Nietzsche und Homer: Tradition der klassischen Philologie und philosophischer Kontext 9783110751406, 9783110751291, 9783110751499, 2021940047

This volume reconstructs the full development of Nietzsche’s Homer interpretations, from his early philological writings

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Nietzsche und Homer: Tradition der klassischen Philologie und philosophischer Kontext
 9783110751406, 9783110751291, 9783110751499, 2021940047

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Siglenverzeichnis
Einleitung
1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts
2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne
3 Odysseus und das europäische Ideal
4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral
5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel
6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts
Schluss
Anhang: Chronologie von Nietzsches Homer-Rezeption
Literatur
Register

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Alexey Zhavoronkov Nietzsche und Homer

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Herausgegeben von Christian J. Emden Helmut Heit Vanessa Lemm Claus Zittel Begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel Advisory Board: Günter Abel, R. Lanier Anderson, Keith Ansell-Pearson, Sarah Rebecca Bamford, Christian Benne, Jessica Berry, Marco Brusotti, João Constâncio, Daniel Conway, Carlo Gentili, Oswaldo Giacoia Junior, Wolfram Groddeck, Anthony Jensen, Scarlett Marton, John Richardson, Martin Saar, Herman Siemens, Andreas Urs Sommer, Werner Stegmaier, Sigridur Thorgeirsdottir, Paul van Tongeren, Aldo Venturelli, Isabelle Wienand, Patrick Wotling

Band 76

Alexey Zhavoronkov

Nietzsche und Homer Tradition der klassischen Philologie und philosophischer Kontext

ISBN 978-3-11-075129-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075140-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075149-9 ISSN 1862-1260 Library of Congress Control Number: 2021940047 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

In Gedenken an meine Mutter Elena Oznobkina

Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation mit demselben Titel, die ich am 4. November 2013 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt habe. Ich danke insbesondere meinem Doktorvater Prof. Dr.Volker Gerhardt sowohl für seine ständige Hilfe und Ratschläge als auch für die wertvolle Möglichkeit, von den inhaltsreichen Diskussionen in seinen Seminaren und im Doktorandenkolloquium (wie auch von zahlreichen Gesprächen mit Nicola Nicodemo und Nikolaos Loukidelis, die ebenfalls bei Herrn Gerhardt promovierten) zu profitieren. Gleich dem persönlichen Austausch mit Herrn Gerhardt war die Teilnahme an diesen Veranstaltungen für mich immer eine einzigartige und besonders angenehme Erfahrung. Ein weiterer Dank für die Hilfe und freundliche Unterstützung gilt meiner Zweitgutachterin Frau Prof. Dr. Beatrix Himmelmann, dem Drittgutachter Herrn Prof. Glenn Most sowie Herrn Prof. Dr. Geert Keil, dem damaligen Vorsitzenden der Promotionskommission, mit dem ich später die Möglichkeit hatte, am Konzept eines anderen wissenschaftlichen Projektes zu arbeiten. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Nelly Motroschilowa, die mich während meiner Arbeit an der Dissertation ständig mit Wort und Tat unterstützte und deren kürzlicher Tod ich zutiefst bedauere. Den Teilnehmern unseres ‚Baseler Kreises‘ der Doktoranden, vor allem Takahide Imasaki, Alexey Salikov, Sung Jun Yeum und Jean Yhee, bin ich besonders dankbar für regelmäßige Treffen und Gespräche, die hoffentlich für uns alle von Nutzen waren. Dem Verlag De Gruyter sowie den Herausgebern der Reihe Monografien und Texte zur Nietzsche-Forschung – Christian Emden, Helmut Heit, Vanessa Lemm und Claus Zittel – danke ich sehr für die Aufnahme meines Manuskriptes sowie für detaillierte Hinweise, die zur wesentlichen Verbesserung des Textes dienten. Helmut Heit danke ich außerdem ganz herzlich für die Einladung, an den Sitzungen des von ihm gegründeten Berliner Nietzsche-Colloquiums an der Technischen Universität teilzunehmen und die Zwischenergebnisse meiner Arbeit auch dort zu präsentieren. Für die großzügige finanzielle Unterstützung während meines Promotionsstudiums danke ich der Konrad-Adenauer-Stiftung: Diese Unterstützung hat die Vorbereitung meiner Dissertation wesentlich erleichtert. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit wurde in Weimar durchgeführt, u. a. im Rahmen des Forschungsstipendiums der Klassik Stiftung. Für die finanzielle Unterstützung der Publikation gilt mein herzlicher Dank den langjährigen Freunden meiner Familie – Serguey Prevalsky und Elena Dulguerova. Diese Arbeit wurde vom Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Druck genehmigt.

https://doi.org/10.1515/9783110751406-001

Inhalt Siglenverzeichnis Einleitung     

XI

1 Fragestellung 1 Aktueller Forschungsstand 9 Ziele und Struktur Quellen und Methode 11

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. . .

Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 13 19. Jahrhunderts Nietzsches philologische Beschäftigungen mit Homer: Chronologischer Leitfaden 13 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (1): Die homerische Frage seit F. A. Wolf 15 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (2): Friedrich Ritschl in 20 Leipzig Homer und die klassische Philologie 23 34 Certamen Homeri et Hesiodi Homer und die Geschichte der griechischen Literatur 37

 . .. .. .. .. . .. ..

Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne Homer in der griechischen Kultur 41 41 Der träumende Künstler 49 Der Wettkämpfer und der Richter 55 Der Lehrer und der Erzieher Homer und die Décadence 59 Homer und das 19. Jahrhundert 61 Die Fremdheit Homers 61 Die Nähe Homers 65

 . . . . .

Odysseus und das europäische Ideal 69 69 Odysseus, das griechische Ideal? Der lügende Odysseus 73 Odysseus, das europäische Ideal 76 79 Odysseus und der Weg des Philosophen Odysseus gegen Thersites: Ressentiment und Nihilismus in aristokratischer Umgebung 83 Odysseus und der Wille zur Macht 85

. . .

.

41

X

 . . . . .

 . . . . .  . . .

Inhalt

Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral 89 Griechische Sittlichkeit als Instrument von Nietzsches Moralkritik 89 Die homerischen Helden und die Mehrheit der Moralen 92 95 Die homerischen Götter und das Problem der Schuld Der soziale Ursprung der moralischen Begriffe bei Homer und das Problem der Interpretation 97 Auf der Suche nach der aristokratischen Moral: von Homer zu 101 Theognis Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philoso108 phischer Formel Wille zur Täuschung contra Willen zur Wahrheit 110 Polytheismus contra Einförmigkeit 114 117 ‚Unmoralität‘ contra Moral Ganzheit contra Dualismus 121 124 Einheit der Gegensätze? 128 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts Methoden der Homerforschung: Wolfgang Schadewaldt und Walter Arend 128 131 Der homerische Polytheismus: Walter F. Otto Nietzsche in der Diskussion um die homerische Moral: Eric Dodds, 134 Arthur Adkins und Bernard Williams

Schluss

140

Anhang: Chronologie von Nietzsches Homer-Rezeption Literatur

Register

143

145 Philologische und philosophische Schriften Nietzsches Weitere Ausgaben 145 146 Sekundärliteratur 155

145

Siglenverzeichnis Nietzsches Werke und Ausgaben AC CV DD EH FW GD GM GT HW JGB KGB

Der Antichrist Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Homer’s Wettkampf Jenseits von Gut und Böse Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino; Müller, Norbert; Pieper, Renate (Hg.). Nietzsches Briefwechsel: Kritische Gesamtausgabe. Berlin / New York: De Gruyter 1975 – 2004. KGW Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino et al. (Hg.). Friedrich Nietzsche, Werke: Kritische Gesamtausgabe. Berlin / New York: De Gruyter 1967–. KSA Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino et al. (Hg.). Friedrich Nietzsche, Werke: Kritische Studienausgabe. Berlin / New York: De Gruyter 1999. M Morgenröthe MA Menschliches, Allzumenschliches NL Nachgelassene Fragmente SGT Sokrates und die griechische Tragoedie ST Socrates und die Tragoedie UB Unzeitgemässe Betrachtungen VM Vermischte Meinungen und Sprüche WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne WS Der Wanderer und sein Schatten Za Also sprach Zarathustra

Sonstige Siglen AA

Kant, Immanuel. Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900–. Il. Homeri Ilias Od. Homeri Odyssea OD Hesiodi Opera et Dies WWV Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung

https://doi.org/10.1515/9783110751406-002

Einleitung In der Geschichte der europäischen Philosophie gehört Nietzsche zu wenigen prominenten Figuren, die Philosophie und Literatur so eng zusammenbringen, dass sie in ihren Werken untrennbar wirken. Diese scheinbare Rückkehr der Philosophie zu ihren antiken dichterischen Ursprüngen setzt eine besondere Interpretationsstrategie voraus: eine Umwertung der klassischen Vorstellungen von antiker Kultur und zugleich der in der Antike entstandenen philosophischen Tradition. Indem Nietzsche, der selbsterklärte Dichter-Philosoph, die frühgriechische Kultur zu seinem Vorbild macht, stellt er die platonische Trennung von dichterischem Schaffen und philosophischem Denken in einer kühnen Geste als reversibel dar. Als Philologe und kritischer Leser der antiken Texte illustriert er die programmatische Aufgabe, die Grenzen und Ziele der klassischen Philologie im neuen Licht am Beispiel seiner philologisch unkonventionellen Deutung der homerischen Frage darzustellen. Da sich sein philosophisches Denken deutlich am Vorbild der griechischen Tragödie orientiert, sind auch die homerischen Epen für ihn ein genealogisch-chronologischer und inhaltlicher Bezugspunkt, ohne den unser Verständnis seiner Perspektiven, Ideen und philosophischen Metaphern mangelhaft wäre. Die vorliegende Studie ist ein Versuch, diesen Aspekt von Nietzsches Denken nicht nur in Hinsicht auf seine Stellung zur altertumswissenschaftlichen Debatte um Homer, sondern im Kontext der Entwicklung seiner Philosophie im Ganzen zu verstehen.

1 Fragestellung In Nietzsches Homerbild spiegeln sich die komplexen Beziehungen zwischen dichterischen, philologischen und philosophischen Aspekten seines Denkens. Als erster Dichter des Abendlands ist Homer für ihn sowohl Verbündeter im Kampf gegen das Christentum und den Platonismus als auch Gegner, der eine ästhetische und psychologische Hürde für die gegenwärtige Kunst und Kultur symbolisiert. Sichtbar wird diese Zweideutigkeit insbesondere an Nietzsches Vorstellung von Homers Apollinismus, die nie endgültig zu definieren ist, weil Nietzsche immer wieder homerische Anspielungen und Metaphern in neue philosophische Kontexte einbaut. Homer ist für Nietzsche ein Vorbild: nicht als Philosoph, sondern als Beispiel der uns nur in Bruchstücken zugänglichen, genuin griechischen Kultur, das Nietzsche aus unterschiedlichen Perspektiven instrumentalisiert. Als Philologe interessiert sich Nietzsche über rein akademische Fragen – wie die der Genese der Geschichte über den Wettkampf zwischen Homer und Hesiod – hinaus für Probleme, die an der Schwelle zwischen Philologie und Dichtung, philologischgeschichtlicher Analytik und literarischer Ästhetik stehen – wie der Frage nach Homers Persönlichkeit. Vieles von dem, was Nietzsche als unbefangener und freier Leser Homers und danach als lesender Philologe über Homer entdeckt, mündet in seine https://doi.org/10.1515/9783110751406-003

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Einleitung

späteren philosophischen Überlegungen über griechische Kultur und Christentum, philosophische Methode und experimentelles Denken, Geschichte und Gegenwart. Insofern ist die Grenze zwischen philologischen und philosophischen Aussagen Nietzsches über Homer, vielleicht sogar mehr als über die Griechen im Allgemeinen, eine durchlässige. Als Dichter verwendet Nietzsche insbesondere in seinen philosophischen Schriften eine Reihe literarischer Tropen, die auch im homerischen Epos von Bedeutung sind. Da er die mehrschichtigen Metaphern gegenüber den einseitigen Metonymien deutlich bevorzugt, finden wir beim ihm eine Reihe direkter und indirekter Anspielungen auf einzelne Szenen und Themen sowie auf bestimmte Figuren der Ilias und Odyssee. Den Höhepunkt bildet Nietzsches wohl bekanntestes Werk Also sprach Zarathustra, in dem Homers Epen und homerische Gestalten zugleich aus epistemologisch-methodologischer, kulturphilosophisch-ästhetischer, ethischer, theologischer, naturphilosophischer, psychologischer und sozialphilosophischer Perspektive relevant sind. Als Philosoph macht Nietzsche Gebrauch von verschiedenen homerischen Metaphern und Motiven – von relativ einfachen und durchsichtigen (wie der Metaphorik des Wettkampfs) bis zu obskuren und kontroversen, wie dem angeblich vorbildlichen Charakter von Odysseus, der sich in den impliziten Doppelgänger von Zarathustra verwandelt. Nietzsches Bezüge auf Homer werden mit der Zeit spärlicher. Der Grund dafür liegt nicht nur in der offensichtlichen graduellen Entfernung Nietzsches von philologischen Fragestellungen und Themen, sondern auch darin, dass er seine Aufmerksamkeit zusehends auf die negativen Implikationen von Homers Dominanz in der griechischen Kultur richtet. Indem der späte Nietzsche sich immer kritischer gegenüber Platon äußert, nimmt er auch eine skeptischere Stellung gegenüber Platons Gegner ein: Homer. Neben dieser Stellung Homers an der Kreuzung zwischen Nietzsches Neubestimmung philologischer Aufgaben und Methodologie, seiner Kritik an philosophischer Tradition und seinen künstlerischen Experimenten zeichnet sich die Komplexität der auf den ersten Blick relativ einfach erscheinenden Thematik von Nietzsches Homerbild sowie von seiner Deutung homerischer Texte und Gestalten an drei Aspekten ab: Der erste Aspekt bezieht sich auf Homer als literarische – nicht-philosophische oder, besser gesagt, vorphilosophische – Quelle. Anders als Texte, die von der Tradition der griechischen Philosophie beeinflusst sind wie etwa die Dramen von Euripides, nehmen die homerischen Epen aus chronologischen und genetischen Gründen eine einzigartige Stellung ein: Sie gehen der Entstehung der griechischen Philosophie voraus und beeinflussen diesen Prozess wesentlich. Da die Diskussion um Minimalkriterien eines protophilosophischen Texts bisher zu keinem eindeutigen oder befriedigenden Ergebnis gekommen ist,¹ scheint es produktiver, Homers Epen als

 Vgl. etwa die unterschiedlichen Deutungen des Begriffes „Protophilosophie“: Gigon 1945, S. 13 – 14; Goody/Watt 1968, S. 55; Lesher 1981.

1 Fragestellung

3

vorphilosophische Texte mit philosophischer Relevanz, aber ohne ursprünglichen philosophischen Status zu bezeichnen. Diese Strategie erweist sich als anwendbar auch auf die Analyse von Nietzsches Schriften, weil er den homerischen Epen keinen philosophischen Status zuschreibt, sondern sie, gleich den zahlreichen antiken Interpretatoren, lediglich aus philosophischer Sicht betrachtet. Der zweite Aspekt besteht in der Einzigartigkeit der Rolle Homers in Nietzsches Denken im Vergleich zu anderen griechischen Quellen. Wenn wir uns nicht verführen lassen, Homers Stellung bei Nietzsche nur im Rahmen der Leipziger und der Baseler Periode zu betrachten, sehen wir, dass Homer und homerische Gestalten auch in Nietzsches späterem Denken – in unterschiedlichen Kontexten – instrumentalisiert werden. Somit bezieht sich die Frage nach der Gestalt und Dynamik von Nietzsches Homerbild nicht nur auf diejenigen Schriften, die – wenigstens zum Teil – als Früchte seiner Beschäftigung mit Homer zu sehen sind, d. h. um seine Inaugurationsrede Homer und die klassische Philologie, um die kleine Schrift Homer’s Wettkampf sowie – mit gewissem Vorbehalt – um den zweiteiligen Artikel Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf. Homer, homerische Gestalten und Zitate sowie indirekte Anspielungen auf homerische Epen tauchen in einer Reihe von veröffentlichten Schriften und Nachlassfragmenten aller Perioden auf, auch wenn diese Bezüge mit der Zeit seltener werden. Sein Homerbild bekommt seine Relevanz somit nicht nur im philologischen oder kulturphilosophischen Kontext, sondern auch aus der Perspektive der Moralkritik, der sozialen Philosophie und der Epistemologie Nietzsches. Daraus ergibt sich der dritte Aspekt, der mit einem alten wie allgemeinen Problem der Nietzscheforschung in Verbindung steht: der Frage nach der Folgerichtigkeit von Nietzsches Denken und nach den Unterschieden zwischen seinen Schriften und Perioden. Einerseits ist es evident, dass Nietzsche seine Position in Bezug auf einzelne Aspekte der griechischen Kultur, etwa zum griechischen Pessimismus, ändert und einige zentrale Figuren der griechischen Philosophie, insbesondere Platon, in den Schriften der Baseler Zeit und in den späten Werken in ganz verschiedenem Licht dargestellt werden. Andererseits ist gerade Homer davon weniger betroffen, weil Nietzsche seinen frühen Thesen über Homers Rolle in der griechischen Kultur niemals direkt widerspricht – wenn auch zu berücksichtigen ist, dass er Homer in seinen späten Nachlassfragmenten als Ursache der Dekadenz der griechischen Kultur bewertet. Homerische Anspielungen gehören zu den beständigsten Elementen von Nietzsches Denken, weil sie immer wieder in größere Gedankenkonstellationen eingeflochten werden: Homerische Themen und Gestalten werden zu Bausteinen von Nietzsches Interpretationen, zu denen er aus den verschiedensten Anlässen greift – sei es die Gegenüberstellung des Dionysischen und des Apollinischen, die Betonung des agonalen Charakters der griechischen Archaik, das Lob des Polytheismus im Gegensatz zum Monotheismus, die Kritik an der platonisch-christlichen Moral oder die metaphorische Beschreibung der experimentellen Philosophie. Der Grund für diese Konsistenz könnte darin liegen, dass Nietzsche sich bereits sehr früh eine Meinung über Homer bildet und daher in den späteren Perioden keine erneute Lektüre

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Einleitung

der homerischen Epen benötigt. Eine weitere Ursache könnte die plastische Struktur der homerischen Epen sein, die unterschiedliche Interpretationen ermöglicht und eine große Anzahl von Themen, je nach Akzentuierung der jeweiligen Deutung, in den Vordergrund treten lässt, ohne dass ein bestimmtes Thema dominierend erschiene. Die bedeutet aber keinesfalls, dass Nietzsches Auffassung von Homer in allen Aspekten positiv wäre oder sein philosophisches Interesse für Homer immer gleich groß bliebe.

2 Aktueller Forschungsstand Von allen Philosophen des 19. Jahrhunderts, in dem die geisteswissenschaftliche Rezeption des antiken Erbes – und nicht zuletzt der homerischen Epen – eine neue Blüte erfährt, hat Nietzsche die tiefste Verbindung zu den Griechen. Angefangen mit den großen Interpretationen von Martin Heidegger, Karl Jaspers und Walter Kaufmann und bis in die neueste akademische Nietzscheforschung wird dieser Idee eine zentrale Bedeutung beigemessen. Doch abgesehen davon, ob Nietzsches Bezüge auf griechische Autoren und Texte aus der engeren Perspektive seiner Opposition des Apollinischen und des Dionysischen, auf Basis der Kritik an Platon und am klassizistischen kulturellen Paradigma oder, wie in den Studien der letzten Jahrzehnte,² aus der Perspektive der Bedeutung für seine Philosophie im Ganzen untersucht werden, liegt der Fokus vor allem auf ausgewählten Vorsokratikern, auf der griechischen Tragödie und auf Platon. Deutlich weniger Aufmerksamkeit erhält das griechische Epos, obwohl es am Beginn der vorplatonischen kulturellen Tradition steht, die aus Nietzsches Sicht die eigentlich griechische ist. Obwohl sich Nietzsche vor seinen Lesern als Philosoph und Dichter zugleich inszeniert, werden seine Bezüge auf Homer vorwiegend im Kontext seiner philologischen Studien, nicht aber seiner Philosophie thematisiert. Die Besonderheit von Homers Rolle in Nietzsches Philosophie hat als erster Walter Kaufmann direkt thematisiert. In der Monografie Tragedy and Philosophy (1969) nennt er Nietzsche den „erste[n] Philosoph[en], wenn nicht de[n] ersten Denker überhaupt, der von Homers Geist sehr viel in seiner Prosa und seiner Lebenseinstellung einfängt.“³ Diese Anmerkung blieb aber ohne weitreichende Folgen sowohl für Kaufmanns eigene Analyse von Nietzsches Bild der Antike als auch – für eine lange Zeit – in der Nietzscheforschung im Ganzen. Obwohl die Forschung der 1990er- und 2000erJahre der Baseler Periode wie auch den methodologischen und thematisch-inhaltlichen Folgen von Nietzsches philologischer Ausbildung immer mehr Aufmerksamkeit schenkte, wurden nur isolierte Aspekte seiner Homerdeutung behandelt. Die zentrale Rolle spielte die sogenannte homerische Frage, während anderen Themen zumeist nur

 Zu erwähnen wäre v. a. die bahnbrechende Monografie von Enrico Müller (Müller 2005), in der diese Trennung in zwei Perspektiven der Analyse explizit thematisiert wird.  Zit. nach der deutschen Ausgabe: Kaufmann 1980, S. 179.

2 Aktueller Forschungsstand

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eine marginale Rolle eingeräumt wurde. Da die Liste der Sekundärquellen, in denen Nietzsches Homerinterpretation in den Blick kommt, überschaubar ist – es gibt beispielsweise noch keine dezidierte Monografie zu Homers Stellung in Nietzsches Denken –, sollen die wichtigsten Studien in einem relativ knappen Überblick dargestellt werden. Da der Einfluss von Nietzsches Studium der klassischen Philologie und der antiken Quellen auf seine philosophische Methode und Fragestellungen erst später in den Vordergrund der Diskussionen kam, blieb die spätestens seit Wilamowitz-Moellendorffs Angriff auf Die Geburt der Tragödie umstrittene Frage nach der Bedeutung von einzelnen Schriften und Ideen Nietzsches aus der Perspektive der klassischen Philologie immer relevant, auch wenn viele wesentliche Aspekte für einen langen Zeitraum nur eine zweitrangige Rolle spielten. So wurden Nietzsches philologische Beschäftigungen mit Certamen Homeri et Hesodi zum Hauptthema von Ernst Vogts Artikel Nietzsche und der Wettkampf Homers (1962). Obwohl Vogts Analyse nur wenige konkrete Illustrationen von Nietzsches Methode enthält, gelang es ihm das Wesentliche: sowohl den philologischen Kontext zu erschließen als auch eine thematische Brücke zu Nietzsches kulturphilosophischer Schrift Homer’s Wettkampf zu schlagen, sodass Vogts Studie für mehr als 50 Jahre die beste Quelle für dieses Thema war. Erst in Joachim Lataczs Artikel On Nietzsche’s Philological Beginnings (2014) wurde das Thema wieder aufgegriffen, diesmal in einem breiteren biografischen, historischphilologischen Kontext, der – zusammen mit einer detaillierten philologischen Analyse von konkreten Stellen bei Nietzsche – einen äußerst informativen Blick über diese Problematik bietet. Latacz unternimmt eine sorgfältige Rekonstruktion der Entstehung von Nietzsches Artikel über die Struktur und Quellen von Certamen und von der kritischen Ausgabe dieses Texts. Seine Untersuchung vertieft und vervollständigt die frühere Analyse von Ernst Vogt und legt einen besonderen Akzent auf diejenigen philologischen Ergebnisse von Nietzsches Arbeit, die auch für die gegenwärtige klassische Philologie relevant sind. Die allgemeinere Aufgabe, philologische Grundlagen von Nietzsches Homerinterpretation im Ganzen zu untersuchen, übernahm James I. Porter. Sein Artikel Nietzsche, Homer and the Classical Tradition (2004) behandelt, als Hintergrund von Nietzsches früheren Beschäftigungen mit Homer, die antike Diskussion um die Historizität Homers, die spätere Polemik zwischen den Unitariern und den Analytikern um die strukturelle Einheit von Ilias und Odyssee und die Wirkung von Schliemanns Entdeckungen auf die Antikenforschung. Auch wenn dieser Überblick sicher nicht unwichtig ist, bleibt für den eigentlichen Gegenstand der Arbeit, d. h. für Homers Rolle bei Nietzsche, freilich zu wenig Raum. Wohl aus diesem Grund analysiert Porter Homers Persönlichkeit, die Problematik der archaischen Gewalt und Homers Rolle für Nietzsches Kritik an Platon und am Christentum nur beiläufig. Wegen der Kürze des Artikels werden auch etliche fragwürdige Thesen, etwa die „tiefe Historizität“ von

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Einleitung

Nietzsches Zugang zur Antike,⁴ nicht aufgeklärt. Erstaunlich ist die Abwesenheit von Hinweisen auf Nietzsches Beschäftigungen mit Certamen Homeri et Hesiodi wie auch auf seinen Baseler Vorlesungskurs, dessen Hauptteil den homerischen Epen gewidmet ist. Die philosophisch-methodologisch relevanten Aspekte von Nietzsches Homerdeutung wurden in der Forschung, wie erwähnt, vorwiegend in Verbindung mit der homerischen Frage und konkret mit Nietzsches Baseler Antrittsrede über Homer untersucht. Den ersten Schritt macht Hartmut Schröter in seiner Monografie Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches (1982), deren zweites Kapitel Nietzsches Kritik an der „herrschenden Art von Historie“, d. h. an der „historisch-genetischen Betrachtungsweise“,⁵ am Beispiel der Methode der Homerforschung behandelt. Schröters Analyse von Nietzsches Baseler Vortrag und die von ihm aufgedeckte Parallele zu Wolfgang Schadewaldts Vorstellung von Homers Individualität bringen ihn zur Schlussfolgerung, dass Nietzsche das Homerproblem philosophisch instrumentalisiert, um die Grenzen des genetischen Verfahrens, das sich wegen des Bedürfnisses nach Erklärung sowie nach „Sicherung der Objektivität der Erkenntnis“ eines „problematische[n] Vorbegriff[s] von historischer Wirklichkeit“ bedient, zu demonstrieren.⁶ Nietzsches Ziel sei, so Schröter, Homers Werk „in seinem Kunstcharakter als Anfang der griechischen Welt geschichtlich“ zu verstehen.⁷ Nicht nur der Antrittsrede, sondern auch den Baseler Vorlesungen wurde immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, und das hatte wichtige Folgen auch für die Analyse der Besonderheiten von Nietzsches Behandlung der homerischen Frage, weil eine breitere Palette von Nietzsches Texten und von philologischen Studien und Theorien seiner Zeit berücksichtigt wurde. So bietet Carlotta Santini in ihrem Artikel Die atomistische Verflüchtigung der Persönlichkeit Homers und die Rechte einer literaturhistorischen Mythologie der Alten (2014) einen Überblick über Nietzsches frühe Thesen über Homer in den Vorlesungen und Nachlassnotizen in Hinsicht auf die Mythologisierung von Homers Gestalt. Zu Recht deutet Santini darauf hin, dass Nietzsche die von Friedrich August Wolf vorgeschlagene Lösung, nämlich die Dekonstruktion und Atomisierung der Figur Homer, ablehnt und die Meinung, Homer habe nie existiert, für unbegründet hält. Abgesehen von den erwähnten Quellen finden sich Anmerkungen zu Nietzsches philologischen Beschäftigungen mit Homer und zu seiner Stellung im Streit um die homerische Frage in Nicole Ahlersʼ Studie Das deutsche Versepos zwischen 1848 und 1914 (1998), in Christian Bennes Monografie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie (2005) sowie in Bennes und Santinis Artikel Nietzsche und die Philologie im Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften (2014). Bedeutend aus der Perspektive der Quellenforschung sind außerdem die von Francisco Arenas Porter 2004, S. 20. Man könnte etwa fragen, ob die Griechen den homerischen Odysseus wirklich als typischen Griechen und griechisches Ideal sahen, wie es Nietzsche darstellt.  Schröter 1982, S. 43.  Schröter 1982, S. 61.  Schröter 1982, S. 65.

2 Aktueller Forschungsstand

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Dolz gefundenen Nachweise (2010) aus den Studien über Homer, auf die sich Nietzsche bezieht. Ein besonderer, auch für die vorliegende Studie höchst relevanter Aspekt der homerischen Frage ist Gegenstand von David R. Lachtermans Artikel Die ewige Wiederkehr der Griechen: Nietzsche and the Homeric Question (1992), in dem der Autor völlig gerechtfertigt (wenigstens aus der damaligen Perspektive) auf den Mangel einer tiefergehenden Analyse von Nietzsches philologischen Beschäftigungen und den archaischen Elementen seines Denkens hinweist. Lachtermans Schlüsselthese lautet, dass Nietzsche auch in seinen philosophischen Schriften, angefangen mit der Geburt der Tragödie, niemals mit der klassisch-philologischen Methode bricht.⁸ Am Beispiel der Baseler Antrittsrede zeigt er, dass Nietzsche mit seiner Frage um die Persönlichkeit Homers einen basalen Widerspruch zwischen idealer bzw. vom ästhetischen Standpunkt betrachteter und realer Antike entdeckt und die klassische Philologie als eine Brücke betrachtet, die beide Glieder der Opposition miteinander versöhnen kann.⁹ Diese Art der Analyse, die Verbindungen zwischen den philologischen Studien Nietzsches und seinen philosophischen Werken am Beispiel Homers aufdeckt, wurde in der weiteren Forschung mehrfach, wenn auch nicht immer auf dieselbe Art aufgegriffen. So weist Andrea Orsucci in seinem knappen, aber äußerst informativen Beitrag Homer im Nietzsche-Handbuch (2000) auf zwei Aspekte von Nietzsches philosophischer Rezeption Homers hin: 1) Die Kritik an der Vorstellung von der vermeintlichen Naivität der homerischen Epen spielt eine zentrale Rolle in Nietzsches „Kampf gegen ‚das Humane‘“ sowie gegen die verklärende Auffassung des archaischen Altertums als eine „Harmonie“ bzw. „Einheit des Menschen mit der Natur“.¹⁰ 2) Das Götterbild bei Homer ist ein Bezugspunkt in Nietzsches Polemik gegen das Christentum.¹¹ Zur Begründung dieser beiden Thesen führt Orsucci homerische Schlüsselstellen aus Die Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches, Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral sowie aus Nietzsches Nachlass an. Christa Acamporas Artikel Nietzsche contra Homer, Socrates and Paul (2002) analysiert hingegen das Agonale als Nietzsches modus operandi: ¹² Für ihn sei Homer ein würdiger Gegner, der die Fesseln der früheren Tradition repräsentiert, in denen er, gleich dem griechischen Dichter, tanzen soll, indem er die Leistungen der Vorläufer überwindet.¹³ Während die grundlegende Bedeutung des Agonalen in Bezug auf Homer auf keinen Fall zu übersehen ist, lässt sich ein Aspekt von Acamporas Ansatz, nämlich die Benutzung von Nietzsches Ketten-Metapher, doch bestreiten. Laut Nietzsche findet sich Homer jenseits der sokratisch-platonischen Tradition: Die kulturelle Entwicklung, die mit seinen Epen beginnt, ist mit Platon abgebrochen und

 Lachterman 1992, S. 13 – 35.  Lachterman 1992, S. 25 – 30.  Orsucci 2000, S. 366. Die zitierte Stelle stammt aus GT 3.  Orsucci 2000, S. 366.  Acampora 2002, S. 25.  Acampora 2002, S. 27– 28.

