoleszenz zur wahnhaft anmutenden Dysmorphophobie steigern kann, wird entsprechend durch zahlreiche, mithin autodestruktive Modellierungsmaßnahmen am Körper abzuwehren versucht. In der sozialen Konstruktion des weiblichen Körpers verdichtet sich also immer schon der widersprüchliche Doppelentwurf von idealisierter Ästhetik einerseits und entwertender Unvollkommenheit andererseits. Mit Pierre Aimez können wir von einer spezifischen Plastizität des weiblichen Körpers sprechen, in dem sich seit jeher sowohl Psycho- als auch Soziometamorphosen widerspiegeln.39 Bei allen soziokulturellen Veränderungen der Geschlechterstereotypen, die mit beunruhigenden Verwirrungen für Männer und Frauen verbunden sind, beförderte der traditionelle weibliche Sozialisationsprozess sowohl eine Fixierung auf die Ästhetisierung des Körpers als auch eine Prädisposition zur Autoaggressivität – und damit implizit den destruktiven Umgang mit dem eigenen Körper. Die genitale Sexualität bei Frauen scheint zudem ihr Identitätsgefühl stärker zu erschüttern als dies bei Männern der Fall ist, da Frauen in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsform – einschließlich Menstruations- und Masturbationstabu, Verleugnung, Entwertung und fehlender Benennung von weiblicher Lust sowie aktiver Sexualität – eine psychische Selbst- und Körperbildrepräsentanz ausbilden, die auf einem entsexualisierten Körper basiert. Das heißt, dass die bereits seit Jahrhunderten soziokulturell vermittelte Desintegration von psychischem Selbst und Körper-Selbst bei Frauen – ein Phänomen, das in den Aneignungsprozessen weiblicher Identität und in der Schwierigkeit, sich im Besitz eines eige38 | Gerisch: Suizidalität bei Frauen; dies.: »›Auf den Leib geschrieben‹. Der weibliche Körper als Projektionsfläche männlicher Phantasien zum Suizidverhalten von Frauen«, in: Paul Götze/Monika Richter (Hg.): ›Aber mein Inneres überlaßt mir selbst.‹ Verstehen von suizidalem Erleben und Verhalten, Göttingen 2000, S. 78-115. 39 | Zit. nach Hans Willenberg: »›Mit Leib und Seel’ und Mund und Händen‹. Der Umgang mit der Nahrung, dem Körper und seinen Funktionen bei Patienten mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Objekt, S. 212.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 151

nen Körpers zu befinden, eine eigentümliche intrapsychische Entsprechung findet – weiblichen Körperpathologien besonderen Vorschub leistet, und zwar nicht nur in der Adoleszenz. Die Genese weiblicher Körperpathologien kann also nur unter Berücksichtigung des traditionellen Geschlechterarrangements betrachtet und verstanden werden, d.h. unter Berücksichtigung der soziokulturell geprägten Geschlechterkonstruktionen. Körperpathologien stets auch als soziokulturell determinierte, frauenspezifische Artikulationsweisen zu verstehen, bedeutet, den zentralen Aspekt der identifikatorischen und intrapsychisch wirksamen Übernahme einer zugeschriebenen Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Denn auch wenn es Mythen sind, die die Frauen über Jahrhunderte am eigenen Leib erfahren haben, so ist es offenbar immer schon ihr beschriebener, zugerichteter, entmachteter und körperloser Körper gewesen, den die Frau im Dienste des Aufbegehrens und der heimlichen Revolte gegen diesen Zuschreibungs- und Zurichtungsprozess bis hin zur Selbstauslöschung einsetzte. Die »heiligen« Anorektikerinnen in den Klöstern des Mittelalters40, die Hysterikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, die sich mit ihren eigentümlichen Körpersymptomen der männlich geprägten medizinisch-psychiatrischen Diagnostik entzogen, und auch all die Suizidantinnen, die mit ihren Suizidhandlungen einen zentralen Angriff gegen das moralisierende Prinzip der Selbsterhaltung richteten, legen davon ein historisches Zeugnis ab.41

5.2 Psychosexuelle Entwicklung, Symbolisierung und Autodestruktion Mit der Perspektive des traditionellen Geschlechterarrangements bleibt aber die Frage offen, wie das Zusammenspiel von gesellschaftlicher und psychischer Realität in die Tiefendimension des Unbewussten und seiner imaginären Szenarien und Phantasmen hinabreicht.42 Bemerkenswert ist, dass in der aktuellen Literatur zur psychoanalytisch konzipierten Symboltheorie der komplexe Zusammenhang zwischen der Konstituierung, einerseits, der Geschlechtsidentität und, anderseits, des Symbolisierungsprozesses bisher kaum berücksichtigt wurde.43 40 | Vgl. Rudolph M. Bell: Holy Anorexia, Chicago, London 1985. 41 | Vgl. Benigna Gerisch: Die suizidale Frau. Psychoanalytische Hypothesen zur Genese, Göttingen 2003. 42 | Ursula Konnertz (Hg.): Die übertragene Mutter. Psychoanalytische Beiträge, Tübingen 1987. 43 | Vgl. Gast: »Metamorphosen des Todestriebs bei Melanie Klein«; Löchel: »Symbolisierung und Verneinung«.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

152 | Benigna Gerisch Abgesehen von den unbewussten und bewussten Geschlechtercodierungen sowie Zuschreibungen seitens der Eltern, spielt der Umstand, dass das erste Liebesobjekt im Leben des Kindes, nämlich die Mutter, für das Mädchen ein gleichgeschlechtliches, für den Jungen ein gegengeschlechtliches ist, in der Genese der Geschlechtsidentität eine, wenn nicht die zentrale Rolle. Schon aufgrund dieser basalen und unveränderbaren Voraussetzung unterscheiden sich die Entwicklungen und die damit verbundenen Anforderungen und Bewältigungsmuster von Mädchen und Jungen grundlegend. Für den Jungen ist es aufgrund dieser zentralen Ausgangskonstellation immer schon schwieriger, den Weg seiner männlichen Identitätsentwicklung zu beschreiten und sicher zu finden. Denn er macht von Beginn an die Erfahrung, sich aufgrund seines Geschlechts von der Mutter zu unterscheiden, d.h. die Erfahrungen von Getrenntheit und Andersartigkeit sind die prägenden Aspekte der männlichen Geschlechtsidentität. Es ist diese Spannung, mit der ein Junge sein Leben lang fertig werden muss, und seine (regressiven) identifikatorischen Wünsche, mit der Mutter eins zu sein, aktualisieren zum einen immer schon die Angst vor der latenten Gewissheit der Andersartigkeit und sind zum anderen stets mit einer Bedrohung seiner Geschlechtsidentität, also seiner andersartigen Männlichkeit, verbunden. Für das Mädchen hingegen sind die prägenden Erlebnismodalitäten in der Beziehung zum Primärobjekt Mutter die Erfahrungen von Einssein, Gleichheit und Ungetrenntheit. Das Gleichsein mit der Mutter impliziert zunächst weitaus weniger Schwierigkeiten im Hinblick auf die Entwicklung einer weiblichen Geschlechtsidentität. Die Spannung aber, mit der ein Mädchen lebenslang ringen muss, betrifft den Konflikt, sich aus der primären Gleichheit zu einer individuierten, von der Mutter getrennten, weiblichen Persönlichkeit zu entwickeln. Während demnach die präödipale Beziehung zur Mutter beim Jungen durch Trennung charakterisiert ist und dessen regressive Verschmelzungswünsche eine Bedrohung seiner Geschlechtsidentität darstellen – daher auch die auffallende Häufung von sexuellen Perversionen bei Männern –, droht dem Mädchen nicht der Verlust der Weiblichkeit, wohl aber der einer individuierten und autonomen Weiblichkeit. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Entwicklung besteht ferner darin, dass die weibliche psychosexuelle Entwicklung in einem stärkeren Maße von morphologischen Umwälzungen des subjektiven Körperbildes und spezifischer Körpererfahrungen geprägt ist, die in inniger Verbindung zur eigenen Mutter stehen.44

44 | Margarete Berger: »Zur Bedeutung des ›Anna-selbdritt‹-Motivs für die Be-

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 153

Die Gleichgeschlechtlichkeit von Mutter und Tochter begünstigt nicht nur in besonderer Weise die unbewusste Verwobenheit und Gleichsetzung von Mutter, Selbst und Körper, sondern bewirkt, dass das Mädchen und später die Frau in allen weiteren intrapsychisch relevanten physiologischen Reifungsphasen, in denen es zur Reaktualisierung dieser spezifischen Verwobenheit kommt, unablässig darum kämpft, eine von der Mutter unabhängige Selbst- und Körpervorstellung zu errichten. Setzt man nun diese geschlechtsspezifische psychosexuelle Entwicklung, einschließlich der Leibgebundenheit der frühesten Phantasien, und das »Denken in Körperinnenräumen«45 in Beziehung zur psychoanalytischen Symbolisierungstheorie, dann stellt sich zu Recht die Frage, »ob es in dieser primären Körperwelt, in diesem sich entfaltenden psychischen Raum, in dem früher oder später alles Bedeutung erlangt, tatsächlich bedeutungslos [ist], ob sich die sensorischen Engramme und früheste Körperwahrnehmung in einem weiblichen oder in einem männlichen Körper ereignen«.46

So kommt auch Margarete Berger zu dem Schluss, dass die enge präödipale Verbindung und Identifikation des kleinen Mädchens mit dem mütterlichen Objekt und dem mütterlichen Körper bzw. Körperinneren als eine geschlechtsspezifische Eigentümlichkeit zu verstehen ist, die erste spezifisch weibliche Körpervorstellungen formt und mit geschlechtsspezifischen Phantasieproduktionen sowie der Ausbildung einer vom Mann unterscheidbaren Symbolwelt einhergeht, wobei die Möglichkeit, schwanger zu sein, hier eine entscheidende Rolle spielt.47 Während Lilli Gast mit ihrer Denkfigur der »vorsubjektiven Geschlechterdifferenz«48 vor allem die Konstitutionslogik des Subjektes befragen ziehung der Frau zum eigenen Körper und zu ihrem Kind«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Objekt, hier S. 256. 45 | Hermann Beland: »Unbewusste Phantasien – strukturierende Beziehungsgeschichten«, in: Lilli Gast/Jürgen Körner (Hg.): Über die verborgenen anthropologischen Entwürfe in der Psychoanalyse, Tübingen 1997, hier S. 54. 46 | Gast: »Metamorphosen des Todestriebs bei Melanie Klein«, S. 81. 47 | Berger: »Zur Bedeutung des ›Anna-selbdritt‹-Motivs«, S. 267. Zu ergänzen wäre, dass beim Mädchen ausgerechnet diejenigen Körperteile, die am schwierigsten zu explorieren oder am wenigsten sichtbar sind, wie vor allem – abgesehen vom Gesicht – die Genitalien, die größte Bedeutung für die Etablierung des Körperschemas und einer sicheren Ich-Identität haben. Vgl. Doris Bernstein: »Weibliche genitale Ängste und Konflikte und die typischen Formen ihrer Bewältigung«, in: Psyche, 47/ 1993, S. 530-559. 48 | Gast: »Metamorphosen des Todestriebs bei Melanie Klein«.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

154 | Benigna Gerisch will, möchte ich mit Hilfe dieser Matrix einen Blick auf die Genese des autodestruktiven Körperagierens bei Frauen werfen. Ein zentrales und konfliktträchtiges Dilemma, das sich wie eine poröse Bruch- und potenzielle Fixierungsstelle durch die weibliche Entwicklung zieht, resultiert daraus, dass sich beim Mädchen der unvermeidbare präödipale, oralsadistische Frustrationshass und die als überaus ambivalent erlebte ubiquitäre Trennungs- und Loslösungsaggression gegen ein Objekt richtet, das sowohl als primäres Liebesobjekt wie auch als Identifikationsobjekt im Hinblick auf die Ausarbeitung einer eigenen weiblichen Identität unverzichtbar ist. So drängt sich die Hypothese auf, dass – infolge der primären, engen Bindung der Tochter an die Mutter und der eigentümlichen Durchlässigkeit beider Körper – die gleichgeschlechtliche Mutter-Tochter-Dyade generell unauflösbar wirkenden »adhäsiven Identifizierungen« und der Tendenz zu körperbezogenen »symbolischen Gleichsetzungen«49 – hier im Sinne von: Mutter-Selbst-Körper – Vorschub leistet, und zwar insbesondere dann, wenn sich kein Dritter (idealtypisch: der Vater) als präödipales und ödipales Triangulierungsobjekt anbietet. Der immerzu von Verengung oder gar Aufhebung bedrohte intersubjektive Raum erschwert die Entwicklungsanforderung, Erfahrungen von Trennung und Getrenntheit und insbesondere von archaischer Aggressivität/Destruktivität in leibungebundene elaborierte Symbolisierungsprozesse zu transformieren. Bereits Luce Irigaray hat auf diese geschlechtsgebundenen Symbolisierungskomplikationen hingewiesen. Das kleine Mädchen, so Irigaray, reagiere anders als der Junge auf die vorübergehende Trennung von der Mutter und könne den Mutterkörper nicht ohne weiteres abwesend machen und durch Symbole – wie »Bindfaden und Holzspule« – substituieren. Wie aber genau reagiert das kleine Mädchen auf die Abwesenheit der Mutter? »1. Sie versinkt in Verzweiflung, wenn ihr die Mutter fehlt, sie ist verloren, sie kann und will nicht mehr leben, sie spricht und ißt nicht, ist völlig appetitlos. 2. Sie spielt mit Puppen und verschiebt so die mütterlichen Affekte auf ein Quasi-Subjekt; dies ermöglicht ihr, sich eine Art symbolischen Raum zu schaffen. […] Die Beziehung zum Selben zwischen Frauen und im Verhältnis zur Mutter wird nicht durch das

49 | Hanna Segal: »Notes on Symbol Formation«, in: International Journal of Psychoanalysis, 38/1957, S. 391-397. In Anknüpfung an Melanie Klein sieht Segal in der projektiven Identifizierung, d.h. in der Unterbringung eigener Teilobjekte in der äußeren Welt, den Beginn der gleichwohl noch primitiven Symbolisierung. Denn diese frühen Symbole werden vom Ich noch nicht als Symbole oder als Substitute im eigentlichen, also sprachtheoretischen Sinne, sondern als mit dem ursprünglichen Objekt identisch empfunden.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 155 Fort-Da bewältigt. Die Mutter bleibt immer zu vertraut und nah. Das kleine Mädchen hat die Mutter gewissermaßen in der Haut, in der Feuchte der Schleimhäute, in der innersten Intimität, in dem Geheimnis ihrer Beziehung zur Schwangerschaft, zur Geburt und zu ihrer sexuellen Identität.«50

Auch Peter Fonagay und Mary Target haben in ihrer Theory of mind differenziert herausgearbeitet, dass psychopathologische Auffälligkeiten wie Auto- und Fremdaggression auf einen Mangel des Aufbaus mentaler Repräsentationen zurückzuführen sind: mangelnde Repräsentation des Selbst im Anderen und – vice versa – des Anderen im Selbst. Dieser Mangel bedingt die fortgesetzte generelle Blockierung der Symbolisierungsfähigkeit psychischen Erlebens und induziert ein spezifisches Gebundenbleiben des Denkens, Fühlens und Wünschens an den Körper und an primäre körpernahe Prozesse.51 Vor diesem Hintergrund postulieren die genannten Autoren signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede in der Genese der Aggressionsentwicklung, die gerade im Hinblick auf die Prädisposition zu Gewalt und Autodestruktivität von zentraler Bedeutung sind: »Bei Mädchen ist es wahrscheinlicher, daß sie diesen Konflikt zu lösen und sich von der in ihrem Denken befindlichen Mutter zu befreien versuchen, indem sie sich selbst attackieren; Jungen richten ihre Aggression häufiger gegen das Denken des Vaters, das durch andere Personen repräsentiert wird.«52

Abhängig vom Struktur- und Regressionsniveau sowie vom Grad der als traumatisch erlebten Irritationen kann der Körper des Mädchens nicht nur zum Ersatz-Container des unerträglichen psychischen Empfindens werden und damit zugleich den Ausfall der Container-Funktion der Mutter kompensieren. Zudem kann die autodestruktive Indienstnahme des Körpers als Abgrenzungsversuch gegenüber der Mutter und dem der Tochter gleichen mütterlichen Körper verstanden werden, insofern der intrapsychische Konflikt auf den mit der Mutter identifizierten eigenen Körper projiziert wird. An die Stelle der von Fusions- und Trennungsängsten geprägten MutterTochter-Dyade rückt nun eine vermeintlich der Eigenkontrolle unterliegende, dyadische Beziehung zwischen psychischem Selbst und Körper-Selbst, mit der ein – fraglos labiles – Gleichgewicht zwischen Ungetrenntheit ei-

50 | Luce Irigaray: Genealogie der Geschlechter, Freiburg/Br. 1989, S. 157f. 51 | Peter Fonagy/Mary Target: »Den gewalttätigen Patienten verstehen: Der Einsatz des Körpers und die Rolle des Vaters«, in: Margarete Berger/Jörg Wiesse (Hg.): Geschlecht und Gewalt, Göttingen 1996, S. 55-90. 52 | Ebd., S. 83.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

156 | Benigna Gerisch nerseits und der Vermeidung von Objektüberschwemmung andererseits hergestellt wird.53 Das körperliche Symptom fungiert dabei im Sinne der Abwehr der totalen Desintegration als eine »Plombe«54 und gleichermaßen als Triangulierungsversuch im spannungsreichen Gefüge von Fusionswünschen und -ängsten. Schaut man vor diesem Hintergrund noch einmal auf die klinische Manifestation von Körperpathologien, die in der Regel erst im Zuge der Adoleszenz mit ihrer Reaktualisierung von präödipalen und ödipalen Konfliktherden zum Ausbruch kommen, so wird unter Adoleszenztheoretikern relativ übereinstimmend die These vertreten, dass die im Vergleich zum Jungen überdurchschnittlich häufig auftretenden adoleszenzspezifischen pathologischen Verformungen und autodestruktiven Attacken bei Mädchen der Abwehr der Erfahrung dienen, einen mit der Mutter identischen sexuellen Körper zu haben. Da aber der Körper als Trennung von Innen und Außen fungiert, wird durch die Zerstörung desselben zugleich auch die Quelle der Möglichkeit, sich gegenüber der Außenwelt – und der Mutter – als getrennt und geschützt zu erleben, beschädigt. Der dramatische Ablösungskampf kann sich bis hin zu der angstbesetzten Phantasie steigern, die Mutter anzugreifen oder gar umzubringen55: 53 | Auf geradezu bestürzende Weise zeigt sich der hier entfaltete Komplex von Geschlechterkonstitution, Symbolisierungsstörung und Autodestruktion in der Genese der Suizidalität bei Autorinnen und Dichterinnen, wie Sylvia Plath, Anne Sexton, Marina Zwetajewa, Unica Zürn und Virginia Woolf, deren Texte von Todesmetaphern und tiefgreifenden Selbstzerstörungspassionen geprägt sind und die ihr Leben durch Suizid beendet haben. Vgl. Gerisch: Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität; dies.: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, in: Ursula Keller (Hg.): ›Nun breche ich in Stücke …‹ Leben, Schreiben, Suizid, Berlin 2000, S. 69115; dies.: »›Sterben ist eine Kunst, wie alles. Ich kann es besonders schön‹. Zur Suizidalität in Leben und Werk von Sylvia Plath und anderen Dichterinnen der Gegenwartsliteratur«, unveröffentlichtes Manuskript 1999. 54 | Fritz Morgenthaler: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt/M. 1984. 55 | In diesem Kontext sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit heute als nahezu gesicherter Prädiktor einer später sich entwickelnden Körperpathologie gilt. Aber auch hier imponiert eine geschlechtsspezifische Besonderheit: Während Mädchen derartige Erfahrungen primär am eigenen Körper – Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen, psychovegetative Dysfunktionen etc. – austragen, werden Jungen mit ähnlichen traumatisierenden Erfahrungen im Sinne der Identifikation mit dem Aggressor überdurchschnittlich häufig später selbst zu Tätern.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 157 »Es kommt zu gewaltsamen Beschädigungen des eigenen, dennoch nicht als eigen erfahrbaren Körpers. Die tiefe Beunruhigung über die Wahrnehmung, den eigenen Körper wie einen Teil der Mutter zu spüren, führt zu verzweifelten Attacken gegen diesen, der eigenen Kontrolle entzogenen, sexuell erregbaren Leib – mittels Hungerkuren, oft Verletzungen der Haut, besonders im Bereich der Unterarme, bis zum Schlucken von Glasscherben, Rasierklingen und anderen suizidalen Handlungen.«56

Aus der Perspektive pathologiebefördernder Erfahrungen und Bedingungen betrachtet, erhöht die spezifische Gleichgeschlechtlichkeit von Mutter und Tochter das Risiko, dass der Körper, der mit seinen Wahrnehmungsfunktionen insbesondere in der vorsprachlichen Entwicklungsphase zum zentralen Strukturierungsapparat von unbewussten und intersubjektiven Prozessen der Mutter-Tochter-Dyade fungiert, immer wieder zum Austragungsort komplexer, zumeist unbewusst verbleibender, primärer körpernaher Sinneseindrücke und konflikthafter sowie traumatischer Erfahrungsbruchstücke werden kann, die sich entlang des beschwerlichen Separations- und Individuationsprozesses in den weiblichen Körper eingeschrieben haben. Dies gilt gerade dann, wenn es später nur zu einer unzureichenden Symbolisierungs- und Repräsentationsfähigkeit und dem Persistieren von Spaltungsphänomenen gekommen ist. Ferner können auf diese Leibbühne sowohl ein destruktives und/oder idealisiertes inneres Objekt als auch destruktive, idealisierte oder bedürftige Selbstanteile projiziert werden. Da sich in jeder Körperpathologie immer auch antagonistische, unbewusste Phantasien verdichten, können die Attacken gegen den Körper mit der Vorstellung verbunden sein, ein auf ihn projiziertes destruktives Objekt zu vernichten, um dann mit einem ebenfalls im Körper lokalisierten idealisierten Objekt zu verschmelzen.57 Demnach können – abhängig von der immer nur annähernd auszumachenden traumatischen Fixierungsstelle, dem erreichtem Strukturniveau, der Abwehrformation und Symptomatologie – Unterschiede hinsichtlich der Frage bestehen, ob der Körper der Frau als »Notcontainer«, Ersatzdyade oder Triangulierungsgehilfe in Gebrauch genommen wird; ob er also eine Symbolisierungsfunktion übernimmt, ob er gar selbst als Symbol dient oder aber umgekehrt als Medium der Desymbolisierung – durch Somatisierung und Resomatisierung – fungiert.58 Wenn wir folglich davon ausgehen, dass sich der Kernkomplex der Subjektwerdung – d.h. das kontinuierliche Oszillieren zwischen Fusions- und Abgrenzungswünschen, von Individuation und Separation, von Trennung und Getrenntheit – in der weiblichen 56 | Berger: »Zur Bedeutung des ›Anna-selbdritt‹-Motivs«, S. 248. 57 | Vgl. Gerisch: Die suizidale Frau. 58 | Vgl. Hirsch: Der eigene Körper als Symbol.

2006-02-06 17-38-27 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

158 | Benigna Gerisch Entwicklung auf geschlechtsspezifische Weise potenziert, dann öffnet sich, unter Einbeziehung der Symbolisierungstheorien und ihrer immanenten Geschlechtsgebundenheit, ein differenzierterer Verstehenshorizont im Kontext der Frage, warum die Funktionalisierung des Körpers als Objekt und Symbol ein spezifisch weiblicher Konfliktlösungs- und Bewältigungsmodus ist. Diese Perspektive, in der der weibliche Körper und seine spezifische Funktionsweise ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rückt, sollte jedoch weder mit einer Perpetuierung biologistischer Modelle verwechselt werden, in denen Körperpathologien von Frauen primär aus deren hormonellen Schwankungen, eben aus ihrer sich vom Mann unterscheidenden Physis abgeleitet werden. Noch darf der Verdacht entstehen, dass es aus der gleichgeschlechtlichen Mutter-Tochter-Dyade bloß pathologische Auswege gäbe. Vielmehr soll im Reflex auf die psychoanalytischen Symbolisierungstheorien der Blick dafür geschärft werden, dass den physiologischen Reifungsprozessen, die immer schon psychisch relevant sind, im Zuge der komplexen Konstituierung von Geschlechtsidentität und Subjektivität einerseits sowie deren pathologischen Verformungen andererseits eine enorme intrapsychische Bedeutung zukommt.

Literatur Améry, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1983. Beland, Hermann: »Unbewusste Phantasien – strukturierende Beziehungsgeschichten«, in: Gast, Lilli/Körner, Jürgen (Hg.): Über die verborgenen anthropologischen Entwürfe in der Psychoanalyse, Tübingen 1997, S. 39-59. Bell, Rudolph M.: Holy Anorexia, Chicago, London 1985. Berger, Margarete: »Zur Bedeutung des ›Anna-selbdritt‹-Motivs für die Beziehung der Frau zum eigenen Körper und zu ihrem Kind«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Objekt, S. 241-277. Bernstein, Doris: »Weibliche genitale Ängste und Konflikte und die typischen Formen ihrer Bewältigung«, in: Psyche, 47/1993, S. 530-559. Bion, Wilfred R.: Lernen aus Erfahrung, Frankfurt/M. 1962. Böhme-Bloem, Christel: »Das Ergriffene im Begriff. Gedanken zum Symbolisierungsprozess«, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 4/2002, S. 371-392. Böhme-Bloem, Christel: »›Der Mensch ist, was er isst‹. Ess-Störungen als Ausdruck gestörter Identität und mangelnder Symbolbildung«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Symbol, S. 93-146. Bohleber, Werner: »Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität – Identität und die moderne Dezentrierung des Subjekts«, in: Os-

2006-02-06 17-38-28 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 159

tendorf, Ursula/Peters, Holger (Hg.): Vom Werden des Subjekts. Tagungsband der Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Frankfurt/M. 1998, S. 22-44. Borkenhagen, Ada/Klapp, Burghard F.: »Das Körper-Grid als qualitativquantitatives und gendersensitives Instrument zur Erhebung der zentralen kognitiv semantischen Körpererlebensprofile und der Struktur der Körperselbstrepräsentanz bei bulimischen Patientinnen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen«, auf: http://www.uni-leip zig.de/~medpsy/pdf/ab_koerperbild.pdf (Stand. 30. Oktober 2005). Büchner, Georg: Werke und Briefe, München 1980. Fonagy, Peter/Target, Mary: »Den gewalttätigen Patienten verstehen: Der Einsatz des Körpers und die Rolle des Vaters«, in: Berger, Margarete/ Wiesse, Jörg (Hg.): Geschlecht und Gewalt, Göttingen 1996, S. 55-90. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1940ff. Gaddini, Eugenio: ›Das Ich ist vor allem ein körperliches‹. Beiträge zur Psychoanalyse der ersten Strukturen, Tübingen 1998. Gast, Lilli: »Metamorphosen des Todestriebs bei Melanie Klein. Überlegungen zum Verhältnis von Phantasie, Geschlecht und Leiblichkeit«, in: Löchel, Elfriede (Hg.): Aggression, Symbolisierung, Geschlecht, Göttingen 2000, S. 62-84. Gerisch, Benigna: Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität – Eine kritische Analyse, Tübingen 1998. Gerisch, Benigna: »›This is not death, it is something safer‹: A psychodynamic approach to Sylvia Plath«, in: Death Studies, 22/1998, S. 735-761. Gerisch, Benigna: »›Sterben ist eine Kunst, wie alles. Ich kann es besonders schön‹. Zur Suizidalität in Leben und Werk von Sylvia Plath und anderen Dichterinnen der Gegenwartsliteratur«, unveröffentlichtes Manuskript 1999. Gerisch, Benigna: »›Auf den Leib geschrieben‹. Der weibliche Körper als Projektionsfläche männlicher Phantasien zum Suizidverhalten von Frauen«, in: Götze, Paul/Richter, Monika (Hg.): ›Aber mein Inneres überlaßt mir selbst.‹ Verstehen von suizidalem Erleben und Verhalten, Göttingen 2000, S. 78-115. Gerisch, Benigna: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, in: Keller, Ursula (Hg.): ›Nun breche ich in Stücke …‹ Leben, Schreiben, Suizid, Berlin 2000, S. 69-115. Gerisch, Benigna: »›Auch ich war in Arkadien‹. Der traumatische Einbruch in den idyllischen Raum«, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 4/2002, S. 343-370.

2006-02-06 17-38-28 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

160 | Benigna Gerisch Gerisch, Benigna: »Suizidalität als Ausdruck einer Symbolisierungsstörung«, in: Lahme-Gronostaj: Symbolisierung und ihre Störungen, S. 313326. Gerisch, Benigna: Die suizidale Frau. Psychoanalytische Hypothesen zur Genese, Göttingen 2003. Gutwinski-Jeggle, Jutta: »Das Körper-Ich als Kommunikationsmittel«, in: Holm-Hadulla, Rainer M. (Hg.): Vom Gebrauch der Psychoanalyse heute und morgen. Tagungsband der DPV-Frühjahrstagung, Frankfurt/M. 1995. Gutwinski-Jeggle, Jutta: »Netze und Gefäße zum Bergen von Abwesendem und Verlorenem – Gedanken zur Rolle der Sprache im Rahmen einer psychoanalytischen Theorie der Symbolbildung«, in: Lahme-Gronostaj: Symbolisierung und ihre Störungen, S. 47-73. Heinrich, Klaus: »Der Staub und das Denken. Zur Faszination der Sophokleischen Antigone nach dem Krieg«, in: Greve, Gisela (Hg.): Sophokles. Antigone, Tübingen 2002, S. 25-58. Hirsch, Mathias (Hg.): Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens, Berlin, Heidelberg, New York 1989. Hirsch, Mathias: »Der eigene Körper als Objekt«, in: ders.: Der eigene Körper als Objekt, S. 1-9. Hirsch, Mathias: Der eigene Körper als Symbol. Der Körper in der Psychoanalyse von heute, Gießen 2003. Irigaray, Luce: Genealogie der Geschlechter, Freiburg/Br. 1989. Kappert, Ines/Gerisch, Benigna/Fiedler, Georg (Hg.): Ein Denken, das zum Sterben führt. Selbsttötungen: Tabu und Brüche, Göttingen 2004. Kettner, Matthias: »Zur Semiotik der Deutungsarbeit. Wie sich Freud mit Peirce gegen Grünbaum verteidigen läßt«, in: Psyche, 52/1998, S. 619647. Kettner, Matthias/Gerisch, Benigna: »Zwischen Tabu und Verstehen: Psycho-philosophische Bemerkungen zum Suizid«, in: Kappert/Gerisch/ Fiedler: Ein Denken, das zum Sterben führt, S. 38-66. Kohut, Heinz: »Formen und Umformungen des Narzißmus«, in: Psyche, 8/1966, S. 561-587. Konnertz, Ursula (Hg.): Die übertragene Mutter. Psychoanalytische Beiträge, Tübingen 1987. Küchenhoff, Joachim: »Suizid – Suche nach oder Zerstörung des Dialogs«, in: Gerisch, Benigna/Gans, Ilan (Hg.): ›Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt‹. Theoretische und klinische Aspekte zur Suizidalität, Göttingen 1999, S. 60-80. Lahme-Gronostaj, Hildegard (Hg.): Symbolisierung und ihre Störungen. Tagungsband der Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Bad Homburg 2002.

2006-02-06 17-38-28 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

Keramos Anthropos | 161

Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. 1992. Laufer, Moses/Laufer, M. Eglé: Adoleszenz und Entwicklungskrise, Stuttgart 1994. Loch, Wolfgang: »Kommunikation, Sprache, Übersetzung«, in: Psyche, 35/ 1981, S. 977-998. Löchel, Elfriede: »Symbolisierung und Verneinung«, in: dies: Aggression, Symbolisierung, Geschlecht, Göttingen 2000, S. 85-109. Lorenzer, Alfred: Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1984. Morgenthaler, Fritz: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt/M. 1984. Olbricht, Ingrid: »Frauen sind häufiger psychosomatisch krank – warum eigentlich?«, in: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 35/1990, S. 111-120. Rank, Otto: Das Trauma der Geburt, Wien 1924. Reiche, Reimut: »Haben frühe Störungen zugenommen?«, in: Psyche, 12/ 1991, S. 1045-1066. Reiche, Reimut: »Subjekt, Patient, Außenwelt«, in: Ostendorf, Ursula/Peters, Holger (Hg.): Vom Werden des Subjekts. Tagungsband der Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Frankfurt/M. 1998, S. 45-70. Reerink, Gertrud: »Theorie des Denkens. Freud und Bion«, in: Kennel, Rosemarie/Reerink, Gertrud (Hg.): Klein – Bion. Eine Einführung, Tübingen 1997, S. 101-112. Segal, Hanna: »Notes on Symbol Formation«, in: International Journal of Psychoanalysis, 38/1957, S. 391-397. Starobinski, Jean: Kleine Geschichte des Körpergefühls, Frankfurt/M. 1991. Szasz, Thomas: »The ego, the body, and pain«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association, 3/1955, S. 177-200. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, München 1980. Willenberg, Hans: »›Mit Leib und Seel’ und Mund und Händen‹. Der Umgang mit der Nahrung, dem Körper und seinen Funktionen bei Patienten mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa«, in: Hirsch: Der eigene Körper als Objekt, S. 171-220.

2006-02-06 17-38-28 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 131-161) T02_02 gerisch.p 107239496542

2006-02-06 17-38-28 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 162

) vakat 162.p 107239497238

Freiwillige Verstümmelung | 163

Freiwillige Verstümmelung. Warum eigentlich nicht? Thomas Schramme

Einleitung Herr A. wird auf einen Tisch geschnallt und von mehreren Personen umringt. Dann wird er betäubt. Sie beugen sich über ihn, als er endlich schläft. Eine der Personen hat ein scharfes Messer in der Hand und schlitzt A. auf. Als er wieder aufwacht, fehlt ihm eine Niere. Sie wurde ihm herausgeschnitten, während er schlief. Eine schwere Straftat ist geschehen, möchte man meinen. Doch A. ist Patient in einem Krankenhaus. Die anderen Personen sind Ärzte. Die Niere hat er seinem schwer kranken Bruder gespendet. A. hat sein Einverständnis zu dem Eingriff gegeben. Also wurde keine Straftat verübt, sondern – im Gegenteil – eine Handlung begangen, die von vielen Menschen moralisch hoch angesehen wird. Ein vermeintlich kleiner Unterschied zwischen beiden Vorgangsbeschreibungen sorgt dafür, dass das Urteil des Betrachters umschlägt: A.’s Einwilligung in den Eingriff. Das scheint eine erklärungsbedürftige Tatsache zu sein. Warum sollte durch die bloße Willensbekundung eine schwerwiegende Untat zu einer moralisch neutralen, ja, sogar lobenswerten Tat werden? Kann eine körperliche Verstümmelung – wozu die Entnahme einer Niere offenbar zu zählen ist – ihren Schrecken so einfach verlieren? Betrachten wir zwei andere Beispiele: Frau B. geht zum Arzt um sich eine Brust amputieren zu lassen. Sie hat Brustkrebs. Der Arzt hat ihr zu dem Eingriff geraten, und sie hat zugestimmt. Ein freiwilliger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der offenbar vollkommen verständlich und gerechtfertigt ist. Frau C. geht ebenfalls zum Arzt, um sich eine Brust am-

2006-02-06 17-38-29 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

164 | Thomas Schramme putieren zu lassen. Sie hat keinen Brustkrebs, sondern hohe sportliche Ambitionen. Frau C. ist nämlich Bogenschützin und glaubt, ihre Fähigkeiten durch die Amputation verbessern zu können. Sie hat alles über »Amazonen« gelesen und weiß daher um die besseren Voraussetzungen, die Sehne des Bogens zu spannen, wenn der störende Körperteil beseitigt ist. Auch bei Frau C. handelt es sich also um eine freiwillige Verstümmelung. Dennoch erscheint sie uns weder verständlich noch gerechtfertigt. Nur, warum? War nicht das entscheidende Kriterium zur Rechtfertigung einer Verstümmelung in dem eingangs geschilderten Beispiel der Organentnahme die Freiwilligkeit? Warum soll eben das nun nicht mehr gelten?1 Im deutschen Strafrecht wird die freiwillige Körperverletzung durch § 228 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt: »Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.« Anscheinend hatte der Gesetzgeber die Sorge, durch das bloße Kriterium der Freiwilligkeit Handlungen zulassen zu müssen, die dem gemeinen Verständnis nach nicht zulässig sein sollten, und führte daher eine – zweifellos deutungsbedürftige – Auswegsklausel ein: Verstößt die gewünschte Brustamputation im Falle der ambitionierten Bogenschützin tatsächlich gegen die guten Sitten? Das hängt davon ab, was »die guten Sitten« festlegen. Das bayerische Oberlandesgericht urteilte im Jahre 1999 zu dieser Frage: »Ein Verstoß gegen die guten Sitten liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn eine Handlung dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwiderläuft.«2 Nun, auch das hilft nicht weiter. Philosophen werden in dieser Argumentation sofort (und zu Recht) einen Zirkelschluss wittern: Die »billig und gerecht Denkenden« sind offenbar nicht identifizierbar, ohne erneut Rekurs auf Moral und gute Sitten zu nehmen. Immerhin sind nach herrschender Meinung solche freiwilligen Körperverletzungen sittenwidrig, die der Vorbereitung, Vornahme, Vortäuschung oder Verdeckung von Straftaten dienen. Zudem sind Selbstverstümmelungen selbstverständlich dann strafbar, wenn ihre Folgen Dritte gefährden oder schädigen.3 Wird eine freiwillige Verstümmelung etwa zum Zweck 1 | Um nahe liegende, aber hier nicht weiter interessierende Einwände gegen den Eingriff ignorieren zu können, nehme ich an, dass Frau C. entscheidungskompetent und medizinisch informiert sowie bereit ist, für die Behandlung und mögliche Folgeschäden finanziell selbst aufzukommen, und der Arzt die Amputation nicht als Verstoß gegen seine beruflichen Pflichten versteht. 2 | Diese Definition ist in der geltenden Rechtssprechung weithin gängig. Sie findet sich z.B. schon im 80. Band der Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen, (1912, RGZ 80, 221). 3 | Ich ignoriere in diesem Artikel die für einige Fragen – insbesondere die

2006-02-06 17-38-29 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 165

des Versicherungsbetrugs oder auch der Beeinträchtigung der Wehrkraft begangen, so bleibt die Handlung trotz ihrer Freiwilligkeit rechtswidrig. Doch alle diese Kriterien treffen auf das betrachtete Beispiel nicht zu. Das ablehnende Gefühl gegenüber dem Verlangen der Bogenschützin muss sich aus anderen Quellen speisen. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, welche Überlegungen dieses Unbehagen erklären und möglicherweise rechtfertigen können. Eine drohende freiwillige Verstümmelung zu verhindern, würde bedeuten, einen paternalistischen Akt zu begehen. In liberalen Gesellschaften bedürfen solche Eingriffe in die Autonomie üblicherweise der Rechtfertigung. Mich wird in erster Linie deren argumentative Grundlage beschäftigen, die letztlich in dem Urteil besteht, dass freiwillige Verstümmelung unmoralisch, unklug oder in anderer Weise schlecht ist. Selbst wenn man zu einem solchen Urteil gelangt ist, bleibt aber dennoch zunächst offen, ob man paternalistisch handeln soll. Das ablehnende Urteil gegenüber einer freiwilligen Verstümmelung ist bloß eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für gerechtfertigten Paternalismus. Kurz: Meine Abhandlung versteht sich vorrangig nicht als Untersuchung zum Paternalismus generell, sondern zu der Frage, worauf sich das Urteil, freiwillige Verstümmelung sei schlecht, gründet. Man kann folgende Argumente gegen freiwillige Verstümmelung unterscheiden, wobei nicht alle in meiner Untersuchung ausführlich behandelt werden: a) So genannte freiwillige Verstümmelungen sind de facto niemals freiwillig, sondern beruhen immer auf pathologischen Überzeugungen oder Wünschen bzw. sind ein Nebeneffekt psychischer Erkrankungen; b) sie verstoßen gegen moralische Pflichten, die eine Person gegen sich selbst hat; c) sie verstoßen gegen moralische Pflichten gegenüber anderen bzw. schädigen andere; d) sie stehen Zwecken der Natur entgegen; e) sie sind unklug bzw. irrational; f) sie weichen von Werten ab, die in anthropologischen Überlegungen gründen.

Strafbarkeit – relevante Unterscheidung zwischen freiwilliger Selbstverstümmelung und einer durch andere Personen durchgeführten, aber dennoch auf Freiwilligkeit beruhenden Verstümmelung. Für meine Fragestellung ist die Urheberschaft irrelevant, entscheidend ist das Problem der Freiwilligkeit und deren moralische Konsequenzen.

2006-02-06 17-38-29 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

166 | Thomas Schramme

1. Beispiele freiwilliger Verstümmelungen und Körpermodifikationen In der Geschichte der Menschheit finden sich seit jeher Beispiele für rituelle oder kulturell bedingte Verstümmelungen des Körpers. Man könnte sogar argumentieren, dass sich gerade in der Überschreitung der natürlichen Gegebenheiten des eigenen Körpers die dem Menschen eigentümliche Freiheit äußert – Tiere verstümmeln sich nicht freiwillig.4 Dementsprechend sind Tätowierungen und Ohrlöcher für Ringe als Körperschmuck vielerorts akzeptiert, aber auch massivere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, wie die Beschneidung bei Jungen bzw. Männern oder der »Schmiss« bei Mitgliedern schlagender Studentenverbindungen, stoßen zumindest in einigen Kulturkreisen auf Akzeptanz. Relativ neue Formen der Körperverstümmelung bzw. -modifikation, z.B. die Sterilisation, die bereits erwähnte Lebendspende bestimmter Organe sowie die operative Geschlechtsumwandlung, sind durch medizinische Fortschritte möglich geworden und werden heute ebenfalls weithin akzeptiert, sogar häufig positiv bewertet.5 Weniger einhellig sind die Urteile im Falle von kulturspezifischen Eingriffen, wie etwa den in manchen afrikanischen Stämmen praktizierten Körperdehnungen: tellergroße Lippen und Ohrläppchen, aber auch stark verlängerte Hälse und sogar Schädelverformungen sind dort bekannt. Problematisch erscheint an diesen Beispielen insbesondere die fehlende Einwilligungsfähigkeit bei den betroffenen Personen. Schließlich werden die Eingriffe im Normalfall bereits an Kindern vorgenommen, denn sonst könnten diese extremen Körpermodifikationen gar nicht erreicht werden. Doch ähnliche bzw. die gleichen Eingriffe werden heutzutage in westlichen Ländern von Erwachsenen durchaus freiwillig vorgenommen, so dass sich die Ablehnung auf andere Gründe als auf die fehlende Einwilligungskompetenz stützen muss.6

4 | Für Argumentationen in dieser Richtung siehe Georges Bataille: »Die Souveränität«, in: ders.: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, München 1978, und dessen Adepten in der Gegenwart. 5 | Ich benutze die Ausdrücke »Körperverstümmelung« und »Körpermodifikation« synonym. Der zweite Terminus besitzt nicht die abwertenden Konnotationen des ersten und wird daher häufig von Befürwortern derartiger Eingriffe am Körper benutzt. Ich selbst will aber auch »Verstümmelungen« zunächst als rein deskriptiven Begriff verstehen. 6 | Victoria L. Pitts: In the Flesh: The Cultural Politics of Body Modification, New York u.a. 2003.

2006-02-06 17-38-29 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 167

Große Ablehnung schlägt hingegen dem in einigen asiatischen Ländern, insbesondere in China, bekannten Binden der Füße entgegen. Dieser massive Eingriff, der die Füße der Frauen in zierlicher Form erhalten soll, war lange Zeit recht verbreitet und wird mancherorts offenbar auch heute noch praktiziert.7 Auch die in Europa einst gängige Praxis der Kastration viel versprechender junger Sänger findet heute keine Fürsprecher mehr. Und bekanntlich ist auch die in einigen muslimischen Ländern praktizierte Klitorektomie bei Mädchen und Frauen höchst umstritten. An diesen Beispielen zeigt sich, dass die moralische Verdammung solcher extremen Praktiken keineswegs allein auf deren fehlender Freiwilligkeit beruht, sondern auf erklärungsbedürftigen Wertvorstellungen, die eine Grenze legitimer Eingriffe am Körper setzen. Wie aber begründet sich die unterschiedliche Bewertung der aufgezählten Beispiele? Spielen nicht bloß kulturelle und damit moralisch relative Gründe eine Rolle? Besteht mehr als nur ein gradueller Unterschied beispielsweise zwischen dem Stechen von Ohrlöchern und der gezielten Vernarbung der Haut? Als Indiz für eine relativierende Sichtweise kann die in westlichen Ländern in Mode kommende Kultur der Körpermodifikation (»body modification«) gelten. Diesbezüglich finden sich nicht nur interkulturell variierende Bewertungen, sondern auch unterschiedliche individuelle Sichtweisen innerhalb der jeweiligen Kulturen. Was von den einen als bloße Veränderung des Körpers toleriert oder gar begrüßt wird, erscheint vielen anderen als ablehnungswürdige Verstümmelung. Waren innerhalb der westlichen Welt bis vor kurzem noch Tattoos und Piercings einer kleinen Minderheit vorbehalten, sind sie heute so verbreitet wie früher Ohrringe. Doch ist damit das Arsenal der freiwilligen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit keineswegs erschöpft. Gebräuchlich sind inzwischen Praktiken wie das Hinzufügen von verzierenden Brandnarben, Zungenspaltungen, subkutane Implantate, extreme Gewebedehnungen (»stretchings«), Genitalpiercings, Gewebeschnitte (»cuttings«), das Zusammennähen der Lippen, die Verankerung von Metallklammern in der Haut (»flesh stapling«) und das Verabreichen von Salzinjektionen zur Vergrößerung der Genitalien.8 Das Phänomen der Körpermodifikation ist bisher nur wenig untersucht. Offenbar ist den meisten Wissenschaftlern diese community, die

7 | Steven R. Cummings/Katie Stone: »Consequences of foot binding among older women in Beijing, China«, in: American Journal of Public Health, 87(10)/1997, S. 1677-1679. 8 | Wer sich einen Überblick verschaffen will, kann die Internetseite des Body Modification Ezines besuchen: http://www.bmezine.com (Stand: 30. September 2005).

2006-02-06 17-38-29 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

168 | Thomas Schramme durchaus das Potenzial besitzt, sich aus ihrem subkulturellen Status emporzuarbeiten9, nur schwer begreiflich. Vielen gelten die Befürworter der body modification als Spinner, den meisten sogar als pathologische Fälle.10 Doch haben jene nicht nur in bestimmten Eingeborenenkulturen ihre Vorläufer – sie bezeichnen sich daher manchmal gern als »modern primitives« –, sondern auch in einigen Avantgardekünstlern, wie den italienischen Futuristen um Emilio Filippo Tommaso Marinetti, die den menschlichen Körper ebenfalls als Material für selbst gesetzte Zwecke sahen.11

2. Kontexte der Diskussion Untersuchungen zum Thema Selbstverstümmelung finden sich, dem genannten Trend zur Pathologisierung selbstschädigenden Verhaltens folgend, insbesondere in der psychiatrischen Literatur. So werden Selbstverletzungen, etwa das Zufügen von Schnittwunden, häufig beim so genannten Borderline-Syndrom als symptomatisch beschrieben. Doch geschehen 9 | Vgl. Fakir Musafar: »Body-Play: State of Grace or Sickness?«, in: Armando R. Favazza: Bodies Under Siege. Self-Mutilation and Body Modification in Culture and Psychiatry. Second Edition, Baltimore 1996. 10 | Mir ist nur ein ernst zu nehmender wissenschaftlicher Artikel bekannt: Mark Benecke: »First Report of Nonpsychotic Self-Cannibalism (Autophagy), Tongue Splitting, and Scar Patterns (Scarification) as an Extreme Form of Cultural Body Modification in a Western Civilization«, in: American Journal of Forensic Medicine and Pathology, 200/1999, S. 281-285. Siehe aber auch Günther Stockinger: »Körperkult: Freiwillig ins Folterstudio«, in: Der Spiegel, 13/2000; Peter-Philipp Schmitt: »Rebellen wider die Norm. Schrill und selbst-bewusst: Die Artistentruppe ›Modern Primitives‹ macht die Haut zum Rummelplatz«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10. März 2002. 11 | »Wir glauben an die Möglichkeit einer unberechenbaren Zahl menschlicher Verwandlungen und erklären mit vollem Ernst, daß im Fleisch des Menschen Flügel ruhen. An dem Tage, an dem es dem Menschen möglich sein wird, seinen Willen dergestalt nach außen zu wenden, dass er sich wie ein unsichtbarer Arm über ihn hinaus fortsetzt, werden Traum und Wunsch, die heute leere Worte sind, souverän über den bezwungenen Raum und die bezwungene Zeit regieren.« Emilio Filippo Tommaso Marinetti, zit. nach: Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966, hier S. 135. Berühmt geworden ist auch der an Julien Offray de La Mettries Schrift Der Mensch eine Maschine (1747) erinnernde futuristische Slogan: »Wir fühlen wie Maschinen, wir fühlen uns aus Stahl erbaut, auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!«. Enrico Prampolini/Ivo Panaggi/Vinicio Paladini: »Die mechanische Kunst«, zit. nach: Baumgarth: Geschichte des Futurismus, hier S. 221.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 169

Selbstschädigungen im psychiatrischen Kontext zumeist unfreiwillig, aufgrund eines inneren Zwangs, so dass sie für unsere Fragestellung nur wenig informativ sind.12 Ein anderes, ebenfalls nahe liegendes Untersuchungsfeld ist der Masochismus. Würde man jedoch masochistische Verhaltensweisen generell als krankhaft bezeichnen, wären auch hier keine einschlägigen Beispiele von wirklich freiwilliger Selbstschädigung zu finden. So könnte man angesichts der psychiatrischen Kennzeichnung von Selbstschädigungen geneigt sein, leugnen zu wollen, dass das von mir untersuchte Phänomen überhaupt existiert. Kurz: Man könnte behaupten, dass Verstümmelungen niemals freiwillig bzw. auf nicht-pathologische Weise erfolgen. Um diesen Einwand zu entkräften, müsste zunächst eine ausgedehnte Studie der Kriterien von Freiwilligkeit erfolgen, die ich gleichwohl unterlasse. Welche Ergebnisse eine solche Untersuchung auch zu Tage befördern würde, eines jedenfalls scheint sicher: Falls Freiwilligkeit durch die Abwesenheit von äußerem und innerem Zwang bzw. von Fremdkontrolle gekennzeichnet ist, wenn demnach nicht das Ergebnis einer Entscheidung, sondern der Prozess der Entscheidungsfindung über die Freiwilligkeit einer Handlung entscheidet, dann existieren ganz offensichtlich Beispiele von zwar unverständlich anmutenden, aber dennoch tatsächlich freiwillig erfolgenden Verstümmelungen.13 Verstünde man Freiwilligkeit hingegen als einen inhaltlich bestimmten, am Ergebnis orientierten Begriff, könnte man der Ansicht sein, dass eine unnötige Selbstverstümmelung per definitionem niemals freiwillig erfolgen kann. Schon im Zuge meiner Kritik an der moralisierenden Lesart des § 228 StGB sollte deutlich geworden sein, dass ich eine solche substanzialistische Interpretation des Kriteriums der Freiwilligkeit nicht teile. In mythologischen und religiösen Kontexten finden sich viele Beispiele von Selbstschädigungen. Ödipus blendete sich selbst, nachdem ihm sein Vergehen bewusst geworden war. Auch die Flagellanten des Mittelalters und einige Kirchenheilige sind bekannt geworden für ihr selbstschädigendes Verhalten. Doch Ödipus und die Flagellanten betrachteten die Selbstverstümmelung bzw. Selbstkasteiung als geeignete Strafe für eine vermeintlich bzw. tatsächlich begangene Sünde. In ähnlicher Weise wird in der Bibel gefordert: »Wenn aber dein rechtes Auge dich zur Sünde verführen wird, so reiß es aus und wirf es von dir, denn es ist dir besser, daß eins deiner Glieder umkommt und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird« 12 | Für die psychiatrische Sichtweise siehe Favazza: Bodies Under Siege, der Selbstverstümmelung als eine morbide Form der Selbsthilfe (zur temporären Erleichterung noch unangenehmerer körperlicher und seelischer Zustände) ansieht. 13 | Siehe auch Joel Feinberg: Harm to Self, Oxford 1986, S. 126.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

170 | Thomas Schramme (Matthäus 5, 29). Die Selbstschädigung erfolgt in diesen Fällen zwar willentlich, aber insofern nicht freiwillig, als sie den Umständen geschuldet ist. Daher stellen diese Beispiele keine uns hier interessierenden Fälle dar, soll es doch ausschließlich um freiwillige, d.h. von den betroffenen Personen erwünschte Verstümmelungen gehen. Im Folgenden möchte ich einige genuin philosophische Argumentationen untersuchen, die für eine Bewertung freiwilliger Verstümmelung einschlägig sind. Die drei wichtigsten argumentativen Grundlagen sind die Idee von Pflichten gegen sich selbst (Abschnitt 3), der Wert der individuellen (prozessural verstandenen) Autonomie (Abschnitt 4) und der Begriff der Krankheit bzw. des Pathologischen (Abschnitt 5). Meines Erachtens sind diese gängigen Argumentationen für die Ablehnung von freiwilligen gravierenden Körpermodifikationen ungeeignet. Im letzten Abschnitt werde ich gleichwohl zu einer Überlegung kommen, die zumindest einige Praktiken der Selbstverstümmelung grundlegend in Frage stellt.

3. Pflichten gegen sich selbst In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten hat Immanuel Kant versucht, Pflichten gegen sich selbst zu begründen.14 Er äußert sich dort ausdrücklich auch zur moralischen Unrechtmäßigkeit von Selbstverstümmelungen. Doch das Konzept von Pflichten gegen sich selbst scheint von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil dabei Rechte und Pflichten in einer Person versammelt sind und es daher unklar ist, warum man sich nicht (in der Rolle des Anspruchsberechtigten) von der Ausübung einer Pflicht entbinden kann, so dass die Pflicht ins Leere läuft. Kant ist sich dieser Problematik und vermeintlichen Widersprüchlichkeit im Begriff der Pflichten gegen sich selbst durchaus bewusst, und so beginnt er seine Untersuchung damit, eben diese Antinomie aus dem Weg zu räumen. Sie entsteht, wie eben angedeutet, aufgrund der Einheit von Subjekt und Objekt der Verpflichtung. Wie soll es möglich sein, fragt Kant, sich selbst zu einer bestimmten Handlung bzw. Unterlassung zu nötigen? Analog zu der interpersonalen Konzeption von Verpflichtungen könnte die Pflicht jederzeit durch den Verpflichtenden aufgehoben werden. Die Bindung des Willens durch die Pflicht wäre gar keine. In § 6 weist Kant darüber hinaus auf den bekannten Grundsatz volenti non fit iniuria – dem (es so) Wollenden geschieht kein Unrecht – hin. Wenn man einer Pflicht zuwider handelt, so stellt dies die Verletzung eines Rechts dar, also ein Unrecht. 14 | Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, Zweiter Teil, §§ 1-22.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 171

Doch wenn eine Person eine andere von deren Pflicht entbindet und damit auf die Durchsetzung ihres Rechts verzichtet, dann geschieht, so Kant, kein Unrecht. Im Falle von selbstbezogenen Handlungen und Unterlassungen scheint aber das Einverständnis der von der Handlung betroffenen Person per definitionem vorausgesetzt zu sein, da offenbar eine Personalunion von Verpflichtendem und Verpflichtetem besteht. Kant löst diese Antinomie auf, indem er Subjekt und Objekt der Selbstverpflichtung gerade nicht in Personalunion sieht, sondern den Begriff des Menschen in zwei verschiedene Bedeutungen aufteilt: »Vernunftwesen« und »Sinnenwesen«. Es herrscht hier deshalb kein Widerspruch, weil sich das Vernunftwesen Mensch als Sinnenwesen selbst verpflichtet. Warum aber ist Selbstverstümmelung eine Pflichtverletzung? Kant unterteilt die Pflichten gegen sich selbst wie auch die Pflichten gegen andere in »vollkommene« und »unvollkommene«. In Bezug auf sich selbst verbieten vollkommene Pflichten Zuwiderhandlungen gegen den Zweck der menschlichen Natur, während unvollkommene Pflichten die eigene Vervollkommnung fordern. Selbstverstümmelung verstößt gegen eine vollkommene selbstbezogene Pflicht, weil sie der Selbsterhaltung zuwider läuft, die wiederum als notwendige Bedingung von Moralität überhaupt gelten muss. Da nach Kant die Selbsttötung ein Verbrechen darstellt, betrachtet er auch den »partialen Selbstmord« – also die Selbstverstümmelung – als moralisches Unrecht. In Kants Worten lautet die Argumentation: »Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d.i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte. Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war. Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z.B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines andern zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde.«15

Selbst wenn man Kants problematische Aufteilung des Menschen in Vernunft- und Sinnenwesen und auch seine Argumentation gegen den Freitod hinnimmt, reicht seine Argumentation nicht aus, um auch die Selbstverlet15 | Ebd., S. 422f.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

172 | Thomas Schramme zung in den Bereich des moralisch Verwerflichen zu ziehen. Schließlich wird dabei die Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns gar nicht gefährdet, geschweige denn beseitigt. Kants eigenes Beispiel der Zahnexplantation macht die Schwäche seines Argumentes überdeutlich. Auch die Rede vom »partialen Selbstmord« hilft nicht weiter, schließlich besteht ein kategorialer und nicht bloß gradueller Unterschied zwischen Selbstverstümmelung und Selbsttötung. Ihm bleibt die bereits angedeutete Alternative, die Selbstverstümmelung als Angriff auf einen Zweck der menschlichen Natur zu deuten.16 Der hier interessierende Zweck, der zugleich Pflicht sein muss, ist, so Kant an anderer Stelle, die eigene Vollkommenheit.17 Diese Vollkommenheit wiederum wird in moralischer Hinsicht gedeutet, d.h. die Vervollkommnung der Fähigkeit zur Moral wird zum spezifisch menschlichen Zweck, der zugleich Pflicht ist. Die Fähigkeit zur Moral zu besitzen, heißt, sich vernünftig eigene Zwecke setzen zu können: »Das Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen, ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der Tierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbunden, sich um die Menschheit durch Kultur überhaupt verdient zu machen, sich das Vermögen zu Ausführung allerlei möglichen Zwecke, so fern dieses in dem Menschen selbst anzutreffen ist, zu verschaffen oder es zu fördern, d.i. eine Pflicht zur Kultur der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Tier sich allererst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst.«18

In dieser Argumentation bleibt allerdings offen, ob jede Form der Selbstverstümmelung der Selbstvervollkommnung entgegenläuft und, falls nicht, bei welchen das so ist. Man könnte der Ansicht sein, dass Selbstverstümmelung in jedem Fall mit einer Einschränkung der körperlichen Funktionsfähigkeit und damit auch der individuellen Fähigkeit zur Moral einhergeht. Diese zu erhalten und nach Möglichkeit zu befördern, sei aber Pflicht. Doch scheint mir diese Argumentation nur für einige gravierende Formen der Selbstverstümmelung zu greifen, nicht generell. Zwar mag tatsächlich jede Verstümmelung mit einer relativen Verschlechterung der Handlungsfähigkeit einhergehen, weil dadurch körperliche Funktionsfähigkeiten verringert oder beseitigt werden. Es ist aber nicht ersichtlich, warum eine relative Einschränkung der Handlungsfähigkeiten problematisch sein sollte, solange die Fähigkeit zur Moral prinzipiell erhalten bleibt. Ist es Pflicht, möglichst 16 | Die Rede von einer menschlichen »Natur« ist an dieser Stelle nicht biologisch zu verstehen. 17 | Ebd., S. 385. 18 | Ebd., S. 392.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 173

tüchtig moralisch handeln zu können? Für diese These, so denke ich, bräuchte man zusätzliche Prämissen, die Kant selbst nicht zur Verfügung stellt; etwa eine perfektionistische Auffassung von typisch menschlichen Fähigkeiten, wie sie sich im so genannten ergon-Argument des Aristoteles findet.19 Kants eigene Auffassung, wonach Vervollkommnung Pflicht sei, bleibt eine bloße Behauptung. Neben dieser zunächst graduellen Frage: »Warum Vervollkommnung als Pflicht?« kommt eine zweite, und zwar qualitative, ins Spiel, wenn wir uns fragen, welche spezifischen Fähigkeiten zum moralischen Handeln notwendig sind. Nicht alle moralrelevanten Fähigkeiten werden durch mögliche Selbstverstümmelungspraktiken beeinträchtigt. Wenn man sich einen Zahn herausreißt, schränkt man jedenfalls keine moralrelevanten Fähigkeiten ein. Auch die Amputation einer Brust, wie im oben diskutierten Beispiel der Bogenschützin, führt nicht automatisch zu moralischer Unfähigkeit. Zuletzt ergibt sich ein gewichtiger Einwand gegen Kants Verdammung der Selbstverstümmelung auch aus folgender Überlegung, die dessen eigene Prämissen beim Wort nimmt: Kant ist geleitet von der Überzeugung, dass die spezifisch menschliche Fähigkeit in der Autonomie des Willens gründet, also in der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung. Darauf beruhen die Moralfähigkeit des Menschen und somit auch die Pflicht zur Selbstvervollkommnung. Nun kann man aber in der Modifikation des eigenen Körpers, in der Überschreitung seiner biologischen Gegebenheit, die höchste Form der Ausübung menschlicher Freiheit sehen. Wie schon gesagt, was einige Menschen als Verstümmelung ansehen, gilt anderen als Perfektionierung ihrer physischen Erscheinung.20 Diesem Argument zufolge würde zur Selbstvervollkommnung gerade auch die Manipulation der eigenen Physis gehören. Kants eigenes Beispiel des Kastraten stünde so in neuem Licht da: Der Kastrat manifestiert die höchste Ausformung menschlicher Sangesfähigkeit. Die freiwillige Verstümmelung hätte daher keineswegs immer als Zuwiderhandlung gegen selbstbezogene moralische Pflichten zu gelten.

19 | Aristoteles: Nikomachische Ethik (übersetzt von Olof Gigon), München 1972, Buch I. 20 | Vermutlich wird man meine Gleichsetzung von Autonomie im Kantischen Sinne mit einer nicht weiter qualifizierten Ausübung von Freiheit kritisieren wollen, scheint Kants Argument doch weniger auf die mögliche Beeinträchtigung der körperlichen Fähigkeiten abzuzielen als auf die im partialen Selbstmord zum Ausdruck kommende Verleugnung der eigenen Natur als einem moralfähigen Wesen. Meines Erachtens jedoch ist deutlich, dass die bloße Behauptung einer solchen Zuwiderhandlung im Falle freiwilliger Verstümmelung eine petitio principii darstellt.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

174 | Thomas Schramme

4. Das Schadensprinzip Noch ein weiteres, in liberalen Gesellschaften weithin akzeptiertes Prinzip läuft der Plausibilität von Pflichten gegen sich selbst zuwider. Gemeint ist das so genannte Schadensprinzip nach John Stuart Mill, welches besagt, dass ausschließlich solche Handlungen verboten sind und unterbunden werden dürfen, die anderen Menschen Schaden zufügen können. Solange keine andere Person betroffen ist, dürfen weder moralische noch rechtliche Sanktionen zum Einsatz kommen. Die eingeklagte individuelle Freiheit erstreckt sich demnach über nahezu den gesamten persönlichen Bereich. Zum eigenen Guten darf niemand gezwungen werden, wie Mill ausdrücklich festhält: Über den eigenen Körper und den eigenen Geist, bleibt das Individuum Souverän.21 Kant hatte Pflichten gegen sich selbst postuliert und damit einige der ausschließlich selbstbezogenen Handlungen dem Bereich der Moral zugeschlagen. Mill hingegen, der als ein definierendes Kriterium des Moralischen dessen Sanktioniertheit ansieht, beschränkt die Einflusssphäre der gemeinschaftlichen moralischen Beurteilung auf diejenigen Handlungen, welche andere Personen betreffen. Da jedoch Selbstverstümmelungen und Körpermodifikationen nur die betreffende Person allein tangieren, sind sie moralisch erlaubt. Erfolgen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch andere, sind sie dann zugelassen, wenn sie freiwillig erfolgen.22 Allerdings, und hierin liegt ein Vorbehalt gegen eine mögliche Überinterpretation Mills, lässt dieser durchaus Kritik gegenüber ablehnungswür-

21 | »One very simple principle, as entitled to govern absolutely the dealings of society with the individual in the way of compulsion and control, whether the means used be physical force in the form of legal penalties, or the moral coercion of public opinion. That principle is, that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number is […] to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not a sufficient warrant. He cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do so, because it will make him happier, because, in the opinions of others, to do so would be wise or even right. […] Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.« John Stuart Mill: On Liberty (hg. von John Gray), Oxford World’s Classics, Oxford 1998, S. 13f. Ausdrücklich zum Konzept der Pflichten gegen sich selbst äußert Mill sich ebd., S. 87. 22 | Mit dem Einwand, jede Handlung betreffe letztlich auch andere Personen, etwa indem man damit ein schlechtes Beispiel für andere abgebe, befasst sich Mill ausführlich, und er weist diesen Einwand, meines Erachtens überzeugend, zurück. Vgl. ebd., S. 88ff.