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Einleitung

umgedeutet, sodass seine Welt für einen modernen Leser zum größten Teil dunkel bleibt.¹⁴ Somit ist Homers Situation mit derjenigen des 19. Jahrhunderts, das in Nietzsches Augen immer noch unter dem Zauber der platonischen Tradition bleibt, nicht zu vergleichen. Erheblich solider sieht in diesem Licht Acamporas Analyse von Nietzsches Wettstreit mit Sokrates und Paulus im zweiten und im dritten Abschnitt ihres Artikels aus. Ein weiterer Artikel von Acampora, Nietzsche’s Problem of Homer (2001), ist ebenfalls dem Thema des Agonalen gewidmet, wobei die Analyse von Homer’s Wettkampf im Zentrum steht. Acamporas Bestreben, eine thematische Verbindung zwischen dieser früheren Schrift Nietzsches und seinen späteren Werken, etwa am Beispiel von zwei Arten der Eris in Menschliches, Allzumenschliches,¹⁵ festzustellen, erweist sich als durchaus fruchtbar. Nietzsches Behandlung der homerischen Gestalten – wie auch der in Homers Epen dargestellten Welt im Ganzen – wurde trotz des bestehenden Interesses für seine Interpretationen der Antike fast nie zum spezifischen Gegenstand einer detaillierten Analyse. Clancy W. Martins Artikel Nietzsche’s Homeric Lies (2006) stellt eine wichtige Ausnahme dar.¹⁶ Am Beispiel von Odysseus als Vorbild des höheren Menschen deckt Martin wichtige Parallelen zwischen Nietzsches und Homers Ethik auf. Seine Analyse von Nietzsches Odysseus-Interpretation begründet er durch Stellen aus der Odyssee, in denen es um die außerordentliche Fähigkeit des Protagonisten zur Lüge geht.¹⁷ Freilich sind im Gedankengang Martins einige Lücken zu finden, insbesondere weil er die Verbindung zwischen der Vielseitigkeit von Odysseus und dem Perspektivismus Nietzsches nicht bemerkt und die entsprechenden Stellen in Also sprach Zarathustra unerwähnt lässt. Im Gegensatz zur Nietzscheforschung sind in der modernen Homerforschung die Erwähnungen von Nietzsches Homerdeutung sporadisch,¹⁸ wobei sie in einigen zentralen Monografien zur Rezeptionsgeschichte auch gänzlich fehlen. Ein Beispiel dafür ist die Studie Odysseus, Hero of Practical Intelligence von Jeffrey Barnouw, in der u. a. die Rezeption der Odysseus-Gestalt in der deutschen Philosophie thematisiert wird, Nietzsches Bild von Odysseus jedoch nicht in den Fokus kommt. Die Gründe für diesen Mangel an philologischem Interesse für Nietzsches Homerinterpretation werden im letzten Kapitel dieses Buchs behandelt.

 Zur Fremdheit der archaischen Griechen s. den vorletzten Abschnitt des 2. Kapitels („Homer als Kulturfigur“). Zhavoronkov 2012.  Acampora 2001, S. 563.  Auch die frühere Studie von Heinz Hülsmann (Hülsmann 1990) ist auf den ersten Blick demselben Thema gewidmet. Da der Autor sich aber nicht für Nietzsches eigene Interpretation, sondern vor allem für diejenige bei Horkheimer und Adorno sowie bei Foucault interessiert, stellt seine Monografie keinen wesentlichen Beitrag zur Nietzscheforschung dar.  Martin 2006, S. 2– 3.  Zum Einfluss Nietzsches auf die Homerforschung des 20. Jahrhunderts s. das 6. Kapitel und Zhavoronkov 2014.

3 Ziele und Struktur

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Die erwähnten Quellen liefern zumeist detaillierte Untersuchungen von separaten Aspekten von Nietzsches Homerdeutung während der Leipziger und Baseler Periode. Es fehlt nach wie vor ein komplexer und vielseitiger kritischer Überblick über die gesamte Perspektive von Nietzsches philologischen Beschäftigungen mit Homer. Noch größere Lücken lassen sich in Bezug auf Nietzsches Bild von Homer in den philosophischen Schriften außer Homer’s Wettkampf erkennen: Die meisten Themen wie die Opposition von Homer und Platon, Homers „Unmoralität“ oder die Parallelen zwischen Odysseus und Zarathustra wurden bisher nicht oder nur marginal behandelt. Die Ziele dieser Analyse werden in Hinblick auf diese Konstellation formuliert.

3 Ziele und Struktur Die vorliegende Studie stellt eine Rekonstruktion des gesamten Entwicklungsprozesses von Nietzsches Homerinterpretation von den frühen philologischen Schriften und Vorlesungen bis hin zu den spätesten Erwähnungen Homers in den Werken und Nachlassfragmenten von 1888 dar. Nietzsches frühe philologische Homerinterpretation wird also in Verbindung mit seiner philosophischen Deutung Homers gebracht, und durch diese Untersuchung der philosophischen Dimension der philologischen Kontexte soll zugleich die angesprochene Forschungslücke geschlossen werden. Die Aufdeckung von Parallelen und Widersprüchen zwischen Nietzsches Interpretationen und dem Material der antiken Quellen, die für eine solche Rekonstruktion notwendig ist, wird sich durch direkte Vergleiche mit den antiken literarischen und philosophischen Interpretationen von homerischen Epen und Gestalten manifestieren. Um einige Thesen Nietzsches aus der Perspektive aktueller Debatten zu beleuchten, wird in mehreren Fällen auch auf moderne Quellen zur Homerforschung verwiesen. Die Auflösung interner Widersprüche der philosophischen Argumentation, die in der Nietzscheforschung immer eine besondere Herausforderung ist, wird in unserem Fall angesichts der bereits erwähnten Faktoren erleichtert. Dies bedeutet nicht, dass solche Widersprüche bei Nietzsche nicht zu finden wären: Seine Versuche, das Konzept einer aristokratischen Moral in der frühgriechischen Kultur zu finden, sowie die problematischen Hintergründe seiner scharfen Gegenüberstellung von Homer und Platon bestätigen das Gegenteil. Die notwendige kritische Betrachtung wäre jedoch unvollständig ohne den Versuch, Nietzsches Homerbild in doppelter Weise – philosophisch-genetisch und philologisch – zu kontextualisieren. Letztere Aufgabe, die den Ausgangspunkt des ersten und des sechsten Kapitels bildet, besteht in der Einbettung von Nietzsches Homerbild in die zeitgenössische und die spätere Tradition der Homerforschung. Seine Positionen zu den Schlüsselfragen der Homerforschung des 19. Jahrhunderts, darunter die Persönlichkeit Homers, die Struktur homerischer Epen und die homerischen Wiederholungen, wie auch sein Einfluss auf die Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert werden die zentralen Gegenstände dieses Teils der Untersuchung sein.

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Einleitung

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert und hat eine Ringstruktur: Während das erste und das letzte Kapitel primär der philologischen Problematik gewidmet sind, wird in den Kapiteln 2 bis 5 die Rolle von Homer und der homerischen Gestalten in Nietzsches philosophischen Schriften untersucht. Obwohl die Analyse mit der Darstellung philologischer Parallelen und Einflüsse beginnt und endet, wird den weniger erforschten philosophischen Ansätzen Nietzsches besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im ersten Kapitel („Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts“) werden Nietzsches philologische Beschäftigungen mit Homer betrachtet. Im Fokus der Analyse steht der zweiteilige Artikel zum Certamen Homeri et Hesiodi, die Baseler Rede Homer und die klassische Philologie sowie der homerische Teil des Baseler Vorlesungskurses zur Geschichte der griechischen Literatur. Diese Texte werden in Hinblick auf Nietzsches Verständnis und Kritik der damaligen klassischen Philologie und Homerforschung untersucht. Das zweite Kapitel („Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne“) ist der Rolle Homers in Nietzsches Philosophie der Kultur gewidmet. In der ersten Hälfte dieses Kapitels geht es um seine Stellung in Nietzsches Bild der griechischen Kultur, wobei die griechische Archaik den Schwerpunkt ausmacht. Gegenstand der zweiten Hälfte ist die (Un‐)Möglichkeit, Homer unter den Umständen des 19. Jahrhunderts zu verstehen, die auch Nietzsches Kritik an der Epigonen-Vorstellung der griechischen Kultur und an der Idee der Naivität und Primitivität der griechischen Archaik betrifft. Der Hauptheld der homerischen Odyssee wird zur zentralen Figur des dritten Kapitels („Odysseus und das europäische Ideal“), in dem Nietzsches philosophische Interpretation der Gestalt des Odysseus, angefangen bei seiner Rolle des griechischen Ideals in Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröthe bis hin zur Verbindung mit der Idee des Willens zur Macht im späten Nachlass, behandelt wird. In diesem Kontext werden auch die bereits bestehenden, in erster Linie antiken Interpretationen von Odysseus berücksichtigt. Das vierte Kapitel („Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral“) ist der vorplatonischen „Unmoralität“ der Menschen in Ilias und Odyssee gewidmet. Es geht um Nietzsches Deutung der homerischen Sittlichkeit und des Polytheismus sowie um das widersprüchliche Konzept der aristokratischen Moral, die, so Nietzsche, ihren Ursprung bei Homer hat. Neben einem Exkurs zu Nietzsches Quellen soll auch die Frage nach der Anwendbarkeit von Nietzsches Konzept aus philologischer und philosophischer Perspektive beantwortet werden. Der Titel des fünften Kapitels („Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel“) deutet auf eine Stelle in Zur Genealogie der Moral (III 25) hin, deren Interpretation schichtweise ausgeführt wird: Die Grundlagen von Nietzsches Gegenüberstellung von Platon und Homer werden in Form von Oppositionen präsentiert (Wahrheit vs. poetische Lüge, Monotheismus vs. Polytheismus, Unmoralität vs. Moral, Seele vs. Leib). Am Ende wird auch die Kehrseite dieser Opposition, die Nietzsche durch die Schärfe seiner Platonkritik zu verdecken sucht, beleuchtet.

4 Quellen und Methode

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Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels („Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts“) steht die Rezeption von Nietzsches homerischen Konzepten auf dem Gebiet der klassischen Philologie. Im ersten Teil geht es um methodologische Einflüsse am Beispiel der Homerstudien von Wolfgang Schadewaldt und Walter Arend. Der zweite und der dritte Teil widmen sich den inhaltlichen Wirkungen in den Diskussionen um homerischen Polytheismus (Walter F. Otto) und um die sogenannte homerische Moral (Eric R. Dodds, Arthur Adkins, Hugh Lloyd-Jones und Bernard Williams).

4 Quellen und Methode Die Untersuchung der Perioden von Nietzsches Denken sowie der zeitgenössischen und späteren philologischen Rezeption seiner Ideen muss notwendigerweise eine breite Palette von Quellen berücksichtigen. Dazu gehören einerseits eigene Texte Nietzsches, also veröffentlichte und unveröffentlichte Schriften sowie Nachlassfragmente und Vorlesungsaufzeichnungen. Diese Quellen sollen v. a. die philosophische Entwicklung und Relevanz von Nietzsches impliziten und expliziten Bezügen auf Homer und homerische Gestalten vor dem Hintergrund seiner Schlüsselkonzepte demonstrieren. Da Nietzsches Bild von Homer aber zugleich von der philologischen (und literarischen) Tradition abhängt und sich graduell immer mehr von dieser distanziert, wird im Lauf der Analyse auch eine Reihe von philologischen Quellen hingezogen, die ihrerseits demonstrieren sollen, welche Stellung dieses Bild im Vergleich zur traditionellen klassisch-philologischen Behandlung homerischer Epen einnimmt und welchen (wenn auch begrenzten) Einfluss Nietzsche auf die spätere Homerforschung ausübt. Eine der wichtigsten und in der Nietzscheforschung seit langer Zeit umstrittenen Fragen, vor die man in diesem Kontext immer wieder gestellt wird, ist die nach dem Status der Nachlassfragmente im Vergleich zu veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorbereiteten Texten Nietzsches. Es ist völlig klar, dass Nietzsches Fragmenten nicht derselbe Status wie den publizierten oder für die Publikation intendierten (und deswegen klar strukturierten), aber eventuell nachgelassenen Texten zugeschrieben werden kann. Das bedeutet keinesfalls, dass man von der Zitierung des Nachlasses völlig absehen sollte. In Einklang mit dem in der aktuellen Forschung verbreiteten Kompromissansatz werden wir den Nachlass vor allem zur Unterstützung und Erweiterung der Analyse von Ideen und Thesen, die in Nietzsches Schiften formuliert oder wenigstens angedeutet werden, heranziehen. Ein weiteres Problem betrifft die Periodisierung. Die Entwicklung von Nietzsches Denken beeinflusst auch seine Auffassung Homers, einerseits durch die graduelle Verschiebung des Fokus von ästhetischer zur moralischen und epistemischen Problematik und andererseits durch die immer kritischere Einschätzung von Homers Rolle in der Entwicklung der griechischen Kultur und in der eventuellen Krise der aristokratischen Werte, die laut Nietzsche der Verbreitung des sokratisch-platoni-

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Einleitung

schen und somit auch des christlichen Weltbilds den Weg bahnte. Es wird im Verlauf der Analyse spezifisch betont, welche Interpretation und welche Art der Kritik diesen oder jenen Bezug auf Homer untermauert. Ein prominentes Beispiel ist die Opposition von homerischer „Unmoralität“ und der (nach)platonischen lebensfeindlichen Moral, da Nietzsches Moralbegriff, gleich vielen anderen Schlüsselbegriffen, stark kontextabhängig ist. In der historisch-philosophischen und historisch-philologischen Analyse findet sowohl der hermeneutische als auch der vergleichende Ansatz Anwendung, letzterer insbesondere in den Kapiteln 1 und 6, in denen es um die Stellung und den Einfluss von Nietzsches Ideen auf die Tradition der Homerforschung geht. In Kapitel 5 kommt eine vergleichende Analyse verschiedener Aspekte von Nietzsches Opposition von Homer und Platon in Zur Genealogie der Moral, die auf Ideen und Themen seiner frühen Perioden Bezug nehmen, zum Einsatz. Der hermeneutische Ansatz wird vor allem in den Kapiteln 2 und 3 zur Untersuchung der wichtigsten Stellen verwendet, in denen es (oft indirekt) um Homer und homerische Gestalten geht, darunter zahlreiche Metaphern aus Also sprach Zarathustra. Diese Stellen werden ihrerseits sowohl im Kontext der jeweiligen Schrift als auch im Kontext des Gesamtwerks von Nietzsche behandelt.

1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts Seitdem Nietzsche bereits als Kind die Ilias und die Odyssee gelesen hat, war Homer über einen langen Zeitraum Gegenstand seines Interesses, der sich zuerst in den philologischen Schriften und Nachlassfragmenten der Leipziger und frühen Baseler Periode manifestiert. Die zentralen Quellen, die Nietzsches frühes Interesse belegen, sind seine Antrittsrede, die Vorlesungen über die griechische Literatur sowie der Artikel über Certamen Homeri et Hesiodi und die kritische Ausgabe dieses spätantiken Texts. Obwohl Nietzsche keine spezifische Studie nur über Homer veröffentlichte und auch keinen Vorlesungskurs zu den homerischen Epen an der Universität Basel organisierte, hatte er profunde Kenntnisse über die zeitgenössische Homerforschung, deren Entwicklung er verfolgte und bei unterschiedlichen Anlässen scharfen Kritiken unterzog. Im Folgenden werden die Grundlagen und Auswirkungen dieser Kritik – im allgemeinen Kontext von Nietzsches philologischen Studien und mit Rücksicht auf die Situation in der deutschen Homerforschung des 19. Jahrhunderts – beleuchtet.

1.1 Nietzsches philologische Beschäftigungen mit Homer: Chronologischer Leitfaden Bekanntschaft mit Homer macht Nietzsche zunächst im Naumburger Domgymnasium, das er von 1855 bis 1858 besucht: Nach einem Jahr des Studiums der griechischen Grammatik und Lexik beginnt er im dritten Schuljahr („Tertia“), unter der Leitung des Gymnasiallehrers Dr. Carl Silber, die Odyssee zu lesen.¹⁹ In Schulpforta, wo er die Zeit von 1858 bis 1864 verbrachte, bot sich Nietzsche die Möglichkeit, seine Homerkenntnisse zu vertiefen: Innerhalb von sechs Jahren (von „Tertia“ bis „Prima“) sollten die Schüler 36 von insgesamt 197 Jahreswochenstunden der griechischen Sprache widmen,²⁰ wobei Homer verständlicherweise zu den zentralen Autoren gehörte.²¹ Die detaillierten Kenntnisse der homerischen Epen, die Nietzsche während dieser Zeit

 Vgl. Brobjer 1999, S. 306 – 307. Altgriechisch (sechs Stunden pro Woche) und Latein (zehn Stunden pro Woche) bildeten den wichtigsten Teil des Lehrprogramms. Für eine spezielle Studie zum Einfluss antiker Autoren auf den jungen Nietzsche s. insb. Müller 1993.  Zur Gewichtung von einzelnen Fächern in Schulpforta s. Bohley 1976, S. 304, und Cancik/CancikLindemaier 1999, S. 7.  Nietzsche sollte Homers Odyssee ab seinem „Untersecunda“-Schuljahr (IIb) und die Ilias ab dem „Secunda“-Schuljahr (IIa) lesen (vgl. Bohley 1976, S. 308 – 309). Somit gab es eine zweijährige Lücke zwischen seinen Homerstudien in Naumburg und denen in Schulpforta. Dass Homer zu Nietzsches Lieblingsautoren gehörte, beweist eine Stelle in seinem Brief an Wilhelm Pinder vom November 1858, an der er die Abwesenheit der Homerlektüre im ersten Schuljahr in Schulpforta beklagt: „Besonders leid thut mir, dass wir keinen Homer lesen“ (KGB I 1.24). https://doi.org/10.1515/9783110751406-004

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

erworben hat, lassen sich durch subtile, implizite Textbezüge in seinen philosophischen Werken (besonders prominent in Also sprach Zarathustra) nachweisen. Nach dem Abschluss der Studienzeit in Schulpforta und einem Semester an der Universität Bonn wechselt Nietzsche im Oktober 1865 nach Leipzig. Hier beginnt er sein Studium der klassischen Philologie unter der Leitung von Friedrich Ritschl, einem prominenten Altphilologen, der sich vor allem auf lateinische Literatur, Epigraphik und Grammatik spezialisierte, aber auch mit der Frage nach der Genese und Rezeption der Homertexte beschäftigte.²² In Leipzig widmet sich Nietzsche der Untersuchung von Certamen Homeri et Hesiodi, einem Text aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., der die Biografie von Homer und Hesiod sowie die Geschichte ihres Wettkampfs auf der Insel Chalkis beschreibt. Die Früchte von Nietzsches Arbeit werden teilweise erst einige Jahre später, während der Baseler Periode, sichtbar: Der erste Teil seines Artikels Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf erscheint in der altphilologischen Zeitschrift Rheinisches Museum für 1870²³ und der zweite 1873.²⁴ Das wichtigste Ergebnis von Nietzsches Studien ist aber die erste kritische Ausgabe von Certamen, die 1871 in Leipzig veröffentlicht wird. Am 25. Mai 1869, einen Monat nach der Ankunft in Basel, hält Nietzsche seine Antrittsrede Über die Persönlichkeit Homers, die er sowohl der homerischen Frage als auch den damaligen Methoden der klassischen Philologie widmet. In Nietzsches Vorlesungskursen, die er als Universitätsprofessor in Basel für seine Studenten organisiert, spielt Homer jedoch eine eher untergeordnete Rolle.²⁵ Erst 1874, also bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie, werden die homerischen Epen zum Bestandteil seiner Vorlesungen zur Geschichte der griechischen Literatur, die er im Wintersemester 1874/75 sowie im Sommersemester 1875 hält. Dass Nietzsche trotz seines Interesses an Homer zu homerischen Epen weder Artikel geschrieben noch Vorlesungskurse abgehalten hat, erscheint auf den ersten Blick erstaunlich: Obwohl er in der Antrittsrede ein neues Programm für die Untersuchung homerischer Werke skizziert, wird in seinen philologischen Studien und Lehrveranstaltungen kein einziger Schritt in die von ihm vorgegebene Richtung gemacht. Um seine Einstellung zu Homer vor dem Hintergrund der damaligen philologischen Umgebung Nietzsches besser zu verstehen, erscheint ein knapper Exkurs zum Stand der Homerforschung im 19. Jahrhundert sinnvoll.

 Vgl. Ritschl 1838.  Rheinisches Museum, N.F. 25, S. 528 – 540.  Rheinisches Museum, N.F. 28, S. 211– 249.  Allerdings organisiert Nietzsche ab 1869 reguläre Seminare im Baseler Pädagogium – zum 18. (SoSe 1869), 12. und 13. (WiSe 1869/70) sowie zum zehnten Buch von Homers Ilias (WiSe 1872/73 und SoSe 1873). Mehr dazu in Gutzwiller 1951.

1.2 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (1): Die homerische Frage

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1.2 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (1): Die homerische Frage seit F. A. Wolf Die Homerforschung des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen der Polemik zwischen den Fortsetzern und den Kritikern der Tradition von Friedrich August Wolf. Seit Johann Winckelmann, mit dessen Schriften in Deutschland eine neue Epoche des Interesses für die altgriechische Kultur beginnt, rückte die homerische Frage entschiedener als zuvor in den Vordergrund historisch-philologischer Debatten. Im Rahmen des „neohellenistischen“ Bilds der europäischen Kultur wurde die Stellung zu Homer und zur Frage nach der Entstehung seiner Epen zum Prüfstein zentraler methodologischer Ansätze der klassischen Philologie, die damals an der Spitze der philologischen Disziplinen stand. Die Entwicklung philologischer Methodologien ging Hand in Hand mit der Steigerung der breiten, nicht-akademischen Popularität von antiken Texten, was sich nicht zuletzt an zahlreichen Übersetzungen homerischer Epen, die im 19. Jahrhundert erschienen und heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind, manifestiert.²⁶ Für Nietzsche kam diese Popularität zu einem viel zu hohen Preis: Aus seinen Frühwerken, aber auch aus frühen und späten Nachlassnotizen können wir schließen, dass er in Winckelmanns Hellenismus den Ursprung der übertriebenen Begeisterung für die Antike sah, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland herrschte.²⁷ Diese unkritische Einstellung, die nach seiner Meinung zur Ursache der Unproduktivität der zeitgenössischen deutschen Kultur wurde, war in der kulturellen Tradition Europas keinesfalls neu. Gerade im Schicksal der Texte Homers und der Unfähigkeit der Griechen, Homer schöpferisch zu überwinden, findet Nietzsche das erste Beispiel einer solchen allmählichen Abschwächung kultureller Produktivität, die sich im Epigonentum entartet.²⁸ Als Bewunderer Winckelmanns sucht Wolf sogar in den kritischen Einschätzungen seiner italienischen Periode, während der sich Winckelmann „in dem Meere von Schönheit“ verliert und seine wissenschaftliche Präzision der ästhetischen Bewunderung zum Opfer bringt, ihn gegen seine Kritiker zu verteidigen, indem er die phi-

 Zur Geschichte deutscher Homerübersetzungen im 19. Jahrhundert s. Häntzschel 1983.  Zu Winckelmanns angeblicher antidionysischer „Verflachung“ der griechischen Kultur s. bereits Nachlass 1869/70, 3[76], KGW IV 3.434: „Winckelmann Goethe ist von der Cultur aufgesaugt: deshalb erscheint es leer für uns.“ Vgl. Nachlass 1885, 34[4], KGW VII 3.144: „Wie verkleidet hatte ich das zum Vortrag gebracht, was ich als ‚dionysisch‘ empfand! Wie gelehrtenhaft und eintönig, wie bei weitem nicht gelehrt genug, um auch nur die Wirkung hervorzubringen, einigen Generationen von Philologen ein neues Feld der Arbeit zu eröffnen! Dieser Zug a n g zum Alterthum ist nämlich am besten verschüttet; und wer sich eingebildet hat, besonders über die Griechen weise zu sein, Goethe z. B. und Winckelmann, hat von dorther nichts gerochen. Es scheint, die griechische Welt ist hundertmal verborgener und fremder, als sich die zudringliche Art heutiger Gelehrten wünschen mag.“ Zu diesem Thema s. auch Reschke 2004, S. 143 – 153.  Mehr dazu im Kapitel 2, in dem die Verbindung zwischen Nietzsches Homerbild und seiner Idee von kultureller Décadence erläutert wird.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

lologischen und geschichtswissenschaftlichen Defizite seiner damaligen Methodologie als „verzeihlich“ darstellt.²⁹ Trotz dieser Sympathie gegenüber Winckelmann vertritt Wolf eine andere, kritischere, aber eventuell auch hermetischere Art des Hellenismus, die allmählich von der früheren, breit angesetzten komparatistischen Methode, die auch auf Untersuchungen hebräischer Bibeltexte zur Beleuchtung griechischer und römischer Quellen zurückgriff, zum strengen, auf der Idee der Überlegenheit und Exklusivität der aufgeklärten griechischen und römischen Kultur beruhenden Klassizismus übergeht.³⁰ Im Kontext von Nietzsches Kritik an Winckelmanns angeblich vereinfachendem Bild des antiken Griechenlands sowie im Licht der zentralen Stellung der griechischen Kultur bei Nietzsche könnte man Wolfs Ansatz manche Parallelen zu demjenigen Nietzsches zuschreiben. Tatsächlich findet sich in Nietzsches Nachlass von 1875 ein Bezug auf die kritische Passage aus Wolfs Essay über Winckelmann, in der es um Winckelmanns mangelndes Talent zur philologischen Kritik geht.³¹ Nietzsche preist Wolfs pädagogisch-philologische Leistungen³² und einige seiner Einsichten über die griechische Kultur explizit,³³ distanziert sich in der Baseler Rede jedoch von der analytischen Tradition der Homerdeutung, die auf Wolf zurückgeht. Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795), die eine lange methodologische Diskussion um die Entstehung von Ilias und Odyssee ausgelöst haben, waren als Einleitung zu seiner Ausgabe von Homers Epen gedacht. Die Erforschung der Geschichte der homerischen Texte bis in die Zeit der alexandrinischen Grammatiker brachte Wolf zur  Wolf 1969, S. 242– 243. Vgl. Wolf 1869, S. 739.  Für eine detaillierte Darstellung der Komplexität von Wolfs Einschätzung der Antike, die sich von Winckelmanns sinnlich-orientierter, antiakribischer Vorstellung immer weiter entfernt, s. Grafton 1999, S. 9 – 31, sowie Harloe 2013, S. 193 – 202 (mit einigen kleinen Korrekturen von Graftons Schlüsselthesen). Die These der Exklusivität der griechischen und römischen Kultur s. in Wolf 1869, S. 818 – 819.  Nachlass 1875, 3[34], KGW IV 1.100: „Wolf nennt es die Blume aller geschichtlichen Forschung, sich zu den grossen und allgemeinen Ansichten des Ganzen zu erheben und zu der tiefsinnig aufgefassten Unterscheidung der Fortgänge in der Kunst und der verschiedenen Stile. Aber Wolf giebt zu, Winckelmann fehlte jenes gemeinere Talent, die philologische Kritik, oder es kam nicht recht zur Thätigkeit: ‚eine seltne Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge mit einem alles beseelenden, das Einzelne verschlingenden Feuer und einer Gabe der Divination, die dem Ungeweihten ein Ärgerniss ist.‘“ Nietzsche bezieht sich auf die bereits erwähnte Stelle in Wolfs Text (Wolf 1869, S. 739).  S. Nachlass 1875, 5[107], KGW IV 1.90: „Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie b e f r e i t e : aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute.“ Vgl. Nachlass 1875, 3[2], KGW IV 1.90: „Der achte April 1777, wo F. A. Wolf für sich den Namen stud. philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie.“  So etwa Wolfs These zur Notwendigkeit antiker Sklaverei (Nachlass 1870/71, 7[79], KGW III 3.164): „Wenn Friedrich August Wolf die Nothwendigkeit der S k l a v e n im Interesse einer Kultur behauptet hat, so ist dies eine der kräftigen Erkenntnisse meines großen Vorgängers, zu deren Erfassung die Anderen zu weichlich sind.“

1.2 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (1): Die homerische Frage

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Schlussfolgerung über den uneinheitlichen Charakter dieser Epen, die mehrere – ältere und spätere – Verfasser hätten.³⁴ Seine These beruhte auf mehreren Prämissen, in erster Linie auf einer großen Zahl von vermeintlichen Widersprüchen, die in Ilias und Odyssee zu finden seien, auf der – aus der Perspektive der gegenwärtigen Homerforschung nach wie vor unbewiesen geltenden – Geschichte der Überarbeitungen unterschiedlicher Fassungen der homerischen Texte in eine Gesamtredaktion unter Peisistratos im 6. Jahrhundert v.Chr. und schließlich auf der Hypothese, die Griechen hätten zur Zeit der Entstehung dieser Texte noch keine Möglichkeit gehabt, sie schriftlich zu fixieren, und daher alles nur mündlich wiedergeben können.³⁵ Trotz des weitgehend innovativen Charakters von Wolfs Ansatz, der im 19. Jahrhundert schnell zum Musterbeispiel von historisch-philologischer Arbeit wurde, war seine Idee, dass Ilias und Odyssee ursprünglich gar nicht aufgeschrieben werden konnten, sowie seine Betonung der Notwendigkeit, sich in den Kontext der Entstehung von Homers Epen zu versetzen, nicht ohne Vorläufer.³⁶ So hatte Wolfs Lehrer und Herausgeber der Ilias Christian Gottlob Heyne in der Rezension zu Prolegomena zu Recht behauptet, dass er in seinen Homervorlesungen, die Wolf besuchte, ebenfalls das Argument über die ungenügende Entwicklung des Schrifttums in Griechenland zu Homers Zeiten anführte.³⁷ Diese Tatsache, die Wolf ausdrücklich negierte und Nietzsche nicht bekannt war, lässt sich v. a. dank Wilhelm von Humboldt, der Heynes Vorlesungen nachgeschrieben hat, bestätigen.³⁸ Dieselbe Abhängigkeit gilt auch für die historisch orientierten, kontextbezogenen Elemente von Wolfs Methodologie.³⁹ Wolfs Theorie fand bald viele Anhänger, insbesondere unter klassischen Philologen. Auch Friedrich Schlegel lobte in seiner Rezension Über die Homerische Poesie (1796) die Prolegomena als „Meisterwerk eines mehr als Lessingschen Scharfsinns“⁴⁰ und betonte ausdrücklich, dass „das aristotelische Lob der homerischen Harmonie“ sich mit den Entdeckungen Wolfs „sehr wohl vereinigen“ lässt.⁴¹ Doch gerade in den literarischen Kreisen, in denen Homer als Vorbild und Urvater europäischer Dichtung  S. etwa Kapitel 31 (Wolf 1795, S. 82): „Non metuo, ne quis me similis temeritates accuset, quum vestigiis artificiosae compagis et aliis gravibus causis adducar, ut Homerum non universorum quasi corporum suorum opificem esse, sed hanc artem et structuram posterioribus saeculis inditam putem“. Zur Beschreibung der Position Wolfs wie auch seiner Rolle in der klassischen Philologie s. Pfeiffer 1982, S. 215 – 216, und Vogt 1991, S. 369 – 371.  Vgl. Kapitel 26 (Wolf 1795, S. 66): „Videtur itaque ex illis sequi necessario, tam magnorum et perpetua serie deductorum operum formam a nullo poëta nec designari animo nec elaborari potuisse sine artificioso adminiculo memoriae.“  Die allgemeinere Annahme mehrerer Dichter, die der Erklärung von Inkonsistenzen und angeblichen Fehlern des Texts diente, war natürlich keine Neuerung Wolfs. Dieselbe These finden wir bereits in der Ilias-Dissertation (1670, Druckfassung 1715) von François Hédelin, Abbé d’Aubignac.  In ihrer einfacheren Form wurde diese These bei Giambattista Vico im dritten Buch der zweiten Auflage seiner Principi di scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni (1730) formuliert.  von Humboldt 1990, S. 335.  Mehr dazu in Grafton 1981, S. 101– 129, sowie in Grafton 1999, S. 20 – 22 (mit Literatur).  Schlegel 1979, S. 116.  Schlegel 1979, S. 131.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

galt, gab es viele vorsichtigere oder schlechthin negative Reaktionen. So war Herder zwar von „Arbeit, Studium und kritische[m] Geist“ Wolfs beeindruckt, blieb aber skeptisch hinsichtlich der „Art des Aufstellens“, insbesondere der Idee einer notwendigen und möglichen Unterscheidung zwischen älteren und neueren Versen bzw. Teilen des Texts.⁴² Andere, wie Klopstock und Novalis, reagierten mit Empörung und Ablehnung. Einer der schärfsten literarischen Gegner Wolfs war Schiller, der in einem Brief an Goethe von Wolfs barbarischer Behandlung der Werke Homers schreibt.⁴³ Auf diese Kritik wird Nietzsche in seiner Baseler Rede Bezug nehmen. Wolfs Arbeit trug zur allgemeinen Popularität der homerischen Epen und zur Entwicklung der klassischen Philologie insgesamt bei und wurde zum Grundstein für die entstehende analytische Schule der Homerforschung. Die Analytiker des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich auf die Frage nach den Widersprüchen und Kernteilen der beiden homerischen Texte, während die Frage nach den Folgen der Mündlichkeit bzw. das Problem der Struktur von ursprünglich für eine mündliche Präsentation konzipierten Epen für die Zwischenzeit im Hintergrund blieb.⁴⁴ Gottfried Hermann, der die kritisch-grammatische Schule der Homerforschung repräsentierte, versuchte in seinem Werk De interpolationibus Homeri (1932), in Anlehnung an die Ideen Wolfs, eine Ur-Ilias und eine Ur-Odyssee zu rekonstruieren, in denen es jeweils nur um Achills’ Konflikt mit Agamemnon und die wichtigsten Etappen der Heimkehr von Odysseus (separat von der Geschichte seines Sohns Telemachos) geht. Andere Analytiker, besonders prominent Karl Lachmann und Adolf Kirchhoff, gingen ebenfalls davon aus, dass Ilias und Odyssee aus mehreren Teilen bestehen, wobei Lachmanns dezidiert antigenealogischer, auf die damalige literarische Kritik orientierter Ansatz von der historischen Methode Wolfs deutlich abweicht. In der Beantwortung der Frage, wie die Grenzen zwischen den Teilen zu bestimmen seien, wie viele es überhaupt geben könne und, schließlich, wie genau eine Ur-Ilias oder eine Ur-Odyssee aussehen sollten, herrschte ebenfalls keine Einheit.⁴⁵ Auch die Ziele der analytisch