2006-02-06 17-38-30 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 175

dig erscheinenden Verhaltensweisen zu.23 Wogegen Mill sich wehrt, das ist die Moralisierung und letztlich das Verbot von Handlungen, die allein die eigenen Belange tangieren. Da jeder Mensch nach dem für ihn guten Leben strebe, müsse jeder in letzter Konsequenz selbst wissen, was er als sein eigenes Gutes ansehen möchte. Wer in der Lage ist, sich sein eigenes Urteil zu bilden24, dem darf man nicht in den Arm fallen, selbst wenn er dabei unbelehrbar in sein vermeintliches Unglück rennt. Aber gilt dies auch dann, wenn sich jemand in krasser Weise selbst Schaden zufügt? Kann eine paternalistische Intervention in diesem Fall nicht doch erlaubt sein? Wenn es Mill darum geht, Regelungen zu finden, die Schaden verhindern, dann sollte dies doch auch für selbstbezogene Schädigungen gelten; so jedenfalls könnte man meinen. Die Schwierigkeit bestünde dann darin, einen vermeintlichen Schaden gegen das Urteil des Betroffenen als tatsächlichen auszuzeichnen, d.h. eine Theorie »objektiven« Schadens hervorzubringen. Man könnte sogar versuchen, Mills an sich antipaternalistische Ausführungen in dieser Richtung zu deuten.25 Denn er lässt verhindernde Eingriffe von außen dann zu, wenn dabei jemand gegen sein eigenes grundlegendes Selbstinteresse verstößt. Ein Beispiel dafür ist die freiwillige Versklavung, die Mill ausdrücklich ablehnt.26 Er argumentiert an dieser Stelle ähnlich wie Kant: Es sei selbstwidersprüchlich, ein Prinzip, das die individuelle Freiheit so weit wie möglich schützen soll, auch auf Verhaltensweisen anzuwenden, welche die Bedingungen der Möglichkeit von individueller Freiheit unterminieren. Entsprechend wäre weiter zu argumentieren, dass bestimmte Formen der körperlichen Veränderung die Grundlagen der Selbstbestimmung tangieren und deshalb abzulehnen sind. Aus der Diskussion der Thesen Kants und Mills bleibt daher für die Bewertung der freiwilligen Verstümmelung festzuhalten, dass diese zwar keinen generellen Verstoß gegen moralische Gebote darstellt, sich damit aber die mögliche Kritik noch nicht erschöpft. Schließlich erleidet man durch eine Verstümmelung offenkundig einen gesundheitlichen Schaden. Statt auf die Sprache der Moral zu setzen, sollte die Kritik demzufolge am Selbstinteresse der betroffenen Personen ansetzen: Es ist irrational, so lautet 23 | »Human beings owe to each other the help to distinguish the better from the worse, and encouragement to choose the former and avoid the latter.« Mill: On Liberty, S. 84. 24 | Kinder und psychisch Beeinträchtigte sind von diesen Überlegungen ausgeschlossen. 25 | Vgl. etwa David Lyons: Rights, Welfare, and Mill’s Moral Theory, Oxford 1994, S. 132ff. 26 | Mill: On Liberty, S. 113ff.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

176 | Thomas Schramme die These, sich selbst freiwillig körperliche Schäden zuzufügen bzw. zufügen lassen zu wollen.

5. Absolutes und relatives Wohl Es ist kaum zu bestreiten, dass Verstümmelungen und viele andere Körpermodifikationen mit einer Verschlechterung der körperlichen Funktionsfähigkeit einhergehen. Fast alle dieser Eingriffe haben Krankheitswert. Da Gesundheit zweifelsohne ein wesentlicher prudentieller Wert ist, könnte man geneigt sein, die Ablehnungswürdigkeit von Verstümmelungen, auch von solchen, die freiwillig erfolgen, in deren Irrationalität zu verankern.27 Nun beruht aber diese Argumentation auf der Prämisse, dass pathologische Zustände notwendigerweise schlecht für den Betroffenen sein müssen. Wenn ein Mensch, der sich selbst schädigt, anderer Meinung sei, täusche er sich über sein eigenes Wohlergehen, das objektiv durch die Gesundheitsnorm der normalen Funktionsfähigkeit definiert werden könne. Meiner Ansicht nach ist diese Prämisse nicht überzeugend. Da ich mich jedoch an anderer Stelle28 eingehender mit diesem Problem befasst habe, möchte ich hier einfach voraussetzen, dass das Vorliegen eines bloß komparativen Nachteils nicht hinreicht, um das Vorliegen eines absoluten Schadens (oder Leids) zu begründen. Solange dies aber nicht gelingt, muss auch die freiwillige Verstümmelung als eine Form der wertneutralen Körpermodifikation gelten. Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass es tatsächlich einen objektiven Kern des menschlichen Wohls gibt, der verletzt werden kann. Ähnlich wie Mill und letztlich auch Kant, will ich behaupten, dass grundlegende Fähigkeiten wie Mobilität oder Wahrnehmung notwendige Bestandteile einer autonomen Lebensweise darstellen. Für die Bewertung von Selbstverstümmelungen kommt es dann darauf an, welche Art von Schädigungen vorliegen – ob diese bloß relativ gegenüber einer Gesundheitsnorm als Nachteil oder aber absolut als Leid zu gelten haben. Doch sind Überlegungen dieser Art zu grundlegenden menschlichen Fähigkeiten zum einen noch nicht weitreichend genug, um das verbreitete Unbehagen gegenüber freiwilliger Verstümmelung zu erklären. Gängige Körpernormen decken offenbar ein breiteres Feld ab, als mit dem Verweis auf einen Kernbereich menschlicher Fähigkeiten gezeigt werden kann. 27 | Vgl. Bernard Gert u.a.: Bioethics. A Return to Fundamentals, Oxford 1997, S. 26ff. u. 93ff. 28 | Thomas Schramme: »Behinderung. Absolute oder relative Einschränkung des Wohlergehens?«, in: Ethik in der Medizin, 2/2003. Siehe auch ders.: »Natürlichkeit als Wert«, in: Analyse & Kritik, 2/2002.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 177

Zum anderen wirkt die Begründung noch immer ein wenig schal: Warum sollten wir uns überhaupt darum sorgen, ob wir in der Lage sind, autonom zu handeln oder selbstbestimmt zu leben? Wird damit nicht bloß ein spezifisches Lebensideal zur Norm erklärt? Im Folgenden will ich abschließend einen anderen Weg beschreiten. Dabei soll eine alternative Form der Wertgenerierung vorgestellt werden, die strengen philosophischen Begründungsmaßstäben zwar nicht genügen mag, die aber hoffentlich geeignet ist, »den Geist entweder zur Zustimmung oder zur Verwerfung der Theorie zu bestimmen«.29

6. Der Körper als Wertquelle Mill beginnt seine Schrift Utilitarismus mit Überlegungen zu den »ersten Prinzipien« in der Philosophie.30 Ähnlich wie wir in Logik und Mathematik bei der Begründung von Einzelsätzen auf grundlegende Axiome zurückverwiesen sind, müssen wir auch in der praktischen Philosophie – wenn wir nach dem grundlegenden Zweck menschlichen Handelns fragen – auf ein derart basales Prinzip zurückgreifen können. Entweder diese prinzipielle Grundlage wird als a priori evident angesehen oder aber sie wird in induktiver Manier aus Beobachtung und Erfahrung gewonnen. Mill vergleicht das Vorgehen, zu jenem ersten Prinzip zu gelangen, mit dem Ausgraben der Wurzeln eines Baumes. Selbst wenn wir zu diesen nicht vorstoßen, erfüllen sie dennoch ihre Aufgabe. Die Frage, der ich hier nun nachgehen will, lautet, ob der menschliche Körper eine solche Wurzel darstellen kann; ob also der Körper als Wertquelle fungieren kann. Spätestens seit David Humes Überlegungen zur Unüberbrückbarkeit der Lücke zwischen »Sein« und »Sollen«, seit dem Argument der »offenen Frage« bei George E. Moore oder auch den Ansichten John L. Mackies zur Subjektivität von Werten sieht die philosophische Standardauffassung vor, dass Werte vom Menschen selbst in die Welt gesetzt werden.31 Inwieweit sie kulturellen Variationen und letztlich sogar der Willkür unterliegen, ist sicherlich strittig. Man muss kein radikaler Werterelativist sein, doch die Existenz »objektiver« Werte – im Sinne einer Unabhängigkeit von jedem menschlichen Standpunkt – wird in der Philosophie nur selten postuliert. Wird weiter gefragt, welche Charakteristika Dingen und Zuständen zukommen müssen, damit sie als wertvoll gelten können, so wird meist auf Interessen, Wünsche, Lustempfindungen oder allgemein auf pro-attitudes 29 | John Stuart Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1985, S. 9. 30 | Ebd., S. 3ff. 31 | Obwohl zumindest Moore selbst das anders sah.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

178 | Thomas Schramme verwiesen, welche die Werthaftigkeit dieser Dinge fundieren. Prudentielle Werte, d.h. solche, die auf das individuelle Wohlergehen gerichtet sind, nehmen dabei nicht selten die Eigenschaft des Idiosynkratischen an; sie scheinen recht beliebig wählbar zu sein. Der eine wünscht sich dies, der andere will das. Doch diese Sichtweise überzeugt nicht. Denn so wenig wir bei unserer Erkenntnis der Welt einen Blick von Nirgendwo einnehmen, so wenig können wir in der Generierung von Werten gänzlich voraussetzungslos beginnen. Otto Neuraths »Schiff« fährt auch auf der See der praktischen Philosophie.32 Das menschliche Bewusstsein – genauer: der Wille – gilt üblicherweise als Quelle von Werthaftigkeit und Normativität. Doch das Bewusstsein ist nur ein Aspekt des menschlichen Organismus, die Körperlichkeit ist ein weiterer. Genauer bilden Körper und Geist untrennbar in ihrer Einheit den Menschen. Warum sollte dann nicht der menschliche Körper als ein solcher integraler Aspekt des menschlichen Daseins eine Wertquelle eigener Art darstellen? Und, wenn dem so ist, wie könnte eine solche wertanthropologische Argumentation aussehen? Um Körpernormen und Körperwerte näher in den Blick zu nehmen und dabei sozial konstruierte von anthropologisch vorgegebenen Elementen zu unterscheiden, eignen sich insbesondere Beispiele aus der Kunst. Dort werden, wie nirgends sonst – sieht man einmal von illegalen Praktiken ab –, Überschreitungen sozialer Regeln ausprobiert. Die leitende Fragestellung sollte dabei sein, ob diese Illustrationen neben dem Nachweis der Relativität von Normativität auch Hinweise auf deren zumindest partielle Natürlichkeit liefern können. Die Veranschaulichungen, derer ich mich hier bedienen möchte, stammen von einer österreichischen Künstlergruppe um Otto Mühl, Günther Brus, Rudolf Schwarzkogler und Hermann Nitsch, die unter dem Namen »Wiener Aktionismus« bekannt geworden ist.33 Die Wiener Aktionisten betrachteten den Körper als Material. In ihren »Materialaktionen« setzten sie ihn in der gleichen Weise ein, wie Künstler sonst die Leinwand, den Pinsel und die Farbe benutzen. Nachdem ihnen dabei zunächst der menschliche Körper, etwa in Brus’ Aktion Malerei –

32 | »Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.« Otto Neurath: »Protokollsätze«, in: Erkenntnis, 3/1932, S. 206. 33 | Auch Arbeiten anderer Performancekünstler wie Marina Abramovic´, Ulay, Stelarc oder Chris Burden sind in diesem Kontext von Interesse. Siehe zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Körper allgemein Marina Schneede: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2002.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 179

Selbstbemalung – Selbstverstümmelung (1965), als Leinwand diente, gingen sie dazu über, die »Entzweckung« des Körpers zu radikalisieren. Er sollte in noch stärkerem Maße materialisiert, formalisiert, sämtlicher Funktionen enthoben und damit beim Betrachter eine Deutungsoffenheit bzw. »Dispositionierung des Bewusstseins« erzeugt werden.34 Der Weg der Entzweckung und Verdinglichung des Körpers führte in letzter Konsequenz zur Selbstverstümmelung. Während Schwarzkogler in seinen Aktionen die Selbstverstümmelung noch vorgetäuscht hatte, ging Brus dazu über, sie de facto zu vollziehen. In seiner Performance Zerreißprobe (1970) trieb er die »Materialanalyse« ins Extrem. Der Ablauf wurde folgendermaßen protokolliert: »Brus kniet bekleidet mit Slip, Damenstrümpfen auf einem weißen Tuch. Er legt ein durchsichtiges Plastikdreieck auf seinen Schenkel und schneidet an einer Kante mit einer Rasierklinge ins Fleisch. Brus klappt das Dreieck zum Knie und wartet, bis das Blut am Dreieck herunterläuft […], hakt zwei Schnüre neben der Wunde in den Strumpf und klafft ihn auseinander […]. Er schneidet sich mit der Rasierklinge in den kahlen Schädel und wartet, bis aus dem Schnitt das Blut bis zum Gesäß läuft. Er bindet Schnüre an seine Knöchel und zieht mit den Schnüren die Beine auseinander […], peitscht mit einem Riemen auf den Boden […], schreit, wälzt sich bis zur Erschöpfung, wölbt den Bauch nach oben, berührt den Boden nur mit Kopf und Füßen, verharrt so bis zur Erschöpfung.«35

Indem die Aktionisten in ihren Performances die dem Körper üblicherweise zugeschriebenen Zwecke beseitigten, wollten sie gesellschaftlich wirkende Reglementierungen offen legen: »die körper, die dinge, die wir sonst als objekte unserer zwecke sehen und bewerten, werden durch die materialaktion radikal entzweckt«.36 Die Selbstverstümmelung ist dabei die denkbar radikalste Überschreitung der körperbezogenen Zweckfokussierung. Sie erscheint dem Betrachter im wahrsten Sinne sinnlos. Gleichzeitig aber galt den Aktionisten die Körperlichkeit als Hort der Unmittelbarkeit: »ein anderes schauen, nicht das sehen, welches die alltäglichen, glatten, reinlichen dinge zum zweck der differenzierung aufnimmt, welches nur mehr fertige sprachli-

34 | »Die Materialisation des Körpers dispositioniert die Position des Körpers, die dieser in der gesellschaftlichen Ordnung einnimmt bzw. diese ihm zuschreibt«. Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewusstseins, München 2001, S. 219. 35 | Zit. nach Schneede: Mit Haut und Haaren, S. 24. 36 | Otto Mühl, zit. nach Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus, S. 222.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

180 | Thomas Schramme che begriffe registriert, interessiert mich, sondern mir geht es um jenes verloren gegangene schauen, das die zu beschauenden objekte vollsinnlich wahrnimmt.«37

Während der Geist ideologisch bearbeitet werden kann, gilt dies nicht für den Körper. Der Körper spricht eine Sprache, die nicht »verdreht« werden kann, sondern unmittelbar kommuniziert wird. Indem die Wiener Aktionisten Schockelemente in ihre Aktionen integrierten, konnten sie körperliche Reaktionen auch bei den Zuschauern hervorrufen, wie das offenbar gerade in der unmittelbaren Körperlichkeit der Performance möglich ist. Bei der Zerreißprobe kommunizierte der Körper Brus’ mit denen der Betrachter, indem er körperliche Reaktionen des Schocks, des Ekels und der Abscheu hervorrief. In seiner Unmittelbarkeit ist der Körper demnach der Ort unverstellter, nicht reflexiver Empfindung. Die Entfunktionalisierung des Körpers in den Aktionen entkleidet ihn seiner Bedeutungen und dringt damit zur reinen Erscheinung vor. Die Sinnlosigkeit wird damit zum Ort der Authentizität: »Es kommt zu einer Umkehr der traditionellen Sichtweisen. Nicht die Bedeutung und der Sinn sind hinter den Erscheinungen verborgen, sondern die Erscheinungen, das Phänomen ist hinter der mit Bedeutungen belegten Welt verborgen. Indem sie die Erkenntnis lenken, die Wahrnehmung determinieren, versperren Sinn und Bedeutung, die vorgegeben sind, den Zugang zur reinen Erscheinungswelt.«38

Dass Sinnesempfindungen das Fundament und nicht nur Instrument der Erkenntnis darstellen, war im Logischen Empirismus die Auffassung Moritz Schlicks. Er sprach – gegen Neuraths und Rudolf Carnaps Protokollsätze – von »Konstatierungen«.39 Zwar ist bereits durch Neuraths Metapher des Schiffes auf hoher See deutlich geworden, dass selbst Konstatierungen nicht als theorieneutrale Gewissheiten gelten dürfen. Doch muss dieser erkenntnistheoretische Streit uns hier nicht weiter interessieren. Wichtig scheint mir ein anderer Gedanke: Indem der Körper als Ort des unmittelbaren Erlebens ins Spiel kommt, kann er, auch wenn dies so nicht ausdrücklich von den Aktionisten formuliert worden ist, als Quelle von Werten gelten: Im Schockerleben des Zuschauers werden Wertkonstatierungen getätigt. Wertkonstatierungen sind nicht so zu verstehen, dass mit ihnen objek37 | Hermann Nitsch, zit. nach Kerstin Braun: Der Wiener Aktionismus. Positionen und Prinzipien, Wien 1999, S. 71. 38 | Braun: Der Wiener Aktionismus, S. 36. 39 | Moritz Schlick: »Über das Fundament der Erkenntnis«, in: Erkenntnis, 4/1934, S. 79-99.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 181

tiv existierende werthafte Eigenschaften oder Dinge erkannt werden, sondern hier werden in einem Akt Werte sowohl erschaffen als auch erfahren, da diese Werte erst – indem sie ins Bewusstsein rücken – in die Welt treten. Ihre Existenz und Erkenntnis ist also stets vom menschlichen Erleben abhängig. Dieses Konzept der Wertkonstatierungen mag sogar anschlussfähig an frühere Werke des logischen Empirismus sein. So schrieb Carnap in seiner Abhandlung Der logische Aufbau der Welt aus dem Jahre 1928: »Die Konstitution der Werte aus gewissen Erlebnissen, den ›Werterlebnissen‹, zeigt in mehrfacher Hinsicht eine Analogie zur Konstitution der physischen Dinge aus den ›Wahrnehmungserlebnissen‹ (genauer: aus den Sinnesqualitäten).«40

Falls es so etwas wie universelle Schockerlebnisse geben sollte, so würden alle Menschen in dieser Hinsicht Werte oder besser: Unwerte teilen. Doch die Tatsache, dass unmittelbare Wertkonstatierungen selten auftreten, Werte vielmehr meist durch verschiedene »bearbeitende« Instanzen wie Religion oder Kultur vermittelt sind, scheint einer solchen Erwartung entgegenzustehen. Entsprechend hätte man, so wie die Wiener Aktionisten dies versucht haben, auf die Unmittelbarkeit der Körperlichkeit zurückgehen, um zu Wertkonstatierungen zu gelangen. Der kulturelle oder religiöse »Überbau« markiert den Bereich gesellschaftlich konstruierter Werte und Normen, die unmittelbare Körperlichkeit dagegen den der anthropologischen Werte und Normen. Selbstverständlich können diese Wertbereiche miteinander in Konflikt geraten, was man unschwer an Beispielen wie der Genitalverstümmelung deutlich machen kann. Ihrer religiösen Bedeutung beraubt, führen diese beim Betrachter notgedrungen zu einem Schockerlebnis. Man wird vielleicht einwenden, dass für die Bewertung der Selbstverstümmelung aus der hier präsentierten These keine klare Position folgt. Nicht nur bleibt unklar, welche spezifischen Formen der Selbstverstümmelung solche Schocks auslösen würden, wenn sie ihrer kulturellen oder religiösen Deutung entbunden wären (so sie nicht unter allen Umständen Schockreaktionen hervorrufen), fraglich ist auch, ob mit den Wertkonstatierungen mehr als nur ein Ausgangsmaterial für die Bewertung freiwilliger Selbstverstümmelung gefunden ist. Warum sollten anthropologisch gefundene Werte ihrerseits sakrosankt sein? Warum sollte man sich von ihnen nicht durch bewusste Entscheidungen entfernen können? Liegt bei der Berufung auf Schockerlebnisse nicht bloß eine Erklärung der Herkunft von Werten und entsprechenden Abneigungen, nicht aber eine Begründung solcher Abwertungen vor? 40 | Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998, S. 203.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

182 | Thomas Schramme Diese Einwände beruhen auf einem Missverständnis. Denn es geht gar nicht um eine uneingeschränkte Begründung von Werten. Gerade das wurde ja in Frage gestellt. Falls die eben vorgebrachte Argumentation überzeugend sein sollte, dann sind die anthropologischen Wertkonstatierungen Äußerungen menschlicher Wertungen. Darüber hinaus zu fragen, ob sie auch unsere Werte sein sollen, ist verfehlt, weil wir gar nicht anders können, als sie als unsere Wertungen hinzunehmen. Sie sind uns unverfügbar. Wir können uns nicht dazu entscheiden, sie zu erleben oder nicht. Die Tatsache, dass religiöse oder kulturelle Werte diesen anthropologisch verankerten Werten bisweilen zuwiderlaufen, braucht nicht bestritten zu werden. In Bezug auf die Frage, ob freiwillige Verstümmelung erlaubt sein soll, bedingen sie eine Abwägung zwischen diesen beiden Wertsphären. Wie aber diese Ausbalancierung letztlich auszusehen hat, darüber kann keine allgemeine Aussage oder Vorentscheidung getroffen werden. Auch wenn man ein generelles Primat der anthropologischen Werte postulieren kann, das Resultat der jeweiligen Abwägung hängt stets von den in einer Gesellschaft vorherrschenden Werten ab und ist damit ständig im Fluss. Wie wir gesehen haben, hat sich z.B. die übergreifende Bewertung von gravierenden körperlichen Eingriffen aus ästhetischen Gründen in den westlichen Ländern mit der Zeit stark verändert. Ein anderer möglicher Einwand zielt auf die vermeintliche Wirkungslosigkeit und fehlende Operationalisierbarkeit des hier vertretenen Ansatzes. Wenn der Schock ein Indiz für anthropologische Werte sein soll, dann müssten Schockerlebnisse herbeigeführt werden, um derartige Werte erkennbar werden zu lassen. Dazu wiederum müssten kulturelle Bedeutungsüberformungen beseitigt werden. Wie aber soll das möglich sein? Immerhin eine Institution ist hier genannt worden, welche die geforderte Reduktion zu leisten imstande ist: die Kunst.41 Die Einsicht, dass freiwillige Verstümmelungen – zumindest in ihren gravierenden Formen – gegen anthropologische Werte verstoßen, kann das weit verbreitete Unbehagen ihnen gegenüber erklären. Sind die widerstreitenden kulturellen oder religiösen Zwecke fest etabliert, kann sich das entsprechende Missfallen allerdings verlieren, wenn diese die anthropologische Sphäre gewissermaßen überwölben. Demnach ist die Beobachtung, dass die freiwillige Verstümmelung in unserer Kultur häufig abgelehnt wird, nicht mehr als nur ein zeithistorischer Befund, der sich ändern mag, wenn sich die Gewichte zwischen kulturellen und religiösen Wertungen einerseits, an41 | Wobei man – über das bisher Gesagte hinaus – insbesondere auch an die Filmkunst denken kann. Man führe sich nur den Film Un chien andalou (1929) von Salvador Dalí und Luis Buñuel vor Augen, bei dem einer Frau mit einem Rasiermesser durch den Augapfel geschnitten wird.

2006-02-06 17-38-31 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Freiwillige Verstümmelung | 183

thropologischen Wertkonstatierungen andererseits verschieben. Ich habe mit meinen Überlegungen einen Weg anzudeuten versucht, auf dem man zu basalen anthropologischen Werten vordringen kann. Ob man aber diese Wertungen – statt der religiös und kulturell aufgeladenen Wertvorstellungen – zugrunde legen soll, will man moralische und möglicherweise sogar rechtliche Reglementierungen freiwilliger Verstümmelung festlegen, ist eine Frage, die nicht in den Entscheidungsbereich der Philosophie fällt.

Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik (übersetzt von Olof Gigon), München 1972. Bataille, Georges: »Die Souveränität«, in: ders.: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, München 1978. Baumgarth, Christa: Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966. Benecke, Mark: »First Report of Nonpsychotic Self-Cannibalism (Autophagy), Tongue Splitting, and Scar Patterns (Scarification) as an Extreme Form of Cultural Body Modification in a Western Civilization«, in: American Journal of Forensic Medicine and Pathology, 200/1999, S. 281285. Braun, Kerstin: Der Wiener Aktionismus. Positionen und Prinzipien, Wien 1999. Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998. Cummings, Steven R./Stone, Katie: »Consequences of foot binding among older women in Beijing, China«, in: American Journal of Public Health, 87(10)/1997, S. 1677-1679. Favazza, Armando R.: Bodies Under Siege. Self-Mutilation and Body Modification in Culture and Psychiatry. Second Edition, Baltimore 1996. Feinberg, Joel: Harm to Self, Oxford 1986. Gert, Bernard u.a.: Bioethics. A Return to Fundamentals, Oxford 1997. Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewusstseins, München 2001. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1968. La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch eine Maschine, Stuttgart 2001. Lyons, David: Rights, Welfare, and Mill’s Moral Theory, Oxford 1994. Mill, John Stuart: On Liberty (hg. von John Gray), Oxford World’s Classics, Oxford 1998. Mill, John Stuart: Der Utilitarismus, Stuttgart 1985. Musafar, Fakir: »Body-Play: State of Grace or Sickness?«, in: Favazza: Bodies Under Siege. Neurath, Otto: »Protokollsätze«, in: Erkenntnis, 3/1932, S. 204-214.

2006-02-06 17-38-32 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

184 | Thomas Schramme Pitts, Victoria L.: In the Flesh: The Cultural Politics of Body Modification, New York u.a. 2003. Schlick, Moritz: »Über das Fundament der Erkenntnis«, in: Erkenntnis, 4/1934, S. 79-99. Schmitt, Peter-Philipp: »Rebellen wider die Norm. Schrill und selbst-bewusst: Die Artistentruppe ›Modern Primitives‹ macht die Haut zum Rummelplatz«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10. März 2002. Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2002. Schramme, Thomas: »Natürlichkeit als Wert«, in: Analyse & Kritik, 2/2002, S. 249-271. Schramme, Thomas: »Behinderung. Absolute oder relative Einschränkung des Wohlergehens?«, in: Ethik in der Medizin, 2/2003, S. 180-190. Stockinger, Günther: »Körperkult: Freiwillig ins Folterstudio«, in: Der Spiegel, 13/2000.

2006-02-06 17-38-32 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 163-184) T02_03 schramme.p 107239497350

Bin ich schön? Über Körpertuning

2006-02-06 17-38-33 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 185

) T03_00 respekt.p 107239497822

2006-02-06 17-38-33 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 186

) vakat 186.p 107239497966

Komplizen der Schönheit? | 187

Komplizen der Schönheit? Anmerkungen zur Debatte über die ästhetische Chirurgie Johann S. Ach

Einleitung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist eine doppelte, auf den ersten Blick widersprüchliche Beobachtung: Klientinnen und Klienten der ästhetischen Chirurgie geben als Motiv für die Durchführung einer Schönheitsoperation häufig eine erhoffte Steigerung ihres Selbstwertgefühls an. Die meisten Klientinnen und Klienten behaupten, den Eingriff, wie sie sagen, letztlich »für mich selbst« machen zu lassen. Gleichzeitig ist aber unübersehbar, dass sozial und kulturell vermittelte ästhetische Normen bei der Inanspruchnahme der ästhetischen Chirurgie eine wichtige Rolle spielen. Einerseits scheint die Schönheitschirurgie also neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung und der Selbsterschaffung zu eröffnen; andererseits folgen die Klientinnen und Klienten dabei offenbar sozialen Vorgaben und herrschenden Vorstellungen. Dieser Beobachtung werde ich im Folgenden etwas genauer nachgehen. Dafür ist es zunächst erforderlich, in der gebotenen Kürze die Fragen zu stellen, welche Ziele die handelnden Akteure mit ästhetisch-chirurgischen Eingriffen verfolgen und was sie unter »Schönheit« verstehen (1-3). Daran anschließend werde ich diskutieren, ob und in welchem Sinne Entscheidungen für eine Schönheitsoperation »autonom« genannt werden können bzw. ob man im Gegenteil davon ausgehen muss, dass die Schönheitschirurgie, wie insbesondere von feministischen Autorinnen behauptet wurde, Ausdruck eines ihr zugrundeliegenden Systems moralisch unakzeptabeler

2006-02-06 17-38-34 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

188 | Johann S. Ach Einstellungen und Handlungen ist und damit, statt neue Spielräume von Selbstbestimmung zu eröffnen, nur zu einer Perpetuierung suspekter gesellschaftlicher Normen und Bedingungen beiträgt (4). Letztere Behauptung ist auch für das so genannte Komplizen-Argument grundlegend, also für die Behauptung, ästhetische Chirurginnen und Chirurgen (und ihre Klientinnen und Klienten) machten sich zu Komplizen eines moralisch unakzeptablen oder ungerechten Systems (5). Abschließend werde ich einige nahe liegende Schlussfolgerungen für den praktischen Umgang mit der Schönheitschirurgie ziehen, die sich aus dieser Diskussion ergeben (6).

1. Hässliches Entlein, schöner Schwan Die ästhetische Chirurgie hat in den zurückliegenden Jahren zunehmend Eingang in den Alltag gefunden.1 Tausende von Frauen und immer häufiger auch Männer legen sich im Wortsinn »unters Messer« um ihr äußeres Erscheinungsbild zu korrigieren, zu verbessern bzw. ihren Wünschen anpassen zu lassen. Sie lassen sich Fett absaugen, ihre Brüste verkleinern oder vergrößern, Oberschenkel, Gesäß oder die Bauchdecke straffen, Augenlieder, Nasen und Ohren korrigieren, Tränensäcke entfernen, Falten unterspritzen. Die Entscheidung, sich einem schönheitschirurgischen Eingriff zu unterziehen, ist heute längst keine exzentrische Entscheidung mehr, die nur von einigen wenigen Reichen und Schönen getroffen würde. Einer repräsentativen Umfrage zufolge konnten sich im Jahre 2001 immerhin 15,5 Prozent der Befragten vorstellen, sich »vom Chirurgen verschönern zu lassen«.2 47,1 Prozent der Befragten hielten eine Schönheitsoperation für sinnvoll, wenn sie der Beseitigung »schwerer körperlicher Verunstaltungen« dient. 36,7 Prozent der Interviewten erklärten ästhetisch-chirurgische Eingriffe für sinnvoll, wenn »jemand unter seinem Aussehen leidet«, und immerhin noch 7,3 Prozent der Befragten waren der Meinung, es sei »in Ordnung, wenn Menschen lange jung bleiben wollen und dafür Schönheitschirurgie nutzen«.3 Einer Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) zufolge ist in Deutschland sogar jede zweite Frau »generell nicht abgeneigt, sich für die Schönheit unters Messer zu legen«.4

1 | Zur Geschichte der Schönheitschirurgie vgl. Sander L. Gilman: Making the Body Beautyful. A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton, Oxford 2001. 2 | »Für die Schönheit unters Messer?«, in: Apotheken Umschau, 2001. 3 | Ebd. 4 | Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie: Daten und State-

2006-02-06 17-38-34 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 189

Zu den Eingriffen, die im Bereich der Ästhetischen Chirurgie vor allem vorgenommen werden, gehören die Liposuction zum Absaugen überschüssiger Fettzellen, die Exzision der Haut (Dermolipektomie) zur Straffung von Bauch, Oberschenkel oder Oberarm, Brustverkleinerungen und Bruststraffungen, Brustvergrößerungen mit Implantaten, Facelifts zur Straffung der Gesichtshaut, Hautverjüngerungen durch Abschleifen, Peeling oder Laserbehandlung, Lidplastiken zur Korrektur der Augenober- oder Unterlieder, Ohrplastiken zur Korrektur abstehender Ohren und Rhinoplastiken zur Korrektur der Nasenform.5 Aber auch ausgefallenere Eingriffe, z.B. Schamlippenverkleinerungen, Brustwarzen- oder auch Penisverlängerungen, werden angeboten. Die Einschätzungen darüber, wie viele Schönheitsoperationen in Deutschland durchgeführt werden, gehen weit auseinander. In einer Stellungnahme der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland (GÄCD) ist von jährlich rund 135.000 Schönheitsoperationen sowie rund 41.000 Faltenbehandlungen die Rede.6 Andere Schätzungen gehen von der doppelten Zahl aus.7 Entsprechende Statistiken werden in Deutschland bislang nicht geführt. Neben der Fettabsaugung gehört die Brustvergrößerung zu den häufigsten ästhetisch-chirurgischen Eingriffen. Nach Einschätzung des Präsidenten der DGÄPC werden in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 25.000 Brustimplantate eingesetzt.8 Die Mehrheit der Klientinnen und ments zur ›Schönheitschirurgie‹ in Deutschland, auf: http://www.schoenheit-undmedizin.de/news1003/schoenheitschirurgie.htm (Stand: 24. November 2005). 5 | Raymund E. Horch: »Sein und Design – Plastische Chirurgie bei der Korrektur des menschlichen Erscheinungsbildes«, in: Franz Josef Illhardt (Hg.): Die Medizin und der Körper des Menschen, Bern u.a. 2001, S. 59-71. 6 | Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland: Statistik, auf: http:// www.schoenheit-und-medizin.de/aesthetisch_plastisch/schoenheitschirurgie_statistik.htm (Stand: 24. November 2005). 7 | Vgl. z.B. Deutsche Bundesregierung: Verbraucherschutz im Bereich der Schönheitschirurgie. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gitta Connemann, Gerda Hasselfeldt, Ursula Kleinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Bundestags-Drucksache 15/2289, Berlin 2003. 8 | Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie: Daten und Statements zur ›Schönheitschirurgie‹. Die GÄCD berichtet auch hier etwas andere Zahlen: Demnach wurden 2003 39.000 Laserchirurgische Eingriffe im Gesicht, 24.000 Fettabsaugungen, 12.800 Lidplastiken, 8.000 Brustvergrößerungen, 6.800 Nasenkorrekturen, 4.100 Ohrmuschelkorrekturen, 3.500 Brustverkleinerungen, 2.500 Bauchdeckenplastiken, 2.400 Facelifts und 1.900 Kieferkorrekturen durchgeführt. Hinzu kommen 25.400 Faltenbehandlungen durch Botulinum-Toxin und 15.200 durch Fillermaterialien.

2006-02-06 17-38-34 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

190 | Johann S. Ach Klienten der Schönheitschirurgie sind weiblich, viele sind jung. Rund 80 Prozent der Menschen, die sich in Deutschland einem ästhetisch-chirurgischen Eingriff unterziehen, sind Frauen, rund ein Viertel aller Klientinnen ist zwischen 15 und 25 Jahre alt. In den Medien sind Schönheitsoperationen seit langem ein bevorzugtes Thema. Zeitschriften und Magazine sind voll von Berichten über Frauen, die ihren Urlaub auf einer Beauty-Farm im Ausland verbringen, um dort ihren Körper (wieder) »in Form bringen« zu lassen, über Teenager, die sich eine Brustvergrößerung zum 18. Geburtstag wünschen oder über Menschen, die ein jüngeres Aussehen zu erzielen suchen, indem sie sich einer Faltenunterspritzung unterziehen. Die Fernsehshow The Swan zeigt, wie Frauen sich durch die Hilfe chirurgischer Eingriffe vom »hässlichen Entlein« in einen »schönen Schwan« verwandeln. In den Medien wird, so warnten im vergangenen Jahr die Teilnehmer einer von der Bundesärztekammer initiierten »Koalition gegen den Schönheitswahn«, »eine Scheinrealität konstruiert, die Schönheitsoperationen zu einem erstrebenswerten Konsumgut werden ließen«.9 Hauptwerbeplattform schönheitschirurgischer Kliniken und Institute ist freilich das Internet. Die Seiten der Anbieter sind voll von so genannten Vorher-Nachher-Bildern, mit denen die Ergebnisse und die Kunst der Schönheitschirurgen angepriesen werden.

2. Risiken, Nebenwirkungen, Indikationen Die medizinethische Diskussion über die ästhetische Chirurgie hat sich aus nahe liegenden Gründen bislang vor allem auf die Frage konzentriert, ob chirurgische Eingriffe, die das äußere Erscheinungsbild eines Menschen verändern bzw. verbessern sollen, mit dem ärztlichen Ethos vereinbar sind.10 Das entscheidende Problem der ästhetischen Chirurgie besteht aus dieser Perspektive darin, dass ästhetisch-chirurgische Eingriffe von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden und an (organisch) gesunden Menschen erfolgen. Damit stellen sich nicht nur Fragen im Hinblick auf die mit schönheitschirurgischen Maßnahmen verbundenen Risiken, sondern auch im Hinblick auf eine (fragliche) medizinische Indikation für solche Eingriffe. 9 | Bundesärztekammer: Koalition gegen den Schönheitswahn: Persönlichkeit ist keine Frage der Chirurgie, Pressemitteilung der Bundesärztekammer, 26. Oktober 2004, auf: http://www.bundesaerztekammer.de/25/10Pressemitteilungen/J2004/ 200410261.html (Stand: 24. November 2005). 10 | Giovanni Maio: »Die ästhetische Chirurgie und das ärztliche Selbstverständnis – Eine medizinethische Betrachtung«, in: Helmut H. Wolff/Julia Welzel/ Dietrich v. Engelhardt (Hg.): Ethik in der Dermatologie, Lübeck 2002, S. 139-147.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 191

Dass die Klientinnen und Klienten der Schönheitschirurgie (organisch) gesund sind, hat zunächst zur Konsequenz, dass den mit schönheitschirurgischen Eingriffen für die betroffenen Frauen und Männer verbundenen Risiken in der medizinethischen Diskussion besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese sind offenbar nicht unerheblich und reichen vom Narkoserisiko, das bei einigen schönheitschirurgischen Eingriffe eingegangen werden muss, über mögliche Komplikationen beim Eingriff selbst bis hin zu unerwünschten Nebenwirkungen und mitunter entstellenden Ergebnissen nach fehlerhaftem ärztlichem Eingriff.11 Statistisch gesicherte Erkenntnisse über die Ergebnisqualität ästhetisch-chirurgischer Eingriffe gibt es allerdings nicht – zumindest nicht in Deutschland.12 Die entsprechenden Risken stehen vor allem deshalb im Mittelpunkt der Diskussion, weil es sich bei der Durchführung ästhetisch-chirurgischer Verfahren per Definition gerade nicht um die Linderung oder Heilung einer Krankheit handelt, mit der die Inkaufnahme von Risiken oder unerwünschten Wirkungen üblicherweise gerechtfertigt wird, sondern um Eingriffe in die körperliche Integrität (organisch) gesunder Menschen. Aus diesem Grund müssen auch an die Aufklärung und die Einwilligung der Klientinnen und Klienten besondere Anforderungen gestellt werden: »Die reine Schönheitsoperation ohne medizinische Indikation verlangt ein Höchstmaß an Aufklärung. Die Einwilligung des Patienten entfaltet nur dann rechtfertigende Wirkung, wenn dieser in schonungsloser Offenheit und Härte über alle denkbaren Folgen und Unannehmlichkeiten informiert wurde. Auch über äußerst seltene Risiken und Gefahren und die entfernt liegende Möglichkeit eines Fehlschlages ist aufzuklären, und zwar unter Benutzung von Farbbildern aus der Fachliteratur.«13

Kann es für ästhetisch-chirurgische Eingriffe an (organisch) gesunden Menschen überhaupt eine medizinische Indikation geben, die solche Eingriffe legitimieren würde? Auch diese Frage wird in der medizinethischen Literatur kontrovers diskutiert. Viele Autorinnen und Autoren bestreiten dies. Für sie stellen ästhetisch-chirurgische Eingriffe ein typisches Beispiel

11 | Vgl. dazu Eva Karcher: »Operative Eingriffe«, in: Angelika Taschen (Hg.): Schönheitschirurgie, Köln 2005, S. 330-377; Eva Rhode: »Das Risiko Schönheitsoperation«, in: taz Nord, 11. August 2005. 12 | Siehe dazu auch Deutsche Bundesregierung: Verbraucherschutz im Bereich der Schönheitschirurgie. 13 | Henning Rosenau: »Plastische/Ästhetische Chirurgie, 2. Rechtlich«, in: Wilhelm Korff/Lutwin Beck/Paul Mikat (Hg.): Lexikon der Bioethik, Gütersloh 2000, hier S. 34.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

192 | Johann S. Ach für Enhancement14 dar. Andere Autoren sind dagegen der Auffassung, dass die Schönheitschirurgie im Hinblick auf die Therapie/EnhancementUnterscheidung differenziert betrachtet werden muss. So stellt z.B. Henning Rosenau im Lexikon der Bioethik fest, dass die Schönheitschirurgie therapeutischen Zweck habe und entsprechend einen Heileingriff darstelle, »wenn der Patient unter seiner Körperform leidet und ihm mit der kosmetischen Korrektur die psychische Belastung genommen werden soll.« Diene die Korrektur einzig dazu, das äußere Erscheinungsbild der Klientin bzw. des Klienten zu verschönern, könne dagegen »mangels medizinischer Indikation von einer Heilbehandlung keine Rede sein. Man spricht dann von der reinen Schönheitsoperation.«15 Einigkeit besteht allenfalls darüber, dass psychische Erkrankungen, wie z.B. die body dysmorphic disorder, eine Contra-Indikation darstellen. Schönheitschirurgische Eingriffe dürfen nach allgemein geteilter Auffassung nicht dazu genutzt werden, manifeste psychische Defekte bei Klientinnen und Klienten zu beheben. Eine »Psychotherapie mit dem Skalpell« wird einhellig abgelehnt.

3. Schönheit, Normalität, Identität Schönheitschirurgen sind wenig zurückhaltend, wenn es darum geht, über sich und ihre Arbeit zu sprechen. Selbstdarstellung ist Teil des Geschäfts. Über die ästhetischen Kriterien oder Normen, die ihrer Arbeit zugrunde liegen, geben ästhetische Chirurgen in der Regel allerdings eher zögerlich Auskunft. Das ist einerseits verständlich, da die meisten ästhetischen Chirurgen großen Wert darauf legen, als Angehörige der ärztlichen Profession wahrgenommen zu werden. Andererseits begreifen sich nicht wenige Schönheitschirurgen zugleich auch als Künstler – als Künstler freilich, die mit einem besonderen »Ausgangsmaterial« arbeiten: »Wir müssen neben unserer Technik und unserem anatomischen Wissen auch Einbildungskraft, Kreativität und ein Bedürfnis nach Ästhetik haben. Andernfalls sind wir nicht erfolgreich in unserem Beruf. Allerdings können Künstler ihr Material wäh14 | Vgl. zur Diskussion über Enhancement Michael Fuchs u.a.: Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, drze-Sachstandsbericht, Bonn 2002; Christian Lenk: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002; President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003; Erik Parens (Hg.): Enhancing human traits. Ethical and social implications, Washington D.C. 1998. 15 | Rosenau: »Plastische/Ästhetische Chirurgie, 2. Rechtlich«, S. 33.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 193 len und auch wieder verwerfen. Unser Material ist gewissermaßen göttlich. Wir haben keine Alternative zu anderen Werkstoffen. Umso höher ist unsere Verantwortung.«16

Bezeichnungen wie bodymodelling oder bodysculpturing für ästhetisch-chirurgische Eingriffe geben über diese künstlerische Intention der ästhetischen Chirurgie zwar beredt Auskunft, dann aber, wenn Schönheitschirurgen über die ästhetischen Ideale sprechen, denen sie sich bei ihrer Arbeit verpflichtet fühlen, fallen die Formulierungen meist sehr vage und allgemein aus. Wenig überraschend werden dann häufig Begriffe wie »Jugendlichkeit«, »Natürlichkeit« oder »Harmonie« genannt.17 Körperliche Schönheit, wie die ästhetische Chirurgie sie sieht, ließe sich entsprechend also durch ein jugendliches und natürliches Aussehen sowie durch ausgeglichene Proportionen definieren. Darüber hinaus legen Schönheitschirurgen großen Wert darauf, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit funktional sind. Körperfunktionen oder auch die Sensibilität bestimmter Körperteile dürfen durch den Eingriff nach Möglichkeit nicht beeinträchtigt werden. Vor allem aber müssen sie unsichtbar sein: »Schönheit ist selten. Schön zu sein heißt, sich von allen anderen wenig zu unterscheiden, keine auffälligen Makel und Mängel zu haben, wie Hakennase, fliehendes Kinn, Hängebäckchen, enger Augenabstand, Glatze, keine oder zu üppige Brüste, sondern wenig Bauch, zarte Hüften, kein großes Gesäß, schlanke Beine, moderate Waden und Fesseln. Die Harmonie ist das Entscheidende.«18

Insofern ist die Schönheitschirurgie von einem ästhetischen Paradox geprägt: Einerseits besteht das Ziel schönheitschirurgischer Eingriffe gerade darin, das äußere Erscheinungsbild von Klientinnen und Klienten zu korrigieren, zu verbessern bzw. deren Wünschen anzupassen. Und entsprechend werben Schönheitsinstitute und -kliniken mit Vorher-Nachher-Bildern, also solchen Bildern, die die Veränderung gerade sichtbar und augenfällig machen sollen. Andererseits soll das Ergebnis möglichst »natürlich« wirken, »nicht ins Künstliche abgleiten«19, unauffällig sein, normal, eben: 16 | Juarez Avelar: »Unser Material, der Körper, ist göttlich« (Interview), in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 242-245. 17 | Vgl. dazu die Interviews in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 178ff. 18 | Werner Mang: »Diese Wünsche erfüllt ein seriöser Chirurg nicht« (Interview), auf: http://www.stern.de/lifestyle/mode/540997.html (Stand: 24. November 2005). 19 | Christoph Wolfensberger/Eva Karcher: »Ich bin ein Chirurg der Emotionen« (Interview), in: Taschen: Schönheitschirurgie, hier S. 206.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

194 | Johann S. Ach unsichtbar. Vielleicht auch deshalb verzichtet die Mehrzahl der ästhetischen Chirurgen mehr oder weniger ganz auf die explizite Formulierung eines handlungsleitenden ästhetischen Ideals. Sie orientieren sich stattdessen, wie sie sagen, an den Wünschen und Vorstellungen ihrer Klientinnen und Klienten. So heißt es in der Selbstdarstellung einer beliebigen Klinik wie folgt: »Unsere Spezialisten sind darauf bedacht, Ihnen ein Resultat zu präsentieren, das Ihre individuellen Wünsche perfekt abdeckt. Das bedeutet allerdings, dass Sie sich schon im Vorfeld der Beratung ein Bild davon machen, wie Sie sich die Verbesserung Ihrer Brustpartie vorstellen. Ihre persönlichen Wünsche können Sie unserem Spezialisten zum Beispiel anhand von Fotos erläutern. So kann ein Resultat erzielt werden, mit dem Sie rundum zufrieden sind – und das nicht nur Ihr Aussehen, sondern auch Ihr Selbstbewusstsein positiv beeinflusst.«20

Ihrem eigenen Selbstverständnis nach tragen Schönheitschirurgen damit dem Prinzip der Selbstbestimmung Rechnung. Gründe für die Zurückweisung bzw. Ablehnung eines Eingriffs werden allenfalls dann gesehen, wenn Wünsche der Klientinnen oder Klienten »unrealistisch sind oder schwer gestörter Selbstwahrnehmung entstammen.«21 Das Motiv der Selbstbestimmung gehört im Übrigen, wie Sander Gilman betont, auch kulturgeschichtlich zu den Wurzeln der Schönheitschirurgie, die insofern eine wahrhaft moderne Erscheinung sei, als sie nicht nur eine Reihe konkreter technischer Innovationen in der Chirurgie voraussetze, sondern auch die kulturellen Rahmenbedingungen, die es Menschen erlauben, mit Hilfe eines Chirurgen den eigenen Körper zu verändern, umzugestalten und zu kontrollieren. Die Selbstbestimmung, so Gilman, die in der ästhetischen Chirurgie zum Ausdruck komme, sei ein »durch und durch modernes Konzept: Man kann ganz nach eigenen Wünschen handeln, um glücklich zu werden, doch nur mit Hilfe und Unterstützung der Ärzte, deren Sachverstand und Fachwissen man sich dienstbar macht«.22

Das führt zu der Frage, welche Vorstellungen den Wunsch von Klientinnen und Klienten nach ästhetisch-chirurgischen Eingriffen leiten? Diese Frage 20 | Siehe http://www.artemedic.ch/index.php?site=2,2,8&page=1&thema=3 (Stand: 24. November 2005). 21 | Keizo Fukuta/Eva Karcher: »Ein schönes Gesicht ist mehr als die Summe seiner Teile« (Interview), in: Taschen: Schönheitschirurgie, hier S. 257. 22 | Sander L. Gilman: »Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, hier S. 64.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 195

ist freilich weit weniger einfach zu beantworten, als man vielleicht meint. Ein Problem dabei ist, dass die Klientinnen und Klienten der Schönheitschirurgie selten selbst zu Wort kommen.23 Eine Ausnahme bildet eine Studie von Kathy Davis, die ausführlich und über einen längeren Zeitraum hinweg mit Frauen gesprochen hat, die sich entweder einer Schönheitsoperation (in der Mehrzahl der Fälle einer Brustvergrößerung) unterzogen hatten oder kurz vor einem solchen Eingriff standen. Folgt man dieser Untersuchung, dann geht es den meisten Frauen, die eine Schönheitsoperation vornehmen lassen, offenbar nicht – oder jedenfalls nicht in erster Linie – um Schönheit. Zwar bestanden die Frauen, mit denen Davis sprach, darauf, an ihrem Aussehen nicht weniger interessiert zu sein als andere Frauen. Für ihre Entscheidung zu einer Operation sei dies aber nicht ausschlaggebend gewesen. Nicht körperliche Schönheit oder besondere Attraktivität, sondern Normalität ist, glaubt man Davis, das primäre Ziel von Frauen, die sich operieren lassen: »It was not beauty, but about wanting to become ordinary, normal or just like everyone else.«24 Wenn man die Ergebnisse von Davis’ Studie ernst nimmt, dann eröffnet die ästhetische Chirurgie Frauen die Möglichkeit, ihre Beziehung zum eigenen Körper und damit zugleich die Beziehung ihres Körpers zur Welt um sie herum neu zu justieren. Ästhetische Chirurgie erscheint aus dieser Perspektive als eine (weitere) Option, die Frauen nutzen, um einen Zustand herbeizuführen, in dem sie sich »in ihrem Körper zuhause« fühlen.25 Das eigentliche Thema der ästhetischen Chirurgie, so Davis, sei daher nicht die körperliche Schönheit. Vielmehr gehe es letztlich um Fragen der Identität.26

23 | Das hindert so manchen Schönheitschirurgen freilich nicht daran, seinerseits Spekulationen darüber anzustellen, warum bzw. mit welchem Ziel Frauen sich entsprechenden Eingriffen unterziehen. Ein besonders schönes Beispiel findet man in der Zeitschrift beauty news – Ästhetische Chirurgie, Wellness und Gesundheit vom August 2004. Dort kann man nachlesen: »Die Emanzipation der Frau, ein verändertes Freizeitverhalten, vermehrte sportliche Aktivitäten, eine liberalere Einstellung zum Körper, und nicht zuletzt freizügigere Kleidung haben in vielen Frauen den Wunsch nach eine wohlgeformten und vollen Brust aktueller denn je gemacht« (S. 56). 24 | Kathy Davis: Reshaping the Female Body. The Dilemma of Cosmetic Surgery, New York, London 1995, S. 161. Vgl. auch Ada Borkenhagen: »Gemachte Körper. Körper- und Selbsterleben von Frauen, die sich zu einer Schönheitsoperation entschieden haben«, auf: http://www.uni-leipzig.de/~medpsy/pdf/ab_gemachte_koerper _3.pdf (Stand: 24. November 2005). 25 | Davis: Reshaping the Female Body. 26 | Ebd., S. 163.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

196 | Johann S. Ach

4. Unter die Haut Wenn dieser Befund zutrifft, dann eröffnet die Möglichkeit ästhetisch-chirurgischer Eingriffe zugleich auch neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Mit der an der Schönheitschirurgie – insbesondere von feministischen Autorinnen – geübten Kritik, der zufolge Frauen, die sich z.B. einer Brustvergrößerung unterziehen, männlich geprägten kulturellen Vorgaben, sexistischen Normen oder einfach dem weiblichen Schönheitssystem folgen und also gerade nicht selbstbestimmt handeln, sind die Ergebnisse der Untersuchung von Davis jedenfalls schlecht vereinbar: »Thus, by listening to women’s narratives as an instance of the member’s perspective and by attempting to believe them, an interpretation of cosmetic surgery can be made which treats it as a lamentable and problematic, but, nevertheless, understandable course of action. Women who have cosmetic surgery do not appear to be blindly driven by forces over which they have no control or comprehension. They do not seem more duped by the feminine beauty system than women who do not see cosmetic surgery as a remedy to their problems with their apperance.«27

Kathryn Pauly Morgan geht in ihrer Analyse sogar noch einen Schritt weiter, wendet diese aber entschieden kritisch. Morgan zufolge erfahren sich Frauen, die sich im Rahmen einer Schönheitsoperation unters Messer legen, häufig nicht nur als selbstbestimmt und mit sich selbst identisch. Die technisch hergestellte Schönheit kann darüber hinaus sogar positive Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl von Frauen haben: »First, electing to undergo the surgery necessary to create youth and beauty artificially not only appears to but often actually does give a woman a sense of identity that, to some extent, she has chosen herself. Second, it offers her the potential to raise her status both socially and economically by increasing her opportunities for heterosexual affiliation (especially with white men). Third, by committing herself to the pursuit of beauty, a woman integrates her life with a consistent set of values and choices that bring her wide-spread approval and a resulting sense of increased self-esteem. Fourth, the pursuit of beauty often gives a woman access to a range of individuals who administer to her body in a caring way, an experience often sadly lacking in the day-to-day lives of many woman. As a result, a woman’s pursuit of beauty through transformation is often associated with lived experiences of self-creation, self-fulfill-

27 | Ebd.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 197 ment, self-transcendence, and being cared for. The power of these experiences must not be underestimated.«28

Auch wenn Morgan dafür plädiert, die geschilderten Effekte ernst zu nehmen: Eine feministische Analyse der ästhetischen Chirurgie, die nicht an der Oberfläche verbleibt, kann und darf ihrer Ansicht nach bei dieser Beschreibung nicht stehen bleiben. Sie übersieht sonst, dass Frauen durch die Möglichkeiten der ästhetischen Chirurgie zugleich in drei – miteinander zusammenhängende – Widersprüche verwickelt werden. Eine tiefergehende Analyse zeige, erstens, dass Frauen, die glauben, sich mit Hilfe einer Schönheitsoperation eine neue, eigene Identität zu erschaffen, sich in Wahrheit an vorherrschenden kulturellen und gesellschaftlichen Normen orientieren. Zur Illustration dieser Behauptung verweist Morgan auf Fälle, in denen Klientinnen eine ästhetisch-chirurgische Klinik z.B. mit dem festen Vorsatz aufsuchen, sich »Brüste wie Bo Derek« machen zu lassen. Der Trick und die Infamie einer sexistisch organisierten Gesellschaft bestehen für Morgan gerade darin, dass Frauen sich selbst immer schon durch die Augen tatsächlicher oder hypothetischer Männer und deren ästhetisches Normensystem sehen. Ihre vermeintlich selbstbestimmten Entscheidungen sind »at a deeper level« Zeichen einer im Wortsinne unter die Haut gehenden compliance mit diesen Normen. Wünsche asiatischer Frauen nach einer Korrektur von »asiatischen« Nasen und Augenlidern, die sie »westlicher« erscheinen lassen, Wünsche jüdischer Frauen nach einem nose job oder dunkelhäutiger Frauen nach einer »Aufhellung« ihrer Haut, sind für Morgan nur weitere Belege für ihre These: »[W]hat is being created in all these instances is not simply beautiful bodies and faces but white, Western, Anglo-Saxon bodies in a racist, anti-Semitic context. More often than not, what appears at first glance to be instances of choice turn out to be instances of conformity.«29 28 | Kathryn Pauly Morgan: »Women and the Knife: Cosmetic Surgery and the Colonization of Women’s Bodies«, in: Hypatia, 3/1991, hier S. 34f. Die Erwartung, dass Schönheitsoperationen auch zu mehr Erfolg bei der Partnersuche, im Beruf und anderen Lebensbereichen beitragen können, ist im Übrigen nicht ganz unberechtigt: Menschen, die der vorherrschenden Vorstellung von Schönheit bzw. Attraktivität entsprechen, erhalten statistisch höhere Gehälter, mehr Stellenangebote und haben selbst beim Psychotherapeuten bessere Erfolgschancen, wie Raymund E. Horch berichtet. Siehe ders.: »Sein und Design«, S. 65. 29 | Morgan: »Women and the Knife«, S. 36. Zur Problematik ethnisch motivierter Eingriffe vgl. auch Sander L. Gilman: »Ethnische Fragen in der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 112-136.

2006-02-06 17-38-35 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

198 | Johann S. Ach Zweitens nähmen Frauen, die sich einem ästhetisch-chirurgischen Eingriff unterziehen, ihren Körper nicht länger als etwas »Gegebenes« wahr, sondern als »Rohmaterial« für die Realisierung ästhetischer Normen oder Standards. Schönheitsoperationen ermöglichen es den Klientinnen und Klienten auf diese Weise, ihren eigenen Körper zu verändern und umzugestalten, etwas aus sich bzw. ihrem Körper »zu machen«. Diese vermeintliche Befreiung entpuppt sich jedoch schnell als Akt einer ins Fleisch schneidenden, körperlichen Kolonisation, wenn man realisiert, dass die hier wirksamen Normen oder Standards die Normen und Standards einer von Männern dominierten Kultur sind: »What I see as particularly alarming in this project is that what comes to have primary significance is not the real given existing woman but her body viewed as a ›primitive entity‹ that is seen only as potential, as a kind of raw material to be exploited in terms of appearance, eroticism, nurturance, and fertility as defined by the colonizing culture.«30

Drittens dürfe die Charakterisierung ästhetisch-chirurgischer Eingriffe als »elektiver« Eingriffe nicht darüber hinweg täuschen, dass es einen massiven, stetig zunehmenden Druck auf Frauen gebe, sich solchen Maßnahmen zu unterziehen. Die Schönheitschirurgie verspreche praktisch allen Frauen die Möglichkeit, sich einen schönen, jung aussehenden Körper kreieren zu lassen. Dieser »technologische Schönheitsimperativ« aber mache die Freiheit der Wahl letztlich zu einer Illusion: »As a consequence, more and more women will be labelled ›ugly‹ and ›old‹ in relation to this more select population of surgically created beautiful faces and bodies that have been contoured and augmented, lifted and tucked into a state of achieved feminine beauty.«31

Bei genauerem Hinsehen, so Morgan, erweisen sich also die vermeintliche Wahl der eigenen Identität als Konformität, die vermeintliche Befreiung als Kolonisation und Unterdrückung sowie die vermeintliche selbstbestimmte und rationale Wahl als Zwang zur Unterwerfung unter einen technologi30 | Morgan: »Women and the Knife«, S. 37. 31 | Ebd., S. 41. Die Ehefrau eines bekannten deutschen Autorennfahrers scheint diese Behauptung mit ihrer Ankündigung zu bestätigen, sich die Brüste in naher Zukunft »medientauglich« machen lassen zu wollen. Tatsächlich soll es inzwischen ganze Berufszweige (z.B. Modells, Schauspielerinnen) geben, in denen die Bereitschaft zur Durchführung einer schönheitschirurgischer Eingriffe vorausgesetzt wird.

2006-02-06 17-38-36 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 199

schen Schönheitsimperativ. Dieser, wenn man so will, ideologiekritische Ansatz bringt jedoch eine Reihe methodischer Probleme mit sich. Insbesondere hindert er die Autorin daran, Frauen, die ihre Entscheidung für einen operativen Eingriff als frei und selbstbestimmt beschreiben, beim Wort zu nehmen. Tatsächlich berichten zahlreiche Klientinnen der Schönheitschirurgie, dass sie mit ihrem Wunsch nach einer Operation auf Unverständnis oder sogar Ablehnung von Seiten ihrer Partner, Freundinnen und Freunde oder anderen Personen in ihrer Umgebung gestoßen seien. Gerade dies, sich gegen ihre Umgebung durchgesetzt zu haben, wird von manchen Klientinnen der Schönheitschirurgie als befreiend erlebt. Davis stellt daher sicher nicht zu Unrecht fest, dass weniger empirische Befunde als die eigenen theoretischen Voraussetzungen Morgan daran hindern, die von Frauen tatsächlich geäußerten Gründe zur Inanspruchnahme kosmetischer Chirurgie für glaubwürdig zu halten.32

5. Komplizen der Schönheit? Aber auch wenn man diese methodischen Probleme in Rechnung stellt und zudem die etwas überhitzt wirkende feministische Rhetorik Morgans abzieht, ist kaum zu bestreiten, dass die autonomen und freien Entscheidungen von Frauen zu einer Schönheitsoperation durch heterogene, externe Motive »kontaminiert« sind. Entscheidungen zu einem ästhetisch-chirurgischen Eingriff verdanken sich in der Regel einem schwer entwirrbaren Gemenge an unterschiedlichsten Motiven und Normen, die zumindest teilweise, ohne dass dies den Akteuren stets bewusst wäre, kulturell und sozial vorgeprägt sind. Zudem weisen diese sozialen Normen bezüglich des Aussehens von Frauen eine wesentlich stärkere Tendenz auf, die Betroffenen zu »objektivieren«, als dies bei Männern der Fall ist. Genau an dieser Feststellung setzt das Komplizen-Argument an.33 Es lautet in etwa wie folgt: Ein Komplize ist, wer sich an einer unmoralischen (oder zumindest moralisch suspekten) Handlung beteiligt, diese ermöglicht, unterstützt oder sogar fördert. Die ästhetischen Normen, an denen die Schönheitschirurgie sich orientiert und die sie bedient, sind Ausdruck eines zugrundeliegenden Systems von Einstellungen und Handlungen, die moralisch zumindest zweifelhaft, wenn nicht sogar inakzeptabel sind. Ästheti32 | Davis: Reshaping the Female Body, S. 168. 33 | Vgl. auch Minou Bernadette Friele: »Moralische Komplizität in der medizinischen Forschung und Praxis«, in: Urban Wiesing/Alfred Simon/Dietrich v. Engelhardt (Hg.): Ethik in der medizinischen Forschung, Stuttgart, New York 2000, S. 126-136.

2006-02-06 17-38-36 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

200 | Johann S. Ach sche Chirurgen (und ihre Klientinnen und Klienten) machen sich daher zu Komplizen eines moralisch zweifelhaften oder sogar inakzeptablen Systems. Erhoben wird dieser Vorwurf z.B. von Margaret Olivia Little. Sie unterscheidet dabei »krasse« Formen von eher »weichen« Formen schönheitschirurgischen Komplizentums. Als krasse Formen gelten solche Praktiken, »that involve explicit (if sometimes subtle) endorsement and exploitation of the norms and practices themselves. In the practice of cosmetic surgery, we find this sort of crass complicity represented all too well. The widespread practices of advertising to create demand, of underemphasizing risks and overclaiming results, of suggesting procedures over and above the ones initially requested by the patient, are bad enough; the point here is that the promotions often exploit the suspect norms themselves.«34

Dies ist für Little der vergleichsweise einfacher zu beurteilende Fall. Interessanter sind die »weicheren« Formen des Komplizentums, in denen sich die Akteure die fraglichen Normen nicht zu Eigen machen bzw. diese nicht für eigene Zwecke instrumentalisieren. Eine große Mehrheit der Schönheitschirurgen würde den Vorwurf eines »krassen« Komplizentums vermutlich zu Recht zurückweisen und im Gegenteil darauf bestehen, dass ihr Handeln ausschließlich durch das Motiv bestimmt sei, Leiden auf Seiten der Klientinnen zu lindern bzw. deren Wunsch nach Selbstbestimmung zu befördern. Aber auch dann besteht, wie Little meint, die Gefahr eines Komplizentums, und zwar gewissermaßen durch die »Hintertür«: »[C]omplicity might arise, not just when one subjectively endorses the suspect system, but when one’s actions in fact end up reinforcing it.«35 Die Gefahr eines derart »weichen« Komplizentums, ist, wie Little meint, im Medizinsystem sogar besonders groß. Das liegt nicht nur an der besonderen Wertschätzung, welche die Institution Medizin in unserer Gesellschaft genießt, sondern auch daran, dass diese es mit Gesundheit und Heilung zu tun habe. In der kosmetischen Chirurgie liege daher die Gefahr besondere nahe, dass zweifelhafte ästhetische Normen mit Vorstellungen von »Gesundheit« oder »Normalität« auf eine Weise vermengt werden, die sexistischen oder rassistischen Stereotypen Vorschub leistet.36 Auch wenn die Intention der handelnden Akteure jeweils eine andere sei, die ästhetische Chirurgie leiste möglicherweise dennoch einen Beitrag zur Perpetuierung oder sogar Verstärkung eines moralisch mindestens zweifelhaften Systems: 34 | Margaret O. Little: »Cosmetic surgery, suspect norms and the ethics of complicity«, in: Erik Parens (Hg.): Enhancing human traits. Ethical and social implications, hier S. 170. 35 | Little: »Cosmetic surgery«, S. 171. 36 | Ebd., S. 172.