 Herder an C.G. Heyne, 13.05.1795 (Briefe, Bd. 7, 155 – 156). Nach Erscheinen von Herders Aufsatz Homer als Günstling seiner Zeit (1795), in dem die Prolegomena nur beiläufig erwähnt werden, obwohl einige Thesen Wolfs stillschweigend übernommen und als eigene Ideen Herders präsentiert werden, veröffentlicht Wolf eine höchst persönliche und verletzende Rezension zu Herders Schrift. Mehr zu dieser philologisch-literarischen Kontroverse, an der auch Heyne und Schiller teilnehmen, s. in Wohlleben 1996, S. 158 – 159, und in Harloe 2013, S. 138 – 152.  Schiller an Goethe, 27.04.1798 (Briefe, Bd. 5, 373): „Übrigens muß einem, wenn man sich in einige Gesänge hineingelesen hat, der Gedanke an eine rhapsodische Aneinanderreihung und an einen verschiedenen Ursprung nothwendig barbarisch vorkommen: denn die herrliche Continuität und Reciprocität des Ganzen und seiner Theile ist eine seiner wirksamsten Schönheiten.“  Vgl. dazu Nesselrath 2011, S. 179 – 180. Die Mündlichkeitshypothese galt hingegen Mitte des 19. Jahrhunderts als weitgehend akzeptiert, was etwa Georg Curtius in seiner Zusammenfassung des damaligen Standes der Homerforschung bestätigt: „Es gibt wohl wenige Gelehrte, welche an eine ursprüngliche schriftliche Abfassung der homerischen Gedichte glauben“ (Curtius 1886, S. 179).  Laut Lachmann gab es 10 bis 18 Ilias-Fassungen bzw. selbständige Einzellieder: Die einheitlichen Texte der Ilias und Odyssee sah er als Ergebnisse der peisistratidischen Redaktion. Kirchhoff postu-

1.2 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (1): Die homerische Frage

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orientierten Forschung waren verschieden: Im Gegensatz zu Lachmann versuchte etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, eine Ur-Ilias zu rekonstruieren, ohne die Existenz von parallel bestehenden und mechanisch zusammengebundenen Teile festzustellen.⁴⁶ An die analytische Frage, was oder wie viel an den uns bekannten (zugänglichen) homerischen Epen eigentlich homerisch ist, knüpfte sich die allgemeinere Frage nach der Persönlichkeit Homers. Anders als bei Hermann, wurde letztere bei Gottlieb Welcker und bei Karl Otfried Müller vom Standpunkt der Redaktortheorie beantwortet. Der Name „Homer“ wird in diesem Licht zur ästhetischen Erfindung, zum Symbol der Einheit, die erst dank den Bemühungen eines Redaktors, der eine Mehrheit bereits existierender kleiner Epen zu einer Ganzheit organisierte, entstand.⁴⁷ Für diese Seite des analytischen Ansatzes hatte Nietzsche – im Vergleich zur literaturkritischen Kontroverse über die Beziehung zwischen Textfassungen – verständlicherweise wesentlich mehr Interesse. Parallel zur analytischen Schule entwickelte sich die ältere,⁴⁸ auf die Meinung der alexandrinischen Philologen über die Einheit die Einheit der Ilias und Odyssee berufende und im Lauf des 19. Jahrhunderts in den akademischen Schichten relativ unpopuläre unitarische Interpretation, die insbesondere auf die Thesen Wolfs und seiner Nachfolger kritisch reagierte.⁴⁹ Eine bedeutende Reaktion solcher Art war Melchiorre Cesarottis Digressione sopra i Prolegomeni di Federigo Augusto Wolf (1802), in der zugleich die Thesen von Wolfs Vorläufern Giambattista Vico und von d’Aubignac – jeweils bezüglich des zusammenhanglosen Charakters von Homers Epen und ihrer mündlichen Entstehung durch die kollektive dichterische Kraft der Griechen – angegriffen werden. Der bekannteste Vertreter der deutschsprachigen Unitarier in der Homerforschung war der Philologe Gregor Wilhelm Nitzsch, der die Idee der ur-

lierte die Existenz eines älteren und eines jüngeren Teils der Odyssee (vgl. Kirchhoff 1879, S. VIII–IX). Bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1916) geht es nicht um Teile, sondern um vier Bearbeitungsphasen der Ilias.  Wilamowitz-Moellendorff übt scharfe Kritik an denjenigen Forschern, die die Ilias in eine „Vielheit von parallelen Fassungen“ zu „zerkrümeln“ versuchen: „Das Zerkrümmeln führt am Ende dazu, sich aus der einen Ecke der Ilias einen Vers oder eine Versreihe zu holen und anderes anderswoher und sich dann daran zu freuen, wie hübsch es wäre, wenn das beieinanderstünde. Sie sagen dann, das wäre die wahre Ilias, und es ist doch ein Cento: Mit der Methode kann man viele Iliaden machen; nur die Ilias, die wir haben, geht dabei verloren“ (von Wilamowitz-Moellendorff, S. 23).  Für eine detaillierte Beschreibung von Welckers Position s. Kullmann 1986, S. 105 – 130.  Homer wurde seit der Neuzeit, d. h. seit Beginn seiner breiten Rezeption in Europa, die mit dem Erscheinen der Ausgabe von Aldus Manutius von 1504 beginnt, als Autor der Ilias gesehen. Die Autorenschaft der Odyssee wurde hingegen oft in Frage gestellt. Viele Interpretatoren waren davon überzeugt, dass Homer diese später als die Ilias, und zwar erst im hohen Alter, verfasste. Andere schlossen sich den antiken Homerinterpreten Xenon und Hellanikos an, indem sie für einen anderen, jüngeren Dichter der Odyssee plädierten.  Eine Weiterentwicklung der unitarischen Interpretation, die zur Steigerung ihrer Popularität führt, findet erst im 20. Jahrhundert statt. Ein Meilenstein auf diesem Weg ist Wolfgang Schadewaldts Monografie zur Struktur der Ilias: Schadewaldt 1938.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

sprünglich mündlichen Homerepen bestritt und von einer frühen Benutzung und Verbreitung der Schrift im archaischen Griechenland des 8. und 7. Jahrhundert v.Chr. ausging. In der Ilias gab es, so Nitzsch, nur kleinere Interpolationen, die zu einem späteren Zeitpunkt gemacht wurden. Die Odyssee sei mit hoher Wahrscheinlichkeit das Werk desselben Autors und, gleich der Ilias, nach einem einheitlichen Plan verfasst worden.⁵⁰ Diese Meinung teilte Karl Friedrich Nägelsbach, dessen Vorstellung von der Unterlegenheit der homerischen Götter gegenüber dem christlichen Gottesbild⁵¹ zum Anreiz für Nietzsches Interpretation von Polytheismus und Monotheismus wurde.⁵² Einige Schlüsselthesen von Nitzsch wurden bereits zu seinen Lebzeiten durch die Ergebnisse von Welckers Arbeit Der epische Cyclus oder die homerischen Dichter (1835/49),⁵³ in der die frühe Existenz eines epischen Zyklus sowie – am Beispiel der Geschichte vom Parisurteil – ein „allgemein gegenwärtige[r] Hintergrund“⁵⁴ für das Publikum der homerischen Epen postuliert wird, gestützt.

1.3 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (2): Friedrich Ritschl in Leipzig Die lebhafte Polemik um Homer ist an Leipzig nicht vorbeigegangen, wo sowohl die Analytiker als auch die Unitarier zu unterschiedlichen Zeiten gearbeitet haben.⁵⁵ Der bereits erwähnte Leipziger Philologe Gottfried Hermann war in der Homerforschung

 S. dazu Nitzsch 1830 – 1837 und Nitzsch 1826 – 1840 (etwa Bd. 1, S. XXV). Vgl. auch Nitzschs frühere Arbeit Quaestiones homericae (1824), seinen Artikel Odyssee im dritten Teil der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1830) sowie die späten Bücher Die Sagenpoesie der Griechen kritisch dargestellt (1852) und Beiträge zur Geschichte der epischen Poesie der Griechen (1862). Eine ähnliche Position vertritt auch Karl Lehrs, der außerdem in seiner Schrift De Aristarchi studiis Homericis (1833) die Idee einer peisistratidischen Redaktion noch schärfer als Nitzsch kritisiert: Ihre historische Glaubwürdigkeit sei laut Lehrs vorwiegend deswegen diskreditiert, weil sie bei den alexandrinischen Philologen nicht erwähnt werde.  S. insb. Nägelsbach 1840. In Nägelsbachs späterem Buch geht es sogar darum, dass Homer eine Grundlage für das „der Volksreligion eingepflanzte Streben nach Monotheismus“ sein sollte (Nägelsbach 1857, S. 402). Vgl. von Reibnitz 1992, S. 126, sowie eine kurze Anmerkung in Langbehn 2005, S. 196, n. 563.  Nietzsche hat das zweite Buch von Nägelsbach in Basel, im Sommersemester 1876, gelesen. Vgl. Nietzsches Bibliothek, S. 55.  Welckers Konzept des „allgemeinen Hintergrunds“ sollte demjenigen Nietzsches sehr nahe sein. Dennoch gibt es bei Nietzsche keine expliziten Bekenntnisse solcher Art. Im Gegenteil, im Nachlass finden sich scharfe Bemerkungen gegen Welckers „monotheistische“ Deutung der griechischen Kultur (Nachlass 1875, 5[114], KGW IV 1.146): „Wie fern muß man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten!“  Welcker 1849, S. 114– 115.  Nitzsch wurde 1852 Professor an der Universität Leipzig, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1861 unterrichtete.

1.3 Nietzsche und die Homerforschung seiner Zeit (2): Friedrich Ritschl in Leipzig

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als Gründer der sogenannten Kerntheorie bekannt.⁵⁶ Er setzte jeweils ein einziges „ursprüngliches Gedicht“ als Grundlage von Ilias und Odyssee voraus⁵⁷ und hat damit Wolfs Anmerkungen zur Rolle der mündlichen Improvisation zur Grundlage seiner eigenen Analysen der Struktur von Ilias und Odyssee gemacht. Seine Methodologie der Untersuchung von homerischen Wiederholungen, die von zeitgenössischen Forschern weitgehend unbeachtet blieb, wurde zum Anlass für die spätere Entwicklung der Oral-Poetry-Forschung, die ab Ende der 1920er-Jahre allmählich eine dominierende Position eingenommen hat.⁵⁸ Die zentrale Figur unter den Leipziger Altphilologen zu Nietzsches Zeit war sein Betreuer Friedrich Wilhelm Ritschl, auf dessen Empfehlung er die Professur in Basel bekommen hat.⁵⁹ Ritschls professionelle Karriere, an deren Beginn seine Lehrtätigkeit an der Breslauer Universität stand, startete mit einer Monografie über die peisistratidische Redaktion („Rezension“) der homerischen Gedichte. Seine weitere Lehrtätigkeit fand in Bonn statt, bis Ritschl 1865 wegen des sogenannten Bonner Philologenstreits – eines Konflikts zwischen ihm und Otto Jahn – nach Leipzig wechseln sollte. Als Homerforscher gehörte Ritschl eher zu Wolfs Nachfolgern: Während die skrupellose Zerteilung der Texte von Ilias und Odyssee in einzelne Fassungen nie sein Ziel war, hat er eine der Hauptprämissen Wolfs – nämlich diejenige von der peisistratidischen Rezension der homerischen Epen als der ersten schriftlichen Fassung, die als Ergebnis eines Vergleichs von mehreren parallel existierenden mündlichen Varianten von Ilias und Odyssee verstanden wird – übernommen.⁶⁰ Allerdings ging Ritschl davon aus, dass Peisistratus nicht erst die zerstreuten und unvollständigen Fassungen zu einer Einheit gebracht, sondern die ursprüngliche Einheit der homerischen Texte mithilfe der Kollation wiederhergestellt hat. Dank seinem neuen methodologischen Ansatz hat sich Ritschl den Ruhm des Begründers einer eigenständigen Richtung der klassischen Philologie, die später als Bonner Schule bekannt wurde, erworben. Ihre Entstehung geht auf die methodologische Rivalität zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh zurück.⁶¹ Boeckhs Ansatz stand unter dem Einfluss von Schleiermacher und Wolf. Das philologische Seminar, das er 1814 an der jungen Universität zu Berlin gründete, wurde unter seiner Leitung zum Zentrum der klassischen Philologie, die sich als Geschichte des Geistes in Form einer philosophischen und geschichtlichen Erkenntnis der Antike in ihrer  Die Kerntheorie entwickelte sich rasch zu einer der zentralen und langfristigsten Richtungen der damaligen Homerforschung. Bei Hugh Lloyd-Jones wird sie sogar als die populärste bezeichnet (LloydJones 1991, S. 2).  S. Hermann 1832, 1840.  Zur Rezeption von Nietzsches Ideen in der Oral-Poetry-Forschung s. Kapitel 6.  Zu Ritschl als Vertreter der Bonner Schule der klassischen Philologie sowie zu seinem methodologischen Einfluss auf Nietzsche s. Benne 2005, S. 46 – 68.  Für die Auslegung dieser These s. Ritschl 1838, S. 36 – 71.  Zur Rivalität zwischen diesen zwei Schulen im Licht von Nietzsches eigener Methodologie vgl. Benne 2005, S. 52, und Jensen 2013, S. 38 – 43. Für einen Überblick über den Streit aus der Sicht der klassischen Philologie s. Vogt 1979, S. 103 – 121. S. dazu auch Most 1997, S. 353 – 357.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

Ganzheit verstand.⁶² Ungleich Boeckh, der auch die Sprache historisierte, d. h. als Sache betrachtete, die zu historischen Realien gehört, räumte Gottfried Hermann der Sprache eine primäre Rolle ein. Hermanns Methodologie, die von Kant und der Tradition der englischen und niederländischen Philologie⁶³ beeinflusst wurde, beruhte auf literarischer Kritik, auf Untersuchung der Sprache, die aus seiner Sicht im Mittelpunkt der klassischen Philologie stehen sollte.⁶⁴ Dieser zentrale Aspekt der Rivalität zwischen Boeckh und Hermann wurde in der späteren Forschung als Methodenstreit zwischen Sachphilologen und Sprachphilologen (oder Wortphilologen) bezeichnet. Ritschl, der die klassische Philologie in Leipzig und Halle studiert hat, gilt als Hermanns Schüler und methodologischer Nachfolger.⁶⁵ Seine frühe Studie zu Plautus (Atheteseon Plautinatum Liber I) hat er seinem Lehrer gewidmet.⁶⁶ Dennoch ist die Bonner Schule nicht als direkte Weiterführung von Hermanns kritisch-philologischem Projekt zu sehen, insofern Ritschl auch Boeckh bewunderte⁶⁷ und die Spaltung zwischen Sachphilologie und Sprachphilologie zu überwinden – also Textkritik mit Hermeneutik zu verbinden – suchte.⁶⁸ Bei allem Interesse für die griechische Literatur, beschäftigte sich Ritschl ab Ende der 1830er-Jahre vorwiegend mit römischen Autoren. In Bonn arbeitete er an der Edition von lateinischen Inschriften, die einen großen Einfluss auf die späteren Studien zur Geschichte der Sprache ausübte. Sein Hauptprojekt in Leipzig war eine Ausgabe von Plautus, die erst viele Jahre nach Ritschls Tod (1876) von seinen Schülern abgeschlossen wurde. Deswegen ist in der – ebenfalls nach seinem Tod abgeschlossenen – fünfbändigen Ausgabe von Opuscula philologica nur der erste, zu Ritschls Lebenszeiten erschienene Band den griechischen Themen gewidmet.⁶⁹ In der 1866 geschriebenen Einleitung zu diesem Band bedauert Ritschl die Unmöglichkeit, seine frühen Schriften Die Alexandrinischen Bibliotheken unter den ersten Ptolemäern und

 S. dazu Poiss 2009, S. 65 – 66. Poiss betont Boeckhs methodologische Nähe zu Wolf: Letzterer beschreibt die klassische Philologie als „Kenntniß der alterthümlichen Menschheit“, v. a. der griechischen Völker und Staaten (Wolf 1807, S. 132).  Vgl. Vogt 1979.  Hermann 1826, S. 10. Boeckh wird hier vorgeworfen, dass der unpräzise Charakter seines textkritischen Ansatzes zu groben, u. a. grammatischen Fehlern in der Rekonstruktion von einzelnen Fragmenten führt. Zu diesen Fehlern Boeckhs, im Kontext des Konflikts zwischen ihm und Hermann, vgl. Sandys 1908, S. 98 – 99.  S. etwa Krämer 2011, S. 27.  Zu Hermanns Einfluss auf Ritschls Projekt der Plautus-Ausgabe s. Krämer 2011, S. 27– 28.  Vgl. Hoffmann 1901, S. 128 – 129.  Vgl. dazu Benne/Santini 2014, S. 177– 178. und Jensen 2013, S. 45 – 48, insb. S. 45: „one may not reduce philology to either the knowledge of the Sprachphilologen or the intuitions of the Sachphilologen. Accordingly, scholars should not pigeonhole Ritschl himself into one school or the other. Ritschl’s destination was Boeckh’s, but his road was distinctively Hermann’s.“  Der Band stellt eine 850-seitige Sammlung von Ritschls kleinen und großen Schriften über Homer, Aeschylus, Sophokles, Xenophon, Aristophanes, Diogenes Laertius, griechische Metrik und Inschriften dar. Die Mehrheit dieser Schriften, mit Ausnahme der meisten Studien zur griechischen Epigraphik, wurde vor 1840 veröffentlicht.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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die Sammlung der Homerischen Gedichte durch Pisistratus nach Anleitung eines plautischen Scholions (1838) und Corollarium disputationis de bibliothecis Alexandrinis deque Pisistrati curis Homericis (1840) gründlich zu überarbeiten und die Einsichten der Homerforschung der letzten Jahre, u. a. Lachmanns Thesen zur einheitlichen peisistratidischen Redaktion der 16 Ilias-Fassungen, in seine Analyse zu inkorporieren.⁷⁰ Diese Überarbeitung ist nicht erfolgt, weil Ritschl seine Untersuchungen der homerischen Epen ab 1840 nicht weiterführte. In Bonn hat Nietzsche Ritschls Vorlesungen zu Plautus⁷¹ und in Leipzig seinen Kurs zur lateinischen Epigraphik besucht.⁷² Obwohl er auch Ritschls frühe Homerschriften gelesen hat, finden wir in Nietzsches Werken und Vorlesungen keine Beweise für die These, dass diese Schriften zur wichtigsten Grundlage seiner Auffassung von Homer oder von der alexandrinischen Philologie wurden.⁷³ Auch wenn der Einfluss von Ritschls philologischem Ansatz, d. h. der Methode der Bonner Schule, auf Nietzsche bedeutsam war, sollte er nicht zu Ungunsten einer komplexeren Untersuchung seiner eigenen Position verabsolutiert werden.⁷⁴ Da Nietzsche, anders als Ritschl, die Möglichkeit einer erfolgreichen modernen Rekonstruktion der ursprünglichen, einheitlichen Textfassung als unrealistisch und sogar unnötig einschätzt und anstatt der Frage nach den Transformationen des Texts die Frage nach der Wandlung von Homers Persönlichkeit stellt, finden wir in der Baseler Rede deutliche Diskrepanzen zwischen seinem Ansatz und demjenigen von Ritschls Schriften über Homer.

1.4 Homer und die klassische Philologie Die wichtigsten Aspekte der oben skizzierten philologisch-literarischen Kontroverse um Homers Epen sowie die Komplexität der Konstellation der damaligen Homerforschung, in der Ritschls Studien eine relativ kleine Rolle spielten, waren Nietzsche gut bekannt. Die Frage, wo Nietzsche sich in dieser komplexen Konstellation fand, lässt sich jedoch nicht leicht beantworten, da er sich selbst keinesfalls als Homerforscher versteht und Elemente verschiedener Interpretationen und Ansätze in seine eigene Antwort auf die Frage nach der Persönlichkeit Homers, die den Kernteil seines Baseler Vortrags ausmacht, einflechtet.

 Ritschl 1866, Bd. 1, S. VIII–IX.  Vgl. die Liste der Veranstaltungen, die Nietzsche besucht hat, in Metterhausen 1942, S. 17.  Ob Nietzsche seinem Lehrer Ritschl nach Leipzig folgte oder er (auch) aus anderen Gründen nach Leipzig wechselte, bleibt unklar. Für eine gute Übersicht über den Forschungsstand sowie über die möglichen Motivationen von Nietzsches Entscheidung s. Benne 2005, S. 58 – 59.  Vgl. etwa die These von Ritschls Einfluss auf Nietzsches Auffassung des Alexandrinismus in Benne 2005, S. 48.  So zu Recht Jensen 2013, S. 55, mit einer skeptischen Bemerkung hinsichtlich Bennes Beschreibung von Nietzsches philologischer Methode als Weiterführung derjenigen Ritschls (Benne 2005, S. 101).

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

Angesichts der aktiven Entwicklung der damaligen Homerforschung sowie des zunehmenden Interesses des breiten Publikums für Homers Texte verwundert es kaum, dass Nietzsche seine wissenschaftliche Tätigkeit in Basel mit einer Rede über Homer beginnt. Dennoch bietet das Thema seiner Antrittsvorlesung im Kontext der Baseler Tradition der klassischen Philologie zugleich eine methodologische und eine thematische Abwechslung, weil Nietzsches Vorgänger am Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur – Ritschls Schüler Otto Ribbeck (1861/62) und Adolph Kießling (1863/69) – sich vor allem mit lateinischen Autoren (Plautus, Horaz, Vergil) befassten und an der lebhaften Diskussion in der deutschsprachigen Homerforschung nicht teilnahmen. In einem kurzen Gedicht, das der privaten Ausgabe von Homer und klassische Philologie vorangestellt ist, deutet Nietzsche auf den Unterschied zwischen den Zuhörern seiner Vorlesung⁷⁵ und dem ausgewählten Kreis von Lesern seiner Schrift.⁷⁶ Den Zuhörern konnte das Thema angesichts des Überflusses an Untersuchungen über Homer, der zu dieser Zeit bereits deutlich spürbar war, banal erscheinen. Andererseits sollte der überraschende, im Verlauf des Vortrags langsam zutage tretende methodologische Ansatz – das Überbauen der textkritischen Philologie durch Philosophie und Psychologie – befremdlich wirken. Von diesem Hintergrund stellt sich Nietzsche im ersten Teil des Gedichts (KGW II 1.248) als einen einsamen, vom Publikum nicht ernst genommenen Redner, der, wie später der tolle Mensch in FW 125, Neues verkündet, zu dem die Mehrheit noch nicht bereit ist: In Basel steh ich unverzagt Doch einsam da – Gott sei’s geklagt. Und schrei ich laut: Homer! Homer! So macht das Jedermann Beschwer. Zur Kirche geht man und nach Haus Und lacht den lauten Schreier aus.

Im zweiten Teil (KGW II 1.248) geht es hingegen um Nietzsches Freunde und Bekannte, die andere Erwartungen haben sollten und geduldig genug sind, um die Gründe seines neuen Zugangs zum wohlbekannten philologischen Problem zu verstehen oder wenigstens den Schlüsselargumenten zu lauschen: Jetzt kümmr’ ich mich nicht mehr darum: Das allerschönste Publikum

 Über die Reaktion des Publikums auf Nietzsches Rede erfahren wir aus zwei Briefen. Am 29.05. 1869, also am Tag nach der Vorlesung, schreibt Nietzsche an Erwin Rohde (KGB II 1.13): „Gestern hielt ich vor ganz gefüllter Aula meine Antrittsrede, und zwar ‚über die Persönlichkeit Homers‘, mit einer Menge von philosophisch-ästhetischen Gesichtspunkten, die einen lebhaften Eindruck hervorgebracht zu haben scheinen.“ Seiner Mutter teilt er in einem Brief von Mitte Juni 1869 Folgendes mit (KGB II 1.15): „Durch diese Antrittsrede sind die Leute hier von Verschiedenem überzeugt worden, und mit ihr war meine Stellung, wie ich deutlich erkenne, gesichert.“  Zur Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen den Zuhörern von Nietzsches Antrittsvorlesung und den Lesern ihrer schriftlichen, als Privatdruck erschienenen Fassung s. Sommer 1997, S. 18 – 20.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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Hört mein homerisches Geschrei Und ist geduldig still dabei. Zum Lohn für diesen Ueberschwank Von Güte hier gedruckten Dank.

Die Überraschung, die Nietzsche für sein Publikum vorbereitet hat, wird bereits am Titel seines Vortrags Über die Persönlichkeit Homers ⁷⁷ sichtbar. Dieser kontrastiert mit der allgemeinen Tendenz der damaligen Homerforschung, über Homers Person nur im Kontext der philologischen Analyse der Texte von Ilias und Odyssee – vom Standpunkt ihrer möglichen (Un‐)Einheitlichkeit – zu sprechen. Es ist ein erstes Signal für alle, die einen philologischen Bericht über den aktuellen Zustand der Homerkontroverse oder Analysen konkreter Textbeispiele und Schlüsselargumente erwartet hatten. Nicht das Problem selbst, mit dem Nietzsche seinen Vortrag beginnt, sondern vielmehr die Art und Weise, mit der er dieses Problem betrachtet, erscheint ungewöhnlich.⁷⁸ Der einleitende Teil von Nietzsches Rede enthält kritische Betrachtungen über die Position der klassischen Philologie als einer historischen Wissenschaft, die zugleich einen Erziehungsanspruch hat. Die methodologisch und begrifflich uneinheitliche klassische Philologie sei „ein Zaubergetränk aus fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen“ und, ihrem Ursprung nach, „zugleich Pädagogik“ (KGW II 1.250),⁷⁹ also keine elitäre Wissenschaft, die eine Sonderstellung im Bereich der historischen Wissenschaften innehätte. Nietzsches implizite Aussage besteht wohl darin, dass die sich klassische Philologie im 19. Jahrhundert rasch entwickelt und große Erfolge erzielt hat, dabei aber ihre eigenen Grundlagen langsam aus dem Auge verlor, indem sie sich auf philologisch-kritische Aufgaben konzentrierte. Klassische Philologie ist für ihn „ebensowohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Ästhetik“ (KGW II 1.249). Als Geschichte will sie „Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen.“ Als Naturwissenschaft versucht sie, „den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt, zu ergründen“ – es geht also um altertumswissenschaftliche Linguistik. Als Ästhetik stellt sie „aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte ‚klassische‘ Alterthum“ auf, „mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten“ (KGW II 1.249 –

 Der Titel Homer und die klassische Philologie kommt erst in der veröffentlichten Fassung des Vortrags vor.  Vgl. Vogt 1962, S. 104: „Schon Nietzsches erste Philologica sind durch Züge gekennzeichnet, in denen sich seine spätere Entwicklung keimhaft andeutet. Einer der wesentlichsten dieser Züge ist die besondere Art des Verhältnisses zu dem jeweiligen Objekt der Untersuchung.“  Hier weist Nietzsche implizit auf die pädagogischen Leistungen von F. A.Wolf hin, dem es gelungen ist, klassische Philologie von Theologie an den deutschen Universitäten zu trennen. Dank dieser Erfolge hat Wolf die berühmte, von Christian Garve stammende Charakterisierung „Kant in der Philologie“ verdient.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

250). Diese Vielheit von selbstbestimmten Aufgaben erklärt, nach Nietzsches Logik, auch die methodologische, centaurenartige Heterogenität: einerseits die heftigen Kontroversen innerhalb der klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts und andererseits die bei manchen Philologen (wohl auch bei Wolfs Nachfolgern in der Homerforschung) sichtbare Tendenz, wichtige Aspekte der klassischen Philologie zu vergessen oder explizit zu negieren. Klassische Philologie hat nach Nietzsche einen praktischen Ursprung: Sie ist aus pädagogischer Notwendigkeit gewachsen und langsam zu einer Wissenschaft geworden, die eine „Scheinmonarchie“ (KGW II 1.250) unter dem Namen der Philologie gebildet hat. Ihr heterogener Charakter ist aber aus Nietzsches Sicht keinesfalls ein Mangel. Letztendlich entspricht die Entwicklung dieser Disziplin oder „wissenschaftliche[n] Tendenz“ (KGW II 1.250), wie Nietzsches sie nennt, seiner Vorstellung einer lebendigen Einheit, in der verschiedene Teile abwechselnd die dominierende Rolle spielen, ohne die anderen Elemente zu negieren oder zu zerstören. Dies illustriert Nietzsche am Beispiel der drei Grundrichtungen der klassischen Philologie, die „in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke“ heraustreten, „im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode“ und abhängig von der „Wucht der philologischen Persönlichkeiten“ (KGW II 1.250). Der Nachteil bestehe in der ständigen „Unsicherheit des Urtheils“ über ihren Gegenstand sowie in „Zwistigkeiten rein häuslicher Natur, hervorgerufen durch einen unnützen Rangstreit und gegenseitige Eifersüchteleien“ (KGW II 1.250 – 251). Nietzsches Ziel ist es jedoch nicht nur, die klassische Philologie zu kritisieren, sondern auch, sie vor unverdienter gegenwärtiger Kritik zu schützen, die zu seiner Zeit aufgrund des von ihm beschriebenen Entwicklungszustands zunahm. Er deutet darauf hin, dass die klassische Philologie eine Überfülle von Gegnern habe: Ihre Spötter hätten zwar keinen Hass auf sie, machten sich aber lustig über die – auch vom späten Nietzsche hochgeschätzte – philologische Gewohnheit, dieselben Dinge gleich Maulwürfen zu „zerwühlen“ (KGW II 1.250 – 251) oder, in der späteren Sprache Nietzsches, „wiederzukäuen“. Im Gegensatz zu diesen harmlosen Kritikern seien diejenigen, die „in glücklicher Bewunderung vor sich selbst“ niederfallen und das Hellenentum als „einen überwundenen, daher sehr gleichgültigen Standpunkt“ betrachten (KGW II 1.251), wesentlich gefährlicher für die Philologie, sodass diese sich gegen sie mithilfe von „künstlerisch gearteten Naturen“ (KGW II 1.251) aktiv verteidigen solle. Hier werden die ersten Konturen von Nietzsches kulturphilosophischem Bild der Antike sichtbar: Während er drei Jahre später in Homer’s Wettkampf die Gefahr des Epigonentums im deutschen Hellenismus des 19. Jahrhunderts thematisiert und seine Leser vor einer unkritischen Überschätzung der Antike warnt, deutet er in der Baseler Rede auf die entgegengesetzte Gefahr ihrer kritisch-hochmütigen Unterschätzung. Diese schade unserer Fähigkeit, Neues zu schaffen, nicht weniger als die unbegrenzte Hochachtung, insofern die Antike nicht mehr unsere Inspiration bleiben kann. Neben den zwei Gruppen von Gegnern der klassischen Philologie gibt es laut Nietzsche noch eine dritte, die viele der früheren Verbündeten der Philologen, d. h.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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von den Literaten, einschließe. Unter diesen „künstlerischen Freund[n] des Alterthums“, den „warmen Verehrer[n] hellenischer Schönheit und edler Einfalt“, herrsche inzwischen die Meinung, dass „die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der alterthümlichen Ideale seien“ (KGW II 1.252). Als Beispiel nennt Nietzsche die Kontroverse um die methodologische Einstellung von Friedrich August Wolf – nicht vom Standpunkt seiner jetzigen Opponenten unter den klassischen Philologen, sondern aus der breiteren philologisch-literarischen Perspektive der ersten Welle der Debatten direkt nach Erscheinen der Prolegomena. In diesem Kontext weist Nietzsche auf die Vorwürfe von Goethe und Schiller hin, da sie diejenigen repräsentieren, die – im Gegensatz zu den ersten beiden Gegnern der klassischen Philologie – das Altertum hoch schätzen oder, präziser gesagt, als künstlerisches Ideal betrachten. Laut Goethe würden Ilias und Odyssee unter der Optik Wolfs als Kunstwerke und Objekte der ästhetischen Bewunderung nicht mehr existieren, weil sie nicht mehr als Ganze da seien.⁸⁰ Beim Hinweis auf Schillers Position verwendet Nietzsche ein indirektes Zitat aus dem Epigramm Ilias ⁸¹: „Den Philologen warf es Schiller vor, daß sie den Kranz des Homer zerrissen hätten“ (KGW II 1.252).⁸² Diese Bezüge sollten Nietzsches Publikum an die Zeit an der Schwelle zum 19. Jahrhundert erinnern, als Philologen und Literaten homerische Epen gemeinsam besprachen. Innerhalb von einigen Jahrzehnten hat sich die Situation jedoch wesentlich geändert, denn die Polemik um Homer blieb weiter auch für ein breites Publikum interessant und wurde doch immer spezialisierter.⁸³ Aus rein akademischphilologischer Sicht, also vom Standpunkt der altertumswissenschaftlichen Homerdebatte, erscheinen die Hinweise auf Goethe und Schiller daher nicht als seriöse Argumente, die Wolfs Theorie in irgendeiner Hinsicht unterminieren könnten, sondern lediglich als rhetorische Vignetten. Diese Nietzsche völlig bewusste Tatsache gibt eine Vorahnung auf die folgende akademisch unkonventionelle Umwertung der homerischen Frage, die nach Nietzsches ursprünglichem Plan die ambitionierte Aufgabe erfüllen sollte, die Spaltung zwischen Philologen und Literaten zu beseitigen und zu demonstrieren, „wie die bedeutendsten Schritte der klassischen Philologie niemals vom idealen Alterthum weg, sondern zu ihm hin führen“ (KGW II 1.254). An dieser Stelle geht Nietzsche zum zentralen Thema seines Vortrags über, nämlich zur homerischen Frage, die für ihn identisch mit der „Frage nach der Per KGW II 1.252, mit Zitat aus Goethes Gedicht über Wolf und seine Nachfolger: „Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, / von aller Verehrung uns befreit, / und wir bekannten überfrei, / das Ilias nur ein Flickwerk sei. / Mög’ unser Abfall niemand kränken; / denn Jugend weiß uns zu entzünden, / daß wir ihn lieber als Ganzes denken, / als Ganzes freudig ihn empfinden“. S. auch Porter 2002, S. 68 – 69. Die Standpunkte von Wolf und Goethe lassen sich nicht vereinbaren, wobei Nietzsche diese Positionen auch nicht zu versöhnen sucht.  „Immer zerreißet den Kranz des Homer und zählet die Väter / Des vollendeten ewigen Werks! / Hat es doch eine Mutter nur und die Züge der Mutter, / Deine unsterblichen Züge, Natur!“ Vgl. Martin 1996, S. 109.  S. Schiller an Goethe, 27.04.1798. Vgl. Schröter 1982, S. 45.  Dazu auch Wohlleben 1990, S. 5 – 6.

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sönlichkeit Homers“ ist (KGW II 1.254). Er erklärt, dass die Frage für einige Interpreten, zu denen wohl die Mehrheit der damaligen analytischen Homerforscher zu zählen ist, „nicht mehr zeitgemäss“ oder gar völlig marginal erscheint, und stellt dem entgegen, dass sie in einer breiteren kulturhistorischen Perspektive, mit der sich die klassische Philologie, so wie sie bei Nietzsche früher dargestellt ist, befasst, doch zentral sein soll. Denn Homer kommt die einzigartige Rolle zu, die erste historische Probe zu machen und die traditionellen, unpersönlichen „Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen“ (KGW II 1.255).⁸⁴ Nietzsches zugespitzte These über die geänderte Stellung der Frage nach Homers Persönlichkeit ist allerdings nur teilweise korrekt. Gerade die psychologischen Aspekte seiner weiteren Analyse könnten für manche Homeranalytiker von Interesse sein, die sich wie Nietzsche mit der Frage befassen, was man in der Antike unter Homer verstand. Nicht wenige Homerphilologen würden Nietzsche darin zustimmen, dass etwa die aristotelische Vorstellung von Homer als wirklich existierende Person und „makellose[n] und unfehlbare[n] Künstler“ den psychologischen Grund hat, „an Stelle eines übernatürlichen Wesens eine greifbare Persönlichkeit erkennen zu wollen“ (KGW II 1.256 – 257). Nicht weniger plausibel erscheint in dieser Hinsicht Nietzsches These, dass immer schwieriger wird, Homer als Person zu fassen, je weiter man in die Zeit vor Aristoteles zurückgeht, denn die Griechen der älteren Periode identifizieren mit ihm nicht nur die Ilias und die Odyssee, sondern eine „unübersehbare Fluth grosser Epen“ (KGW II 1.257). Die Kluft zwischen der traditionell-philologischen und seiner eigenen Deutung der homerischen Frage, die hier ihre ersten Konturen bekommt, mag somit bei einer näheren Betrachtung nicht völlig unüberwindbar erscheinen, auch wenn evident ist, dass Nietzsche dem Persönlichkeitsproblem eine aus der Sicht der Homerphilologen viel zu große Rolle zurechnet und – anders als bei seiner philologischen Untersuchung von Certamen Homeri et Hesiodi – der Analyse von homerischen Textstellen, Themen und Begriffen ausweicht. So überrascht es nicht, dass Nietzsches Ausführungen über die Entwicklung der traditionellen homerischen Frage immer auf der Ebene allgemeiner historisch-kultureller Theorien und Ansätze bleiben. Die wichtigste Leistung von Wolf sieht er etwa darin, dass er sich genau „dort eingesetzt“ habe, „wo das griechische Alterthum die Frage aus den Händen fallen liess“ (KGW II 1.255). Gemeint ist, dass Wolf die antike  Nietzsches Ausgangsintention, die Fragen nach Homers Person und den homerischen Epen getrennt zu betrachten, entspricht im Wesentlichen dem Ansatz von Frederik Nutzhorn (1869), dessen Buch Die Entstehungsweise der homerischen Gedichte. Untersuchungen über die Berechtigung der auflösenden Homerkritik Nietzsche zu derselben Zeit gelesen hat. S. dazu Santini 2014, S. 388. Dennoch, obwohl Nutzhorns antidogmatisches Pathos mit demjenigen Nietzsches übereinstimmt, ist seine Bedeutung für Nietzsches Homerinterpretation nicht zu überschätzen. Da Nutzhorn selbst keine eigene Theorie vorschlägt, im Ganzen ein eher oberflächliches Bild der antiken und neuzeitlichen Homerrezeption zeichnet und nichts Neues über die Entstehung, Struktur und Sprache der Homerepen oder über Homers Person sagt, ist seine Bedeutsamkeit sowohl für die Baseler Vorlesung wie für Nietzsches Analysen des griechischen Epos in den späteren Vorlesungskursen wesentlich geringer als die der bekannteren zeitgenössischen Studien von Nitzsch und Welcker.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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Hypothese vom ursprünglich mündlichen Charakter homerischer Texte aufgreift und die Theorie der peisistratidischen Rezension zu beweisen sucht. Nietzsche stimmt der Idee des mündlichen Homer zu, adaptiert Wolfs (und Heynes) Methode kontextbezogener Analyse in seiner eigenen Untersuchung der Homerfrage und konstatiert – gleich Wolf und vielen anderen –, dass Homers Name bereits während der Zeit von Peisistratos „fast zu einer leeren Hülse geworden“ ist (KGW II 1.257). Er zieht daraus jedoch völlig differierende Schlussfolgerungen, weil er der ästhetischen Perspektive die primäre Rolle zuschreibt. Die originäre homerische Frage wird von Nietzsche dementsprechend umformuliert und in zwei Teile gespalten: 1) Was verstand man unter „Homer“ während einer bestimmten Periode? und 2) Ist „somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden“ (KGW II 1.257)?⁸⁵ Die Frage wird also in Zusammenhang mit der Individualität des poetischen Genies und dem Begriff der Volksdichtung gestellt. Nietzsches Vorschlag, den Gegenstand seiner Rede vom Standpunkt der für ihn zeitgenössischen Ästhetik zu betrachten, erlaubt ihm, die Gefahren der Gegenüberstellung „von Volksdichtung und Individualdichtung“ zu sehen. Sie sei ein „Aberglaube“, den „die […] Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele“ (KGW II 1.260). Der Gegensatz von Volksdichtung und Individualdichtung existiere in der Wirklichkeit nicht: „vielmehr braucht alle Dichtung […] ein vermittelndes Einzelindividuum“ (KGW II 1.261). Einerseits wirken diese Bemerkungen Nietzsches aus philologischer Sicht bestenfalls oberflächlich, da er auf die Kernargumente der ihm gegenwärtigen Theorien nicht eingeht. Auch wenn seine These, dass die Opposition der Volksdichtung und Individualdichtung eigentlich nicht korrekt ist und dass für jede Art der Dichtung jeweils durch ein Individuum vermittelt werden soll, plausibel erscheint, beweist das keinesfalls, dass wir Homers Epen vom methodologisch-philologischen oder auch historischen Standpunkt genauso beschreiben können oder sollen wie diejenigen Werke, deren singuläre Autorschaft nicht bezweifelt wird. Andererseits berührt Nietzsche gerade an dieser Stelle ein wichtiges Problem, das von der Homerforschung des 19. Jahrhunderts nicht genug und zugleich nicht methodologisch konsequent thematisiert wurde. Der zu Nietzsches Zeiten noch nicht ausgestorbene, auf Herder zurückgehender Begriff der Volksdichtung bzw. der Volkspoesie als Verkörperung der Volksseele⁸⁶ ist tatsächlich unscharf und irreführend, weil jeder Dichter aus dem Volk stammt und es somit zu einem gewissem Grad repräsentiert, sodass auch der „grosse Dichter eines litterarischen Zeitalters […] immer noch Volksdichter [ist] und in keinem

 Eine knappe und pointierte Beschreibung der Bedeutung dieser Umformulierung findet sich in Acampora 2001, S. 554: Nietzsches Intention sei letzten Endes die Vorbereitung auf die Frage: „Was bedeuten die Griechen für uns?“.  Dieser Begriff spielt etwa eine relativ marginale Rolle bei Lachmann. Allerdings war der Begriff keinesfalls so populär, wie es in Appel 2011, S. 69, dargestellt ist (es ist auch nicht verständlich, warum Appel in demselben Zusammenhang die Thesen Wolfs für „noch zu Nietzsches Baseler Zeit“ widerlegt hält).

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Sinne weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer illitteraten Periode war“ (KGW II 1.262). Nachdem Nietzsche völlig zu Recht die Wichtigkeit festhält, über die Eigenschaften der mündlichen Tradition zu sprechen, in der etwa Homers Texte ursprünglich verbreitet wurden, zieht er freilich die vorschnelle Schlussfolgerung, dass der Unterschied zwischen den zwei Arten von Dichtern „etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer Dichtungen“ betrifft, nämlich nur „die Fortpflanzung und Verbreitung“ ihrer Werke. Wie die spätere Homerforschung, nicht zuletzt dank dem OralPoetry-Ansatz, überzeugend demonstriert hat, ist das Ziel eines Sängers (also eines Dichters der mündlichen Tradition) völlig anders als das des individuellen Dichters der späteren Zeit, da der erstere sich nicht um Originalität im Sinn der Abweichung von der Tradition, sondern lediglich um Verfeinerung des traditionellen mythologischen Stoffes kümmert.⁸⁷ Im Gegensatz zu den zukünftigen Entwicklungen der klassischen Philologie, die Nietzsche nicht kennen konnte, ist aus historisch-philosophischer Perspektive wichtig, dass Nietzsche hier, in der Baseler Rede, zum ersten Mal die Frage nach der Individualität bei den Griechen thematisiert. Die pauschale Antwort, die er seinem Publikum gibt, dass „wir unter allen Umständen“ „auf das dichterische Individuum“ verwiesen werden und die Aufgabe haben, „das Individuelle zu fassen und es wohl zu unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition gewissermassen angeschwemmt worden ist“ (KGW II 1.262), wird er später während seiner mühsamen Suche nach einer aristokratischen Moral grundlegend korrigieren. Nicht nur den homerischen Helden, sondern den archaischen Griechen überhaupt wird eine ganz entfaltete Individualität abgesprochen. Wie – und ob überhaupt – sich das mit Nietzsches früheren Aussagen zu Homers Individualität versöhnen lässt, wird im Kapitel über die homerische Gesellschaft erläutert. Von der engeren Frage nach der Legitimität des Begriffes „Volksdichtung“ geht Nietzsche nun zum methodologischen „Mittelpunkt der homerischen Irrthümer“ (KGW II 1.263). Seine Ausgangsthese klingt einfach: Je weniger wir vom historischen Kontext und der Biografie eines Autors wissen, desto schwieriger fällt es dem Philologen, individuelle Elemente in den Texten dieses Autors nachzuweisen. Am schwierigsten ist das bei Homer, von dem wir „nur die Werke und den Namen“ haben. Was nun einem Altertumswissenschaftler in dieser Situation bleibt, ist nach „Auswüchse[n] und verbogenen Linien“ zu suchen, mit anderen Worten das „Matte oder Masslose“ der Tradition zuzuschreiben und „eine nach subjektiver Geschmacksrichtung ausgewählte Reihe besonders schöner und hervortretender Stellen“ als das Individuell-Homerische zu erklären (KGW II 1.263). Homers Name habe also „von Anfang an weder zu dem Begriff ästhetischer Vollkommenheit, noch auch zu Ilias und Odyssee eine notwendige Beziehung. Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Überlieferung, sondern ein ä s t h e t i s c h e s U r t h e i l “ (KGW II

 Mehr dazu in Latacz 1994, S. 73.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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1.263).⁸⁸ Außerdem glauben wir, so Nietzsche, „an den einen großen Dichter von Ilias und Odyssee – d o c h n i c h t a n H o m e r a l s d i e s e n D i c h t e r.“ Homer bezeichnet in diesem Sinn nur „eine stoffliche Singularität“ (KGW II 1.266), und zwar jene, die sich während der späteren Entwicklung „des griechischen Schönheitsgefühls“ oder, anders ausgedrückt, im „ästhetischen Ausscheidungsprozess“ der späten archaischen Zeit (angefangen mit Peisistratos) und der klassischen Zeit entwickelte. Der zuerst stofflich begrenzte und primär mit den Texten der Ilias und der Odyssee in Verbindung gestellte Name Homers wurde allmählich auch ästhetisch eingeschränkt, indem er zum „Vater der Dichtkunst überhaupt und zugleich ihrem unerreichbaren Prototyp“ erklärt wurde (KGW II 1.264). Diese implizit gegen die philologische Deutung der homerischen Frage gerichtete These über den ästhetisch-perspektivischen Charakter von Homers Person ist ein Vorspiel zu späteren philosophischen Überlegungen Nietzsches zur Entwicklung und Transformation der Idee des Persönlichen in der griechischen Kultur und der christlichen Tradition. Die Kritik, die Nietzsche am Anfang dieser Passage gegen die allzu oft nach eigenem Geschmack der jeweiligen Homerforscher erfolgende Zerteilung von Ilias und Odyssee richtet, ist beißend wie treffend zugleich (etwa in Bezug auf den Ansatz Lachmanns), auch wenn er keine Namen nennt. Andererseits stellt er die Situation in der Homerforschung in einer höchst vereinfachten Form dar: Er übergeht Schlüsselfragen wie die nach der Zeit der Textentstehung, der Beziehung zwischen unterschiedlichen Textfassungen sowie den internen faktischen Widersprüchen, die unabhängig vom ästhetischen Geschmack des jeweiligen Homerphilologen entdeckt werden können. Die Art und Weise der philologischen „Entdeckung“ der Textteile, die unterschiedlichen Autoren zuzuschreiben seien, war oft nicht gut begründet. Damit wird die Ursache für die Popularität des analytischen Ansatzes jedoch nicht beseitigt, denn es geht nicht nur um Epitheta, die im Vergleich zu anderen unschön wirken, sondern um die Folgerichtigkeit der dargestellten Ereignisse sowie der Charakterisierung der handelnden Personen. Nietzsches eigenes metaphorisches Bild der Ilias und der Odyssee ist das von einem „Blumengewinde“, also eines während einer späteren Periode aus vielen eigenständigen poetischen Werken zusammengesetzten Texts (KGW II 1.265). Auf die Frage, ob die eigentliche Zusammensetzung unter Peisistratos oder zu einem anderen Zeitpunkt stattfand, geht er nicht ein. Die Möglichkeit, eine ursprüngliche Textfassung mit philologischen Mitteln zu rekonstruieren, hinterfragt Nietzsche hingegen explizit, weil er zwischen der instinktiven Periode der mündlichen Dichtung und der späteren Zeit der „bewusste[n] aesthetische[n] Einsicht“, in der die mündlichen Lieder zu ei-

 Vgl. die Charakteristik von Homers Epen in Friedrich Schlegels „Geschichte der Poesie der Griechen und Roemer“ (abgedruckt in Schlegel 1846, S. 61): „Kein Dichter hat mehr Bewunderer, Beurtheiler und Erklärer gefunden, als Homeros.Wie aber die Gefahr des Kranken mit der Zahl der Ärzte, so pflegt auch die Unverständlichkeit eines Gegenstandes mit der Menge der Erklärer zu wachsen. Und doch darf man die Untersuchung über das Kunsturtheil der Alten von der homerischen Poesie durchaus nicht umgehn.“

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

nem Ganzen „komponiert“ wurden, rigoros unterscheidet (KGW II 1.265). Insofern beantwortet er auch die bis heute kontroverse Frage nach der Existenz eines ursprünglichen Textplans für beide Epen negativ und erklärt einen solchen Plan zum „jüngste[n] Produkt“, das „weit jünger als die Berühmtheit Homers“ sei (KGW II 1.265). Der mythologische Name von Homer sollte ursprünglich die ganze Reihe an mündlichen Werken der epischen Heroendichtung symbolisieren, sodass auch „jener wunderbarste Genius, dem wir Ilias und Odyssee verdanken“, „seinen Namen auf dem Altare“ Homers opfern sollte. Auf die naheliegende Frage, ob dieser „Genius“ einen einzigen Autor oder eine Vielheit von Dichtern repräsentiert, liefert Nietzsche seinen Zuhörern und Lesern keine klare Antwort. Es ist evident, dass Nietzsche in Homer und die klassische Philologie ein nur scheinbar rein philologisches Problem nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – vom Standpunkt eines akademischen Philologen, etwa mit Hilfe der textkritischen Methode Ritschls, sondern vor allem in einer philosophischen und psychologischen Optik betrachtet. Er sucht die klassische Philologie zu verteidigen⁸⁹ und demonstriert so ihren Mangel an Reflexion über eigene methodologische Grundlagen.⁹⁰ Wenn Nietzsche am Ende sagt, dass „alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt […] von einer philosophischen Weltanschauung“ sein soll (KGW II 1.268), klingt das wie eine Herausforderung an eine konservative Wissenschaft wie die klassische Philologie seiner Zeit. Auch deswegen ist das eingangs formulierte Ziel, die klassische Philologie den altertümlichen Idealen näher zu bringen, keinesfalls erreicht. Nirgendwo erklärt Nietzsche im Detail, wie der von ihm skizzenhaft beschriebene, methodologisch heterogene Ansatz dieser Disziplin eigentlich funktioniert und warum gerade die angedeutete Verbindung von drei unterschiedlichen Perspektiven notwendig ist, um eine goldene Mitte zwischen kritischer Gleichgültigkeit und sklavenhaftem Epigonentum, zwischen historisch-kultureller Ignoranz und blinder Verehrung zu finden. In der engeren Perspektive der Homerfrage ist Nietzsches Stellung zweideutig: Weder ist er ganz auf der Seite der antiwolfschen literarisch-ästhetischen Kritik Goethes und Schillers⁹¹ noch unterstützt er Wolfs Nachfolger, seien es Ritschl oder andere Homeranalytiker.⁹² Nietzsche greift in seiner Vorlesung die Methodologie von Wolfs Homeruntersuchungen an, positioniert sich dennoch nicht eindeutig als sein Gegner, sondern als Kritiker bestimmter Formen der wolfschen Homerinterpretation.

 Zum apologetischen Charakter von Nietzsches Antrittsrede s. Lachterman 1991, S. 24– 25. Vgl. die These, dass wir auch in späteren Schriften Nietzsches eine Apologie der Altertumswissenschaften finden können, in Santini 2018, S. 672– 681.  S. auch Schröter 1982, S. 24.  Vgl. KGW II 1.267: „Erstens nämlich waren jene ‚grossen‘ Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe.“  So beruht auch die in Benne 2005, S. 101, formulierte These auf einer reduktionistischen Vorstellung von Nietzsches Position in Bezug auf die Homerfrage.

1.4 Homer und die klassische Philologie

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Seine Kritik weist auf die Uneinigkeit zwischen Wolfs Nachfolgern hin, die u. a. durch den fragmentären Charakter von Wolfs Schlussfolgerungen verursacht wurde. Nietzsche bestreitet die wolfsche Kernthese nicht, dass der ursprüngliche Text der homerischen Epen mehrfach geändert wurde und in seiner präsenten Form nicht demjenigen Text entspricht, der in mündlicher Tradition der Griechen überliefert war.⁹³ Diese These steht in Einklang mit Nietzsches späterer Idee der Fremdheit der Griechen – als philologischer Beweis der Unmöglichkeit für moderne Menschen, die kulturelle Situation des vorplatonischen Griechenland im Detail zu verstehen. Genau aus diesem Grund ist Nietzsche skeptisch gegenüber den analytischen Versuchen, Homers Text mit chirurgischer Präzision zu zerteilen, um einen Urtext zu rekonstruieren.⁹⁴ Wie Wolf die Frage nach den zentralen Kriterien der Unterscheidung zwischen früheren und späteren Textstellen letztlich unbeantwortet lässt und nur vage Anmerkungen über die Methode der alexandrinischen Philologen und Homerherausgeber macht, gibt Nietzsche seinerseits keine Antwort auf die Frage, warum wir Homers Epen in ihrer Ganzheit als authentische Quellen über die religiöse, ethische und soziale Situation des archaischen, vorplatonischen Griechenlands betrachten sollen. Dank der Einführung eines neuen Persönlichkeitsbegriffs und angesichts seiner Kritik an der Methode der klassischen Philologie erreicht Nietzsche mit seiner Rede ein anderes, ein philosophisches Ziel.⁹⁵ Am Beispiel der flüchtigen, ihre Grenzen sogar in der altgriechischen kulturellen Rezeption ständig ändernden Person Homers gelingt es Nietzsche zu demonstrieren, dass Homer gerade als Fiktion und Maske für die griechische Kultur notwendig war. Es ist diese philosophisch neuformulierte homerische Frage, die von Nietzsche erfolgreich beantwortet wird, indem er Homer – angesichts des Mangels an sicheren biografischen Quellen und im Licht der philologischen Kontroversen um die möglichen Urfassungen der homerischen Epen – als ästhetisches Problem begreift. Seine Aufgabe ist also keine einheitliche Beschreibung von Homers Person, sondern die Demonstration ihrer vorbildlichen und zugleich einzigartigen kulturellen Rolle.⁹⁶ Die Zwischenergebnisse seiner Überlegungen dienen ihm später als Ausgangspunkt für seine Einschätzung der – nicht immer positiven – Einflüsse Homers auf die griechische Kultur.

 S. Wolf 1795, S. 162: „Habemus nunc Homerum in manibus, non qui viguit in ore Graecorum suorum, sed inde a Solonis temporibus usque ad haec Alexandria mutatum varie, interpolatum, castigatum et emendatum. Id e disiectis quibusdam indiciis iam dudum obscure colligebant homines docti et sollertes; nunc in unum coniunctae voces omnium temporum testantur, et loquitur historia.“  Dieselbe Position, in Bezug auf ähnliche Versuche der Rekonstruktion eines Urtexts, nimmt Nietzsche in seiner Rezension zu G. F. Schoemanns Ausgabe von Hesiods Theogonie ein: KGW II 1.367– 368.  Zu diesem Thema s. insb. Benne/Müller 2014, S. 20 – 22.  Vgl. dieselbe These in Benne/Müller 2014, S. 22.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

1.5 Certamen Homeri et Hesiodi Nietzsche beschäftigt sich nach seiner Antrittsrede eher wenig mit Homer. Diese Distanzierung, die offensichtlich nichts mit mangelndem Interesse für Homers Epen zu tun hat, sondern sich sehr wahrscheinlich durch den Überfluss an Homerstudien sowie durch Nietzsches Unwillen, am philologischen Streit zwischen Homerforschern teilzunehmen, erklären lässt, ist allerdings nicht vollständig: Eine besondere Ausnahme bilden seine Studien zu Certamen Homeri et Hesiodi, dem spätantiken pseudobiografischen Text, der aus der Zeit kurz nach Hadrians Tod (im 2. Jahrhundert n.Chr.) stammt und vom Wettkampf der zwei bedeutendsten Autoren des frühgriechischen Epos erzählt.⁹⁷ Die Geschichte von Nietzsches Beschäftigung mit Certamen beginnt Mitte der 1860er-Jahre. 1863 wird die handschriftliche Grundlage der von Henricus Stephanus im Jahre 1573 veröffentlichten ersten Ausgabe von Certamen durch den Philologen Valentin Rose in Florenz wiederentdeckt. Auf den Spuren der diesem Text folgenden Diskussionen wandelnd, hält Nietzsche im Juli 1867 in dem von ihm mitgegründeten Philologischen Verein der Universität Leipzig seinen Vortrag Sängerkrieg auf Euboea. In diesem Text, dessen Titel sehr wahrscheinlich eine Anspielung auf Wagners Tannhäuser ist,⁹⁸ stellt Nietzsche einen Überblick über die Struktur⁹⁹ und Geschichte von Certamen wie auch über seine möglichen Quellen, nämlich über den Museion des Rhetors Alkidamas (aus dem 4. Jahrhundert v.Chr.), dar.¹⁰⁰ Sein Ziel ist es, die damals herrschende Meinung, Certamen sei eine Erfindung der alexandrinischen Grammatiker, zu widerlegen und den historischen Kern der Geschichte zu finden. Die Hauptthesen von Nietzsches Vortrag werden in seinem aus fünf Kapiteln bestehenden und in zwei Teilen veröffentlichten Artikel Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf weiterentwickelt. Nach einer Beschreibung der Vorlagen der florentinischen Handschrift, die den Text enthält, geht Nietzsche zu Inhalt und Form von Certamen über sowie zur Analyse der

 Gemäß der Entscheidung des Richters Paneides endet der Wettkampf mit dem Sieg von Hesiod, obwohl die Sympathien des Publikums auf der Seite Homers liegen.  Vgl. Vogt 1962, S. 105.  Certamen hat eine dreiteilige Struktur. Nach einer knappen Rekapitulation mehrerer Biografien Homers und Hesiods folgt die eigentliche Erzählung über den Wettkampf. Danach findet sich noch ein biografischer Teil über das weitere Leben von Hesiod und Homer. Laut dem Text von Certamen findet der dichterische Wettstreit nach der Entstehung der Ilias, aber vor der Entstehung der Odyssee statt.  Für eine detailliertere Beschreibung von Nietzsches Beschäftigung mit dem Certamen s.Vogt 1962 sowie Latacz 2014, S. 12– 19. Vgl. auch Nietzsches Briefwechsel mit Rohde (z. B. an Rohde: 8.10.1868, 20.11.68, 9.12.68, 16.06.69, 7.10.69 und 23.11.70; von Rohde: 14.11.68, 20.12.68 und 5.11.69) und mit Friedrich Ritschl (an Ritschl: 17.02.68 und 28.03.69). Während seines Aufenthaltes in Florenz erstellte Rohde, auf Nietzsches Bitte, die notwendige Kollation des Texts von Certamen anhand der Miszellanhandschrift Laurentianus 56,1. Die Ergebnisse dieser Kollation hat Nietzsche seiner Ausgabe von 1871 zugrunde gelegt.

1.5 Certamen Homeri et Hesiodi

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Rolle von Alkidamas als „Urheber der Form des Wettkampfes“.¹⁰¹ Die den zweiten Teil des Artikels konstituierenden Kapitel 3 bis 5 sind dem Zusammenhang zwischen Certamen und dem Text von Alkidamas sowie der Überlieferung des Texts gewidmet. Hier stellt Nietzsche wie schon im früheren Vortrag fest, „dass der Verfasser des sogenannten Certamen das Hauptstück des Ganzen, jene in sich zusammenhängende Erzählung vom eigentlichen Wettkampfe, an dessen Erfolg sich die weiteren Schicksale Hesiods und Homers anlehnen, aus dem Museum des Rhetors Alkidamas entnommen [hat]“ (KGW II 1.288). Abgesehen von der Wiederentdeckung der Handschrift von Certamen könnte Nietzsches Interesse durch zwei weitere Faktoren verursacht worden sein: Eine wichtige Anregung sollten die bei Stobaios¹⁰² aus dem Certamen mit Verweis auf Alkidamas’ Museion zitierten Verse gewesen sein.¹⁰³ Sie untermauern Nietzsches Argumentation im dritten, dem Museion gewidmeten Kapitel seines Artikels und berichten davon, wie Homer auf eine Frage Hesiods antwortet und das Nie-geboren-Sein für das Beste erklärt: ἀρχὴν μὲν μὴ φῦναι ἐπιχθονίοισιν ἄριστον, φύντα δ᾽ ὅπως ὤκιστα πύλας ᾽Αίδαο περῆσαι.¹⁰⁴

Diese Aussage,¹⁰⁵ die Nietzsche in der Geburt der Tragödie in der Rede des Dämons vor König Midas¹⁰⁶ sowie in Also sprach Zarathustra, diesmal in Form eines Ratschlags für die „Überflüssigen“,¹⁰⁷ wiederholt, gibt ihm den ersten Impuls für seine philosophische Untersuchung des griechischen Pessimismus. Allerdings ist die für Die Geburt der Tragödie zentrale Opposition des entzückungsfreien Daseins der olympischen Götter und der schmerzhaften Existenz der Menschen noch nicht präsent in seiner Certamen Die Biografien geben uns unterschiedliche Informationen zu Zeitpunkt und Ort von Homers und Hesiods Geburt, sodass alle drei Möglichkeiten nebeneinander erwähnt sind: 1) dass Homer älter als Hesiod war, 2) dass Homer jünger als Hesiod war und 3) dass beide Zeitgenossen sind. Die letzte Variante dient als Grundlage für die Erzählung über den Wettkampf von zwei Dichtern, die die besten Teile aus ihren berühmtesten Werken zitieren sollen.  Anthologium, IV, 52b, 22.  Vgl. dazu Vogt 1962, S. 106.  Certamen, 74– 75.  Zwar bezieht sich Nietzsche in seinen philosophischen Werken nicht auf die Version von Certamen, sondern – wohl nicht nur aus chronologischen Gründen, sondern auch, um einen deutlichen Bezug auf Dionysos zu nehmen – auf diejenige von Aristoteles: Es geht um das Fragment 44 (ed. Rose), das aus dem nicht vollständig erhaltenen Dialog Eudemos stammt. Vgl. die nächste Fußnote.  GT 3, KSA 1.35: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.“ S. auch den Kommentar zu dieser Stelle: von Reibnitz 1992, S. 127– 133.  Za I, Vom freien Tode, KSA 4.93: „Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: „stirb zur rechten Zeit!“ / Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra. / Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen.“

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

Schrift: Hier geht es um die philologische Analyse der Reihenfolge der Aussagen über das Leben und die menschliche Geburt sowie um die Parallele zu Theognis¹⁰⁸ und Sophokles¹⁰⁹ – als Grundlage des Alkidamas-Arguments. Der zweite, näherliegende Grund für Nietzsches Interesse an Certamen ist der Wettkampf, die „ausserordentliche Uebung der Griechen in sympotischen Wettkämpfen und Räthselreden aller Art“ (KGW II 1.334). Laut Nietzsche lässt sich der Certamen als Erinnerung „an Rhapsodenwettkämpfe, sympotische Räthselspiele und die frühesten homerischen Studien“ interpretieren (KGW II 1.337). Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus plausibel, von einer thematischen Kontinuität zwischen der Certamen-Studie, Homer’s Wettkampf und der Geburt der Tragödie zu sprechen. Zwischen den Zeitpunkten der Publikation des ersten und des zweiten Teils von Nietzsches Artikel erscheint seine Ausgabe von Certamen, die zugleich die erste kritische Edition dieses Texts und die zweite Textausgabe nach der Stephanus-Ausgabe von 1573 überhaupt ist. Nachdem Nietzsche v. a. die Genese der Stephanus-Edition sorgfältig rekonstruiert und eine Unterscheidung zwischen dem Text des florentinischen Manuskripts, der von Stephanus vorbereiteten handschriftlichen Kopie und dem Text der eigentlichen ersten Ausgabe („editio princeps“) einführt, präsentiert er auch die spätere Geschichte des Texts einschließlich neuer philologischer Konjekturen und Korrekturen, die er sorgfältig kommentiert und in mehreren Fällen scharf kritisiert.¹¹⁰ In den Ausgaben, die im 20. Jahrhundert folgten, insbesondere in denjenigen von Thomas W. Allen und Martin L. West, wurden einige kritische Bemerkungen Nietzsches berücksichtigt.¹¹¹ Zu Nietzsches Lebzeiten haben die Ergebnisse seiner Analysen allerdings wenig Anklang gefunden. Einen deutlichen Nachweis dieser Skepsis liefert die scharfe Reaktion von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: In seiner viel später geschriebenen Monografie Die Ilias und Homer (1916) weist er, wenn auch ohne direkten Bezug auf Nietzsche, die Alkidamas-Hypothese als „windig“ zurück.¹¹² Erst ab den 1920er-Jahren wurden Nietzsches Argumente von den klassischen Philologen allmählich akzeptiert. Der entscheidende Schritt auf diesem Weg war die Erschließung von drei Papyrusfragmenten,¹¹³ die die Verbindung zwischen Certamen und dem Werk von Alkidamas belegt haben.¹¹⁴ Diese Befunde haben dazu beigetragen, dass der bahnbrechende

 V.425 – 428.  Oedipus Coloneus, 1224– 1228.  Vgl. konkrete Beispiele in Latacz 2014, S. 15 – 17.  S. den kritischen Apparat in beiden Ausgaben: ed. Allen (1946), 226.236; ed. West (2003), 322.330.342.346 – 347.  von Wilamowitz-Moellendorff 1916, S. 401.  Das erste und das zweite stammen aus dem 3. und aus dem 2. Jahrhundert v.Chr.Vgl. Mahaffy 1891 und Mandilaras 1992, S. 55 – 62. Das dritte Fragment (2.–3. Jahrhundert n.Chr.) wurde als Endteil von Alkidamasʼ Schrift über Homer identifiziert: vgl. Winter 1925, S. 120 – 129.  Vgl. den Kommentar von John Petland Mahaffy in seiner Edition des Fragments von Alkidamas’ Museion (Mahaffy 1891, S. 72): „The text here recovered proves to demonstration that the Contest was not an invention of Hadrian’s age, but existed in much the same form four hundred years earlier. Its

1.6 Homer und die Geschichte der griechischen Literatur

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Charakter von Nietzsches Arbeit an der Erschließung der ursprünglichen Quelle von Certamen in den letzten Jahrzehnten selten in Frage gestellt wurde.¹¹⁵ Seine Beschäftigung mit Certamen hatte auch einen philosophischen Widerhall in seinen eigenen Werken dieser Periode. Die Untersuchung der strukturellen Rolle des Wettkampfs in der griechischen Kultur wird in der Geburt der Tragödie sowie in Homer’s Wettkampf weitergeführt und mit der Opposition apollinisch–dionysisch in Verbindung gestellt. Noch später taucht das Thema des Wettkampfs zwischen Homer und anderen Autoren auf, als Nietzsche die Gründe des Niedergangs der griechischen Kultur – und der kulturellen Décadence überhaupt – analysiert.