2006-02-06 17-38-36 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 201 »When even well-intentioned actions unwittingly play a large role in legitimizing and reinforcing the suspect norms under discussion, they do so because of the meaning that those surgeries carry for others – they do so because others see in them legitimization of or progress to meet norms.«37

6. Schonungslos, offen, deliberativ Was folgt aus diesen Überlegungen für die Praxis der Schönheitschirurgie? Im Anschluss an die Analyse von Morgan scheint ein Verzicht auf schönheitschirurgische Eingriffe bzw. eine Ablehnung der ästhetischen Chirurgie unausweichlich. Wenn es stimmte, dass die ästhetische Chirurgie für die Frauen »in Wahrheit« Konformität, Kolonisation, Unterdrückung und Unterwerfung unter einen technologischen Schönheitsimperativ bedeutet, dann wären zumindest eine individuelle und kollektive Ablehnung der Schönheitschirurgie, vielleicht sogar ihr Verbot, adäquate Antworten. Morgan freilich diskutiert auch einen weiteren, radikaleren Vorschlag: Statt eines Verzichts auf die ästhetische Chirurgie könnten Frauen die Mittel und Instrumente der kosmetischen Chirurgie ebenso dazu nutzen, die vorherrschenden sexistischen Schönheitsnormen gezielt zu destabilisieren: »What this feminist performative would require would be not only genuine celebration of but actual participation in the fleshly mutations needed to produce what culture constitutes as ›ugly‹ so as to destabilize the ›beautiful‹ and expose its technologically and culturally constitutive origin and its political consequences. Bleaching one’s hair white and applying wrinkle-inducing ›wrinkle creams‹, having one’s face and breasts surgically pulled down (rather than lifted), and having wrinkles sewn and carved into one’s skin might also be seen as destabilizing actions with respect to aging. And analogous actions might be taken to undermine the ›lighter is better‹ aspect of racist norms of feminine appearance as they affect women of color.«38

Diese Vorschläge sind allerdings nicht nur, wie Morgan selbst zugibt, wenig realistisch. Man kann und mag sich kaum vorstellen, dass sie tatsächlich in größerem Umfang praktiziert werden. Sie bringen darüber hinaus aber auch eine kaum akzeptable und moralisch zumindest fragwürdige Form eines feministisch motivierten Maternalismus zum Ausdruck. Denn Morgans Überlegungen liegt die Unterstellung zugrunde, dass die Inanspruchnahme ästhetisch-chirurgischer Eingriffe bei Frauen grundsätzlich fremdbestimmt und – ob offen oder versteckt – erzwungen ist; und zwar ganz unabhängig 37 | Ebd. 38 | Morgan: »Women and the Knife«, S. 46.

2006-02-06 17-38-36 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

202 | Johann S. Ach davon, was die betroffenen Frauen selbst dabei empfinden, denken oder sagen.39 Morgans Analyse geht zudem, und das ist vielleicht sogar der entscheidende Aspekt, von einem idealisierten Konzept von Autonomie aus. Folgt man ihren Überlegungen, können Entscheidungen einer Person überhaupt nur dann als autonom und selbstbestimmt gelten, wenn sie nicht durch heterogene Motive »kontaminiert« sind. Eine solche Vorstellung von Autonomie ist aber unrealistisch und jedenfalls über Gebühr anspruchsvoll. Im vorliegenden Kontext scheint daher ein Konzept von Autonomie wesentlich plausibler, das verschiedene Grade von Selbstbestimmung zulässt und im Sinne eines »Schwellenkonzeptes« Bedingungen dafür formuliert, wann wir die Entscheidung einer Person als eine autonome Entscheidung akzeptieren.40 Gleichwohl ist es durchaus gerechtfertigt, im Zusammenhang der ästhetischen Chirurgie nicht nur an die Aufklärung und den informed consent besonders strenge Anforderungen (»schonungslose Offenheit«) zu richten. Wenn es richtig ist, dass der mit dem Begriff des Komplizentum bezeichnete Widerspruch die Subjekte selbst durchzieht, dann muss dies Konsequenzen auch für das Arzt-Patienten- bzw. das Arzt-Klienten-Verhältnis haben. Ezekiel J. Emanuel und Linda L. Emanuel haben vier verschiedene Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung unterschieden: ein paternalistisches, ein informatives, ein interpretatives und ein deliberatives Modell.41 Das paternalistische Modell geht davon aus, dass es objektive, vom Arzt zu beurteilende und festzustellende Kriterien dafür gibt, was für den ihm anvertrauten Pati39 | Dies ist im Übrigen ein Phänomen, das auch aus der Debatte über die Reproduktionsmedizin nur allzu gut bekannt ist. 40 | Vgl. Tom L. Beauchamp/James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics, Oxford 20015. Für Henri Wijsbek liegt hier der tiefere Grund der Auseinandersetzung zwischen Morgan und Davis, in der es letztlich um ein adäquates Verständnis von Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Verantwortung gehe. Siehe ders.: »The pursuit of beauty: the enforcement of aesthetics or a freely adopted lifestyle?«, in: Journal of Medical Ethics, 26/2000, S. 454-458. 41 | Ezekiel J. Emanuel/Linda L. Emanuel: »Four Models of the Physician-Patient Relationship«, in: Journal of the American Medical Association, 267/1992, S. 22212226. Ich benutze hier die auszugsweise deutsche Übersetzung »Vier Modelle der Arzt-Patient-Beziehung«, in: Urban Wiesing u.a. (Hg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch, Stuttgart 2004, S. 101-104. Für einen Versuch, die Überlegungen von Emanuel und Emanuel direkt für die Diskussion über ästhetische Chirurgie fruchtbar zu machen vgl. Anna Kirkland/Rosemarie Tong: »Working Within Contradiction: The Possibility of Feminist Cosmetic Surgery«, in: Journal of Clinical Ethics, 7/1996, S. 151-159.

2006-02-06 17-38-36 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 203

enten das Beste ist. Der Arzt kann und soll nach diesem Modell im besten Interesse des Patienten für diesen entscheiden. Im informativen Modell dagegen ist der Arzt eine Art »technischer Experte«. Er stellt dem Patienten lediglich die relevanten Informationen zur Verfügung, die dieser benötigt, um eine Entscheidung, die seinen eigenen Wertüberzeugungen entspricht, treffen zu können. Während das paternalistische Modell voraussetzt, dass auf objektive Kriterien oder Werte zurückgegriffen werden kann, geht das informative Modell davon aus, dass der Patient jeweils nach seinen ihm durchsichtigen Wertvorstellungen entscheidet. Beide Modellen setzen voraus, dass die handlungsleitenden normativen Kriterien im Prinzip offen zu Tage liegen; zumindest für den jeweiligen Entscheider. Dies ist im interpretativen Modell anders. Dem Arzt kommt hier eine mäeutische Funktion zu: Seine Aufgabe ist es, mit dem Patienten daran zu arbeiten, dessen Vorstellungen und möglicherweise noch unklaren Wünsche herauszuarbeiten und in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Im deliberativen Modell schließlich kommt dem Arzt zunächst die Aufgabe zu, »den Patienten über die klinische Situation zu informieren und dann dabei zu helfen, die Wertvorstellungen herauszuarbeiten, die mit den verfügbaren Möglichkeiten realisiert werden können«.42

Ohne an dieser Stelle in eine gründlichere Diskussion dieser vier Modelle eintreten zu wollen, scheint mir im Hinblick auf die Erfordernisse der ästhetischen Chirurgie ein deliberatives Modell der Arzt-Patienten- bzw. ArztKlienten-Beziehung am angemessensten zu sein. Der Patient wird in diesem Modell, wie Emanuel und Emanuel betonen, »dazu befähigt, nicht einfach unreflektierten Präferenzen oder reflektierten Wertvorstellungen zu folgen, sondern im Gespräch alternative gesundheitliche Zielsetzungen und deren Wert und Konsequenzen für die Behandlung zu erfahren«.43 Übertragen auf die ästhetische Chirurgie bedeutet dies: Erforderlich ist eine möglichst umfassende Aufklärung im Rahmen einer Arzt-Klienten-Beziehung, durch die die nach schönheitschirurgischen Maßnahmen verlangenden Klientinnen dazu befähigt werden, realistische Erwartungen über die Möglichkeiten und Grenzen des Eingriffs zu entwickeln, sich dabei über ihre eigenen moralischen und ästhetischen Vorstellungen bzw. Wünsche klar zu werden sowie deren soziale Bedingtheit zu erkennen.

42 | Emanuel/Emanuel: »Vier Modelle der Arzt-Patient-Beziehung«, S. 103. 43 | Ebd., S. 104.

2006-02-06 17-38-37 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

204 | Johann S. Ach

Schluss Wenn es, wie hier angedeutet, richtig ist, dass die autonomen und freien Entscheidungen von Frauen, die sich einer Schönheitsoperation unterziehen, immer auch durch externe Motive »kontaminiert« sind; wenn also die für ästhetisch-chirurgische Eingriffe handlungsleitenden Normen kulturell und sozial insoweit vorgeprägt sind, dass sie zur Aufrechterhaltung sexistischer Stereotypen und zur Stigmatisierung oder Diskriminierung derjenigen beitragen, die dem geltenden Schönheitsideal nicht entsprechen; wenn also die Schönheitschirurgie hilft, eine von Männern dominierte Kultur zu stabilisieren, dann sind weitere Maßnahmen gerechtfertigt, die über die Anforderungen an Aufklärung bzw. informed consent und die Ausgestaltung des Arzt-Klient-Verhältnisses hinausgehen. Dazu mag z.B. ein Verbot aggressiver Werbung für Schönheitsoperationen gehören oder auch eine Aufklärungskampagne von Seiten der zu Beginn angesprochenen »Koalition gegen den Schönheitswahn«. Entsprechende Überlegungen sollten freilich stets von der Forderung nach einer Verbesserung des »Verbraucherschutzes« sowie der Absicht getragen sein, potenzielle Klientinnen und Klienten zu einem selbstbestimmt(er)en Umgang mit den Angeboten der Schönheitschirurgie zu befähigen. Wenn Frauen oder Männer sich dennoch zu einer Schönheitsoperation entschließen, wird man ihre Entscheidung dann allerdings als eine selbstbestimmte Entscheidung akzeptieren und respektieren müssen – was freilich nicht bedeutet, dass man sie deshalb auch schon gut heißen muss.

Literatur Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford 20015. Borkenhagen, Ada: »Gemachte Körper. Körper- und Selbsterleben von Frauen, die sich zu einer Schönheitsoperation entschieden haben«, auf: http://www.uni-leipzig.de/~medpsy/pdf/ab_gemachte_koerper_3.pdf (Stand: 24. November 2005). Bundesärztekammer: Koalition gegen den Schönheitswahn: Persönlichkeit ist keine Frage der Chirurgie, Pressemitteilung, 26. Oktober 2004, auf: http:// www.bundesaerztekammer.de/25/10Pressemitteilungen/J2004/ 200410261.html (Stand: 24. November 2005). Davis, Kathy: Reshaping the Female Body. The Dilemma of Cosmetic Surgery, New York, London 1995. Deutsche Bundesregierung: Verbraucherschutz im Bereich der Schönheitschirurgie. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordne-

2006-02-06 17-38-37 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Komplizen der Schönheit? | 205

ten Gitta Connemann, Gerda Hasselfeldt, Ursula Kleinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Bundestags-Drucksache 15/ 2289, Berlin 2003. Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie: Daten und Statements zur ›Schönheitschirurgie‹ in Deutschland, auf: http://www. schoenheit-und-medizin.de/news1003/schoenheitschirurgie.htm (Stand: 24. November 2005). Emanuel, Ezekiel J./Emanuel, Linda L.: »Vier Modelle der Arzt-Patient-Beziehung«, in: Wiesing, Urban u.a. (Hg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch, Stuttgart 2004, S. 101-104. Friele, Minou Bernadette: »Moralische Komplizität in der medizinischen Forschung und Praxis«, in: Wiesing, Urban/Simon, Alfred/Engelhardt, Dietrich v. (Hg.): Ethik in der medizinischen Forschung, Stuttgart, New York 2000, S. 126-136. Fuchs, Michael u.a.: Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, drze-Sachstandsbericht, Bonn 2002. »Für die Schönheit unters Messer?«, in: Apotheken Umschau 2001. Fukuta, Keizo/Karcher, Eva: »Ein schönes Gesicht ist mehr als die Summe seiner Teile« (Interview), in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 256-259. Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland: Statistik, auf: http:// www.schoenheit-und-medizin.de/aesthetisch_plastisch/schoenheits chirurgie_statistik.htm (Stand: 24. November 2005). Gilman, Sander L.: Making the Body Beautyful. A Cultural History of Aesthetic Surgery, Princeton, Oxford 2001. Gilman, Sander L.: »Ethnische Fragen in der Schönheitschirurgie«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 112-136. Horch, Raymund E.: »Sein und Design – Plastische Chirurgie bei der Korrektur des menschlichen Erscheinungsbildes«, in: Illhardt, Franz Josef (Hg.): Die Medizin und der Körper des Menschen, Bern u.a. 2001, S. 5971. Juengst, Eric. T.: »What does Enhancement mean?«, in: Parens: Enhancing human traits, S. 29-47. Karcher, Eva: »Operative Eingriffe«, in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 330377. Kirkland, Anna/Tong, Rosemarie: »Working Within Contradiction: The Possibility of Feminist Cosmetic Surgery«, in: Journal of Clinical Ethics, 7/ 1996, S. 151-159. Lenk, Christian: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002. Little, Margaret O.: »Cosmetic surgery, suspect norms and the ethics of complicity«, in: Parens: Enhancing human traits, S. 162-176.

2006-02-06 17-38-37 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

206 | Johann S. Ach Maio, Giovanni: »Die ästhetische Chirurgie und das ärztliche Selbstverständnis – Eine medizinethische Betrachtung«, in: Wolff, Helmut H./Welzel, Julia/Engelhardt, Dietrich v. (Hg.): Ethik in der Dermatologie, Lübeck 2002, S. 139-147. Mang, Werner: »Diese Wünsche erfüllt ein seriöser Chirurg nicht« (Interview), auf: http://www.stern.de/lifestyle/mode/540997.html (Stand: 24. November 2005). Morgan, Kathryn Pauly: »Women and the Knife: Cosmetic Surgery and the Colonization of Women’s Bodies«, in: Hypatia, 3/1991, S. 25-53. Parens, Erik (Hg.): Enhancing human traits. Ethical and social implications, Washington D.C. 1998. President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003. Rhode, Eva: »Das Risiko Schönheitsoperation«, in: taz Nord, 11. August 2005. Rosenau, Henning: »Plastische/Ästhetische Chirurgie, 2. Rechtlich«, in: Korff, Wilhelm v./Beck, Lutwin/Mikat, Paul (Hg.): Lexikon der Bioethik, Gütersloh 2000, S. 33f. Taschen, Angelika (Hg.): Schönheitschirurgie, Köln 2005. Wijsbek, Henri: »The pursuit of beauty: the enforcement of aesthetics or a freely adopted lifestyle?«, in: Journal of Medical Ethics, 26/2000, S. 454458. Wolfensberger, Christoph/Karcher, Eva: »Ich bin ein Chirurg der Emotionen« (Interview), in: Taschen: Schönheitschirurgie, S. 204-207

2006-02-06 17-38-37 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 187-206) T03_01 ach.p 107239498142

Schöner Hungern | 207

Schöner Hungern. Über den Zusammenhang von Diät und Wahn Alexandra Deak

»Der beste Messer, ob man bereits zuviel abgenommen hat, ist immer der Hals. Zeigen sich an den Seiten lochartige Eingrabungen, dann muß man mit der Enthaltsamkeit sofort aufhören, ebenso, wenn man bemerkt, daß man eine Unruhe der Nerven, in Launenhaftigkeit und Gereiztheit ausgelöst, nicht mehr bekämpfen kann.« Wie bleibe ich jung und schön?, Ullstein-Sonderhefte Nr. 2122, Berlin 1910

Einleitung Die Sorge, dass Untergewicht Launenhaftigkeit und Gereiztheit auslöst, gehört heute längst nicht mehr zu den Bedenken, die Frauenzeitschriften und Ernährungsratgeber in Bezug auf das Diäthalten äußern. Trotz des Vormarsches mannigfaltiger Essstörungen – wie »Binge Eating Disorder«, »Anorexie« oder »Bulimie« – wurde die Diät als geeignetes Mittel zur Erreichung eines gesunden Körper- und Seelenzustandes bislang selten in Zweifel gezogen. Vielmehr ist die Diät heute weit verbreitete Alltagspraxis, die ein Großteil der Frauen, aber zunehmend auch der Männer, aus eigener Erfahrung kennt. Zahlreiche miteinander konkurrierender Diätangebote, wie Mono-, Reduktions- oder Glyxdiät, versprechen Erfolge beim Kampf gegen das Fett. Die meisten dieser Konzepte sind im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden und gehen mit einem Schlankheitsideal einher, das sich zunehmend vom medizinisch empfohlenen Idealgewicht entfernt hat.

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

208 | Alexandra Deak Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Diäten nicht nur erfolglos sind, sondern zudem zur Entstehung und Ausbreitung von Essstörungen beitragen. Nach einer kurzen Charakterisierung typischer Essstörungen (1), wird ein Überblick zur Entwicklung der Schlankheit und der Fettbekämpfungsmaßnahmen im 20. Jahrhundert gegeben werden (2). Im Anschluss an eine Typologie heute gängiger Diäten (3) wäre abschließend zu untersuchen, in welchem genaueren Zusammenhang Diät und Schlankheits- bzw. Esswahn stehen (4).

1. Charakteristika von Essstörungen Essstörungen, wie Magersucht, Bulimie oder Adipositas, sind im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen geworden, und ihr Ausmaß wächst. Als Krankheitsbilder wurden diese Essstörungen zwar schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und auch benannt, spielten seinerzeit aber in gesundheitspolitischer Hinsicht eine lediglich periphere Rolle.1

1.1 Anorexia nervosa/Magersucht Magersucht ist eine psychische Krankheit, von der in Deutschland rund 100.000 Menschen, vor allem junge Frauen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren, betroffen sind (95 Prozent der Magersüchtigen sind weiblich). Magersüchtige widerstehen jedem Hungergefühl und sehen in dieser Selbstbeherrschung ihre Stärke. Sie nehmen selten an gemeinsamen Mahlzeiten teil, oder sie täuschen ihren Mitmenschen gegenüber lediglich vor zu essen. Auch sonst entwickeln sie zahlreiche Mechanismen, ihre Krankheit vor anderen zu verbergen. Doch neben dem häufig deutlich sichtbaren Untergewicht, das nicht selten etwa 25 Prozent unter dem Normalgewicht liegt, gehören eine gestörte Körperwahrnehmung und vor allem eine fehlende Krankheitseinsicht zu den typischen Merkmalen der Magersucht. So fühlen sich die Betroffenen selbst dann noch zu dick, wenn ihr Körper längst schon ausgemergelt ist. Bei bis zu 15 Prozent der Betroffenen endet die Erkrankung tödlich. 1 | Die folgenden Charakterisierungen basieren vor allem auf: Johann Kinzl/ Ingrid Kiefer/Michael Kunze: Besessen vom Essen, Loeben 2001. Informativ sind auch die entsprechenden Websites der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (http: //bzga-essstoerungen.de), der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (http://adipositasgesellschaft.de) und der Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik (http://www. ernaehrungsmed.de) (Stand: 15. November 2005).

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 209

1.2 Bulimia Nervosa/Ess-Brech-Sucht Die Bulimie kennzeichnen zwanghafte Essanfälle und die Vermeidung einer entsprechenden Gewichtszunahme durch kompensatorische Techniken wie Erbrechen, Abführen, Entwässern, Fasten, strenge Diäten oder auch extreme sportliche Betätigungen. Bei den Essanfällen werden extrem große Mengen oft billiger, fettiger und industriell verarbeiteter Nahrungsmittel verschlungen, die nach der eigenen Beurteilung der Bulimiker, die sehr genau zwischen »erlaubten« und »verbotenen« Lebensmitteln unterscheiden, gar nicht zum Verzehr freigegeben sind. Da das Einverleiben der Speisen zwanghaft ausgeführt wird, werden die sich wiederholenden Ess-Attacken von den Betroffenen als Niederlagen empfunden. Nach außen hin wirkt das bulimische Essverhalten häufig jedoch unauffällig, weil Bulimiker überwiegend normalgewichtig sind. Zudem ist die Krankheit schambesetzt und passiert heimlich. Daher wird sie nur selten erkannt.

1.3 Binge Eating Disorder/Esssucht Die Binge Eating Disorder (von engl. binge »schlingen«) weist strukturell Ähnlichkeiten zur Bulimie auf, denn auch hier nehmen die Betroffenen im Zuge von Ess-Attacken teilweise extreme Mengen an Nahrung zu sich. Doch im Vergleich zu Bulimikern »entleeren« sich diese Esssüchtigen nicht nach der übermäßigen Nahrungsaufnahme; etwa durch selbstinduziertes Erbrechen oder die Einnahme von Abführpräparaten. Daher geht die Binge Eating Disorder in der Regel mit Übergewicht oder gar mit Adipositas, d.h. starkem Übergewicht, einher.2 Allerdings leiden – umgekehrt – Übergewichtige oder Adipöse nicht schon zwangsläufig unter der Binge Eating Disorder.3 Schätzungen gehen davon aus, dass heute ungefähr zwei bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung und etwa 30 Prozent der Adipösen von dieser Esssucht betroffen sind.4 Die Kriterien der Störung gelten als 2 | Übergewicht und Adipositas sind wie folgt zu unterscheiden: Übergewicht beginnt bei einem Body Mass Index (BMI) – Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße – ab 25. Adipositas, d.h. starkes Übergewicht, setzt bei einem BMI von 30 ein. Das »Normalgewicht« variiert je nach Alter. Der BMI für die Gruppe der 19- bis 24-Jährigen beträgt 19 bis 24, für die der 35- bis 44-Jährigen 21 bis 26. BMIWerte, die darunter liegen, gelten als Unterwicht, und solche, die darüber liegen, entsprechend als Übergewicht. In Deutschland ist etwa jeder dritte Erwachsene deutlich übergewichtig und sollte aus medizinischen Gründen Gewicht abnehmen. 3 | Grund kann auch ein chronisches Zuvielessen ohne abrupte Kontrollverluste sein. 4 | Auch wenn die Adipositas erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ei-

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

210 | Alexandra Deak erfüllt, wenn entsprechende Essanfälle etwa zweimal wöchentlich und über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten auftreten. In dieser Zeit werden deutlich größere Mengen als üblich gegessen. Oftmals setzt das normale Hungerempfinden vollständig aus, was von den Betroffenen als völliger Kontrollverlust empfunden wird. Anschließend sind diese dann oft bestrebt, im Rahmen einer Diät oder Fastenkur Gewicht abzunehmen.

1.4 Orthorexia Nervosa/Krankhaftes Gesundessen Die Orthorexie (gr. orthos »richtig, mittel, gerade« und orexis »Appetit«) wurde erstmals Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts beschrieben und ist somit die »jüngste« der hier aufgeführten Essstörungen, die häufig noch gar keinen Eingang in die entsprechende Literatur gefunden hat. Kennzeichnend für diese Essstörung ist, dass sich die Betroffenen in krankhafter Weise »gesund essen«. Bei der Nahrungsaufnahme werden nicht nur Kalorien gezählt, sondern penibelst Inhaltsstoffe, Nährwerte, Vitamin- und Mineraliengehalte überprüft. Auf diese Berechnungen werden häufig mehrere Stunden am Tag verwendet. Die Auswahl der »erlaubten« Lebensmittel wird zunehmend geringer. Betroffen sind meist junge Frauen, die eine wachsende und teilweise enorme Angst vor ungesunden Lebensmitteln, z.B. Süßigkeiten, Fast Food oder Fertigprodukten, haben. Besonders häufig sind Orthorektiker in ökologischen Naturkostkreisen anzutreffen. Den Speiseplan dominieren frisches Obst und Gemüse. Die Krankheit setzt überwiegend schleichend ein, in späteren Phasen kommt es oftmals zu Missionierungsversuchen gegenüber Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen am Arbeitsplatz, was zu einer sozialen Isolation der Betroffenen beitragen kann.

2. Überblick zur Entwicklung der Schlankheit und der Fettbekämpfung im 20. Jahrhundert Mit Blick auf das 20. Jahrhundert lassen sich drei wichtige Phasen einer »Verschlankung« der Gesellschaft ausmachen. Die erste setzt etwa um 1900 ein. Fett wird zunehmend als gesundheitsgefährdendes Risiko erkannt. Die zweite Phase beginnt mit den 20er Jahren, als ein eher androgynes Körperideal an die Stelle runderer, »weiblicherer« Körpernormen tritt. Die dritte, bis in die Gegenwart reichende Phase setzt in den 60er Jahren

nen medizinischen Namen bekam, wurde die Fettleibigkeit, vor allem als Oberschichtenphänomen, schon in der Antike als gesundheitliches Risiko eingestuft.

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 211

ein, als das mit Schönheit assoziierte Idealgewicht weit unter das medizinische empfohlene Gewicht sinkt.5 Die erste Phase ist von einer allgemeinen Ernährungssituation geprägt, die, im Vergleich zu den Jahrhunderten davor, relativ gesichert war. Trotz Urbanisierung und Industrialisierung wohnte ein Großteil der Bevölkerung noch immer auf dem Land. Wenn man sich frühe Schlankheitsratgeber, z.B. die Broschüre Wie bleibe ich jung und schön? des Ullstein Verlages aus dem Jahre 1910, anschaut und von medizinischen Entwicklungen der damaligen Zeit spricht, so betrafen diese vor allem die städtische Bürgerschicht. Es war die Stadt, in der gegen Ende des 19. Jahrhunderts die alltägliche Gewichtsmessung populär wurde: Ausgehend von der ersten richtungsweisenden Formel zur Gewichtsmessung von Paul Broca aus dem Jahre 1868, nach der man die Zahl 100 von der eigene Körpergröße abzuziehen und an einer Tabelle abzugleichen hatte, wurde das Gewicht einzelner Menschen objektiv vergleichbar. Waagen wurden an Bahnhöfen und in Schwimmbädern aufgestellt. Die Medizin räumte mit dem Vorurteil auf, dass Fett besonderen Schutz vor Krankheiten, z.B. vor der Tuberkulose, darstelle. Vielmehr wurde Übergewicht zunehmend als Gesundheitsrisiko erkannt.6 Damit geriet das Fett zwar allmählich in Verruf. Von der sozialen Stigmatisierung war es allerdings noch weit entfernt. Insbesondere bei Männern wurde Übergewicht noch immer als Zeichen des Wohlstandes gedeutet. Bilder, wie die des »reichen Kapitalisten« oder des »armen Arbeiters«, verdeutlichten dies anschaulich. Einen Nachhall dieser einst sozioökonomisch positiven Fett-Konnotation vernimmt man bis heute in sprachlichen Wendungen wie »es dicke haben« oder »dick drinsitzen«. Auch die negative Wahrnehmung der Schlankheit findet bis heute ihr Echo, und zwar vor allem in der Verwendung des Adjektivs »mager«, welches noch immer als Synonym für »ärmlich«, »kümmerlich« oder »kärglich« in Gebrauch ist. Dass die Magerkeit früher als ein negatives Zeichen betrachtet wurde, ist überdies auf den Umstand zurückzuführen, dass die Tuberkulose um die Jahrhundertwende zweithäufigste Todesursache war. Negativ belastet war die Magerkeit aber auch durch das medizinische Krankheitsbild der dürren 5 | Zur Geschichte der Schlankheit und der Essstörungen siehe auch: George L. Hersey: Verführung nach Maß. Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers, Berlin 1998; Michèle Didou-Manent/Tran Ky/Hervé Robert: Dick oder Dünn? Körperkult im Wandel der Zeit, München 2000; Christiane Syré: »Ran an den Speck – Zur Geschichte der Diät«, in: Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Industriemuseum (Hg.): Kleiderlust und Körperfrust. Die Suche nach der Traumfigur, Essen 2004. 6 | Vgl. Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930, Stuttgart 2003.

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

212 | Alexandra Deak »hysterischen« Frau.7 Allerdings wurde die heute weitgehend vernachlässigte Unterscheidung zwischen »Magerkeit« und natürlicher »Schlankheit« in Schönheitsratgebern jener Zeit noch klar hervorgehoben: »Man darf die natürliche Schlankheit nämlich nicht mit der Magerkeit verwechseln, die viele Frauen stolz zeigen, obwohl ihnen nichts weniger steht als gerade die neu erworbene Magerkeit, die von ihnen tatsächlich als Schlankheit angesehen wird.«8

Was nun die Diät angeht, so hatte man sich bereits um 1900 von deren ursprünglich antikem Begriffsverständnis, das auf das richtige Maß einer gelingenden Lebensweise zielte, weit entfernt. Unter Diät verstand man in erster Linie Schon- und Krankenkost, obwohl der Begriff auch schon für Praktiken einer lediglich reduzierten Nahrungsaufnahme verwendet wurde. Schlankheitsratgeber sind zu jener Zeit eher selten und entsprechende Ernährungsempfehlungen zur Gewichtsreduktion ähneln denen der Krankenkost: »Gemüse, die in Wasser gekocht und ohne Schwitze angemacht sind, gebratenes Fleisch, entfettete Bouillon, Fisch, bis auf Lachs und Sardinen, Schwarzbrot ohne Butter, Zwieback und Tee, Kaffee ohne Zucker.«9

Eine durchaus populäre Maßnahme zur Gewichtsreduktion war das Fasten, welches allerdings medizinisch umstritten war: »Streng zu vermeiden sind Fast- und Hungerkuren«, hieß es, und die Begründung lautete: »Nichts ist so ungesund wie in verhältnismäßig kurzer Zeit eine große Gewichtsabnahmen herbeizuführen, und nichts schadet der Schönheit mehr.«10 Als eine Körpertechnik, losgelöst von der christlichen rituellen Praxis, wurde das Fasten seinerzeit vor allem im Umfeld der Naturheil- und Lebensreformbewegung angewandt.11 Hier wurde das Ideal des schlanken, natürlichen Körpers propagiert, und entsprechende Ernährungsgewohnheiten wurden in den Rang einer Weltanschauung gehoben. Vegetarismus und 7 | Vgl. Ulrike Thoms: »Körperstereotype. Veränderungen in der Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit in den letzten 200 Jahren«, in: Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000. 8 | Wie bleibe ich jung und schön?, Ullstein-Sonderhefte Nr. 21-22, Berlin 1910, S. 7. 9 | Ebd., S. 15. 10 | Ebd., S. 9. 11 | Vgl. Walter Vandereycken/Ron van Deth/Rolf Meermann: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Eßstörungen, München 1992.

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 213

Veganismus waren die zentralen Ernährungsprogramme. Bis heute gängige Diätwaren, z.B. Müsli, Vollkornbrot, Frucht- und Rohkostsäfte bis hin zu Vitamin- und Mineralzusatzpräparaten, stammen aus diesem Umfeld.12 Weitere populäre Maßnahmen gegen das Übergewicht wurden um 1900 in den berühmten Kurbädern, z.B. in Karlsbad oder Marienbad, angeboten, wo man sich einer Entfettungskur unterziehen konnte. Dort war allerdings eher die »konservative« Schulmedizin vertreten.13 Demnach zeichnet sich bereits um die Jahrhundertwende die Tendenz ab, Übergewicht zum medizinischen Risiko zu erklären. Schon in den 20er Jahren jedoch wird die Idee der Schlankheit, unterstützt durch die Verbreitung des Kinos, der amerikanischen Schönheitswettbewerbe sowie einer erstarkenden Mode- und Kosmetikindustrie, zu einem Wert an sich. In der Zeitschrift Ullsteins Blatt der Hausfrau, dem Vorläufer der heutigen Brigitte, wurden androgyn wirkende Schauspielerinnen erstmalig als Vorbilder gepriesen.14 Idealisiert wurde nun nicht mehr die runde Weiblichkeit, sondern ein eher knabenhaftes und selbstbestimmtes Frauenbild. Dieses neue, medial verbreitete Schönheitsideal galt aber zunächst vor allem dem gebildeten, weiblichen Bürgertum und wies demnach noch keine gesamtgesellschaftliche Dimension auf, wie das für heutige Schönheitsideale typisch ist. Etwa zeitgleich lässt sich ab den 20er Jahren eine auffällige Häufung von Publikationen zu den Themen Hunger- und Diätkuren feststellen, und so wurde bereits im Jahre 1932 eine besondere Essstörung medizinisch klassifiziert: die Bulimie. Die damaligen Beschreibungen des Krankheitsbildes stimmen mit den heutigen weitgehend überein, die Therapievorschläge jedoch waren nicht die gleichen: Ärzte empfahlen nicht nur kleinere Mahlzeiten zwischen den Gängen, sondern auch Tabakrauchen oder gar Opium zum Betäuben des Hungergefühls sowie in hartnäckigen Fällen eine diätisch-erzieherische Anstaltsbehandlung.15 In der Nationalsozialistischen Ära jedoch trat die Emanzipation der Frau erneut in den Hintergrund und das androgyne, selbstbestimmte Frauenbild der 20er Jahre wurde wieder von dem der gebärfähigen Frau und Mutter abgelöst. Angesichts der Lebensmittelverknappung während des Krieges und den Hungerperioden danach war die »schlanke Linie« kein relevantes Thema. Noch die 50er Jahre des Wirtschaftswunders, die »fetten Jahre«, sind in diesem Sinne nicht nur als körperliche Reaktion auf den vormaligen Mangel, sondern auch als dessen mentale Nachwehen zu ver12 | Vgl. Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, S. 518. 13 | Vgl. ebd., S. 516. 14 | Vgl. Sylvia Lott-Almstatt: Brigitte. 1886-1986. Die ersten hundert Jahre. Chronik einer Frauenzeitschrift, Hamburg 1986, S. 253. 15 | Vgl. Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, S. 315ff.

2006-02-06 17-38-38 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

214 | Alexandra Deak stehen: Denn je schlechter die Zeiten, desto eher wird das Fett am eigenen Körper toleriert. Rundlichere Formen wurden nach den mageren Hungerjahren daher als Zeichen glücklichen Wohlstandes und Überflusses recht positiv bewertet. So trug z.B. Sexsymbol Marylin Monroe immerhin Kleidergröße 40/42. Heute fühlen sich viele Frauen mit vergleichbarer Körpergröße und Kleidermaß 40 bereits übergewichtig.16 Die dritte Phase der Verschlankung setzt in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein und hält bis heute an. Zur symbolträchtigen Figur wurde das Foto-Modell Twiggy. Sie wog bei einer Körpergröße von 1,67 m nur 41 kg und wies damit einen BMI von 14,7 auf. Mit Twiggy begann in den wohlhabenden westlichen Gesellschaften eine neue Ära des weiblichen Körperideals. Hatte bis zum Jahre 1965 das Durchschnittsgewicht einer amerikanischen Frau etwa acht Prozent über dem Durchschnittsgewicht gängiger Foto-Modelle gelegen, lag es in den 90er Jahren bereits 23 Prozent darüber.17 Von nun an galt das Schönheitsgewicht für den Großteil der Bevölkerung als Ideal; als ein Ideal freilich, das sich zunehmend von der Wirklichkeit entfernte und schon längst nicht mehr dem medizinisch empfohlenen Normal- oder Idealgewicht entsprach, sondern weit darunter lag. Ab Mitte der 60er Jahre löst sich somit die vormals wichtige Differenz von »unnatürlicher« Magerkeit und »natürlicher« Schlankheit auf.

3. Zur Charakterisierung der Diäten Zeitgleich mit der dritten Verschlankungsphase wurde die Diät, nunmehr verstanden als eine temporäre Ernährungsumstellung zum Zwecke der Gewichtsabnahme, zu einem überaus alltäglichen Phänomen. Die Frauenzeitschrift Brigitte eröffnete bereits 1969 ihren »Diät-Club«, und die WeightWatchers kamen ab Mitte der 70er Jahre nach Deutschland.18 In der 80er Jahren treten »light«-Produkte ihren Siegeszug an, und in den 90ern finden sich vermehrt gesunde »Bioprodukte« im Handel. Hier einige illustrative Zahlen zum heutigen Stand: Der Internet-Buchversand Amazon bietet derzeit 1638 Diät-Ratgeber an.19 In etwa 95 Prozent aller Fälle jedoch erweisen sich die entsprechenden Diätversuche als langfristig erfolglos oder gar gesundheitsschädigend.20 Dennoch wollen 90 Prozent der weiblichen Teen16 | Vgl. Waltraud Posch: Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit, Frankfurt/M. 1999, S. 42. 17 | Vgl. ebd., S. 44f. u. 109. 18 | Vgl. http://www.weightwatchers.de (Stand: 15. November 2005). 19 | Vgl. http://www.amazon.de (Stand: 15. November 2005). 20 | Vgl. http://ernaehrungsmed.de (Stand: 15. November 2005).

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 215

ager abnehmen, und bereits jede dritte Schülerin im Alter zwischen 12 und 20 Jahren leidet an der Frühform einer Essstörung. Grundprämisse nahezu jeden Diätbeginns ist die Annahme, dass eine temporäre Veränderung des Essverhaltens zu einer Gewichtsreduzierung führt. Dabei ist zunächst sekundär, ob der oder die Diäthaltende objektiv unter Übergewicht leidet oder sich nur subjektiv als übergewichtig empfindet. Zunächst muss sich die Diätplanende zwischen zahlreichen konkurrierenden Diättypen entscheiden: Ananas-Enzym-Diät, Apfelessig-Kur, AtkinsDiät, Ayurveda-Diät, Blutgruppen-Diät, Brigitte-Diät, Buchinger-Fasten, CM 3-Diät, FdH-Diät, Fit for Fun-Diät, Fit for Life-Diät, Formula-Diäten, 5 am Tag-Diät, Hay’sche Trennkost, Hollywood-Diät, Glyx-Diät bzw. MontignacMethode, Kartoffel-Diät, Low fat 30/60, Makrobiotik, Max-Planck-Diät, Mayo-Diät, Mayr-Kur, Metabolic Typing, Null-Diät, Pfunds-Kur, Punkte-Diät, Reis-Diät, Saftfasten, Schroth-Kur, Strunz-Diät, Vollweib-Diät, Wundersuppen-Diät oder Zitronensaft-Kur? Diese unvollständige Auflistung derzeit gängiger Diätmethoden zeigt nicht nur die enorme kommerzielle Bedeutung des Diäthaltens, sondern verdeutlicht zugleich auch die ernährungswissenschaftliche Komplexität des Phänomens. Etwas vereinfachend lassen sich die unterschiedlichen Diäten in neun Gruppen einteilen: a) Nulldiäten und Fastenkuren, die den Verzicht auf feste Nahrung propagieren; b) Reduktionsdiäten, bei denen lediglich weniger gegessen wird, häufig durch Umstellung auf vollwertige Mischkost; c) Diäten, die eine ganz bestimmte Zusammensetzung der Lebensmittel propagieren, z.B. die Atkins-Diät, bei der nur wenige Kohlenhydrate zugelassen sind, dafür aber umso mehr Fett verzehrt werden soll; d) so genannte Monodiäten, die mit der Beschränkung auf nur ein Lebensmittel, z.B. Ananas, einhergehen; e) physiognomisch orientierte Diäten, wie die Blutgruppen-Diät oder das Metabolic Typing, deren Ernährungsempfehlungen sich nach dem jeweiligen Blutgruppen- bzw. Stoffwechseltyp der Diäthaltenden ausrichten; f) Schlankheitsdrinks und -mahlzeiten, die zumeist in industriell verfertigter Pulverform angeboten werden. Hinzu kommen eher langfristig ausgerichtete Ernährungsempfehlungen, deren Übergänge zu den eben genannten kurzfristigen Diätmethoden aus ernährungswissenschaftlicher Sicht oft fließend sind: g) die so genannte Vollwerternährung; h) Vegetarismus und Veganismus sowie i) fernöstliche Ernährungslehren, wie z.B. Ayurveda. Einige der genannten Diäten weisen nahezu unbestritten ein unmittelbares gesundheitliches Gefährdungspotenzial auf. So können Mono- und Beschränkungsdiäten zu einer mitunter extremen Nährstoff-Verschiebung führen, die sich negativ auf das Stoffwechsel-, Herz- und Kreislaufsystem auswirken. Andere Diäten sind, physiologisch gesehen, zwar vollkommen ungefährlich, z.B. die Hay’sche Trennkost, dafür aber vermutlich auch wir-

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

216 | Alexandra Deak kungslos; selbst bei langfristiger Ernährungsumstellung. Jedenfalls fehlen bislang wissenschaftliche Belege, die eine gegenteilige Annahme plausibel erscheinen lassen würden.21 Warum jedoch Diäten in der Regel nicht nur erfolglos, sondern sogar gefährlich sind, weil sie den Weg zur Essstörung ebnen, wird im Folgenden dargelegt. Zuvor jedoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich selbstverständlich auch andere, teilweise vielversprechendere und überdies »effizientere« Maßnahmen im Kampf gegen das Fett anbieten. Neben der vorwiegend als gesund einzustufenden, aber eben auch mühseligen Praxis einer gemäßigten, sportlichen Betätigung ist derzeit vor allem ein wachsender Trend feststellbar, »Abkürzungen« zu nehmen. Gemeint sind chirurgische Eingriffe, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: a) direkte Manipulationen des Volumens des Magens durch dessen operative Verkleinerung oder aber durch Implantation eines Magenbandes, Magenballons oder gar, wenngleich immer seltener, eines Bandwurms; b) Fettabsaugungen in den so genannten »Problemzonen«. Letztere Technik gehört inzwischen zu den am häufigsten durchgeführten Schönheitsoperationen. Die Fettabsaugung erspart den Betroffenen »lästige« Selbstdisziplinierungen, und sie verhindert darüber hinaus sogar die Bildung neuer Fettzellen, und zwar längerfristig, wodurch sie sich, wie sich nun zeigen wird, von herkömmlichen Diätmethoden unterscheidet.

4. Diät und ersatzreligiöser Wahn Psychologischer Ausgangspunkt beider, von Diäten und Essstörungen, ist eine Art Unheilsvorstellung vom eigenen Körper. Dieser wird von den Betroffenen in gravierenden Hinsichten als mangelhaft empfunden. Umgekehrt wird die eigene Heilsvorstellung auf das Ideal des schlanken Körper projiziert. Dabei herrscht der Glaube vor, dass mit der Erreichung des Ziels der Schlankheit nicht nur Schönheit und Gesundheit, sondern auch ein glückliches Leben einhergehen. Bei den Essgestörten nimmt eben diese Vorstellung wahnhafte Gestalt an. Sie bestimmt nahezu deren gesamtes Denken und Handeln. Die Vorstellung von einem »intakten Leben« ist zwangsläufig an die Idee eines ebenso intakten, d.h. schlanken Körpers gekoppelt. Dabei sind fließende Übergänge festzustellen: zwischen dem oftmals unproblematischen und immer häufiger ja auch medizinisch induzierten Wunsch, etwas Gewicht abzunehmen, wie er heute bei einem Großteil, zumindest der weiblichen Bevölkerung anzutreffen ist, und der demge21 | Vgl. Gisela Gniech: Essen und Psyche. Über Hunger und Sattheit, Genuß und Kultur, Heidelberg 1995, S. 186f.

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 217

genüber krankhaften Fixierung auf das eigene, als fundamental mangelhaft empfundene Körpergewicht. Diäten sind insofern als Heilslehren anzusehen, als sie den Weg zu einem erfüllten Leben weisen. Die elementaren Grundbausteine der bekanntesten dieser Lehren ähneln sich und, was hier vor allem wichtig ist, weisen deutliche Parallelen zu klinischen Essstörungen auf: Erstens gilt es, weniger zu Essen, und/oder zweitens, individuelle Speisegebote und vor allem Speiseverbote zu formulieren. Drittens ist für Diäten und Essstörungen gleichermaßen eine unentwegte Beschäftigung mit dem Essen kennzeichnend. Im Folgenden werden diese drei gemeinsamen Merkmale noch etwas genauer dargestellt. Die erste wichtige Prämisse fast aller Diäten ist eine Reduzierung der Kost. Diese Reduzierung reicht von einer leichten Kalorien-Unterversorgung bis hin zum völligen Verzicht auf feste Nahrung in Form von Nulldiät oder Fasten. Reduktionsdiäten lassen keine Sättigung aufkommen, und somit kann auch keine echte Befriedigung beim Essen bewirkt werden. Die Befriedigung besteht hier vielmehr in der Selbstdisziplinierung und in der Überwindung der eigenen körperlichen Ansprüche. Die Magersucht treibt diese Selbstüberwindung krankhaft auf die Spitze: Viele Magersüchtige ziehen ihr gesamtes Selbstwertgefühl aus der vermeintlichen »Stärke«, dem Hungergefühl dauerhaft widerstehen zu können. Sie empfinden sich als »Sieger« über ihren Körper. Die Kontrolle wird als Triumph erlebt und dient den Betroffenen als Abgrenzung gegenüber »schwachen« Hungerbrechern. Die Reduktionsdiät muss somit als der klassische Einstieg in die Magersucht betrachtet werden.22 Um die Gefahren der Nahrungsreduzierung aufzuzeigen, lohnt der Blick auf eine »Hungerstudie«. Die bekannteste Untersuchung stammt aus dem Jahr 1950 und wurde in Minneapolis durchgeführt23: 36 männliche Probanden wurden nach einer dreimonatigen Anlaufphase mit normaler kalorischer Versorgung für weitere sechs Monate mit einer Diät versorgt, bei der die Kalorienzufuhr von durchschnittlich 3500 auf 1600 kcal reduziert wurde. Die verabreichten Speisen entsprachen der in Europa vormals üblichen Kriegskost und bestanden aus Kohl, Rüben, Kartoffeln, Brot und Nudeln. In einer dritten Phase wurde die Kalorienzufuhr dann wieder langsam einem normalen Maß angeglichen. Die Probanden hatten während der Kalorienreduzierung einen durchschnittlichen Gewichtsverlust von 25 Prozent erlitten. Die körperlichen Auswirkungen der Nahrungsreduzierung bestanden in Schlafstörungen, Müdigkeit und Apathie, Muskelschmerz, Schwindelattacken und Kälteanfälligkeit. Als psychische Auswirkungen waren Erregbarkeit, Konzentrationsstörungen, emotionale Instabilität und so22 | Vgl. http.//www.ernaehrungsmed.de (Stand: 15. November 2005). 23 | Für das Folgende vgl. Gniech: Essen und Psyche, S. 22f.

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

218 | Alexandra Deak gar Depressionen zu beobachten. In sozialer Hinsicht tendierten die Probanden zum Rückzug, aber auch zur Streitsucht, zur Abnahme sexueller Bedürfnisse und zu einer teilweise übermäßigen Beschäftigung mit nahrungsbezogenen Themen in Gesprächen, Phantasien und Träumen. Diese Beschäftigung schlug sich in direkt essbezogenem Bereich in Verhaltensweisen wie exzessivem Kaugummikauen, Nägelkauen, erhöhtem Genussdrogenkonsum, Ess-Attacken, Futterneid, Nahrungsdiebstahl sowie im Sammeln von Rezepten, Speisekarten und Kochbüchern nieder. Die Versuchsleiter sahen sich daher insgesamt dazu veranlasst, von einer »Unterernährungsneurose« zu sprechen. Um jedoch die Langzeitwirkung einer solchen Nahrungsmittelverknappung richtig einschätzen zu können, sind vor allem die entsprechenden Nachuntersuchungen von Interesse. Sie zeigten, dass die Probanden nur sehr schwer zu einem normalen Verhältnis zum Essen zurückfanden. Insbesondere deren Sättigungsmechanismus war betroffen. Die Versuchspersonen berichteten über anhaltende Ess-Attacken und von großen Schwierigkeiten, ihren Hunger zu stillen. Demnach zeigte das Experiment, dass das gesamte Essverhalten eines Menschen bereits durch eine temporäre kalorische Unterversorgung nachhaltig aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann, denn ein »gesundes« Hunger- und Sattheitsgefühl müssen als Grundvoraussetzungen für ein ebenso gesundes Essverhalten gewertet werden. Ein demgegenüber massiv gestörtes Gefüge zwischen Hunger- und Sattheitsgefühlen ist nicht nur, wie oben bereits erwähnt, für die Bulimie kennzeichnend, sondern auch für die Binge Eating Disorder. Hier schwanken die Betroffen nahezu unentwegt zwischen Essanfällen und Diät- bzw. Fastenversuchen. Die Unfähigkeit, entspannt zu genießen und den Hunger maßvoll zu befriedigen, darf daher im Umkehrschluss als Zeichen einer latenten Essstörung und als Vorbote einer behandlungsbedürftigen Krankheit gelten. Die zweite wichtige Gemeinsamkeit von Diäten und Essstörungen ist die unentwegt kritische Bewertung einzelner Lebensmittel und Speisen. Dabei geht ein Großteil der Diäten davon aus, dass der Verzehr von kalorisch niedrig einzustufenden Lebensmitteln, z.B. von Salat, Obst oder Gemüse, dem Konsum von hohen Kalorienträgern, wie Braten, Käse oder Schokolade, grundsätzlich vorzuziehen ist, weil letztere unweigerlich zur Gewichtszunahme führen. Die grundlegende Einteilung in gesunde/ungesunde, gute/schlechte Lebensmittel hat in der Öffentlichkeit mittlerweile fast kanonischen Charakter angenommen und wird ständig wiederholt; sei es in der Debatte um die regulierende Einschränkung von Werbeaussagen, z.B. zum Wahrheitsgehalt des Produktnamenzusatzes »light«, sei es mit Blick auf Konzepte zur gesundheitspolitischen Bekämpfung von Adipositas oder in Bezug auf behördliche Lebensmittelverordnungen. Der Verbraucher

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 219

mag sich dadurch zu einer permanenten Reflexion über die verzehrten Speisen nach eben jener Unterscheidung von guten/schlechten, gesunden/ ungesunden und damit erlaubten/verbotenen Speisen angehalten sehen.24 Damit kann eine dauerhafte Regulierung, ja, Zensur des eigenen Essverhaltens einhergehen, die ebenfalls Vorbote einer Essstörung sein kann. Insbesondere Orthorektiker und Magersüchtige lassen sich von dieser evaluativen Kontrollsucht vereinnahmen, während Bulimiker und Esssüchtige spiegelbildlich unter einem entsprechenden Kontrollverlust zu leiden haben. Zu einer nahezu wahnhaften Fixierung auf gesunde Lebensmittel und einer entsprechenden Tabuisierung »schlechter« Industrienahrung kommt es am anschaulichsten in der Orthorexie: Jedes Lebensmittel wird einer intensiven Prüfung unterzogen, vermeintlich ungesunde Speisen, z.B. Hamburger, Tütensuppen, Schokolade, Brausepulver oder Kaubonbons, werden für »böse« erklärt. Die dauerhafte Beschäftigung mit dem Essen nimmt ersatzreligiöse Züge an. Man kann Orthorektiker getrost als Fundamentalisten bezeichnen, terrorisieren sie doch sich und ihr Umfeld mit ihrem unentwegten Lebensmittel-Dualismus. Ganz ähnlich verhält es sich bei Bulimikern, auch wenn deren ersatzreligiöse Glaubensinhalte, wie bereits angedeutet, leicht von denen der Orthorektiker abweichen. Bulimische Heilsvorstellungen liegen nicht in der Gesundheit, sondern in der Schlankheit. Dementsprechend sind nicht nur die rituellen Praktiken verschieden – Selbstkasteiung durch Erbrechen bei den Bulimikern sowie strengste Überprüfung der Lebensmittel, ob diese die »Gebote« einhalten, auf Seiten der Orthorektiker –, auch die jeweils geltenden Tabuvorschriften weichen voneinander ab: Während z.B. Orthorektiker vor industriell verarbeiteten Lebensmitteln eine »Höllenangst« haben, werde diese von Bulimikern, zumindest in Form von »light«-Produkten, mitunter gern konsumiert. Wie in so mancher Diät macht die kategorische Einteilung von Lebensmitteln in gute und schlechte auch in den genannten Krankheitsbildern ein annähernd entspanntes Verhältnis zum Essen unmöglich: Schon der kleinste Bissen vermeintlich »böser« Lebensmittel, z.B. Schokolade, kann zum seelischen Zusammenbruch und zu entsprechenden Überreaktionen führen, wo doch das Heilsziel der Schlankheit aufgrund der eigenen, sich im sündigen Verzehr äußernden Schwäche sowieso nicht mehr erreicht werden kann. Bei Bulimikern etwa resultieren aus der permanenten Unterdrückung ihres Essverlangens Kontrollverluste in Form von Ess-At24 | Auch Diät-Sendungen im Fernsehen transportieren diesen Dualismus von gut und böse. Konkret sieht das wie folgt aus: TV-Esserzieher fordern übergewichtige Personen dazu auf, negative Symbole für Chips, Torten und Brathähnchen, positive Symbole für Obst, Gemüse und Vollkornbrot auf jeweils unterschiedliche Seiten einer Tafel zu heften.

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

220 | Alexandra Deak tacken, und ganz ähnlich ergeht es Personen, die an der Binge Eating Disorder leiden. Dann werden extreme Mengen an vorrangig »schlechten« Lebensmitteln verschlungen, z.B. ganze Gläser Nutella, was jedoch folgerichtig eine Art moralische Selbstgeißelung nach sich zieht. Nach den Essanfällen quälen sich die Betroffenen mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, die zudem mit einem Ekel vor der eigenen Person einhergehen. Der Verzehr von »schlechten« Lebensmitteln folgt hier also einem komplexen psychischen Selbstbestrafungsmechanismus. Eine dritte Gemeinsamkeit von Diäten und Essstörungen ist die dauerhafte Beschäftigung mit dem Essen. Magersüchtige, Ess-Brech-Süchtige, Esssüchtige und Gesundesser denken geradezu permanent über die Nahrungsaufnahme und über die Frage nach, was sie essen dürfen und was nicht. Indizien der Krankheit können Kochbuch- oder Rezeptsammlungen und die Vorliebe für TV-Kochsendungen sein.25 Sie werden vor allem für jene, die das Essen verweigern, zur Ersatzhandlung. Auch hier ebnet die Diät den Übergang zur Krankheit. Zahlreiche Diätformen weisen ein derart »ausgetüfteltes« Ernährungssystem auf, dass deren Durchführung geradezu zwangsläufig mit einer dauerhaften Reflexion über erlaubte und unerlaubte Speisen einhergeht. Derart rigide Diätsysteme transportieren die Überzeugung, dass das Ziel der Schlankheit mit einer ebenso rigiden eigenen Kontrolle auf der Basis von klaren Essvorschriften zu erreichen sei. Man nehme das Beispiel der Weight-Watcher, deren Name sozusagen Programm ist: Sie bedienen sich eines Punkte-Plans (»FlexPoints«), der jeder Speise einen konkreten Punktewert zuteilt: ein Stück Erdbeertorte bekommt vier FlexPoints, Spaghetti mit Tomatensoße auch, der Salatteller hingegen nur drei. Die individuell zur Verfügung stehende Punktezahl wird mit Hilfe einer FlexPoint-Analyse im Vorfeld berechnet und deren Verbrauch täglich im FlexPoint-Tagebuch vermerkt.26 25 | Hier ist anzumerken, dass das Kochbuchsegment derzeit einer der wenigen Wachstumssparten des Buchmarktes darstellt. Dieser Umstand widerspricht direkt der gesamtgesellschaftlich relevanten Tatsache, dass heute immer weniger Menschen zu Hause essen und noch weniger Menschen ihre Mahlzeiten tatsächlich selbst zubereiten. Doch der Umkehrschluss, dass jede Kochbuchsammlung auf eine Essstörung hinweist, trifft natürlich nicht zu. Eine intensive Beschäftigung mit der Kochkunst in Buchform, aber auch im Fernsehen, kann z.B. ebenso auf gesteigerte kulinarische Bedürfnisse, auf eine wachsende Zahl ambitionierter Hobby-Köche, auf das Verblassen mündlich überlieferter Koch-Traditionen oder auch auf sich wandelnde Rollen- und Geschlechterverhältnisse zurückgeführt werden. 26 | Im Weight-Watchers-Shop kann man im Übrigen auch direkt Lebensmittel kaufen, was den Vorteil mit sich bringt, ganz genau zu wissen, welche FlexPointZahl die jeweilige Speise hat.

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 221

Doch muss sich ein Diätsystem gar nicht so ausgeklügelt gestalten, um langfristig in eine Dauerbeschäftigung auszuarten. Schon die einfache, in zahlreichen Diätratgebern empfohlene Orientierung an den jeweiligen Kalorienangaben, die auf die Lebensmittelverpackungen aufgedruckt sind, weist einen Weg, der die eigene körperliche Wahrnehmung untergräbt, weil er stattdessen zu einer Berechnung des je eigenen Bedarfs führt. Eine Sonderrolle im Diätangebot nehmen spezielle Schlankheitspräparate ein, die ihre Bekanntheit häufig weniger entsprechenden Empfehlungen in Frauenzeitschriften, als vielmehr kommerzieller Werbung verdanken. Sie sind in Drogerien, Apotheken oder im Direktvertrieb erhältlich. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Schlankheitsdrinks und -mahlzeiten, Entfettungstabletten, Abführmitteln (Laxantien) und Entwässerungstabletten (Diuretika). Allein hierzulande werden laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik jährlich mindestens 170 Millionen Euro für Schlankheitsmittel ausgegeben. Zumindest mit der Einnahme von Entfettungstabletten, Laxantien und Diuretika wird von den Diäthaltenden eine Schwelle zur pharmakologischen Behandlung ihrer Essgewohnheiten überschritten, denn in unserem Kulturkreis griff man lange Zeit allein im Krankheitsfall zu Medikamenten. Mit der Einnahme von Entfettungstabletten und Abführmitteln zum Zweck des Fettabbaus wird der – oft nur vermeintlich übergewichtige – Körper demnach zunehmend als »behandlungsbedürftig« oder gar »krank« eingestuft. Entsprechender Missbrauch von Abführ- und Entfettungspillen ist vor allem bei bulimisch Erkrankten feststellbar. Schlankheitsdrinks und -mahlzeiten werden hingegen nicht als Medizin eingestuft, obgleich zweifellos auch sie Essstörungen Vorschub leisten, indem sie künstlich und massiv in den Hunger-Sattheitsmechanismus eingreifen.27 Von ernährungsmedizinischer Seite aus ist zudem zu bedenken, dass (temporäre) Diäten allein schon deshalb nicht empfehlenswert sind, weil der Körper bei einer Unterversorgung mit Kalorien den Stoffwechsel gewissermaßen auf Sparzeiten umstellt und lernt, mit gedrosselter Energie zu arbeiten, ohne die Fettreserven anzugreifen. Umso mehr Energie und auch Fett wird jedoch bei Wiederaufnahme des vormaligen Essverhaltens gespeichert. Umgangssprachlich nennt man dies den »JoJo-Effekt«. So führen am Ende handfeste physiologische Gegebenheiten dazu, dass der Körper durch Diäten mittelfristig eher zu- als abnimmt. Doch so medizinisch unumstritten der JoJo-Effekt auch ist, er steht in augenfälligem Widerspruch zu der Tatsache, dass viele Menschen noch immer, geradezu unbeirrt, an die Wir27 | Inwieweit diese Schlankheitsdrinks und -mahlzeiten eine optimale ernährungsmedizinische Zusammensetzung aufweisen, dürfte zweifelhaft sein, ist aber an dieser Stelle nicht weiter von Interesse.

2006-02-06 17-38-39 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

222 | Alexandra Deak kung von Diäten glauben und dass mit diesem Glauben sehr viel Geld verdient wird. Fest steht jedoch: Im Hinblick auf eine gesunde Ernährung ist allein eine langfristige Umstellung ungünstiger Ernährungsgewohnheiten, gepaart mit sportlicher Betätigung, in der Lage, den Körper »aus der Reserve« zu locken bzw. ihn dazu zu bringen, sein Fett abzubauen. Zusammenfassend lässt sich das Folgende festhalten: Das gesellschaftlich anerkannte Schönheitsideal hat sich mit Blick auf das propagierte Idealgewicht im Verlauf des 20. Jahrhunderts so weit von der Realität entfernt, dass mehr und mehr eine aktive und dauerhafte Arbeit am eigenen Körper zur Erreichung dieses Ideals notwendig wurde. Diäten versprechen hier rasche Erfolge. Allerdings führen sie nur in den seltensten Fällten zu dem erwarteten Heil. Vielmehr untergraben sie, erstens, den »gesunden« Hunger- und Sattheitsmechanismus. Sie verbreiten, zweitens, in Bezug auf Lebensmittel eine problematische gut/böse-Metaphorik, die zu rigiden, häufig nicht erfüllbaren Ansprüchen an den eigenen Verzehr führt. Und sie zementieren, drittens, den Irrglauben, dass eine geradezu neurotische Kontrolle des eigenen Essverhaltens dauerhaft zum Erfolg führt. Dabei hat sich gezeigt, dass sich alle drei dieser höchst prekären Merkmale populärer Diäten, wenn auch in wahnhaft gesteigerter und ersatzreligiöse Züge annehmender Form, in den uns heute geläufigen klinischen Essstörungen wiederfinden lassen. Daher sollte eine Warnung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auch auf den Buchrücken der unzähligen Diätratgeber prangen: »ACHTUNG: Diäten können Vorläufer, und auch ›Einstiegsdroge‹ für ein gestörtes Essverhalten oder eine Essstörung sein. Diäten führen zudem selten dauerhaft zum gewünschten Körpergewicht.«28

Literatur Didou-Manent, Michèle/Ky, Tran/Robert, Hervé: Dick oder Dünn? Körperkult im Wandel der Zeit, München 2000. Hersey, George L: Verführung nach Maß. Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers, Berlin 1998. Gniech, Gisela: Essen und Psyche. Über Hunger und Sattheit, Genuß und Kultur, Heidelberg 1995. Kinzl, Johann/Kiefer, Ingrid/Kunze, Michael: Besessen vom Essen, Loeben 2001. 28 | Siehe http://www.bzga-essstoerungen.de (Stand: 15. November 2005).

2006-02-06 17-38-40 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

Schöner Hungern | 223

Lott-Almstatt, Sylvia: Brigitte. 1886-1986. Die ersten hundert Jahre. Chronik einer Frauenzeitschrift, Hamburg 1986. Merta, Sabine: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930, Stuttgart 2003. Posch, Waltraud: Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit, Frankfurt/M. 1999. Syré, Christiane: »Ran an den Speck – Zur Geschichte der Diät«, in: Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Industriemuseum (Hg.): Kleiderlust und Körperfrust. Die Suche nach der Traumfigur, Essen 2004. Thoms, Ulrike: »Körperstereotype. Veränderungen in der Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit in den letzten 200 Jahren«, in: Wischermann, Clemens/Haas, Stefan (Hg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000. Vandereycken, Walter/Deth, Ron van/Meermann, Rolf: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Essstörungen, München 1992. Wie bleibe ich jung und schön?, Ullstein-Sonderhefte Nr. 21-22, Berlin 1910.

2006-02-06 17-38-40 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 207-223) T03_02 deak.p 107239498638

2006-02-06 17-38-40 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 224

) vakat 224.p 107239499094

Hebe mich heraus! | 225

Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen Julia Schoch

Einleitung 1 Seit ein paar Jahren verwandeln immer mehr Menschen ihre Körperoberfläche in Zeichentafeln, indem sie sich Bilder hineinbrennen lassen. Statistiken ist zu entnehmen, dass inzwischen jeder vierte Berliner zwischen 18 und 35 Jahren tätowiert ist; Piercing- und Tattoostudios entstanden in Windeseile und entstehen noch immer zuhauf. Auf Armen, Rücken, Steißbeinen, Hintern, Waden oder Schenkeln werden Linien und Kreise, keltische Sonnen, Garfielde und Drachen, Rosen, Einhörner, Herzen, Totenköpfe, asiatische Buchstaben und Ähnliches präsentiert. Warum? Ursprünglich, so lässt sich nachlesen, besaß das Tätowieren als eines der ältesten Kunsthandwerke in unserem Kulturkreis einen spirituellen Hintergrund: Bestimmte Zeichen schützten im Kampf, gaben Kraft oder heiligten Ahnen und Vorfahren, waren Versicherungen für die Zugehörigkeit zu einem Stamm. Tätowierungen klärten die kulturelle Identität oder funktionierten als Statussymbole, indem sich z.B. nur der Häuptling den Wolf einritzen lassen durfte. Ab dem 4. Jahrhundert wurde das Tätowieren als unzivilisiert, weil barbarisch und heidnisch im Gegensatz zur christlichen Weltauffassung verboten. Seitdem sind nie wieder so viele Menschen – zumal freiwillig – gezeichnet gewesen. Mittlerweile sind Tätowierungen nicht mehr Zugehörigkeitsäußerungen sozialer Randgruppen. Sie haben den Bereich der Seefahrts- und Gefängniswelt verlassen und den engen Rahmen von Rockerbanden gesprengt: ein Zeichen des Außenseitertums 1 | Eine frühere Fassung dieses Textes ist erschienen in: Die Zeit, 34/2003.

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 225-229) T03_03 schoch.p 107239499462

226 | Julia Schoch ist zum Zeichen des In-Seins geworden. Demokratie heißt nun auch, sich freiwillig stigmatisieren zu lassen. Auch wenn es mittlerweile zur weit verbreiteten Modeerscheinung geronnen ist, soll das Tattoo – wie etwa die zerrissene Jeans oder der kahlgeschorene Schädel – beim Betrachter Assoziationen des Mutes, der Ruchlosigkeit und des Unangepassten freisetzen. Im Unterschied zu anderen Modetrends aber, deren Rebellenattitüde ebenfalls vom Markt übernommen und in die Gesellschaft eingepasst wurde, spielt hier der Wille zur Endgültigkeit, dem Irreversiblen auf der eigenen Haut, eine ungewöhnliche Rolle. Selbst ein weggebranntes Tattoo hinterlässt noch die Spur der einstigen Entscheidung. In den meisten Fällen begründet der Tätowierte den Wunsch nach Bedrucktheit mit den Wörtern: Schönheit oder Coolness, manchmal werden auch esoterische Gründe genannt, wenn zum Beispiel das chinesische Zeichen für Stärke tatsächlich Stärke verleihen soll. Der Mythos scheint mit dieser Mode in unsere Moderne eingebrochen zu sein. Die instinktive Sehnsucht der Gesellschaft nach archaischen, irreversiblen Riten ist noch da, deren Sinn jedoch verloren. Geblieben ist eine leere Zeichenform, der die Füllung fehlt. Leer deshalb, weil bei den unzähligen Tattoobildern, die einem täglich unter die Augen kommen, allein der Fakt des Zeichens an sich unsere Aufmerksamkeit beanspruchen kann, denn nur den versteht der Betrachter ganz sicher. Nicht das konkrete Motiv, das für den Einzelnen durchaus eine persönliche Bedeutung haben mag, soll hier interessieren, sondern die Tatsache des massenhaften Einbrennens von Zeichen überhaupt.