1.6 Homer und die Geschichte der griechischen Literatur In den Vorlesungen von 1874/75 kehrt Nietzsche zurück zur Frage nach Homers Rolle in der antiken Literaturtradition.¹¹⁶ Das Material dieses Kurses ist nicht nur chronologisch, sondern auch nach den Gattungen geordnet, sodass die Betrachtung der Ilias und der Odyssee den Anfang des fünften und epischen Teils markiert. Während die Baseler Rede über Homer einerseits an die Wissenschaftler und andererseits an denjenigen Teil des nicht-akademischen Publikums, der sich für die Antike lebhaft interessierte, gerichtet war und eine kritische Betrachtung der Methode und der möglichen Zukunft der klassischen Philologie darstellte, weisen die Vorlesungen einen Ansatz auf, der eher der traditionellen Methode gleicht, was angesichts ihrer Zielgruppe und didaktischen Aufgabe durchaus verständlich ist. Die Vorlesungen enthalten drei Schlüsselthesen, die Nietzsches Denken zu dieser Periode prägen und in späteren Schriften weiterentwickelt werden. Die erste These besagt, dass die homerischen Epen nicht als „mechanisches Aggregat“ (KGW II 5.40 – 41) von unterschiedlichen Fassungen bzw. kleineren Epen, sondern als „künstlerische Einheit“ zu verstehen sind (KGW II 5.37). Diese Einheit soll nach Nietzsche „keine dramatische“ sein und ist auch mit der Einheit des Grundgedankens nicht zu verwechseln (KGW II 5.37).¹¹⁷ Vielmehr geht es um einen „k ü n s t l e r i s c h e n Plan“, der sich „in der Begrenzung des Stoffs durch das Interesse u[nd] die Stimmung für e i n e n Helden und zwar in Hinsicht auf die B e g e b e n h e i t , die für den Helden e n t s c h e i d e n d ist“ (KGW II 5.38), zeigt. Zur Begründung dieses Arguments führt Nietzsche das Beispiel Odysseus an: Sowohl in der Odyssee als auch in der Kleinen Ilias ist er die Hauptfigur. Der Unterschied besteht darin, dass seine Hand-

occurrence among the Fayyum papyri, where classical fragments are not very numerous, points to a widespread popularity. So far, then, the theory of Nietzsche has received the most brilliant confirmation.“  Vgl. hingegen Heldmann 1982, S. 36 und passim, der Nietzsches Position kritisiert.  Für einen guten Überblick über die gesamte Vorlesung s. von Reibnitz 1994.  In diesem Kontext wird die Position von Nitzsch und Bäumlein kritisiert. Die Passage ist ein indirektes Zitat aus Nutzhorn 1869, S. 193.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

lungen und Umstände, die in der Odyssee beschrieben werden, beim Publikum Mitleid und emotionale Spannung erregen sollten, die bis zum letzten Buch besteht, während in der Kleinen Ilias sein Schicksal nicht mit dem eigentlichen Gegenstand der Erzählung, der Eroberung Trojas, zusammenfällt und – im Gegensatz zu anderen Helden, deren Schicksale, laut Aristarch, später in den Tragödien widergespiegelt wurden – keinen tragischen Unterton hat. Nietzsches Beispiel ist freilich nicht ganz unproblematisch: Es lässt sich etwa erwidern, dass Odysseus nur eine der zentralen Figuren der Kleinen Ilias ist. Dennoch ist bemerkenswert, dass sich Nietzsches Interesse für Odysseus, das später in Menschliches, Allzumenschliches und insbesondere in Also sprach Zarathustra zum Ausdruck kommt, bereits im philologischen Kontext seiner Vorlesungen bemerkbar macht. Auf der philologischen Ebene ist Nietzsches Einheitsargument dicht an der Position der Unitaristen verortet. Allerdings richtet sich seine Kritik gerade gegen die Vertreter dieser Schule, in erster Linie gegen Nitzsch: Laut ihm solle der „Kern“ der Odyssee in der „Warnung vor frevelhafter Geringschätzung des göttlichen Zorns“ bestehen (KGW II 5.38). Das in der Vorlesung angeführte Zitat mit der Darstellung von Nitzschs These stammt aus der Monografie von Frederik Nutzhorn, der scharfe Kritik an der Willkürlichkeit von Nitzschs Interpretation übt.¹¹⁸ Nutzhorns Position sollte für Nietzsche auch deswegen einen positiven Orientierungspunkt bieten, weil dieser die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der homerischen Epen und die „Phantasie des Dichters“, die „eine üppige Kraft des Schaffens“ voraussetzt, hervorhebt.¹¹⁹ Einen weiteren Verbündeten findet Nietzsche, wie schon in seiner Baseler Antrittsrede, in Goethe,¹²⁰ also außerhalb des akademischen Kreises der Altertumswissenschaftler. Schließlich kann er sich noch auf Aristoteles berufen, wenn auch nur indirekt, weil Nutzhorn Aristoteles’ Meinung über die organische Einheit von Homers Epen gerade an den Stellen erwähnt, auf die sich Nietzsche bezieht. Der zweite zentrale Punkt, der sich aus dem ersten herleiten und mit Nietzsches Kritik an Wolf verbinden lässt, ist die Wichtigkeit des historischen bzw. diachronischen Ansatzes in der Abschätzung der Rolle und Struktur der homerischen Epen. Nietzsche charakterisiert ihre Entstehung als „Abschluss einer langen Entwicklung der Epopöe unter gleichartigen politisch-sozialen Beziehungen; nicht der Anfang, sondern das Ende“ (KGW II 5.41– 42).¹²¹ Dabei unterscheidet er zwischen der ältesten Periode der Epopöe, als die Dichter lange und einheitliche Epen „an den langen Abenden in des Königs Halle“ (KGW II 5.36) vortragen konnten, und der späteren Zeit der Rhapsoden, die nur „grössere Stücke [der Epen] vor Volksversammlungen“ vor-

 Nutzhorn 1869, S. 261.  KGW II 5.38.  Nietzsche verweist auf Goethe, während er von der künstlerischen Einheit in Ilias und Odyssee spricht: KGW II 5.37, n. 4.  Nietzsches Vorstellung der homerischen Epen als Ergebnis einer langen Tradition entspricht der Position von Burckhardt, der ebenfalls von einer vorhomerischen Tradition „von Sängern und Sängerschulen“ schreibt (s. den dritten Teil seiner Griechischen Cultursgeschichte: Burckhardt 2002, S. 59).

1.6 Homer und die Geschichte der griechischen Literatur

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trugen (KGW II 5.36). Die Schwierigkeit der homerischen Frage liegt, so Nietzsche, darin (KGW II 5.40), daß man in Beziehung auf Vortrag und Publikum verschiedene P e r i o d e n u n t e r s c h e i d e n muss: aber sie gar zu leicht z u s a m m e n w i r f t . Nur die älteste Periode entscheidet: für diese sind jene Epen verfasst, nicht für das Rhapsoden-Zeitalter, noch für das Lese-Epos. Der gewöhnl[iche] Fehler liegt darin, dass man die Geschichte aus einer falschen Zeit, der des Rhapsoden, entstehen lassen will; da erst entstehen alle die homerischen Probleme, vor allem das Wo l f i s c h e : „daß es kein Publikum gab, das ein so grosses planmäßig angelegtes Gedicht als Ganzes hätte fassen können“. „Ich kann mir nicht denken, wie es Homer einfallen könnte ein so langes und verschlungenes Gedicht zu verfassen, wenn er keine Leser hatte“. […] Also: wie kann einem Dichter nur e i n f a l l e n ein solches G a n z e zu construiren, wenn seine Zuhörer nur Stücke und Einzelheiten fassen können? Dies ist die Seele aller homerischen Bedenken: die Einheit ist v o n v o r n h e r e i n u n m ö g l i c h […].

Homerische Epen gehören laut Nietzsches Beschreibung ins Zeitalter der Größe und der Einheit. Die Gegenüberstellung der Dichtung für die Aristokratie einerseits und der für das breite Publikum andererseits lässt sich als Vorstufe von Nietzsches Thesen zum kulturellen Umbruch in Griechenland sowie zum Konflikt zwischen der aristokratischen und der nicht-aristokratischen Interpretation der Weltordnung, die eine Schlüsselrolle in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral haben, verstehen. Auch Nietzsches „archäologischer“ Ansatz, nämlich sein Streben, eine historische Schicht („Zeitalter“) nach der anderen zu untersuchen, bis man zur tiefsten Ebene kommt und den ursprünglichen Zustand sieht, wird später von Bedeutung sein. Im Kontext der Vorlesungen spielt die Opposition von Aristokratie und Volk sowie von großen bzw. einheitlichen und kleineren Epen jedoch nur eine begrenzte Rolle: Sie hilft ihm, seine Kritik an Wolfs Position zuzuspitzen. Implizit schließt sich Nietzsche den Homerforschern an, die einen einheitlichen Hintergrund voraussetzen, der für das ursprüngliche Publikum der homerischen Epen notwendig war und erst ihre ganzheitliche Wahrnehmung ermöglichte. Er trennt das Zeitalter des „Lese-Epos“ deutlich von der ältesten Periode und betont den mündlichen Charakter des homerischen Epos.¹²² Drittens nutzt Nietzsche den homerischen Teil der Vorlesung als Anlass zur Weiterentwicklung seiner Idee des Wettstreits und der Notwendigkeit von Oppositionen – im Kontext der Erklärung der Wirkung, die Homers Ilias auf das Publikum haben sollte (KGW II 5.43 – 44):

 Vgl. Nachlass 1875, 5[114], KGW IV 1.146: „Wie quälen sich die Philologen mit der Frage ab, ob Homer geschrieben habe, ohne den viel höheren Satz zu begreifen, daß die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte.“ S. auch von Reibnitz 1994 für eine Untersuchung von Nietzsches Konzept der voraristotelischen Literatur als Ereignis bzw. Inszenierung. Auf dieselbe These Nietzsches weist auch Enrico Müller (Müller 2005, S. 40, n. 115) hin.

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1 Nietzsches Homer und die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts

Der Epiker erzählt erst den unbedeutenden Anlass zum Zorn des Achill, interessirt uns dann immer mehr für das Schicksal der Achäer, bis zum Punkt, wo nur noch die Wahl zwischen dem Untergange ist u[nd] der Hülfe Achills. […] Erst durch dieses Gegengewicht der Sympathie spannt sich das Gewölbe des ganzen Epos aus […]. Denken wir uns, wir wären ohne tiefe Sympathie für die Achäer, und ebenfalls für Hector – was bliebe da für Achill? Die tragische Wirkung der Haupthelden kommt erst heraus durch die Größe der Neben- und Gegenspieler.

Der Wettkampf im homerischen Epos braucht mehrere Teilnehmer, die auf Augenhöhe sind und ähnliche Sympathien von Seiten des Publikums gewinnen: Erst so können Gleichgewicht und Spannung entstehen. Hier schlägt Nietzsche eine Brücke zwischen dem homerischen Epos und der Tragödie. Die durch den Wettkampf entstehende Gefahr für das Individuum hat eine tragische Färbung, sofern man die Tragödie vom Standpunkt des Dionysischen betrachtet. Die Tragweite und die Grenzen dieser These lassen sich jedoch erst im Rahmen einer Analyse von Homers Rolle in den früheren philosophischen Schriften Nietzsches, in erster Linie der Geburt der Tragödie, begreifen.

2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne Seit seiner Baseler Periode integriert Nietzsche Homer zusehends in seine philosophischen Schriften. Obwohl er sich gelegentlich auf die Tendenzen und Diskussionen der damaligen klassischen Philologie bezieht, hat er nicht die Absicht, einen Beitrag zur Homerforschung zu leisten. Homer wird in seinem Denken zum Eckstein der Idee des Apollinischen und des agonalen Schaffens. Andererseits tauchen Hinweise auf Homer auch dort auf, wo Nietzsche die Rolle der Griechen für die moderne Situation des 19. Jahrhunderts bewertet. Auf beiden Ebenen ist eine Zweideutigkeit erkennbar: Homer ist zugleich Anfang und Ende, Aufstieg und Niedergang, Nahes und Fremdes. Die Beschreibung, Analyse und Kritik der homerischen Epoche der griechischen Kultur erweist sich als Prüfstein für Nietzsches Denken in Oppositionen.

2.1 Homer in der griechischen Kultur 2.1.1 Der träumende Künstler In der Geburt der Tragödie stellt Nietzsche die vom philologisch-historischem Standpunkt nicht neue¹²³ und zugleich äußerst anfechtbare,¹²⁴ aus philosophischer Sicht jedoch höchst produktive Opposition apollinisch–dionysisch vor. Selbstverständlich ist Homer als erster bekannter griechischer (und abendländischer) Dichter zentrales Element dieser Konstellation. Er repräsentiert den Anfang des Apollinischen, das erste fragile Bauwerk der griechischen Archaik über den dunklen Abgründen der früheren Tradition.¹²⁵ In diesem Sinn ist das homerische Epos für Nietzsche die „Dichtung der olympischen Kultur, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat“ (GT 10, KSA 1.73).¹²⁶

 Für eine Vorgeschichte der Begriffe s. von Reibnitz 1992, S. 61– 64.  Man denke etwa an die dunklen Seiten von Apollon, die in seinem Wettkampf mit Marsyas zutage treten. Andererseits ist Dionysos nicht immer „dunkel“: Zum Beispiel wird er, laut verschiedener antiker Quellen, mit Mantik assoziiert (vgl. Plutarch, Symposiaka 7, 10, 2). Zu diesem Thema s. Ottmann 1999, S. 64– 65. Für eine ausführliche Kritik von Nietzsches Opposition s. Vogel 1966.  Eigentlich nennt Nietzsche in GT 4 vier kulturelle Perioden in Bezug auf die Rolle des Apollinischen und des Dionysischen: die vorapollinische Zeit („Titanenzeitalter“), die homerisch-apollinische Periode, die Zeit der „Volksgesänge“ (bzw. die dithyrambisch-dionysische Zeit) sowie die dorischapollinische Periode. In den späteren Kapiteln wird diese Einteilung nicht mehr genutzt und stattdessen ein zweiteiliges Schema vorgestellt, in dem die tragische Periode gleich nach der epischen kommt. S. dazu von Reibnitz 1992, S. 272. In einem früheren Nachlassfragment (Nachlass 1870/71, 7[174], KGW III 3.215) finden wir ein anderes Schema. Hier geht es um drei Stufen der „griechischen Heiterkeit“: „Homer als Triumph der olympischen Götter über die titanischen Graunmächte. Sophokles als der Triumph des tragischen Gedankens und Besiegung des aeschyleischen Dionysusdienstes. Das Johannesevangelium als Triumph der Mysterienseligkeit, der Heiligung.“  Vgl. Nachlass 1870/71, 7[174]. https://doi.org/10.1515/9783110751406-005

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

Für Nietzsche ist Homer zugleich ein Genie, dessen Epen den Anfang einer neuen kulturellen Epoche markieren, und ein typischer Grieche, dessen Fähigkeiten sich auf das ganze Volk erweitern lassen: Alle Griechen sind Homere, da die Entstehung der homerischen Epen als Symptom der kulturellen Änderungen sowie als Beispiel eines neuen Lebensverständnisses – nicht im Kontext des Bruchs mit der Tradition, sondern der graduellen Verfeinerung der ästhetischen Mittel der Reflexion – zu beurteilen ist.¹²⁷ Eine konkrete Bestätigung seiner romantisch geprägten Interpretation findet Nietzsche in der homerisch-apollinischen Fähigkeit zum Träumen (GT 2, KSA 1.31): Von den T r ä u m e n der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.¹²⁸

Nietzsches Argumente werden durch den impliziten Bezug auf Georg Friedrich Schlegels Beschreibung von Homer in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur bekräftigt:¹²⁹ Gleich Schlegel, der aus seiner Abneigung gegenüber populären Deutungen¹³⁰ von Wolfs Theorie kein Geheimnis machte und die positive Einschätzung der wolfschen Argumente bei seinem Bruder kritisierte, ist Nietzsche ein klarer Gegner der radikalanalytischen Entindividualisierung der homerischen Epen, deren letzte Folge in einer endlosen Zerteilung der Texte besteht. Schlegel und

 Vgl. von Reibnitz 1992, S. 95: Nietzsche nutze die „romantische Vorstellung des Künstlers als Repräsentanten der schöpferischen Begabung eines Volkes“.  Barbara von Reibnitz (1992, S. 95 – 96) weist auf Parallelen zu Jean Pauls Schrift Über das Träumen (1798) sowie zu Schopenhauers Versuch über das Geistersehn (1851) hin, in dem der Träumende ebenfalls mit Shakespeare verglichen wird.  Vgl. Nachlass 1869, 1[105], KGW II 3.36 – 37: „Ein Geist, der bei einer Mittagsmahlzeit erscheint, macht sich lächerlich. Schlegels glänzendes Bild: das homerische Epos ist in der Poesie was die halberhobene Arbeit in der Skulptur, die Tragödie was die freistehende Gruppe. – Das Basrelief ist gränzenlos, es läßt sich vor- und rückwärts weiter fortsetzen, weswegen die Alten auch am liebsten Gegenstände dazu gewählt, die sich ins Unbestimmbare ausdehnen lassen, als Opferzüge, Tänze, Reihen von Kämpfen usw. Deshalb haben sie auch an runden Flächen als an Vasen, am Fries einer Rotunde, Basreliefs angebracht, wo uns die beiden Enden durch die Krümmung entrückt werden und so, wie wir uns fortbewegen, eines erscheint und das andre verschwindet. Die Lesung der homerischen Gesänge gleicht gar sehr einem solchen Herumgehen, indem sie uns immer bei dem Vorliegenden festhalten und das Vorhergehende und Nachfolgende verschwinden lassen.“ Mehr zu dieser Anspielung auf Schlegel s. in Schmidt 2012, S. 126. Zu Nietzsche und Schlegel im Allgemeinen s. v. a. Behler 1983, S. 335 – 354.  Mehr zu Schlegels Kritik an Wolf s. in Markner 2004, S. 199 – 216.

2.1 Homer in der griechischen Kultur

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Nietzsche kommen dem Grundimpuls der wolfschen Analyse sehr nah, weil beide betonen, dass das Bild von Homer als Genie erst durch die relativ späten ästhetischen Urteile der klassischen Epoche entsteht. Der wichtigste Gegensatz zu Wolf besteht darin, dass, so Schlegel und (implizit) auch Nietzsche, das Gefühl der Gesamtheit und Notwendigkeit, das bereits beim frühesten Publikum der homerischen Epen aufkommt, der Kunst des homerischen Genies zu verdanken ist. Nietzsches Verständnis von Homer als Typus eines apollinischen bzw. träumenden Künstlers¹³¹ setzt voraus, dass homerische Epen ein überzeugendes „Illusionsnetz“ schaffen,¹³² das bei den Zuhörern keinerlei Zweifel aufkommen lässt. Die Argumentation zielt letztendlich auf die Begründung der inneren Konsistenz der Charaktere sowie des Weltbilds von Ilias und Odyssee und nimmt die antianalytische und antimechanistische Stellung der modernen Homerforscher vorweg, sowohl vom Standpunkt der Oral-Poetry-Forschung als auch aus der Perspektive der Neoanalyse. Als typisch apollinische Figur der griechischen Archaik steht Homer nicht allein da: Sowohl in seinen kleinen Schriften von 1869 bis 1871 als auch im Nachlass derselben Zeit rechnet Nietzsche die sieben Weisen (Thales, Pittakos, Bias, Solon, Kleobulos, Myson und Chilon) zu den bedeutendsten Repräsentanten des Typus des apollinischen Genies.¹³³ Während Homer, so Nietzsche, erst in der späteren Rezeption,¹³⁴ also retrospektiv, zum Genie gemacht wird, erkennen sich die sieben Weisen bereits durch ihre Zeitgenossen und v. a. gegenseitig als solche. Der Frage, ob diese apollinischen „Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Ärzte“ sich von Homer auch in anderer Hinsicht unterscheiden, geht Nietzsche nicht explizit nach. Aus seinen zerstreuten Thesen aus der Zeit der Entstehung der Geburt der Tragödie können wird allerdings schließen, dass er den sieben Weisen, im Unterschied zu Homer, eine politische Rolle zuschreibt, die sich in ihrer Teilnahme an der Entstehung des griechischen Staates bzw. der Staatsordnung als höchste apollinische Erscheinungsform manifestiert.¹³⁵

 Vgl. GT 5.  Vgl. Nachlass 1870, 6[3], KGW III 3.136: „Der Genius hat die Kraft, die Welt mit einem neuen Illusionsnetze zu umhängen: die Erziehung zum Genius heißt das Illusionsnetz n o t h w e n d i g zu machen, durch eifrige Betrachtung des Widerspruchs. […] Die Einwirkung des Genius ist gewöhnlich, daß ein neues Illusionsnetz über eine Masse geschlungen wird, unter dem sie leben kann. Dies ist die magische Einwirkung des Genius auf die untergeordneten Stufen. Zugleich aber giebt es eine aufsteigende Linie zum Genius: diese zerreißt immer die vorhandenen Netze, bis endlich im erreichten Genius ein höheres Kunstziel erreicht wird.“  Vgl. Nachlass 1870/72, 8[5], KGW III 3.230: „Den allgemeinsten Typus des apollinischen Genius zeigt jene kleine Schaar, die sieben We i s e n . Diese Genien bestätigen sich gegenseitig: sie sind Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Ärzte. Es ist das sechste Jahrhundert, in dem sich, nach einem äußerlichen Friedensschlusse und unter der gegenseitigen Berührung, beide Principien selbstgenügsamer ausschließlicher und vollkommener als je entwickeln: in diesem Zeitraum bildet sich auch der Typus des Genius aus.“  Vgl. oben Nietzsches These, dass die Idee des Genies sich erst ab dem 6. Jahrhundert entwickelt.  Vgl. KGW III 3.232– 334.

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

Nietzsche zählt Homer zusammen mit dem apollinisch-dionysischen Lyriker Archilochus zu den Urvätern und „Fackelträger[n] der griechischen Dichtung“ (GT 5, KSA 1.42).¹³⁶ Seine Werke, die die Essenz der griechischen Kultur ausmachen,¹³⁷ markieren den Beginn der apollinischen Tradition: die olympische Götterordnung, die das Ende des chaotischen Zustands, des totalen, ungeregelten Kampfs ums Überleben besiegelt. Nietzsches Erklärung der Notwendigkeit der olympischen Götter hat eine deutlich psychologische Richtung: Die neue „olympische Götterordnung der Freude“ sollte den Griechen helfen, den Schrecken ihres Lebens zu ertragen. Die Angst vor „der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens“ wird durch die Bejahung der neuen Form des Daseins „unter dem hellen Sonnenscheine“ der neuen Götter überwunden (GT 3, KSA 1.36). So entsteht eine Spannung zwischen dem Chaotischen, das mit dem Leiden assoziiert wird, und dem olympischen Bereich der ewigen Freude.¹³⁸ Das ursprüngliche menschliche Misstrauen gegen alle Götter wandelt sich in die schmerzhafte, silenische¹³⁹ Angst vor dem Sterben und bevorstehenden Verweilen in der Dunkelheit des Hades (Nachlass 1870/71, 7[123], KGW III 3.185): Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche S c h m e r z der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, „das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben.“¹⁴⁰

Mit seiner Aussage von der Flüchtigkeit des Lebens spielt Nietzsche auf die berühmte Stelle der Odyssee an,¹⁴¹ an der Achills Schatten sein eigenes Schicksal beklagt und die Überlegenheit des irdischen Lebens eines schlichten Bauern im Vergleich zum Verweilen des verstorbenen Helden im Hades (und zugleich zu seinem postumen Ruf

 Zur Rolle von Archilochus in GT vgl. Silk/Stern, 1981, S. 151– 155, sowie Babich 2019, S. 85 – 114.  Vgl. Nachlass 1872/73, 19[278], KGW III 4.94: „Der feste Punkt, um den sich das griechische Volk krystallisirt, ist seine Sprache. / Der feste Punkt, an dem seine Kultur sich krystallisirt, ist Homer.“  Vgl. Nachlass 1870/71, 7[123], KGW III 3.185: „Aus dem Lächeln des Phanes sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen geschaffen.“  S. GT 3, KSA 1.36: „Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche S c h m e r z der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, ,das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben.‘“  Die Verbindung zu Certamen, 74– 75, ist evident. Nietzsches Beschäftigung mit diesem Werk fällt in den Zeitraum seiner Arbeit an GT.  S. wiederum GT 3, KSA 1.36 – 37: „Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der ‚Wille‘ nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.“

2.1 Homer in der griechischen Kultur

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auf der Erde) feststellt.¹⁴² Sterben bedeutet den Verlust der Individualität: Der Verstorbene existiert nur als Schatten in der Unterwelt, als Wesen ohne Erinnerungen, das ziellos unter anderen Toten wandert. Die homerische Beschreibung des Lebens und der postumen Existenz von Achill repräsentiert den Konflikt zwischen dem apollinischen Optimismus und dem dionysischen Pessimismus. Die alte („urdionysische“) und die neue, apollinische Schicht der homerischen Epen repräsentieren gegensätzliche Vorstellungen vom Leben und Sterben, die Nietzsche explizit erklärt: Anstatt sich einen frühen Tod als Rettung vom Leiden des Lebens zu wünschen, strebt der homerische Mensch nach einem längeren Leben, auch wenn es ihm Elend und Leiden bereiten kann. Diese Weltvorstellung, die die Richtung von Nietzsches philosophischem Interesse für Homer wesentlich bestimmte, steht im scharfen Gegensatz zu Schopenhauers „Schuld des Daseyns“, die sich im Wunsch realisiert, aus dem Leben zu scheiden, d. h. in der Verneinung des Willens zum Leben.¹⁴³ Die bereits in den ersten Paragrafen der Geburt der Tragödie festgestellte Komplexität der homerischen Spannungen zwischen Individuation und Ganzheit, Grenze und Unbegrenztem, Höhe und Tiefe, Licht und Dunkelheit, Heiterkeit und Leiden treibt Nietzsche zu einer scharfen Kritik an der textkritischen These von Homers Naivität. Diese These, die insbesondere von den Denkern der Aufklärung positiv beurteilt wurde, diente manchen Philologen des 18. und 19. Jahrhunderts zur Erklärung der vermeintlichen Inkonsistenz der homerischen Werke: Die Fehler des Autors sollten seine „Menschlichkeit“ und seine Ungeschicktheit in komplexen Fragen der Poetik bestätigen.¹⁴⁴ Doch in Nietzsches Augen sehen Homers Epen gerade nicht wie Werke eines naiven Künstlers aus (GT 3, KSA 1.37):¹⁴⁵

 Od.XI.488 – 491: „Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus. / Lieber möchte’ ich fürwahr dem unbegüterten Meier, / Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, / Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen“ (übers. von J. H. Voß).  S.WWV I, 300 und passim. Zu den Parallelen zwischen der Besprechung dieses Themas in GT und WWV sowie zu antiken Quellen Schopenhauers s. insb. Daniels 2014, S. 145 – 147.  Vgl. bereits Herders scharfe Kritik an diesem Argument in Über einige Klotzische Schriften, 148: „Am unrechten Orte steht die Betrachtung, daß Homer ein Mensch sey, Fehler habe, daß die Fehler der größesten Genies, eines Homer und Shakespear, ihrer Größe nichts benehmen, u.s.w. Für unsern Zweck wäre die Betrachtung gewesen: ob Homers Fehler, (als griechischer Dichter seiner Zeit, und nicht als Mensch betrachtet,) von uns, und zu allererst von uns eingesehen, und Diktatorisch beurtheilt werden können?“  Das Thema der Naivität Homers ist ein relativ alter Topos der Altertumsforschung: Sie taucht bereits in Pierre Bayles Artikel über Nausikaa im dritten Band von Dictionnaire historique et critique (1696) auf. Ein bekannter Meilenstein in der Entwicklung dieses Themas ist Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). Laut Schiller ist ein typischer Grieche „einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit“. Homer wird von Schiller als naiver (nicht-sentimentalischer) Künstler, der mit seinem Werk eins ist, bezeichnet. Während Bayle Homer vom Standpunkt der zeitgenössischen Kunst kritisiert, sieht Schiller Homers Naivität im positiven Licht – als eine Erscheinungsform der griechischen Gesundheit, die den modernen Menschen nicht mehr zugänglich ist: „Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. […] Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.“ Zu Nietzsches Auffassung von Schillers Opposition s. von

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das ‚Naive‘ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss. Ach, wie selten wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb H o m e r , der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische ‚Naivetät‘ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet.