1. Zeichen, die nichts zeigen Wir stehen vor den Zeichen auf anderen Häuten um uns herum wie unkundige Europäer vor asiatischen Schildern. Wir sehen, dass es sich um Zeichen handelt, nicht aber, worauf sie uns hinweisen wollen, sie können uns nur sagen, dass hier ein Zeichen vorliegt. In den meisten Fällen bezeichnen die einzelnen tätowierten Muster ohnehin nichts. Und selbst wenn es sich um konkrete Motive und Abbildungen handelt, sind diese nicht mit funktionaler Zwecksetzung in den Körper gebrannt (wie etwa ein Hinweisschild für öffentliche Toiletten), sondern mit einer ästhetischen. Im Gegensatz zu Asienunkundigen wäre es für uns also vergebliche Mühe, hinter dem ästhetischen Gebilde einer Tätowierung das Instrument einer konkreten Information zu suchen und davon auszugehen, dass kalligraphische Zeichen – etwa wie in Japan – eigentlich lesbar sind, nur eben für Uneingeweihte nicht. Unsere Neigung, visuelle Zeichen mit Objekten in Ver-

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 225-229) T03_03 schoch.p 107239499462

Hebe mich heraus! | 227

bindung zu bringen und nach dem zu suchen, was sie repräsentieren, schlägt hier fehl. Tätowierungen beruhen nicht auf einem konventionalisierten, also allen geläufigen, Sprachcode. So wird das bloße Vorhandensein des Tattoos zu seinem eigentlichen Inhalt. Ein Zeichentheoretiker würde das heutige moderne Tattoo zu den Signalen rechnen. Zeichen also, die weder etwas symbolisieren noch abbilden, sondern Hinweise auf einen Umstand geben: Wenn beispielsweise Rauch hinter den Bäumen aufsteigt, macht dies auf die Existenz eines Feuers und mögliche Gefahren aufmerksam. Auch Schreib- und Redeweisen, wie der Strukturalist Roland Barthes in seinem 1953 erschienenen Buch Le degré zéro de l’écriture2 festgestellt hat, können nicht nur etwas mitteilen oder ausdrücken, sondern darüber hinaus etwas anzeigen, das außerhalb des Mitgeteilten liegt. Kraftausdrücke eines Kindes in einer wohlerzogenen Familie beispielsweise teilen weniger einen konkreten Inhalt mit, als dass sie etwas signalisieren: in diesem Fall eine Revolution en miniature. Genauso sind Tattoos nicht einfach lesbare Zeichen, sondern stellen vor allem zur Schau. Unabhängig von seinem konkreten Motiv und seiner individuellen Form weist das als Signal begriffene Tattoo auf einen bestimmten Willen oder ein Bedürfnis des Trägers hin, das mal ausgeprägter mal vorsichtiger sein kann. Neben einem oberflächlich ornamentalen Zweck oder bestimmten Identitätsfunktionen – etwa ein Skinhead am Kreuz für Mitglieder dieser Szene oder ähnliche Erkennungscodes für Gangs – soll das massenhaft verbreitete Tattoo vor allem den Willen demonstrieren, alle Moden, also das leicht Ablegbare, zu überwinden. Als Tätowierter will man sich in eine fixierte Zeit begeben, die nicht auf einer Messung nach Saisons oder Legislaturperioden beruht. So wie die Alten durch Tätowierungen z.B. Trauer dauerhaft machten – sie kannten die Sprunghaftigkeit des Menschen –, indem sie sich Name und Todestag des Häuptlings in die Haut ritzten, steht der heutige bedruckte Körper für die Suche nach einer Festlegung angesichts einer Welt des Austauschbaren. Er soll vor der dumpf empfundenen Tatsache der Ersetzbarkeit und Vergänglichkeit schützen. Eine letzte Kopflosigkeit, dass der Körper nicht mehr zu schonen ist, wenn es darum geht, als individuell zu gelten. Inkonsequenterweise will man aber heute beides können: sich einpassen und gleichzeitig anzeigen, dass man dieses Einpassen ablehnt. Man kann Verwaltungsbeamter sein und gleichzeitig mit einer Tätowierung eine ganz andere Identität, z.B. die eines Unangepassten, simulieren. Im Gegensatz zu einem vollständig tätowierten Gesicht werden die meisten Muster daher auch so aufgebracht, dass sie je nach Situation mal verborgen und 2 | Dt. Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt/M. 1982.

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 225-229) T03_03 schoch.p 107239499462

228 | Julia Schoch mal gezeigt werden können. Damit wird das heutige Tattoo zum zitierten Zeichen eines Extrems, das selbst nicht gelebt wird. Dazu kommt, dass der Wunsch nach Individualität und Abgrenzung von anderen erst durch diese unzähligen anderen, durch die Garantie eines Aufgehobenseins im Kollektiv, gesichert wird. Man kann sich als Rebell ausstellen, ist gleichzeitig aber aufgehoben in der schützenden Wolke aller Zeichenträger. Die Individualisierung durch Kennzeichnung des Körpers, unabhängig von dessen natürlicher Ausstattung, kann also nur eine scheinbare sein. Denn das Paradoxe an dieser Flut von irreversiblen Bildern, die das Ephemer-Beliebige überwinden sollen, ist natürlich, dass dies nur für einen kurzen historischen Moment gelingt.

2. Ersehnter Schmerz Der heutige Tätowierte gleicht dem Mann, der sich zu einer Verabredung mit einer Unbekannten, wie besprochen, eine Rose ins Knopfloch und eine Zeitung unter den Arm steckt, und der, auf der Caféhausterrasse angekommen, sieht, dass alle dort anwesenden Männer Rosen und Zeitungen tragen. Trotz dieser Vergeblichkeit bleiben Tattoos dauernde Aufforderungen, sie betteln für ihre Träger: Lies mich, wirf ein Auge auf mich, hebe mich heraus, erkenne wenigstens das Signal, dass ich entziffert werden will! Aber mallorquinische und ibizenkische Strände beweisen: Je weniger an tatsächlichem Ereignis da ist, desto mehr müssen Erfahrung oder Identität vorgetäuscht werden. Demnach ist das heutige Tattoo auch das selbstbeigebrachte Zeichen einer Handlungs- und Sprachlosigkeit. Das Zeichen soll das übernehmen, wozu sein Träger selbst nicht mehr in der Lage ist: durch sein Handeln zu einem bestimmten Zeichen und einer Bedeutung zu werden. Dies hat nicht nur mit einer Unfähigkeit des Trägers, sondern auch mit Nötigungen dieser Gesellschaft zu tun. Als Grundmodell heutiger Ich-Entwürfe wird der Rebell weder gefürchtet noch geduldet, sondern geschätzt und verlangt. Doch man ahnt die dahinter liegende Fatalität, dass ein Aufbegehren nach alten Mustern nicht zu haben ist, weil es kein Außen mehr gibt. Weitergedacht hieße das: Massenhafte Tätowierungen sind kein Zeichen für das Ausbrechen aus zu engen Grenzen, sondern eine Selbststigmatisierung und eine herbeigewünschte Individualität desjenigen, dem die Erfahrung des Ausbrechens aus einer »Umzäunung« und der Revolte gerade fehlt. Diese Erfahrung kann deshalb mit Hilfe eines symbolischen Aktes nur noch zitiert anstatt gelebt werden. Die kurzzeitige Dramatik, der Schmerz beim Anschaffen einer Tätowierung, bleibt dabei die prägende Erfahrung. Je freier, unversehrter wir sind, desto größer scheint die Sehn-

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 225-229) T03_03 schoch.p 107239499462

Hebe mich heraus! | 229

sucht nach Schmerz: »Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.«3 So entspricht die künstliche Tätowierqual dem Wunsch nach echt-existenziellem Schmerz, der den Menschen normalerweise das ersehnte Gewicht des eigenen Vorhandenseins spüren lässt.

Literatur: Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt/M. 1982. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Das Hauptwerk, Bd. 3, München 1990.

3 | Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Das Hauptwerk, Bd. 3, München 1990, IV. Hauptstück, § 76, S. 607.

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 225-229) T03_03 schoch.p 107239499462

2006-02-06 17-38-41 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 230

) vakat 230.p 107239499726

Bin ich schlau? Über Hirntuning

2006-02-06 17-38-42 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 231

) T04_00 respekt.p 107239499910

2006-02-06 17-38-42 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 232

) vakat 232.p 107239500022

Gedächtnispillen | 233

Gedächtnispillen. Mögliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Personen Katja Crone

Einleitung 1 Unter den kognitiven Fähigkeiten des Menschen kommt dem Erinnerungsvermögen eine besondere Bedeutung zu. Das Gedächtnis ist mit vielfältigen Funktionen verbunden. Es speichert persönliche, zeitlich zurückliegende Erfahrungen und Begebenheiten und spielt insbesondere im zwischenmenschlichen Umgang eine wichtige Rolle. Wer sich Daten und Fakten gut merken und sich andere Menschen und Ereignisse leicht einprägen kann, hat soziale Vorteile gegenüber jemandem, der häufig Wissens- und Erinnerungslücken aufweist. Darüber hinaus gilt ein intaktes Erinnerungsvermögen als Schlüsselqualifikation im leistungsbezogenen Wettbewerb. Kognitive Fähigkeiten stellen in der Gesellschaft eine wichtige Ressource dar, die mit Effizienz und Leistung identifiziert wird.2 Und wem es gelingt, seine 1 | Ich möchte an dieser Stelle Jens Eder für die intensive Lektüre des Manuskripts sowie für zahlreiche Hinweise danken. Dem Herausgeber Arnd Pollmann danke ich für seine hilfreichen kritischen Anmerkungen im Vorfeld der Publikation. 2 | Bisweilen wird zwar auch die anders lautende Position vertreten, dass es in der modernen Gesellschaft auf Gedächtnisleistungen immer weniger ankomme, weil die heute verfügbaren Medientechniken zunehmend erinnerungsrelevante Fähigkeiten übernehmen und die elektronische Datenverarbeitung im Alltag eine immer wichtigere Rolle spielt. Diese Position reduziert Gedächtnisfunktionen jedoch auf das so genannte semantische und episodische Gedächtnissystem, was den vielfältigen

2006-02-06 17-38-43 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

234 | Katja Crone Fähigkeiten zu verbessern, was sich z.B. bereits an schulischen Leistungen ablesen lässt, erhält Lob und Anerkennung.3 Da das Erinnerungsvermögen jedoch fragil ist und mit zunehmendem Alter nachlässt, verwundert es nicht, dass Menschen bestrebt sind, auf ihre kognitiven Fähigkeiten Einfluss zu nehmen, und zwar mit dem Ziel, sie zu optimieren. In dieser Absicht sind zu allen Zeiten vielfältige Methoden des Gedächtnistrainings entwickelt worden. Bereits in der Antike waren im Rahmen der Rhetorik aufwändige Mnemotechniken verbreitet, die dazu dienten, sich lange und kunstvoll gestaltete Reden für den freien Vortrag einzuprägen. Die meisten dieser bis heute durchaus gängigen Methoden verwenden ein Schema, das mit räumlichen Assoziationen – häufig der Architektur eines Hauses – operiert.4 In der Antike und im Mittelalter hatten solche Praktiken weniger den Status von Techniken, sondern vielmehr den einer Kunst (»ars memorativa«). Nach heutigem Kenntnisstand der Neurobiologie und Psychologie lässt sich sagen, dass diese Methoden planvoll auf die Struktur des Gehirns reagieren und dessen Defizite kompensieren. Doch auch andere Methoden der kognitiven Verbesserung sind seit langem gängige Praxis, so z.B. ein systematisches Konzentrationstraining oder die Einnahme von Vitaminen, Koffein, Traubenzucker, Pflanzenextrakten etc. Hiervon verspricht man sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit, eine verkürzte Reaktionszeit und eine Beschleunigung der Lernvorgänge. Wie auch immer man die Effizienz solcher Mittel bewerten mag, ihre Verbreitung hat bislang keinerlei Anlass zu Bedenken gegeben. Seit einiger Zeit sind jedoch gänzlich neue Methoden im Gespräch, deren Anwendung schon auf den ersten Blick Fragen aufwirft. Es handelt sich dabei um pharmakologische Mittel, die es möglich machen, Hirnfunktionen – speziell: Gedächtnisleistungen – zu modifizieren und zu optimieren. Diese Arzneimittel werden zwar primär im medizinischen Kontext zur Behandlung von Demenzerkrankungen (hauptsächlich der Alzheimerschen Krankheit), psychischen Funktionsstörungen und des Posttraumatischen Syndroms (PTDS) entwickelt, sie könnten aber auch bei Personen zum Einsatz komProzessen, die an Erinnerungsvorgängen beteiligt sind, nicht gerecht wird. Zu den unterschiedlichen Gedächtnissystemen siehe Abschnitt 3. 3 | So gilt schon bei Aristoteles die Einübung und Verbesserung kognitiver Fähigkeiten als Tugend (areté). Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik (übersetzt von Franz Dirlmeier), Stuttgart 2003, 1101b 25-1102a 13. 4 | Cicero: De Oratore (übersetzt von Harald Merklin), Stuttgart 2003, S. 350360. Im Mittelalter wurden mithilfe von Zahlenanordnungen oder Zahlengittern komplizierte Texte oder Textstücke memoriert. Siehe dazu auch Hans-Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt 2005, S. 30ff.

2006-02-06 17-38-43 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 235

men, die an den genannten Krankheiten nicht leiden. Diese Mittel werden möglicherweise für Menschen interessant sein, die ihre kognitiven Leistungen – vielleicht auch nur zeitweise – verbessern wollen, um sich auf diese Weise Vorteile zu verschaffen. Dass es sich hierbei keineswegs um bloße Fiktion handelt, zeigt sich beispielsweise an dem derzeit aufkommenden Interesse der Wirtschaft, die in der pharmakologischen Gedächtnismanipulation bislang ungenutzte Entwicklungspotenziale erkennt.5 Und in den USA, wo die Einnahme von Psychopharmaka und Medikamenten zur Behandlung des so genannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms im nichtmedizinischen Kontext schon seit einiger Zeit Gegenstand akademischer und politischer Diskussionen ist, wird zunehmend auch die Frage der gezielten Gedächtnisverbesserung debattiert.6 Stellt man sich auf einen ethisch-normativen Standpunkt und fragt nach einer akzeptablen Orientierung für den Einsatz von biotechnologischen, pharmakologischen Optimierungsmethoden, dann ist zunächst der Phänomenbereich genau zu charakterisieren. Hier stellt sich jedoch sogleich das Problem, dass die dafür erforderlichen Begriffe deskriptiv unscharf sind. Nach welchen Kriterien lässt sich beispielsweise der Begriff der Krankheit klar bestimmen? Wann sind kognitive Fähigkeiten pathologisch eingeschränkt und machen eine medizinisch indizierte Therapie erforderlich? Und wo genau verläuft die Grenze zwischen »Therapie« und »Enhancement«, d.h. zwischen einer krankheitsbezogenen Behandlung im medizinischen Sinn und einer bloßen Verbesserung oder Leistungssteigerung? Bevor überhaupt eine umfassende normative Bewertung Gedächtnis manipulierender Eingriffe vorgenommen werden kann, muss zunächst geprüft werden, mit welchen Konsequenzen eine Person für sich selbst rechnen muss, wenn sie sich solcher Mittel bedient. Demnach bildet die Individualperspektive den Ausgangspunkt für eine differenzierte Einschätzung, die wiederum an eine ethisch-normative Reflexion aus überindividueller Perspektive anschließbar sein muss. Die nachfolgenden Überlegungen sollen zu diesem ersten Schritt beitragen: Sie stehen im Zeichen einer Klärung der Frage, in welcher Weise sich die Einnahme von so genannten NeuroEnhancern darauf auswirken kann, wie sich Personen selbst verstehen und 5 | Dies lässt sich der Titelgeschichte einer aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Wirtschaftswoche mit der Überschrift »Die Lern-Pille. Wie die Pharmaindustrie und Hirnforschung unser Lernen revolutionieren« entnehmen. Darin wird zugleich empfohlen, solche Arzneien künftig auch in Schulen verfügbar zu machen, um verbesserte Lernerfolge zu erzielen. Siehe Wirtschaftswoche, 30/2005, S. 67-70. 6 | Siehe den ausführlichen Bericht des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D. C. 2003.

2006-02-06 17-38-43 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

236 | Katja Crone in der Welt orientieren. Zu diesem Zweck wird der Frage nachgegangen, inwieweit biotechnologische Methoden der Gedächtnismanipulation einen qualitativen und strukturellen Unterschied zu herkömmlichen (nicht-biotechnologischen) und bislang unbedenklichen Methoden der Gedächtnisverbesserung darstellen. Dabei vertrete ich die These, dass ein solcher Unterschied daran erkennbar ist, dass sich derart manipulierende Eingriffe nicht nur auf einzelne Gedächtnisleistungen, sondern zugleich auf das Personsein, die Persönlichkeit und damit auf das (übergreifende) Selbstverständnis der betreffenden Person auswirken. Hierfür bietet sich folgendes Vorgehen an: Zunächst wird der Phänomenbereich biotechnologischer Gedächtnismanipulation charakterisiert, indem geklärt wird, um welche Art Eingriffe es in diesem Zusammenhang – ausgehend vom derzeitigen Forschungsstand – überhaupt gehen kann (1). Als Maßstab für eine Einschätzung dieser Methoden wird anschließend ein philosophisches Personmodell vorgeschlagen, das Personsein anhand der Fähigkeit praktischer Selbstverhältnisse definiert (2). Ein solcher Personbegriff ist, wie sich zeigen wird, als Wertmaßstab deswegen geeignet, weil er nicht nur praktische und kognitive Aspekte miteinander verbindet, sondern auch eine evaluative Perspektive enthält, die für die Einschätzung manipulierender Methoden eine grundlegende Bedeutung hat. Schließlich wird dieser Personbegriff auf verschiedene Formen der Gedächtnismanipulation angewandt. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit sich das Selbstverständnis von Personen in Folge von Gedächtnis modifizierenden Mitteln verändern kann und wie diese Veränderungen jeweils einzuschätzen sind (3).

1. Verschiedene Anwendungsbereiche für »Gedächtnispillen« Die Psychopharmakologie ist einer der wichtigsten und zukunftsträchtigsten Zweige der Neurotechnologie.7 Besonders große Hoffnung wird in die Erforschung der Alzheimerschen Krankheit gesetzt. Bislang ist es vor allem gelungen, Medikamente zu entwickeln, die auf die Verbesserung auftretender Symptome zielen. Die Forschung muss dabei der Tatsache Rechnung tragen, dass Gedächtnisinhalte durch eine komplexe Informationsverarbeitung zustande kommen und von diversen Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Bewertung abhängen. Auf neurobiologischer Ebene sind diese kognitiven Phänomene mit der neuronalen Aktivität un-

7 | Martha J. Farah u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What Can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421-425.

2006-02-06 17-38-43 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 237

terschiedlicher Hirnregionen verknüpft.8 Arzneien zur Gedächtnisverbesserung enthalten unterschiedlichste Wirkstoffe wie Entzündungshemmer, Hormone, Cholesterinsenker oder Antibiotika. Von einigen dieser Substanzen weiß man, dass sie den Verlust kognitiver Fähigkeiten und der Alltagskompetenz zeitweise aufhalten oder hinauszögern können. Die vorhandenen pharmakologischen Anti-Demenz-Präparate zielen auf eine Verbesserung des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses, wodurch eine verbesserte Orientierung im Alltag erreicht werden kann. Allerdings ist die Krankheit zum Zeitpunkt der Verabreichung solcher Arzneien in der Regel bereits ausgebrochen, und Teile des Gehirns sind schon beschädigt. Da die verfügbaren Medikamente zudem mit zahlreichen erheblichen Nebenwirkungen verbunden sind, erhofft man sich mittelfristig effizientere Therapien auf der Grundlage von Wirkstoffen, die gezielt in jene spezifischen molekularen Abläufe eingreifen können, welche kognitiven Prozessen und dem emotionalen Erleben unterliegen. Aufgrund neuerer Erkenntnisse über biochemische Prozesse auf der Ebene neuronaler Hirnstrukturen soll ein neues Arzneimitteldesign entwickelt werden, mit dem man neuronale Aktivitäten im Gehirn selektiv beeinflussen kann.9 Große Hoffnungen setzt man auch in die genetische Ursachenforschung von Demenzerkrankungen. Es wird erwartet, dass künftig Gentherapien möglich werden, bei denen gezielt Gene in betroffene Hirnregionen eingeschleust werden, die das Absterben von Nervenzellen noch vor Ausbruch der Krankheit verhindern. Aus Sicht der Hirnforschung könnte das Erinnerungsvermögen auch mithilfe eines implantierten Hirnchips gesteigert werden, der die Hirnregion des Hippocampus durch ein feines Elektrodennetz mit Impulsen versorgt und dessen Aufgaben teilweise sogar übernimmt. Solche Neuroprothesen sind bislang erst im Tierversuch zum Einsatz gekommen, und die technische Anwendbarkeit auf das menschliche Gehirn ist noch kaum erforscht. Eine andere Form von Mitteln zur Gedächtnis- und Konzentrationssteigerung sind Psychopharmaka, die für die Behandlung psychischer Störungen eingesetzt werden. Stress und Depressionen trüben nachweislich die Gedächtnisleistungen, in seltenen Fällen nimmt dies sogar das Ausmaß einer schweren Amnesie an.10 Entsprechend kann die Einnahme von Psy8 | Zur Aufteilung der Fähigkeiten im Prozess der Informationsverarbeitung siehe auch Steven Rose: »›Smart Drugs‹: Do They Work, Are They Ethical, Will They Be Legal?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 3/2002, S. 976. 9 | Innerhalb neuronaler Signalübertragungspfade wurden Zielmoleküle identifiziert, die einen pharmakologischen Eingriff ermöglichen. Siehe dazu Farah u.a.: Neurocognitive Enhancement, S. 421. 10 | Hans-Joachim Markowitsch: »Die Anfälligkeit autobiographischer Erin-

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

238 | Katja Crone chopharmaka eine verbesserte Aufmerksamkeit, Konzentration und Merkfähigkeit zur Folge haben. Auf diese Effekte zielen aber auch solche Mittel, die bei Patienten verabreicht werden, die an Narkolepsie (übermäßiger Tagesschläfrigkeit) oder dem bereits erwähnten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden.11 In vielen Fällen ist ein Krankheitsbild allerdings nicht klar zu definieren. So können Menschen aufgrund temporärer psychischer Belastungen und Stress bloß vorübergehend mit Aufmerksamkeitsstörungen konfrontiert sein, was in der Folge zu eingeschränkten Gedächtnisleistungen führen mag.12 Soll man in solchen Fällen Psychopharmaka oder Gedächtnis steigernde Präparate verabreichen oder einnehmen dürfen? Und wie sind Fälle einzuschätzen, in denen Menschen völlig unabhängig von psychophysischen Begründungen nach Medikamenten verlangen, weil sie ganz einfach kognitiv leistungsfähiger und emotional gefestigter sein wollen? Ganz ähnliche Fragen stellen sich im Hinblick auf solche Verfahren, die – umgekehrt – darauf abzielen, Erinnerungen selektiv zu schwächen oder sogar auszulöschen. Aus therapeutischer Sicht handelt es sich dabei um Medikamente, die bei Posttrauma-Patienten zum Einsatz kommen. Psychologische Studien belegen hinreichend, dass sich insbesondere stark emotional erlebte, vor allem negative Erfahrungen langfristig einprägen.13 Man hat herausgefunden, dass Erfahrungen, die von Angst begleitet sind, u.a. in der Amygdala, im Gefühlszentrum des Gehirns, zwischengespeichert werden. Dieser Vorgang ist mit der Produktion von Botenstoffen verbunden, die den Hippocampus dazu veranlassen, die verstörenden Erlebnisse immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Dadurch wird bewirkt, dass die Erlebnisse besonders gründlich im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden.14 Auf der Ebene der subjektiven Wahrnehmung werden die affektiv belegten Erinnerungen unwillkürlich und wiederholt wachgerufen, was die betreffende Person jedes Mal erneut mit hoher emotionaler Intensität durchlebt. Da sich der Patient dadurch immer tiefer in Angstkomplexe vernerung gegenüber Streß«, in: Michael Neumann (Hg.): Erzählte Identitäten, München 2000, S. 222ff. 11 | Dabei handelt es sich um Präparate wie »Modafinil« oder »Ritalin«. 12 | Vgl. Markowitsch: »Die Anfälligkeit autobiographischer Erinnerung gegenüber Streß«, S. 222. 13 | Siehe den Überblicksartikel von Karl Christoph Klauer: »Gedächtnis und Emotion«, in: Jürgen H. Otto/Harald A. Euler/Heinz Mandl (Hg.): Emotionspsychologie, Weinheim 2000, S. 315-324. 14 | Glenn E. Schafe/Joseph E. LeDoux: »Memory Consolidation of Auditory Pavlovian Fear Conditioning Requires Protein Synthesis and Protein Kinase A in the Amygdala«, in: The Journal of Neuroscience, 20/2000, S. 1-5.

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 239

strickt, gerät er in einen Teufelskreis, aus dem er – wenn überhaupt – nur durch eine langwierige und aufwändige Psychotherapie herauskommt. Medikamente sollen hier Abhilfe schaffen. Geforscht wird an Wirkstoffen, welche diejenigen stimulierenden Botenstoffe blockieren, die dafür sorgen, dass wichtige Erfahrungen im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden. So hat man herausgefunden, dass so genannte Betablocker (z.B. »Propranolol«), wenn sie unmittelbar nach einem extrem verstörenden Erlebnis eingenommen werden, die Reproduktion der emotional starken Wahrnehmung unterbinden und dadurch die Speicherung im Langzeitgedächtnis verhindern können.15 Die gewünschte Wirkung des Medikaments hängt also davon ab, ob das Medikament direkt nach einem traumaverdächtigen Erlebnis eingenommen wird, was ein praktisches Problem darstellen kann: Das Medikament muss rechtzeitig verfügbar sein. Die Forschung ist mittlerweile jedoch auch solchen Wirkstoffen auf der Spur, die selbst dann Erinnerungen an traumatisierende Erlebnisse unschädlich machen können, wenn der Zeitpunkt der realen Erfahrung weiter zurückliegt. Dies soll dadurch erreicht werden, dass die Proteinproduktion im Hippocampus gestoppt wird.16 Ob dieses Verfahren tatsächlich funktionieren kann, ist in der Forschung allerdings umstritten. Ähnlich wie im Fall der Gedächtnis verbessernden Medikamente ist auch bei solchen Präparaten der Anwendungsbereich schwer einzugrenzen. Unangenehme und irritierende Erfahrungen machen Menschen häufig und ihr Leben lang, und es fällt ihnen nicht immer leicht, einen emotional geordneten Umgang mit ihnen zu erlangen. Sollte man einfach akzeptieren, dass belastende Erfahrungen schlicht zum Leben jedes Einzelnen dazu gehören und damit auch der Umstand, dass man unter Erinnerungen (zeitweise) zu leiden hat, bevor sie im Alltag irgendwann nicht mehr hinderlich sind? Auf den ersten Blick scheint es sowohl für die betreffende Person als auch für die Umwelt eine erstrebenswerte Option zu sein, verstörende Erinnerungen schnell und unkompliziert loszuwerden. Ähnlich wie bei Anti-Demenz-Präparaten ist auch hier nicht unmittelbar klar, warum diese Medikamente nicht auch außerhalb eines therapeutischen Kontextes eingenommen werden sollten. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, inwieweit die biotechnologische Gedächtnismanipulation einen qualitativen und strukturellen Unterschied zu herkömmlichen und unbedenklichen Methoden darstellt, müs15 | Roger K. Pitman u.a.: »Pilot Study of Secondary Prevention of Posttraumatic Stress Disorder with Propranolol«, in: Biological Psychiatry, 51/2002, S. 189-192. 16 | Karim Nader/Glenn E. Schafe/Joseph E. LeDoux: »Fear Memories Require Protein Synthesis in the Amygdala for Reconsolidation after Retrieval«, in: Nature, 406/2000, S. 722-726.

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

240 | Katja Crone sen folgende Fragen beantwortet werden können: Wie stark verändert sich die Persönlichkeit eines Menschen durch die Manipulation seiner kognitiver Fähigkeiten? Können Gedächtnisinhalte punktuell und einzeln verändert werden, ohne sich auf andere kognitive Prozesse auszuwirken? Welche Rolle spielen episodische Erinnerungen für jemanden, der sich als eine individuelle Person begreift? Um diesen Fragen theoriegeleitet nachgehen zu können, ist vorab zu klären, wie genau Erinnerungen mit dem Personsein verknüpft sind und welche Bedeutung einzelne Erinnerungen für das übergeordnete Bewusstsein einer Person haben können. Zu diesem Zweck wird als nächstes ein Personbegriff vorgestellt, der sich einer Kombination der Theorieansätze von Harry G. Frankfurt und Charles Taylor verdankt, deren Überlegungen sich für das vorliegende Thema deswegen eignen, weil sie zweierlei leisten: Erstens werden hier jene Eigenschaften benannt, die das Personsein allgemein charakterisieren und einen relevanten Unterschied zu anderen Lebewesen markieren. Zweitens werden zentrale Voraussetzungen aufgezeigt, die erfüllt sein müssen, damit von dem spezifischen, kohärenten Selbstverständnis einer individuellen Person oder Persönlichkeit die Rede sein kann.

2. Person, Persönlichkeit, personales Selbstverständnis Nach Frankfurt zeichnen sich Personen im Gegensatz zu anderen Lebewesen durch ihre spezifische Willensstruktur aus.17 Sie sind charakteristischerweise nicht nur dazu fähig, unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und Handlungen auszuführen, sondern diese Handlungszusammenhänge bewusst zu gestalten und vor allem: einer Bewertung zu unterziehen. Die Grundlage der Theorie bilden so genannte Wünsche erster Ordnung (»first-order desires«), die als unmittelbare Handlungsimpulse direkt auf mögliche Handlungen gerichtet sind. Aus solchen Wünschen oder direkten Handlungsimpulsen folgt jedoch nicht immer auch eine Handlung. Erst wenn dies geschieht, wenn also ein Wunsch umgesetzt wird und zu einer Handlung wird, ist von einem »Willen« zu reden. Einem so verstandenen Willen können Formen des planvollen Überlegens und Abwägens vorausgehen. Diese kognitiven Leistungen erfassen jedoch noch nicht das, was Frankfurt als spezifisch personale Eigenschaft bezeichnet. Charakteristisch für personales Dasein ist die Fähigkeit, ein inhaltlich 17 | Ich beziehe mich zunächst auf Harry G. Frankfurt: »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: ders.: The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, S. 11-25.

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 241

geleitetes, reflektiertes Verhältnis gegenüber den eigenen Handlungsmotivationen einzunehmen. Personen können praktische Reflexionen bilden, die sich, so Frankfurts These, ganz wesentlich darauf auswirken, wie die betreffenden Personen handeln. Dies konkretisiert sich darin, dass Personen den Wunsch haben können, einen bestimmten Willen (also einen effektiven Wunsch) zu haben. Gemeint ist, dass sich Personen für Handlungen derart entscheiden können, dass sie sich in ein bewertendes Verhältnis zu ihnen setzen und sich fragen, ob sie sich mit ihnen »identifizieren« wollen. Solche Zwecksetzungen, die charakteristisch für das Handeln von Personen sind, bezeichnet Frankfurt als Volitionen höherer Ordnung (»second-order volitions«). Spezifisch personal ist also nicht die Fähigkeit, in pragmatischer Hinsicht geeignete Mittel zu finden, um Wünsche erster Ordnung praktisch werden zu lassen, sondern das Vermögen, Inhalte von Wünschen daraufhin zu prüfen, ob man entsprechende Handlungen auch wirklich will. Personen besitzen die Fähigkeit, nur ausgewählte Wünsche zu Handlungen werden zu lassen, indem sie sich entsprechende Handlungsmotive buchstäblich zu Eigen machen. Allerdings lässt diese formale Willensbestimmung von Personen vorerst offen, aus welchen Gründen jemand bestimmte Wünsche erster Ordnung evaluiert und für Handlungen ausgewählt. Es wird nicht näher thematisiert, warum sich Personen die Mühe machen, sich zu ihren direkten Wünschen in ein Verhältnis zu setzen, und inwiefern ein Handeln, das lediglich unmittelbaren Handlungsimpulsen folgt, überhaupt ein Problem darstellen kann. Belässt man es bei diesem Modell, ohne näher zu erläutern, nach welchen weiteren inhaltlichen Kriterien eine praktische Reflexion angestellt und eine Entscheidung zugunsten eines Handelns getroffen wird, dann bleiben Entscheidungen von Personen letztlich das Resultat subjektiver Willkür, da sie an kontingenten Sachverhalten ausgerichtet zu sein scheinen. Genauer: Mit der Angabe einer bloß formalen Fähigkeit fehlt eine inhaltliche Grundlage, die erklären kann, erstens warum Personen ganz bestimmte Entscheidungen treffen und dabei andere Wünsche außer Acht lassen und zweitens inwiefern es zwischen einzelnen Handlungen eine Kontinuität gibt oder geben kann. Gerade dieser letzte Aspekt spielt jedoch für den Zusammenhang von Gedächtnisfunktionen, deren Manipulierbarkeit und dem individuellen Selbstverständnis von Personen eine entscheidende Rolle. Nähere in diese Richtung weisende Anhaltspunkte finden sich in Frankfurts Theorie des »caring«18 sowie in Charles Taylors Theorie des

18 | Siehe dazu insbesondere Harry G. Frankfurt: »The Importance of What We Care About«, in: ders.: The Importance of What We Care About, S. 80-94; ders.:

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

242 | Katja Crone Selbst19. Taylor, der die Grundthese aus Frankfurts Personmodell übernimmt, analysiert und präzisiert die Binnenstruktur praktischer Selbstverhältnisse. Nach Taylor lassen sich Wünsche in einem »schwachen« oder »starken« Sinn evaluieren. Eine lediglich schwache Evaluation besteht in einer pragmatischen Überlegung hinsichtlich antizipierbarer oder vermeintlicher Handlungskonsequenzen. Dabei werden Handlungen gegenüber anderen Handlungen, deren Vor- und Nachteile, abgewogen. Schwache Evaluationen von Wünschen haben folgende Konditional-Struktur: Wenn ich jetzt Handlung X1 ausführe mit dem Ziel Z1, dann schließt dies das Ziel Z2 aus, weil hierfür die Handlung X2 erforderlich wäre.20 In einer schwachen Evaluation geht es demnach lediglich um ein pragmatisch motiviertes Abwägen von Handlungsalternativen.21 Dagegen impliziert eine starke Evaluation von Wünschen ein Werturteil, dessen inhaltliche Basis die Kategorie der Lebensqualität darstellt. Weil eine starke, qualitative Reflexion auf Wertvorstellungen gründet, erfordert sie eine Sprache evaluativer Differenzierungen. Wünsche werden qualitativ über Prädikate charakterisiert, die Relate von wertbezogenen Gegensatzpaaren darstellen: z.B. gut vs. schlecht, nobel vs. niedrig etc. Wenn ich beispielsweise in einer unangenehmen und riskanten Situation den unmittelbaren Wunsch verspüre, sogleich die Flucht zu ergreifen, dann habe ich als Person die Fähigkeit, mir die »substanziellere« Frage zu stellen, ob ich eine Person sein will, die feige ist und ob ich mit der anstehenden Handlung diese grundsätzliche Einstellung zum Ausdruck bringen möchte. Solche praktischen Überlegungen oder qualitativen Reflexionen haben nicht den Charakter der Beliebigkeit, der sich aus Frankfurts Modell zu ergeben schien, weil sie in tiefer sitzenden Wertvorstellungen fundiert sind, die den konkreten Einzelhandlungen zugrunde liegen. Individuelle Wertvorstellungen, in denen sich Auffassungen über Lebensqualität widerspiegeln, modellieren jeweils einzelne Handlungen, und zwar in einem die einzelne Handlung übergreifenden Sinn. Somit impliziert Taylors Theorie den Gedanken, »On the Necessity of Ideals«, in: Necessity, Volition and Love, Cambridge 1999, S. 108116. 19 | Charles Taylor: »Responsibility for Self«, in: Amelie O. Rorty (Hg.): The Identities of Persons, Berkeley, Los Angeles, London 1976, S. 281-299; ders: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. 20 | Dies veranschaulicht Taylor an folgendem Beispiel: Wenn ich jetzt etwas esse, dann habe ich zwar meinen Hunger gestillt, sollte aber anschließend nicht schwimmen gehen, was ich aber auch gern tun würde. Wenn ich dagegen das Essen auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe, kann ich jetzt schwimmen gehen. Vgl. Taylor: »Responsibility for Self«, S. 284. 21 | Vgl. ebd., S. 285ff.

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 243

dass Handlungen eine kontinuierliche Ausrichtung haben (können), da sie sich an jenen Vorstellungen über Lebensqualität orientieren, die sich Personen im Laufe ihres Lebens zu Eigen gemacht haben. Ähnliche Überlegungen hinsichtlich der Frage, was substanziellen Einzelentscheidungen in jeweils unterschiedlichen Kontexten zugrunde liegt und für jene maßgeblich ist, verbindet Frankfurt mit seiner Theorie des »caring«, die als eine Weiterentwicklung seines Personmodells angesehen werden kann.22 Die zentrale These ist, dass Personen ihr Handeln in vielen Situationen an inhaltlichen Gesichtspunkten ausrichten, die für sie insofern unbedingt wichtig sind, als sie sich um diese Inhalte »sorgen« (»to care«). Es handelt sich dabei um je individuelle Werte und Ideale, die ihrem Handeln eine bestimmte inhaltliche Richtung vorgeben, und das bedeutet, dass das Feld der Handlungsmöglichkeiten hierdurch entsprechend eingeschränkt wird. Erst unter dieser Voraussetzung kann eine Entscheidung als ein Akt beschrieben werden, in dem sich die Person mit einem ihrer Wünsche »identifiziert«. Entscheidungen, die auf diese Weise zustande kommen, haben deswegen den Charakter notwendiger Verbindlichkeit (»volitional necessity«). Peter Bieri bezeichnet solche Entscheidungen als »substanzielle Entscheidungen«, weil es dabei nicht darum geht, wie man am besten zum Ziel kommt, sondern darum, wer man ist und was man wirklich will. Man entscheidet sich für eine bestimmte Identität.23 Daher haben substanzielle Handlungen eine Bedeutung, die über den Kontext der jeweiligen Handlung hinausweist: Sie müssen sich in einen weiter gefassten Handlungszusammenhang einordnen und darin sinnvoll interpretieren lassen können. Der Grundgedanke ist also, dass sich Handlungen von Personen aus einer kohärenten, übergreifenden Perspektive heraus betrachten lassen, die identitätsstiftende Momente und letztlich den Kern der jeweiligen Persönlichkeit zu fassen versucht: Personen haben – über die Zeit hinweg – ein mehr oder weniger kontinuierliches Bewusstsein ihrer Gestaltung von Handlungen. Dies muss nicht bedeuten, dass die Handlungen einer Person lückenlos von inhaltlich ausgerichteten Volitionen höherer Ordnung bestimmt sind. Vielmehr besagt die These der Kontinuität, dass Personen Gründe von zeitlich zurückliegenden Handlungen rekonstruieren und mit gegenwärtigen Handlungsoptionen in einen mehr oder weniger sinnvollen Zusammenhang bringen können.24 22 | In Frankfurts Analyse der Willenstruktur liegt der systematische Akzent auf dem Begriff der Willensfreiheit, die sich in der Fähigkeit, Wünsche höherer Ordnung zu bilden, artikuliert. Dies mag erklären, warum der Materialität von Entscheidungen in diesem engeren Theoriezusammenhang nicht weiter nachgegangen wird. 23 | Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, Frankfurt/M. 2003, S. 61ff. 24 | Den Gedanken der voluntativen Identität pointiert Frankfurt in seinem

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

244 | Katja Crone Diesem Theorieansatz liegen Annahmen zugrunde, welche auf die funktionale Bedeutung der Erinnerung für das Selbstverständnis von Personen verweisen. Denn der Begriff der Orientierung oder der Leitung (»guidance«) sowie der Gedanke einer handlungsübergreifenden Perspektive schließen das Merkmal der Stetigkeit und der Fortdauer ein.25 Vorausgesetzt ist dabei eine zeitliche Komponente in Form eines Zeitbewusstseins, ohne die sich die These der Kontinuität personalen Handelns nicht verständlich machen lässt. Denn mithilfe eines solchen Zeitbewusstseins ist es überhaupt erst möglich, Handlungsepisoden in ein kohärentes biographisches Gefüge einzuordnen. Personales Selbstverständnis im Sinne der dargestellten Kontinuitätsthese setzt demnach Zeitbewusstsein und Erinnerungsvermögen voraus.26 Für die individuelle Ausgestaltung von Handlungen, die in einem kontinuierlichen Zusammenhang betrachtet werden, sind insbesondere zwei Gedächtnissysteme funktional bedeutsam: das episodische und das semantische Gedächtnis. Im episodischen Gedächtnis werden persönliche Erfahrungen langfristig gespeichert und biographische Zusammenhänge hergestellt. Episodische Gedächtnisinhalte sind propositional strukturiert und basieren ihrerseits auf dem semantischen Gedächtnis, in dem z.B. Wortbedeutungen, Zeichenreferenzen und Wissensinhalte gespeichert werden.27 neuesten Werk The Reasons of Love, Princeton 2004: »Caring is indispensably foundational as an activity that connects and binds us to ourselves. It is through caring that we provide ourselves with volitional continuity, and in that way constitute and participate in our own agency« (S. 17). 25 | »But the notion of guidance, and hence the notion of caring, implies a certain consistency or steadiness of behavior; and this presupposes some degree of persistence.« Frankfurt: »The Importance of What We Care About«, S. 82ff. 26 | Die Identität von Personen, so Taylors These, ist unmittelbar verbunden mit einer Perspektive, die das individuelle Leben als Ganzes im Blick hat; die Persönlichkeit einer Person hat eine narrative Struktur. Siehe Taylor: Sources of the Self, S. 47ff. In Bieris Theorie der »bedingten« Willensfreiheit ist das Erinnerungsvermögen insofern integriert, als darauf hingewiesen wird, dass Personen ihren einzelnen Wünschen ein zeitliches Profil verleihen. Dabei spielen Erfahrungen, die Personen mit sich selbst gemacht haben, sowie ein Wissen über sich und die Welt eine wichtige Rolle. Vgl. Bieri: Das Handwerk der Freiheit, S. 62ff. 27 | Siehe Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerrig: »Lernen und Gedächtnis«, in: Siegfried Hoppe-Graff/Irma Engel (Hg.): Psychologie, Berlin, Heidelberg, New York 1999, S. 244ff. Auch nach Auffassung des Gedächtnisforschers Hans J. Markowitsch sind für autobiographische Erinnerungszusammenhänge insbesondere das episodische und das semantische Gedächtnis von Bedeutung. Vgl. Markowitsch: Autobiographische Erinnerungen, S. 217. Ein weiteres Gedächtnissystem, das im Zusammenhang

2006-02-06 17-38-44 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 245

Der begriffliche Zusammenhang von biographischer Kontinuität und personalem Handeln berechtigt dazu, mögliche Auswirkungen eines manipulierten Erinnerungsvermögens auf das personale Selbstverständnis zu ergründen und eine Einschätzung entsprechender Methoden vorzunehmen. Darüber hinaus bietet eine Anwendung von Frankfurts und Taylors Personmodell die Möglichkeit, Rückfragen an die von ihnen modellhaft thematisierten Eigenschaften von Personen zu stellen und die in Anspruch genommene Begrifflichkeit zu präzisieren. Wäre beispielsweise eine generelle Steigerung erinnerungsrelevanter Fähigkeiten dem Selbstverständnis der Person zuträglich? Gibt es in dieser Hinsicht eine Grenze, die personales Handeln bei Über- bzw. Unterschreitung erschweren würde? Und was wären demgegenüber optimale kognitive Voraussetzungen für personales Handeln?

3. Das Selbstverständnis von Personen als Maßstab für biotechnologische Gedächtnismanipulationen Im Hinblick auf eine kritische Einschätzung von Gedächtnis manipulierenden Methoden auf der Grundlage des erweiterten Personenmodells von Frankfurt und Taylor müssen in funktionaler Hinsicht zunächst verschiedene Gedächtnissysteme berücksichtigt werden: Eine durch Medikamente erreichbare Verbesserung des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses interferiert mit den individuellen Eigenschaften einer Person sowie mit deren Selbstverständnis in anderer Weise als eine künstlich herbeigeführte Veränderung jener Inhalte, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Anti-Demenz-Präparate verbessern nachweislich die Kapazität des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses. Man kann Menschen, die an pathologischer oder altersbedingter Vergesslichkeit leiden, durch die Verabreichung solcher Präparate unter Umständen zu einer Klarsicht verhelfen, die personales Handeln nach individuellen Idealen – im Sinne Frankfurts und Taylors – besser ermöglicht. So können an Demenz Erkrankte, deren Alltagskompetenz und Orientierungsfähigkeit aufgrund beschädigter Hirnregionen bereits eingeschränkt sind, ihre Fähigkeit zu souveränen Entscheidungen mithilfe von Arzneien bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten. mit dem Identitätsbewusstsein von Personen zu nennen wäre, ist das so genannte implizite Gedächtnis. Denn auch unbewusst encodierte Ereignisse und Daten wirken sich nachweislich auf das Verhalten und die Handlungen von Personen aus. Vgl. Klauer: »Gedächtnis und Emotion«, S. 320. Das prozedurale Gedächtnis spielt hinsichtlich der Konstitution personaler Selbstverhältnisse im hier verstandenen Sinn nur eine untergeordnete Rolle.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

246 | Katja Crone Fraglich aber ist, ob auch derjenige, der über ein durchschnittlich funktionsfähiges Gedächtnis verfügt, das überzeitliche Bewusstsein eigener Handlungsziele und damit seine personale Handlungsfähigkeit und -orientierung verbessert, wenn seine Erinnerungsleistungen gesteigert werden. Hier muss zunächst der qualitative Rahmen beachtet werden, innerhalb dessen eine solche Gedächtnissteigerung überhaupt möglich ist und – in Anbetracht des derzeitigen Forschungsstandes – als realistisch eingestuft werden kann. Aus neurobiologischer Sicht ist das kognitive Phänomen des Erinnerns extrem komplex strukturiert. In einem einzelnen Encodierungsprozess ist die neuronale Aktivität gleich mehrerer Hirnregionen involviert. Hinzu kommt, dass auf der Ebene des Bewusstseins die Erinnerungsfähigkeit kein einheitlich zu fassendes kognitives Phänomen ist und es vielfältige Typen und Arten von Erinnerung gibt, die miteinander interagieren und sich unterschiedlich auf die kognitive Gesamtleistung und das Verhalten von Personen auswirken. Entsprechend zielen diejenigen Präparate zur Gedächtnisverbesserung, die derzeit auf dem Markt sind, auf ganz unterschiedliche Teilprozesse, die alle an einem Speicherungsvorgang beteiligt sein können. Und die qualitative Wirkung der jeweiligen Präparate fällt dabei individuell sehr verschieden aus. Eine zielgerichtete Einwirkung in einzelne neurobiologische Abläufe, die konkreten Bewusstseinsfunktionen unterliegen, ist nach heutigem Forschungsstand kaum möglich. Daher ist eine nachhaltige Manipulation, die in die Strukturen der Personalität eingreift, eher unwahrscheinlich. Denn was mithilfe der verfügbaren Mittel erreicht werden kann, wenn sie von Personen mit durchschnittlich funktionierenden Gedächtnisleistungen eingenommen werden, bewegt sich im Rahmen dessen, was ein gezieltes Gedächtnis- und Konzentrationstraining ebenfalls bewirken kann. Dies gilt auch für die Einnahme von Medikamenten, wie etwa »Ritalin«, die ursprünglich für die Therapie des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms entwickelt wurden. Exemplarisch lässt sich dies anhand von Ergebnissen einer Studie belegen, in der man einer Gruppe Flugzeugpiloten das AlzheimerPräparat »Donepezil« (cholesterinsenkender Wirkstoff) und der Vergleichsgruppe ein Placebo verabreicht hat. Die Gruppe, die das fragliche Mittel einnahm, schnitt in Flugsimulationen etwas besser ab als die Vergleichsgruppe. Damit konnte belegt werden, dass das Mittel sich positiv auf die Konzentrationsleistung der Probanden auswirkt.28 Allerdings lässt sich daraus ebenso folgern, dass ein signifikanter Anstieg kognitiver Leistungen von den heute verfügbaren Neuro-Enhancern nicht zu erwarten ist. 28 | Jerome A. Yesavage: »Donepezil and Flight Simulator Performance: Effects on Retention of Complex Skills«, in: Neurology, 59/2002, S. 123-125.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 247

Sieht man einmal davon ab, dass deren Einnahme mit Nebenwirkungen verbunden ist (z.B. mit Übelkeit, Erbrechen, depressiven Stimmungen), die eine Anwendung ohnehin in Frage stellen, kann gesagt werden, dass eine Verwendung solcher Mittel auch dann das kontinuierliche personale Selbstverständnis nicht prinzipiell gefährdet, wenn es sich um Personen mit einem durchschnittlich funktionierenden Erinnerungsvermögen handelt. Wenn es jedoch technisch möglich wäre, die Erinnerungsfähigkeit dergestalt zu manipulieren, dass ein wirklich signifikanter Leistungsanstieg erzielt werden kann, würde die entsprechende Einschätzung wohl anders ausfallen. Dass eine extrem ausgeprägte Erinnerungsfähigkeit nicht prinzipiell zu einer Erhöhung der Handlungsfähigkeit führt, sondern sogar dysfunktional sein kann, hat bereits der russische Psychologe Aleksandr Luria in seinen Publikationen aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gezeigt.29 Wird die Aufmerksamkeit einer Person auf zu viele Details gelenkt, die sich dann alle – ohne bewusste Steuerung – mit ähnlicher Intensität einprägen, kann der Blick auf die eigenen handlungsleitenden Ideale verdeckt werden, wodurch ein ihnen adäquates Handeln erschwert oder gar unmöglich wird. Für eine Person wäre es so zumindest sehr viel schwieriger, in der Flut sich anbietender Handlungsoptionen diejenige auszuwählen, die für sie selbst unbedingte Wichtigkeit hat. Wenn es technisch also möglich wäre, die Erinnerungsfähigkeit in einem extremen Ausmaß zu verbessern, dann könnte sich eine Inanspruchnahme entsprechender Techniken, zieht man die Ergebnisse solcher Studien heran, sowohl auf spezifisch personale Fähigkeiten als auch auf ein übergreifendes Personenverständnis auswirken, da individuell hierarchisierte Zielvorstellungen aus der Perspektive der ersten Person möglicherweise nicht mehr sichtbar wären. Anders verhält es sich hinsichtlich des Gebrauchs von Medikamenten, die für die Behandlung des Posttraumatischen Syndroms vorgesehen sind und mit deren Hilfe Inhalte des Langzeitgedächtnisses abgeschwächt oder eliminiert werden können. Die darin enthaltenen Wirkstoffe zielen darauf, das emotionale Erleben punktuell zu blockieren, um zu verhindern, dass eine Erfahrung im Langzeitgedächtnis lebendig gehalten wird. Auf diese Weise werden Emotionen von der Erinnerung gewissermaßen abgekoppelt. Die dabei erzielte Wirkung ist ein wichtiger Hinweis auf die allgemeine funktionale Bedeutung von Emotionen für die Qualität von persönlichen Erinnerungen. Werden Ereignisse von Gefühlen begleitet, prägen sie sich besonders gut ein. Zudem gilt das emotionale Erleben als wichtiger Indikator für die qualitative Einschätzung von Ereignissen. Emotionen wirken sich 29 | Prominentes Beispiel ist Aleksandr Lurias Langzeitstudie The Mind of a Mnemonist, Cambridge, London 1968, in der er das Verhalten eines Synästhetikers untersucht.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

248 | Katja Crone beispielsweise auf das Verhalten in Gefahrensituationen aus und beeinflussen die persönliche Urteilsbildung, und zwar auch rückblickend, also in der Erinnerung an entsprechende Situationen. Emotionale Eindrücke bleiben zudem auch für spätere Ereignisse und Handlungszusammenhänge prägend. Wer z.B. einmal unvermittelt von einem Hund gebissen wurde, wird später in anderen Situationen selbst vermeintlich friedlichen Hunden mit Vorsicht entgegentreten. Die fraglichen Medikamente könnten sich zwar auf bestimmte Wünsche erster Ordnung, d.h. auf durch unmittelbares Empfinden ausgelöste Handlungsimpulse, positiv auswirken: Es ist angenehmer, keine Angst oder Panik zu haben. Dadurch aber, dass affektive Reaktionen auf neurobiologischer Ebene gestoppt werden, verändert sich das Verhalten von Personen, das auf solchen affektiven Reaktionen basiert. Nicht die bloße Fähigkeit, Volitionen höherer Ordnung zu bilden, wird beeinflusst und eventuell beeinträchtigt, wohl aber die Fähigkeit der qualitativen Einschätzung eigener Präferenzen und situativer Umstände. Wird beispielsweise die emotionale Vehemenz, die sich mit der Erinnerung an den erwähnten Hundebiss verbindet, beseitigt, dann fehlt der betreffenden Person die Motivation, mit Hunden generell vorsichtig umzugehen. Und wer sich etwa die negativen Gefühle nicht mehr vergegenwärtigen kann, die er in einer ehemaligen Arbeitssituation und -atmosphäre empfunden hat, dem fehlen wichtige Anhaltspunkte, wenn er eine berufliche Richtungsentscheidung treffen möchte. So liegt die Annahme nahe, dass eine künstlich herbeigeführte Abschwächung des emotionalen Erlebens eine veränderte Einschätzung dessen erwirken wird, was einer Person unbedingt wichtig ist und woran sie ihr Handeln ausrichtet.30 In Anbetracht der holistischen Perspektive, die 30 | Hier zeigt sich, dass das emotionale Erleben, das für die Entstehung individueller Handlungsideale offensichtlich prägend ist, im Personmodell theoretisch verankert werden müsste. Frankfurts und Taylors Ansätze lassen jedoch offen, wie sich die in ihren Theorien in Anspruch genommenen Wertvorstellungen formen und ausbilden. Es müsste verständlich gemacht werden können, warum z.B. Personen ihre Ziele und Wertvorstellung bisweilen bewusst verändern. Diese konzeptionelle Erweiterung scheint für eine sachgerechte Anwendung auf die Möglichkeit der biotechnologischen Gedächtnismanipulation notwendig. Systematische Anschlussmöglichkeiten für den Zusammenhang von Emotionen, praktischer Evaluation und Persönlichkeit finden sich in der Philosophie des Geistes, etwa bei Peter Goldie: »Emotion, Personality and Simulation«; Michael Stocker: »Some Ways to Value Emotions«, beide in: Peter Goldie (Hg.): Understanding Emotions, Aldershot 2001. Folgende psychologische Untersuchung von Thomas Hülshoff enthält weiterführende Hinweise zur Bedeutung von Emotionen im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung und die Entstehung von Selbstkonzepten: ders.: Emotionen, München 1999, S. 274ff.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 249

für das personale Selbstverständnis charakteristisch ist, kann die Abschwächung lediglich einzelner Erinnerungen und Handlungen dazu führen, dass sich die gesamte Persönlichkeit eines Menschen strukturell verändert. Denn die Einnahme solcher Medikamente kann dazu führen, dass sich die praktische Grundhaltung wandelt, die sich in den Handlungen einer konkreten Person manifestiert und mit der diese sich identifiziert.31 Legt man die Modelle von Taylor und Frankfurt als Maßstab zugrunde, so ist eine Anwendung solcher Techniken der Gedächtnismanipulation bei Menschen mit durchschnittlich ausgeprägter Erinnerungsfähigkeit problematisch, da Personen in nicht kontrollierbarer Weise eine substanzielle Orientierung im Denken und Handeln entzogen wird.

4. Ausblick: Wie soll mit der Technisierung des Gehirns umgegangen werden? In die neurobiologische Forschung werden zu Recht große Hoffnungen gesetzt. Erkenntnisse über Funktionsweisen des Gehirns auf neuronaler und molekularer Ebene ermöglichen die gezielte Erforschung unterschiedlicher Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson. Diese Erkenntnisse lassen sich für Therapien nutzbar machen. Die damit einhergehende Verfügbarkeit des Gehirns generiert aber gleichzeitig kollektive Wunschträume einerseits, Angstvorstellungen andererseits. Ein Blick in fiktionale Medienangebote bestätigt dies. So erzählen etwa Science-Fiction-Filme von zukünftigen Welten, in denen Menschen uneingeschränkt Zugriff auf Erinnerungen und kognitive Fähigkeiten haben werden. Sie lassen sich Hirnchips implantieren32 oder verwenden technische Erinnerungslöscher33. Dies geht jedoch auch im Film mit Gefahren einher, z.B. mit dem Risiko, die Kontrolle über die Technik zu verlieren und eine nachhaltige gesellschaftliche Entfrem31 | Der President’s Council geht im Ergebnis einen Schritt weiter: Die Manipulation von Erinnerungen führt zu einer veränderten Art des Verstehens und dies wiederum verändert sowohl Lebensentwürfe als auch – allgemeiner – die Betrachtung der Welt. Vgl. President’s Council: Beyond Therapy, S. 228. 32 | So z.B. der Film Johnny Mnemonic von Robert Longo (USA 1995). Er erzählt von einem Mann, der über einen implantierten Hirnchip verfügt und als Kurier umfangreicher Datenmengen arbeitet, um diese vor dem Zugriff von ComputerHackern zu schützen. 33 | Der Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind von Michel Gondry (USA 2004) handelt von Paaren, deren Beziehungen gescheitert sind und die sich durch ein technologisches brain washing von der Erinnerung an die ehemals geliebte Person und die Zeit der Beziehung befreien.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

250 | Katja Crone dung herbeizuführen. Dass solche Science-Fiction-Szenarien eines Tages in genau dieser Form realisiert werden können, ist zwar eher unwahrscheinlich, fest steht jedoch, dass die Erforschung effizienter Methoden und Techniken der Hirnmanipulation weiter voranschreiten wird.34 Es bedarf daher einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion darüber, wie künftig mit technischen Eingriffen in personrelevante, kognitive Fähigkeiten umgegangen werden soll. Die hier behandelte Frage, welche Eigenschaften von Personen von hirnmanipulativen Eingriffen in welcher Weise betroffen sein können, ist als Grundlage für eine solche weiter gefasste Diskussion zu verstehen. Die Anwendung von Taylors und Frankfurts Theorien praktischer Selbstverhältnisse auf den Bereich biotechnologischer Gedächtnismanipulation führt in erster Linie zu einer Klärung, in welcher Weise das Selbstverständnis von Personen durch solche Eingriffe überhaupt berührt sein kann. Aufgrund des evaluativen Aspekts, der bereits im Begriff des praktischen Selbstverhältnisses von Personen enthalten ist, lässt sich gezielt einschätzen, welche Formen der Hirnmanipulation für Personen eine sinnvolle Option darstellen können und welche nicht. Aus dem vorgeschlagenen Personmodell lässt sich demnach eine – wenngleich schwache – erste Bewertung ableiten, die sich primär an der Individual-Perspektive orientiert. Für eine umfassendere ethisch-normative Bewertung entsprechender Verfahren müsste die Diskussion jedoch um wichtige weitere Aspekte ergänzt werden. Zu diskutieren wäre das Thema etwa auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung: Wenn sich eine Person dazu entschließt, ihre kognitiven Fähigkeiten zu verbessern, dann muss eine gegebenenfalls von dritter Seite veranlasste Einschränkung individueller, autonomer Optimierungswünsche gerechtfertigt werden. Darüber hinaus müssten Überlegungen zur interpersonalen und sozialen Bedeutung von personspezifischen Eigenschaften angestellt werden. Entsprechend gilt es zu klären, wie sich eine künstliche Veränderung solcher Eigenschaften auf das menschliche Zusammenleben auswirken kann. Diskutiert werden könnte auch, in welcher Weise Gerechtigkeit bei der Frage des Zugangs zu solchen Verfahren und deren Finanzierung realisiert werden kann und wie konkreten Missbrauchsrisiken entgegengewirkt werden sollte. Aufgrund des evaluativen Aspekts praktischer Selbstverhältnisse ist nicht zuletzt die aus überindividueller Perspektive auf der Hand liegende, äußerst grundlegende 34 | So hat etwa der US-amerikanische Nobelpreisträger Eric R. Kandel im Jahr 1998 eine auf Gedächtnispillen spezialisierte Firma mit dem Namen Memory Pharmaceuticals gegründet. Kandels Forschung befasst sich mit zellulären Prozessen, die Lernen und Erinnern zugrunde liegen, sowie mit Zielmolekülen für psychoaktive Medikamente.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Gedächtnispillen | 251

Frage offen, ob und inwieweit es für das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt akzeptabel sein kann, biotechnologische Eingriffe in kognitive Fähigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen zuzulassen. So erweisen sich Frankfurts und Taylors Theorien als ein geeigneter systematischer Anknüpfungspunkt für eine weiter gefasste medizinethische Diskussion.

Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik (übersetzt von Franz Dirlmeier), Stuttgart 2003. Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit, Frankfurt/M. 2003. Cicero: De Oratore (übersetzt von Harald Merklin), Stuttgart 2003. Farah, Martha J. u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What Can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421425. Frankfurt, Harry G.: The Importance of What We Care About, Cambridge 1988. Frankfurt, Harry G.: »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: ders.: The Importance of What We Care About, S. 11-25. Frankfurt, Harry G.: »The Importance of What We Care About«, in: ders.: The Importance of What We Care About, S. 80-94. Frankfurt, Harry G.: »On the Necessity of Ideals«, in: ders.: Necessity, Volition and Love, Cambridge 1999, S. 108-116. Frankfurt, Harry G.: The Reasons of Love, Princeton 2004. Goldie, Peter (Hg.): Understanding Emotions, Aldershot 2001. Goldie, Peter: »Emotion, Personality and Simulation«, in: ders.: Understanding Emotions, S. 97-109. Hülshoff, Thomas: Emotionen, München 1999. Klauer, Karl Christoph: »Gedächtnis und Emotion«, in: Otto, Jürgen H./Euler, Harald A./Mandl, Heinz (Hg.): Emotionspsychologie, Weinheim 2000, S. 315-324. Luria, Aleksandr: The Mind of a Mnemonist, Cambridge, London 1968. Markowitsch, Hans-Joachim: »Die Anfälligkeit autobiographischer Erinnerung gegenüber Streß«, in: Neumann, Michael (Hg.): Erzählte Identitäten, München 2000, S. 215-229. Markowitsch, Hans-Joachim: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt 2005. Nader, Karim/Schafe, Glenn E./LeDoux, Joseph E.: »Fear Memories Require Protein Synthesis in the Amygdala for Reconsolidation after Retrieval«, in: Nature, 406/2000, S. 722-726.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

252 | Katja Crone Pitman, Roger K. u.a.: »Pilot Study of Secondary Prevention of Posttraumatic Stress Disorder with Propranolol«, in: Biological Psychiatry, 51/2002, S. 189-192. President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D. C. 2003. Rose, Steven: »›Smart Drugs‹: Do They Work, Are They Ethical, Will They Be Legal?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 3/2002, S. 975-979. Schafe, Glenn E./LeDoux, Joseph E.: »Memory Consolidation of Auditory Pavlovian Fear Conditioning Requires Protein Synthesis and Protein Kinase A in the Amygdala«, in: The Journal of Neuroscience, 20/2000, S. 1-5. Stocker, Michael: »Some Ways to Value Emotions«, in: Goldie: Understanding Emotions, S. 65-79. Taylor, Charles: »Responsibility for Self«, in: Rorty, Amelie O. (Hg.): The Identities of Persons, Berkeley, Los Angeles, London 1976, S. 281-299. Taylor, Charles: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. Yesavage, Jerome A.: »Donepezil and Flight Simulator Performance: Effects on Retention of Complex Skills«, in: Neurology, 59/2002, S. 123-125. Zimbardo, Philip G./Gerrig, Richard J.: »Lernen und Gedächtnis«, in: Hoppe-Graff, Siegfried/Engel, Irma (Hg.): Psychologie, Berlin, Heidelberg, New York 1999, S. 237-268.

2006-02-06 17-38-45 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 233-252) T04_01 crone.p 107239500214

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 253

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen. Eine ethische Betrachtung zur Steigerung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten durch Neuro-Enhancement Davinia Talbot, Julia Wolf

Einleitung In den Neurowissenschaften haben die technischen Weiterentwicklungen der letzten Jahre zu einem besseren Verständnis der Funktionsweise des Gehirns und damit zu neuen Erkenntnissen bezüglich neurologischer und psychischer Erkrankungen sowie zur Entwicklung effektiverer Diagnoseund Therapiemethoden beigetragen. Zu diesen Techniken, den so genannten Neurotechniken1, zählen unter anderem bildgebende Verfahren zur Visualisierung von Gehirnstrukturen und -funktionen, die transkranielle Magnetstimulation (TMS)2 von oberflächennahen Hirnregionen sowie die Neuroprothetik, die das Ziel verfolgt, ausgefallene Sinnes- und Hirnfunktionen durch mikroelektronische Implantate zu ersetzen. Daneben gibt es 1 | Neurotechnologien werden verstanden als Teildisziplin der Biotechnologien und umfassen technische und pharmakologische Mittel, die auf die Erkenntnis oder die Beeinflussung des zentralen Nervensystems ausgerichtet sind. Vgl. Stephen L. Hauser: »The Shape of Things to Come«, in: Neurology, 63/2004, S. 948-950. Diese Umschreibung ist jedoch – besonders mit Blick auf die moralisch relevante Unterscheidung zwischen »natürlichen« Neurotechnologien, wie z.B. Coffein, und »künstlichen«, etwa Gehirnimplantaten – unpräzise und hinterfragbar. 2 | Zur Technik und Wirkung der TMS s.u. Abschnitt 1.1.