Die Höhe und Schönheit der hellen Gestalten, die mit Hilfe der apollinischen Illusion geschaffen werden, kontrastieren mit der Tiefe¹⁴⁶ und Dunkelheit des mythologischen Materials, das seinerseits für das Werk eines epischen Künstlers absolut notwendig ist. Das apollinische Streben zur Eindeutigkeit lässt Homers Epen – im Gegensatz zum mehrdeutigen und biegsamen¹⁴⁷ Mythos – naiv erscheinen. Der starke Eindruck dieser Naivität wird von Nietzsche als Symptom der Meisterschaft des Künstlers interpretiert, der die Macht des Mythos besiegt hat¹⁴⁸ und sie den eigenen Zwecken anpassen kann. Doch bedeutet die Entstehung der homerischen Epen, dieser Meisterwerke „der apollinischen Illusion“, tatsächlich ihren „vollkommene[n] Sieg“? Nietzsches Aussagen in der Geburt der Tragödie sowie im Nachlass dieser Zeit, die sich auf die kulturelle Stellung von Homers Werken beziehen, lassen sich mit dieser These kaum vereinbaren. Homers Sieg über den Schrecken des ungeordneten Kampfs ums Dasein ist weder vollständig noch dauerhaft. Die „urdionysische“ Schicht wird lediglich nach unten verschoben, ohne zerstört zu werden – sonst würde die Tyrannei des Apollinischen nicht mit Platon, sondern bereits zu Anfang der archaischen Periode beginnen. Erst die homerisch-apollinische Periode macht den Beginn des langen Wettstreits des Apollinischen mit dem Dionysischen aus, und ein vollkommener Sieg für die Ewigkeit wäre, unter diesen Voraussetzungen, eine absurde Idee. Homers apollinischer Triumph ist somit nur Teil einer Illusion, die den dunklen Abgrund der menschlichen Existenz meisterhaft verschleiert.

Reibnitz 1992, S. 138 – 139, und Nachlass 1870/71, 7[126], KGW III 3. Schillers Homerbild weist wesentliche Ähnlichkeiten mit Nietzsches auf – etwa im Kontext der Gegenüberstellung der „goldenen Natur“ Homers und der gesunden Einheit von homerischen Menschen einerseits und des „ungesunden“ Welt- und Menschenbilds in Platons Dialogen andererseits.  Vgl. GT 13, wo es zugleich um den „tiefsten Abgrund“ und die „höchste Höhe“ der griechischen Kultur geht.  Vgl. Geschichte der griechischen Literatur (KGW II 5.39).  Die besiegte dionysische Macht des Mythos wird zum „Abgrund“ bzw. zur tieferen Schicht der homerischen Epen, die an einigen Stellen durch die höheren apollinischen Schichten schimmert. Vgl. Nietzsche zu den „Abgründen“ des Hasses in der Ilias (HW, KSA 1.784).

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In diesem Zusammenhang erscheint die Rolle von Archilochus, der als Vater der griechischen Dichtung zusammen mit Homer erwähnt wird, in einem anderen Licht: Er wirkt nicht mehr als kultureller Antipode Homers,¹⁴⁹ weil seine graduelle Differenz zu Homer nur in einer expliziteren Demonstration der dionysischen Elemente seiner Werke besteht. Da die homerischen Epen nach der Logik von Nietzsches Beschreibung der kulturellen Entwicklung Griechenlands und trotz seiner These vom vollständigen Sieg des Apollinischen bei Homer nicht völlig apollinisch sind, stehen Archilochusʼ „Volkslieder“ als „Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen“ (GT 6, KSA 1.48) in keinem scharfen Gegensatz zu Ilias oder Odyssee – zumindest aus der Perspektive der Dualität apollinisch–dionysisch. Obwohl Nietzsches Argumente nicht konsequent sind, ist deutlich, dass er sich bemüht, die epische von der lyrischen Periode der griechischen Literatur abzugrenzen. Auch dazu benötigt er auch die Opposition zwischen dem leidenschaftlichen, „wild durchʼs Dasein getriebene[n] kriegerische[n] Musendiener“ (GT 5, KSA 1.42) Archilochus, der, „die Sprache auf das Stärkste angespannt, d i e M u s i k n a c h z u a h m e n“ (GT 6, KSA 1.49) hat, und dem „in sich versunkene[n] greise[n] Träumer“ Homer. Abgesehen vom formalen Kriterium des Gattungsunterschieds, sind für Nietzsches Gegenüberstellung wenigstens vier Begründungen denkbar, von denen nur die erste und am wenigsten überzeugende in der Geburt der Tragödie direkt und vollständig präsentiert wird. Sie bezieht sich auf die musikalische Darstellung: Die ruhige homerische Kithara, die eine Bilderwelt formt, soll mit dem dionysischen, musikalischen und orgiastischen Aulos kontrastieren.¹⁵⁰ Der zweite, implizite Grund könnte sich auf die Differenz zwischen der absichtlichen Objektivität des primären Erzählers von Ilias und Odyssee und der emotionalen Subjektivität der Gedichte von Archilochus beziehen. Drittens könnte das intendierte zeitgenössische Publikum von Relevanz sein: Während Homers Epen ursprünglich für die adelige Schicht bestimmt waren, schrieb Archilochus, der laut der bekannten Quellen keine adelige Herkunft  So etwa Silk/Stern 1981, S. 151. Diese Interpretation beruht auf einer falschen englischen Übersetzung der entsprechenden Passage (GT 5, KSA 1.43): „Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde.“ Es geht nicht darum, dass Homer, im Gegensatz zu Archilochus, „uns“, d. h. die Leser des 19. Jahrhunderts, nicht erschreckt (vgl. etwa HW, KSA 1.784 zu moderner Angst vor homerischen Kampfszenen), sondern, darum, dass beide „uns“ – zwar in unterschiedlicher Weise – erschrecken.  S. GT 2, KSA 1.33: „Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind.“ Vgl. GT 6, KSA 1.49: „In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte.“ Für eine explizite Gegenüberstellung von Aulos und Kithara (in Verbindung mit der Opposition von Apollo und Dionysos) s. auch die Aufzeichnungen zu Nietzsches Vorlesung Griechische Lyriker (Winter-Semester 1878/79, KGW II 2.376 – 377). Für eine detaillierte Kritik an der Opposition von Kithara-Musik und Aulos-Musik s. von Reibnitz 1992, S. 113 – 118, insbes. S. 116: Die „Psychologisierung dieses Gegensatzes […], der von Nietzsche im Anschluss an Müller,Westphal und Ritschl als historische Entwicklung interpretiert wird, kann sich […] nicht auf antike Zeugnisse berufen.“ Reibnitz erwähnt auch die neueren Ergebnisse der Musikforschung, die Nietzsches Hypothese ebenfalls widersprechen.

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hatte,¹⁵¹ seine Gedichte für ein breites Auditorium. Schließlich könnte es auch um das moderne Publikum, also um die Leser des 19. Jahrhunderts gehen: Anders als Homer, der die Grausamkeiten der menschlichen Existenz mit dem apollinischen Schleier verdeckt, erschreckt „uns“ Archilochus auf direkte Weise: „durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde.“ Trotz dieser Begründungen ist Nietzsches These, dass mit Archilochus „eine neue Welt der Poesie“ ansetzt, „die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht“ (GT 6, KSA 1.49), nur dann haltbar, wenn man sie auf die formalen philologischen Kriterien und nicht auf philosophische Begriffe oder Dualitäten bezieht. Im Unterschied zur Gegenüberstellung von Homer und Archilochus erweist sich Nietzsches Opposition von Homer und Tragödie auch aus der philosophischen Perspektive als wirksam. Die in der Geburt der Tragödie dargestellte archaische Periode der griechischen Kultur, die sich durch abwechselnde Triumphe des Apollinischen und des Dionysischen auszeichnet, beginnt mit dem homerischen Sieg über das Dionysische und endet mit dem Sieg der tragischen über die olympische Dichtung. Die von Homer übernommenen Mythen werden, so Nietzsche, „von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist“ (GT 10, KSA 1.73). Diese Umdeutung des Mythologischen gewährt der Tragödie die Möglichkeit, ihrem Publikum eine „dionysische“ Wahrheit mitzuteilen (GT 10, KSA 1.73): Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin – bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik i h r e r Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus.

Nietzsche spricht hier vom letzten „tragischen“ Sieg des Dionysischen vor seinem Verfall durch Sokrates, den apollinischen Einzelnen.¹⁵² In der Tragödie wird das apollinische Element nicht zerstört, sondern unterdrückt. Anders als die homerischen Epen, die das (Ur‐)Dionysische zu verschleiern suchen, inkorporiert die Tragödie die Elemente der Lyrik und des Epos,¹⁵³ sodass in ihr auch die homerische Anschau-

 Archilochus sagt z. B. auch selbst, dass seine Mutter eine Sklavin war (s. Fragment 295, ed. West).  S. Nachlass 1870/71, 7[84], KGW III 3.165: „In eine solche Welt tritt nun Sokrates – der apollinische Einzelne, der wieder wie Orpheus gegen Dionysos auftritt und selbst von den Mänaden zerrissen wird. Sein Tod ist durch Gründe nicht, aber durch Gefühle verursacht: Gründe mochten nur Elende finden. Er siegte aber doch. An ihn knüpft sich der Verfall der Tragödie.“  Vgl. Nachlass 1870/71, 7[127], KGW III 3.165: „Denn hier erkenne ich den Grundbegriff der griechischen Tragödie, daß einem dionysischen C h o r e , durch eine apollinische Einwirkung, der eigne Zustand sich in einer V i s i o n offenbart: wie im lyrischen Volksliede der zugleich apollinisch und dionysisch erregte Einzelne eine gleiche Vision erleidet.“

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lichkeit zu spüren ist. Doch während das Epos die heroischen Individuen zu Götzen macht, fragmentiert die Tragödie das Individuum. Auf kognitiver Ebene findet zugleich ein umgekehrter Prozess statt: Das begrenzte bzw. sich begrenzende apollinische Wissen des Epos wird durch die Gesamtheit der tragischen Weltvorstellung ersetzt. In seinem „letzten Aufglänzen“ symbolisiert der „zum Vehikel dionysischer Weisheit“ gewordene Mythos die Ganzheit des Lebens, die „wiederherstellende Einheit“ (GT 10, KSA 1.73). Nietzsche setzt die „dionysische Wahrheit“ der Tragödie der einseitig apollinischen Wahrheit der platonischen Philosophie als homerisch-apollinische poetische Lüge entgegen, die sich ganz offen als Wahrheit verkleidet, ohne die „nackte Natur“ zu zerstören.

2.1.2 Der Wettkämpfer und der Richter Neben der Fähigkeit zum Träumen sieht Nietzsche in Homer die Verkörperung einer weiteren Grundeigenschaft der Griechen – ihres Strebens zum Wettkampf. Die homerischen Epen sind aus dem Wettstreit des Dichters mit anderen Dichtern¹⁵⁴ wie auch mit der Tradition geboren, und auch der Wettkampf zwischen Homer und Hesiod ist bei Nietzsche von Bedeutung.¹⁵⁵ Die Geschichte ihres Wettstreits spiegelt das Wesen der griechischen Archaik und ist zudem, aus psychologischer Perspektive, als eine Art Nostalgie der Griechen nach der früheren Zeit, als sich die beiden Genies auf Augenhöhe befanden und so ein kulturelles Gleichgewicht bilden konnten, zu interpretieren. Obwohl letztere Interpretation bei Nietzsche nicht explizit zum Vorschein kommt, lassen sich ihre Konturen in seiner späteren Vorstellung von Homer als Ursache des Niedergangs der griechischen Welt erkennen. In seinen Schriften und Nachlassfragmenten der frühen 1870er-Jahre greift Nietzsche auf die archaisch-griechische Idee zurück, dass der Wettkampf ästhetisch notwendig sei. Der Dichter besiegt die Grausamkeit des menschlichen Daseins mit den Mitteln der Sprache, indem er den Kampf ums Leben in einen freien Wettkampf wandelt und so das menschliche Leben erträglich macht. Nur auf diesem Weg kann der Sieger seinen Ruhm erlangen, der ihn selber überlebt (Nachlass 1871/72, 16[15], KGW III 3.424):¹⁵⁶

 Nachlass 1870, 16[5], KGW III 3.421: „Die Homer-Lieder das R e s u l t a t von We t t g e s ä n g e n . Auch die des Hesiod. Ein Sänger der der Ilias, wie der der Odyssee. Die Namen Homer und Hesiod sind S i e g e s p r e i s e .“ Vgl. Nachlass 1869/70, 2[18], KGW III 3.49: „Es ist das Zeugniß eines e t h i s c h e n Genies, voll der äußersten Unverzagtheit vor der öffentlichen Meinung: es ist gar kein ästhetisches Urtheil, weil Homer und Hesiod nur Namen für S t o f f e sind, nicht formale Differenzen. / Nur in der Höhe wird Frieden: in der mittleren Region des Geistes stößt alles im heftigsten Kampf auf einander.“  Vgl. Nachlass 1870, 6[15], KGW III 3.141: „Homer als der Eine, Hesiod gegenüber im Wettkampf“. S. auch die Titel in 9[51] und 16[7].  Vgl. die Idee des postumen Ruhmes in Il.VII.86 – 91.

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Der apollinische Homer ist nur der Fortsetzer jenes allgemein menschlichen Kunstprozesses, dem wir die Individuation verdanken. Der Dichter g e h t v o r a n , er erfindet die Sprache, differenzirt, Der Dichter überwindet den Kampf um’s Dasein, indem er ihn zu einem freien Wettkampfe idealisirt. Hier ist das Dasein, um das noch gekämpft wird, das Dasein im Lobe, im Nachruhm. Der Dichter e r z i e h t : die tigerartigen Zerfleischungstriebe der Griechen weiß er zu übertragen in die gute Eris.¹⁵⁷

Wer bestimmt die Regeln des Wettstreits? Haben homerische Epen eine normative Funktion, weil sie der Entwicklung der griechischen Kultur eine neue Richtung geben, oder beschreiben sie nur, wenn auch innovativ, das bereits Vorhandene, das dem Publikum nicht neu und insofern nicht fremd erscheinen soll? Nietzsche sieht Homer, den ersten Dichter des Abendlands, als experimentierenden Erzieher und Erfinder des Wettkampfkonzepts. Trotzdem unterliegt auch Homer als Fortsetzer des „allgemein menschlichen Kunstprozesses“ (und somit keineswegs als tatsächlich erster Dichter) den Regeln der Tradition: Gerade deswegen kann er – nicht nur aus Nietzsches Perspektive, sondern auch aus der der Griechen – in den Wettkampf mit anderen Dichtern, etwa mit Hesiod, treten. Diese Ambivalenz, die Homer zugleich als Dichter und Zuschauer, Schauspieler und Richter,¹⁵⁸ Nachfolger und Innovator auftreten lässt, wird Nietzsche später in Der Wanderer und sein Schatten, wo der Dichter als in Ketten tanzender Künstler dargestellt wird, entwickeln. Die Idee, dass Homer die Griechen durch sein Bild des Wettkampfs „erzieht“, also ihre wildesten Triebe mildert, findet ihre erste Ausarbeitung in Homer’s Wettkampf. Hier tritt die vorhomerische bzw. „urdionysische“ Geburtsphase der griechischen Kultur wesentlich expliziter und detaillierter als in der Geburt der Tragödie auf (KSA 1.784– 785): Was aber liegt, als der Geburtsschooß alles Hellenischen, hinter der homerischen Welt? In d i e s e r werden wir bereits durch die ausserordentliche künstlerische Bestimmtheit, Ruhe und Reinheit der Linien über die rein stoffliche Verschmelzung hinweggehoben: ihre Farben erscheinen, durch eine künstlerische Täuschung, lichter, milder, wärmer, ihre Menschen, in dieser farbigen warmen Beleuchtung, besser und sympathischer – aber wohin schauen wir, wenn wir, von der Hand Homer’s nicht mehr geleitet und geschützt, rückwärts, in die vorhomerische Welt hinein schreiten? Nur in Nacht und Grauen, in die Erzeugnisse einer an das Grässliche gewöhnten Phantasie. Welche irdische Existenz spiegeln diese widerlich-furchtbaren theogonischen Sagen wieder: ein Leben, über dem allein die K i n d e r d e r N a c h t , der Streit, die Liebesbegier, die Täuschung das Alter und der Tod walten.

 Nietzsche bezieht sich auf die hesiodische Opposition der guten und der schlechten Eris, die in OD.11– 41 als Gegensatz von konstruktivem Wettstreit und zerstörendem Neid dargestellt wird.  Vgl. GT 5, KSA 1.47– 48: „Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.“

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Nietzsche stellt die Geschichte von Homers Kampf gegen den böotischen Dichter Hesiod auf eine neue Art und Weise dar: als Kampf zwischen zwei Epochen der griechischen Kultur und zugleich als Konflikt zwischen hellenischer und orientalischindischer Perspektive. Die in Hesiods Theogonie sichtbare Grausamkeit der alten Welt, die den Menschen „zum Ekel am Dasein“, zum ständigen Gefühl der eigenen Schuld treiben konnte, sei „nicht spezifisch hellenisch“, sondern habe auch Züge fremder Kulturen (KSA 1.785):¹⁵⁹ Gerade diese Folgerungen aber sind nicht spezifisch hellenisch: in ihnen berührt sich Griechenland mit Indien und überhaupt mit dem Orient. Der hellenische Genius hatte noch eine andere Antwort auf die Frage bereit „was will ein Leben des Kampfes und des Sieges?“ und giebt diese Antwort in der ganzen Breite der griechischen Geschichte.¹⁶⁰

Dem totalen, unendlichen und vernichtenden Kampf um die Existenz wird ein begrenzter und geregelter Wettstreit entgegengesetzt, dessen Früchte auch nach dem Tod des Siegers sichtbar bleiben. Beide Formen des Kampfs sind sowohl in Homers Epen (wenn auch nicht in einer klar konzipierten Form) als auch in Hesiods Werke und Tage zu finden, wo es um zwei Erscheinungen der Eris, der Göttin des Streits, geht.¹⁶¹ Die böse Eris treibt den Menschen dazu, seinen Neid in ein Streben zur Vernichtung (etwa in Form des Kriegs) umzuformen, während die gute Eris ihn durch einen Wettkampf mit seinem Nächsten zum Schaffen bewegt. Nietzsche kommentiert die entsprechende Stelle folgenderweise (KSA 1.787): das gesammte griechische Alterthum denkt anders über Groll und Neid als wir und urtheilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegen einander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht Groll Neid die Menschen zur That reizt, aber nicht zur That des Vernichtungskampfes, sondern zur That des We t t k a m p f e s .

Die Differenz der beiden Arten des Kampfs wird bei Hesiod wesentlich expliziter dargestellt. Es wäre aber irreführend anzunehmen, dass Nietzsche einen Unterschied zwischen Homers und Hesiods Idee des Wettkampfs sähe, etwa im Kontext des vermeintlichen Unterschieds zwischen aristokratischer und allgemein-menschlicher, kriegerischer und nicht-kriegerischer Perspektive, oder dass er sich für das eine oder das andere entscheiden würde.¹⁶² Auch bei Homer, vor allem in der Odyssee, ist die

 Gemeint sind hier die urdionysischen Elemente der griechischen Kultur, die Nietzsche mit der Geschichte der Reise des jungen Gottes nach Indien verbindet (zu Dionysos in Indien s. Arrian, Anabasis, 5.1.1– 2.2, sowie die Bücher 13 – 40 von Nonnos’ Dionysiaka).  Die Verbindung Hesiods mit der orientalischen Literaturtradition (etwa mit der Gattung der „wisdom literature“) war ein wichtiges Thema der klassischen Philologie des 20. Jahrhunderts. Vgl. etwa West 1978, S. 3 und passim, und West 1997, S. 276 – 333.  OD 11– 41. Zur Rolle von Hesiods Eris in Nietzsches Denken vgl. Aichele 2000, S. 115 – 118.  Vgl. Müller 2005, S. 80, für die These, dass Nietzsche sich letzten Endes für das hesiodische (und nicht für das homerische) Modell des Wettkampfs entscheidet, weil dieses eine „Ausweitung des

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nicht-kriegerische Perspektive sichtbar, da sich seine Helden auch auf friedliche Weise auszeichnen können: etwa durch gute Ratschläge wie Nestor oder durch weise Entscheidungen wie Odysseus. Die Weltinterpretation des Erzählers bei Hesiod ist nicht weniger aristokratisch als bei Homer, da er sich in Werke und Tage freiwillig der aristokratischen Wertordnung unterwirft.¹⁶³ Schließlich hat auch der homerische Wettkampf unterschiedliche Formen, variierend vom bewaffneten und tödlichen (in vielen Fällen aber auch nicht-tödlichen) Zweikampf bis zum friedlichen Wettbewerb wie etwa bei den Leichenspielen für Patroklos in Ilias XXIII oder den Wettkämpfen auf der Phäakeninsel Ogygia in Odyssee VIII. Während es durchaus wahrscheinlich ist, dass Hesiod insbesondere aufgrund der dichterischen Konkurrenz seine eigene Perspektive bewusst von der homerischen abgrenzt und mit seiner bösen Eris latente Kritik an Homers Vorliebe für Krieg übt, lässt sich eine Grenze zwischen Nietzsches eigenen Deutungen des Wettkampfs bei Homer und Hesiod nicht festlegen. Die interpretativen Missverständnisse sind wohl darin begründet, dass Nietzsche Hesiods Beschreibung des ungeregelten Götterkriegs in der Theogonie und das Bild der bösen Eris in Werke und Tage, das eine Kritik an der Kampfeslust von Homers Helden impliziert, gleichsetzt. Die ältere, vorapollinische Weltvorstellung, die bei Homer als unproduktiver Vernichtungstrieb (etwa im Fall von Achills Zorn nach seinem Sieg über Hektor) auftritt, ist ihrerseits nicht mit dem geregelten kriegerischen Agon zu verwechseln, der dem Sieger postumen Ruhm einbringt und ihn zum Vorbild für die nächsten Generationen macht. Dass für Nietzsche, anders als für Hesiod, zum Wettkampf gemäß den Prinzipien der guten Eris auch ein kriegerisches Element gehört, so wie es bei Homer der Fall ist, zeigt die Auswahl seiner kulturellen Vorbilder: So beherrscht der homerische Odysseus, der in seiner Deutung zum typischen Hellenen umgestaltet wird, beide Arten des Wettkampfs, die friedliche und die kämpferische, und entscheidet sich je nach Situation für die eine oder die andere. Die anfängliche Unschärfe von Nietzsches Idee des Wettkampfs wird zum Teil durch seine Ausführungen zum Verlauf und Ziel des Wettkampfs kompensiert. Aus seiner Sicht bleibt der Wettkampf produktiv, solange er besteht: Nach einer Rivalität kommt eine weitere, sodass ein Gleichgewicht besteht und keine Partei zu viel Macht bekommt. Ein entscheidender Sieg, der alle weiteren potentiellen Gegner abschreckt und so jeglichen Wettkampf beendet, kann vernichtende Folgen haben (KSA 1.791): Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine grosse Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende That plötzlich dem Wettkampfe entrückt wurde und hors de concours, nach seinem und seiner Mitbürger Urtheil, war. Die Wirkung ist, fast ohne Ausnahme, eine entsetzliche;

Prinzips der Agonalität vom Selbstverständnis einer aristokratischen Elite hin zur Grundstruktur der gesamten griechischen Lebenswelt“ bedeutet, da Hesiods gute Eris den Wettkampf „von der Ebene des Krieges in den Bereich des nichtkriegerischen menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens“ verlagert.  Zu aristokratischer und nicht-aristokratischer Perspektive der Weltauslegung s. Kapitel 4.

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und wenn man gewöhnlich aus diesen Wirkungen den Schluss zieht, dass der Grieche unvermögend gewesen sei Ruhm und Glück zu ertragen: so sollte man genauer reden, dass er den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht zu tragen vermochte.¹⁶⁴

Das Glück des endgültigen Siegers würde dem Sinn des Wettkampfs widersprechen, denn dieser ist nichts anderes als die Sublimierung des fortdauernden Leidens, das den Menschen ihr Leben bringt. Mit dem Ende des Wettkampfs fällt der Grieche in den alten Zustand des grenzenlosen Schmerzes und Hasses – gegen andere wie gegen sich selbst. Diese Situation illustriert Nietzsche an Beispielen von Alexander dem Großen und Achill (KSA 1.784): Wenn Alexander die Füße des tapferen Vertheidigers von Gaza, Batis, durchbohren läßt und seinen Leib lebend an seinen Wagen bindet, um ihn unter dem Hohne seiner Soldaten herumzuschleifen: so ist dies die Ekel erregende Karrikatur des Achilles, der den Leichnam des Hektor nächtlich durch ein ähnliches Herumschleifen mißhandelt; aber selbst dieser Zug hat für uns etwas Beleidigendes und Grausen Einflößendes. Wir sehen hier in die Abgründe des Hasses.

Nietzsches Interpretation beruht auf der impliziten These, dass Achill nach dem Tod Hektors in Ilias XXII keinen würdigen Gegner mehr hat. Nach einem kurzen Augenblick höchsten Triumphs bricht sein Hass heraus: Ohne Rücksicht auf ungeschriebene Gesetze, die von ihm verlangen, Hektors Leichnam seinem Vater Priamos zurückzugeben, beginnt Achill, den verstorbenen Feind zu schänden. Diese Misshandlung hat ihrerseits eine Vorgeschichte: In seinem Gespräch mit Achill vor dem Zweikampf ¹⁶⁵ schlägt Hektor vor, dass der Sieger den Leichnam des Besiegten, gemäß den üblichen Verträgen, seinen Gefährten übergibt. Achills aggressiv-negative Antwort wird durch den Bezug auf ursprünglichere, „natürliche“ Gesetze des Kampfs legitimiert: Aus der Perspektive der Blutrache für seinen Freund Patroklos können für ihn keine Verträge existieren, wie es auch keinen Bund zwischen Löwen und Menschen gibt. Diese Replik Achills wird in Nietzsches Idee des Wettkampfs instrumentalisiert: Sie illustriert die Brüchigkeit der über dem Abgrund der „orientalischen“ Triebe entstehenden griechischen Kultur.¹⁶⁶ Von großer Bedeutung für Nietzsches Verständnis des Wettkampfs ist die in seinen früheren Schriften nur implizit und in seinen Werken der 1880er-Jahre explizit präsente These, dass der Wettkampf nur zwischen zwei Personen von ungefähr gleicher kultureller oder sozialer Stellung stattfinden kann. Den Impuls zum Entstehen der Geschichte vom Wettkampf zwischen Homer und Hesiod gibt den Griechen die Idee, dass beide sich als dichterische Genies beschreiben lassen. Aus demselben  In demselben Sinn bezeichnet Nietzsche in einem Nachlassfragment von 1875 den historischen Sieg der Griechen über die Perser und die nachfolgende Herrschaft Athens über den größten Teil Griechenlands als „nationale[s] Unglück“ (6[27], KGW IV 1.184): „der Erfolg war zu gross, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an.“  Il.XXII.250 – 259.  Vgl. dieselbe Idee in MA II, VM 219 (mit Bezug auf das Beispiel von Odysseus).

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Grund ist der Wettkampf zwischen einem schlechten und unbekannten Krieger und einem berühmten Helden sinnlos, weil er dem im Voraus bekannten Sieger keinen zusätzlichen Ruhm einbringt. Somit kann, wie Hesiod in Werke und Tage zu Recht bemerkt, kein wahrer Wettkampf zwischen einem Bauern und einem Aristokraten stattfinden. Dieselbe Idee lässt sich auch in homerischen Szenen mit Thersites nachweisen. Bei Nietzsche wird der Wettkampf nicht lediglich als Symptom des Entstehens der griechischen Kultur diagnostiziert. Die ganze archaische Epoche lässt sich, aus seiner Perspektive, durch ständige Wettkämpfe kennzeichnen, in denen Homer – diesmal nur als Teilnehmer und nicht als Richter – wiederum eine prominente Rolle spielt. In Nietzsches Werken und dem Nachlass von 1869 bis 1875 werden mehrere Gegnerschaften erwähnt, beispielsweise der Kampf von Xenophanes gegen Homer: Der berühmte Kritiker des Anthropomorphismus von homerischen Göttern wird in dieselbe Reihe wie Hesiod und Platon gestellt.¹⁶⁷ Die von mehreren späteren Autoren¹⁶⁸ betonte Feindseligkeit von Xenophanes gegen den bekanntesten epischen Dichter Griechenlands beweist die Tatsache, dass die Intensität eines Wettkampfs, wenigstens in seiner ersten Phase, durch die Größe des früheren Siegers beeinflusst wird (KSA 1.787– 788): Je grösser und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfen im grossen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, dass selbst ein Todter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältniss des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder grosse Hellene giebt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder grossen Tugend entzündet sich eine neue Grösse.

In vielen Fragmenten dieser Zeit beschreibt Nietzsche die der griechischen Archaik ihren Rhythmus verleihenden¹⁶⁹ Wettkämpfe durch kurze, mathematischen Gleichungen ähnelnde Formeln: „Hesiod zu Homer wie Socrates zur Tragödie“ (Nachlass 1869/70, 2[31], KGW III 3.54), „Homer verhält sich zum Drama wie Sprache zum Metron“ (Nachlass 1870/71, KGW III 3.217), während Stesichorus zu Homer in derselben

 Nachlass 1871/72, 16[27], KGW III 3.430: „Dreifacher Angriff auf Homer, aus φιλονεικία, um ihn zu verdrängen. / Plato. Wäre uns aus dem Alterthum nur Plato überliefert, wir würden über Homer urtheilen wie über die Sophisten. / Xenophanes hat die Absicht, sich an Stelle des Homer und des Hesiod zu setzen. Darin verstehen wir seine Lebenstendenz. Aristoteles bezeichnet deutlich (im Dialog über die Dichter) diese Gesinnung. / Hesiod. Einleitung der Theogonie. Die Agonsage.“ Vgl. 16[17], KGW III 3.425: „Xenophanes. Der Rhapsode als Bildner. Er und Plato im Kampf mit Homer.“  Sextus, Adversos Mathematicos IX, 193; Clement, Stromata V, 109.  Vgl. Nachlass 1871/72, 16[11], KGW III 3.422: „Das Apollinische und das Dionysische. / Der We t t k a m p f – als Rhythmus – Ehre, Individuum. / Der Rhythmus.“ Mehr dazu in Günther 2008, S. 85 – 86.

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Beziehung wie der tragische Chor zum Rhapsoden steht.¹⁷⁰ Der Wettkampf zwischen Platon und Homer markiert das Ende der Epoche: Die Idee des Wettkampfs stirbt nicht völlig aus,¹⁷¹ verliert aber ihre kulturell grundlegende Rolle.

2.1.3 Der Lehrer und der Erzieher Mitte der 1870er-Jahre wird die bisher eher marginale Verbindung zwischen dem Thema des homerischen Wettkampfs und Nietzsches allgemeiner Frage nach der Beziehung zwischen dem Künstler und der Tradition ausgearbeitet und vertieft. In einem Fragment von 1875 wird dem Wettstreit der vorsokratischen Philosophen mit Homer eine neue Erklärung gegeben: Sie kämpfen gegen Homers (und Hesiods) Sittlichkeit.¹⁷² Der Weg zu einem souveränen Individuum, der in den homerischen Epen beginnt, sollte bis zum Ende gegangen werden. In der Unfähigkeit der Vorsokratiker, „einen noch höheren Typus des Menschen zu finden“,¹⁷³ als es bei Homer der Fall war, sieht Nietzsche den Wendepunkt, der zu einer späteren Änderung der Entwicklungsrichtung unter Sokrates und Platon führt. Der Wettkampf der Vorsokratiker mit Homer, der den Impuls für die späteren Wettkämpfe zwischen Platon und Homer sowie zwischen den Stoikern und der antihomerischen Partei gibt, besteht de facto in der Bestreitung seiner Autorität in Fragen der Welterkenntnis. Nietzsches Auffassung dieses Streits zwischen Kunst und Philosophie beruht auf seinem bereits in frühen Fragmenten ausgedruckten Verständnis der griechischen Künstler als Lehrer und Erzieher.¹⁷⁴ Dieselbe These wird in Menschliches, Allzumenschliches – im Kontext der Fremdheit der Griechen für die

 S. Nachlass 1871, 9[125], KGW III 3.333: „Der tragische Chor sieht den Mythus wie der Rhapsode das Epos. Aber der Rhapsode erzählt ihn. Und zuerst erzählte der Chor auch die Tragödie. Wie sich Stesichorus zu Homer verhält – so jener tragische Chor zu dem Rhapsoden.“  Dass Nietzsche schon zu Beginn seiner Baseler Periode nicht nur archaisch-griechische Beispiele vor Augen hatte, zeigt etwa seine mehrfache Erwähnung von Moritz von Schwind in den Briefen und Nachlassfragmenten von 1870 bis 1875. Zu Schwinds bekanntesten Werken zählt das Wartburger Fresko, das die mittelalterliche Geschichte vom Sängerstreit zwischen Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und mehreren anderen Dichtern darstellt.  S. Nachlass 1875, 6[18], KGW IV 1.180 – 181: „Man kann diese älteren Philosophen darstellen als solche, die die griechische Luft und Sitte als B a n n und S c h r a n k e fühlen: also Selbstbefreier (Kampf des Heraclit gegen Homer und Hesiod, Pythagoras gegen die Verweltlichung, alle gegen den Mythus, besonders Democrit). Sie haben eine Lücke in ihrer Natur, gegenüber dem griechischen Künstler und wohl auch Staatsmann. / Ich fasse sie wie die Vo r l ä u f e r e i n e r R e f o r m a t i o n der Griechen: aber nicht des Socrates. Vielmehr kam ihre Reformation nicht, bei Pythagoras blieb es sectenhaft. Eine Gruppe von Erscheinungen tragen alle diesen Reformations-Geist – die E n t w i c kl u n g der T r a g ö d i e . Der m i s s l u n g e n e R e f o r m a t o r ist E m p e d o c l e s ; als es ihm misslang, blieb nur noch Socrates übrig. So ist die Feindschaft des Aristoteles gegen Empedocles sehr begreiflich.“  Nachlass 1875, 6[18], KGW IV 1.180 – 181.  Vgl. Nachlass 1869/70, 3[74], KGW III 3.80, sowie Nachlass 1871/1872, 16[15], KGW III 3.423 – 424.