2006-02-06 17-38-46 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

254 | Davinia Talbot, Julia Wolf bereits seit einiger Zeit Psychopharmaka, die in die chemische Informationsübertragung des zentralen Nervensystems (ZNS) eingreifen. Einige dieser Neurotechniken und Pharmaka können nicht nur zur Behandlung von Krankheiten, sondern auch zu einer Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit bzw. zu einer Veränderung von Stimmungen und Eigenschaften nicht erkrankter Personen genutzt werden.3 In der internationalen Diskussion wird die Nutzung von nicht medizinisch indizierten Maßnahmen zur Veränderung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten im Allgemeinen als »Enhancement« bezeichnet. In Abhängigkeit von der veränderten Körperregion lassen sich dabei das genetische Enhancement, das Body-Enhancement und neuerdings auch das Neuro-Enhancement unterscheiden. In diesem Beitrag wird es hauptsächlich um Aspekte des NeuroEnhancements gehen, d.h. um neurotechnische und neuropharmakologische Eingriffe in das ZNS mit dem Ziel einer Funktionsbeeinflussung bzw. -verbesserung z.B. der Kognition, der zentralen Sensorik oder der Emotion bei »Gesunden«. Einige der als Neuro-Enhancement diskutierten Maßnahmen sind bislang noch sehr spekulativ (z.B. brain chips), während sich andere Verfahren schon in der experimentellen Umsetzung befinden (z.B. transkranielle Magnetstimulation) oder teilweise bereits in einem erheblichen Umfang genutzt werden (z.B. die Medikamente Ritalin und Prozac).4 Immer mehr Psychopharmaka weisen ein lediglich flaches Nebenwirkungsprofil auf, und die Schwelle, sie nicht nur in einem therapeutischen Kontext, sondern auch als Neuro-Enhancer zu verwenden, ist daher niedrig. Einige dieser Medikamente besitzen das Potenzial, Stimmungen aufzuhellen oder eine Veränderung individueller persönlicher Eigenschaften herbeizuführen.5 Neben der Erwägung medizinischer Risiken solcher Eingriffe in das menschliche Gehirn stellt sich innerhalb eines bioethischen Diskurses vor allem die Frage, welche Konsequenzen derartige Modifikationen für die einzelne Person 3 | Vgl. Peter Kramer: Listening to Prozac: A Psychiatrist explores antidepressant drugs and the remaking of the self, New York 1993; Steven P. Rose: »›Smart Drugs‹: Do They Work? Are They Ethical? Will They Be Legal?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 3/2002, S. 975-979; Paul Root Wolpe: »Treatment, Enhancement and the Ethics of Neurotherapeutics«, in: Brain and Cognition, 50/2002, S. 387-395; Martha J. Farah u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421-425. 4 | Vgl. Quinton Babcock u.a.: »Student Perceptions of Methylphenidate Abuse at a Public Liberal Arts College«, in: Journal of American College Health, 49/ 2000, S. 143-145. Vgl. Kramer: Listening to Prozac. 5 | Vgl. Kramer: Listening to Prozac; President’s Council on Bioethics (Hg.): Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003.

2006-02-06 17-38-46 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 255

und ihr Selbstverständnis, aber auch für die Gesellschaft insgesamt haben könnten. Im vorliegenden Beitrag werden an Beispielen mögliche Chancen, Risiken und Folgen von Maßnahmen des Neuro-Enhancements erörtert und mithilfe von Beurteilungskriterien der angewandten Ethik verortet. Zum besseren Verständnis wird zunächst etwas genauer auf die gegenwärtig realisierbaren sowie auf die sich abzeichnenden Möglichkeiten eines pharmakologischen und technischen Neuro-Enhancements eingegangen (1). Nach einer kurzen ethischen Zwischenbetrachtung (2) ist zu klären, ob die Möglichkeiten des Neuro-Enhancements gegenüber anderen Formen körperlichen Enhancements6 qualitativ neue, ethisch relevante Veränderungen mit sich bringen (3). Der Eingriff in das Gehirn, jenen für den Menschen so zentralen Körperteil, wirft grundlegende Fragen nach einer Veränderung des Kerns einer Person, ihrer Identität, ihrer Authentizität und damit nach den Voraussetzungen autonomen, verantwortlichen Handelns auf. Daher soll gegen Ende geprüft werden, inwiefern die Identität und Authentizität einer Person durch Neuro-Enhancement-Maßnahmen betroffen sein können und was daraus für die Verantwortlichkeit des Individuums folgt (4).

1. Hirntuning: Gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten Für die Veränderung von Verhaltenskomponenten, kognitiven Leistungen oder individuellen Stimmungen außerhalb eines therapeutischen Kontextes werden unterschiedliche Begriffe wie »Brain Enhancement«, »Neurocognitive Enhancement«, »Cognitive Enhancement«, »Mood Enhancement« oder auch – in Bezug auf Psychopharmaka – »kosmetische Psychopharmakologie« verwendet.7 Da diese Begriffe jeweils nur Teilaspekte der Wirkung, des Wirkortes oder der Mittel bezeichnen, werden wir im Folgenden den allgemeineren Begriff »Neuro-Enhancement« verwenden. Die vorhandenen Möglichkeiten lassen sich dabei nach Art der Technik (z.B. elektronisch oder pharmakologisch), nach dem biologischen Angriffspunkt im zentralen Nervensystem, nach den Zielen bzw. der Absicht oder nach den Fähigkeiten, die in gewünschter Weise beeinflusst werden sollen, 6 | Unter körperliches Enhancement fallen z.B. schönheitschirurgische Eingriffe, die Einnahme von Wachstumshormonen oder Anabolikaverwendung im Leistungssport. 7 | Vgl. z.B. Arthur Caplan: »Is better best?«, in: Scientific American, 289/ 2003, S. 104; Rose: »Smart Drugs«, S. 975; Farah u.a.: »Neurocognitive Enhancement«, S. 421; Kramer: Listening to Prozac.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

256 | Davinia Talbot, Julia Wolf unterscheiden. Für eine ethische Betrachtung sind dabei vor allem die Ziele derartiger Veränderungen und die dabei zur Disposition stehenden Eigenschaften und Fähigkeiten von Interesse. Die bislang diskutierten bzw. bereits realisierbaren Enhancement-Maßnahmen am zentralen Nervensystem zielen entweder auf die Verbesserung kognitiver Fähigkeiten (z.B. Gedächtnisleistung oder Aufmerksamkeit), die Verbesserung oder Hinzufügung von sensorischen Leistungen (z.B. Steigerung der Sehkraft oder gänzlich neue sensorische Qualitäten wie Infrarotsicht) oder aber auf die Veränderung von emotionalen Eigenschaften oder Stimmungen (z.B. Angstreduktion, Schaffung von Glücksgefühlen oder Steigerung des Selbstwertgefühls). Dem zweiten Zielkomplex, der Veränderung oder Verbesserung der Sensorik, werden wir in diesem Beitrag angesichts des Entwicklungsstandes dieser noch äußerst spekulativen Möglichkeiten keine weitere Beachtung schenken.8

1.1 Technische Möglichkeiten Auch die technischen Verfahren zur Beeinflussung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten befinden sich größtenteils noch im Stadium der Entwicklung, oder es handelt sich gar um Zukunftsvisionen, wie sie beispielsweise von Miguel Nicolelis oder Gerald Q. Maguire zur Debatte gestellt worden sind. Maguire verweist auf zukünftige Chancen implantierbarer Festplatten oder Gehirn-Maschine-Interfaces, durch die neue Sinnesqualitäten, ein erweiterter Gedächtnisspeicher, unsichtbare Kommunikation (cyberthink) sowie ein lückenloser Informationszugriff möglich gemacht werden könnten.9 Während einige dieser Visionen noch wie Science Fiction klingen, befinden sich die Tiefenhirnstimulation – auch bekannt als »Hirnschrittmacher« – oder die TMS bereits im klinischen oder experimentellen Einsatz. Die Tiefenhirnstimulation wird derzeit rein therapeutisch vor allem bei Parkinson-,

8 | Wenngleich Prothesen wie etwa Cochlea-Implantate oder die Entwicklung von künstlichen Netzhäuten die Phantasie bezüglich zukünftiger Neuro-Enhancement-Möglichkeiten auf diesem Gebiet anregen. 9 | Vgl. Gerald Q. Maguire/Ellen M. McGee: »Implantable Brain Chips? Time for Debate«, in: The Hastings Center Report, 29/1999, S. 7-13. Therapeutische Beispiele sind Cochlea- oder Sehrinden-Implantate. Jan-Hendrik Heinrichs verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff »Neurobionik«. Siehe ders.: »Ethische Aspekte der Neurobionik«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 8, Berlin, New York 2003, hier S. 201. Vgl. auch John P. Donoghue: »Connecting Cortex to Machines: Recent Advantages in Brain Interfaces«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2002, S. 1085-1088.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 257

Epilepsie- oder Schmerzpatienten zur Reduktion von Krankheitssymptomen eingesetzt.10 Dabei wird ein mikroelektronisches Implantat in das zentrale Nervensystem eingebracht, das elektronische Impulse an das umgebende neuronale Gewebe abgibt. Die non-invasive TMS dagegen arbeitet mit Drahtspulen, die dicht am Kopf platziert werden und starke magnetische Ströme mit geringer Eindringtiefe in ausgewählte Hirnregionen entsenden, um so Schaltkreise von Nervenzellenverbänden zu stimulieren. Therapeutisch hat das Verfahren vor allem bei Patienten mit schweren Depressionen11 Erfolge gezeigt; experimentell wird es derzeit aber auch bei Zwangsstörungen, Schizophrenie, Morbus Parkinson, chronischem Schmerz und Epilepsie erprobt.12 Ferner gibt es Forschergruppen, die zeigen konnten, dass die Stimulation bestimmter Hirnregionen mithilfe der TMS kognitive Prozesse, wie z.B. logisches Denken, positiv beeinflussen kann und überdies Müdigkeitserscheinungen reduziert.13

1.2 Pharmakologische Möglichkeiten Das Angebot an nebenwirkungsarmen smart drugs zur Verbesserung von kognitiven und emotionalen Eigenschaften und Fähigkeiten wächst stetig.14 Fragen nach ihrer Anwendung jenseits einer medizinischen Indikation stellen sich bereits heute und werden vor allem in den USA diskutiert. Dazu gehören Möglichkeiten der Steigerung der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Überwindung von Müdigkeit beim Menschen.15 Einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang das Medikament Ritalin, das zur Therapie des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern eingesetzt wird.16 We-

10 | Vgl. Alison Abbott: »Deep in Thought«, in: Nature, 436/2005, S. 18-19. 11 | Als Alternative zur Elektrokrampftherapie. 12 | Mark S. George/Haim Belmaker: Transcranial Magnetic Stimulation in Neuropsychiatry, Washington D.C. 2000. Vgl. Burt Tal u.a.: »Neuropsychiatric Applications of Transcranial Magnetic Stimulation: a Meta Analysis«, in: International Journal of Neuropsychopharmacology, 5/2002, S. 73-103. 13 | Vgl. Babak Boroojerdi u.a.: »Enhancing analogic reasoning with rTMS over the left prefrontal cortex«, in: Neurology, 56/2001, S. 526; George/Belmaker: Transcranial Magnetic Stimulation. 14 | Rose: »Smart Drugs«. 15 | Stephen S. Hall: »The Quest for a Smart Pill«, in: Scientific American, 289/ 2003, S. 54-65. 16 | Kritisch Stellung zu der Diagnose des ADHS nehmen z.B. Lawrence H. Diller: »The Run on Ritalin. Attention Deficit Order and Stimulant Treatment in the

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

258 | Davinia Talbot, Julia Wolf gen seines aufmerksamkeits- und konzentrationsverbessernden Potenzials17 wird der im Ritalin enthaltene Wirkstoff Methylphenidat auch von »gesunden« Personengruppen, wie etwa Studenten oder Managern, als ein beliebtes Mittel zur kognitiven Leistungssteigerung angewendet18; genaue Zahlen zur off-label-Einnahme, d.h. zur nicht-therapeutischen Verwendung und damit zur Missbrauchsrate, gibt es allerdings kaum.19 Auch das Narkoleptikum Modafinil erzeugt bei gesunden Probanden eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein Gefühl der Wachheit. Obwohl das verschreibungspflichtige Medikament zur Behandlung von Schlafstörungen entwickelt wurde, konnte eine vermehrte Einnahme seitens gesunder Menschen beobachtet werden.20 In Versuchen mit gesunden Probanden, mit denen Nachtschichten simuliert wurden21, sowie bei Flugsimulationen mit Piloten22 verbesserte Modafinil die Vigilanz der Testpersonen. In Experimenten mit Mäusen konnte zudem gezeigt werden, dass Modafinil Lernprozesse positiv beeinflusst.23 Stephen S. Hall berichtet, dass Modafinil auch eingesetzt wird, um Patienten mit Erschöpfungszuständen zu therapieren, und er behauptet, dass das Medikament ebenfalls zur Stimmungsverbesserung verwendet werden könnte.24 Besonders bemerkenswert sind Versuchsergebnisse, die auf die Möglichkeit einer Steigerung von Gedächtnisleitungen (»Memory Enhancement«) hindeuten. Einen Ansatzpunkt zur Verbesserung von Lernund Gedächtnisleistungen bieten die so genannten CREB-Proteine (cycloAMP response element binding protein). Das von Nobel-Preisträger Eric Kandel mitbegründete Pharma-Unternehmen Memory Pharmaceuticals arbeitet z.B. an der Entwicklung von CREB-Verstärkern, die das Ziel verfolgen, die 1990’s«, in: The Hastings Center Reports, 26/1998, S. 12-18; Richard DeGrandpre: Ritalin Nation, New York, London 2000. 17 | Vgl. Nora Volkow u.a.: »Evidence that methylphenidate enhances the saliency of a mathematical task by increasing dopamine in the human brain«, in: American Journal of Psychiatry, 161/2004, S. 1173-1180. 18 | Hall: »The Quest for a Smart Pill«. 19 | Babcock u.a.: »Student Perceptions of Methylphenidate Abuse«. 20 | Vgl. Hall: »The Quest for a Smart Pill«. 21 | Vgl. James Walsh u.a.: »Modafinil improves alertness, vigilance, and executive function during simulated night shifts«, in: Sleep, 27/2004, S. 434-439. 22 | Vgl. John A. Caldwell u.a.: »A double-blind, placebo-controlled investigation of the efficacy of modafinil for sustaining the alertness and performance of aviators: A helicopter simulator study«, in: Psychopharmacologia, 150/2000, S. 272-282. 23 | Vgl. Daniel Beracochea u.a.: »Enhancement of learning processes following an acute modafinil injection in mice«, in: Pharmacology Biochemistry and Behaviour, 76/2003, S. 473-479. 24 | Vgl. Hall: »The Quest for a Smart Pill«.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 259

Ausbildung des Langzeitgedächtnisses für Lerninhalte zu beschleunigen.25 Die Firma Helicon Therapeutics zielt ebenfalls auf die Beeinflussung der CREB-Proteine; sie forscht jedoch zusätzlich auch an CREB-hemmenden Wirkstoffen, um die Gedächtnisbildung zu unterdrücken und so z.B. die Erinnerung an traumatische Erlebnisse zu blockieren.26 Die Wirksamkeit solcher CREB-Modulatoren in Bezug auf das menschliche Gedächtnis konnte bislang jedoch noch nicht experimentell nachgewiesen werden. Eine andere Gruppe von Medikamenten wirkt verändernd auf Stimmungen und emotionale Eigenschaften. Hierzu gehören zum Beispiel die selektiven Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI). Diese Klasse von Medikamenten wird üblicherweise zur Behandlung von Depressionen, aber auch von Angst- und Zwangsstörungen eingesetzt. Das Phänomen eines off-label-Gebrauchs von SSRIs wurde erstmals von Peter Kramer in seinem Buch Listening to Prozac27 öffentlich angesprochen. Er beschreibt darin, wie einige seiner Patienten berichten, dass sie erst unter der Einwirkung von Prozac (in Deutschland: Fluctin) zu ihrem »Selbst« gefunden haben und ihrem sozialen Umfeld mit mehr Optimismus sowie einer größeren Offenheit begegnen konnten. Kramer prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der »kosmetischen Psychopharmakologie« und initiierte speziell in den USA mit seinen Fallberichten eine öffentliche Diskussion über die Möglichkeiten psychopharmakologischen Enhancements. In Analogie zum oben genannten »Memory Enhancement« spricht man im anglo-amerikanischen Sprachraum bei der off-label-Verwendung von stimmungsverändernden Wirkstoffen auch von »Mood Enhancement«.

2. Ethische Aspekte des Neuro-Enhancements In der ethischen Diskussion über Enhancement lassen sich vor allem zwei Fragenkomplexe abgrenzen: Zum einen wird diskutiert, ob bzw. wie sich die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement für die ethische Beurteilung der genannten Maßnahmen und Verfahren fruchtbar machen lässt.28 In ethischer (und auch politischer) Hinsicht wird diese Unterschei25 | Vgl. Anjan Chatterjee: »Cosmetic Neurology«, in: Neurology, 63/2004, S. 968-974. 26 | Vgl. Tim Tully u.a.: »Targeting the CREB Pathway for Memory Enhancers«, in: Nature Reviews Drug Discovery, 2/2003, S. 267; Hall: »The Quest for a Smart Pill«. 27 | Kramer: Listening to Prozac. 28 | Vgl. Eric T. Juengst: »What Does Enhancement Mean?«, in: Erik Parens (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

260 | Davinia Talbot, Julia Wolf dung von zahlreichen Autoren vor allem deshalb für zentral gehalten, weil die Abgrenzung von therapeutischen gegenüber Enhancement-Maßnahmen zugleich eine Grenzziehung zwischen einer durch das ärztliche Ethos gerechtfertigen medizinischen Behandlung einerseits und ethisch zumindest zweifelhaften, weil »verbessernden« Eingriffen andererseits ermöglichen soll. Man erhofft sich außerdem Hilfe bei der Definition des Bereichs solcher medizinischer Maßnahmen, die in einer gerechten Gesellschaft für jede Bürgerin und jeden Bürger zur Verfügung gestellt werden müssten.29 Sicherlich gibt es Fälle, in denen die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement unschwer zu treffen ist und mit der Grenze der vernünftigerweise solidarisch zu finanzierenden Maßnahmen zusammenfällt. Doch da der Krankheitsbegriff – ohne den der Therapiebegriff kaum sinnvoll gedacht werden kann – in verschiedenen Bereichen (z.B. in der Psychiatrie) recht unscharf bleibt, wird fraglich, ob er überhaupt brauchbar für normative Entscheidungen sowie eine genaue Grenzziehung zwischen Therapie und Enhancement ist. Viele Autoren betonen deshalb, dass die ethische Einordnung und moralische Beurteilung von entsprechenden Maßnahmen und deren Folgen getrennt von der vordergründigen Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement erfolgen muss.30 Daher werden in Enhancement-Diskussionen häufig primär die Ziele, die dazu herangezogenen Mittel sowie die aus deren Einsatz möglicherweise resultierenden Folgen einer ethischen Betrachtung unterzogen. Im Hinblick auf die Ziele etwa wird nicht nur kontrovers über die Legitimität und Wünschbarkeit konkreter Absichten, wie beispielsweise der »Verschönerung« des menschlichen Körpers, diskutiert, sondern auch grundsätzlicher darüber, ob überhaupt »verbessernde« Eingriffe in den Menschen mit unserem normativen Natur- und Selbstverständnis bzw. mit den für unser gesellschaftliches Zusammenleben konstitutiven Werten kompatibel sind.31 Daneben wird debattiert, ob aus dem 1998, S. 29-47; Norman Daniels: »Normal Functioning and the Treatment-Enhancement Distinction«, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics, 9/2000, S. 309-322; Christian Lenk: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002. 29 | Vgl. dazu auch Juengst: »What Does Enhancement Mean?«. 30 | Juengst: »What Does Enhancement Mean?«; Wolpe: »Treatment, Enhancement and the Ethics of Neurotherapeutics«; President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. 31 | Dazu Ludwig Siep: »Natur als Norm? Zur Rekonstruktion eines normativen Naturbegriffs in der angewandten Ethik«, in: Mechthild Dreyer/Kurt Fleischhauer (Hg.): Natur und Person im ethischen Disput, Freiburg, München 1998, S. 191-206; Francis Fukuyama: Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolu-

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 261

Einsatz der genannten Techniken spezielle gesundheitliche Risiken erwachsen und ob sich chemische oder technische Enhancement-Maßnahmen in ethischer Hinsicht überhaupt von konventionellen Methoden der Verbesserung bzw. der Leistungssteigerung (z.B. im Rahmen von Erziehung, Training oder Biofeedback) abgrenzen lassen. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Unterscheidung zwischen »natürlichen« und »künstlichen« Mitteln für die Bewertung von EnhancementMaßnahmen bedeutsam ist. Oft wird darauf hingewiesen, dass die Leistungen eines Menschen in westlich geprägten Kulturen nur dann soziale Wertschätzung erfahren, wenn sie durch eigene Anstrengung hervorgebracht werden (»pharmazeutischer Calvinismus«32), wohingegen Leistungen, die auf künstlichem Wege, d.h. durch die Nutzung chemischer oder technischer Hilfsmittel, zustande kommen, nicht der Person, sondern dem Hilfsmittel zugerechnet werden.33 In der Diskussion um mögliche Folgen schließlich stehen individuelle wie gesellschaftliche Aspekte im Vordergrund. In der internationalen Debatte werden bisher vor allem Fragen zur Autonomie des Handelnden, Veränderungen der gerechten Wettbewerbspraxis, die Gefahr von sich selbst perpetuierenden Verbesserungsspiralen sowie die simplifizierende »Medikalisierung« sozialer Probleme erörtert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der erst beginnenden ethischen Diskussion über das Neuro-Enhancement einerseits Aspekte diskutiert werden, die auch für andere Formen von Enhancement, etwa für Wachstumshormontherapien34, kosmetische Chirurgie35 oder Doping im Sport36, diskutiert werden. Andererseits ergeben sich aus der besonderen Funktion des manipulierten Körperteils, des Gehirns, sehr spezifische Fragen nach der Identität von Personen, der Authentizität ihrer Denkinhalte und Handlungen sowie nach der Verantwortlichkeit einer durch Neurotechniken modifizierten Personalität.

tion, New York 2002; Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2002. 32 | Der Ausdruck geht zurück auf Gerald L. Klerman: »Psychotropic Hedonism vs. Pharmacological Calvinism«, in: The Hastings Center Report, 2/1972, S. 1ff. 33 | Vgl. Ronald Cole-Turner: »Do means matter?«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 151-161. 34 | Vgl. Daniels: »Normal Functioning«. 35 | Vgl. Margret Olivia Little: »Cosmetic Surgery, Suspect Norms and the Ethics of Complicity«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 162-176. 36 | Vgl. Claudia Pawlenka (Hg.): Sportethik: Regeln – Fairness – Doping, Paderborn 2004.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

262 | Davinia Talbot, Julia Wolf

3. No brain is perfect: Was unterscheidet Neuro-Enhancement von anderen Formen körperlicher Verbesserung? Schönheitschirurgische, genetische, medikamentöse und (neuro-)technologische Eingriffe beim Menschen haben eines gemeinsam: Sie alle wirken auf den menschlichen Körper ein. Sie modifizieren Gewebe, nehmen Einfluss auf Transmitter oder andere Zellbestandteile. Während jedoch genetische Veränderungen und kosmetische Chirurgie als eher irreversible und nachhaltige Veränderungen zu begreifen sind, scheinen Neuro-Enhancer, vor allem in Form von Psychopharmaka, nur zeitlich begrenzt auf das Gehirn ihrer Nutzer einzuwirken – Implantat-Utopien einmal ausgenommen. Deshalb werden die derzeit anwendbaren Formen von Neuro-Enhancement, insbesondere im Vergleich zu genetischen Veränderungen, von ihren Befürwortern oft als moralisch weniger bedenklich eingestuft. Andererseits wird dem Gehirn als Träger von Bewusstseins- und Persönlichkeitseigenschaften eine zentrale Rolle zugeordnet. Es ist das Organ, das uns über die Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen Zugang zur Umwelt gestattet und Selbstreflexion ermöglicht.37 Deshalb bewerten viele Menschen Eingriffe in das Gehirn – zumeist rein intuitiv – als problematisch. Im Folgenden soll zum einen geklärt werden, ob diese Intuition gerechtfertigt ist, ob sich also beim Einsatz von Neurotechniken spezifische und nur für das Neuro-Enhancement geltende ethische Probleme ergeben. Zum anderen müssen jedoch auch die bereits im Kontext von Body-Enhancement und Gen-Enhancement diskutierten Aspekte, wie z.B. die Zugangsmöglichkeiten zu derartigen Maßnahmen oder aber die Gefahr einer Medikalisierung des Lebens, erörtert werden, da sie für das Neuro-Enhancement gleichermaßen zutreffen oder im Zusammenhang einer Veränderung von Hirnfunktionen gar eine neue Bedeutung erhalten.

37 | Dass dem Gehirn diese besondere Bedeutung zugesprochen wird, zeigt sich auch in medizinethischen Debatten über den Beginn und das Ende menschlichen Lebens, in denen Hirnfunktionen häufig als zentrale Kriterien für einschlägige moralische Grenzziehungen angeführt werden. Vgl. Johann S. Ach/Michael Quante (Hg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart, Bad Cannstatt 1997; Thomas Schlich: Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt/M. 2001.

2006-02-06 17-38-47 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 263

3.1 Risiken und unerwünschte Wirkungen des Neuro-Enhancements Neben den unmittelbaren Nebenwirkungen von Maßnahmen des NeuroEnhancements, wie etwa Kopfschmerzen und Magenbeschwerden nach Einnahme von Ritalin oder den direkten OP-Risiken bei der Implantation von Hirnprothesen, sind bei einer Risikoabschätzung vor allem die nicht antizipierbaren Langzeitfolgen zu berücksichtigen. Hans Werner Bothe hat beispielsweise beobachtet, dass bei Patienten mit Morbus Parkinson, die zur Symptombekämpfung ein mikroelektronisches Gehirnimplantat, einen Hirnschrittmacher, erhielten, in einigen Fällen die soziomoralische Urteilsfähigkeit abnahm und entsprechende Persönlichkeitsveränderungen feststellbar wurden, was offenbar auf eine Stimulation tiefer liegender Hirnstrukturen zurückgeführt werden muss.38 Peter Whitehouse befürchtet, dass eine einseitige Überhöhung der kognitiven Fähigkeiten durch Enhancer mit einer Verminderung von z.B. emotionaler Tiefe oder auch Kreativität einhergehen könnte.39 Ferner ist bei psychoaktiven Substanzen nie auszuschließen, dass aus einer Langzeiteinnahme eine Abhängigkeit entsteht und es durch neuronale Anpassungsprozesse zu einem kontinuierlichen Wirkungsabfall kommt, der nur durch eine Dosissteigerung oder den Wechsel zu einem alternativen Präparat kompensiert werden kann. Trotz vieler neuer Einsichten in die Funktionsweise des Gehirns und seiner übergeordneten Leistungen – wie etwa des Gedächtnisses – ist man heute noch weit von einer präzisen, umfassende Zusammenhänge durchdringenden Erkenntnis komplexer geistiger Prozesse entfernt. Zwar ist z.B. empirisch bewiesen, dass Serotonin die Stimmung beeinflusst. Der neuronale Mechanismus jedoch, der dieser Stimmungsänderung zugrunde liegt, ist unklar. Fraglich bleibt auch, was genau in biopsychologischer Hinsicht unter einer Stimmung zu verstehen ist.40 Entsprechend ist jede Manipulation zur Ungenauigkeit verurteilt. Wirkung und unerwünschte Wirkung könnten dicht beieinander liegen.41 Aufgrund dieser Unkenntnis der ge38 | Hans Werner Bothe u.a.: »Alterations of sociomoral judgement and glucose utilization in the frontomedial cortex induced by electrical stimulation of the subthalamic nucleus (STN) in Parkinsonian patients«, auf: http://www.egms.de/en/ meetings/dgnc2004/04dgnc0207.shtml (Stand: 20. September 2005). 39 | Peter Whitehouse u.a.: »Enhancing Cognition in the Intellectually Intact«, in: The Hastings Center Report, 27/1997, S. 20. 40 | Carol Freedman: »Aspirin for the mind? Some ethical worries about psychopharmacology«, in: Parens: Enhancing Human Traits, hier S. 145. 41 | Paul Wolpe bringt diese Sorge auf die Formel: Aus der Tatsache, dass das Gedächtnis eine gute Sache ist, folgt nicht zwangsläufig, dass mehr Gedächtnis bes-

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

264 | Davinia Talbot, Julia Wolf nauen Mechanismen und der zwangsläufig daraus resultierenden Unsicherheit der applizierten Medikamente und Verfahren, formulieren einige Kritiker des Neuro-Enhancements einen gewichtigen Einwand: Die Inkaufnahme der oben beschriebenen Unsicherheiten kann nur im Rahmen einer therapeutischen Intervention zur Verbesserung eines als krankhaft diagnostizierten Zustands gerechtfertigt werden. Allein die Absicht, einen »schlechten« Zustand wieder »gut« zu machen, rechtfertige die Anwendung von Medikamenten und Methoden, die mit einem ungewissen Risiko behaftet seien. Nicht zulässig wäre nach dieser Argumentation die Veränderung eines vermeintlich »gesunden« Zustandes hin zu einem »besseren«. Das dabei zugrunde gelegte medizinethische Prinzip ist das Nichtschadensprinzip (primum nil nocere) als Gebot guten ärztlichen Handelns.42 Dieses Argument ist allerdings recht einseitig und vernachlässigt einen aus prinzipienethischer Sicht zweifellos ebenso wichtigen Grundsatz, und zwar den der Autonomie. Pointiert könnte man fragen, ob es moralisch richtig sein kann, jemandem eine wirksame Methode zur Verfolgung seiner autonom gewählten Ziele mit Verweis auf das Nichtschadensprinzip vorzuenthalten; man nehme einem klugen, aber scheuen Menschen, dem die Einnahme von Fluctin bzw. Prozac zur Überwindung seiner Kontaktprobleme und damit zur Verbesserung seiner gesellschaftlichen Stellung mit dem Verweis auf mögliche Risiken (z.B. Schlafstörungen, Durchfall oder sexuelle Dysfunktion) versagt wird. Beispiele wie dieses zeigen, dass derzeit zumindest für einige der genannten Mittel Bedenken bezüglich der mit ihnen verbundenen Risiken zwar angebracht sind. Dennoch ergibt sich daraus kein moralisch zwingender Grund, Neuro-Enhancement generell zu verbieten. Zum einen, so könnte man argumentieren, hängt es letztlich vom informierten Einverständnis des betroffenen Individuums ab, ob das Risiko akzeptabel erscheint. Zumindest in unserer Gesellschaft, in der das Autonomieprinzip einen großen Stellenwert hat, könnte man ein Verbot von Neuro-Enhancern auch als übertriebenen Paternalismus interpretieren, der gesunden Erwachsenen43 die freie Entscheidung zur Anwendung solcher Maßnahmen alser ist. Vgl. ders.: »Treatment, Enhancement and the Ethics of Neurotherapeutics«, S. 393. 42 | Die Frage, ob Neuro-Enhancement mit dem Selbstverständnis der ärztlichen Profession in Einklang steht, soll hier nicht weiter problematisiert werden. 43 | Die Möglichkeit eines Neuro-Enhancements schon bei Kindern wirft Fragen der autonomen Selbstbestimmung auf und soll hier nicht diskutiert werden. Gleiches gilt für Komatöse, geistig schwerst Behinderte oder andere Nicht-Einwilligungsfähige. Unsere Ausführungen beziehen sich auf einwilligungsfähige Erwachsene.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 265

lein aus vagen Risikoüberlegungen vorenthält. Zum anderen gibt es Enhancer mit ohnehin geringen Nebenwirkungen. Durch die Weiterentwicklung dieser Mittel könnten bislang berechtigte Risikobedenken in Zukunft ganz wegfallen.44 Spezifisch für entsprechende Risikoüberlegungen ist jedoch im Vergleich zu anderen körperlichen Eingriffen der Wirkort des NeuroEnhancements, und zwar das ZNS. Sehr ernst zu nehmen ist deshalb die Gefahr, dass psychopharmakologisch wirksame Substanzen unerwünschte strukturelle und funktionelle Veränderungen des ZNS bewirken oder dass ein operativer Eingriff ungewollte Veränderungen in der Persönlichkeit eines Menschen nach sich zieht, die sowohl dessen Identität als auch seine Autonomie und Verantwortung beeinträchtigen könnten.

3.2. Gerechtigkeit und Fairness: Generelle Argumente im Kontext von Enhancement-Maßnahmen Zunächst muss überprüft werden, ob sich das Neuro-Enhancement mit Blick auf Fragen der Gerechtigkeit und Fairness überhaupt von anderen Enhancement-Maßnahmen unterscheidet, so dass eine eigene moralische Diskussion erforderlich werden würde. Man darf auf Anhieb vermuten, dass der Gerechtigkeitsaspekt im Rahmen von Neuro-Enhancement-Maßnahmen eine besondere Brisanz erhält, die in der Natur des Wirkortes, des Gehirns, begründet liegt. Beim Neuro-Enhancement geht es schließlich um die Modifikation wichtiger Schlüsselkompetenzen, wie z.B. Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, aber auch um eine insgesamt gute Grundstimmung, die im Gegensatz beispielsweise zu Fragen der Kraft und Geschwindigkeit (Doping) oder der Verteilung von Fettpolstern (kosmetische Chirurgie) jeden Menschen in seinem gesamten Tun stark beeinflussen dürften. Ein gerechter Zugang zu Maßnahmen der Verbesserung jener Schlüsselkompetenzen wäre entscheidend für die individuelle Entfaltung und Entwicklung der Menschen. Ein berechtigter pragmatischer Einwand gegen Neuro-Enhancement-Maßnahmen ergibt sich daher aus der Annahme, dass derartige Maßnahmen solidarisch kaum zu finanzieren und deshalb nicht für jeden gleichermaßen zugänglich sein werden. Und in einem freien Verkaufsmodell würden sozial schwache Bevölkerungsgruppen, die ohnehin einen nur geringen Anteil an kognitiv fordernden und anerkannten Berufen (Lehrer, Jurist etc.) stellen, beim Zugang zu diesen neuartigen 44 | Leon Kass würde diese Annahme nicht unterstützen: »No biological agent used for purposes of self-perfection will be entirely safe«. Siehe ders.: »Ageless Bodies, Happy Souls: Biotechnology and the Pursuit of Perfection«, in: The New Atlantis, Spring 2003, hier S. 15.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

266 | Davinia Talbot, Julia Wolf intellektuellen Ressourcen nochmals benachteiligt. Sie könnten sich die Neuro-Enhancer schlicht nicht leisten. Kritiker befürchten deshalb eine sich weitende sozioökonomische Schere sowie die Schaffung und Aufrechterhaltung von sozialer und intellektueller Ungerechtigkeit durch ein (wirtschafts-) liberales Zugangsmodell.45 Man könnte jedoch auch egalitaristisch argumentieren und den Zugang nur solchen Individuen ermöglichen, die durch die »natürliche Lotterie« der Dispositionen und Fähigkeiten gesellschaftlich benachteiligt sind, so dass man derartige »Nachteile« mithilfe von NeuroEnhancern auszugleichen suchte.46 Die Frage der Zugangsgerechtigkeit eignet sich jedoch aus unserer Sicht nicht, will man die moralische Zulässigkeit von Neuro-Enhancern klären. Denn erst wenn aus anderen Gründen, z.B. aus Gründen der Autonomie oder Wahlfreiheit, entschieden ist, dass Neuro-Enhancement moralisch zu befürworten oder eben abzulehnen ist, entsteht der Bedarf, im zweiten Schritt den Zugang oder eben dessen Reglementierung gerecht zu organisieren. Zugangsgerechtigkeit betrifft die moralische Frage, wie der Zugriff auf die Mittel zu organisieren ist, nicht ob überhaupt ein Zugriff moralisch gerechtfertigt sein kann. Spricht man im Zusammenhang der Enhancement- bzw. Neuro-Enhancement-Debatte über Gerechtigkeitsfragen, so sind neben Problemen des gerechten Zugangs auch Fragen der Wettbewerbsgerechtigkeit, d.h. der Fairness, zu erörtern. Ob ein fairer Wettbewerb unter dem Einfluss von Neuro-Enhancement-Maßnahmen überhaupt noch möglich ist, lässt sich am besten anhand eines konkreten Beispiels erörtern: Die Studentinnen Nina und Ella sind im gleichen Semester und sollen demnächst ihre Abschlussprüfungen ablegen. Ella hat sich entschieden, ein risiko- und nebenwirkungsarmes Medikament zur Steigerung ihrer kognitiven Fähigkeiten einzunehmen (z.B. Methylphenidat), das sie – um des Argumentes Willen – rechtens in einer Apotheke erworben hat. Sie wendet es in der Vorbereitung und während ihrer Abschlussprüfungen an. Nina hat sich entschieden, keine solchen Mittel zu verwenden. Welche Unterschiede 45 | Befürworter, wie z.B. Arthur Caplan, weisen jedoch darauf hin, dass auch heute schon gut situierte Eltern ihre Kinder zu teuren Privatschulen schicken und ihnen zusätzlichen Unterricht, z.B. im Musizieren, Sport o.Ä. bezahlen können. Die Befürworter sehen deshalb keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen »natürlichem« Neuro-Enhancement (gute Erziehung) und technisch-medikamentösem (Ritalin, Donepezil). Die oben skizzierte Problematik des »ungerechten« Zugangs zu kognitiven Ressourcen sei also kein neues Phänomen und somit auch nicht per se verwerflich. 46 | Denkbar wäre etwa ein subventionierter Zugang zu kognitiv leistungssteigernden Substanzen.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 267

ergeben sich und wie sind diese zu bewerten?47 Man könnte anmerken, dass Ella sich erstens um den Eigenwert des Lernens betrogen habe, sich zweitens einen unfairen Vorteil gegenüber ihrer nicht neurotechnisch verbesserten Kommilitonin verschafft und drittens, bezogen auf die Prüfung, einen Betrug begangen habe.48 Nach Eric T. Juengst hat jeder Mensch eine Grunddisposition an geistigen Fähigkeiten und Potenzialen (z.B. Sprachgefühl oder Auffassungsvermögen), die er durch gesellschaftlich anerkannte Mittel (z.B. diszipliniertes Lernen oder intensive Meditation) weiterentwickeln und ausbauen kann.49 Anerkannte Mittel sind in dieser Gesellschaft eine Kombination aus sanktionierter Technik (z.B. Lernen) und Tugenden (z.B. Disziplin, Bemühung, Eifer, Ausdauer). Diesen Aspekten, so Juengst, komme ein intrinisischer Wert zu. Insofern unterscheiden sich pharmakologische Neuro-Enhancement-Maßnahmen von bisher gesellschaftlich anerkannten Mitteln, da hier nicht mehr eine durch Disziplin o.Ä. generierte, sondern eine durch Methylphenidat gesteigerte Aufmerksamkeit erzeugt wird. Die anerkannte Technik – in diesem Fall aufmerksames Lernen – bleibt zwar erhalten, doch die üblicherweise damit verknüpfte Tugend, hier: Selbstdisziplin, wird durch eine Neurotechnologie, zumindest teilweise, ersetzt. Die entsprechenden Errungenschaften wären damit weitgehend auch ohne die gesellschaftlich wertgeschätzten, intrinsisch wertvollen Tugenden zu erreichen. Würde dieselbe Verbesserung nicht durch Methylphenidat, sondern durch einen Hirnchip, also eine Festplatte, auf der Daten gespeichert sind, erfolgen, dann fiele sogar die anerkannte Technik des Lernens weg. Im Beispiel von Ella und Nina könnte man also feststellen, dass Ella auf der Ebene der Errungenschaft eine oder mehrere Tugenden nicht realisiert bzw. gefördert und sich damit selbst um einen intrinsischen Wert betrogen habe. Mancher Befürworter von Enhancement-Maßnahmen, z.B. Arthur Caplan, würde jedoch bezweifeln, dass hier ein Betrug vorliegt, und die von Juengst vorgebrachte tugendethische Perspektive als pharmazeutischen Calvinismus bezeichnen. Es bleibt daher zu fragen, ob in unserer Gesellschaft Tugenden wie Disziplin oder Anstrengung weiterhin erstrebenswert sind oder ob es sich dabei um nicht mehr haltbare Idealvorstellungen handelt. Die Frage, ob Neuro-Enhancement-Maßnahmen als einsetzbare Mittel akzeptabel sind,

47 | Gedächtnisstütze: Ella nimmt einen Enhancer, Nina nicht. 48 | Fälle von Neuro-Enhancement und Beispiele für anderes körperliches Enhancement weisen Parallelen auf. Ella und Nina könnten z.B. auch Leistungssportlerinnen sein, die Anabolika nehmen/nicht nehmen. An der folgenden Argumentstruktur würde sich nichts Grundsätzliches ändern. 49 | Vgl. Juengst: »What Does Enhancement Mean?«, S. 37ff.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

268 | Davinia Talbot, Julia Wolf hängt also nicht zuletzt davon ab, ob und welche Tugenden eine Gesellschaft als intrinsisch wertvoll erachtet und in Zukunft erachten will. Die Frage, ob sich Ella gegenüber Nina unfair verhält, hängt überdies von der oben angesprochenen Zugangsgerechtigkeit zum einen, von der rechtlichen Zulässigkeit der eingesetzten Mittel zum anderen ab.50 Festzuhalten ist jedenfalls, dass in der gegenwärtigen Wettbewerbs- und Prüfungspraxis Werte und Eigenschaften abgeprüft und durch soziale Anerkennung belohnt werden, die durch den Einsatz von Neuro-Enhancement ganz oder teilweise simuliert werden könnten. Damit wäre der Vorwurf, der Einsatz von Neuro-Enhancement-Techniken sei Betrug und eine unfaire »Abkürzung« auf dem Weg zum Erfolg, berechtigt. Allerdings besagt dies nur, dass die gegenwärtige Prüfungspraxis noch nicht angemessen auf Enhancement eingerichtet ist. Juengst merkt hierzu an: »Either the institutions must redesign the game (e.g. education or sports) to find new ways to evaluate excellence that are not affected by available enhancements, or they must prohibit the use of the enhancing shortcuts.«51

Bei sportlichen Wettkämpfen ist das Doping-Verbot Konsens und wird durch Kontrollen der Sportler überprüft. Ob analog dazu ein Verbot von Neuro-Enhancern sanktionsfähig und praktisch durchsetzbar wäre, hängt u.a. von der Nachweisbarkeit der Mittel und den sich bietenden Sanktionierungsmöglichkeiten ab.

4. Sei ganz Du selbst: Gedächtnis, Verhalten und Persönlichkeit als veränderbare Variablen Anhand der Problemfelder »Risiken« und »Gerechtigkeit« haben wir beispielhaft gezeigt, dass sich die Pro- und Contra-Argumente beim körperlichen Enhancement und beim Neuro-Enhancement in weiten Teilen ähneln. Es wurde aber auch deutlich, dass die Modifikation von Hirnfunktionen eine besondere Brisanz aufweist. Da das Gehirn als wichtiger Träger von Per50 | Hier sollte berücksichtigt werden, dass die Akzeptanz und Zulässigkeit von Neuro-Enhancern zu Kompetitionsspiralen und damit gar zu einem Einnahmezwang führen könnte. Thomas Murray nennt das daraus resultierende Paradox: »free choice under pressure«. Siehe ders.: »Drugs, Sports and Ethics«, in: ders. u.a. (Hg.): Feeling good and doing better: Ethics and non-therapeutic drug use, Clifton 1984, S. 107126. 51 | Vgl. Juengst: »What Does Enhancement Mean?«, S. 37f.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 269

sönlichkeitseigenschaften und Bewusstsein angesehen wird, besteht Grund zu der Annahme, dass Neuro-Enhancement zu einer Beeinflussung zentraler persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten führen könnte, was spezifisch für diese Form von Enhancement wäre.52 Diese Mutmaßung soll im Folgenden näher betrachtet werden. Der Frage nach der Identität und Authentizität einer Person kommt in der Diskussion um Möglichkeiten, Grenzen und die ethische Einordnung des Neuro-Enhancements eine besondere Bedeutung zu. Oftmals befürchten die Kritiker entsprechender Maßnahmen, dass Eingriffe in das ZNS das »Ich-Bewusstsein« einer Person verändern, zu einem Identitätsverlust und – damit einhergehend – zu inauthentischen Verhaltensweisen führen könnten. Befürworter begreifen die Möglichkeiten des Neuro-Enhancements dagegen als ein zulässiges Mittel auf dem Weg zur autonomen Gestaltung eines authentischen Selbst. Es ist jedoch zunächst zu klären, ob überhaupt und in welchem Ausmaß Neurotechnologien in die Persönlichkeit eines Menschen, seine Identität und Authentizität eingreifen können. Mit Blick auf die mögliche Beeinflussung von Gedächtnisleistungen (Memory Enhancement) und die Modifikation von Gefühlszustanden (Mood Enhancement) sollen einige ethische Argumente für und gegen das Neuro-Enhancement überprüft werden.

4.1 Gedächtnis und Identität Neuro-Enhancement im Sinne der Beeinflussung von Gedächtnisleistungen kann sowohl das verbesserte Memorieren von Fakten, Situationen oder Gefühlen umfassen als auch das Abschwächen bzw. Auslöschen von Erinnerungen; z.B. an traumatische Erlebnisse.53 Die Frage nach damit etwaig verknüpften Identitätsveränderungen hängt zunächst von der Definition personaler »Identität« ab. Folgt man hier z.B. maßgeblichen Autoren wie Dieter Birnbacher, Michael Quante oder David DeGrazia, so gibt es zwei sehr unterschiedliche Konzepte von Identität: einerseits personale oder numerische Identität, womit die Identität bzw. Persistenz der physischen Grundvoraussetzungen einer Person über die Zeit hinweg bezeichnet wird und mit deren Änderung die Person X aufhört, als X zu existieren; andererseits persönliche, psychologische oder narrative Identität, welche die Selbstwahrnehmung einer Person umfasst, ihre zentralen Wertvorstellungen,

52 | Vgl. Dieter Birnbacher: »Hirngewebstransplantation und neurobionische Eingriffe. Anthropologische und ethische Fragen«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 3, Berlin, New York 1998, hier S. 83. 53 | Vgl. President’s Council: Beyond Therapy, Kap. 5.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

270 | Davinia Talbot, Julia Wolf ihre Biographie, ihre Identifikation mit Menschen, Tätigkeiten und Rollen.54 Eine Veränderung der numerischen Identität durch gedächtnisverändernde Mittel halten die genannten Autoren allerdings derzeit nicht für gegeben. Sollte die numerische Identität eines Tages jedoch tangiert sein, müsste das Verfahren als moralisch falsch abgelehnt werden, da die Person dadurch faktisch ausgelöscht werden würde.55 Demnach scheint derjenige Identitätsbegriff, der in Neuro-Enhancement-Fragen heute vor allem zur Disposition steht, jener der psychologischen Identität zu sein. Nun unterliegt diese aber auch ohne Neuro-Enhancer einer ständigen, zumindest partiellen, Veränderung (z.B. durch Erziehung oder Erfahrung). Entsprechend wären Veränderungen der psychologischen Identität im Rahmen des Neuro-Enhancements nur dann von Relevanz, wenn sie so umfassend sind, dass sie die psychologische Existenz einer Person vollständig in Frage stellen. Eine pharmakologische o.ä. Verbesserung des Gedächtnisses ergänzt zwar unsere Persönlichkeit um die Qualität, sich Dinge, Personen und Sachverhalte besser merken zu können, doch sie behindert die Identitätsbildung und -erhaltung nicht im gemeinten Sinne. Ja, sie wird vermutlich sogar dazu beitragen, die eigene Lebensgeschichte besser memorieren zu können.56 Demgegenüber wirft die »Löschung« von Gedächtnisinhalten ernsthafte Probleme auf, und zwar auch dann, wenn in einem wohlmeinenden Sinn die Löschung von traumatischen und für die Psyche nachteiligen Erinnerungen vorgenommen wird. Larry Cahill und später auch Roger Pitman verabreichten Probanden – zeitlich dicht auf ein emotional beeinträchtigendes Ereignis – so genannte Beta-Blocker. Die Probanden bewerteten die 54 | Vgl. Birnbacher: »Hirngewebstransplantation und neurobionische Eingriffe«; Michael Quante: Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt/M. 2002; David DeGrazia: »Enhancement Technologies and Human Identity«, in: Journal of Medicine and Philosophy, 30/ 2005. 55 | Man nehme das – bis auf weiteres fiktive – Beispiel einer Gehirntransplantation. 56 | Allerdings sei hier nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Verlust der Eigenschaft, Gedächtnisinhalte zu selektieren, zu massiven Problemen führen würde. Für die Lebenstüchtigkeit eines Menschen scheint es überaus wichtig zu sein, sich nicht an jedes Detail erinnern zu können. Informationen müssen gewichtet, unwichtige Fakten vergessen werden, damit entscheidende Daten behalten werden können. Erinnert sei an den berühmten Fall der Patienten Shereshevskii, der über ein photographisches Gedächtnis verfügt, jedoch unfähig ist, normale menschliche Beziehungen einzugehen. Dazu Aleksandr Luria: The Mind of a Mnemonist: A little book about a vast memory, New York 1968.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 271

vermeintlich traumatische Situation im Nachhinein emotional neutral bzw. entwickelten signifikant seltener ein posttraumatisches Stresssyndrom.57 Dennoch dürfte die selektive Auslöschung von Gedächtnisinhalten moralisch fragwürdig sein, da die narrative oder psychologische Identität einer Person in zwei Aspekten beeinträchtigt werden kann: Erstens wird durch eine Auslöschung von Erfahrungen und Situationen die Kontinuität oder Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte durchbrochen, indem Personen sich mit ihrer Geschichte und den damit verbundenen Emotionen in entscheidenden Hinsichten nicht mehr auseinandersetzen und bei der Verortung und weiteren Entwicklung des Ichs nicht mehr auf eine valides Aufzeichnungsinstrument, ihr Gedächtnis, zugreifen, sondern vielmehr wichtige Informationen verlieren: »Memory is important not only for retaining knowledge of what we can do [but also for enabling] us to ›know‹ […] who we are«.58 Die sich daraus ergebenden Identitätsprobleme können auch am Beispiel von Alzheimerpatienten illustriert werden, deren narrative Identität krankheitsbedingt verzerrt und im weiteren Verlauf der Erkrankung sogar zerstört werden kann. Einen vergleichbaren informationsdeprivierten Zustand mit einer Neuro-Enhancement-Maßnahme gezielt herbeizuführen, wäre mit dem Verweis auf das gutes Leben und die bei gutem und überlegtem Handeln vorauszusetzende Informiertheit des Individuums als fragwürdig zu bezeichnen. Zweitens hat die Erinnerung an tief greifende Ereignisse oft auch einen das Gewissen bildenden und formenden Aspekt: Straftaten, wie z.B. Mord, könnten durch eine Extinktion des entsprechenden Gedächtnisinhaltes nicht mehr subjektiv verantwortet und gestanden werden. Der wichtige edukative, moralbildende Aspekt, der aus der Erinnerung an die moralische Qualität von Handlungen gewonnen werden kann, würde damit für die narrative Identität unterminiert. Gegen diese Kritik macht DeGrazia jedoch das Ideal einer »Schöpfung des Ichs« (self-creation) stark, demzufolge selbst noch die Eliminierung von Gedächtnisinhalten Ergebnis einer autonomen Entscheidung sein kann und daher der individuellen Abwägung unterliegen soll. Einwenden könnte man hier jedoch, dass Autonomie immer dann an ihre Grenzen stößt, wenn autonome Handlungen zur Schädigung anderer führen oder wenn es bei diesen Handlungsentscheidungen um die Belange nicht einwilligungsfähiger Erwachsener bzw. Kinder geht. Zu bedenken bleibt also, dass die von DeGrazia vorgeschlagene, liberale Handhabung von 57 | Vgl. Larry Cahill u.a.: »Beta-adrenergic Activation and Memory for Emotional Events«, in: Nature, 371/1994, S. 702-704; Roger Pitman: »Pilot Study of Secondary Prevention of Posttraumatic Stress Disorder With Propranolol«, in: Biological Psychiatry, 51/2002, S. 189-192. 58 | President’s Council: Beyond Therapy, S. 214.

2006-02-06 17-38-48 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

272 | Davinia Talbot, Julia Wolf (Neuro-)Enhancern auch insofern ein Missbrauchspotenzial birgt, als sie andere Menschen schädigen kann.

4.2 Persönlichkeit und Emotion Peter Kramer diskutiert den Fall der Patientin Julia, einer perfektionistischen Krankenschwester, die durchweg alles in ihrem beruflichen und privaten Umfeld, z.B. ihre Hausarbeit, genau entsprechend ihren Vorstellungen erledigt haben möchte; was oftmals zu Konflikten führt.59 Zudem ist Julia beruflich sehr unzufrieden, da sie für ihre Teilzeitstelle in einem Altenheim überqualifiziert ist. Kramer verordnet Julia das Antidepressivum Prozac, und es stellen sich relativ schnell verblüffende Änderungen ein: Julia kann sich nun besser entspannen und reagiert auf Stress und Konflikte gelassener. Dadurch verbessert sich das Verhältnis zu ihrer Familie, und Julia schafft es sogar, einen besser qualifizierten Job zu bekommen. Als Prozac jedoch zunächst reduziert, dann abgesetzt wird, verwandelt sich Julia wieder in ihr altes, perfektionistisches Selbst. In dieser Situation verlangt sie nach einer erneuten Verabreichung des Wirkstoffs, um wieder »sie selbst« zu sein. Unter dem Einfluss von Prozac scheint sich Julias Persönlichkeit verändert zu haben. Und sie selbst nimmt diese Veränderung als positiv wahr. Unter dem Begriff der Persönlichkeit werden hier, nach Quante60, jene zentralen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten eines Individuums verstanden, um deren Persistenz die betreffende Person weiß. Selbst wenn man nicht so weit gehen möchte, in Julias Fall von einer derart einschneidenden Persönlichkeitsveränderung zu sprechen, so wird man doch zugestehen müssen, dass Prozac eine erhebliche Wirkung auf Julias Gefühlswelt und Wahrnehmung hat. Person und Emotion sind über das autobiographische Gedächtnis stark miteinander verbunden. Positive oder negative Gefühle sind eng mit den Erfahrungen und Erlebnissen einer Person verknüpft und haben damit Einfluss auf den Charakter und die Eigenschaften einer Person, so wie sie von anderen wahrgenommen werden. Emotionen wirken darüber hinaus verhaltensmodifizierend und damit persönlichkeitsformend. Eine scheue Person z.B. ist vielleicht dadurch scheu geworden, dass öffentliche Auftritte für sie mit negativen Gefühlen

59 | Vgl. Kramer: Listening to Prozac. Der Autor schließt die Diagnose einer Zwangserkrankung bei Julia aus. Wir übernehmen diese Annahme und diskutieren den Fall ausdrücklich nicht unter dem Gesichtspunkt einer latent behandlungsbedürftigen Neurose, sondern als Problematik echten Enhancements. 60 | Quante: Personales Leben, Kap. 5.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 273

einhergingen.61 Prozac und ähnliche Substanzen sollten daher auf ihr persönlichkeitsveränderndes Potenzial hin untersucht werden. Kann die pharmakologische Beeinflussung von Emotionen und Stimmungen die psychologische und narrative Identität einer Person tatsächlich grundlegend verändern und sie sozusagen zu einem anderen Menschen machen? Im Fall von Julia gewinnen wir zumindest den Eindruck, dass sie von sich selbst, aber auch von ihrem Umfeld als verändert wahrgenommen wird. Ist Julia unter dem Einfluss von Prozac immer noch Julia oder nimmt ihr das Medikament den Kern ihrer »eigenen«, wenn auch unerwünschten, Persönlichkeit? Gegner wie Befürworter von Neuro-Enhancement beschäftigen sich in ihren Erörterungen mit zwei zentralen Fragekomplexen, die für die Klärung der Zulässigkeit entsprechender Maßnahmen wichtig sind: Zum einen lässt sich fragen, ob es überhaupt so etwas wie eine »Kernpersönlichkeit« gibt und, wenn ja, ob diese durch Neuro-Enhancer zwar tangiert, aber nicht verletzt werden darf. Zum anderen gilt es zu diskutieren, ob und inwiefern die genannten Mittel Einfluss auf ein gutes, glückliches Leben nehmen. Vorab: Das Hervorrufen von Gefühlen, die an kein situatives Korrelat gebunden sind, die also durch permanent angenehmes Empfinden zu einer profunden, systematischen Missinterpretation der Realität verleiten würden, wird sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern des Neuro-Enhancements für ethisch sehr bedenklich gehalten. Carl Elliott z.B. spricht in diesem Zusammenhang von »Escapismus«.62 Nach DeGrazia gehören allerdings weder die geistige Konstitution (internal psychological style) noch die Persönlichkeit selbst zum unverletzlichen Kern einer Person.63 Erziehung, psychologische Beratung und Selbstreflexion seien, wie auch Caplan betont64, konventionelle Methoden, nach denen Menschen seit jeher ihre Persönlichkeit gemäß individuellen oder auch gesellschaftlichen Wünschen formen. Letztlich, so DeGrazia, sei es nicht einmal mit der Autonomie der Betroffenen vereinbar, gegen deren Wünsche und Interessen an einigen ihrer Eigenschaften dauerhaft festzuhalten. Vielmehr wäre ein verantwortungsbewusster Einsatz von Neuro-Enhancern ein anzuerkennendes Mittel auf dem Weg zur kreativen Erschaffung eines eigenen Ich.65 61 | Es ist klar, dass die Verbindung von Emotion und Persönlichkeit hier nur holzschnittartig skizziert werden kann. 62 | Carl Elliott: Better than well. American medicine meets the American dream, New York 2003, S. 295. 63 | Vgl. DeGrazia: »Enhancement Technologies and Human Identity«, S. 272f. 64 | Vgl. Arthur Caplan: »Is better best?«, in: Scientific American, 289/2003, S. 104. 65 | Vgl. David DeGrazia: »Prozac, Enhancement, and Self-Creation«, in: The Hastings Center Report, 30/2000, S. 34-40.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

274 | Davinia Talbot, Julia Wolf Dieser Ansatz betont das Autonomieprinzip als Grundlage guten Lebens und begreift die Möglichkeiten des Neuro-Enhancements als positive Erweiterung jenes Handlungsspielraums, innerhalb dessen Individuen selbstverantwortlich entscheiden können. Ist Julias Entscheidung für Prozac deshalb moralisch vertretbar? Elliott und auch der President’s Council bezweifeln dies. Gegen die von DeGrazia propagierte maximale Persönlichkeitsdynamik wird etwa von Elliott das Modell eines »wahren«, im Fühlen, Leben und Handeln authentischen Selbst gesetzt.66 Nach dieser Auffassung gilt es, innerhalb des eigenen Lebenszusammenhangs eben diesen eigenen, wahren Kern möglichst unverstellt zu entdecken. Stimmungsbeeinflussende Pharmaka sind mit diesem Vorhaben nur schwer vereinbar, da sie Gefühle evozieren, die nicht wirklich die eigenen sind. Julias Gefühle und Stimmungen unter dem Einfluss von Prozac wären nach Elliott nicht authentisch zu nennen, und ihre Forderung nach einer Fortsetzung der Behandlung wäre unter dieser Perspektive nicht akzeptabel. Elliot befürchtet vielmehr, dass das aufwandsarme Instrument des Neuro-Enhancers Menschen dazu verleiten könnte, dem gesellschaftlichen Druck des Ideals eines stetigen Glücklichseins zu erliegen. Dagegen sollte sich unsere Vorstellung von einem guten Leben nicht auf das Empfinden von Glück beschränken, sondern auch die Wahrhaftigkeit von schlechten Gefühlen, wie z.B. Entfremdung angesichts von unangenehmen Situationen, berücksichtigen.67 Neuro-Enhancer greifen in einen physiologischen Reaktionsmechanismus ein, verschleiern die negativen emotionalen Auswirkungen unangenehmer Erfahrungen und verhindern so, dass die Energie, die auch aus emotional negativ aufgeladenen Situationen folgen kann, für eine letztlich positive Veränderung der eigenen Lebensweise genutzt wird. Damit ist der Vorwurf einer am Ende unkritischen Perpetuierung fragwürdiger individueller oder gesellschaftlicher Umstände durch Neuro-Enhancement formuliert.68

5. Ausblick Wir haben zunächst auf die Mittel und Möglichkeiten von Neuro-Enhancement hingewiesen, um dann der Frage nach der ethischen Beurteilung entsprechender Praktiken nachzugehen. Es wurden große Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zwischen der Enhancement-Debatte im Allgemeinen und der Diskussion um Neuro-Enhancement im Besonderen festgestellt, 66 | Vgl. Elliott: Better than well. 67 | Vgl. Carl Elliott: »Pursued by Happiness and Beaten Senseless: Prozac and the American Dream«, in: The Hastings Center Report, 30/2000, S. 7-12. 68 | Vgl. President’s Council: Beyond Therapy, S. 257.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 275

bei dem ja das Erfolgsorgan der Verbesserungsbemühungen zugleich das Objekt entsprechender Eingriffe ist. Anschließend wurde mit Blick auf gedächtnis- und stimmungsbeeinflussende Psychopharmaka die Bedeutung von personaler Identität und Authentizität bei der ethischen Beurteilung von Enhancement-Maßnahmen herausgestrichen. Prominente Befürworter des Neuro-Enhancements betonen das Autonomieprinzip als für die Authentizität der Person maßgeblich und plädieren daher für individuelle Wahlfreiheit auch in Bezug auf die Anwendung von Neuro-Enhancern. Deren Kritiker jedoch lehnen das Neuro-Enhancement aus nahezu denselben Gründen ab, weil sie die Authentizität und Identität der Konsumenten, die Wahrhaftigkeit ihrer Gefühle und Erfahrungen gefährdet sehen.69 Man könnte nun den Kritikern des Neuro-Enhancements vorwerfen, unangemessen vorsichtig und ablehnend zu argumentieren. Die weitere Debatte jedenfalls sollte vier – hier jeweils nur kurz angerissene – Problemfelder eingehender beleuchten: Erstens müsste sich die Annahme einer prinzipiellen Gefährdung von Autonomie und Authentizität erst noch als plausibel erweisen. Zweitens wären die Konsequenzen der Anwendung von Neuro-Enhancern auf unser Konzept von Urheberschaft und moralischer Verantwortung zu untersuchen. Drittens sollten die gesellschaftlichen Langzeitfolgen einer gesteigerten Neuro-Enhancement-Praxis beleuchtet werden. Viertens schließlich wäre zu überlegen, ob ein breiter Einsatz von pharmakologischen u.ä. Hilfsmitteln zur Verbesserung geistiger Leistungen und emotionaler Fähigkeiten nicht eine gänzlich neue Konzeption des Normalen und Guten hervorbringen würde, deren Realisierung fortan allein noch durch moderne Neurotechnologien möglich wäre. Käme eine solche Form von Normalität nicht einer Selbsttäuschung gleich, mit der wir uns über die eigentliche Natur unserer individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften hinwegtrösten und uns zudem in die Abhängigkeit von entsprechenden Techniken und Substanzen begeben würden?