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modernen Menschen sowie der Schwäche der modernen Kunst in der Situation eines kulturellen Verfalls¹⁷⁵ – zusammengefasst (MA II, VM 172, KSA 2.452): D i e D i c h t e r k e i n e L e h r e r m e h r. – So fremd es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzückungen hinaus war und die deshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatten. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseler des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene – Willens-Bändiger, TierVerwandeler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. – Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man dies von ihm verlangte – er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selber kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde […].

Nietzsches Betonung der Rolle Homers in der Milderung der wilden Triebe bei den Griechen¹⁷⁶ untermauert seine These, dass der erste große Dichter Griechenlands, der das Prinzip des Wettkampfs erfunden hat, auch sein erster großer Lehrer ist.¹⁷⁷ Homers Apollinismus äußert sich im Streben nach Eindeutigkeit, Maß und Systematisierung der vielfältigen mythologischen Weltvorstellungen, während die homerischen Heroen¹⁷⁸ die notwendige Vorstufe zur Bildung des souveränen Individuums repräsentieren. Neben den individualistischen Zügen weist Homers Kampf mit dem Mythos auch deutlich aristokratische Symptome auf: Laut Nietzsche gehören Ilias und Odyssee zur Epoche der Größe, in der sie für ein vornehmes Publikum bestimmt waren. Es ist dieser Kampf vom Standpunkt der ordnenden Vernunft, der auch Homer – neben den Vorsokratikern und Platon¹⁷⁹ – zum Lehrer macht. Aber was lehrt Homer eigentlich? Wenn wir Nietzsches Aussagen über Homer aus ihrem kulturkritischen Kontext nehmen und neben einige vergleichbare Aussagen über Hesiod, die Vorsokratiker und die sieben Weisen stellen, könnten wir den Eindruck gewinnen, dass seine These auf die hinlänglich bekannte Tatsache, dass Homer in Griechenland der wichtigste Schulautor war, deutet oder lediglich eine Erneuerung der alten stoischen Homerinterpretation darstellt. Die späte Stoa hat schließlich in den homerischen Epen die wichtigste archaische Quelle des in symbolisch-metaphorischer, nicht-begrifflicher Form vermittelten Wissens über die Welt gesehen. Aus dieser Perspektive wären die homerischen Epen nicht nur als philosophisch relevante, d. h. in der philosophischen Tradition rezipierte und einen wichtigen Einfluss auf sie ausübende, sondern als ursprünglich philosophische Texte zu verstehen.Wir könnten  Vgl. Zittel 2000, S. 166 – 171.  S. wiederum Nachlass 1871/72, 16[15], KGW III 3.423 – 424.  Zur Verbindung zwischen Wettkampf und Erziehung s. Nachlass 1871/72, 16[14], KGW III 3.423: „Die a n t i k e n M i t t e l d e r E r z i e h u n g : der Wettkampf und die Liebe.“ Vgl. Gerhardt 1996, S. 116.  Zu Homer als Ursprung der griechischen Heroenwelt s. eine frühe Notiz (Nachlass 1871, 11[1], KGW III 3.370 – 371): „Und wer möchte bezweifeln, daß die griechische Heroenwelt nur des einen Homer wegen dagewesen ist?“  Zu den Vorsokratikern als Lehrer des Apollinischen s. Nachlass 1875, 6[50], KGW IV 1.194– 195.

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dann von Homers philosophischen „Lehren“ genauso wie von platonischen Lehren sprechen: Die Differenz würde lediglich darin bestehen, dass homerische Metaphern zuerst in philosophische Aussagen übersetzt werden sollten.¹⁸⁰ Eine solche Interpretation würde jedoch Nietzsches eigener Position gründlich widersprechen: Homer als Dichter (und nicht als Philosoph) erlaubt Nietzsche, eine grundlegende Differenz zwischen ihm und Platon zu betonen, während Nietzsches polysemantische Auffassung der Metapher mit der stoischen Idee der Entzifferung von Wahrheiten nicht vereinbar ist. Dass Nietzsche die antiken Dichter – und vor allem Homer als dichterisches Ideal – den modernen Dichtern gegenüberstellt, impliziert nicht, dass die letzteren sich diesem konkreten Vorbild annähern sollten oder könnten. Einerseits geht es hier um die dekadente Unfähigkeit dieser Dichter, Neues zu schaffen, ohne dass es zur Kopie eines längst zerfallenen Ideals werde. Andererseits ist es aus Nietzsches Sicht nötig, dass die Dichter wieder Lehrer werden,¹⁸¹ auch wenn der ursprüngliche kulturelle Kontext, in dem die Werke der lehrenden Dichter der Vergangenheit entstanden und rezipiert wurden, im Wesentlichen nicht mehr erschließbar ist. Inwiefern sollen die lehrenden Dichter der Zukunft denen der archaisch-griechischen Antike, so wie sie bei Nietzsche dargestellt ist, gleichen? Es ist zwar nicht zu leugnen, dass Homers Rolle des Lehrers eine gewisse Eindeutigkeit des von ihm dargestellten Weltbilds voraussetzt und dass diese Eindeutigkeit, aus Nietzsches Sicht, im Licht der apollinischen Aspekte der griechischen Kultur eine zentrale, letztlich zum griechischen Verhängnis gewordene Rolle spielt. Wenn man die homerischen Aussagen nicht als gleichberechtigte (und populäre) Konkurrenzaussagen zu denen der Philosophen fasst, würde etwa Platons Homerkritik ihre Grundlage entzogen.Wichtiger aber ist, dass die mündliche Tradition der Dichtung das Wissen nicht in Begriffen, sondern in Form von ständigen Neuinterpretationen des Mythos überträgt.¹⁸² Die antiken Dichter, die nach Nietzsches Logik keine Vermittler einer einzigen Lehre sein sollten, deuten auf die gleichzeitige Existenz verschiedener Möglichkeiten, ihre Geschichte zu erzählen. Ob Nietzsche implizit auch auf dieses – in der klassischen Philologie erst wesentlich später Mainstream gewordene – Argument zielt, bleibt jedoch unklar.

 Im Nachlassfragment 16[5] von 1871/72 (KGW III 3.420) macht Nietzsche auch eine explizite Anspielung auf diese mögliche universalistische, antiästhetische Deutung: „4. Die Alten über Homer. / 4. Die Homermythen und die Hesiodmythen. Der Homerkultus. / Der Dichter als L e h r e r des Wahren. / Symbolische Deutung, weil er durchaus recht behalten soll. / 7. Das Urtheil im Wettkampfe ist nicht ästhetisch, sondern universal. / 7. Der Dichter wird beurtheilt als ,höchster Mensch‘, sein Lied als wahr, gut, schön. / 7. Gerecht ist das Urtheil nur, solange der Dichter und sein Publikum alles gemein haben.“  Vgl. dazu Winteler 2014, S. 96 – 97, gegen diese Deutung Zittel 2000, S. 166.  Diese Idee der dichterischen paideia ist keinesfalls Nietzsches Erfindung: Als leitender antiker Topos wurde sie mehr als zwei Jahrtausende später von den deutschen Romantikern, u. a. von Novalis, wieder zum Leben erweckt.

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

Im Fall von Homer macht die bis hier skizzierte Konstellation allerdings nur die Hälfte des Gesamtbilds aus, weil sie den Faktor der Rezeption und Wirkung nicht einbezieht. Das Prinzip des dichterischen Wettkampfs, das der frühe Nietzsche im Detail untersucht, setzt eine harte Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Interpretationen voraus. Homers endgültiger Triumph im Wettkampf mit anderen Dichtern erscheint im Licht seiner späteren Rezeption als Sieg der von ihm repräsentierten Wahrheit, die folglich zur langfristigen Norm geworden ist. Im Rahmen dieser Deutung tritt Homer als erster griechischer und Platon als neuer Aufklärer auf,¹⁸³ weil beide die bisherigen Irrtümer zu korrigieren vermögen. Während diese Vorstellung eine späte – kulturell symptomatische – Erfindung der Homerinterpreten ist und von Nietzsche niemals direkt erwähnt wird, schwebt sie doch im Hintergrund seines sich seit Mitte der 1870er-Jahre entwickelnden Urteils von Homers Epen als Ursache der Décadence der griechischen Kultur. Nietzsches Bild von Homer als Lehrer der Griechen wird zum festen Bestandteil seiner Kritik an der klassizistisch geprägten Vorstellung der antiken Welt. Das Konzept eines naiven Dichters wird durch das eines Genies ersetzt, das im Zentrum eines komplexen Systems der Kampfbeziehungen steht. Heraklit und Platon kämpfen gegen die vornehme Erziehung, die Homer den Griechen bietet.¹⁸⁴ Mit Blick auf diesen Kampf erscheint Homers vermeintliche Aufklärung als moralisch ungeregelt und lediglich die höhere soziale Schicht betreffend. Und doch ist Homer, konträr zur populären Vorstellung der klassischen und späten Antike,¹⁸⁵ in Nietzsches Sicht kein Gelehrter. Als Lehrer der Griechen, der selber ein typischer Grieche ist, repräsentiert er das traditionelle Wissen. Trotz seiner vermeintlichen Irreligiosität,¹⁸⁶ seines Kampfs mit dem Mythos sowie der Fähigkeit, sogar in den Ketten der Tradition zu tanzen,¹⁸⁷ bleibt seine Verbindung mit den sittlichen Prinzipien stark: Seine Helden sollen die Unsittlichkeit ihrer Handlungen unter der Maske der göttlichen Wirkung verstecken.¹⁸⁸

 In Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno wird – wohl zum ersten Mal – eine enge Verbindung zwischen den homerischen Epen und Nietzsches Konzept der Aufklärung festgestellt. S. Horkheimer/Adorno 1972, S. 50: „Die Einsicht in das bürgerlich aufklärerische Element Homers ist von der spätromantisch-deutschen Interpretation der Antike, die Nietzsches frühen Schriften folgte, unterstrichen worden. Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt. Er hat ihr zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft formuliert.“ Zur Aufklärung bei Nietzsche und Adorno s. Vidal Mayor 2004, S. 305 – 312.  S. Geschichte der griechischen Literatur (KGW II 5.341).  Vgl. Nietzsches Anmerkungen in KGW II 5.323.  S. MA I 125, KSA 2.121– 122: „I r r e l i g i o s i t ä t d e r Kü n s t l e r. – Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte – einen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben – verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten.“  S. MA II, WS 140.  Nachlass 1881, 12[186], KGW V 2.506. Mehr dazu im Kapitel 4.

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2.1.4 Homer und die Décadence In seinen späten Nachlassfragmenten betrachtet Nietzsche die Kehrseite von Homers Einfluss auf die Entwicklung der griechischen Kultur, indem er die Frage nach der Nützlichkeit der homerischen Epen für die Griechen neu stellt. In einer auf den ersten Blick eher rätselhaften Notiz erklärt er Homer zur Ursache des Untergangs der griechischen Welt (Nachlass 1887/88, 11[375], KGW VIII 2.410): allmählich wird alles Ä c h t h e l l e n i s c h e verantwortlich gemacht für den Ve r f a l l (und Plato ist genau so undankbar gegen Homer, Tragödie, Rhetorik, Pericles, wie die Propheten gegen David und Saul) – der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen d e r h e l l e n i s c h e n Cultur verstanden: G r u n d i r r t h u m d e r P h i l o s o p h e n – Schluß: die griechische Welt geht zu Grunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.¹⁸⁹

Die Charakterisierung von Homers Epen als „ächthellenischer“ Teil der griechischen Kultur steht, im Gegensatz zu Platons Philosophie, in Einklang mit Nietzsches späterer Kritik an Platon.¹⁹⁰ Die fragwürdiger erscheinende These hingegen, dass die Keime des Zerfalls bereits zu Beginn der griechischen Kultur zu finden seien, steht in Verbindung zum bereits in den Schriften der Mitte der 1870er-Jahre immer wieder thematisierten Problem der Entartung. Für Nietzsche liegt die eigentliche Gefahr gerade in Homers grundlegender Rolle für die griechische Kultur – je größer das Vorbild und je zahlreicher die Versuche, ihn nachzuahmen, desto dichter rückt man zur Entartung. Dieser Gedankengang kommt bei Nietzsche bereits 1875 zum Ausdruck (Nachlass 1875, 5[146], KGW IV 1.154): Die E n t a r t u n g ist hinter j e d e r grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten. […] Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig p a n h e l l e n i s c h e H o m e r. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er v e r f l a c h t e , und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer. Das U n t e r d r ü c k e n d e der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!¹⁹¹

 Nietzsche macht die Notiz während seiner Lektüre des Buchs Les sceptiques grecs (1887) von Victor Brochard, allerdings wird hier keine Verbindung zwischen Homer und dem Niedergang Griechenlands hergestellt.  Zur Rolle Homers in Nietzsches Kritik an Platon s. Kapitel 5.  Vgl. die überarbeitete Fassung des zweiten Teils in MA I 262, KSA 2.218 – 219: „H o m e r . – Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer v e r f l a c h t e , indem er centralisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit

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Homers Größe war überwältigend: Er wurde schnell zu einem Maßstab des Griechischen, der für die späteren Wettkämpfer unerreichbar blieb. So konnte eine wichtige Bedingung, die aus Nietzsches Sicht für eine glückliche Entwicklung notwendig war, wegen Homers Status nicht erfüllt werden: die Situation, dass „sich mehrere Genie’s gegenseitig in Schranken halten“. Die Idee der „verflachenden“ Wirkung Homers steht anscheinend im Gegensatz zu Nietzsches antisokratischen Aussagen in der Geburt der Tragödie. ¹⁹² Dennoch würde die vorschnelle Annahme, dass Homer hier als unseriöser und verflachender Gegenspieler des ernsten und tiefen Sokrates dargestellt wird, nur zu neuen Missverständnissen und Widersprüchen führen, etwa in Bezug auf die Rolle der sokratischen Ironie in Platons Dialogen: Die Opposition von Homer und Sokrates oder von Homer und Platon wird nicht umgedreht, sondern als solche kritisch hinterfragt. Homers Verschleierung des Tragischen ist tatsächlich eine Verflachung des Lebens, aber nicht schon ihre dezidierte Verneinung.¹⁹³ Die poetische Verflachung ist insofern unvermeidbar, da der Dichter (oder Erzähler) gleich seinen Helden Masken tragen soll, deren Form von der jeweiligen mythologischen Geschichte und Handlung abhängt. Nietzsches Aussage bedeutet also einerseits, dass Homer nur Dichter und – konträr zur stoischen Interpretation seiner Epen – kein Philosoph oder Wissenschaftler ist, und andererseits, dass es eine Kluft zwischen der flüchtigen Persönlichkeit des homerischen Genies, das keineswegs als flach oder oberflächlich einzuschätzen ist, und der verflachenden Wirkung seiner Werke gibt. Neben den homerischen Epen zählt für Nietzsche auch der griechische Mythos zu den Gründen des kulturellen Untergangs, denn es ist der Kampf mit seinen Schrecken, der zur Geburt von Homers Genie führt.¹⁹⁴ Homerisches Maß und Heiterkeit, die zunächst nur als Gegengewicht zur chaotischen Einheit und Grausamkeit dienen, gewinnen allmählich an Bedeutung. Die olympische Götterordnung wird zum An-

auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren.“ Zu Homers verflachender Wirkung s. auch MA II, VM 221.  S. dazu Pestalozzi 1999, S. 171– 172.Wenn wir den Kontext von Nietzsches Aussage nicht beachten, erscheint seine Umkehrung der Opposition von Homer und Sokrates (oder, wie Pestalozzi meint, der Opposition von Instinkt und Wissenschaft) tatsächlich absurd.  Vgl. wiederum Nachlass 1875, 5[146], KGW IV 1.155: „Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht.“  Eine alternative Erklärung bietet Reschke 2008, S. 213 – 214: „Es ist der Mythos, der die Griechen in den Untergang treibt […]. Indem die Griechen ihn schützend zwischen sich und dem grausamen Grund ihrer Existenz stellen […], sind der Mythos und Homer klüger als sie: Im Mythos ist indentiert, was die Griechen sich durch ihn zu verschleiern suchen. Sein ‚aufklärerisches‘ Element ist es, dem die Griechen sich (vergeblich) zu entziehen suchen. Der Preis seiner Herrschaft liegt im permanenten Akt des Zuwiderhandelns gegen den eigentlichen Zweck, der seine Existenz legitimiert, darin, den Verblendungszusammenhang transparent zu machen, den er inauguriert in der Auflösungsarbeit seiner selbst.“

2.2 Homer und das 19. Jahrhundert

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haltspunkt für die griechischen Philosophen – von den Vorsokratikern bis zu Platon. Homer wird seinerseits zum Verkünder des späteren Siegs des Platonismus über das „Ächthellenische“: Das griechische Ideal und Symbol des Beginns der griechischen Kultur erweist sich als deren Damoklesschwert. Trotz expliziter Abgrenzung zwischen Homer und Bibel erscheint diese andere, nihilistische Seite der homerischen Wirkung für Nietzsche letzten Endes doch lebensfeindlich.¹⁹⁵

2.2 Homer und das 19. Jahrhundert 2.2.1 Die Fremdheit Homers Vor ihrem Hintergrund des 19. Jahrhunderts hat Nietzsches Homerdeutung noch eine andere, weniger auffällige Seite. Homer, die zentrale Figur der griechischen Archaik, wird als Fremder betrachtet und mit der Idee der Fremdheit der Griechen, die in Nietzsches Denken bis 1888 präsent ist, in Verbindung gestellt. Den ersten Impuls für diese Idee gibt das Thema der archaischen Gewalt in Homer’s Wettkampf. Nietzsche vergleicht die Situation seiner eigenen Zeit mit archaisch-griechischen Beispielen, die ein Europäer als schockierend und unverständlich empfinden würde. Es geht um eine unüberwindbare kulturelle Kluft (KSA 1.784): Warum mußte der griechische Bildhauer immer wieder Krieg und Kämpfe in zahllosen Wiederholungen ausprägen, ausgereckte Menschenleiber, deren Sehnen vom Hasse gespannt sind oder vom Übermuthe des Triumphes, sich krümmende Verwundete, ausröchelnde Sterbende? Warum jauchzte die ganze griechische Welt bei den Kampfbildern der Ilias? Ich fürchte daß wir diese nicht „griechisch“ genug verstehen, ja daß wir schaudern würden, wenn wir sie einmal griechisch verstünden.¹⁹⁶

In der Morgenröthe weist Nietzsche direkt auf die Fremdheit der Griechen hin. Hier geht es zunächst nur um ästhetische Beispiele (M 169, KSA 3.151): D a s G r i e c h i s c h e u n s s e h r f r e m d . – Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältnis zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und

 Vgl. Horkheimer/Adorno 1972, S. 51: Nietzsche sieht in der Aufklärung sowohl „die universale Bewegung souveränen Geistes […], als deren Vollender er sich empfand“, als auch „die lebensfeindliche, ‚nihilistische‘ Macht“.  Zur Grausamkeit der homerischen Beschreibung des trojanischen Kriegs vgl. GS (KSA 1.771– 772): „Diese blutige Eifersucht von Stadt auf Stadt, von Partei auf Partei, diese mörderische Gier jener kleinen Kriege, der tigerartige Triumph auf dem Leichnam des erlegten Feindes, kurz die unablässige Erneuerung jener trojanischen Kampf- und Greuelscenen, in deren Anblick Homer lustvoll versunken, als ächter Hellene, vor uns steht – wohin deutet diese naive Barbarei des griechischen Staates, woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit?“

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Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, m i t w i e k l e i n e n M a s s e n die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen l i e b e n .

Neben den Anspielungen auf die archäologischen Ausgrabungen in Pompeji, die ab 1863 unter der Leitung von Giuseppe Fiorelli durchgeführt wurden,¹⁹⁷ tritt in dieser Passage ein weiterer wichtiger Gedanke auf: Es geht nicht darum, dass das Griechische uns ebenso fremd ist wie jede andere Kultur, die nicht die unsrige ist, sondern darum, dass es allen anderen Kulturen gegenübersteht. Im selben Fragment bezieht Nietzsche die Idee der Fremdheit auch auf die griechische Architektur und damit auf die griechische Kunst insgesamt wie auch auf die allgemeine Idee des Menschen. Obwohl die modernen Menschen die Griechen „in der Menschenkenntnis“ übertreffen, werde nach Nietzsche gerade diese labyrinthische Komplexität der anthropologischen Kenntnisse zum Problem, wenn es um ästhetische Formen der menschlichen Selbstäußerung, etwa um Architektur oder Musik, geht: Die Individualität des Künstlers werde unter den mannigfaltigen Details seiner Werke begraben oder lasse sich in seinem Werk nicht mehr erkennen, weil der Künstler „zu feige“ sei, seine Seele zum Gegenstand der Beobachtung zu machen (M 169, KSA 3.151). In FW 18 wird die Kluft zwischen dem archaisch-griechischen und dem modernen Menschenverständnis am Beispiel der sozialen Struktur und des Begriffs der Sklaverei illustriert. Nietzsche konstatiert, dass die modernen Menschen das antike Konzept der Vornehmheit nicht völlig verstehen können, weil sie die ungeheure Kluft zwischen Vornehmheit und Sklaverei nicht sehen. Die moderne „L e h r e von der Gleichheit der Menschen“, an die wir uns gewöhnt haben, hindert uns, die zahlreichen Zwischenstufen zwischen diesen zwei extremen Zuständen zu erkennen (KSA 3.389). Darüber hinaus haben wir, so Nietzsche, zu viel Sklaverei an uns: Unsere „gesellschaftliche Ordnung und Tätigkeit“, die ebenfalls „grundverschieden“ von der der Antike ist, beraubt uns der Fähigkeit, Muße zu haben und über sich selber frei zu verfügen (KSA 3.389). In diesem Sinn sei auch der Stolz der griechischen Philosophen, in deren Augen auch „die Mächtigsten der Erde“ den Sklaven gleichen, für uns „fremd und unmöglich“ (KSA 3.390). Eine weitere Fassung der Fremdheits-These, die die kleineren Unterschiede auf epistemischer Ebene zusammenfasst, findet sich in Nietzsches Nachlass vom Winter 1883/84 (24[1], KGW VII 1.685): Daß es schwer ist, den Griechen nahe zu kommen, daß man sich ihnen sogar ferner fühlt, wenn man sie lange betrachtet hat: dies ist der Satz und der ganz persönliche Seufzer, mit dem ich meine Betrachtung über die Griechen als Menschenkenner anheben will. Man kann eine gute Weile im entgegengesetzten Glauben mit ihnen leben und wir lernen, daß unser Befremden noch lehrreicher ist als unser Gefühl der Vertraulichkeit. vielleicht würde ein Grieche in der Art, mit der wir zur Entdeckung des Menschen in die Tiefe gegraben haben, eine Unfrömmigkeit gegen die

 Nietzsches Interesse für die Archäologie ist bekannt. In seiner Bibliothek finden sich u. a. zwei Monografien zu den Ausgrabungen in Troja: Gelzer 1873 und Keller 1875.

2.2 Homer und das 19. Jahrhundert

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Natur, einen Mangel an Scham empfinden. Umgekehrt sind wir befremdet – γνώμη zu hören „wenn das Wissen da ist, muß das Handeln folgen“ und daß Tugend Glückseligkeit sein soll, das klingt uns so fremd und unglaubwürdig, daß wir hinsehen, ob es nicht nur zum Spaaß gesagt sei. Es ist als ob sie dem Intellekte noch eine Haut gegeben hätten.

Laut Nietzsche genießen die Griechen eine privilegierte Stellung, die ihre Kultur von anderen unterscheidet, denn sie habe asiatische und europäische Züge zugleich.¹⁹⁸ Die scheinbare Nähe des Griechischen lasse sich durch die platonische Fälschung der griechischen Tradition, die ihren dualistischen asiatisch-europäischen, dionysischapollinischen Charakter zerstört habe, erklären: Platons Vernunftlehre habe die Grausamkeit und den chaotischen Grundsatz der archaisch-griechischen Kultur durch eigene Interpretationen ersetzt bzw. verdeckt. Die Idee der Fremdheit bezieht sich somit in erster Linie auf die Griechen der vorsokratischen Periode und die kulturelle Tradition, die seit archaischer Zeit existierte: Mit jedem wichtigen Schritt, den die Griechen seit Platon machen, geht die Verbindung zur früheren Tradition verloren.¹⁹⁹ In den Menschen, die in Homers Epen und anderen Texten der archaischen Periode dargestellt sind, sieht Nietzsche die eigentlichen Griechen, deren Tradition den schädlichen Einfluss der platonischen Lehre noch nicht erfahren hat. Nietzsches Idee beruht auf der bereits in seinen früheren Werken vorhandenen Prämisse, dass die Griechen „auf uns bis jetzt bloß mit der einen Seite ihres Wesens“ (Nachlass 1870/71, 7[89], KGW III 3.166)²⁰⁰ gewirkt haben, und führt ihn zur Schlussfolgerung, dass das griechische Altertum „als Ganzes noch nicht taxirt“ ist (Nachlass 1885, 3[14], KGW IV 1.94). Das archaische Griechentum lässt sich in seiner Vollständigkeit nicht fassen und kann nur durch das Prisma des Platonismus betrachtet werden. In Bezug auf das (Archaisch‐)Griechische ist Nietzsche ein Beobachter, der immer eine gewisse Distanz behält: „herantreten […] ohne überzutreten“ (Za I, Vom Freunde). Diese Beziehung ist auch eine agonale: Die archaischen Vorbilder sind Nietzsche Anlass, den Prinzipien des kämpfenden Schaffens ein neues Leben zu geben.²⁰¹

 Das asiatische Element der archaisch-griechischen Kultur zeigt sich im Dionysischen. In den archaischen Texten, v. a. bei Homer, schimmert das Asiatische – etwa die Grausamkeit der Kampfszenen – durch die dünne Schicht der jungen griechischen Kultur. Obwohl die Griechen, insbesondere Odysseus als „typischer Grieche“ im Denken Nietzsches, ständig mit den asiatischen Trieben kämpfen, können sie diese nicht ganz besiegen oder zerstören, sondern nur domestizieren und nützlich machen (vgl. M 560).  Vgl. Nachlass 1888, 14[94], KGW VIII 3.64: „Plato, der Mann des Guten – aber er löste die Instinkte ab von der Polis, vom Wettkampfe, von der militärischen Tüchtigkeit, von der Kunst und Schönheit, von den Mysterien, von dem Glauben an Tradition und Großväter […]. Er ist tief, leidenschaftlich in allem A n t i hellenischen …“  Enrico Müller (Müller 2005, S. 76 – 77) sieht diese unbekannte Seite der Griechen im Dionysischen. Zugleich betont er, dass nach der Veröffentlichung von GT Nietzsches „Korrelation ‚dionysisch‘ – ‚apollinisch‘ […] im Hinblick auf die Griechen […] zunehmend mit phänomenaler Konkretion angereichert“ wird.  S. dazu Ottmann 1999, S. 48 – 51; Acampora 2002; Müller 2005, S. 74– 85.

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Diese Konstellation erinnert an die berühmte Periklesrede bei Thukydides – einem Autor, den Nietzsche sehr schätzte.²⁰² In seiner Rede an die Athener anlässlich des Begräbnisses von Kriegsgefallenen spricht Perikles über die Lebensweise seiner Mitbürger im Vergleich zu den Spartanern in einer Art und Weise, die an Nietzsches Fremdheits-These erinnert: Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. […] Anders als unsre Gegner sorgen wir auch in Kriegssachen. […] Und in der Erziehung bemühen sich die anderen mit angestrengter Übung als Kinder schon um Mannheit, wir aber mit unsrer ungebundenen Lebensweise wagen uns trotz allem in ebenbürtige Gefahren. Der Beweis: die Spartaner rücken nicht für sich allein, immer nur mit dem ganzen Bund gegen unser Land aus, während wir selbst, wenn wir unsre Gegner heimsuchen, unschwer in der Fremde der Verteidiger ihrer Heimat im Kampfe meist besiegen. […] Zusammenfassend sage ich, dass insgesamt unsre Stadt die Schule der Hellas sei …²⁰³

Die Athener konnten und wollten die Spartaner in ihrer asketischen Lebensweise nicht nachahmen. Im Gegenteil haben sie, so Perikles, etwas Neues entwickelt, das ihnen die Möglichkeit gab, mit den Spartanern zu konkurrieren und die eigene Überlegenheit zu behaupten. Wenn Nietzsche also sagt, dass man sich den Griechen „sogar ferner fühlt, wenn man sie lange betrachtet hat“, könnte das bedeuten, dass die Eigenschaften und Errungenschaften der Griechen als Vorbild und zugleich als Gegenbeispiel zu denen der modernen Menschen (wie Spartaner ein Gegenbeispiel für Athener sind) dienen, nicht jedoch unkritisch übernommen werden können. Da Nietzsche sich in eine agonale Beziehung zu den Griechen stellt, muss er selbst Neues schaffen und sich so noch weiter von den Griechen distanzieren: Sie sind ihm Freund und Feind zugleich²⁰⁴ und können Anstoß zur Selbstüberwindung und Selbststeigerung, zur Selbstbildung geben. Diese Interpretation erweist sich auch als fruchtbar, wenn wir uns zur wohl berühmtesten Stelle über die Fremdheit der Griechen wenden (GD, Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6.155): Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie k ö n n e n uns nicht sein, was die Römer sind. Man l e r n t nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um „klassisch“ zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je o h n e die Römer gelernt!

 Vgl. etwa M 168, KSA 3.150 – 151: „E i n Vo r b i l d . – Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum g u t e r Ve r n u n f t gehört: d i e s e sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben.“  Thukydides 1976, S. 140 – 143.  Vgl. Za I,Vom Freunde, KSA 4.71– 72: „In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollst ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.“

2.2 Homer und das 19. Jahrhundert

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Nietzsches Aussage ist weder ein isoliertes Argument noch eine späte Änderung seines Geschmacks.²⁰⁵ Die Fremdheits-These, deren Anfänge in Homer’s Wettkampf zu finden sind, bildet keinen Widerspruch zu Nietzsches Meinungen über die archaisch-griechischen Autoren wie Homer oder Heraklit: Er betont, dass wir von den Griechen zwar nichts direkt lernen können, unser Befremden jedoch, das wir ihnen gegenüber fühlen, lehrreich ist. Dies ist wichtig auch für seine Kritik am Missbrauch der monumentalischen und antiquarischen Historie. Der Idee des Epigonentums, der Beurteilung von sich selbst als „Spätling der Zeiten“ (UB II 8, KSA 1.308) wird eine unüberwindbare Kluft zwischen der modernen und der griechischen, besonders prominent der archaisch-griechischen Kultur gegenübergestellt. Es geht um Distanz und Selbstentwicklung gemäß dem agonalen Prinzip, nicht um begeisterte Nachahmung. Am Beispiel Homers sehen wir wiederum, dass Nietzsches Blick auf die Griechen nicht der eines ergebenen Schülers, sondern eines Kritikers war, der nach Parallelen und Diskrepanzen zur ihm gegenwärtigen Perspektive suchte.