69 | Offen geblieben ist die Frage nach dem potenziellen Adressatenkreis der Neuro-Enhancer. Bei Kindern und anderen nicht einwilligungsfähigen Patienten birgt deren Einsatz die Gefahr, dass die mentalen Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften der zu Behandelnden nach Fremdvorstellungen, in diesem Fall der Eltern oder des Arztes, geformt und verändert werden. Dan Brock spricht hier von der Kategorie paternalistischen Brain Enhancements; vorstellbar z.B. im Kontext von sozial unerwünschten Verhaltensweisen wie Aggressivität und Gewaltbereitschaft, aber auch im Zusammenhang von Drogensucht. Vgl. ders.: »Enhancements of Human Function: Some Distinctions for Policymakers«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 48-69.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

276 | Davinia Talbot, Julia Wolf

Literatur Abbott, Alison: »Deep in Thought«, in: Nature, 436/2005, S. 18-19. Ach, Johann S./Quante, Michael (Hg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart, Bad Cannstatt 1997. Babcock, Quinton u.a.: »Student Perceptions of Methylphenidate Abuse at a Public Liberal Arts College«, in: Journal of American College Health, 49/ 2000, S. 143-145. Beracochea, Daniel u.a.: »Enhancement of learning processes following an acute modafinil injection in mice«, in: Pharmacology Biochemistry and Behaviour, 76/2003, S. 473-479. Birnbacher, Dieter: »Hirngewebstransplantation und neurobionische Eingriffe. Anthropologische und ethische Fragen«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. 79-96. Boroojerdi, Babak u.a.: »Enhancing analogic reasoning with rTMS over the left prefrontal cortex«, in: Neurology, 56/2001, S. 526. Bothe, Hans Werner u.a.: »Alterations of sociomoral judgement and glucose utilization in the frontomedial cortex induced by electrical stimulation of the subthalamic nucleus (STN) in Parkinsonian patients«, auf: http: //www.egms.de/en/meetings/dgnc2004/04dgnc0207.shtml (Stand: 20. September 2005). Brock, Dan W.: »Enhancements of Human Function: Some Distinctions for Policymakers«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 48-69. Cahill, Larry u.a.: »Beta-adrenergic Activation and Memory for Emotional Events«, in: Nature, 371/1994, S. 702-704. Caldwell, John A. u.a.: »A double-blind, placebo-controlled investigation of the efficacy of modafinil for sustaining the alertness and performance of aviators: A helicopter simulator study«, in: Psychopharmacologia, 150/ 2000, S. 272-282. Caplan, Arthur: »Is better best?«, in: Scientific American, 289/2003, S. 104. Chatterjee, Anjan: »Cosmetic Neurology«, in: Neurology, 63/2004, S. 968974. Cole-Turner, Ronald: »Do means matter?«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 151-161. Daniels, Norman: »Normal functioning and the Treatment-Enhancement Distinction«, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics, 9/2000, S. 309-322. DeGrandpre, Richard: Ritalin Nation, New York, London 2000. DeGrazia, David: »Prozac, Enhancement, and Self-Creation«, in: The Hastings Center Report, 30/2000, S. 34-40.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Dem Gehirn auf die Sprünge helfen | 277

DeGrazia, David: »Enhancement Technologies and Human Identity«, in: Journal of Medicine and Philosophy, 30/2005, S. 261-283. Diller, Lawrence H.: »The Run on Ritalin. Attention Deficit Order and Stimulant Treatment in the 1990’s«, in: The Hastings Center Report, 26/ 1998, S. 12-18. Donoghue, John P.: »Connecting Cortex to Machines: Recent Advantages in Brain Interfaces«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2002, S. 10851088. Elliott, Carl: »Pursued by Happiness and Beaten Senseless: Prozac and the American Dream«, in: The Hastings Center Report, 30/2000, S. 7-12. Elliott, Carl: Better than well. American medicine meets the American dream, New York 2003. Farah, Martha J. u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421425. Freedman, Carol: »Aspirin for the mind? Some ethical worries about psychopharmacology«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 135-150. Fukuyama, Francis: Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002. George, Mark S./Belmaker, Haim: Transcranial Magnetic Stimulation in Neuropsychiatry, Washington D.C. 2000. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2002. Hall, Stephen S.: »The Quest for a Smart Pill«, in: Scientific American, 289/ 2003, S. 54-65. Hauser, Stephen L.: »The Shape of Things to Come«, in: Neurology, 63/ 2004, S. 948-950. Heinrichs, Jan-Hendrik: »Ethische Aspekte der Neurobionik«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 8, Berlin, New York 2003, S. 201-225. Juengst, Eric T.: »What Does Enhancement Mean?«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 29-47. Kass, Leon: »Ageless Bodies, Happy Souls: Biotechnology and the Pursuit of Perfection«, in: The New Atlantis, Spring 2003, S. 9-28. Klerman, Gerald L.: »Psychotropic Hedonism vs. Pharmacological Calvinism«, in: The Hastings Center Report, 2/1972, S. 1-3. Kramer, Peter D.: Listening to Prozac: A Psychiatrist explores antidepressant drugs and the remaking of the self, New York 1993. Lenk, Christian: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002. Little, Margret Olivia: »Cosmetic Surgery, Suspect Norms and the Ethics of Complicity«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 162-176.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

278 | Davinia Talbot, Julia Wolf Luria, Aleksandr: The Mind of a Mnemonist: A little book about a vast memory, New York 1968. Maguire, Gerald Q./McGee, Ellen M.: »Implantable Brain Chips? Time for Debate«, in: The Hastings Center Report, 29/1999, S. 7-13. Murray, Thomas: »Drugs, Sports and Ethics«, in: ders. u.a. (Hg.): Feeling good and doing better: Ethics and non-therapeutic drug use, Clifton 1984, S. 107-126. Nicolelis, Miguel: »Actions From Thoughts«, in: Nature, 409/2001, S. 403407. Parens, Erik (Hg.): Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. Pawlenka, Claudia (Hg.): Sportethik: Regeln – Fairness – Doping, Paderborn 2004. Pitman, Roger: »Pilot Study of Secondary Prevention of Posttraumatic Stress Disorder With Propranolol«, in: Biological Psychiatry, 51/2002, S. 189-192. President’s Council on Bioethics (Hg.): Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003. Quante, Michael: Personales Leben und menschlicher Tod: Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt/M. 2002. Rose, Steven P. R.: »›Smart Drugs‹: Do They Work? Are They Ethical? Will They Be Legal?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 3/2002, S. 975-979. Schlich, Thomas: Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt/M. 2001. Siep, Ludwig: »Natur als Norm? Zur Rekonstruktion eines normativen Naturbegriffs in der angewandten Ethik«, in: Dreyer, Mechthild/Fleischhauer, Kurt (Hg.): Natur und Person im ethischen Disput, Freiburg, München 1998, S. 191-206. Tal, Burt u.a.: »Neuropsychiatric Applications of Transcranial Magnetic Stimulation: a Meta Analysis«, in: International Journal of Neuropsychopharmacology, 5/2002, S. 73-103. Tully, Tim u.a.: »Targeting the CREB Pathway for Memory Enhancers«, in: Nature Reviews Drug Discovery, 2/2003, S. 267. Volkow, Nora u.a.: »Evidence that methylphenidate enhances the saliency of a mathematical task by increasing dopamine in the human brain«, in: American Journal of Psychiatry, 161/2004, S. 1173-1180. Walsh, James u.a.: »Modafinil improves alertness, vigilance, and executive function during simulated night shifts«, in: Sleep, 27/2004, S. 434-439. Whitehouse, Peter. J. u.a.: »Enhancing Cognition in the Intellectually Intact«, in: The Hastings Center Reports, 27/1997, S. 14-22. Wolpe, Paul Root: »Treatment, Enhancement and the Ethics of Neurotherapeutics«, in: Brain and Cognition, 50/2002, S. 387-395.

2006-02-06 17-38-49 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 253-278) T04_02 talbot wolf.p 107239500534

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 279

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit. Was wäre dagegen einzuwenden? Bettina Schöne-Seifert

Einleitung Der Einsatz medizinischer Mittel zur Leistungssteigerung bei Gesunden (»Enhancement«) avanciert gegenwärtig zu einem Modethema der Medizinethik.1 Dabei rücken neben Schönheitschirurgie, Doping im Leistungssport oder Potenzpillen zunehmend Möglichkeiten eines kognitiven oder psychischen Enhancements in den Blick der Ethiker – Maßnahmen etwa zur Verbesserung des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit oder der Stimmung.2 An Möglichkeiten des Mind-Doping wird mit hoher Intensität geforscht; nicht zuletzt deshalb, weil die Pharmaindustrie einen großen Absatzmarkt für Schlauheits- oder Glückspillen erwartet. Erhofft werden potente Mittel zur Steigerung der Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit, Pillen zur wirksamen Kompensation von Schlafmangel oder Medikamente zur Stabilisierung der Psyche, zur signifikanten Verbesserung 1 | Vgl. etwa President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003; Erik Parens (Hg.): Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. 2 | Vgl. etwa Martha J. Farah u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What Can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421425; Michael S. Gazzaniga: The Ethical Brain, Chicago 2005, Part II; Anjan Chatterjee: »Cosmetic Neurology. The Controversy Over Enhancing Movement, Mentation, and Mood«, in: Neurology, 63/2004, S. 968-974; Richard J. DeGrandpre: Ritalin Nation, New York, London 1999; Carol Freedman: »Aspirin for the Mind?«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 135-150.

2006-02-06 17-38-50 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

280 | Bettina Schöne-Seifert sozialer Kompetenzen und zur Steigerung des Wohlbefindens. Zum jetzigen Zeitpunkt sind solche Stimulanzien entweder noch nicht reif für den klinischen Einsatz oder aber nur zur Verwendung bei wirklich Kranken zugelassen. Gleichwohl nehmen offenbar bereits jetzt viele gesunde Menschen das ADHS-Medikament Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat) oder das Antidepressivum Fluctin/Prozac (Wirkstoff: Fluoxetin) ein, um sich für berufliche oder soziale Stress-Situationen »fitter« zu machen. Und offenbar halten viele Nutzer diese Mittel auch für so wirksam, dass sie diese dauerhaft oder wiederholt einnehmen. Zahlen für solchen off-label-Einsatz in Deutschland sind, soviel ich weiß, bisher nicht erhoben worden. In den USA sollen mancherorts bis zu 15 Prozent der College-Studenten vor Examina zu psychoaktiven Drogen – namentlich Ritalin – greifen und zudem soll sich das amerikanische Verschreibungsvolumen für Antidepressiva in den letzten Jahren viel stärker erhöht haben als die Zahl der als depressiv diagnostizierten Patienten.3 Ganz gewiss wird sich dieser Trend in dem Maße verstärken, wie wirksame und nebenwirkungsarme Mittel auf den Markt kommen, so dass eine ethische Auseinandersetzung mit Fragen des Mind-Doping keineswegs nur ein Glasperlen-Spiel ist.

1. Eingrenzung der behandelten ethischen Fragestellung Wie wohl für alle Formen von Enhancement stellen sich auch für dessen neuro-spezifische Varianten Fragen nach 1) Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen der Interventionen; 2) Auswirkungen auf das individuelle Wohlergehen des Nutzers; 3) Verteilungsgerechtigkeit (in der Zugänglichkeit der diskutierten Optionen); 4) Faktoren, welche die Autonomie individueller Entscheidungen für oder wider ein Mind-Doping verletzen könnten. Alle diese komplexen Problemfelder haben offensichtliche Entsprechungen in anderen Bereichen der Ethik und insbesondere der Medizinethik: Das erste ist etwa bei der Beurteilung sämtlicher neuer medizinischer Interventionen zu bearbeiten. Das zweite – die Frage nach dem gelingenden Leben, seiner Ermöglichung und Gefährdung – ist ein Grundthema ethischen 3 | Vgl. Farah u.a.: »Neurocognitive Enhancement«. Siehe auch Stephen S. Hall: »The Quest for a Smart Pill«, in: Scientific American, 289/2003, S. 54-65; sowie zum Ritalin-Konsum die kritische Abhandlung von DeGrandpre: Ritalin Nation.

2006-02-06 17-38-50 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 281

Nachdenkens. Es steht im Hintergrund aller Überlegungen zu Nutzen, Schaden und Wert medizinischer Interventionen und berührt damit auch den dritten Problembereich. Hier nämlich, bei der distributiven Gerechtigkeit, spielt die potenzielle Bedeutung der knappen Güter, um deren Verteilung es geht, eine wesentliche Rolle. Und schließlich stehen Aspekte der Selbstbestimmung und ihrer möglichen Gefährdungen im Mittelpunkt vieler ethischer Überlegungen – nicht zuletzt der Medizinethik. Je liberaler und individualistischer deren grundlegende Ausrichtung, desto wichtiger wird es, das Augenmerk auf offene oder latente Zwangs- oder Manipulationsmechanismen zu richten, welche die erstrebten Entscheidungsfreiräume konterkarieren würden. Im Kontext von Neuro-Enhancement steht zu befürchten, dass Individuen, die bewusst auf entsprechende Maßnahmen verzichten wollen, mit ihren gedopten Kollegen oder Konkurrenten nicht mehr mithalten könnten, oder dass Arbeitgeber solche Interventionen verlangen könnten; etwa beim Militär oder in anderen Berufen, in denen ein hohes – und durch Doping einzugrenzendes – Risiko besteht, gravierende Fehler zu machen. Während im Kontext des Neuro-Enhancements alle diese Aspekte bereits gegenwärtig die Aufmerksamkeit der Ethik auf sich ziehen und in Zukunft sicher verstärkt auf sich ziehen werden, soll es im Folgenden allein um Punkt (2) der obigen Liste gehen; und auch hier wiederum nur um ein Detailproblem. Fragen nach dem Nutzenpotenzial von Enhancement-Maßnahmen spannen den interessantesten und zentralsten ethischen Bereich des Themas auf. Um hierhin vorzudringen, soll angenommen werden, solche Maßnahmen wären – eines Tages – hochgradig und selektiv wirksam, steuerbar und nebenwirkungsarm. Weiter sei angenommen, unsere zukünftigen Gesellschaften hätten alle Probleme der Fairness und Autonomie bei deren Nutzung wie Nicht-Nutzung zufrieden stellend gelöst: Erst dann stellen sich Fragen nach Lebensglück oder -unglück durch Enhancement mit voller Schärfe. Vielleicht erübrigen sie sich oder rücken in den Hintergrund, weil in der Realität eben doch die Risikoträchtigkeit der Eingriffe oder die mit ihnen zusammenhängenden Fairness- und Autonomiemängel deren Beurteilung anhaltend dominieren oder mitbestimmen. Doch hypothetisch sind die ethischen Kernfragen diejenigen nach der Zuträglichkeit und Unzuträglichkeit von smart oder happy pills für Lebensglück und Selbstverständnis der Nutzer. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, wie hochgradig komplex auch dieser Problemausschnitt ist und wie vieles hier zunächst spekulativ bleiben muss. Zum einen wissen wir wenig darüber, wie es sich anfühlt, geistig oder psychisch wirklich sehr viel leistungsfähiger zu werden. Auch wenn wir bei anderen Menschen immer wieder erleben, dass sie im Vergleich zu uns selbst in dieser und jener Hinsicht mental viel leistungsfähiger sind,

2006-02-06 17-38-50 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

282 | Bettina Schöne-Seifert sagt dies nichts darüber aus, wie solche Leistungssteigerungen sich aus der Innenperspektive anfühlen – insbesondere, wenn sie neu und sprungartig eintreten. Erst recht wissen wir nicht, wie es sich anfühlen würde, geistige Leistungen vollbringen zu können, die in ihrer Art oder Ausprägung bisher menschenunmöglich sind. Und schließlich kann man bloß Mutmaßungen darüber anstellen, wie wir unser Leben einrichten, führen und empfinden würden, wenn wir durch mentales Doping einen erheblichen Teil der Zeit einsparen könnten, die wir jetzt zur Bewältigung geistiger oder psychischer Alltagsarbeit benötigen. Ähnliches gilt für psychische Fähigkeiten, deren pharmazeutische »Herstellung« wir uns wünschen könnten oder würden: Wenn wir uns vorstellen, in einem extrem über unser bisheriges Vermögen hinausgehenden Maße empathiefähig, gelassen oder aufgeschlossen zu sein, stellen wir uns eigentlich jemanden vor, der wir erst werden müssten, bevor wir Vorher-Nachher-Vergleiche über Lebensqualität und -glück anstellen könnten. Unsere Einschätzungsmöglichkeiten bezüglich vieler gegenwärtig vorstellbarer und zukünftig realisierbarer Verbesserungen sind also notwendigerweise eingeschränkt.4 Diese Schwierigkeit allerdings entfällt, wenn man die Überlegungen zur individuellen Zuträglichkeit von Neuro-Enhancement auf solche Ziele beschränkt, die im Prinzip schon lange – nämlich auf andere, konventionelle Weise – erreichbar sind: durch Meditation, Gedächtnis- und Konzentrationstraining, Kaffee oder Nikotin für den Bereich des Kognitiven; durch verschiedene Formen der Psychotherapie für den Bereich der Gefühle und der psychischen Leistungen. Was neue und vor allem etwaige zukünftige Enhancement-Methoden diesen herkömmlichen Mitteln gegenüber vorzugswürdig macht bzw. machen würde, sind die Schnelligkeit, mit der sie wirken (etwa im Vergleich zu Training oder Psychotherapie) und die weitgehende Freiheit von Nebenwirkungen und Gewöhnungseffekten (etwa im Vergleich zu Kaffee oder Nikotin) – wenn diese Hoffnungen sich denn tatsächlich erfüllen sollten. Die begrenzte und hypothetische Frage lautet dann: Was spricht dagegen, die umschriebenen kognitiven oder psychischen Verbesserungen, die Menschen schon immer mehr oder weniger erfolgreich angestrebt haben, auf medikamentöse oder andere technische Weise zu verfolgen und zu erreichen anstatt mit den mühseligen, zeitaufwendigen, unsicheren oder riskanten Methoden, derer wir uns dafür bisher bedienen? Anders formuliert:

4 | Diese Aussage soll nicht als Behauptung eines (möglichen) Identitätsverlustes durch Enhancement verstanden werden. Zu diesem Thema äußere ich mich hier nicht.

2006-02-06 17-38-50 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 283

Was spricht gegen Pillen statt Kaffee, vor allem aber statt Training, gecoacht Werden, Psychohygiene etc.? Es ist diese Frage, der ich mich im Folgenden zuwenden möchte.

2. Chemisches Nachhelfen statt reellen Erarbeitens? Würden die in dieser Überschrift angeführten Alternativen etwa mit Blick auf das Doping im Leistungssport zur Beurteilung angeboten, so wäre wohl mit einem einstimmigen »Nein« zu rechnen. Allerdings wäre diese Ablehnung vermutlich unterschiedlich begründet. Die Standardargumente gegen das Sportler-Doping richten sich, erstens, gegen dessen Gefährlichkeit für die Gesundheit der nutzenden Sportler, zweitens, gegen deren unfaire, verheimlichte Wettbewerbsvorteile und, drittens, gegen den offenen oder latenten Doping-Druck, der z.T. auf Sportler ausgeübt wird und der selbst dann problematisch wäre, wenn weder Gefährdungs- noch Fairnessprobleme bestünden. Alle diese für eine ethische Beurteilung gewichtigen Aspekte sollen jedoch, so die Argumentationslinie des vorangehenden Abschnittes, für die hier anstehenden Überlegungen zum Neuro-Enhancement ausdrücklich ausgeklammert werden. Auch in den Debatten über das Sport-Doping werden diese Aspekte gelegentlich beiseite gelassen, stattdessen werden hypothetische Fragen danach gestellt, ob ethisch irgendetwas auch dann gegen das Doping spräche, wenn es eines Tages nebenwirkungsfrei durchführbar wäre und transparent gehandhabt würde. Die Standardantwort lautet dann, dass ethisch nichts dagegen spräche, aber Wettkämpfe unter lauter aufgeputschten, manipulierten Sportlern kaum jemanden wirklich interessieren würden. Es zählten nicht die Geschwindigkeiten, Distanzen oder Gewichte als solche, die beim Schwimmen, Skispringen oder Stemmen erbracht werden, sondern die dahinter stehende Trainingsarbeit und Selbstdisziplin nebst staunenswerter natürlicher Begabung. Nur letzteren bringe man Respekt und Bewunderung entgegen. Nicht dem Ziel selbst, sondern dem zielführenden Weg werde applaudiert – als individueller Leistung wie als kollektiver Möglichkeit.

2.1 Das Ziel statt des Wegs? Nicht einmal für das Leistungssport-Doping ist diese Antwort secunda facie überzeugend, zumindest nicht ohne weitere Argumente. Denn hinter der Unterscheidung zwischen dem Verdienst hart trainierender Sportler und der ruhmlosen medikamentösen Abkürzung des Trainingsprozesses steht die Vorstellung, das Erarbeiten sportlicher Hochleistungskompetenzen sei

2006-02-06 17-38-50 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

284 | Bettina Schöne-Seifert im Wesentlichen eine löbliche Eigenleistung. Je mehr wir aber über die genetisch determinierten biochemischen und physiologischen Details lernen, welche die notwendigen Voraussetzungen solcher Leistungen sind, desto fraglicher wird diese Zurechnung sportlicher Erfolge als Verdienst. Wenn etwa jemandes Blutsauerstoff sich nicht hinreichend hoch regulieren lässt und man medikamentös nachhelfen könnte – warum wäre das Ausnutzen dieser Möglichkeit etwas grundsätzlich anderes, als wenn ein Sportler den Halteapparat seiner Knie operativ verbesserte? Ist es überhaupt so klar, wo die Grenze zwischen unverdientem Glück in der naturgegebenen körperlichen Ausstattung eines Sportlers und seiner verdienten Eigenleistung liegt? Sind nicht auch Selbstdisziplin und psychische Belastbarkeit in Training und Wettkampf Eigenschaften, die jemandem zum wesentlichen Teil mit in die Wiege gelegt sind? Vor dem Hintergrund dieser irritierenden Fragen müsste man die Bewunderung für Hochleistungen vielleicht als Bewunderung natürlicher Begabung plus deren Beförderung mit natürlichen Mitteln verstehen. Doch wo die Grenze zwischen natürlichen und künstlichen Trainingsmitteln liegt, gerät angesichts moderner Trainingsmethoden mit Laktatbestimmungen und Fernreisen in klimatisch geeignete Übungslager ebenso ins Wanken wie jede Begründung für die bewundernde Auszeichnung des Natürlichen vor dem Künstlichen. Doch selbst wenn man diese – hier nicht weiter zu verfolgenden – Schwierigkeiten befriedigend gelöst hätte, bleibt die Übertragung dieser Argumentation auf den Bereich des Neuro-Enhancements grundsätzlich unplausibel. Denn wo es um psychische und kognitive Hochleistungen geht, wünschen wir, zumindest in vielen Fällen, diese Leistungen doch sehr wohl als solche bzw. als Bedingungen dafür, dass anstehende Aufgaben in besonders zuverlässiger, rascher oder beglückender Weise erledigt werden. Ob der Informatiker seine Kompetenzen durch autogenes Training oder Kaffeegenuss befördert oder ob er all dessen gar nicht bedarf, interessiert seinen Computerkunden ebenso wenig wie seinen Arbeitgeber. Und warum ist es von Bedeutung, ob die charmante Gastgeberin ihre sozialen Kompetenzen durch ein Glas Sekt befördert hat oder nicht? Die Ermöglichungsbedingungen solcher Leistungen werden deren Besitzer und Nutzer wohl insofern interessieren, als es ihnen um anhaltende, wiederholbare und nicht durch Nebenwirkungen erkaufte Leistungen gehen muss. Wenn der Informatiker ohne Kaffee nicht gut arbeiten kann, diesen aber nicht mehr verträgt, wäre das für seine berufliche Laufbahn störend. Aber darüber hinaus mindert bei geistigen und psychischen Leistungen das Nachhelfen(müssen) deren Wert doch wohl nicht grundsätzlich. Warum sollte dies im Fall des medikamentösen Nachhelfens anders sein als beim Meditieren, gecoacht Werden oder Rauchen? Zumindest für mentale »Leistungen«, die – wie

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 285

Gedächtnis, Konzentrationsvermögen oder Empathie – ihre Bedeutung vor allem durch Anwendung auf konkrete Gegenstände erhalten, ist die Unterstellung einer Wertminderung durch die Art ihrer Entstehung nicht überzeugend, solange diese Entstehungsweise ihrerseits keine problematischen Nebenwirkungen hat oder Rückschlüsse auf die Unzuverlässigkeit oder Irreversibilität der produzierten Leistung zulässt. Eine ganz andere Frage ist die nach der Zurechnung medikamentös unterstützter mentaler Leistungen. Auf den ersten Blick liegt es nahe, solche Leistungen weniger zu bestaunen als die Kapazitäten »naturbelassener Köpfe« und sie vergleichsweise weniger als das eigene Vermögen desjenigen zu verstehen, der sie erbringt. Aber auf den zweiten Blick könnte es sich hier verhalten wie im oben skizzierten Beispiel des Leistungssportlers, dessen naturbelassener Stoffwechsel ihm bessere Blutgaswerte bereitstellt, als sein Konkurrent sie aufweisen kann. Der Unterschied zwischen Eigenleistung und Nachhilfe entpuppt sich hier als ein Unterschied zwischen genetischem und medikamentösem Vorteil. Warum ersterer verdienstvoller sein sollte, leuchtet gar nicht mehr ein; die Rede von der »eigenen« Leistung ist deskriptiv korrekt, aber der Grad der Verantwortetheit, der ihr unterstellt werden darf, schwindet. Besonders irritierend sind solche Überlegungen für psychische Leistungen oder – a fortiori – für psychische Verfassungen und Dispositionen, sind diese doch in hohem Maße Grundlage für die Zuneigung, Wertschätzung, aber auch Abneigung, die wir jemandem entgegenbringen. Was aber, wenn die Heiterkeit, Empathie oder Begeisterungsfähigkeit unseres Gegenübers das Ergebnis von Psycho-Doping wäre? Wäre es verständlich und wäre es angemessen, wenn der verliebte Jüngling seine Angebetete weniger liebte und sich betrogen fühlte, wenn er hörte, dass ihr Wesen medikamentös induziert wäre? Zumindest einige caveats gegenüber solchen Schlussfolgerungen liegen auf der Hand: Erstens wirken alle Dopingpräparate selbstverständlich nur im Zusammenspiel mit zahllosen geeigneten weiteren Bedingungen, die zur »Natur« des Behandelten gehören. So wenig Muskelaufbaupräparate aus einem Stubenhocker einen Tour-de-France-Athleten machen, so wenig verwandelt ein Antidepressivum die Pechmarie in Frau Holles Goldmarie. Wenn es die »Natur« eines Menschen ist, die wir meinen, zu Recht lieben oder verachten zu dürfen, dann muss die zusätzliche Einnahme eines EnhancementPräparats daran nicht zwingend etwas ändern. Zweitens ist – siehe oben – auch diese Natur bei genauerem Hinsehen weniger verantwortet, als wir meinen. Die Vorstellung eines Wesens oder Charakters, für dessen Erarbeitung und Verfestigung sein Besitzer verantwortlich gemacht werden kann, wird in dem Maße wacklig, in dem wir et-

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

286 | Bettina Schöne-Seifert was über die neuronalen und frühkindlichen Determinanten des menschlichen Charakters hinzulernen. Was für den Triathleten gilt, gilt auch für den Philanthropen: Seine Leistungen verdanken sich – in früher ungeahntem Maße – den Launen der genetischen Lotterie und äußeren Umständen, für die er nicht verantwortlich zeichnet. Drittens muss die Einsicht in die Determiniertheit aller – auch der mentalen und charakterlichen – Leistungen eines Menschen an unseren alltagsüblichen Haltungen und Einschätzungen im Umgang mit anderen nicht unbedingt etwas ändern. Hier gilt Ähnliches wie in den gegenwärtigen Debatten um die Willensfreiheit als fragliche »Illusion«5: Wir brauchen oder bräuchten für die Theorie einen (kompatiblen) schwächeren Begriff von Verantwortung oder für den Umgang mit Straftätern ein anderes Schuldverständnis, aber für unsere sozialen Alltagspraktiken würde sich vielleicht gar nichts ändern müssen oder können.6 Ob wir jemanden mögen, weil er sich charakterlich zu dem gemacht hat, der er ist, oder weil er dazu geworden ist, macht vermutlich für den phänomenalen Aspekt unserer Zuneigung keinen Unterschied. Entscheidend ist vielmehr, dass dieser von uns Gemochte, der sein will, der er ist (siehe unten 2.4).

2.2 Charakterverluste durch Pillen-Abkürzung? Ein mit dem Voranstehenden zusammenhängendes Argument gegen Neuro-Enhancement verweist auf die charakterbildende Wirkung von geistiger Anstrengung und psychischer Arbeit. Gerade oder nur wer sich mühe und quäle, könne solche Tugenden wie Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen oder Nachsicht mit anderen entwickeln und verfestigen. Der rasche Griff zur Denk- oder Heiterkeits-Pille werde diese wünschenswerten Prozesse unnötig machen und damit zu einer psychischen, moralischen und ästhetischen Verarmung der Menschheit führen. So warnt etwa der US-amerikanische Ethikrat: »What is to be particularly feared about the increasingly common and casual use of mind-altering drugs, then, is not that they will induce us to dwell on happiness at the 5 | Offenkundig sind die hier angestellten Überlegungen in der Tat systematisch ein Teil dieser Debatte um Willensfreiheit, Verantwortung und Schuldzuweisung. Vgl. dazu etwa: Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004; Henrik Walter: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Autonomie, Paderborn 1998. 6 | Vgl. Peter F. Strawson: »Freedom and Resentment«, in: ders.: Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1-25.

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 287 expense of other human goods, but that they will seduce us into resting content with a shallow and factitious happiness.«7

Diesen düsteren Aussichten kann man unter bestimmten Bedingungen zustimmen: Wäre es tatsächlich so, dass mentale Doping-Pillen als Ersatz für Anstrengung und Arbeit herhalten könnten, dass sie Menschen von den Erfahrungen des Selbstzweifelns und Versagens, des Grübelns und des sich Quälens, aber auch des beglückenden Erfolges von Fleiß und Selbstdisziplin ganz und gar abkoppelten, könnte dies tatsächlich zu einem Menschentypus führen, den wir uns aus heutiger Sicht nicht wünschen würden. Doch auch hier scheinen Zweifel an der Plausibilität dieser Unterstellung angebracht: Nach den beschränkten bisherigen Erfahrungen mit Psycho-Enhancement durch Fluctin/Prozac wirkt dieses Medikament im günstigsten Fall unterstützend bei der psychischen Verarbeitung oder Bearbeitung von Wahrnehmungen innerer und äußerer Gegenstände; sei es im Alltag, in der Selbstexploration oder in einer Psychotherapie.8 Keineswegs jeder gesunde Nutzer fühlt sich unter Einnahme dieses Medikaments besser als zuvor. Im Gegenteil setzen etliche Patienten/Kunden das Präparat offenbar deshalb ab, weil sie sich von sich selbst entfremdet fühlen. Andere hingegen betonen gerade, sie hätten endlich zu sich selbst gefunden. Sie fügen die Stimmungsaufhellung erfolgreich in ihren Charakter ein, ohne diesen radikal zu ändern. Die Vorstellung jedenfalls, die Menschheit läge demnächst faul auf einer Apfelbaumwiese und putsche sich zwischendurch zu Hochleistungen auf, um die anfallenden geistigen Arbeiten zu erledigen oder um anstehende menschliche Interaktionen auf möglichst glatte und angenehme Weise hinter sich zu bringen, ist ziemlich absurd und durch nichts empirisch gedeckt. Ob Neuro-Enhancement dem individuellen Lebensglück zuträglich sein kann oder nicht, hängt – so scheint es mir – entscheidend davon ab, zu welchen Zielen und Zwecken es eingesetzt wird. Statt zu der von Kritikern befürchteten Trivialisierung der Lebenspläne und Hedonisierung der Lebenswelt beizutragen, könnten die erhofften Doping-Präparate ja auch in einer individuell fruchtbaren und sozial verantwortlichen Weise eingesetzt werden, um weniger Zeit fürs Lernen, Erfassen und Memorieren zu benötigen und dafür mehr künstlerische Arbeit und/oder Entwicklungshilfe zu leisten, um hier ein triviales Gegenbild zu umreißen. Ehrgeizig und neugierig, 7 | President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy, S. 269. 8 | Vgl. Peter D. Kramer: Listening to Prozac: A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self, Harmondsworth, New York 1993, bes. Kap. 9; Yoram Yovell: Der Feind in meinem Zimmer und andere Geschichten aus der Psychotherapie, München 2004, Kap. 1.

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

288 | Bettina Schöne-Seifert wie Menschen es sind oder sein können, lässt sich aber auch spekulieren, dass mit Hilfe künftiger Doping-Präparate, sollten diese sich denn wirklich als sicher und wirksam herausstellen, kühne neue Träume in Forschung und Innovation und im sozialen Umgang wahr gemacht werden könnten.

2.3 Überschätzte Pillen? Die Sorge vor dem Einsatz von Neuro-Enhancement lässt sich wohl in Teilen als die Annahme rekonstruieren, Pillen könnten kein Ersatz für Psychotherapie, Aufmerksamkeits-Puscher kein Äquivalent für echte Anstrengung sein. Was sie bestenfalls erreichen würden, seien punktuelle kognitive Verbesserungen oder subjektive Stimmungsglättungen – ohne dass die Effekte anhalten oder »tiefer« gehen. Diese Annahme ist keineswegs unbegründet, mag es sich doch durchaus herausstellen, dass viele der erhofften DopingEffekte durch die selbstregulativen Steuerungsmechanismen des Gehirns konterkariert werden, sich also nur als Kurzzeiteffekte produzieren lassen. Auch ist an dieser wie an allen anderen Stellen, bei denen es um Eingriffe in die komplexe und nur teilweise verstandene Natur geht, eine pragmatische Heuristik der Furcht empfehlenswert. Eine Nature knows better-Unterstellung ist so lange ein bewährter Schutz vor übereilten und riskanten Interventionen, bis der Stand der Forschung solide Vorhersagen gestattet. Als kategorisches Argument taugt diese Unterstellung allerdings ebenso wenig wie Befürchtungen über die relative Unwirksamkeit des Dopings, die sich nur empirisch bestätigen oder entkräften lassen. Überdies sollten die hier anzustellenden Überlegungen ja – um des Argumentes willen – die funktionale Äquivalenz von Psychotherapie und Psycho-Enhancement ebenso unterstellen wie die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der erhofften Medikamente.

2.4 Pillen statt Begründungen? Ein letzter elementarer Grund für eine skeptische Haltung gegenüber den Möglichkeiten und der ethischen Unbedenklichkeit speziell des Psycho-Enhancement hängt an der weit verbreiteten Intuition, dass Psychopharmaka eine geringere Eindringungstiefe hätten als die mentale Arbeit auf der Ebene von Urteilen und Begründungen. Aus dieser Wurzel speist sich die Vorstellung, tiefenpsychologische Exploration oder kognitive Verhaltenstherapie seien etwas prinzipiell anderes als das Einwerfen einer Glückspille: Das eine tangiere gewissermaßen das »Ich« in seiner geistigen Sphäre, das andere lediglich die Neurochemie des Gehirns. Psycho-Doping, so deute ich den Einwand, greife somit flacher und fremder in die Psyche ein als eine erfolgreiche Psychotherapie, gelange sozusagen nicht bis in den Kern der

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 289

persönlichen Urteile, sondern färbe nur die Oberfläche des Mentalen ein. Doch ein Patient/Kunde, dem es z.B. an Selbstbewusstsein oder Durchsetzungsvermögen mangele, benötige keine generelle medikamentöse Enthemmung, sondern müsse sich gezielt und angemessen mit seinem persönlichen Problem, dessen Entstehung und Beseitigung befassen. Abgesehen davon, dass diese Bedenken hinter die oben als hypothetische Prämisse geforderte Annahme zurückfallen, Pillen und Couch seien – empirisch überprüfbar – funktional äquivalent, steht diesem Rückfall ein Geist-Gehirn-Dualismus Pate, der in der Philosophie des Geistes fast generell als unplausibel und insofern überholt gilt. Gleichwohl halten wir offenbar in unseren Alltagsintuitionen hartnäckig an solchen dualistischen Vorstellungen fest, denen zufolge Gründe und Argumente einerseits und Rezeptoren und Botenstoffe andererseits nicht direkt miteinander zu tun haben. Neurophilosophisch lässt sich aber allein ein Monismus überzeugend vertreten, wonach auch das Sich-zu-Eigen-Machen von Gründen ein neurobiologisch realisiertes Phänomen ist, dessen Realisierung durch neurochemische Interventionen verändert, moduliert werden kann. Nach der Selbstexploration auf der Couch hat ein Patient ein im Vergleich zu vorher neurobiologisch verändertes Gehirn. Umgekehrt empfindet und argumentiert ein Patient unter Fluctin etwas anders als ohne dieses Medikament. Aber, so mag eingewendet werden, liegt es dann nicht nahe, das »naturbelassene« Argumentieren als das eigene und das medikamentös veränderte als fremd und aufgesetzt zu verstehen? Doch – allerdings in einem trivialen Sinne, der nicht zum Einwand gegen Psycho-Enhancement taugt. Denn »fremd« wäre dann auch das Denken eines Menschen, der Kaffee trinkt (vorausgesetzt, dieser entfaltet seine psychoaktive Wirkung) oder vom grauen Berlin in die Sonne der Karibik fliegt. Wenn man davon ausgeht, dass äußere Faktoren ständig Spuren in unserem Gehirn hinterlassen, die sich dort neurobiologisch »eingraben«, dann entpuppt sich die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem als zeitabhängig fließend. Eine in diesem Zusammenhang relevantere Vorstellung von Fremdheit ist Inauthentizität, die nicht umsonst zu einem zentralen und strittigen Konzept in der Debatte um »kosmetische Psychopharmakologie« avanciert ist.9 Dabei werden – in erster Annäherung – als inauthentisch solche Urteile und Einstellungen eines Individuums verstanden, die aus dessen sonstigem Beurteilungsrahmen herausfallen, die nicht kohärent in sein Selbstbild einzubauen sind. Schwierige Fragen etwa danach, ob eine solche Unstimmigkeit allein aus 9 | Vgl. Kramer: Listening to Prozac; Carl Elliott: »The Tyranny of Happiness: Ethics and Cosmetic Psychopharmacology«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 177-188; David DeGrazia: »Prozac, Enhancement, and Self-Creation«, in: Hastings Center Report, 30/2000, S. 34-40.

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

290 | Bettina Schöne-Seifert der Innenperspektive zu beurteilen wäre, ob sie durch narrative Rekonstruktion kompensiert werden kann, welche Rolle Außenfaktoren und ihr psychoaktives Einflusspotenzial für Fragen der Authentizität haben – all das werden Fragen der künftigen Debatten um das Psycho-Doping sein. Dann werden Unterschiede in der Wahrnehmung von Couch- oder Pilleneinflüssen möglicherweise erneut aufs Tapet gebracht werden – nun aber unter anderen Vorzeichen.

3. Ausblick Die wichtigen ethischen Debatten über die Chancen und Gefahren des Neuro-Enhancements haben soeben erst begonnen und werden sich im Lichte zunehmender empirischer Erfahrungen mit den Möglichkeiten und Problemen von Glücks- oder Gedächtnispillen weiterentwickeln müssen. Ethisch stehen dabei – neben Aspekten der Risikoträchtigkeit sowie der Fairness und Freiwilligkeit im Umgang mit diesen Möglichkeiten – Fragen nach ihrer Zuträglichkeit für das individuelle Lebensglück im Mittelpunkt. Ob es dabei entscheidende Unterschiede in der Zuträglichkeit von Pillen gegenüber der Psychotherapie gibt, wird von der empirischen Frage ihrer Eingriffstiefe und funktionalen Äquivalenz abhängen sowie von der Wahrnehmung dieser Interventionen als problematische oder unproblematische Modulatoren. Dass hier von vornherein kategorische Unterschiede postuliert werden könnten, ist wenig plausibel.

Literatur Chatterjee, Anjan: »Cosmetic Neurology. The Controversy Over Enhancing Movement, Mentation, and Mood«, in: Neurology, 63/2004, S. 968-974. DeGrandpre, Richard J.: Ritalin Nation, New York, London 1999. DeGrazia, David: »Prozac, Enhancement, and Self-Creation«, in: Hastings Center Report, 30/2000, S. 34-40. Elliott, Carl: »The Tyranny of Happiness: Ethics and Cosmetic Psychopharmacology«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 177-188. Farah, Martha J. u.a.: »Neurocognitive Enhancement: What Can We Do and What Should We Do?«, in: Nature Reviews Neuroscience, 5/2004, S. 421425. Freedman, Carol: »Aspirin for the Mind?«, in: Parens: Enhancing Human Traits, S. 135-150. Gazzaniga, Michael S.: The Ethical Brain, New York 2005.

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit | 291

Hall, Stephen S.: »The Quest for a Smart Pill«, in: Scientific American, 289/ 2003, S. 54-65. Kramer, Peter D.: Listening to Prozac: A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self, Harmondsworth, New York 1993. Parens, Erik (Hg.): Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications, Washington D.C. 1998. Pauen, Michael: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004. President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Washington D.C. 2003. Strawson, Peter F.: »Freedom and Resentment«, in: ders.: Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1-25. Walter, Henrik: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Autonomie, Paderborn 1998. Yovell, Yoram: Der Feind in meinem Zimmer und andere Geschichten aus der Psychotherapie, München 2004.

2006-02-06 17-38-51 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 279-291) T04_03 schöne-seifert.p 107239500958

2006-02-06 17-38-52 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 292

) vakat 292.p 107239500990

Der Schmerz der Zeit

2006-02-06 17-38-54 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 293

) T05_00 respekt.p 107239501174

2006-02-06 17-38-54 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 294

) vakat 294.p 107239501342

Vom Recht des Schmerzes | 295

Vom Recht des Schmerzes. Grenzen der Körperinstrumentalisierung im Sport Volker Caysa

Einleitung Der moderne Sport bemüht sich, wie die moderne Schmerztherapie, um einen möglichst schmerzfreien Körperumgang und, ist dieser nicht zu erreichen, um eine möglichst rasche Beseitigung von Schmerzen. Man will sich folglich möglichst schmerzfrei schön trainieren und schmerzfrei schön stark sein. Der Titel des Buches »Ein starker Körper kennt keinen Schmerz«1 ist in seiner Doppeldeutigkeit Programm: Man will sich schmerzfrei trainieren, damit der Körper noch effizienter, noch schöner, noch gesünder funktionieren kann. Hinter diesem Programm steckt nicht nur der Grundirrtum, dass Gesundheit das möglichst vollkommene Freisein von Schmerzen sei, sondern auch die Utopie des total schmerzfreien Körpers. Die Utopie des schmerzfreien Körpers ist eine wesentliche Variante der Utopie der absoluten Schmerzlosigkeit, die in ihrer negativ-utopischen Bedeutung zugleich die Idee der Bedeutungslosigkeit des Schmerzes enthält. Stellen wir uns aber einmal einen wirklich starken Körper als einen schmerzfreien Körper im strengen Sinne vor – er wäre ein Körper, der nicht leidet und auch nicht mitzuleiden vermag. Ein wirklich schmerzfreier Körper wäre die Verwirklichung der Utopie des total leidfreien Körpers, und das ist wohl der unmenschlichste Körper, der überhaupt vorstellbar ist. Denn dies wäre ein Körper, der sich sowohl an sich selbst wie auch an an1 | Wolfgang Kieser: Ein starker Körper kennt keinen Schmerz, München 2000.

2006-02-06 17-38-54 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

296 | Volker Caysa deren kein Leid vorstellen kann, der folglich auch nicht mit-leiden kann und der demzufolge, weil er keine Mindestvorstellung vom Schmerz hat, auch nicht weiß, was er anderen an Leid zufügt. Nicht leiden und nicht mitleiden zu können, ist der Grund aller Barbarei. Denn das Mitleid ist eine Selbsttechnik, mit der wir es uns ermöglichen, uns von unserem Egoismus frei zu machen und die Welt unseres bornierten Selbstbezuges zu transzendieren, indem wir uns die Welt und das Leiden des Anderen durch Analogisierung eigenleiblicher Leiderfahrung vergegenwärtigen. Wir dehnen durch das Mitleid die Erfahrung des eigenen Leidens auf den Anderen, ja, auf alle Anderen aus und übersteigen damit die Grenzen unseres Egoismus. Ich empfinde mit dem Anderen, indem ich sein Leid wie mein Leid wahrnehme. Durch die Analogisierung meines Leides mit dem Leiden des Anderen verallgemeinere ich mich zur Erfahrung des Weltleidens. Dadurch hebe ich meine Individualität auf, zugleich aber auch die Individualität des Anderen, weil sein Leiden nach dem Muster meines Leidens verstanden wird, das zugleich das Leiden aller Wesen an der Welt sein soll, obwohl es doch nur mein Leiden an der Welt ist. Im Mitleid ist nicht nur etwas den Menschen Achtendes, sondern auch etwas Verachtendes gegeben. Insofern nämlich echtes Mitleiden universell ist, leide ich eben nicht nur mit dem je besonderen Menschen um seiner selbst willen, sondern ich leide mit ihm mit, weil er das Leid an sich verkörpert. Das Leiden des besonderen Anderen ist also nur Mittel zu dem Zweck, das Leiden selbst zu erfahren. Der Schmerz ist ein Modell dafür, wie man die Ähnlichkeit eines Leibes mit einem anderen erfasst: per Analogie des Leidens. Man konstruiert ein Analogon zu sich selbst und verschafft sich dadurch die Möglichkeit, die Realität des Anderen zu erfassen. Wobei man klar sehen muss, dass die Analogisierung immer mindestens einen Rest von Un- und Missverständnis des Anderen mit sich führt, weil ja meine Erfahrung die grundlegende für die Erfahrung des Anderen ist und diese sich nicht mit der des Anderen decken kann, ansonsten wäre ich ja selbst der Andere. Doch der bin ich nicht. Nicht nur der Schmerz als das Andere meiner selbst, sondern auch der Schmerz des Anderen bleibt mir daher immer auch fremd. Im Mitleiden nehmen wir folglich immer nur an, wahrnehmen zu können, wie und was der Andere wahrnimmt. Ob dieses »als ob« jedoch stimmt und dem Anderen gänzlich adäquat ist, wissen wir nicht, entscheidend ist, dass es als humane Grundlage unserer Welt funktioniert. Umgekehrt gilt: Je leid- und schmerzfreier wir werden, desto größer wird auch die Gefahr, dass wir mitleidloser, unmenschlicher werden, dass wir uns zu kalten Maschinen entwickeln. Der »Terminator« kennt keinen Schmerz, er kennt auch kein Lachen und kein Weinen. Und der schmerzfreie Anatom wird zum grausamen Mörder, um herauszufinden, was das

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Vom Recht des Schmerzes | 297

ist: Schmerz.2 Der Schmerz ist eine Gabe unseres Menschseins, durch die wir uns als Menschen überhaupt erst wahrnehmen lernen. Wie sich für Friedrich Nietzsche in Bezug auf unsere Gesundheitsvorstellung die Frage stellte, ob wir nicht der Erkrankung bedürfen, um gesund zu sein, und demzufolge ein totales Gesundsein die eigentliche Krankheit wäre, so stellt sich in Bezug auf den Schmerz das Problem, ob das »Glück« nur mit der »Bremse Schmerz« zu haben ist und ob der Wille zur totalen Schmerzfreiheit nicht nur Feigheit, Leidensunfähigkeit und einen Mangel an Widerstandskraft bedeutet, sondern auch ein Stück feinster Barbarei und Dekadenz. Ja, Nietzsche meinte sogar, dass nur demjenigen die »feinsten und höchsten Arten des Glücks offen stehen«, in dem die »stärksten Blitze des Schmerzes sich entladen«.3

1. Schmerz und Körperwahrnehmung Wie werden wir unseres Körpers und seiner Grenzen gewahr? Durch Schmerz. Unsere Muskeln z.B. nehmen wir viel intensiver wahr durch den (leichten) Schmerz des »Muskelkaters«. Auch dann, wenn wir Schmerzen bei der Ausübung einer sportlichen Übung empfinden, nehmen wir die betroffenen Muskeln genauer wahr als in dem Zustand, in dem alles »wie geschmiert läuft«. Die inneren Funktionen bzw. Fehlfunktionen unseres Körpers bemerken wir vor allem beim Empfinden von Schmerz. Durch Schmerz spüren wir, dass mit uns etwas nicht stimmt. Man könnte dies dahingehend verallgemeinern, dass wir unser Leib-Sein im schmerzvollen Körperhaben wahrnehmen und dass wir gerade in diesem schmerzhaften Körperhaben den Leib als ein Vorgängiges, als unverfügbare Körperlichkeit erfahren. Der Schmerz funktioniert für uns dann gerade als eine Art der Wahrnehmung der Nichtfunktionalität des Körperhabens. Etwas funktioniert nicht, wie wir es gewohnt sind, nämlich schmerzfrei, und das lässt uns wahrnehmen, dass der Körper mehr ist als der instrumentell verfügbare Körper. Das Warnsignal des Schmerzes führt uns zu der Erkenntnis, dass der 2 | Vgl. Nikolaj Frobenius: Der Anatom. München 1998. Dagegen zeigt der Roman Die Gabe des Schmerzes von Andrew Miller (Wien 1998), dass einem guten Chirurgen, wie übrigens auch einem guten Trainer im Sport, ein gewisser Grad der Empfindungs- und Mitleidlosigkeit eigen sein muss, um schnell, sicher, skrupellos, souverän und erfolgreich handeln zu können. 3 | Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, Sämtliche Werke (hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd. 9, München, Berlin, New York 1993, S. 641f.

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

298 | Volker Caysa instrumentelle Körpergebrauch Grenzen hat, und diese Grenze nehmen wir als Schmerzgrenze wahr.4 Der Schmerz zeigt uns die Grenzen unseres instrumentellen Körpergebrauchs an, und insofern diese Grenzen als »Rechte« des Körpers begriffen werden, bedeutet der Schmerz die Anzeige der Notwendigkeit, sich um seinen Körper zu sorgen. Wenn also durch schmerzstillende oder schmerzunterdrückende Mittel die Schmerzwahrnehmung hinausgezögert oder verhindert wird, können dem Leib irreparable Schäden zugefügt werden, weil die Körperinstrumentalisierung durch Schmerzwahrnehmung nicht mehr gebremst und der Leib in seinen Reserven so angegriffen wird, dass er nicht mehr vollständig wiederhergestellt werden kann. Das Stechende des Schmerzes zeigt uns an, dass etwas nicht mehr ganz gesund ist, und gerade diese Warnfunktion des Schmerzes kann durch die Betäubungseffekte des Dopings mit anabolen Steroiden ausgeschlossen werden. Das »Wegspritzen« von Schmerz im Sport verhindert eine Rücksichtnahme auf die Würde des Körpers. Im Schmerz zeigt sich die Würde des Körpers, insofern dieser anzuzeigen vermag, dass es in unserem Körperhaben etwas gibt, was bedeutender sein kann als das, was unserer körpertechnischen Verfügung unterliegt, unser Leben wesentlich trägt und dem insofern Respekt, Achtung und Würde zukommt. Würde besteht auch hier darin, sich vor dem Größeren zu beugen. Dem uns Übergreifenden muss mit Achtung und Gehorsam gedient werden. Nur so kann man Askese lernen. Gegen das Wegspritzen von Schmerzen ist weiterhin zu sagen: Die Schmerzwahrnehmung lehrt uns, nach Ursachen zu fragen, während die Lust fraglos bei sich selber stehen bleibt, sich selbst genügt. Der Schmerz als Form einer sublimierten Selbstwahrnehmung kann demnach vor Schaden bewahren und Leben retten. Er hat eine Wächterfunktion und kann die Bereitschaft zu einer Schonhaltung fördern. In dieser Alarmfunktion des Schmerzes ist zugleich eine Realitätswahrnehmung gegeben, da man annimmt, dass wirklich ist, was einem weh tut. Und indem man dies annimmt, kann man möglicherweise an sich selbst etwas wahrnehmen, wofür die moderne Apparatemedizin keine Sprache mehr hat: Rechte des Körpers. Sicherlich: Schmerz in extremer Form kann uns sprachlos machen, 4 | So konnte sich Dieter Baumann bei seinem Marathon-Debüt im April 2002 keinen Reim mehr auf die Handlungsweise seines Körpers machen, denn je mehr er sich willentlich um eine Tempoverschärfung bemühte, desto langsamer wurde er real, so dass er nach 35 Kilometern aufgeben musste. Baumann kommentierte dies so: »Offensichtlich bin ich kein Marathonläufer. Das muss man zunächst akzeptieren. Ich kann nicht dieselbe Klasse erreichen, die ich als Bahnläufer habe. Man muss auch Grenzen erkennen können« (zit. nach Süddeutsche Zeitung, 22. April 2002).

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Vom Recht des Schmerzes | 299

aber Schmerz vermag den Körper auch zum Sprechen zu bringen. Er kann das Unverfügbare unserer Leiblichkeit anzeigen, dessen Zerstörung uns zerstören könnte. Schmerzen zu haben, wäre das untrüglichste Zeichen dafür, dass es Rechte des Körpers gibt, die durch ihn eine Sprache haben. Im Schmerz spüre ich die Grenzen der eigenen Physis, und damit lerne ich auch, die Grenzen eines körperlichen Grenzganges wahrzunehmen und anzuerkennen. In der Unverfügbarkeit des Schmerzes erfahren wir, dass der Körper einer übermächtigen Natur, dem Leib, ausgeliefert ist. Die Ohnmacht des Schmerzes zeigt die Übermacht des Leibes an und kann uns lehren, auf diese Rücksicht zu nehmen.

2. Rechte des Körpers Wie beim Gedächtnis bewirken auch bei der Leiberinnerung Aufmerksamkeit und Wiederholung, dass sich bestimmte Ideen (hier: von der körperlichen Bewegung) leibhaftig verfestigen.5 Diese Verfestigung ist aber stets von zwei Affekten begleitet, die sie erst dauerhaft machen: Freude und/ oder Schmerz. Was mich freut oder schmerzt, das vergesse ich nicht. Gefühle der Freude und des Schmerzes zeigen mir an, was in meiner Wahrnehmung dem Körper nützt oder schadet. Es mag Neuhumanisten nicht gefallen, aber der Schmerz ist ein Lehrmeister der Körpers. Wie die Lust, so neigt auch die Freude dazu, bei sich selbst stehen zu bleiben und nicht zu fragen, warum etwas ist. Die Freude genügt sich selbst, sie braucht keine Erklärung. Meldet sich aber der Schmerz, dann fragen wir, warum etwas weh tut. Der Schmerz erzwingt nicht nur unsere Aufmerksamkeit, er lässt uns nach Gründen suchen. Wir suchen die Gründe für den Schmerz, weil wir glauben, dass er vergeht, wenn wir wissen, warum und wie er kam. Wir lernen vom Körper, wenn er schmerzt. Es ist ja tatsächlich so, dass sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen Schmerzgefühle viel einprägsamer wirken als alle Erziehung, vernünftige Argumentationen und Glücksgefühle. Schmerzgefühle prägen für die Zukunft die Vorsicht vor einem verletzenden Objekt in unser Körpergedächtnis ein, und Schmerz erregende Objekte meiden wir fortan mit dem Instinkt der Selbsterhaltung. Die Furcht vor dem Schmerz bringt uns dazu, vorausschauend und vermeidend zu agieren. Der Schmerz ist also ein Anstoß zur klugen Sorge, zur Rücksichtnahme auf etwas, das übergreifender ist als das augenblickliche Begehren und die aktuelle Lust. Der Sinn des Leidens am Schmerz ist, dass wir Widerstand verspüren, 5 | Siehe zum Folgenden auch Volker Caysa: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/M., New York 2003, Abschnitt 8.3.

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

300 | Volker Caysa und dieser Widerstand zeigt, körperlich betrachtet, unsere Leistungsgrenzen an. Der Schmerz hat hier eine Alarmfunktion: Etwas tut weh, also möge es aufhören!6 Indem sich Schmerz, den man nicht gewählt hat, bemerkbar macht, erfahren wir, dass es etwas uns Umgreifendes gibt, das stärker als unser Ich ist, das die Grenze unseres Willens ist. Der Schmerzkörper macht uns auf Grenzen aufmerksam. Er signalisiert uns, dass wir uns zu überfordern, vielleicht sogar zu zerstören beginnen. Zur »großen Gesundheit« (Nietzsche) des Körpers gehört die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Erleiden von Schmerz. Denn nur durch dieses Erleidenkönnen ist garantiert, dass wir wahrnehmen, wann wir die Grenzen der Körperinstrumentalisierung des eigenen wie des anderen Körpers überschreiten und beginnen, unsere leibliche Autonomie zu zerstören. Schmerz und Leid sind also nicht einfach Anzeichen eines kranken Körpers, sondern Bedingungen der Möglichkeit von Körperkompetenz. Sie sind Selbsttechniken7 eines vernünftigen Körpergebrauchs und eines daraus resultierenden gelingendem Körperumgangs. Wer also um die Wahrung der Rechte des Körpers kämpft, der kommt um ein Lob des Schmerzes nicht herum. Denn der Schmerz gibt dem Individuum ein einfaches, handhabbares Kriterium dafür an die Hand, was ein vernünftiger, der Idee des »common body«8 entsprechender Körpergebrauch ist. Der Schmerz markiert die Grenzen unseres willkürlichen instrumentellen Körperumgangs. Denn indem der Schmerz uns darauf hinweist, wann wir unsere Körperreserven angreifen, zeigt er uns zugleich an, wann wir unseren Körper möglicherweise irreparabel zu zerstören beginnen. Und die Vermeidung von Nebenfolgen im Sinne der Vermeidung irreversibler Schäden sollte vom Standpunkt des common body allgemeines Kriterium der Grenzen der Körperinstrumentalisierung sein. Gerade deshalb muss auch das Doping im Sport geächtet werden, weil es in den meisten Fällen darauf hinausläuft, die Schmerzwahrnehmung des Körpers hinauszuschieben. Dadurch werden die Körperreserven irreversibel angegriffen. 6 | Gerade Virtuosen des Schmerzerleidens, wie sie in allen Ausdauersportarten anzutreffen sind, sind oftmals auch extreme Willensmenschen, die den Schrei der Muskeln: »Komm, hör endlich auf!« verdrängen, was zur Folge hat, dass es in allen Ausdauersportarten das Phänomen krankheitsähnlicher Ermüdungszustände und chronischer Leistungseinbrüche gibt, die auf einer Nichtwahrnehmung der Anhäufung großer Belastungsreize bei unzureichender Regeneration beruhen. 7 | Zum Begriff der Selbsttechnik siehe Caysa: Körperutopien, S. 153ff. 8 | Gunter Gebauer: Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002; ders.: »Plädoyer für den Common Body«, in: Barbara Ränsch-Trill/Manfred Lämmer (Hg.): Der ›künstliche Mensch‹ – Eine sportwissenschaftliche Perspektive?, St. Augustin 2003.

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Vom Recht des Schmerzes | 301

Der Schmerz ist eine Grenzreaktion der Körpers, der Rechte des Leibes anzeigt und damit Grenzen der Körperinstrumentalisierung. Er mag selbst nicht unmittelbar einer Körperfunktion, einem speziellen Organ zuzuordnen sein, aber er hat eine Körperfunktion, insofern er auf eine mögliche Schädigung anderer Körperfunktionen hinzuweisen vermag. Der Schmerz lässt uns im wahrsten Sinne des Wortes mit Pathos eine Differenz erfahren, und zwar jene zwischen dem Ich und dem Leib.9 Funktioniert unser Handeln schmerzfrei, scheinen Ich und Leib unmittelbar eins zu sein. Ich bin mit meinem Körper eins. Das ist im Zustand der Schmerzfreiheit reflexionslos gewiss. Stellt sich aber ein Schmerz ein, dann entzweien sich Ich und Körper. Es entsteht das Bewusstsein von Differenz durch Reflexion dessen, was das Ich will bzw. nicht will und was der Schmerz bzw. der schmerzende Körperteil macht. Diese Erfahrung der Differenz, ja, der Entzweiung zwischen den Vorstellungen des Ich und dem Willen des Leibes ist aber notwendig, um zu einer Rücksicht gebietenden Reflexion des Körperumgangs zu kommen. Wer diese Erfahrung nicht hat, wird stets versuchen, seinen Leib rücksichtslos den Vorstellungen seines Ich zu unterwerfen, weil dies ja funktioniert und erst eine Funktionsstörung zum Nachdenken zwingt. Ein vernünftiger Körpergebrauch entsprechend den Rechten des Körpers und der Idee des common body würde folglich einerseits bedeuten, die technologische Aufrüstung von natürlichen Körpern durch Technikaskese zu beschränken; was z.B. konkret heißt, Doping mit schmerzunterdrückenden Mitteln zu unterbinden, oder für den einzelnen bedeuten würde, auf schmerzunterbindende Techniken und Mittel freiwillig zu verzichten. Andererseits ist in der sportiven Körperkultur der Schmerz positiv selbsttechnologisch zu begreifen. Denn durch die Schmerzwahrnehmung gelangt der Sportler zu einer selbstbestimmten Körperwahrnehmung und einem selbstbestimmten Körperumgang. Die Schmerzwahrnehmung verhindert so möglicherweise eine Körpertechnologisierung, die unser leibliches Personsein gänzlich verschlingen würde. Der »Störfall Schmerz« veranlasst uns dazu, unseren Körper mehr als nur funktional wahrzunehmen. Denn er zeigt uns an, dass der Körper jenseits seiner funktionalen Handhabbarkeit eine durch sich selbst seiende Natur ist, die wir Leib nennen, die unser Leben trägt und deren Unverfügbarkeit wir achten müssen, wollen wir uns nicht gänzlich in der perfekten Selbstinstrumentalisierung zerstören. Indem wir also durch die Idee der Rechte des Körpers in Verbindung mit dessen Unverfügbarkeit den Gehalt des traditionellen Leibbegriffes säkularisieren, aber zugleich auch an ihm festhalten, erfassen wir den Schmerz und den Leib nicht nur einfach in ih9 | Vgl. Frederik J. J. Buytendijk: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 160f.

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

302 | Volker Caysa rer Überlebensfunktion, sondern in ihrer Ermöglichungsfunktion für ein humanes Leben.

3. Sportive Lebenskunst Für die Anthropologie des Sports hat dies zur Konsequenz, dass die mit ihr verbundene Anthropologie des Körpers mit einer modernen Form der Leibökologie und lebenskünstlerischen Technikaskese verknüpft werden muss. Eine historisch ansetzende Körperanalytik, deren Gegenstand die Kunst des Körperumgangs in den verschiedenen Kulturen ist, muss den Umgang mit dem Schmerz zum Thema machen. Denn der Schmerz lehrt uns, unseren Körper zu gebrauchen, und er lässt uns die Grenzen unserer Körpertechnologisierung deutlich erfahren. Die Kunst des Umgangs mit Schmerz, die Hermeneutik der Schmerzen, gehört grundlegend zu einer sportiven Lebenskunst. Denn der Schmerz lehrt uns nicht nur, uns selbst genauer, »tiefer« wahrzunehmen, er »verbessert« uns auch, indem er uns lehrt, uns selbst zu regieren und zu beherrschen. Es gilt folglich nicht nur, den Schmerz zu fliehen, ihn zu vermeiden, gegen ihn zu intervenieren, sondern der Schmerz muss maßvoll in unseren Körperumgang integriert werden. Und gerade der Sport mit seinen relativ niedrigstufigen Schmerzqualen lehrt uns, den Umgang mit Schmerzen einzuüben, mit ihnen umzugehen, sie für unsere körperlichen Selbstverhältnisse zu nutzen. Die Kunst, Schmerzen adäquat wahrzunehmen, ist demnach unverzichtbar für eine sportive Lebenskunst. Es gilt nicht nur: Sage mir, welchen Sport du wie treibst, und ich sage dir, was du für ein Mensch bist, sondern auch: Sage mir, wie du mit dem Schmerz umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Entsprechend der Idee der Rechte des Körpers, die es uns nahe legt, die Natur des Körper so zu denken, als ob es sich um eine autonome Macht handelt, die für unser Handeln grundlegend ist, gilt es nicht nur zu thematisieren, was wir mit dem Schmerz machen können, sondern auch, was der Schmerz aus uns macht und wie er uns erfinderisch werden lässt. Das Schmerzerleben bewirkt Veränderungen in unseren Körperselbstverhältnissen. Es bewirkt ein anderes Verhältnis zu uns selbst, weil man den Körper anders hat, als wenn dieser unter dem Einfluss schmerzstillender Mittel steht. Schmerzvermeidungstechniken verändern grundlegend unsere Leidensfähigkeit, unsere Schmerzbereitschaft sowie unser Körper- und Selbstgefühl insgesamt und damit unsere Auffassung davon, was zu einem normalen Leben gehört. Der Umgang mit dem Schmerz betrifft somit unsere gesamte persönliche Existenz und unser Dasein als Person. Wer schon geringsten Schmerz nicht mehr ertragen kann, wird nicht leiden können, wird

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Vom Recht des Schmerzes | 303

nicht tapfer gegenüber dem Schicksal oder demütig gegenüber einer Macht sein können, die stärker ist als er. Im Umgang mit Schmerzen kommt nicht einfach ein Natur-Sein, das wir sind, zum Ausdruck, sondern das Wesen unserer Kultur und unserer kulturellen Selbstverhältnisse. Unsere Schmerzumgangsverhältnisse bestimmen wesentlich, wie wir unseren Leib haben, und dies wiederum bestimmt, wie wir uns als Menschen wahrnehmen. Das heißt nicht, dass Mensch-Sein und Leib-Sein oder gar Schmerz-Erleiden-Können, Leibsein und Personsein abstrakt identisch sind, wohl aber, dass sie miteinander konkret identisch sind. Wie ein Mensch, der nicht zu leiden vermag, keiner ist, so hat man keinen Leib, wenn man nicht Schmerzen haben kann. Im Schmerz zeigen sich die prinzipielle Nichtdomestizierbarkeit des Leibes und der Utopiecharakter der Idee einer absoluten Beherrschbarkeit des Körpers. Die Nichtdomestizierbarkeit des Schmerzes liefert uns Botschaften des Leibes, die der beherrschte Körper gerade nicht liefern soll. Dadurch wird der Schmerz zur Auskunftsquelle von Problemen, Krisen, Gefährdungen, die der planvoll beherrschte Körper an sich selbst nicht wahrnimmt. Der nichtdomestizierte Schmerz wird so zum Zeugen einer Wahrheit, die als selbstevidente Wirklichkeit und »echte« Naturwahrheit erscheint, weil wir den Schmerz als »wilden«, nichtbeherrschbaren Schmerz und dadurch als entkultivierte Natur wahrnehmen. Indem wir den Schmerz derart wahrnehmen und anerkennen, bejahen wir den Willen zum Leben. Wir bejahen den Willen zu leben, indem wir den eigenen Leib bejahen, und zwar dadurch, dass wir nicht nur aufhören, den Leib des Anderen zu zerstören oder zu verletzen, sondern indem wir davon ablassen, den eigenen Leib zu zerstören, weil wir die Grenzen seiner Manipulierbarkeit anerkennen. Dass wir dem Leib Unrecht antun, erfahren wir – nach Arthur Schopenhauer – eben durch den Schmerz, indem wir unsere Grenzen und Kräfte überschreiten und dadurch nicht nur den Leib, sondern auch den Willen zum Leben verneinen.10 Der Schmerz könnte uns mit Blick auf unsere Körperselbstverhältnisse Gerechtigkeit in Form des Vorsatzes lehren, »in der Bejahung des eigenen Willens nicht soweit zu gehen, daß sie die fremden Willenserscheinungen verneint, indem sie solche jenem zu dienen zwingt.«11 Die Bejahung des Leibes schließt ein, nicht nur auf die Unterwerfung des fremden Leibes der anderen Individuen, sondern auch auf die verletzende und zerstörerische Unterwerfung des eigenen Leibes zu verzichten. Sicher, es gibt anscheinend nichts, über das ich so sehr verfügen kann 10 | Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin 1913, S. 377f. 11 | Ebd., S. 417.

2006-02-06 17-38-55 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

304 | Volker Caysa wie über meinen Leib. Er ist allein meine und niemandes anderen Angelegenheit. Daraus folgt, dass niemand das Recht hat, über einen anderen Leib zu verfügen, und dass dieser nicht im absoluten Sinne anderen überantwortet werden kann. Es ergibt sich weiter, dass ich Verantwortung für meinen Leib habe und ich folglich Rücksicht auf ihn nehmen muss, um ihn nicht durch übermäßige Instrumentalisierung nachhaltig zu verletzen, zu zerstören oder zu versklaven. Die Selbstverantwortung für den Leib nehme ich im Schmerz wahr. Für den Sport z.B. hat das zur Folge, jene Lust an der (Extrem-)Qual, wie sie von vielen Extremleistungssportlern verkörpert wird, zu domestizieren. Denn die Lust an der Extremqual ist nichts anderes als die Selbstzweck gewordene Freude, zwar nicht am fremden, wohl aber am eigenen Leiden und insofern eine Bosheit und Grausamkeit gegen sich selbst. Das Wesen der Grausamkeit besteht nach Schopenhauer bekanntlich darin, dass der Grausamkeit »das fremde Leiden nicht mehr Mittel zur Erlangung der Zwecke des eigenen Willens, sondern Zweck an sich« ist.12 Beim Qualfetischisten, wie er in allen Extremsportarten anzutreffen ist, wird nun diese gegen Andere gerichtete Grausamkeit auf das Selbst, auf das Andere seiner selbst, auf den eigenen Leib umgelenkt. Das Leiden am eigenen Körper wird zum Zweck an sich, »es ist ihm ein Anblick, an dem er sich weidet«13, denn sein Leiden an sich, sein Leiden am eigenen Leibe ist ihm zugleich Äußerung seiner Macht, sein Leiden am Leben zu lindern. Der körperliche Schmerz stillt hier das Leiden am Leben, und er kann daher nicht nur zu einer Lust, sondern zu einer Sucht werden, in der man in einer tödlichen Askese untergeht, wenn die Bejahung des Leibes in eine Verneinung des Leibes umschlägt. Die Bejahung des eigenen Leibes wird so heftig, dass sie zur Verneinung des Lebens wird, weil die Heiligung der Qual zu einer unentrinnbaren Gier nach der Selbstqual geworden ist. Die erlangte Befriedigung ist dann immer nur eine kurzzeitige und unvollständige. Das Erlangte leistet nicht das, »was das Begehrte versprach, nämlich endliche Stillung des grimmigen Willensdranges.«14 Nach jeder letztlich unbefriedigenden Erfüllung ändert der Wunsch nur seine Gestalt und quält sich von einer zur nächsten Gestalt weiter, bis alle möglichen Formen der Selbstqual erschöpft sind und sich der Wille zum Leib, der ja Wille zum Leben sein soll, »als Gefühl der entsetzlichen Öde und Leere«, der inneren »heillosen Qual«, als »ewige Unruhe« gleich »unheilbarem Schmerz« kundgibt.15 Bis er in der letzten aller Qualen Ruhe sucht: dem Hunger zum Tode als der höchsten und subtilsten Grausamkeit gegenüber 12 | Ebd., S. 409. 13 | Vgl. ebd., S. 410. 14 | Ebd. 15 | Ebd.

2006-02-06 17-38-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Vom Recht des Schmerzes | 305

dem eigenen Selbst.16 Aus dem Willen zum Schmerz als der Freude, dem Wohlbehagen, der Wollust am Schmerz ist dann ein Wille zur Selbsttötung geworden. Hier nun zeigt sich im Extrem, wie problematisch es ist, den freien Gebrauch des Leibes als unbeschränkte Verfügungsgewalt des Einzelnen über sich selbst zu deuten. Denn die Freiheit des Körpergebrauchs kann die Freiheit zur willkürlichen Selbsttötung bedeuten. Damit soll nicht in Frage gestellt werden, dass zur Freiheit die Freiheit der Selbsttötung gehört, sondern lediglich, ob diese Freiheit gänzlich unserer Willkür überlassen bleiben soll. Muss diese nicht auch – so wie der freie Körpergebrauch – einem höheren sittlichen Zweck unterworfen werden, um zu verhindern, dass sich die Freiheit der ganzen Gemeinschaft durch grenzenlose Selbstinstrumentalisierung aufhebt? Die rücksichtslose Selbstausbeutung des Rohstoffs Körper zerstört mit der individuellen physischen Existenz die elementare Bedingung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt und folglich die Freiheit selbst. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob mit der Einschränkung der individuellen Freiheit des Körpergebrauchs nicht auch Schmerz-, Genuss-, Lustbefriedigungs- und Askesetechniken eingeschränkt werden sollten, die bei einer massenhaften Anwendung zur Selbstauslöschung ganzer Gemeinschaften führen könnten. Sicherlich ist die Freiheit der Person nicht von der Freiheit des Körpergebrauchs zu trennen. Aber gerade die Freiheit der Person verpflichtet uns dazu, uns um die physische Existenz Einzelner zu sorgen, sie zu erhalten, auch um der Freiheit aller willen. Soll nicht die Grausamkeit gegen den eigenen Leib als Freiheit willkürlichen Körpergebrauchs verherrlicht werden, muss der für das Leben grundlegende Leibumgang wieder ausdrücklich auf die Idee eines bejahenswerten Lebens zurückbezogen werden. Folglich gibt es Schmerz-, Genuss-, Lustbefriedigungs- und Askesetechniken, die für die Masse untersagt oder eingeschränkt werden müssen und deren Gebrauch der Staat verhindernd und strafend regeln muss. Dazu reicht aber der staatliche Schutz vor fremden Übergriffen auf die körperliche Unversehrtheit längst nicht mehr aus. Vielmehr müssen Individuen auch vor sich selbst geschützt werden. Dies wiederum setzt voraus, dass ein spezifisches Eigenrecht auf Selbsterhaltung des Leibes Anerkennung findet: das Recht des Körpers.

16 | Dieses Martyrium hat tatsächlich Bahne Rabe, ehemaliger Schlagmann des Deutschland-Achters, realisiert. Vgl. Evi Simeoni: »Versunken ins Nichts«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Dezember 2001.

2006-02-06 17-38-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

306 | Volker Caysa

Literatur Buytendijk, Friedrik J. J.: Das Menschliche, Stuttgart 1958. Caysa, Volker: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/M., New York 2003. Frobenius, Nikolaj: Der Anatom, München 1998. Gebauer, Gunter: Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002. Gebauer, Gunter: »Plädoyer für den Common Body«, in: Ränsch-Trill, Barbara/Lämmer, Manfred (Hg.): Der ›künstliche Mensch‹ – Eine sportwissenschaftliche Perspektive?, St. Augustin 2003. Kieser, Wolfgang: Ein starker Körper kennt keinen Schmerz, München 2000. Miller, Andrew: Die Gabe des Schmerzes, Wien 1998. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, Sämtliche Werke (hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd. 9, München, Berlin, New York 1993. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin 1913. Simeoni, Evi: »Versunken ins Nichts«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Dezember 2001.

2006-02-06 17-38-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 295-306) T05_01 caysa.p 107239501518

Hart an der Grenze | 307

Hart an der Grenze. Skizze einer Anamnese spätmodernen Körperkults Arnd Pollmann

»It takes a fool to remain sane.« The Ark

Einleitung Leute von heute: Sie trainieren bis zum Umfallen, hungern sich zu Tode, schlucken pharmakologische Stimmungsaufheller. Man bohrt ihnen metallischen Körperschmuck durch Brustwarzen, Klitoris oder Eichel, fügt ihnen exotische Narben und Brandmale zu, spaltet ihre Zungen nach dem Vorbild gefährlicher Reptilien. Nervengift wird in die ersten sich anbahnenden Gesichtsfalten gespritzt, Nase, Kinn und Brüste werden korrigiert, man saugt ihnen das Fett aus der zu dicken Hüfte, um es in die vermeintlich zu schmalen Lippen umgehend wieder hineinzupumpen. Die Frage liegt auf der Hand: Warum tun Menschen sich so etwas an? »Aus Spaß«, »weil ich das schön finde« oder »weil ich an meine Grenzen gehen will«, werden die einen sagen. Von der Sorge, in dieser Welt »den Anschluss zu verpassen«, werden andere sprechen. So sehr sich diese beiden Motivlagen auf den ersten Blick auch unterscheiden mögen, sie beide eint die ebenso schmerzliche wie unvermeidliche Einsicht, dass menschliche Makellosigkeit nur in den seltensten Fällen naturgegeben ist. Für die allermeisten Individuen ist sie eine Frage der Tortur. Und immer häufiger auch eine Frage des Geldes. Denn wer den Kampf um Perfektion erst einmal aufgenommen hat, mag rasch spüren, wie er oder sie sich in eine Spira-

2006-02-06 17-38-56 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

308 | Arnd Pollmann le des Wettrüstens gegen das eigene Selbst verwickelt. Denn der Spaß darf nicht aufhören bzw. die Sorge muss beherrschbar bleiben. Koste es, was es wolle! Doch ist damit längst noch nicht alles gesagt. Denn unterhalb der eher oberflächlichen Selbstbeschreibungen der sich derzeit tatkräftig selbst korrigierenden Akteure ist eine erklärungsbedürftige existenzielle Tiefenangst zu vermuten, deren Anamnese uns Auskunft über den gegenwärtigen Zustand unserer Zeit geben wird. Bei dem Versuch, die eher subliminalen, d.h. unterschwelligen, seelischen Ursachen für die augenfällige Zunahme medizinisch-technischen Life-Stylings zu ergründen, wird man um folgende Pathologiediagnose kaum herumkommen: Der spätmoderne Körperkult exekutiert ein weit verbreitetes, geradezu zeittypisches Unbehagen. Auf eine Weise, die sich der flüchtigen Beobachtung entzieht, kommt in den Körpertechniken unserer Zeit gerade nicht, wie deren Verfechter es gern glauben möchten, ein moderner, selbstbewusster und selbstbestimmter Umgang mit dem eigenen Leib zum Tragen. Vielmehr ist ein eher zwanghaftes Traktieren jener zunehmend als fremd erfahrenen und doch eigenen »Hülle« zu verzeichnen, die als Hautgrenze das Innen vom Außen trennen soll, dafür aber zu weich und zu durchlässig scheint. Die These wird lauten: Wer hart zu sich und entsprechend hart an der eigenen Grenze zu Gange ist, will sich eben dieser Demarkationslinie vergewissern.1 Sogleich ist bei einer derartigen Diagnose jedoch Vorsicht geboten: Der momentane Zuwachs an manipulativen Körperselbsttechniken sollte keinesfalls einseitig, und zwar allein in denunziatorischer Absicht, als Ausdruck wachsender Selbstentfremdung und sozialer Desintegration gedeutet werden. Die soziokulturelle Tragweite der gemeinten Entwicklung wird vielmehr erst dann absehbar werden, wenn wir das derzeitige Ausmaß peinigender Körpermodifikationen von vornherein zeitdiagnostisch so einbetten, dass darin der massenhafte, wenngleich oft hilflose Versuch einer schmerzhaften Wiedergewinnung von Identität erkennbar wird. Angesichts eines für unsere Zeit typischen, desintegrierenden Leidens an einer Welt »ohne Konturen« reagiert das verwahrloste spätmoderne Individuum auf die seelische Formlosigkeit unserer Kultur mit dem rabiaten Bemühen, sich selbst Form zu geben, und zwar mit Gewalt. Kurz: Wenn Grenzlinien zu verschwimmen drohen, wird man sie nachziehen müssen. Wir werden sehen, dass dies am ehesten dadurch bewirkt werden kann, dass man die leibliche Eigengrenze, die das Selbst von der bedrohlichen Außenwelt trennen soll, auf buchstäblich schmerzhafte Weise spürbar werden lässt. Dieser sozialpathognostische Befund soll hier in vier Schritten genauer 1 | An dieser Stelle danke ich meinem Tätowierer für wichtige Anregungen und Geschick.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 309

spezifiziert werden. Auf dem Wege einer primär in das »kollektive Unbewusste« zielenden Motivationsforschung sollen dabei verdeckte Leitmotive des Themendispositivs no body is perfect anklingen: Im ersten Schritt ist darauf hinzuweisen, dass sich der spätmoderne Körperkult dem vergeblichen Versuch verdankt, eine spezifisch moderne und in sich widersprüchliche Freiheitsidee zu überwinden: Das »Unverfügbare« des eigenen Lebens soll restlos verfügbar gemacht werden, und zwar nicht zuletzt mit Hilfe von Technik und Medizin, dabei jedoch werden gänzlich neue Unverfügbarkeiten produziert (1). Die Enttäuschung des »Patienten« darüber, dass sich der medizinisch-technische Fortschrittsoptimismus am Ende doch nur als eine schier aussichtslose Machbarkeitsillusion entpuppt, schlägt in einen »prometheischen Selbsthass« um, der sich postwendend gegen den medizinisch-technischen Fortschritt, vor allem aber gegen den eigenen, unverfügbaren und widerständigen Körper richtet (2). Damit ist der Nährboden für eine Art Life-Style-Autoaggression bereitet, die sich allerdings keineswegs nur schädlich, sondern in mindestens zweifacher Hinsicht auch produktiv auswirkt: Auf individualpsychologischer Ebene dient die »Arbeit am eigenen Fremdkörper« einer gewaltsamen Wiederaneignung entfremdeter, erodierter Integrität (3). Und in sozioökonomischer Hinsicht geht der spätmoderne Körperkult symbiotische Tauschbeziehungen mit einer veränderten, »neuen« kapitalistischen Produktions- und Arbeitswelt ein, die den sich selbst schädigenden Grenzgängern ihrerseits mit vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten entgegenkommt (4). Blendet man nun diese vier kutan und subkutan am Körper ansetzenden Motivlagen ineinander – das Leiden an Unverfügbarkeit, den prometheischen Selbsthass, das schmerzhafte Bemühen um Identitätskonturierung sowie die parasitäre Symbiose von Kapitalismus und psychophysischen Pathologien –, dann zeichnen sich die Umrisse eine Anamnese spätmodernen Körperkults ab (5).

1. Leiden an Unverfügbarkeit Der Mensch ist das Tier voller Widersprüche. In der Moderne hat diese »anthropologische Differenz«, d.h. der Umstand einer unhintergehbaren aporetischen Grundstruktur des Menschen, die Gestalt einer in sich gespaltenen Freiheitsidee angenommen: Zwischen dem »autonomen« Subjekt, das sich selbst verfügbar ist bzw. sich selbstbestimmt verfügbar hält, und dem »souveränen« Individuum, das sich von der Unverfügbarkeit des eigenen Lebens gelassen bestimmen lässt, hat sich ein tiefer dunkler Graben aufgetan.2 Dieser Graben, so schien es lange, kann übersprungen, aber niemals über2 | Dietmar Kamper: Abgang vom Kreuz, München 1996, bes. S. 90-98.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

310 | Arnd Pollmann brückt werden, denn er trennt zwei jeweils unverzichtbare, sich aber direkt widerstreitende Konzeptionen von menschlicher Freiheit: Autonomie als der Freiheit zur Selbstbehauptung auf der einen Seite, Souveränität als der Freiheit zur Selbstaufgabe auf der anderen. Da diese doppelte, in sich gespaltene Freiheitsidee für das moderne Subjekt als geradezu epochal maßgebend betrachtet werden kann, hatte bislang zu gelten: Der moderne, nach Freiheit strebende Mensch ist der ständige Sprung über diesen Graben.3 Heute, in der so genannten Spätmoderne4, ist man allerdings geneigt zu sagen: Das moderne Subjekt war dieser ständige Sprung. Vor allem die biomedizinischen und -technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte sind es, die eine transhumane Expansion in Gang gebracht haben, in deren Zuge der gemeinte und offenbar nur vermeintlich als anthropologisch konstant zu betrachtende Graben zugeschüttet werden soll, und zwar restlos. Ob direkt krankheitsbezogen (Therapie) oder aber an einer gezielten Verbesserung des Menschen interessiert (Enhancement): Die biotechnologischen Revolutionen unserer Zeit sollen die Grenzen des Verfügbaren ausdehnen und das bislang Unverfügbare kassieren. »Gesundheit« und ein »langes Leben« – dies sind nicht länger teure Geschenke des Himmels, sondern kosten- und arbeitsintensive Produkte einer hochtechnisierten Lebenswelt. Damit aber wird eben jenes moderne Subjekt, das sich einst des technischen Fortschritts rühmen durfte, nunmehr selbst biotechnologisch überwunden. Denn mit der Differenz zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem »verschwindet« das moderne Subjekt, so wie man es kannte: ein Subjekt, in das jene Differenz konstitutiv eingetragen war. Aus dem ehemals modernen Programm der Kontingenzbewältigung ist ein spätmodernes Programm der Kontingenzbeseitigung mit weit reichenden Konsequenzen geworden. Eine philosophische Einschätzung dieser Vorgänge wird auf Anhieb mindestens drei Verwirrungen konstatieren müssen: Aus ethisch-existenzieller Sicht ist zu bedenken, dass die sich derzeit auf3 | Die hier als Gegensatz von Autonomie und Souveränität gefasste Differenz wird in der Literatur häufig auch als Widerstreit der Prinzipien »Autonomie und Authentizität« gedeutet; z.B. bei Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996. 4 | Wenn im Folgenden von »Spätmoderne« die Rede sein wird, dann ist damit ein zunächst bloß vager Begriff für einen Epochenabschnitt angeboten, mit dem ein Erschlaffen der vormals euphorisierenden Kräfte kapitalistischer Moderne angezeigt sein soll. Unter »Moderne« wiederum kann, ebenso vage, eine epochale Phase der K-R-I-S-E verstanden werden, d.h. ein umfassender Prozess der Kapitalisierung, Rationalisierung, Individualisierung, Säkularisierung und Enttraditionalisierung. Dazu Arnd Pollmann: Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld 2005, Kap. 6.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 311

lösende Differenz zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem für gewöhnlich – und bis auf weiteres jedenfalls – als eine notwendige Bedingung gelingenden Lebens angesehen werden muss. Echte Freiheit, Selbstbestimmung und auch Würde des Menschen sind als je eigene Antworten auf die vielfältigen Bestimmtheiten und Kontingenzen eines Lebens zu verstehen, das eben manchmal auch unfrei, fremdbestimmt und menschenunwürdig ist. Wenn nun aber mit derart einschränkenden Kontingenzen im Leben nicht mehr ernsthaft zu rechnen sein wird, was wird dann aus der einst so wegweisenden Idee einer selbstverantwortlichen und zugleich das Leben gelassen meisternden Existenz? Wenn es nicht länger etwas zu meistern gibt, weicht dann nicht das Souveränitätsanliegen restlos dem Kontrollzwang einer lückenlosen, »totalen« Autonomie? Aus moralischer Perspektive drängt sich die Frage auf, ob mit der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens nicht auch die elementarste normative Bedingung moralischen Miteinanders abhanden kommt. Moralische Regeln werden gemeinhin so verstanden, dass sie den Menschen vor den vielfältigen Kontingenzen des Lebens in Schutz nehmen oder ihn gar dafür entschädigen sollen. Daher wird, wer von moralischer Gerechtigkeit spricht, vom Faktum kontingenter, natürlicher Benachteiligungen und der Frage, ob es diese möglichst auszugleichen gilt, nicht schweigen dürfen. Auf den ersten Blick mag es zwar so aussehen, als werde der biotechnologische Fortschritt eines Tages direkt zu diesem humanitären Ausgleichsprojekt beitragen können; z.B. auf dem Wege gentechnologischer Manipulationen und Verbesserungen.5 Am Ende jedoch würde die Moral, ja, die Idee der Humanität insgesamt ihre entscheidende Hinsicht, ihren normativen Bezugspunkt verlieren, sollte als deren Adressat nicht länger der für Verletzungen und Kontingenzen anfällige Mensch in Frage kommen. Aus zeitdiagnostischer Sicht ist sehr wahrscheinlich, dass der Kontrollzwang der technologisierten Spätmoderne, der ja eigentlich dem Projekt der Kontingenzbeseitigung dienlich sein sollte, am Ende gänzlich neue Kontingenzen und Unverfügbarkeiten produziert.6 Der kollektiv-neurotische Zwang, dem anthropologischen Graben partout entkommen zu wollen, gleicht dem vergeblichen Versuch, an den glitschigen Wänden dieses Grabens empor zu klettern, wodurch die Senke bloß tiefer und tiefer wird. Nur um an dieser Stelle einige symptomatische Beispiele aus der modernen Humanmedizin zu nennen: Die Transplantationsmedizin hat gelernt, Herzen, Nieren und andere lebenswichtige Organe zu verpflanzen, doch sie hat sich damit ebenfalls die geradezu monströs anmutende Aufgabe aufgebür5 | Siehe dazu die aufschlussreichen Überlegungen von Allen Buchanan u.a.: From Chance to Choice. Genetics and Justice, New York 2000. 6 | Vgl. Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

312 | Arnd Pollmann det, die wenigen vorhandenen Spenderorgane »gerecht« verteilen und damit über Leben und Tod der potenziellen Empfänger entscheiden zu müssen. Gleichzeitig muss sie vermehrt gesunde Menschen dazu anhalten, zu Lebzeiten ihr Einverständnis zu erklären, sich im Todesfalle nach Art eines »Ersatzteillagers« zerlegen zu lassen. Um der gemeinten Organknappheit zu begegnen, wird seit vielen Jahren intensiv auch an der Übertragung von tierischen Organen auf menschliche Organismen geforscht. Dabei würde es massenhaft zur Bildung seltsamer Zwitterwesen, »Chimären« genannt, kommen, deren genetische Langzeitfolgen, d.h. Auswirkungen auf die Menschheitsentwicklung insgesamt, gänzlich unabsehbar sind. Ähnliches gilt für die Humangenetik selbst, die noch immer unerschütterlich von gesundheitsfördernden und lebensverlängernden Eingriffen in die menschliche Keimbahn träumt, obwohl sie im konkreten Menschenversuch bislang vor allem Krankheit und Tod gebracht hat.7 Auf verwandtem Gebiet, der so genannten Reproduktionsmedizin, weckt dieselbe Humangenetik derzeit größte Elternhoffnungen auf ein »Kind nach Maß«, deren Realisierung jedoch zahllosen embryonalen »Brüdern« und »Schwestern« das Leben kosten würde. Nahezu beliebig lassen sich diese medizinischen Beispiele fortsetzen.8 Einst warnten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung davor, dass zivilisatorische Naturbeherrschung und Selbstbehauptung langfristig in Naturzerstörung und Selbstvernichtung ausarten müssen.9 Doch muss an dieser Stelle zunächst unklar sein, wie sich in diese doch recht allgemeine medizinisch-zivilisatorische Problematik der zu Beginn diagnostizierte Hang zum transhumanen »Körperkult« einpasst. Tatsächlich geht, wie wir später noch sehen werden, der spätmoderne Kult um den Körper eine teils unheilvolle, teils produktive Allianz mit spezifisch modernen Strategien der technologischen Naturbeherrschung ein. Selbstschädigendes Verhalten fusioniert mit »angewandter Physik«. Bevor diese Fusion jedoch genauer analysiert werden kann, muss zuvor verständlich gemacht werden, wie die zunehmend frustrierte Hoffnung auf totale Verfügbarmachung mehr und mehr in Autoaggression hat umschlagen können.

7 | Siehe dazu den Themenschwerpunkt »Gentherapie«, in: Gen-ethischer Informationsdienst, 141/2000; Ulrich Förstermann: »Erste Erfolge – viele noch unerfüllte Hoffnungen«, in: Deutsches Ärzteblatt, 100/2003. 8 | Dazu exemplarisch Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, München 2002. 9 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 313

2. Prometheischer Selbsthass Wenn man die biopolitische Debatte unserer Tage bis zu deren ideologischen Rändern verfolgt und überdies für tiefenpsychologische Deutungen offen ist, dann mag einen nur zu oft der Verdacht beschleichen, dass in der Vehemenz, mit der sich heute selbsternannte »Lebensschützer« auf so genannte »Fortschrittsgläubige« stürzen, um diese diskursiv zu Monstern zu stempeln und aus der Debatte herauszuekeln, immer auch der eigene, wenngleich verdrängte, Machbarkeitswahn abgewehrt wird.10 Jedenfalls darf, wer angesichts der buchstäblich ungeheuerlichen Chancen auf Leidverminderung, Lebensverlängerung und Lebensverbesserung, die uns das medizinische Instrumentarium eines Tages bieten könnte, nicht schon einmal tief in die eigenen inneren Abgründe geschaut hat, getrost als ein kaum ernst zu nehmender Diskurspartner gelten, dessen unterdrückte Phantasien und Ängste frei flottieren und sich zu aggressiven Schüben formieren können, gerade weil sie nicht weiter reflektiert werden. Das Moralin der Debatte speist sich demnach nicht zuletzt aus verdrängten eigenen Phantasien der Machbarkeit. Diese Verdrängung wiederum dürfte das Ergebnis eines in den letzten Jahrzehnten immer häufiger auch in der Humanmedizin zu Tage tretenden »prometheischen Gefälles« sein: Der heutige Mensch vermag längst schon nicht mehr zu begreifen, was er herzustellen im Stande ist.11 Anstatt sich jedoch in der Technik auf vernünftige Selbstbeschränkung zu konzentrieren, schränkt der Mensch den eigenen Vernunftgebrauch ein und schaltet auf stur. Daraus resultiert eine merkwürdige mentale Konstellation: Zum einen bleibt der spätmoderne Mensch mit seinem Verstand um Längen hinter den großen technischen Prozessen zurück, die er in Gang setzt und hält, man denke an das Beispiel der Humangenetik, zugleich jedoch wird die technische Verfügungsgewalt des Menschen längst nicht all jenen Hoffnungen und Träumen gerecht, die seinen Fortschrittsoptimismus einst beflügelten. Aus dieser doppelten mentalen Konstellation, so lautet die in diesem Abschnitt zu erhellende These, resultiert ein weit verbreitetes »Unbehagen an der Medizin«, das inzwischen auch viele jener Menschen befallen haben dürfte, die sich nicht an einem der beiden oben genannten ideologischen 10 | Nur um zwei besonders anschauliche Diskursbeispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: die Debatte um Peter Singers präferenzutilitaristische Thesen zur Tötung nicht-personalen menschlichen Lebens sowie der Streit um Peter Sloterdijks berüchtigte »Rede über den Menschenpark«. 11 | So lautet die bereits aus dem Jahre 1956 stammende, seinerzeit vor allem auf die Atombombe gemünzte Diagnose von Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1992.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

314 | Arnd Pollmann Ränder tummeln. Odo Marquard hat dieses – für die Spätmoderne geradezu typische – anti-medizinische Unbehagen treffend das »Prinzessin-aufder-Erbse«-Syndrom getauft.12 Echte Prinzessinnen, so heißt es im gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen, sind für gewöhnlich derart gut behütet, dass schon eine kleine, unter Decken und Matratzen verborgene Erbse sie nicht mehr schlafen, sondern schrecklich leiden lässt. Eben dadurch, so Marquard im Anschluss an Andersen, sind sie als wahre Prinzessinnen zu erkennen. Auf die biopolitische Problematik übertragen: Nicht nur senkt die zunehmende Entlastung spätmoderner Menschen von Krankheit und Leiden deren Reizschwelle, so dass schon kleinere Übel hypochondrisch zu tödlichem Leiden überhöht werden. Zudem weckt der medizinische Fortschrittsglaube eine Hoffnung auf vollkommene Leidfreiheit, die aufgrund der menschlichen Endlichkeit schlicht enttäuscht werden muss. Dabei entsteht ein Frust, so Marquard, der sich ein Ventil sucht und sich schließlich gegen denjenigen wendet, der einst Hoffnungen auf medizinische Erlösung weckte: die Medizin selbst. Je besser der spätmoderne Patient medizinisch versorgt wird, desto stärker leidet er an den wenigen Symptomen, die übrig bleiben. Und je weiter die zunächst hoffnungsfroh stimmende Ausdehnung des medizinisch Verfügbaren voranschreitet, umso größer wird die Verachtung gegenüber jenen zunehmend dämonisierten Hochtechnologien, die notgedrungen Reste an Unverfügbarem produzieren müssen; wie immer klein die verbliebenen »Erbsen« auch sein mögen. Das ist der Kern der derzeitigen Halbgötterdämmerung in Weiß. Aber – und dies ist der entscheidende Punkt – der wehleidige Frust der spätmodernen Prinzessinnen wendet sich am Ende eben nicht nur gegen die leeren Versprechungen der Medizin, sondern vor allem auch gegen denjenigen, der sich bis auf weiteres unverfügbar und widerständig zeigt: den eigenen Körper. Genau an diesem Punkt schlägt der medizinisch-technische Kampf um Verfügbarkeit ins Monströse um. Die einstige Erlösungsaussicht weicht prometheischem Selbsthass und prometheischer Selbstdestruktion. Denn je mehr Leiden beseitigt werden, desto stärker wird die autoaggressive Sucht und Sehnsucht, den eigenen Körper für seine Unverfügbarkeit haftbar zu machen. Das aber bedeutet auch: Je mehr Leiden künstlich beseitigt werden, umso mehr Schmerzen müssen ebenso künstlich geschaffen werden. Denn uns Spätmodernen dämmert allmählich die Überzeugung, dass ein Leben gänzlich ohne Leiden gar kein Leben wäre. Völlige Schmerzlosigkeit würde Empfindungslosigkeit und Abgestumpftheit mit sich bringen. Und wer keine Schmerzen verspürt, eben das können wir aus Andersens Märchen lernen, dessen Leben kann nicht viel wert sein, denn allein allerhöchste Sensibilität für Schmerzen adelt den Menschen. Daher lautet das 12 | Odo Marquard: Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994, S. 99-109.

2006-02-06 17-38-57 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 315

Motto: Lieber eine Erbse unter der Matratze als ein Leben in ausnahmslos weichen Federn. Lieber ein gewaltsames Traktieren der eigenen Hülle sowie ein Leben hart an der eigenen Grenze als die gefühlskalte Formlosigkeit einer hochtechnologisierten Welt, in der das eigene Leben – ganz ohne Schmerzen – keine deutliche Konturen mehr gewinnen kann. Kurz: Die technologisch unterstütze, seelische Konturlosigkeit unserer Zeit, die ein Bündnis mit prometheischem Selbsthass eingegangen ist, hat inzwischen ein Ausmaß angenommen, dem allein noch gewaltsam, und zwar autoaggressiv, zu begegnen ist.

3. Schmerz, lass nach! Das spätmoderne Selbst, so wird sich nun zeigen, ist seelisch krank, indem es die vier gewalttätigsten Verfahren technologischer Naturbeherrschung des 20. Jahrhunderts zu autoaggressiven Selbsttechniken des 21. Jahrhunderts perfektioniert. Gemeint sind die Verfahren der »Explosion«, »Implosion«, »Kernspaltung« und »Kernfusion«.

3.1 Der Wahn der Größe oder Das Prinzip narzisstischer Explosion Was, so mag man sich fragen, haben derart unterschiedliche Selbsttechniken wie Schönheitschirurgie, Bodybuilding, Doping oder Extremsport gemein? Nun, nur zu oft werden diese dazu dienen, künstlich ein in seiner vermeintlichen Kleinheit und Bedeutungslosigkeit als unerträglich empfundenes Selbst aufzuwerten. Offenkundig geschieht dies in der Hoffnung, in den Augen der unmittelbaren sozialen Umgebung endlich jene Anerkennung zu erfahren, nach der man sich schon lange sehnt. Häufig jedoch erweist sich diese Sehnsucht als unstillbar. Denn jeder situative Erfolg scheint lediglich eine gesteigerte Fortsetzung des Bemühens um Größe erzwingen zu wollen. Es ist, als habe der eigene Anerkennungstank Leck geschlagen. So droht ein unabschließbarer Prozess der Selbstüberbietung und Selbstperfektionierung. Genau das ist, psychopathologisch betrachtet, der seelische Grundkonflikt des so genannten Narzissten.13 Dessen tief sitzender Verdacht, im Grunde nicht viel wert zu sein, muss durch Aufbau einer Fassade stetig wachsender Großartigkeit überspielt werden. Die innere Leere der narzisstischen Persönlichkeit kann allein dadurch kompensiert werden, dass ein grandioser Popanz aufgeblasen wird. Entsprechende psycho13 | Vgl. Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt/M. 1978.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

316 | Arnd Pollmann physische Körperselbsttechniken folgen, physikalisch gesehen, dem Vorbild der Explosion: Das tendenziell größenwahnsinnige narzisstische Selbst bläht sich so lange auf, bis es platzt.14

3.2 Alles unter Kontrolle oder Das Prinzip zwanghafter Implosion Anders sieht es bei Personen aus, die, psychologisch gesehen, einen Hang zur Zwanghaftigkeit aufweisen. Deren seelischer Grundkonflikt lässt sich wie folgt charakterisieren: Aus Angst vor der eigenen Vergänglichkeit und äußerem Chaos muss die zwanghafte Person unumstößliche, felsenfeste Fakten schaffen.15 Doch jeder Hydra, der man einen Kopf abschlägt, wachsen mindestens zwei Köpfe nach. Der Innendruck der zwanghaften Person wächst, und immer mehr Zwang ist nötig, um diesem Druck Stand halten zu können. Entsprechend werden psychophysische Bewegungsformen gewählt, in denen temporär, wenngleich dosiert und äußerst kontrolliert, Druck abgelassen werden kann. Zwanghafte, suchtartige Selbsttechniken, z.B. das »Sammeln« von Tätowierungen, die »fürs Leben« kennzeichnen, aber auch hypochondrische Selbstpflegetechniken oder generalstabsmäßig angelegte Anti-Aging-Programme sind in diesem zwangsneurotischen Sinne als zutiefst konservativ aufzufassen. Der »spießige« und letztlich unstillbare Wunsch nach einer unveränderlichen äußeren Ordnung wird am eigenen Körper eisern vollstreckt. Zwanghafte Selbsttechniken folgen, physikalisch betrachtet, dem Verfahren der Implosion: Das Kontroll-Selbst tritt und rotiert auf der Stelle, so wie ein Kreisel, der drehend erstarrt, bevor die Bewegung in sich zusammenfällt.16

3.3 Offener Grenzverkehr oder Das Prinzip schizoider Kernspaltung Von zeitdiagnostisch enormer Bedeutung sind heute vor allem auch solche Körperselbsttechniken, in denen tiefe, innere Zerrissenheiten der Akteure zum Ausdruck kommen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Exzessiver Körperschmuck, man denke an »Piercing«, »Branding«, »Splitting« oder »Scarcing«, aber auch das so genannte Ritzen seelisch leidender Ju14 | Man denke hier z.B. an steroidabhängige Muskelpakete oder an die Gesichtsspannung älterer Damen nach dem x-ten Facelifting. 15 | Vgl. Fritz Riemann: Grundformen der Angst, München 1961, Abschnitt 3. 16 | Man antizipiere z.B. die Verzweiflung einer nach Tätowierung süchtigen Person, auf deren Körper kein Platz mehr für weitere Bilder oder »Tribals« (Ornamente) ist.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 317

gendlicher, lassen sich in diesem Sinne als »Identitätsarbeit am eigenen Fremdkörper« deuten.17 Der schizoide Grundkonflikt der betroffenen Personen lautet: Sie lieben es, von anderen Menschen abhängig zu sein, aber zugleich hassen sie es auch. Entsprechend wirken diese innerlich zerrissenen »Borderliner« im menschlichen Miteinander zumeist entweder völlig distanzlos oder aber gänzlich abwesend. Da ihnen die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst ständig zu verschwimmen droht, sehen sich Borderliner unentwegt genötigt, künstlich entsprechende Grenzen zu markieren. Die genannten Selbsttechniken sollen helfen, mit der eigenen Haut die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Ich und Nicht-Ich zu markieren. Letztlich jedoch manifestieren diese Praktiken nur die schmerzliche Abwesenheit klarer Grenzen. So kommt es in identitätstheoretischer Hinsicht zur Kernspaltung: Das zwischen Nähe und Distanz pendelnde, innerlich zerrissene Selbst grenzt und spaltet sich ab, bis es selbst nichts anderes mehr als Grenze und Spalte ist.18

3.4 Sucht und Sehnsucht oder Das Prinzip depressiver Kernfusion Eine vierte Strategie psychophysischer Selbstmanipulation weist eher depressiven Charakter auf. Der zentrale seelische Konflikt von Personen, die zu Depressionen neigen, wird aus klinisch-psychologischer Sicht in etwa wie folgt beschrieben: Depressive Menschen schwanken, und zwar letztlich ohne jede Hoffnung, zwischen der unerfüllten Sehnsucht, dass andere Menschen sich um sie sorgen mögen, und dem am Ende ebenso unstillbaren Bedürfnis, sich stattdessen um andere zu kümmern.19 Entsprechende Selbsttechniken, wie sie z.B. im Diätwahn, in schweren Essstörungen oder auch in masochistischen Sexualpraktiken zum Ausdruck kommen, fußen auf depressiven Grundstimmungen, von denen aus psychoanalytischer Sicht anzunehmen ist, dass sie auf ein emotional frustrierendes Versorgungs- und Abhängigkeitsverhältnis in frühester Kindheit schließen lassen. 17 | J. Erik Mertz: Borderline. Weder tot noch lebendig, Stuttgart 2000, bes. S. 229ff. 18 | Dass vor einiger Zeit das Mitgliedermagazin einer großen deutschen Krankenkasse (TK) mit dem Thema »Harmlos oder gefährlich? Körperschmuck« aufmachte und die unfreiwillig komisch wirkende Empfehlung aussprach: »Schminke auf Wasser-Basis wird für die Körperbemalung besonders gern benutzt«, mag als Indiz für das sich zunehmend auch gesundheitspolitisch auswirkende Problem herhalten. 19 | Dazu und für das Folgende siehe auch Riemann: Grundformen der Angst, Abschnitt 2.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

318 | Arnd Pollmann Die für depressive Personen charakteristische Schwermut und Sehnsucht ist somit »Sucht« nach dem versorgenden Anderen. Depressive Selbsttechniken folgen dem physikalischen Vorbild der Kernfusion: Um weiteren Frustrationen zu entgehen, ist das sich verzweifelt nach Fürsorge sehnende Selbst dazu bereit, sein empirisches Ich vollständig aufzugeben, nur damit innerlich die Phantasie einer totalen Verschmelzung mit anderen Personen aufrechterhalten werden kann.20 Fassen wir zusammen: Je nach Gestalt der betreffenden Körpertechniken sowie der charakterlichen Dispositionen der Akteure können vier klassische Verfahren angewandter Physik unterschieden werden, die derzeit massenhaft zu latent pathogenen Selbsttechniken des 21. Jahrhunderts perfektioniert werden. Insofern die betroffenen Akteure allesamt mit der existenziellen Schwierigkeit zu kämpfen haben, sich selbst und ihrem Leben Grenzen aufzuzeigen und dadurch Form zu geben, kommt ihnen der spätmoderne Kulturbetrieb mit vielfältigen Gestaltungsvorschlägen entgegen: Schönheits- und Diätwahn, schmerzhafter Körperschmuck, Extremsport, Lifestyle-Psychopharmaka, Doping, Anti-Aging-Programme etc. Mit diesen Phänomenen ist ein Zuwachs an Körpertechniken in der Grauzone zwischen Selbstbeherrschung und Selbstverstümmelung indiziert. Dem exzessiven Körperkult geht es auf je unterschiedliche Weise darum, die psychophysische Schwelle, die vom Ich zur Außenwelt führt, spürbar werden zu lassen, weil diese Schwelle stets aufs Neue abzuflachen droht. Die auffällige Konjunktur der genannten Selbsttechniken mag aus Sicht der Akteure zwar auf neu gewonnene Freiheiten zurückgeführt werden, vieles aber spricht dafür, hier die destruktive Schlagseite einer Dialektik scheiternder Grenzziehungsversuche wirken zu sehen, die der spätmoderne Körperkult am eigenen Leibe exekutiert. Im Zuge einer für Druckausgleich sorgenden, geradezu fanatisch kontrollierten Selbstaneignung wird die schmerzhafte Rückeroberung der eigenen Identitätsgrenzen, d.h. die Wiedergewinnung einer »gesunden« Distanz zur Außenwelt vorangetrieben, solange bis sich die Betroffenen fast vollständig in der schmerzhaften Praxis der Grenzziehung erschöpfen.21 Wichtig ist jedoch: Nicht der Schmerz als solcher wird gesucht, sondern 20 | Nach Riemann kann ein Mensch aber auch dadurch depressiv werden, dass man ihn in seiner Kindheit zu sehr verwöhnt. Verglichen mit der totalen Versorgung des Elternhauses muss dann die Unwirtlichkeit des späteren Leben als anhaltende Enttäuschung erfahren werden. 21 | In diesem Sinne ist auch das Motto zu verstehen, das dem vorliegenden Text voransteht. Vgl. zudem Arnd Pollmann: »Erhöhter Grenzverkehr. Die Symbiose zwischen der Spätmoderne und dem Borderline-Syndrom«, in: Berliner Debatte Initial, 1/2004.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 319

allein der durch ihn bewirkte Identitätsgewinn. Die Schmerzen selbst werden, auch wenn sie notwendig erscheinen, eo ipso abgelehnt.22 Bejaht wird lediglich das Leben, in dem Schmerzen bisweilen unvermeidlich sind. Diese Affirmation bestätigt jedoch allein die Tatsache, dass der Mensch durch die Schmerzen seines Lebens nicht nur desintegriert, sondern eben auch vorangebracht werden kann. Eine Bejahung einzelner konkreter Schmerzen ist darin jedoch nicht schon impliziert. Schön ist deshalb nicht der Schmerz, sondern schön ist, wenn der Schmerz nachlässt. Verneint wird die Aussicht auf eine gänzlich formlose Existenz, in der jegliche Schmerzen ausbleiben würden. Denn dies wäre gar kein Leben. Schmerzlosigkeit muss vielmehr als ein Zeichen von Nicht-Existenz angesehen werden. Höchste Schmerzbereitschaft hingegen – erinnert sei an die Prinzessin auf der Erbse – zeichnet den wahrhaft edlen Charakter aus. Kurz: Die Spätmoderne kann als eine Aristokratie der Selbstschädigung betrachtet werden.

4. Fit fürs Kapital Doch sollte man diese Diagnose nicht überziehen, indem man die Anhänger des heutigen Körperkults einseitig pathologisiert.23 Will man für die Spätmoderne einen augefälligen »Zuwachs« an selbstdisziplinierenden Körpertechniken diagnostizieren, so wird man dafür nicht bloß individualpsychologische, sondern auch sozialpsychologische, z.B. kulturelle oder sozioökonomische, Faktoren verantwortlich machen müssen. Bislang war hier behauptet worden: Je seltener spätmoderne Individuen »echte« Grenzerfahrungen machen, desto häufiger müssen solche einschneidenden Erfahrungen simuliert oder künstlich erzeugt werden. Wenn das Leben kaum noch authentische Stigmata bereithält, wird das Bedürfnis nach pseudo-authentischer Selbstprägung wachsen. Und diese anschwellende Nachfrage wiederum scheint einer ebenfalls florierenden Schmerzindustrie, die das massenhaft ungestillte Grenzziehungsverlangen zu bedienen und zu beflügeln weiß, als Steilvorlage zu dienen; man denke in diesem Zusammenhang z.B. an die derzeitige TV-Konjunktur schönheitschirurgischer Vorher-NachherFormate. 22 | In Friederich Nietzsches Das Trunkene Lied heißt es zutreffend: »Weh spricht: Vergeh!« 23 | Spätestens an dieser Stelle hat der Hinweis zu erfolgen, dass meine Überlegungen primär auf frenetische Überzeugungstäter gemünzt sind. Inwieweit das Argument auch bei »Mitläufern« trägt, d.h. bei jenen, die im Rahmen ihrer Identitätsfindung mit nur einem »lustigen« Tattoo oder schmucken Nasenring auskommen, wäre zu diskutieren.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

320 | Arnd Pollmann Tatsächlich läge man zwar nicht falsch, aber man argumentierte doch zu schlicht, wollte man die heute bis zum körperlichen Autoplastinat24 reichende Selbstausbeutung spätmoderner Individuen als ein ökonomisch induziertes Entfremdungsphänomen der sich ausweitenden konsumistischen Industriegesellschaft deuten. Man würde nicht nur die psychologischen Entstehungsbedingungen pathogener Selbstverstümmelungstendenzen übersehen, die ja zumeist in frühen familiären Fehlkonstellationen und/oder in traumatischen Ereignissen zu verorten sein dürften25, sondern vor allem auch die Tatsache, dass die Industriegesellschaft selbst sich in entscheidenden Hinsichten verändert hat, wodurch gänzlich neue Formen einer den Körper betreffenden Alltagsmoral hervorbracht worden sind. Noch im 19. Jahrhundert, d.h. zu Beginn des sich ausweitenden Großkapitalismus, hatte der Arbeitnehmer, wie einst Karl Marx so treffend anmerkte, keinen anderen Besitz, den er hätte veräußern können, als »die Ware Arbeitskraft«. Daher war er gezwungen, seine »Haut« zu Markte tragen. Beim Eintritt in die Produktionssphäre, so Marx, »verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei«.26

Im Übergang zum 21. Jahrhundert jedoch nimmt diese dermatologische Selbstvermarktung eine gänzlich neue Qualität an.27 Im heutigen Arbeitsund Produktionszusammenhang, für den die Marktmetapher kaum mehr taugt, weil es gar kein Außerhalb des Marktplatzes mehr zu geben scheint und sich stattdessen ein weitverzweigtes »Netz« von prekären, temporären, projektbasierten Kontaktaustauschprogrammen über nahezu sämtliche Lebensbereiche gelegt hat, wird das spätmoderne Selbst in noch viel stärkerem Maße, als es je denkbar erschien, zum Unternehmer in eigener Sache: 24 | Man nehme das Beispiel der US-Amerikanerin Cindy Jackson, die sich in einer Vielzahl von Schönheitsoperationen zur lebende Barbie-Puppe hat umbauen lassen, und zwar zunächst, wie sie selbst es einmal ausgedrückt hat, um die »verhassten Gesichtszüge des Vaters« nicht mehr im Spiegel sehen zu müssen. Vgl. dazu http://www.zeit.de/archiv/2002/02/200202_schoenheit.3.xml (Stand: 11. November 2005). 25 | Vgl. Mertz: Borderline. 26 | Karl Marx: Das Kapital I, Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 191. 27 | Für das Folgende vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 321

zur »Ich-AG«. Da das lebenslange Anstellungsverhältnis passé ist, da also beide, Arbeitnehmer und Arbeitslose, geradezu unentwegt nach neuen Beschäftigungs- und Projektverhältnissen Ausschau halten müssen, wird nunmehr die Haut samt der sich vormals dahinter verbergenden, ungeteilten Persönlichkeit zu Markte getragen: »Insofern jeder sein eigener Produzent ist, übernimmt er für seinen Körper, sein Image, seinen Erfolg und sein Schicksal selbst die Verantwortung.«28 Trotz der vielen Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Phasen der kapitalistischer Entwicklung, ist der für unsere Belange entscheidende Unterschied folgender: Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat die Trennung von Privat- und Berufssphäre, Freizeit und Arbeitszeit vollzogen und zementiert. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts jedoch hebt diese Trennung wieder auf, und zwar gänzlich. In der heutigen Zeit nämlich geht es schlicht darum, nicht nur in der eigentlichen Arbeitswelt, sondern unentwegt Aktivität, Netzwerktauglichkeit und vor allem auch Schmerztoleranz zu demonstrieren. Und der sichtbare Umbau des eigenen Körpers durch Fitness, Diät, Schönheitsoperationen, Körperschmuck etc. soll diese ständige Aktionsbereitschaft und Schmerztoleranz bereits aus sicherer Entfernung erkennbar werden lassen. Wer hingegen nicht bereit ist, Hand an sich zu legen und hart an der eigenen Grenze zu agieren, der offenbart fehlende Integrationsbereitschaft. Gefragt sind heute körperbezogene Eigenschaften wie Fitness, Beweglichkeit, Jugendlichkeit oder Schönheit, deren Erwerb bzw. Erhalt normalerweise Torturen darstellen. Diese Ansprüche werden im Körperkult, und zwar nicht zuletzt durch medizinisch-technisch unterstütztes Enhancement, »inkorporiert«, d.h., sie gehen den spätmodernen Individuen in Fleisch und Blut über: »Die neue, unerklärte Körpernorm ist strenger als in Sparta und im Nationalsozialismus, aber eben doch die Norm. Man sieht hin, findet Wohlgefallen und vergisst sofort.«29 Man hat sich diese Entwicklung nicht bloß als einen verfeinerten sozioökonomischen Anpassungsprozess vorzustellen, sondern als eine neue Variante kapitalistischer Lebensführung: Aus dem »flexiblen Menschen« (Richard Sennett) des späten 20. Jahrhunderts wird der autoplastische »Prothesengott« (Sigmund Freud) des 21. Jahrhunderts, der keine Grenzen des Verbiegens mehr kennt und sich schon jetzt als humantechnologische Schnittstelle für weitere Umbaumaßnahmen anbietet. Doch muss man es auch hier vermeiden, einseitig klare Verantwortlichkeiten zuweisen zu wollen. Die spätkapitalistischen Tauschzusammenhänge verursachen nicht schon kausal die Selbstausbeutung des Individuums im Körperkult. Diese 28 | Ebd., S. 208. 29 | Frank Böckelmann: »Entwaffnend ist die Unschuld riesiger junger Schnuten«, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Mai 2002.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

322 | Arnd Pollmann Selbstausbeutung kommt dem Kapitalismus lediglich mit großen Schritten entgegen. Nach Art einer »Wahlverwandtschaft« gehen pathogene Körperselbstdisziplinierungen und spätkapitalistische Arbeits-, Produktions- und Konsumverhältnisse eine parasitäre Symbiose ein. Deren Entstehungsursachen mögen jeweils ganz woanders zu verorten sein, sie haben sich nicht etwa kausal oder wechselseitig hervorgebracht, doch heute stehen sie zueinander in einem Verhältnis gegenseitiger Begünstigung und Beförderung.30

5. Fazit Noch vor nicht allzu langer Zeit waren extreme Körpermodifikationen, etwa in Gestalt von derbem Körperschmuck, Ausdruck von Andersartigkeit, exotischer Wildheit, ja, von moralischer Ruchlosigkeit; jedenfalls in unseren Breitengraden.31 Tätowierungen, Brandnarben und sonstige »unter die Haut« gehende Körperzierde waren erzwungene oder auch freiwillige Stigmata mutmaßlicher outlaws. Heute jedoch dienen dieselben Praktiken einer restlosen Inklusion in das schmerzhafte, pathologische Gesamtgefüge unserer Gesellschaft. Die stigmatisierte Minderheit wird zur Mehrheit, das Stigma selbst zum Zugehörigkeitszeichen. Einst symbolisierte exzessiver Körperkult die Sehnsucht nach einem wilden »Urzustand«, mittlerweile jedoch muss er als Zeichen äußerster Zivilisierung gedeutet werden. Anders gesagt: Waren diese Körperselbsttechniken früher als der Versuch eines Ausbruchs aus der Enge der – zumeist bürgerlichen – Gemeinschaft zu verstehen, müssen sie heute als Indizien einer äußersten Gefangenschaft gewertet werden; einer Gefangenschaft, die allenfalls noch eine simulierte »Binnenexotik« in Gestalt von modern primitives zulässt.32 Auch in diesem Sinne sind die gemeinten Körperselbsttechniken »Grenzziehungen«, und zwar zwischen denen, die bereits dazu gehören, und solchen, denen durch medizinisch-technische Körpermanipulation erst noch auf die Sprünge geholfen werden muss. Nicht, dass es den Akteuren stets bewusst wäre, doch die frenetischen Anhänger des derzeitigen Körperkults agieren am eigenen Leibe ein zeittypisches Unbehagen aus, das sich, wie hier gezeigt werden sollte, aus mindestens vier Quellen speist. Da ist, erstens, die Enttäuschung darüber, dass 30 | Zu dieser sozialpathognostischen Interpretation der bekanntlich von Max Weber auf soziologische Zusammenhänge übertragenen Idee der »Wahlverwandtschaft« vgl. Pollmann: Integrität, Kap. 6. 31 | Zum Folgenden vgl. Stephan Oettermann: Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Hamburg 1994. 32 | Ebd, S. 60.

2006-02-06 17-38-58 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hart an der Grenze | 323

das moderne und nicht zuletzt medizinisch-technisch gedeutete Projekt einer maximalen Ausdehnung menschlicher Verfügungsgewalt über das menschlich Unverfügbare grandios zu scheitern droht. Diese Enttäuschung schlägt, zweitens, um in einen prometheischen Selbsthass, dem vor allem auch derjenige zum Opfer fällt, der sich gegenüber den Fortschritten in Medizin und Technik dauerhaft widerständig zeigt: der menschliche Körper. Daraus resultiert, drittens, eine sich massenhaft entladende Autoaggression, die zumeist einen von vier psychopathologischen Wegen wählt, die von den gewaltsamen Naturbeherrschungsstrategien des letzten Jahrhunderts bereits vorgezeichnet waren: narzisstische Explosion, zwanghafte Implosion, schizoide Kernspaltung oder depressive Kernfusion. Damit ist, viertens, der Weg für eine massenhafte Bereitschaft spätmoderner Individuen geebnet, sich einer latent pathologischen Körpernorm zu unterwerfen, die der spätmoderne Kapitalismus zwar nicht selbst hervorgebracht haben mag, die ihm aber zweifellos zupass kommt. Und dennoch ist zu vermuten: Die sich derzeit massenhaft selbst verstümmelnden Individuen reagieren bloß folgerichtig auf die seelische Formlosigkeit und Verwahrlosung einer Welt, die es ihnen unmöglich macht, ganz ohne Gewalt am eigene Körper individuelle Identitätsgrenzen nach innen fühlbar sowie nach außen erkennbar werden zu lassen. Der Eintritt in die Kampfzone einer Identitätsarbeit am eigenen Fremdkörper folgt einer schier unstillbaren Sehnsucht nach klaren Fronten. Wer die eigenen Körpergrenzen bis hin zu deren Vernichtung traktiert, folgt dabei letztlich einem Verlangen nach Kontur. Damit ist eine schicksalhafte Unstimmigkeit unserer Zeit diagnostiziert, deren Konsequenzen bislang noch gar nicht angemessen abzuschätzen sind: Der vermeintlich kranke Körperkult mag für immer mehr Menschen zur einzigen Chance werden, seelisch gesund zu bleiben.

Literatur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1992. Böckelmann, Frank: »Entwaffnend ist die Unschuld riesiger junger Schnuten«, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Mai 2002. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Buchanan, Allen u.a.: From Chance to Choice. Genetics and Justice, New York 2000. Förstermann, Ulrich: »Erste Erfolge – viele noch unerfüllte Hoffnungen«, in: Deutsches Ärzteblatt, 100/2003. Fukuyama, Francis: Das Ende des Menschen, München 2002.

2006-02-06 17-38-59 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

324 | Arnd Pollmann Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969. Kamper, Dietmar: Abgang vom Kreuz, München 1996. Kernberg, Otto F.: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt/M. 1978. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München 1997. Marquard, Odo: Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994. Marx, Karl: Das Kapital I, Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1962. Menke, Christoph: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996. Mertz, J. Erik: Borderline. Weder tot noch lebendig, Stuttgart 2000. Oettermann, Stephan: Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Hamburg 1994. Pollmann, Arnd: »Erhöhter Grenzverkehr. Die Symbiose zwischen der Spätmoderne und dem Borderline-Syndrom«, in: Berliner Debatte Initial, 1/2004. Pollmann, Arnd: Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld 2005. Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, München 1961.

2006-02-06 17-38-59 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 307-324) T05_02 pollmann.p 107239501846

Hybridisierung oder Anerkennung? | 325

Hybridisierung oder Anerkennung? Zwei Politiken des Körpers in den Filmen David Cronenbergs und der Farrelly-Brüder Robin Celikates, Simon Rothöhler

Einleitung Keine Zeitdiagnose kann umhin, den ambivalenten Status des Körpers in der Spätmoderne zu registrieren. Diese Ambivalenz lässt sich – vorläufig jedenfalls – in der paradoxen Formulierung festhalten, dass dem Körper exakt im Moment seines »Verschwindens« ein überragendes Gewicht zukommt. Wie lässt sich diese Gleichzeitigkeit von sozialer bzw. kultureller Aufwertung und ontologischer Auflösung verstehen und was bedeutet sie für jene emanzipatorischen Politikverständnisse, die auf die Befreiung des Körpers zielen? Einerseits kommt dem Körper seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine zunehmend zentrale Stellung in der Alltagspraxis, der Konsumkultur und den theoretischen Selbstbeschreibungen der spätkapitalistischen Massengesellschaften zu.1 Dafür, dass der eigene Körper von immer größeren Teilen der Bevölkerung immer stärker als Projekt verstanden wird, an dem gearbeitet werden kann und muss, gibt es zahlreiche sozialstrukturelle und kulturelle Ursachen. Dabei kann man etwa an das Ende der klassischen Arbeitsgesellschaft und die Verlagerung der Formung des Körpers in den Bereich der Freizeit und des Konsums denken, ebenso an die Individuali1 | Vgl. zum Folgenden Chris Shilling: The Body and Social Theory, London 2003; Richard Shusterman: »Die somatische Wende in der heutigen Kultur«, in: ders.: Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, Berlin 2005.

2006-02-06 17-38-59 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

326 | Robin Celikates, Simon Rothöhler sierung des Körpers, die diesen aus religiösen und sozialen Bedeutungsregimes herauslöst und zum Ausdrucksmedium individueller Identität werden lässt. Aber auch die Entwicklung neuer biomedizinischer und -technologischer Eingriffsmöglichkeiten sowie der allgemeinere gesellschaftliche Trend zur Ästhetisierung der Lebenswelt und auch die feministische Kritik an der Verdrängung der Körperlichkeit aus der westlichen Philosophie und Alltagskultur haben zu einem neuen Arrangement materieller und diskursiver Praktiken, die um den Körper zentriert sind, geführt. Andererseits kommt es aber parallel zu dieser sozialen und kulturellen Aufwertung des Körpers zur Auflösung seiner Materialität. An den materiellen Körper und die authentische Erfahrung von Körperlichkeit zu glauben, jenseits der Zeichensysteme, Signifikationspraktiken und Machtnetze, erscheint zunehmend naiv und ideologisch. Nach der poststrukturalistischen, feministischen und wissenschaftssoziologischen Kritik an Biologismus und Essentialismus, die ja in der Tat immer auch zur Eskamotierung von über die Universalisierung partikularer Körpernormen stabilisierten Formen sozialer Herrschaft gedient haben, bleibt vom Körper wenig mehr als der durch diskursive Praktiken erzeugte, kontingente Effekt von Körperlichkeit. Will man allerdings die Diagnose der Auflösung des ontologischen Substrats des Körpers für das Geraune einiger dunkler französischer Intellektueller halten – eine gerade in Deutschland immer noch gängige Strategie des Rückzugsgefechts –, so verfehlt man die Einsicht, dass die in der Theorie geleistete Arbeit der Dekonstruktion des Körpers ihre »realgeschichtliche« Entsprechung hat: Die von den nun schon gar nicht mehr so neuen »Anthropotechniken« (Peter Sloterdijk) ermöglichte Manipulation und Transformation dessen, was einst für die nur bedingt veränderbare menschliche Natur gehalten wurde, lässt den Körper längst nicht mehr als natürliche und stabile Grundlage aller unserer Praktiken erscheinen, sondern als Medium, Objekt und Ergebnis einer auf Dauer gestellten De- und Rekonstruktion. Damit ist ein Versprechen in Erfüllung gegangen, von dem sich die Liebhaber und Verächter des Körpers gleichermaßen einiges erwartet hatten: über den Körper frei verfügen zu können, statt ihm einfach ausgeliefert zu sein. Man könnte nun tatsächlich glauben, mit der Denaturalisierung des Körpers, d.h. mit seiner Entlassung aus als Natur verkleideten gesellschaftlichen Zwangssystemen, sei der Körper auch als Politikum erledigt. Denn für welche Befreiung sollte man fortan noch kämpfen? Das aber wäre eine Täuschung. Die erweiterten Möglichkeiten der Manipulation des Körpers im Dienste seiner Perfektionierung brachten nämlich nicht nur individuelle Freiheits- und Gestaltungsgewinne mit sich. Vielmehr dämmerte den neuen, freigesetzten Subjekten schon bald, dass sie sich als Unternehmer ihrer selbst – und das heißt auch: ihrer Körper – noch stärker als bisher in den

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 327

Netzen sozialer, ökonomischer und politischer Rationalisierung, Standardisierung und Regulierung verfingen.2 Die neuen Kontrollnetze büßen ihre Effektivität keineswegs ein, nur weil sie größtenteils nicht mehr gewaltförmig organisiert sind. Dass die zeitgenössischen Körpertechniken auf lautlose Weise vor allem die Verdinglichung und Kommodifizierung des Körpers vorantreiben, ist nicht nur ein Lieblingstopos der zum Teil linkskonservativen Kultur- und Gesellschaftskritik. Der Realitätsgehalt dieser Diagnose ist schwer zu übersehen: Nicht nur wird der Körper – meist von den Subjekten selbst, und zwar in zwangssubstituierender Anpassungsleistung – zum Objekt unendlicher Optimierung gemacht, und zwar mit Blick auf ein kulturell hegemoniales und symbolisch ausgezeichnetes Ideal, das ständige Investitionen in das eigene Körperkapital erfordert. »Bodies – whole or in parts« sind vielmehr schon lange – und nicht erst seit den bizarren China-Aktivitäten des Beuys-Wiedergängers Gunther von Hagens – integraler Bestandteil globalkapitalistischer Waren- und Dienstleistungsströme.3 Mit dem eindeutigen Gegner – der auf den Körper von außen einwirkenden Macht und ihren Agenten – ging aber auch die Eindeutigkeit des politischen Status und der politischen Signifikanz jener »Baumaßnahmen am menschlichen Körper« verloren, die diesem einst die Freiheit versprachen. Im Folgenden möchten wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es um die Politizität des Körpers, um seinen politischen Status und seinen Status als Politikum steht: Mit welcher Körperpolitik kann man aus einer emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Theorieperspektive auf die Neuverortung des Körpers im spätmodernen Macht-Wissen-Feld reagieren? Dabei wird es uns weniger um realpolitische Kämpfe als um deren kulturelle – insbesondere filmische – Repräsentation, Begleitung und Vorbereitung gehen. Zunächst werden wir eine eher abstrakte Bestimmung einer ersten, etwas hektischen politischen Reaktion auf die eben geschilderten Veränderungen geben, die wir als »Politik der Hybridisierung« bezeichnen möchten.4 Unser Argument wird sein, dass diese Version der body politics in eine Sackgasse führt: Der revolutionäre Gestus des ganz anderen – nämlich hybriden – Körpers verflüchtigt sich alsbald in eine hedonistisch gewendete und politisch entschärfte Suche nach Authentizität und produziert als sein 2 | Bryan S. Turner: The Body and Society. Explorations in Social Theory, London 1996. 3 | Nancy Scheper-Hughes/Loïc Wacquant (Hg.): Commodifying Bodies, London 2002. 4 | Unter »Politik« verstehen wir dabei im Folgenden nicht staatlich organisiertes Handeln, sondern all jene Formen sozialer Praxis, die einen über das Leben des einzelnen Individuums hinausgehenden Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung erheben.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

328 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Gegenteil – in einem bestimmten Sinne aber auch als sein Spiegelbild – die Auflösung der Politik des Körpers in Skepsis und Melancholie (1). Im zweiten Abschnitt werden wir die Filme David Cronenbergs als Erzählung von eben diesem Hoffungsverlust lesen (2). Als Gegenentwurf zum gescheiterten revolutionären Programm der »Politik der Hybridisierung« wollen wir dann im dritten Abschnitt aus den nur scheinbar apolitischen Filmkomödien der Brüder Bobby und Peter Farrelly eine andere, reformistische und entspanntere »Politik der Anerkennung« herausarbeiten, die in der Repräsentation und Inszenierung »minoritärer« Körper im Slapstick ein schon verloren geglaubtes subversives Potenzial zu mobilisieren vermag (3). Abschließend werden wir die körperpolitischen und -theoretischen Implikationen dieses Neuansatzes zusammenfassen (4).

1. »Body politics« als Politik der Hybridisierung Die politische Relevanz nicht-krankheitsbezogener Manipulationen des Körpers, deren verschiedenste Formen in diesem Band untersucht werden, bleibt meist diffus. Auf Seiten der sich selbst manipulierenden Subjekte scheint sie jedoch oft mit dem Anspruch verbunden zu sein, mit der gezielten Manipulation des Körpers – im Extremfall: der Verstümmelung oder der Erweiterung um nicht-organische Elemente – einen Akt des Widerstands gegen die zunehmende Integration des Körpers in die Netze der Biomacht zu vollziehen. So wird etwa angenommen, man könne den Körper den kulturell kaschierten ökonomischen Verwertungsmechanismen entziehen, indem man ihn »ent-standardisiert«. Wenn nämlich, Michel Foucault zufolge, keine Macht bestehen kann, ohne Widerstand hervorzurufen, und wenn die Macht in unserer Zeit sogar das Körperinnere durchzieht, wenn also Machtverhältnisse ihre Materialität erst über und durch den Körper erlangen, dann muss der Körper selbst zu einem Ort des Widerstands gegen eben jene Biomacht gemacht werden, die sich seiner vollkommen zu bemächtigen versucht. Neben der biopolitischen Regulierung der Bevölkerungen, des Gattungskörpers, besteht die zweite Dimension der Foucaultschen Biomacht in einer politischen Technologie des Lebens, in einer auf das Individuum ausgerichteten Disziplinierung und Regierung der Körper, in einer Anatomo-Politik der Produktion »normaler« und produktiver Individuen.5 Wie sich dagegen wehren? Der Widerstand des Körpers gegen seine Integration in die Mechanismen der Biomacht, gegen die »somatische Macht«, kann – nach der oben 5 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1977, S. 166ff.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 329

erwähnten Denaturalisierung – nicht als Widerstand eines vorgängigen, natürlichen oder triebhaften Körpers gegen dessen Repression verstanden werden.6 Der Körper ist vielmehr immer schon politisch imprägniert, ja, er wird allererst konstituiert durch die ineinander verschränkten diskursiven und materiellen Praktiken und Relationen der Macht.7 Woher soll dann aber die Widerstandsfähigkeit des Körpers kommen? In einer Situation der Ratlosigkeit, nachdem zunehmend unklar geworden war, worauf – auf welche Körper – sich eine emanzipatorische Politik des Körpers als normative und realpolitische Grundlage verlassen können soll, wurden die Segnungen, welche die technologischen Revolutionen seit dem Zweiten Weltkrieg gebracht hatten, auch von der bis dato eher technikskeptischen Linken entdeckt. Die Fusion von Organismus und Technik sollte, einer in den 80er Jahren entstandenen, aber bis heute wirkmächtigen Argumentationslinie zufolge, neue, hybride Körper des Widerstands hervorbringen, von denen man eine erhebliche Irritation der Macht-Wissen-Dispositive erwartete. Das Motto lautete: Wir müssen ganz anders werden, als wir es bisher waren, um nicht mehr wie bisher beherrscht zu werden! In dem Gründungstext dieses Diskurses, der ungebrochen als sein Referenzpunkt funktioniert, in Donna Haraways Manifest für Cyborgs aus dem Jahre 1985, wird der unaufhörlich rekonstruierbare Organismus neuen Typs für die Destabilisierung der Unterscheidungen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Natur und Kultur, Maschine und Leib gefeiert. Dieser neue Organismus stellt Haraway zufolge eine strategische Weichenstellung in der »Biopolitik postmoderner Körper«, im Kampf gegen die das »weiße kapitalistische Patriarchat« ablösende »Informatik der Herrschaft« dar. Körper, die als organisch-technologische Artefakte hergestellt und umprogrammiert werden können, verwandeln sich in Hybride, die neue Formen der Subjektivität jenseits der zwangsheterosexuellen Matrix erschließen helfen sollen. Hybridisierung als Emanzipation – dies war das »Versprechen der Monstren«.8 Dass die in die »Politik der Hybridisierung« gesetzte Hoffnung – auch wenn sie inzwischen nach antiquiertem Si-Fi-Phantasma klingt – keineswegs mit dem alten Millennium gestorben ist, zeigen Michael Hardt und Antonio Negri in ihren Büchern Empire und 6 | Michel Foucault: »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere«, in: ders.: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 108f. 7 | Judith Butler: »Noch einmal: Körper und Macht«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt/M. 2003. 8 | Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M. 1995; dies.: »The Promises of Monsters«, in: Lawrence Grossberg u.a. (Hg.): Cultural Studies, London, New York 1992.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

330 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Multitude. In diesen politischen Manifesten für das 21. Jahrhundert präsentieren sie den aus Hybridisierung und Mutation hervorgegangenen »neuen Körper«, der nicht mehr so einfach unterworfen werden kann, als notwendige Grundlage des Widerstands.9 Nun liegt ein Problem dieser Position sicherlich darin, dass Cyborgs und Hybride nicht (noch nicht?) zu denjenigen sozialen Gruppierungen gehören, die dem Betrachter als erstes einfallen, wenn er über die heutigen »Verdammten dieser Erde« nachdenkt; oder auch nur über diejenigen, die in den ansonsten saturierten westlichen Gesellschaften von den Gratifikationen der Biomedizin ausgeschlossen oder als Waren in deren Zirkulationsprozesse eingespeist werden. Zudem kann man aus dem kulturindustriellen Begleitprogramm zur »Politik der Hybridisierung« lernen, dass der Cyborg (etwa in Gestalt der filmischen Inkarnationen des gegenwärtigen Gouverneurs von Kalifornien) eine oft nur wenig progressive Eigendynamik entfaltet und die Utopie der Hybridisierung überdies »nach hinten« losgehen und in eine Dystopie des Monströsen umschlagen kann. Aber selbst wenn man den Blick von diesen doch eher kuriosen Phänomenen abwendet und sich statt dessen Körpertechniken und -manipulationen in ihren weitaus alltäglicheren Formen, wie Piercing oder Scarification, anschaut, so wird man den Verdacht nicht los, dass es hier gar nicht um die Generierung neuer politischer Subjektivitäten durch Hybridisierung geht, sondern um die Suche nach einer längst verloren geglaubten Materialität des Körpers, nach authentischen Erfahrungen und Grenzerlebnissen, in denen sich das dezentrierte Subjekt – wenn auch in gegenkulturellem Gewand – am Ende dann doch wieder selbst zu begegnen hofft.10 Dies aber sind Praktiken – und auch hier können wir von Foucault lernen –, die der Ökonomie der Begierde durchaus immanent sind. Die Suche nach gesteigerter Selbsterfahrung spielt – auch wenn sie nicht mehr anders als über Exzess und Transgression vermittelt zu haben ist – weit eher einer nur scheinbar an Foucault anschließenden Ästhetik der Existenz in die Hände, als dass sie die von Hardt und Negri imaginierten hybriden Körper des Widerstands hervorbrächte. Damit aber geht der ursprünglich politische Impetus der Hybridisierungsstrategie verloren, denn das Design des eigenen Körpers wird zu einer Dimension des eher konformistischen als subversiven Projekts self-shaping – einer Selbstgestaltung und -kultivierung, die das Leben, wie von der Kulturindustrie vorgesehen, als Kunstwerk betreibt. Dabei geht es um Spaß und Lustgewinn beim Ausloten der eigenen psychi9 | Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Cambridge 2000, S. 216f.; dies.: Multitude, New York 2004, S. 190ff. 10 | Victoria Pitts: In the Flesh. The Cultural Politics of Body Modification, Houndmills 2003.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 331

schen und physischen Grenzen. In dem Maße jedoch, in dem unklar wird, worauf Körperpraktiken jenseits davon noch abzielen mögen, wird ihre Integration in etablierte und neue Kontroll- und Disziplinarregime, ja, die durch sie sogar noch gesteigerte Verfügbarkeit und Fügsamkeit des Körpers evident. Der Konformismus kalkulierter Abweichung und legitimer Transgression ist selbst schon Bestandteil der biopolitisch abgesicherten Lustund Erlebnisökonomie. Nicht mehr durch Repression, sondern durch kontrollierte Stimulierung und Ausweitung des Begehrens wird in postdisziplinären, spätkapitalistischen Konsumgesellschaften die Hegung der Körper garantiert. Den neo-liberalen Imperativen permanenter Selbstverwirklichung, Selbstdisziplinierung und Selbstmanipulation kommen flexibilisierte, ihren eigenen Körper als Projekt begreifende Subjektivitäten deshalb äußerst gelegen.11 Die Sackgasse, in welche die »Politik der Hybridisierung« hiermit gelangt, besteht in ihrer Hedonisierung, die unvermeidlich einzutreten scheint, sobald die Körpertechniken, die doch zu einer widerständigen anthropologischen Metamorphose führen sollten, aus der Welt der Cyborgs in die Alltagskultur verlagert werden. Von den revolutionären Phantasien bleibt allein die Lust an der Abweichung, nach der nun alle streben und die deshalb – »Individualisten – die größte Armee der Welt« (Matthias Altenburg) – immer schwerer zu erreichen ist. Der Verlust der in die Fusion von Körper und Technik, in die Hybridisierung gesetzten Hoffnungen kann nach der hedonistischen Wende aber kaum ein Mehr an politischer Handlungsfähigkeit, sondern bloß Melancholie und Skepsis hinterlassen. Als Erzählung von dieser Tragik, die aber dennoch ein Wissen um die ursprüngliche utopische Befreiungsgeste bewahrt, kann das Œuvre David Cronenbergs verstanden werden.

2. »Solitary flesh« (Cronenberg) Die biotechnologische Formbarkeit des Körpers als utopisches Potenzial eines biopolitisch widerständigen Körpers zu deuten, dies war einst die Kernforderung der »neufleischlichen« body politics des kanadischen Regisseurs David Cronenberg. In Videodrome (1982), dem legendären Gründungsfilm der postulierten Überwindung des »alten«, disziplinarisch kontrollierten Körpers und seiner gefesselten Materialität, spricht Max Renn (James Woods), bevor er sich mit einer glibbrigen, seine Hand ersetzenden 11 | Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000; Thomas Lemke: Veranlagung und Verantwortung, Bielefeld 2004.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

332 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Fleischpistole in den Kopf schießt, jene famous last words, die nicht zuletzt der Hoffnung auf progressive Hybridisierungseffekte durch die Einverleibung neuester Technologien geschuldet waren: »Long live the New Flesh«. Eine filmische Repräsentation, ein Bild des neufleischlichen Körpers ist in Videodrome gleichwohl nicht zu finden. Die Freisprengung des old flesh erfordert hier die gesamte revolutionäre Aufmerksamkeit und visualisiert sich konkret in meterweise Blutwurst, Gedärmen und anderen Innereien, die in prädigitaler Splatter-Ästhetik aus einem explodierenden Fernsehgerät geschleudert werden.12 Michael Palm spricht diesbezüglich treffend von einer »Ausweidung« des alten Fleisches der Repräsentation.13 Obwohl Cronenbergs Faible für die technologisch überformte Fleischphysis und seine Ästhetik des visceral body14 im Laufe der Jahrzehnte eine unüberschaubare Flut an Publikationen provoziert hat, ist bis heute lediglich klar geworden, dass es für Cronenberg keine adäquate Repräsentation oder Figuration dieser neuen Körperlichkeit gibt, sondern allenfalls Phasenbilder der dazugehörigen Metamorphose; wie etwa die monströse Mensch-Insekt-Kreuzung aus The Fly (1986) oder eben die komplementären Hybridisierungsbewegungen in Videodrome (Max Renn fusioniert mit einem TV/Video-Set, das seinerseits atmet und pulsiert). Weniger einig ist man sich allerdings über die biopolitische Sprengkraft des gesamten Programms. Das alte Fleisch jedenfalls musste überwunden werden, da es einerseits zu wenig »organbewusst« war und sich einer postmodernen Körperkonzeption subordinierte, die dem »myth of textual or signifying autonomy«15 anhing und deshalb die materiale Basis von Körper und Körpererleben verleugnete. Andererseits sollte das neue Fleisch insofern »posthuman« sein, als die Transgression individueller Körper12 | Der neufleischliche Gründungsakt in Videodrome ist, genau genommen, komplexer und wird von Cronenberg als Wechselspiel zwischen Virtualität und Aktualität, als Nachvollzug eines medialen Revolutionssignals inszeniert. Vgl. hierzu Michael Palm: »See you in Pittsburgh. Das neue Fleisch in Videodrome«, in: ders./ Drehli Robnik (Hg.): Und das Wort ist Fleisch geworden, Wien 1992. 13 | Ebd., S. 172. 14 | »We’ve not devised an aesthetic for the inside of the body any more than we have developed an aesthetic of disease. Most people are disgusted […] but if you develop an aesthetic for it, it ceases to be ugly. I’m trying to force the audience to change its aesthetic sense.« David Cronenberg zit. nach Alan Stanbroock: »Cronenberg’s Creative Cancers«, in: Sight and Sound, 58/1988, S. 56. Vgl. hierzu Linda R. Williams: »The Inside-out of Masculinity: David Cronenberg’s Visceral Pleasures«, in: Michele Aaron (Hg.): The Body’s Perilous Pleasures: Dangerous Desires and Contemporary Culture, Edinburgh 1999. 15 | Steven Shaviro: The Cinematic Body, Minneapolis 2000, S. 128.

2006-02-06 17-39-00 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 333

grenzen letztlich auf eine kommende Gemeinschaft ausgerichtet ist, die zugleich einen neuartigen »Kollektivkörper« hervorbringt. Cronenbergs Körperpolitik basiert wesentlich auf der Vorstellung, das neue Fleisch sei »fluider«: »New arrangements of the flesh break down traditional binary oppositions between mind and matter, image and object, self and other, inside and outside, male and female, nature and culture, human and inhuman, organic and mechanical.«16 Kurzum: Aus der – von Theoriemoden flankierten – Cronenberg-Perspektive der 80er Jahre schien das alte Fleisch gefangen zwischen akörperlichen bzw. dereferenzialisierten Zeichenspielen und der Festschreibung naturalisierter Ich-Grenzen, zwischen der postmodernen Entmaterialisierung des leiblichen Körpererlebens und jenen Effekten der Biomacht, die den Körper und die Repräsentationen von ihm kontrollieren. Demgegenüber sollten biotechnologische Interventionen spontane, unkalkulierbare Mutationen auslösen und den auf seiner Materialität insistierenden Körper im organischen Exzess des body horrors aus den von Steven Shaviro aufgelisteten Binarismen herauslösen.17 Die Schwäche dieses Projekts bestand jedoch von Anfang an darin, dass man etwas vorschnell glaubte, davon ausgehen zu können, dass die Disziplinar-Regime der Biomacht tatsächlich vor den munter vor sich hin mutierenden, polymorph-perversen Hybrid-Körpern kapitulieren würden. Stattdessen wurde das neufleischliche Versprechen jedoch, und zwar einigermaßen problemlos, in die Affektströme der hegemonialen Lustökonomie reintegriert. So stellte sich während der eingangs erwähnten Körper-Renaissancen der letzten beiden Jahrzehnte aus der Cronenberg-affinen Perspektive stets die Frage, was genau eigentlich falsch lief, als der neue body hype offenkundig nicht zu fortschrittlich entgrenzten Kollektiv-Körpern führte, sondern geradewegs in die MTVkonforme Erlebnisökonomie der nur vermeintlich anarchischen Arschbackenpiercer von Jack Ass. Was war in der Zwischenzeit aus dem ja ohnehin leicht diffusen neufleischlichen Projekt geworden? Ist sein Versprechen eingelöst, aufgehoben oder einfach nur differenzlogisch angezapft und als neuer Markt etabliert worden? Cronenberg hat auf diese restaurative Entwicklung (Altes Fleisch in neuen Schläuchen?) mit seinem vielleicht verstörendsten Film geantwortet, der gelegentlich als »Autounfall-Porno« beworben worden ist: Crash (1996). 16 | Ebd., S. 129. 17 | Cronenberg selbst umschreibt die neufleischliche Fluchtlinie folgendermaßen: »We’re free to develop different kinds of organs that would give pleasure, and that have nothing to do with sex. The distinction between male and female would diminish, and perhaps we would become less polarized and more integrated creatures.« Siehe Chris Rodley/David Cronenberg (Hg.): Cronenberg on Cronenberg, London 1997, S. 82.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

334 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Der Film handelt in seriellen Erzählschleifen von einigen jungen Leuten, die allein unter automobilen Kollisionsbedingungen kopulieren können, deren Begehren sich also primär an unfallbedingten Verletzungen, Mega-Narben und bei Metallkontakt entzündet.18 Nachts treffen sich die Sektierer, um den tragischen Unfalltod eines anderen rebel without a cause, James Dean, nachzustellen oder schwedische Sicherheitstestvideos zu konsumieren, in denen Dummie-Puppen in Slow Motion elegisch gegen Auto-Frontscheiben segeln. Crash ist als Endspiel des alten Fleisches gedeutet worden, das »ausrinnt«, aber dennoch infinit »abgetötet« werden kann und muss.19 Interessanter ist aber, dass Cronenberg darin gleichzeitig davon erzählt, wie sich das alte Fleisch neufleischlich maskiert und dadurch immer tiefer in die Netze der Biomacht verstrickt. Shaviro schreibt über die dazugehörigen Körperrepräsentationen: »[T]hey suggest that the new technologies of late capitalism, far from erasing our experience of the body, in fact heighten this experience, by investing the body in novel and particularly intense ways.«20 Aus dieser Perspektive betrachtet, wird die neufleischliche Fluchtlinie einfach umgeleitet und bringt body-Themenparks hervor, in denen intensives Körpererleben und garantierte Affektausschüttungen beinahe fabrikmäßig produziert und verwaltet werden. Gerade die in den letzten Jahrzehnten intensivierte Beschäftigung mit dem Körper, die seine materielle Dimension allerdings nur scheinbar aufgewertet hat und nicht mit einer Anerkennung verdrängter Leiblichkeit zu verwechseln ist, ließ ihn gleichzeitig transparenter und verfügbarer werden, hat ihn aufgeschlossen und hinsichtlich der Möglichkeiten jener »experience«, von der Shaviro spricht, neu konstruiert. Dabei sind die Widerstandskräfte des Körpers aufgezehrt worden. Genau dieses forcierte Eindringen der Biomacht in das Fleisch fokussiert Cronenberg in Crash auf die damit einhergehende Erosion jener Affektintensitäten, die es einst aus altfleischlichen Einhegungen biotechnologisch zu befreien galt.21 Die vom 18 | Exemplarisch für die uferlose psychoanalytische Debatte um Cronenbergs Phallozentrismus und seine Ästhetik der Wunde vgl. Barbara Creed: »The Crash Debate: Anal Wounds, Metallic Kisses«, in: Screen, 39(2)/1998, S. 175ff. 19 | Drehli Robnik: »Langsam sterbe das Alte Fleisch! Das große Ausrinnen in David Cronenbergs Crash«, in: Meteor, 5/1996, S. 32. 20 | Shaviro: The Cinematic Body, S. 127. 21 | Fred Jameson sieht im »Schwinden des Affekts« ein generelles Signum postmoderner Subjektivität: »Was Ausdruck, Gefühl oder Emotion betrifft, so mag die Befreiung von der ›Anomie‹ des zentrierten Subjekts nicht nur eine Befreiung von Angst, sondern eine Befreiung von jeder Art von Gefühl sein, da es kein Subjekt mehr gibt, das da fühlen könnte. Das heißt nicht, dass die kulturellen Produkte der postmodernern Ära vollkommen ›gefühllos‹ sind, sondern eher, dass Gefühle, die

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 335

Todestrieb »angefixten« Crash-Subjekte sind vollkommen affektleer, erkaltet und gefangen in komplex choreografierten Unfallritualen, technologischen Interfaces und einer Begehrensökonomie, die kaum noch Genuss, sondern lediglich einen unstillbaren Mangel und endlose Wiederholungen produziert: »Maybe the next one, darling … Maybe the next one.« So viel psychosexuelle Lethargie hat es im Kino zuletzt bei Michelangelo Antonioni gegeben. Während sich aber in La Notte (1961) die erschlafften Körper der Bourgeoisie immerhin noch zu larmoyanten Befindlichkeitsmonologen aufschwangen und dabei sichtlich ihre eigene Empfindsamkeit genossen, wirkt Crash von Anfang an wie ein Nekrolog: »It’s an elegy to boredom, loss, futility: to […] ›death of affect‹«22, schreibt Ian Sinclair. Hier gibt es keine falsche Innerlichkeit. Den Crash-Subjekten ist jede Liebessemantik fremd. Sie sind untot, Zombies in Designerfummeln, die einem finalen Triebschicksal folgen: »[T]o get beyond desire, to a place where it is possible to desire not to desire«.23 Auch Cronenbergs Techno-Euphorie scheint aufgebraucht und einer Melancholie über das Ausbleiben der neufleischlichen Revolution gewichen zu sein, die sich in Crash in der Engführung von Auto und Organismus und dem Verkehrsunfall als prä-koitalem Energie-Ereignis erschöpft. Die MetallProthesen der willentlichen Unfallopfer werden zwar durch gediegene Chiaroscuro-Lichtsetzung und elegante Kamerafahrten ästhetisch gewürdigt, bleiben den Figuren aber äußerlich und können nicht per Mutation inkarniert oder gar angeeignet werden. Das »reshaping of the human body by modern technology«, wie die mad scientist-Figur des Films den Horizont der Aufgabe zunächst noch umschreibt (bevor Cronenberg selbstbezüglich kalauern lässt: »Just a crude si-fi-concept«), ist kein verbindliches Projekt mehr, sondern eine sektiererische Praxis entschleunigter Subjekte, die ein anonymes, bläulich schimmerndes Toronto bewohnen und einen irrsinnigen Aufwand betreiben, um einen schlichten Orgasmus zu bekommen. Deren Fleisch ist nur noch zu bedauern – selbst wenn es die äußere Gestalt eines makellosen Luxus-Körpers annimmt, wie im Fall von Catherine Ballard (Deborah Unger), deren body values Cronenberg beinahe skulptural in besser und genauer als ›Intensitäten‹ zu fassen sind, sozusagen im Raum frei flottieren, nicht mehr personengebunden sind und überdies von einer merkwürdigen Euphorie überlagert werden.« Siehe Frederic Jameson: »Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1997. 22 | Ian Sinclair: Crash. David Cronenberg’s Post-mortem on J. G. Ballard’s ›Trajectory of Fate‹, London 1999, S. 57. 23 | Michael Grant: »Introduction«, in: ders. (Hg): The Modern Fantastic. The Films of David Cronenberg, Trowbridge 2000, S. 27.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

336 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Szene setzt, um sie ostentativ zu »verdinglichen« bzw. in Helmut-NewtonManier warenästhetisch zu überhöhen. Während noch das ursprüngliche new flesh-Projekt aus Videodrome auf Politisierungs- und Kollektivierungseffekte biotechnologisch entgrenzter Körper setzte, zeigt Crash das Auslaufen dieser Hoffnungen in idiosynkratischen Praktiken der individuellen Lustmaximierung. »Berührungen« sind hier ohne mediale Vermittlungsleistungen kaum noch möglich, die Haut ist vernarbt, kalt und von einer isolierenden Metallschicht überzogen. Die Notwendigkeit technologischer Interfaces und die rituell eingebettete Fetischpraxis betonieren die spätkapitalistische Einsamkeit des Fleisches, die Crash ohne Sentiment vorführt. Aus der Neufleischlichkeit sind autistische Körper entstanden, die die jeweils eigene Körpererfahrung mit einem ultimativen Authentizitätsversprechen versehen und dabei kommunikationsunfähig werden. Insofern handelt Crash von Körpern, die von new fleshChic, Schmerzästhetik und Metallgestängen umhüllt sind, darin aber lediglich altfleischliche Körperansprüche realisieren und genau deshalb eher sediert als politisch widerständig wirken. Das »Did you come?« wird hier buchstäblich zur Existenz-Frage. Diese Reduktion bedeutet zwar nicht, dass Cronenberg seine Utopie lustentfesselter Hybrid-Körper revidiert hätte und seinerseits zu einem konservativen Ideologen unirritierbarer, »naturgegebener« Körpergrenzen mutiert wäre. Crash lässt sich dennoch als körperspezifische Bestandsaufnahme jener allgemeinen Logik lesen, die man üblicherweise Kommerzialisierung oder Reintegration des Gegenkulturellen nennt. Das Kapital zirkuliert eben schneller als das Fleisch. Das alte Fleisch ist raffiniert, tarnt sich im Glamour des new flesh und befördert seinen hegemonialen Anspruch gerade durch neufleischlichen Treibstoff. Damit ist der Befreiungsanspruch des new flesh aber keineswegs historisch bzw. obsolet geworden. In der Endspielstimmung von Crash zeigen sich einerseits jene Mechanismen, die Neufleischlichkeit in marktförmige body shape- und body experience-Techniken übersetzt und dadurch dessen Sprengkraft kanalisiert haben. Andererseits – und darin liegt das eigentlich resignative Moment des Films – deutet sich hier bereits eine generelle Überforderung des Körpers als dem Medium biopolitischen Widerstands an.

3. »Into the frame« (Farrellys) David Cronenbergs new flesh-Projekt ist eine besonders drastische Form, den Körper als potenziell widerständigen filmisch zu inszenieren und dabei einen dezidiert biopolitischen Diskurs aufzunehmen. Eine völlig andere Option ist die »low physical comedy« (Alan Dale) der Slapstick-Tradition. In den Filmen der Farrelly-Brüder hat diese Linie des Körperkinos eine Fort-

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 337

schreibung oder besser: Umschrift erfahren, die den Slapstick zudem repräsentationspolitisch wendet. Die Politisierung des burlesken Körpers ist nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil der filmästhetische Modus des Slapstick, der im Kern stets einen Bewegungswitz erzählt, auf der Inszenierung von Körpern beruht, die sich in der Performance zuweilen eruptiv ent-standardisieren. Die body comedy gibt zudem Transgressionsphantasien einen konkreten figurativen Ausdruck und erprobt dabei spielerisch die Überwindung faktischer Einhegungen des Körpers: »[A] comedy of metaphysical release that celebrates the possibility of substituting the laws of physics with the laws of the imagination.«24 Wie in kaum einer anderen Form filmspezifischer Körper-Inszenierung bezieht sich der Slapstick auf das performative Potenzial des Körpers insgesamt. Er destabilisiert hegemoniale Körperbilder im Exzess spektakulär entrückter Bewegungen und führt den Körper dabei modellhaft – durch die Parodie oder Travestie seiner Standards – aus dem Zugriffsbereich jener Disziplinartechniken, die ihn ansonsten zum Objekt machen. In dieser Lesart spielt der Slapstick mit falschen Naturalisierungen des Körpers – vor allem auf der Ebene des inkorporierten Habitus – und öffnet ihn damit für subversive Umcodierungen. Die body politics der Farrellys operieren also nicht auf der neufleischlichen Ebene gebannter Biomacht, sondern formulieren eine vergleichsweise bescheidene, »basisdemokratisch« argumentierende Inklusionsforderung, bei der es letztlich um die Anerkennung der Eigenrechtlichkeit disparater Körper durch deren egalitäre Sichtbarmachung geht und nicht um ihre biotechnologisch gestützte Entgrenzung. Während Cronenberg, zumindest auf der ersten Revolutionsstufe altfleischlicher Aufsprengungen, bodies that splatter inszeniert und Hybridbildungen erfindet, sich dann aber bei konkreten Figurationen des neufleischlichen Körperdesigns weitgehend bedeckt hält, bewegen sich die Farrellys bewusst in den vermeintlich konservativ-eskapistischen Bahnen der amerikanischen Mainstream-Komödie25 und bilden dabei unermüdlich minoritäre, deprivilegierte und viktimisierte Körper ab, die als Fluchtlinien gedeutet werden: bodies that matter. Viele filmtheoretische Texte zur kinematografischen Bedeutung des Körpers nehmen das Verhältnis zwischen dem figurierten Körper und den affektiven Resonanzen des Zuschauerkörpers zum Ausgangspunkt der Debatte. Während Alan Dale Bewegungsempathie mit per Slapstick entfessel24 | Noel Carroll: »Notes on the Sight Gag«, in: Andrew Horton (Hg.): Comedy/ Cinema/Theory, Berkeley, Oxford 1991, S. 26. 25 | Vgl. zur Debatte um comedy als progressive genre Philip Drake: »Low Blows? Theorizing Performance in Post-classical Comedian Comedy«, in: Frank Krutnik (Hg.): Hollywood Comedians. The Film Reader, New York 2003.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

338 | Robin Celikates, Simon Rothöhler ten Körpern für einen konstitutiven Bestandteil der ästhetischen Erfahrung der body comedies hält26, will Linda Williams ein mimetisches oder identifikatorisches Moment hier gerade ausschließen.27 Wichtiger als diese Frage ist aber hinsichtlich der damit formulierten body politics das »innerfilmische« Verhältnis des Komiker-Körpers zu seiner diegetischen Umwelt. Genau auf dieser Ebene wird die Slapstick-Ästhetik regelmäßig körperpolitisch aufgeladen. Wenn Charlie Chaplin, um das diesbezüglich kanonische Beispiel anzuführen, in Modern Times (1934) am Fließband ad hoc die Kontrolle über seinen in den arbeitsteiligen Produktionsprozess eingesperrten Körper verliert, indem er statt der zu fixierenden Schrauben das Gesicht seines Vorarbeiters attackiert, wird die Sabotage – »paralysis in motion« (Scott Bukatman) – als antikapitalistischer Widerstand eines dehumanisierten Körpers erzählt. Dieser entzieht sich dem fordistischen Disziplinarregime per Slapstick und führt zugleich die Zumutungen der fabrikmäßig eingeübten Bewegungsabläufe parodistisch vor.28 Der entfremdete Körper des Tramp protestiert hier performativ gegen die Inkorporation jener Strukturen der kapitalistischen Institution »Fabrik«, die Bedingungen seiner Ausbeutung sind und den Arbeitskörper systematisch verdinglichen, um ihn als Teil einer tayloristisch organisierten Maschine wie ein Objekt zu regulieren.29 Dass der Slapstick eine ästhetische Bewegung ist, die nicht selten eingesetzt wird, um den Körper temporär verschiedenen Formen disziplinarischer Zugriffe zu entziehen, lässt sich anhand zahlreicher Sequenzen aus Farrelly-Filmen belegen, die allesamt eine ähnliche Fluchtlinie beschreiben, indem sie den Körper für einen utopischen Augenblick aus dem ihn durchziehenden Normengefüge herauslösen – wodurch diese Normen nicht aufgehoben, sondern allererst als solche sichtbar gemacht werden. Die Farrellys spielen – insbesondere in Me, Myself & Irene (2000) – mit dem »Widerstandsmotiv« der Slapstick-Tradition und entwickeln dieses im Modell des schizophrenen Komiker-Körpers psychodynamisch weiter. Jim Carrey spielt hier den verklemmten Rhode-Island-Trooper Charlie Baileygates, der ausgerechnet am Tag der Hochzeit seine Frau an einen als Limo26 | Alan Dale: Comedy is a Man in Trouble. Slapstick in American Movies, Minneapolis 2000, S. 12. 27 | Linda R. Williams: »Film Bodies: Gender, Genre, and Excess«, in: Robert Stam/Toby Miller (Hg.): Film and Theory. An Anthology, Oxford 2000, S. 210. 28 | Vgl. Gertrud Koch: »Unterhaltung und Autorität. Konstellationen der Massenmedien«, in: Hauke Brunkhorst (Hg.): Demokratischer Experimentalismus, Frankfurt/M. 1998. 29 | Vgl. zur Bedeutung der Maschine für die – biomechanische – Slapstick-Politik von Chaplin und Keaton Tom Gunning: »Buster Keaton, or the Work of Comedy in the Age of Mechanical Reproduction«, in: Krutnik: Hollywood Comedians.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 339

Chauffeur getarnten Soziologie-Professor verliert, der, wie es im Jargon der political correctness heißt, »vertically challenged« ist. Nach einer Vielzahl weiterer Demütigungen, die er dank seines kindlichen Gemüts scheinbar unbeeindruckt sublimiert, sprengt Baileygates das Korsett seines dressierten Provinzpolizisten-Körpers in einem virtuosen facialen Slapstick30, als er im örtlichen Supermarkt erneut auf infame Weise als Dorftrottel verunglimpft wird. Innerhalb des Films markiert dieser Ausbruch der offenbar nur verdrängten Aggression – die sich in der Schizophrenie eine neue, allerdings nicht weniger regulierte körperliche Gestalt gibt, die dem kleinbürgerlichen Kontrollkörper des Polizisten die Parodie eines virilen Freizeitkörpers zur Seite stellt – den Austritt aus den buchstäblich einverleibten sozialen Strukturen und Normen der ohnehin unheilvollen Kombination Provinz/Polizei. Fortan operiert Baileygates abwechselnd in zwei vollkommen artifiziellen Körpermaskeraden, die beide auf der Ebene der Identitätsstiftung problematisiert werden und am Ende einen Showdown produzieren, bei dem sich Baileygates in einem letzten und besonders heftigen schizophrenen Ausbruch vor der finalen Re-Integration schließlich selbst am Kragen packt und aus einem fahrenden Auto schleudert. Dies demonstriert nicht nur das handwerkliche Genie des Kleinbühnen-geschulten stand up comedian Carrey, sondern erscheint zugleich als Spiel mit dem gesellschaftlichen Ausdruck des Körpers als Habitus, dem kein ontologisch fixierter, »natürlicher« Körper zugrunde liegt. Der steife Polizeikörper und der bemüht laszive Machokörper, als die beiden korporalen Manifestationen der die Hauptfigur kennzeichnenden Persönlichkeitsspaltung, sind dabei nicht zufällig durch eine geteilte Amnesie, den jeweils anderen Habitus betreffend, verbunden und verweisen folgerichtig auf den konstruktivistischen Aspekt von Körper- respektive Habitusformen im Allgemeinen. Den Moment der Kollision inszenieren die Farrellys dabei nicht nur als De-Gendering, sondern eben auch als Slapstick-Virtuosenstück, bei dem Carreys Figur sämtliche Register uneindeutiger Körperlichkeit im Zeichen des Kontrollverlusts bis zur finalen Erschöpfung durchexerziert. Was Olaf Möller über den Semi-Animationsfilm The Mask (1994) geschrieben hat, gilt auch hier: »Carrey […] mutiert; für den Abstraktionsgrad seiner Komik reicht der menschliche Körper nicht mehr, sein Humor ist übermenschlich.«31 Die Zeichenhaftigkeit des Komiker-Körpers, seine von nar30 | Für eine Würdigung der famosen Gesichtsakrobatik von Jim Carrey in terms of Deleuze/Guattari, als Modellierung einer Vielzahl von Fluchtlinien, vgl. Jean-Marie Samocki: »Neue Fiktionen des Gesichts«, in: Christa Blümlinger/Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002, S. 154ff. 31 | Olaf Möller: »Hardcore: Atrocity Exhibition USA«, in: Meteor, 3/1996, S. 71.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

340 | Robin Celikates, Simon Rothöhler rativen Funktionen häufig freigestellten Bewegungserfindungen, treiben ihn, als Film-Körper, in einen post-indexikalischen, rein abstrakten Bereich32, wo er sich in der Performance immer wieder ekstatisch verausgabt. Genau dieser körperlichen Entäußerung, die Baileygates in Me, Myself & Irene letztlich doch wieder in die Trooper-Uniform zurücksinken lässt, verdankt der Film sein hyperbolisches Happy End, mit dem vor allem signalisiert wird, dass hier lediglich der tiefer eingeschriebene Habitus wieder einen »ganzen« Körper in Besitz nehmen darf. Und dennoch inszenieren die Farrellys den Körper von Baileygates als einen, der sich zu emanzipieren beginnt, als er dysfunktional wird und für normierende Durchsagen nicht mehr eindeutig adressierbar ist. Selbst die Polizei kann diesen widerständigen Schizo-Körper – ein gründlich säkularisierter »Körper des Ketzers« (Karsten Witte) – nicht mehr regulieren. Dass die Farrellys ihre Filme grundsätzlich mit völlig über-determinierten, traditionalistischen closures finalisieren, soll weniger falsche Versöhnung als Anerkennung der Machtwirkungen faktischer Gegenkräfte anzeigen. Steven Shaviro sieht darin eine generelle Ambivalenz der Slapstick-Politik: »But, like all forms of Bakhtinian carnivalesque, slapstick is deeply ambiguous: it is potentially subversive, but at the same time easily recuperable by power.« In Me, Myself & Irene zeigt gerade die Rückkehr der Hauptfigur in den Trooper-Körper, wie unwahrscheinlich es ist, die Perpetuierung korporaler Einschreibungen dauerhaft zu unterlaufen – zumal dann, wenn diese in eine umfangreichere Sozialisationsgeschichte eingebunden sind. Wie die Rhode-Island-Gesellschaft Baileygates’ Absage an den anarchischen und deterritorialisierenden Körper-Karneval mit Inklusionsangeboten und kulturellem Kapital belohnt (Heilung, Heirat, Wiederaufnahme in das seit Frank Capra in der amerikanischen Komödie stets präsente Wertesystem der smalltown people), wird von den Farrellys ausführlich vorgeführt, ohne Carreys Exaltiertheiten dabei rückwirkend als systemstabilisierende »authorised transgression«33 (Umberto Eco) zu relativieren und ihres utopischen Überschusses zu berauben.34 Baileygates’ Subversion erwächst hier nicht aus anarchischem Übermut oder gezielten Regelverstößen, sondern aus einer systematischen Übererfüllung habitueller Anpassungsforderungen. In Stuck on You (2003), der sich als Remake von Cronenbergs Zwil32 | Aus einem ähnlichen Grund hat Bertolt Brecht Chaplins gestisches Schauspiel als Verfremdungseffekt geschätzt. Vgl. John Rouse: »Brecht and the Contradictory Actor«, in: Theatre Journal, 36(1)/1981. 33 | Umberto Eco: »The Frames of Comic Freedom«, in: Thomas A. Sebeok (Hg.): Carnival!, Berlin 1985. 34 | Grundlegend dazu: Frederic Jameson: »Verdinglichung und Utopie in der Massenkultur«, in: Ludwig Nagl (Hg.): Filmästhetik, Wien 1999.

2006-02-06 17-39-01 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 341

lings-Melodram Dead Ringers (1988) lesen lässt und dessen Maxime »Brothers should be close« beim Wort nimmt, führen die Farrellys das körperpolitische Potenzial ihres Œuvres meisterhaft zusammen. Statt auf die Utopie einer biotechnologischen Überwindung des Körpers, setzen sie dabei jedoch auf ein vergleichsweise reformistisches Projekt: Anerkennung durch Repräsentation, d.h. durch die gleichberechtigte Darstellung verschiedenster Körper. Matt Damon und Greg Kinnear spielen in Stuck on You die denkbar unähnlichen conjoined twins Bob und Walt, deren Körper an den Hüften zusammengewachsen sind und die sich eine gemeinsame Leber teilen. In zahlreichen Sport- und Slapstickszenen wird dieser doppelte Körper aber nicht als Defekt inszeniert, sondern als permanente Überzahl strategisch gefeiert, ohne der Behinderung die Anerkennung als Belastung und Erschwernis euphemistisch zu verweigern. Wie auch in anderen Filmen der Farrelly-Brüder wird die neo-liberale und viktimisierende Rhetorik des »differently abled« und »especially challenged« erst sportiv und dann ernst genommen bzw. im Handicap-Slapstick als Eskapaden physisch eigenrechtlicher Körper kinetisch gewürdigt.35 Bert Rebhandl erkennt daher in den Farrellys die »letzten Demokraten des amerikanischen Kinos« und deren Insistieren auf minoritären Körpern und Subjektpositionen als Bewegung einer moderaten Kollektivierung: »Aus ihrer Welt ist niemand ausgeschlossen, im Gegenteil zielen hier alle Energien auf Integration. Die Unterschiede werden überzeichnet, bis sie zur Qualität des Gemeinsamen werden.«36 Zum neuralgischen Prüfstein dieses innerhalb der Hollywood-Industrie situierten filmischen Werkes wird dabei die Frage, wie genau der repräsentationspolitische Anspruch diskursiv eingeholt und filmästhetisch durchgeführt wird. In einer diesbezüglich programmatischen Sequenz aus Stuck on You übersetzen die Farrellys den Nukleus ihrer Körperpolitik in eine kleine Ethik des Spezialeffekts. Weil der extrovertierte Walt Schauspieler werden 35 | Olaf Möller schreibt dazu treffend: »Handicapped impliziert erst mal einen Mangel, mit dem man leben muss, wohingegen physically challenged den Mangel als Herausforderung meint, als etwas, das man überwinden muss; man muss vollständig werden für die Gesellschaft, die zumindest keine offensichtlichen Fehler erträgt. Handicapped ist Teil einer humanistischen Kultur des Unvollkommenen, in der der Staatskörper als Ganzes seine Balance und Vollkommenheit in den sich gegenseitig aufhebenden Unvollkommenheiten seiner Einzelteile findet, physically challenged dagegen stammt aus einer faschistoiden, posthumanistischen Kultur des Absoluten als einzig Wünschenswertem.« Siehe Möller: »Hardcore«, S. 71. 36 | Bert Rebhandl: »Doppelt hält besser. Der menschlichere Makel: ›Unzertrennlich‹ von Peter und Bobby Farrelly«, in: Berliner Zeitung, 31. Dezember 2003.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

342 | Robin Celikates, Simon Rothöhler will, brechen die Kleinstadt-Zwillinge nach Hollywood auf, wobei Bob, der jeden öffentlichen Auftritt mit Lampenfieber, Schweißausbrüchen und Hyperventilieren durchleidet, wohl oder übel mit muss. Beim ersten echten Engagement stellt sich für die Produzenten im Film die Frage, wie man Bob »out of the frame«, d.h. aus dem Bild hält, weil die Rolle weder einen doppelten leading man noch – aus Sicht des Sponsors – einen »anormalen« Körper duldet. Nachdem Bob einige Folgen lang durch den Einfallsreichtum des Set-Designers relativ unsichtbar bleibt, z.B. als Topfpflanze getarnt, oder per feinjustierter Kadrage aus dem Bild gehalten wird, wobei Walt dann allerdings in jeder Einstellung immobil am linken Bildrand klebt, bricht die Logik digitaler Begradigung filmischer Star-Körper, jener ohnehin ins Immaterielle tendierenden »heavenly bodies« (Richard Dyer), ganz irdisch in Form der Blue-Box-Technologie in das Karriereglück der Twins ein und bringt den in ein blaues Ganzkörper-Kostüm verpackten Bob komplett zum Verschwinden. Der digitale Spezialeffekt – der eine »Einklammerung der indexikalischen Funktion«37 betreibt – wird von den Farrellys zwar nicht technophob als das dämonische Andere gegen den »ehrlichen« Latexeffekt ausgespielt, bleibt aber hinsichtlich seines Potenzials zur Repräsentation von bodies that matter problematisch. Im post-fotografischen Zeitalter des Morphing38 werden Körper, die nicht passen, gelöscht, digital refiguriert und dem Regime hegemonialer Körperbilder informationstechnologisch angeglichen. Der Umstand, dass der Dauerdialog zwischen den zusammengewachsenen Brüdern auf Grund ihrer physischen Gegebenheit filmisch ohnehin nicht sinnvoll im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aufgelöst werden kann39 – die Zwillinge sind einfach zu close, um durch die Montage trennbar zu sein – wirkt in diesem Kontext wie eine programmatische Positionsbestimmung. Die Farrellys setzen dem manipulativen Verschwinden faktischer Körper die Repräsentation minoritärer Körperentwürfe entgegen. Während Kinnear und Damon innerhalb der Serie im Film eine gemeinsame Einstellung verweigert wird, erzählen die Farrellys den ersten Kollektivkörper ihres Œuvres durchgehend in Kadrierungen, die ihn nicht separieren, sondern seine Kommunikationsströme ästhetisch diskret unterstützen. Die Twins sind hier wie selbstverständlich simultan into the frame 37 | Urs Stäheli: »Spezialeffekte als Ästhetik des Globalen«, in: Gregor Schwerig/Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München 2002, S. 212. 38 | Vgl. zur unheimlichen Körperlichkeit gemorphter Figuration Vivian Sobchack (Hg.): Meta-Stasis: Visual Transformation and the Culture of Quick Change, Minneapolis 2000; Scott Bukatman: »Taking Shape: Morphing and the Performance of Self«, in: ders.: Matters of Gravity. Special Effects and Supermen in the 20th Century, Durham, London 2003. 39 | Diese Beobachtung verdanken wir Michael Baute (New Filmkritik).

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 343

gestellt – kein Körper fällt aus dem Bild: das ist die solidarische Einstellung der Farrelly-Brüder.

4. Für einen neuen Körperhumanismus Eine zeitgenössische body politics ist vor die Wahl gestellt zwischen einem Anti- oder Posthumanismus, der das emanzipatorische Potenzial in neuen hybriden Körperformen jenseits des Organischen lokalisiert, und einem neuen Humanismus, dessen körperpolitisches Programm in der Ermöglichung der Repräsentation und damit der Anerkennung faktischer, aber verdrängter oder ausgeschlossener Körper besteht. Die »Politik der Hybridisierung« löst sich auf zwischen der Suche nach authentischen Erfahrungen und der Überforderung des Körpers durch seine technologische Transformation. Aus diesem Scheitern des revolutionären Programms zieht der neue Humanismus einer »Politik der Anerkennung« reformistische Konsequenzen. Statt der Suche nach dem neuen und ganz anderen Körper plädiert er für die Wiederaufnahme des schon als konservativ verabschiedeten Projekts der Repräsentation, Anerkennung und Inklusion aller möglichen Körper. Dieser Humanismus ist neu, insofern er nicht mehr über die ausschließende Abgrenzung vom Nicht-Menschlichen und über die Orientierung am Modell des einen legitimen und repräsentierbaren menschlichen Körpers funktioniert, dem auch die gegenwärtige bioethische Debatte zum Teil noch verpflichtet zu sein scheint. Das althumanistische Projekt der Reinigung, der feinsäuberlichen Aufteilung der (sozialen und natürlichen) Welt in Menschen und Nicht-Menschen, in »uns« und »sie« – ein Projekt, das auch oder gerade in der Moderne immer wieder zur exkludierenden Produktion so nicht vorgesehener Körper geführt hat –, muss diesem neuen Humanismus weichen, wenn die Versprechen des Projekts der Moderne – Inklusion und individuelle wie kollektive Selbstbestimmung – noch irgendeinen Sinn behalten sollen.40 Im Anschluss an den »strategic essentialism« Gayatri Spivaks – gemeint ist die Übernahme essentialistischer Argumentationsfiguren in (eigentlich anti-essentialistischer) politischer Absicht – kann man den neuen Humanismus eines emanzipatorisch verstandenen no body is perfect auch als »strategischen Humanismus« verstehen. Dieser affirmiert die Faktizität, das So-Sein, der Körper, ohne sie auf eine bestimmte Form der Repräsentierbarkeit und damit der Anerkennbarkeit festzulegen und so die interne Differenziertheit des Humanen zu negieren. Ein solcher strategischer Hu40 | Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M. 2002.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

344 | Robin Celikates, Simon Rothöhler manismus bringt die als deformiert, anormal und abweichend dargestellten und wahrgenommenen Körper durch Neuinszenierungen, Überzeichnungen und Ironisierungen gegen die hegemonialen Körperbilder der sozialen Repräsentationsregime in Stellung. Statt die »armen« Anormalen zu passiven Empfängern von Mitleid, Wohlfahrt, Zuwendung oder Rücksicht und damit zu Objekten zu machen – wenn man Glück hat, werden Krankheiten behandelt und Behinderungen kompensiert –, wird deren Würde und Handlungsmächtigkeit gerade durch ihre Repräsentierbarkeit und Ironiefähigkeit, wie sie im Slapstick unter Beweis gestellt werden, anerkannt. Diesem Körperhumanismus geht es um nichts anderes als um die Anerkennung des Eigenrechts und der sozialen Legitimität von Körpern, die nicht den hegemonialen Standards entsprechen. »One of us« muss dann kein Schlachtruf der ghettoisierten community of freaks bleiben, sondern kann zum Signum einer neuen Form körperumgreifender Kollektivität werden. Der Schritt von der Simulation zurück zur Repräsentation als Voraussetzung von Anerkennung, den eine solche reformistische Körperpolitik vollzieht, impliziert aber gerade nicht – das haben die obigen Filmanalysen herauszuarbeiten versucht –, dass hier der authentische, wirkliche, deformierte Körper gegen den künstlichen, fiktionalen, perfekten Körper ausgespielt wird. Der Humanismus der Politik der Repräsentation ist auch insofern strategisch ausgerichtet, als er auf die Entgegensetzung von Realität und Fiktionalität verzichtet. Vielmehr begreift er die Fiktionalisierung selbst als Bestandteil der sozialen Realität sowie als Medium der Veränderung ihrer hegemonialen Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsschemata, der Normen der Repräsentierbarkeit und damit der Anerkennbarkeit. Auch in der Spätmoderne wird es nicht gelingen, die Spannungen, in denen der Körper nach seiner vermeintlichen Derealisierung steht, aufzulösen: Der Materialität und Faktizität des Körpers, nicht zuletzt im subjektiven Erleben der Individuen, steht seine symbolische Repräsentation und soziale Konstruiertheit gegenüber. Jede Reduktion auf einen der beiden Pole – fasst sie den Körper nun als unmittelbare Natur oder als immateriellen Text – muss diese konstitutive Doppelung verfehlen. Und jede Politik des Körpers, die diese Doppelung, diesen Riss, der durch den Körper geht, verfehlt, muss reaktionär werden, weil sie mit dem Körper ihren eigentlichen Adressaten und Träger abschafft. Gegen die Festschreibung und Naturalisierung sozial instituierter und regulierender Körpernormen, gegen die für gewöhnlich daraus resultierende Stigmatisierung als »nicht normal«41, gegen den sozialen Ausschluss und die Nicht-Anerkennung von Andersartig-

41 | Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1975.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 345

keit, hilft nur das neuhumanistische Programm der Inklusion und Anerkennung durch Repräsentation: Into the frame!

Literatur Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000. Bukatman, Scott: »Taking Shape: Morphing and the Performance of Self«, in: ders.: Matters of Gravity. Special Effects and Supermen in the 20th Century, Durham, London 2003. Butler, Judith: »Noch einmal: Körper und Macht«, in: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt/M. 2003. Carroll, Noel: »Notes on the Sight Gag«, in: Horton, Andrew (Hg.): Comedy/ Cinema/Theory, Berkeley, Oxford 1991. Creed, Barbara: »The Crash debate: Anal Wounds, Metallic Kisses«, in: Screen, 39(2)/1998. Dale, Alan: Comedy is a Man in Trouble. Slapstick in American Movies, Minneapolis 2000. Drake, Philip: »Low Blows? Theorizing Performance in Post-classical Comedian Comedy«, in: Krutnik, Frank (Hg.): Hollywood Comedians. The Film Reader, New York 2003. Eco, Umberto: »The Frames of Comic Freedom«, in: Sebeok, Thomas A. (Hg.): Carnival!, Berlin 1985. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1977. Foucault, Michel: »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere«, in: ders.: Dispositive der Macht, Berlin 1978. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1975. Grant, Michael: »Introduction«, in: ders. (Hg): The Modern Fantastic. The Films of David Cronenberg, Trowbridge 2000. Gunning, Tom: »Buster Keaton, or the Work of Comedy in the Age of Mechanical Reproduction«, in: Krutnik, Frank (Hg.): Hollywood Comedians. The Film Reader, New York 2003. Haraway, Donna: »The Promises of Monsters«, in: Grossberg, Lawrence/ Nelson, Cary/Treichler, Paula A. (Hg.): Cultural Studies, London, New York 1992. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M. 1995.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

346 | Robin Celikates, Simon Rothöhler Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, Cambridge 2000. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude, New York 2004. Jameson, Frederic: »Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1997. Jameson, Frederic: »Verdinglichung und Utopie in der Massenkultur«, in: Nagl, Ludwig (Hg.): Filmästhetik, Wien 1999. Koch, Gertrud: »Unterhaltung und Autorität. Konstellationen der Massenmedien«, in: Brunkhorst, Hauke (Hg.): Demokratischer Experimentalismus, Frankfurt/M. 1998. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M. 2002. Lemke, Thomas: Veranlagung und Verantwortung, Bielefeld 2004. Möller, Olaf: »Hardcore: Atrocity Exhibition USA«, in: Meteor, 3/1996. Palm, Michael: »See you in Pittsburgh. Das neue Fleisch in Videodrome«, in: ders./Robnik, Drehli (Hg.): Und das Wort ist Fleisch geworden, Wien 1992. Pitts, Victoria: In the Flesh. The Cultural Politics of Body Modification, Houndmills 2003. Rebhandl, Bert: »Doppelt hält besser. Der menschlichere Makel: ›Unzertrennlich‹ von Peter und Bobby Farrelly«, in: Berliner Zeitung, 31. Dezember 2003. Robnik, Drehli: »Langsam sterbe das Alte Fleisch! Das große Ausrinnen in David Cronenbergs Crash«, in: Meteor, 5/1996. Rodley, Chris/Cronenberg, David (Hg.): Cronenberg on Cronenberg, London 1997. Rouse, John: »Brecht and the Contradictory Actor«, in: Theatre Journal, 36 (1)/1981. Samocki, Jean-Marie: »Neue Fiktionen des Gesichts«, in: Blümlinger, Christa/Sierek, Karl (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002. Scheper-Hughes, Nancy/Wacquant, Loïc (Hg.): Commodifying Bodies, London 2002. Shilling, Chris: The Body and Social Theory, London 2003. Shusterman, Richard: »Die somatische Wende in der heutigen Kultur«, in: ders.: Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, Berlin 2005. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, Minneapolis 2000. Sinclair, Ian: Crash. David Cronenberg’s Post-mortem on J. G. Ballard’s ›Trajectory of Fate‹, London 1999. Sobchack, Vivian (Hg.): Meta-Stasis: Visual Transformation and the Culture of Quick Change, Minneapolis 2000.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

Hybridisierung oder Anerkennung? | 347

Stäheli, Urs: »Spezialeffekte als Ästhetik des Globalen«, in: Schwerig, Gregor/Zelle, Carsten (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München 2002. Stanbroock, Alan: »Cronenberg’s Creative Cancers«, in: Sight and Sound, 58/1988. Turner, Bryan S.: The Body and Society. Explorations in Social Theory, London 1996. Williams, Linda R.: »The Inside-out of Masculinity: David Cronenberg’s Visceral Pleasures«, in: Aaron, Michele (Hg.): The Body’s Perilous Pleasures: Dangerous Desires and Contemporary Culture, Edinburgh 1999. Williams, Linda R.: »Film Bodies: Gender, Genre, and Excess«, in: Stam, Robert/Miller, Toby (Hg.): Film and Theory. An Anthology, Oxford 2000.

Filmverzeichnis Crash (David Cronenberg), Kanada, USA 1996. Dead Ringers (David Cronenberg), Kanada, USA 1988. La Notte (Michelangelo Antonioni), Italien, Frankreich 1961. The Mask (Chuck Russell), USA 1994. Modern Times (Charlie Chaplin), USA 1934. Me, Myself & Irene (Peter & Bobby Farrelly), USA 2000. Stuck on You (Peter & Bobby Farrelly), USA 2003. Videodrome (David Cronenberg), Kanada 1983.

2006-02-06 17-39-02 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 325-347) T05_03 celikates rothöhler.p 107239502086

2006-02-06 17-39-03 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 348

) vakat 348.p 107239502430

Anhang

2006-02-06 17-39-03 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 349

) T06_00 respekt.p 107239502590

2006-02-06 17-39-04 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 350

) vakat 350.p 107239502734

Die Autorinnen und Autoren | 351

Die Autorinnen und Autoren

Johann S. Ach ist Geschäftsführer des Centrums für Bioethik an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Grundlagenfragen der biomedizinischen Ethik, ethische Fragen der modernen Medizin, Tierethik sowie ethische Probleme der Nanobiotechnologie. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt/M. 1998 (Hg. mit Gerd Brudermüller/Christa Runtenberg); Warum man Lassie nicht quälen darf. Tierversuche und moralischer Individualismus, Erlangen 1999; Bioethik: Disziplin und Diskurs (mit Christa Runtenberg), Frankfurt/M. 2002. Andreas Bachmann, Philosoph, ist seit 2002 Geschäftsführer für den operativen Bereich von ethik im diskurs (Zürich). Produzent von Dokumentarfilmen zu medizinethischen Fragen. Arbeitsschwerpunkte: Pflegeethik, Demenzethik, Medizinethik, Risikoethik, Philosophie des guten Lebens. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Gene patentieren. Eine ethische Analyse (mit Norbert Anwander/Klaus Peter Rippe/Peter Schaber), Paderborn 2002; Pharmakogenetik und Pharmakogenomik (mit Klaus Peter Rippe u.a.), Bern 2004. Kurt Bayertz ist Professor für Philosophie an der Universität Münster. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die praktische Philosophie; daneben beschäftigt er sich mit ausgewählten Fragen der Anthropologie, Ästhetik und Wissenschaftsgeschichte. Buchveröffentlichungen (Auswahl): GenEthik, Reinbek 1987; Solidarität. Begriff und Problem (Hg.), Frankfurt/M. 1998; Warum moralisch sein? (Hg.), Paderborn 2002; Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004; Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie? (Hg.), Paderborn 2004.

2006-02-06 17-39-04 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 351-355) T06_01 autoren.p 107239502958

352 | no body is perfect Volker Caysa lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Lodz. Er ist Mitglied des Vorstandes der Nietzsche Gesellschaft. Hauptarbeitsgebiete: Hermeneutik, Philosophie der Lebenskunst, Anthropologie des Körpers (unter Einschluss der Sportphilosophie). Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports; Frankfurt/M. 2004; Kritik als Utopie der Selbstregierung. Über die existenzielle Wende der Kritik nach Nietzsche, Berlin 2005. Robin Celikates ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Philosophie der Universität Gießen sowie Gastkollegiat am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Gründungsmitglied und Redakteur der Zeitschrift polar (ab Sommer 2006). Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Autonomie und Heteronomie des Politischen (Hg. zusammen mit dem Frankfurter Arbeitskreis für Politische Theorie und Philosophie), Bielefeld 2004; »From Critical Social Theory to a Social Theory of Critique«, in: Constellations, 1/2006. Katja Crone ist wissenschaftliche Referentin in der Geschäftsstelle des Nationalen Ethikrates. Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften in Montpellier, Hamburg und London. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit, Philosophie der Person, Bioethik. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, Göttingen 2005; »Transzendentale Apperzeption und konkretes Selbstbewusstsein«, in: Fichte-Studien (im Erscheinen). Alexandra Deak ist Volkskundlerin und arbeitet als Kuratorin sowie im Bereich Fundraising am Freilichtmuseum Domäne Dahlem in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Nahrungsgeschichte, -ethnologie und -soziologie. Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): »Lustwandel. Veränderungen der Esskultur in Deutschland«, in: Helmut Heseker (Hg.): Neue Aspekte der Ernährungsbildung, Frankfurt/M. 2005; »Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs« (Hg. zusammen mit Peter Lummel), Berlin 2005. Benigna Gerisch ist als Psychotherapeutin im Therapiezentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und als Psychoanalytikerin in eigener Praxis tätig. Forschungsscherpunkte: Genderstudies mit Schwerpunkt Psychoanalyse, Suizidalität in Belletristik, Film und Theater. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Suizidalität bei Frauen – Mythos und Realität, Tübingen 1998; Die suizidale Frau – Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese, Göttingen 2003; Ein Denken, das zum Sterben führt (Hg. gemeinsam mit Ines Kappert/Georg Fiedler), Göttingen 2004.

2006-02-06 17-39-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 351-355) T06_01 autoren.p 107239502958

Die Autorinnen und Autoren | 353

Matthias Kettner ist Professor für Philosophie und Dekan der Fakultät für das Studium Fundamentale an der Privatuniversität Witten-Herdecke. 2000-2003 leitete er am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen ein Forschungsprojekt über Organisationsformen und den moralischen Anspruch klinischer Ethik-Komitees. Seit 2004 stellvertretender Sprecher des Forschungsverbunds »Was ist der Mensch? Natur, Sprache, Kultur«. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Angewandter Ethik und Methodenproblemen der Psychoanalyse. Zuletzt erschien: »Biomedizin und Menschenwürde« (Hg.), Frankfurt/M. 2004. Christian Lenk ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen, Konzepte von Gesundheit und Krankheit, Abgrenzung Therapie/Enhancement, Forschungsethik. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Therapie und Enhancement, Münster 2002; Health and Quality of Life (Hg. mit Antje Gimmler/Gerhard Aumüller), Münster 2002; Ethical Issues of Evidence Based Practice in Medicine and Health Care (Hg. mit Ruud ter Meulen u.a.), Heidelberg 2005. Arnd Pollmann lehrt und forscht am Institut für Philosophie der Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Moralphilosophie, Angewandte Ethik, Politische Philosophie, Menschenrechte, Anthropologie, Sozialpsychologie. Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): »Bioethik-Kommissionen in Deutschland – Ein Überblick« (mit Bernd Krippner), in: MenschenRechtsMagazin, 3/2004; »Würde nach Maß«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/2005; Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld 2005 Klaus Peter Rippe, Philosoph, ist seit 2002 Geschäftsführer von ethik im diskurs (Zürich) sowie Privatdozent an der Universität Zürich. Präsident der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im außerhumanen Bereich. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Ethik, Umweltethik, Wirtschaftsethik, Medizinethik, Pflegeethik. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Ethischer Relativismus, Paderborn 1993; Menschenwürde vs. Würde der Kreatur (mit Philipp Balzer/Peter Schaber), Freiburg, München 1997; Pharmakogenetik und Pharmakogenomik (mit Andreas Bachmann u.a.), Bern 2004. Simon Rothöhler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2003 Lektor beim ZDF/Das kleine Fernsehspiel. Texte u.a. für New Filmkritik, Jungle World, Frankfurter

2006-02-06 17-39-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 351-355) T06_01 autoren.p 107239502958

354 | no body is perfect Rundschau, Kolik. Letzte Veröffentlichung: »›I can’t dream of other places‹. Zu Utopie und Softcore bei Larry Clark und Luchino Visconti«, in: Jörg Metelmann (Hg.): Porno Pop, Würzburg 2005. Kurt W. Schmidt, Theologe und Humanmediziner, ist Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin am Markus-Krankenhaus, Frankfurter DiakonieKliniken. Nebenamtlicher Studienleiter für Medizinethik an der Evangelischen Akademie Arnoldshain/Ts. Veröffentlichungen zu medizinethischen Themen wie Geschlechtsumwandlung, Gentherapie, Stammzellforschung, Diagnoseaufklärung, Medizin im Film. Zuletzt erschien: Suizid und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Herausforderung im klinischen Alltag (Hg. mit Gabriele Wolfslast), München 2005. Julia Schoch, aufgewachsen in Mecklenburg, ist Schriftstellerin. Sie lebte in Frankreich und Rumänien, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literatur an der Universität Potsdam. Seit 2003 freiberuflich. Erschienen sind: Der Körper des Salamanders – Erzählungen, München 2001; Verabredungen mit Mattok – Novelle, München 2004. Beiträge in Anthologien, darunter: Verena Auffermann (Hg.): Beste deutsche Erzähler 2002, Stuttgart, München 2003. Verschiedene Preise, u.a. den Stefan-GeorgePreis für Übersetzer der französischen Sprache; im Jahre 2005 den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Bettina Schöne-Seifert ist Professorin für Medizinethik an der Universität Münster. Mitglied des Nationalen Ethikrates. Forschungsschwerpunkte: Ethische Probleme der modernen Medizin, Theorie- und Begründungsfragen in der Ethik, Anthropologie und Neurobiologie. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): »Medizinethik«, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik, überarb. Neuauflage, Stuttgart 2005; »Harm«, in: The Encyclopedia of Bioethics, überarb. Neuauflage, New York 2004; »Dangers and Merits of Principlism«, in: Christoph Rehmann-Sutter (Hg.): Methods and Problems of Bioethics, Dordrecht 2005 (im Erscheinen). Thomas Schramme ist Senior Lecturer in Philosophy and Humanities of Health Care an der University of Wales in Swansea. Zuvor wissenschaftlicher Oberassistent am Philosophischen Seminar der Universität Mannheim. Hauptarbeitsgebiete: Ethik, Medizinphilosophie und Bioethik, Politische Philosophie. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Bioethik, Frankfurt/M. 2002; Psychische Krankheit aus philosophischer Sicht, Gießen 2003; Philosophy and Psychiatry (Hg. mit Johannes Thome), Berlin 2004.

2006-02-06 17-39-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 351-355) T06_01 autoren.p 107239502958

Die Autorinnen und Autoren | 355

Ludwig Siep ist Professor für Philosophie an der Universität Münster und Sprecher des dortigen Centrums für Bioethik. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Geschichte der praktischen Philosophie, Allgemeine und Angewandte Ethik. Wichtige Publikationen (Auswahl): Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Freiburg, München 1979; Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992; Konkrete Ethik, Frankfurt/M. 2004; »Normative Aspekte des menschlichen Körpers«, in: Kurt Bayertz (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie, Paderborn 2004. Davinia Talbot arbeitet am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizinethik. Sie ist Ärztin. Studium der Medizin, Philosophie und Anglistik an den Universitäten Witten-Herdecke und Münster. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Münster und Düsseldorf. Julia Wolf ist wissenschaftliche Assistentin in der Medizinethik am Lehrstuhl für Medizinethik und Angewandte Ethik der Universität Basel. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübingen, an der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart sowie am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften der Universität Tübingen tätig.

2006-02-06 17-39-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 351-355) T06_01 autoren.p 107239502958

356 | no body is perfect

Abbildungsnachweise

S. 19 S. 109 S. 185 S. 231 S. 293

Puppenklinik Schneider: Musterkoffer (Ausschnitt), Düsseldorf. Arnd Pollmann: razor rostfrei, Berlin. mediXtra: Silikonkissen, Berlin. Arnd Pollmann: happy pills, Berlin. Gero von Braunmühl: illustrated man II, München.

2006-02-06 17-39-05 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 356

) T06_02 abbildungsverzeichnis.p 107239503190

Die Titel dieser Reihe

Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie

Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida

Juli 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-332-1

März 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-456-5

Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnêma Derrida zum Andenken

Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen

April 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-510-3

Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff April 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-443-3

Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler April 2006, 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-475-1

Februar 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-465-4

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen Februar 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-364-X

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse Februar 2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-427-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2006-02-06 17-39-07 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 357-358) anz.edi_mopomo.02-06.p 107239503478

Die Titel dieser Reihe Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration Januar 2006, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-441-7

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 3-89942-367-4

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-159-0

Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-75-0

2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-325-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2006-02-06 17-39-07 --- Projekt: T427.edimopomo.pollmann-ach.body / Dokument: FAX ID 020b107239490552|(S. 357-358) anz.edi_mopomo.02-06.p 107239503478