2.2.2 Die Nähe Homers Während Nietzsche in Homer’s Wettkampf von der Fremdheit Homers und aller Griechen der archaischen Periode spricht und die Idee der Fremdheit auch in seinen späteren Werken weiterentwickelt, betont er in Jenseits von Gut und Böse, dass die Kluft zwischen Homer und uns doch etwas kleiner werden könne, und zwar wiederum unter Umständen des 19. Jahrhunderts, in dem der historische Sinn der Europäer erst zur Entfaltung komme (JGB 224, KSA 5.158): Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet „historischer Sinn“ beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein u n v o r n e h m e r Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, – welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten.²⁰⁶

 Letztere These vertritt etwa Ingenkamp 2003, S. 16.  Vgl. Nachlass 1885, 34[20], KGW VII 3.147: „NB. Die vorletzten Jahrhunderte lehnten die Gothik als eine Barbarei ab (der Gothe war damals synonym mit dem Barbaren), das vorletzte Jahrhundert lehnte Homer ab. Darin liegt ein G e s c h m a c k : ein starker Wille zu s e i n e m Ja und s e i n e m Nein. – Die Fähigkeit, Homer wieder genießen zu können, ist vielleicht die größte Errungenschaft des europäischen Menschen, – aber sie ist theuer genug bezahlt.“

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

Nietzsche bringt die Wiederentdeckung Homers nicht in die historisch naheliegende Verbindung mit Schliemanns Entdeckungen in Troja oder dem Einfluss von Wolfs Theorie auf die Popularität der homerischen Epen. Es geht ihm um eine andere, tiefere Art geistiger Nähe, die im Begriff der Barbarei, der die kulturelle Vielfalt symbolisiert und Gegenbegriff zur zivilisierten Einheit der Kultur ist,²⁰⁷ sowie der Halbbarbarei als Zustand, der der zukünftigen Zivilisierung direkt vorausgeht und letztere voraussetzt, zum Ausdruck kommt. Nietzsche erscheint hier als Gegenspieler der Anhänger der Evolutionismus-Theorie mit ihrer triadischen, seit Adam Ferguson gängigen Unterscheidung zwischen den Entwicklungsstufen Wildheit, Barbarei und Zivilisation, weil er, en passant, auf die eventuelle, auch epistemologisch bedingte Notwendigkeit eines sich zurückentwickelnden kulturellen Geschmacks hinweist. Dem ethnozentrischen Schema wird ein polykulturelles Bild entgegengestellt, mit dem sogar die schwer zugänglichen Traditionen der Vergangenheit verständlicher werden können. Die Halbbarbarei ist für Nietzsche ein Kompromiss zwischen Zerstörung und äußerster kultureller Verfeinerung, die die eigenen Gesetze zur einzigen Wahrheit macht. Der barbarische Zustand trägt zur Erweiterung des kulturellen Horizonts bei, indem er unterschiedliche Stile und Traditionen in sich vereint. Diese Vereinigung ist allerdings unharmonisch,²⁰⁸ weil sich der Geschmack für alles oft als Mangel guten Geschmacks erweist. Die Vornehmheit einer verfeinerten Tradition kann hingegen die Blindheit gegenüber den großen kulturellen Vorbildern der Vergangenheit hervorrufen, wie der Fall Homers anschaulich demonstriert. Für die zivilisierte und verfeinerte französische Kultur des 17. Jahrhunderts sollte der erste bekannte Dichter Griechenlands zu grob, zu grausam und, letzten Endes, zu fremd sein. Genau diese Fremdheit – als Kluft zwischen der griechischen Archaik und der platonisch-christlichen Tradition – wird von Nietzsche wiederholt thematisiert. Saint-Évremond, den Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse erwähnt, wirft in seiner Schrift Sur les anciens (1685) einen radikal-kritischen Blick auf Homer. Die Personen der Ilias und Odyssee sind für ihn keine freien Wesen, sondern lediglich „Maschinen“,²⁰⁹ die von grausamen, dem milden und geduldigen christlichen Gott gänzlich unähnlichen Gottheiten kontrolliert werden. Aus dieser Perspektive erscheinen Homers Epen für ihn ungeeignet, sodass die modernen Dichter sie keinesfalls nachahmen sollten: Wenn Homer im 17. Jahr-

 Vgl. Sommer 2016, S. 625 (zu JGB 224).  Vgl. dazu Bertino 2011, S. 308 – 309.  Saint-Évremond 1966, S. 349 – 350: „Les Dieux assembléz au Ciel deliberoient de ce qui se devoit faire sur la terre; c’éstoient eux qui formoient les resolutions et qui n’étoient pas moins necessaires pour les executer que pour les prendre. Ces chefs immortels des partis des hommes concertoient tout, animoient tout, inspiroient la force et le courage, combattoient eux-mémes, et à la reserve d’Ajax qui ne leur demandoit que de la lumiere, il n’y avoit pas un combattant considerable, qui n’eut son Dieu sur son chariot, aussi bien que son écuyer. […] Les hommes étoient de pures machines, que de secrets ressorts faisoient mouvoir, et ces ressorts n’estoient autre chose que l’inspiration de leurs Déesses et de leurs Dieux.“

2.2 Homer und das 19. Jahrhundert

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hundert leben würde, dann würde er in jedem Fall ganz andere, für diese Zeit passendere Werke schreiben.²¹⁰ Die neuerworbene Halbbarbarei, die, so Nietzsche, uns erlauben soll, homerische Epen nicht mehr abzulehnen, erweist sich damit als nützlich. Die archaische Maßlosigkeit,²¹¹ die dem klassizistischen Maß fremd ist, befindet sich im Einklang mit den Tendenzen einer halbbarbarischen Kultur des 19. Jahrhunderts, die sich plötzlich vom platonischen und christlichen Maß entfremdet. Die barbarischen Elemente werden nicht in den Dienst reiner Zerstörung gestellt, sondern zu einem Schaffen genutzt, das sich von den Fesseln einer einzigen Tradition befreien kann. Der von Nietzsche implizit dargestellte barbarische Charakter von Ilias und Odyssee lässt sich somit mit dem des Prometheus, der die alten göttlichen Konventionen eigenständig bricht und der Welt eine neue Form gibt,²¹² vergleichen.²¹³ Die Fähigkeit, die homerischen Epen wieder „genießen“ zu können, wird also zum Symptom einer kulturellen Wandlung, zu einem wichtigen Impuls zur Erneuerung,²¹⁴ die im Sieg über die christliche Milde und den Geist-Seele-Dualismus²¹⁵ zum Ausdruck kommen soll.²¹⁶ Für die Annäherung an Homer sollte das 19. Jahrhundert einen hohen Preis bezahlen und sich von der Sicherheit einer vornehmen und verfeinerten Kultur verabschieden.²¹⁷ Die Französische Revolution und der Sieg der Barbarei²¹⁸ waren aus

 Saint-Évremond 1966, S. 358: „Si Homere vivoit presentement, il feroit des poëmes admirables accommodez au siecle où il écriroit: nos poëtes en font de mauvais, ajustez à celuy des anciens, et conduits par des regles qui sont tombées avec des choses que le tems a fait tomber“. Homer wurde – vom selben Standpunkt der Überlegenheit moderner Werke – auch von einigen italienischen Homerinterpretatoren des 17. Jahrhunderts kritisiert, darunter Paolo Beni sowie der Dichter Alessandro Tassoni. S. dazu Beni 1612; Tassoni 1665, S. 298 – 317. Eine Kurzbeschreibung der wichtigsten Punkte s. in Finsler 1912, S. 82– 88.  Im Gegensatz zu Bertino (Bertino 2011, S. 308), denke ich, dass Nietzsches Homer kein Vorbild eines „bestimmten Ja und Nein“ des Gaumens darstellt, sondern als Beispiel der Möglichkeit einer produktiven, jedoch gerade nicht fein kalkulierten Mischung unterschiedlicher Elemente des Apollinischen und des Dionysischen dient.  In einigen Varianten des Mythos erscheint Prometheus als Schöpfer von Menschen und Tieren. S. etwa Apollodorus I.7.1 und Ovidius, Metamorphoses I.71 (Prometheus formt Menschen aus Erde und Wasser).  Vgl. Nachlass 1885, 34[112], KGW VII 3.177– 178: „Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen giebt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es giebt auch eine a n d e r e A r t B a r b a r e n , die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.“  Zur Barbarei als Erneuerung vgl. Reschke 2000, S. 202– 203.  Zur Rolle Homers in Nietzsches Kritik des Leib-Seele-Dualismus s. Kapitel 5.  Vgl. Nachlass 1884, 25[293], KGW VII 2.82: „Daß wir wieder H o m e r empfinden, betrachte ich als den größten Sieg über das Christenthum und christliche Culturen: daß wir die christliche Verzärtelung, Verhäßlichung, Verdüsterung, Vergeistigung satt h a b e n .“  Mehr zu Nietzsches Beispiel der vornehmen französischen Kultur s. in Reschke 2009, S. 63 – 90.

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2 Homer als Kulturfigur: Antike und Moderne

Nietzsches Sicht schmerzhafte Ereignisse, die aber – im Sinn der möglichen Weiterentwicklung²¹⁹ – produktiv erscheinen. Der Geschmack für Homers Epen, die einst am Beginn der griechischen Archaik standen und nun ein bloßes Bruchstück der alten, im Lauf der Zeit fremd gewordenen Tradition sind, erweist sich für ihn als eines der ersten Zeichen des Beginns einer neuen Epoche. Die homerische halbbarbarische Symbiose des apollinischen Stils und des versteckten, nur in seltenen Momenten zum Ausdruck kommenden (ur)dionysischen Weltbilds interpretiert Nietzsche als archaisches Vorspiel der von ihm angestrebten und antizipierten tragischen, antioptimistischen Versöhnung von Natur und Kultur.²²⁰ Statt dieses nietzscheschen Mythos der Wiederkehr kommen im 20. Jahrhundert jedoch andere Mythen auf die Bühne, die sich in verschiedenem Sinn als tragisch erweisen.

 Im Gegensatz zu Goethe und Hölderlin, die nur die Deutschen ihrer Zeit „Barbaren“ nennen (vgl. Anmerkungen zu Goethe: Nachlass 1872/73, 19[312], KGW III 4.102– 103), bezeichnet Nietzsche die gesamte Epoche als „barbarisch“. S. dazu Ottmann 1999, S. 259.  Zum Begriff der Barbarei s. auch Ottmann 1999, S. 260.  Vgl. Ottmann 1999, S. 63.

3 Odysseus und das europäische Ideal Nietzsche hatte kein Interesse an einseitigen und ernsten heroischen Gestalten. In der doppeldeutigen Figur des homerischen Odysseus, des Meisters der künstlerischen Lüge, fand er eine adäquate Alternative. Obwohl Odysseusʼ Name bei Nietzsche nur selten direkt erscheint, kommt ihm eine komplexe Rolle zu: In kulturphilosophischer Hinsicht spielt er die Rolle des griechischen Ideals und des historischen Typus des großen Menschen. Aus ethischer Perspektive stellt er ein Beispiel des unmoralischen Handelns dar. Seine epistemische und allgemein-methodologische Aufgabe ist die metaphorische Abbildung von Nietzsches perspektivischem Denken. Diese unerwartete Rollenauswahl setzt eine unkonventionelle Interpretationsstrategie voraus, die im folgenden Kapitel erklärt wird.

3.1 Odysseus, das griechische Ideal? In der antiken literarischen Tradition nimmt der vielgewandte Odysseus im Gegensatz zu Achill, dem Protagonisten der Ilias, eine mehrdeutige Stellung ein. Je nach Interpretation erscheint er entweder als ordentlicher Held, der sich um das Schicksal seiner Familie und Freunde kümmert (etwa in der Odyssee ²²¹), als prinzipienloser Betrüger und grausamer Zerstörer (etwa in Vergils Aeneis ²²²) oder als eine nur an ihren eigenen Vorteil denkende Person (wie etwa der hinterlistige Odysseus von Ovids Metamorphosen).²²³ Nietzsche kennt die sich widersprechenden Perspektiven der OdysseusInterpretation gut, distanziert sich mit seiner philosophischen Interpretation von den antiken bzw. alternativen Deutungen deutlich, berücksichtigt aber ihre wichtigsten Punkte.²²⁴ In Nietzsches Schriften der frühen und mittleren Periode übernimmt der epische Held Odysseus eine ähnliche Rolle wie der halbmythologische Dichter Homer: Beide treten als typische²²⁵ und zugleich ideale Griechen auf. In einem Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches, in dem Nietzsche den agonalen Charakter der Ent-

 Vgl. etwa Danek 1998, der die problematischen Eigenschaften von Odysseus, die auch Homer kurz erwähnt, betrachtet. Danek argumentiert, dass die homerische Odyssee alle Handlungen des Protagonisten zu rechtfertigen versuchte (zum Beispiel seine Unschuld am Tode der Gefährten).  Vgl. Vergilius, Aeneis 9.  In XIII.1– 398 geht es um den Streit zwischen Odysseus und Aias um die Waffen des verstorbenen Achill. Die geschickte Rede von Odysseus, in der er begründet, warum ihm und nicht Aias das Recht auf die Waffen gebührt, und sein Sieg im Streit haben den Selbstmord des gedemütigten Aias zur Folge.  Zu den antiken philosophischen Deutungen von Odysseus’ Charakter, die Nietzsche ebenfalls implizit berücksichtigen konnte, s. Montiglio 2011.  Vgl. ST, KSA 1.604: „Odysseus, der typische Hellene der ältern Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus ab.“ https://doi.org/10.1515/9783110751406-006

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3 Odysseus und das europäische Ideal

wicklung der griechischen Kultur erneut thematisiert, beschreibt er die Griechen als „Volk des Odysseus“ (MA II, VM 219, KSA 2.472): Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit, die Nüchternheit sind der Volksanlage angerungen, nicht mitgegeben, – die Gefahr eines Rückfalles in’s Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsterniss. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überfluthet – denn Europa war damals sehr klein – , aber immer kommen sie auch wieder an’s Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus.

Das asiatische Element der archaischen Kultur der Griechen manifestiert sich für Nietzsche im Dionysischen, das für die griechische Kultur vital ist. Der periodische Überfluss des Asiatischen, von dem die Griechen betroffen sind, ohne durch ihn zugrunde zu gehen, erweist sich als nützlich, weil er eine produktive Opposition ermöglicht.²²⁶ Die ganze Entwicklung der griechischen Kultur vor Platon ist laut Nietzsches Darstellung ein konstantes, rhythmisches²²⁷ Schwimmen und Tauchen, ein Wechsel von Dunkelheit und Licht, Flut und Ebbe, ungeordneter Wildheit und geordneter Feinheit. Das in Menschliches, Allzumenschliches dargestellte Bild der Entwicklung der griechischen Kultur ist im Vergleich zur Geburt der Tragödie wesentlich dynamischer und komplexer. Zugleich beinhaltet es eine Entwicklung von Nietzsches Überlegungen zur Herkunft der Griechen. So wird der gemischte Charakter der griechischen Kultur in einem frühen Nachlassfragment von 1875 wie folgt dargestellt (5[198], KGW IV 1.172): U r b e v ö l k e r u n g griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein N a c h s t o ß , nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war. Was sind „Rassegriechen“? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart G r i e c h e n geworden sind?²²⁸

Indem Nietzsche die damals langsam an Popularität gewinnende und heute weitgehend als nicht bestätigt geltende Theorie der Wanderung des griechischen Volksstamms der Dorer nach Mittelgriechenland anspricht, weist er auf die Präsenz asiatischer Elemente in den griechischen Mythen und im griechischen „Blut“ hin. Diese Thesen sind insbesondere gegen die bedingungslosen Bewunderer der Antike gerichtet, die alles Griechische als unerreichbares und reines Ideal darstellen und gegen

 Auch wenn Nietzsche sich für diese Details nicht interessiert, ist zu bemerken, dass viele Motive und Elemente z. B. der homerischen Odyssee ihren Ursprung in den vorderasiatischen mythologischen Traditionen, etwa im Gilgamesch-Epos, haben. S. dazu v. a. West 1997, S. 402– 437.  Zum rhythmischen Charakter der Abwechslung von Dionysischem und Apollinischem am Beispiel von MA II, VM 219 s. Günther 2008, S. 186.  Zum Fragment s. auch Cancik 1995, S. 131.

3.1 Odysseus, das griechische Ideal?

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die Nietzsche bereits in seiner Baseler Homervorlesung kämpft. Auch eine Kritik an den Rassentheoretikern des 19. Jahrhunderts lässt sich erkennen, die die Griechen als Beispiel eines Volkes von „reinem“ Ursprung nutzten.²²⁹ Indirekt betrifft dieser Vorwurf aber auch einige Altertumswissenschaftler wie Friedrich August Wolf, die die Exklusivität der griechischen Kultur im Gegensatz zu allen anderen Kulturen betonten und die Griechen z. B. von den Semiten deutlich abzutrennen suchten.²³⁰ Nietzsches antirassistische Darstellung der Griechen als Volk, das sich Elemente unterschiedlicher Kulturen angeeignet hat, bleibt nicht isoliert in seinem Werk. Sie steht im Einklang mit seinen späteren Thesen zur historischen Notwendigkeit der Blutmischung für europäische Kulturen und speziell für die deutsche Kultur, etwa in Jenseits von Gut und Böse. Erstaunlich und kaum begründet wirkt hingegen die – von Nietzsche sonst nur in einem weiteren Nachlassfragment von 1876 erwähnte – Annahme, dass die Urbevölkerung Griechenlands mongolischer Abkunft sein könnte²³¹ und dass auch im Charakter von Odysseus „mongolische“ Züge zu erkennen seien. Eine Erklärung letzterer These wäre die Verschmelzung der Abkunftshypothese mit der für die damalige Philologie bereits bekannten Parallele zwischen der Odyssee und dem mongolischen Geser-Khan-Epos, deren Kern das Motiv der Bogenprobe für den heimkehrenden Protagonisten ist.²³² Weder in Menschliches, Allzumenschliches noch im gerade zitierten Nachlassfragment finden wir eine explizite Erklärung, welchen Odysseus – denjenigen Homers, Vergils oder Ovids – Nietzsche hier im Auge hat. Dennoch dient die Thematisierung der Agonalität zwischen asiatischer „Wildheit“ und griechischer Ordnung als leicht erkennbarer Hinweis auf die homerischen Epen.²³³ Die Gefahr des Rückfalls ins Asiatische könnte, aus Nietzsches Perspektive, ihre Verkörperung in einer OdysseeSzene finden, in der der Hauptheld sich an den Mast fesseln lässt, um dem verzaubernden Lied der Sirenen nicht nachzugeben. Hier steht der Protagonist, als Vertreter der griechischen Kultur, den Trieben der asiatischen Kultur gegenüber: Da die asiatischen Wurzeln der Sirenen bereits zur Zeit Nietzsches bekannt waren,²³⁴ könnte er auch an diese Szene gedacht haben, als er über das Ringen des Griechischen mit dem Asiatischen schrieb. Odysseus hört das Lied der Sirenen – und gehorcht ihnen nicht. Mit diesem Akt der Bekämpfung seiner Triebe zeigt er sich – im Gegensatz zu Achill,

 Zu dieser Richtung von Nietzsches Kritik s. Müller 2005, S. 120.  Auch wenn nicht klar ist, ob Nietzsche etwa die späten Schriften Wolfs zu diesem Thema gelesen hat, sollte er, als klassischer Philologe, mit seiner Position vertraut sein, insofern sie in den Altertumswissenschaften des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Formen stets präsent war.  Die These übernimmt Nietzsche aus John William Drapers Buch Geschichte der geistigen Entwickelung Europas (1871). Mehr dazu in Orsucci 1996, S. 116.  Vgl. Heissig 2003, S. 74.  Vgl. etwa Nietzsches Hinweise auf Achills Wildheit und Grausamkeit, die im 2. Kapitel behandelt wurden.  S. etwa Schrader 1868, der eine Verbindung zwischen den Sirenendarstellungen auf den griechischen Vasen und den assyrischen Bildern der geflügelten Mischgestalten feststellt.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

der nicht bereit ist, seinen Trieb des Hasses zu bezwingen – als typischer Grieche.²³⁵ Ihm gelingt es, der Einzige zu sein, der den Sirenen zuhört und dennoch nicht ums Leben kommt. Das Lied der Sirenen, die für Nietzsche das Asiatische repräsentieren könnten, ist für Odysseus zugänglich – und doch können sie ihn nicht bezaubern. Odysseus als Grieche und „guter Schwimmer und Taucher“ wird somit vom Asiatischen nicht „überflutet“ und besiegt: Im Gegenteil, er kann das Asiatische selbst besiegen²³⁶ und kontrollieren. In diesem Sinn symbolisiert Nietzsches Odysseus die produktive Symbiose des Dionysischen mit dem Apollinischen: Er kann die rohe und kreative Energie des Dionysischen – die Instinkte, das Spontane, das Unendliche – mit Hilfe von apollinischen Instrumenten – dem Denken, dem Begrenzen – für sich nutzbar machen.²³⁷ Die wichtigste apollinische Qualität von Odysseus, seine μῆτις (Vernunft),²³⁸ erlaubt ihm, seine rohe und kreative Energie in bestimmten Situationen zu nutzen, Auswege zu erdenken und Einsicht in den Stand der Dinge zu bekommen. Als ein typisch vorsokratischer Grieche steht Odysseus in der Mitte zwischen dem Asiatischem und dem Europäischem, zwischen der Hingebung an die Natur und deren Unterdrückung durch eine einzige und unbedingte Moral.²³⁹ Neben diesem expliziten Grund gibt es für Nietzsche wohl auch implizite Anlässe, Odysseus als einen typischen Griechen und sogar als griechisches Ideal zu betrachten. Einer könnte darin liegen, dass er die Götter für ihre eigenen Misserfolge verantwortlich macht.²⁴⁰ Eine wichtige Rolle spielt auch das agonale Gefühl, „welches vor einem Publikum siegen will und diesem Publikum verständlich sein muß“ (Nachlass 1883, 8[15], KGW VII 1.349).²⁴¹ Dieses Gefühl lässt sich in seiner sozialen und kommunikativen Funktion bei Odysseus klar erkennen, insbesondere in den Fällen, in denen er seine physische bzw. mentale Überlegenheit vor einem Publikum demonstriert. Ein Beispiel dafür ist die Szene auf der Insel der Phäaken: Nach seinen peinlichen Wanderungen und nach dem Verlust aller Schiffe und Gefährten landet Odysseus auf der Insel Ogygia. Hier wird er vom Phäakenkönig Alkinoos freundlich aufgenommen, gerät aber in einen verbalen Konflikt mit den jungen Phäaken, die ihn – als Unbekannten, der keine Stellung in ihrer Gemeinde hat – ironisch zu einem

 Vgl. Witzler 2001, S. 46 – 47.  Bei Homer besteht der Erfolg von Odysseus darin, dass er nicht ums Leben kommt. Erst in den späten Versionen der Geschichte (Hyginus, Fabulae 125.141; Lykophron, Alexandra 712– 716) manifestiert sich sein Sieg im Tod der Sirenen: Sie stürzen sich von den Felsen, nachdem sie erkennen, dass Odysseus sich nicht bezaubern lässt.  Eine knappe und übersichtliche Darstellung der wichtigsten Deutungen von Nietzsches Gegensatz apollinisch–dionysisch s. in Caysa 2000, S. 39 – 59.  Zur Rolle der μῆτις in der griechischen Literatur s. Vernant/Detienne 1974.  Vgl. Witzler 2001, S. 46.  S. dazu Kapitel 4.  Dieses Fragment wurde als Einleitung zu Nietzsches unausgeführtem Projekt Die Griechen als Menschenkenner konzipiert.

3.2 Der lügende Odysseus

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Wettbewerb einladen.²⁴² Odysseusʼ Sieg in diesem Wettbewerb demonstriert den Zuschauern seine Überlegenheit und ist somit auch der erste Schritt seiner Resozialisierung. Nach vielen Jahren, die Odysseus im Märchenbereich von Halbgöttern und Mischwesen verbringt, soll er seine Stellung in der menschlichen Umgebung wiederfinden, wobei der Agon bei den Phäaken, die zwar nicht zur menschlichen Gesellschaft gehören, aber auch keinesfalls als Götter oder Untiere zu sehen sind, ihm als erste Probe dient. Die wirkliche Probe, die Odysseus zur Wiedergewinnung seiner Stellung auf Ithaka zu bestehen hat, ist die Bogenprobe und der nachfolgende blutige Wettbewerb mit den Freiern.²⁴³

3.2 Der lügende Odysseus Die Unverantwortlichkeit und das agonale Gefühl korrespondieren zwar mit den typisch griechischen Qualitäten, werden aber von Nietzsche in keine explizite Verbindung mit Odysseus gebracht. Bereits in der Morgenröthe gibt er zu verstehen, dass er sich primär für die Fähigkeit zur Lüge als Grund der außerordentlichen Stellung von Odysseus in der archaisch-griechischen Kultur interessiert (M 306, KSA 3.224): G r i e c h i s c h e s I d e a l . – Was bewunderten die Griechen an Odysseus? Vor Allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können, w a s m a n w i l l ; heldenhafte Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben – sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken –: diess Alles ist griechisches I d e a l ! Das Merkwürdigste daran ist, dass hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler!

Als typischer Grieche der vorplatonischen Zeit ist Odysseus vor allem ein ungewöhnlicher, schauspielerischer²⁴⁴ Lügner, der die Grenzen zwischen Schein und Sein

 Od.VIII.145 – 149 (Laodamas an Odysseus): „Fremder Vater, auch du musst dich in den Kämpfen versuchen, / Hast du deren gelernt; und sicher verstehst du den Wettkampf. / Denn kein größerer Ruhm verschönt ja das Leben der Menschen, / Als, den ihnen die Stärke der Händ’ und Schenkel erstrebet. / Auf denn, versuch’ es einmal, und wirf vom Herzen den Kummer.“ S. auch VIII.159 – 164 (Laodamas zu Odysseus nach dessen vorläufiger Absage, an dem Wettkampf teilzunehmen): „Nein wahrhaftig! o Fremdling, du scheinst mir kein Mann, der auf Kämpfe / Sich versteht, so viele bei edlen Männern bekannt sind; / Sondern so einer, der stets vielrudrige Schiffe befähret, / Etwa ein Führer des Schiffs, das wegen der Handlung umherkreuzt, / Wo du die Ladung besorgst, und jegliche Ware verzeichnest, / Und den erscharrten Gewinst! Ein Kämpfer scheinst du mitnichten!“  Der Kampf mit den Freiern beginnt nach der Ankündigung des Wettbewerbs im Bogenschießen. Im Gegensatz zu den Freiern demonstriert Odysseus seine Fähigkeit, den eigenen Bogen zu biegen.  Zu Nietzsches Vorstellung von den Griechen als Schauspieler s. auch FW 356, KSA 3.596: „wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr j e d e r R o l l e g e w a c h s e n zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird … Die Griechen, erst in diesen R o l l e n - G l a u b e n – einen Artisten-Glauben, wenn man will –

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3 Odysseus und das europäische Ideal

verwischt und keine moralischen Differenzen berücksichtigt. Seine Lüge hilft ihm, sich selbst als Anderen darzustellen. Es ist ein vielfältiges und kreatives, neue Wahrheiten schaffendes Wesen:²⁴⁵ Je nach Situation kann ein neuer Odysseus erfunden werden. Der Protagonist der Odyssee kann dem Schweinehirten Eumaios²⁴⁶ oder der eigenen Frau Penelope²⁴⁷ falsche Geschichten über sich selbst erzählen, sich dem Kyklopen Polyphem als „Niemand“ vorstellen²⁴⁸ oder vor den Freiern als Bettler erscheinen.²⁴⁹ Sein Geist hilft ihm, alle Hindernisse, die für einen anderen vielleicht unüberwindbar wären, während seiner langen Wanderung zu überwinden und sich damit die Bewunderung der Götter zu verdienen. Um sein Ziel zu erreichen, stellt er sich „alle Mittel zu Gebote“: Er kann grausam sein ohne Mitleid für die Freier oder seine Frau und seinen Vater²⁵⁰ betrügen, weil es für die Bestätigung ihrer Loyalität ihm gegenüber nötig ist. Die Lügen von Odysseus lassen sich aber nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch beschreiben.²⁵¹ Seine Worte sind glaubwürdig nicht zuletzt wegen ihrer Schönheit, die in der Odyssee vom König der Phäaken Alkinoos hervorgehoben wird.²⁵² Obwohl Alkinoos explizit betont, Odysseus sei in seinen Augen alles andere als ein Betrüger, bedeutet das keinesfalls, dass er Odysseus’ Fähigkeit, die ganze Wahrheit über seine Abenteuer zu erzählen, bewundert.²⁵³ Der Hauptgegenstand seiner Rede ist der Vergleich von Odysseus mit einem erfahrenen Dichter bzw. Sänger wie etwa dem ebenfalls in der Szene präsenten Demodokos und deutet auf den Charakter und die Fähigkeiten der Person. Dank der Schönheit der Darstellung erscheint Odysseus’ Erzählung über seine Wanderungen jenseits des menschlichen

eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch: s i e w u r d e n w i r k l i c h S c h a u s p i e l e r ; als solche bezauberten sie, überwanden sie alle Welt“.  In griechischer Sprache werden diese Fähigkeiten durch das homerische Odysseus-Epitheton πολύτροπος (vielgewandt) ausgedrückt.  Od.XIV.191– 359.  Od.XIX.165 – 204.  Od.IX.366.  Od.XVII.370 – 373.  Od.XXIV.302– 314.  S. auch Martin 2006, S. 3 – mit einem anderen Beispiel (Od.VIII.166 – 177, wo Odysseus seinem Opponenten Euryalos die Notwendigkeit für eine edle Person, schön zu sprechen, erklärt).  Od.XI.363 – 369: „Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündet mit nichten / Einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer; wie viele / Sonst die verbreiteten Völker der schwarzen Erde durchstreifen, / Welche Lügen erdichten, woher sie keiner vermutet. / Aber in deinen Worten ist Anmut [μορφὴ ἐπέων] und edle Gesinnung; / Gleich dem weisesten Sänger, erzähltest du die Geschichte / Von des argeiischen Heers und deinen traurigen Leiden.“  Mit Recht deutet Louise Pratt in ihrer Studie über poetische Lügen im griechischen Epos und griechischer Lyrik darauf hin, dass Dichtung bei Homer niemals in Verbindung mit der Wahrheit (ảλήθεια) gebracht wird (Pratt 1993, S. 31). Anders als einige Homerforscher (Thalmann 1984, S. 172– 173) und Scholiasten (vgl. schol. ad Od.VII.313), denke ich nicht, dass Alkinoos bei Homer naiv dargestellt wird.

3.2 Der lügende Odysseus

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Bereichs keinesfalls als Humbug,²⁵⁴ kann aber auch nicht als wahre und detaillierte Darstellung tatsächlicher Ereignisse verstanden werden. Wichtig ist, dass Odysseus über eine traurige und unglückliche Periode seines Lebens auf eine edle Art und Weise ohne jegliche Anmaßung oder Selbsterniedrigung erzählen kann.²⁵⁵ Dadurch verdient er nicht das erniedrigende und verkleinernde Mitleid,²⁵⁶ sondern die Anerkennung der Phäaken, die ihn reich beschenken und auf seine Bitte nach Ithaka bringen. Die homerische Darstellung des früheren Konflikts mit den Phäaken birgt die Möglichkeit, Odysseus als skrupellose Person darzustellen, die nur an den eigenen Gewinn (κέρδος) und nicht an Ehre denkt.²⁵⁷ Alkinoos repräsentiert eine andere Position: Seine Einschätzung des Gasts, den er bisher nicht kannte, würdigt die Verbindung zwischen der Schönheit der Worte und den hervorragenden inneren Qualitäten von Odysseus (φρένες ἐσθλαί). Hier sehen wir nicht nur zwei Seiten des Charakters von Odysseus, sondern auch die Ursprünge des Konflikts zwischen zwei Interpretationen der Dichtung: als schädliche Manipulation der Wahrheit und der Emotionen der Zuhörer sowie als bewusste und schöne Täuschung, die ihrem Publikum nicht nur nicht schadet, sondern es auch erziehen kann.²⁵⁸ Während Platon die erste Deutung wählt, steht Nietzsche, wenn auch mit einigen Vorbehalten gegenüber seiner Idee des Nutzens und der Lüge, auf der Seite von Alkinoos.²⁵⁹ Die bei Nietzsche nur implizit angedeutete Odyssee-Szene des Gastmahls bei den Phäaken macht deutlich, warum Odysseus – eine erdichtete Person – neben Homer steht. Das Leben von Odysseus wird wie auch das Leben Homers bei den späteren Autoren zum Gegenstand der Dichtung. Mehr noch, er ist selbst gleich Homer ein Schaffender, der die Kunst der schönen poetischen Lüge perfekt beherrscht. Nietzsche rechnet den lügenden Odysseus gerade darum zu den vorbildlichen Charaktertypen, weil die Schönheit seiner Rede ein fester Bestandteil seiner Selbstdarstellung ist. Er braucht die Macht des Scheins, um die eigene Kraft zu demonstrieren und die verlorene, in Vergessenheit geratene soziale Position des aristokratischen Helden wiederzugewinnen. Seine schauspielerische Lüge ist ein deutliches Anzeichen seines

 Das Wort „Humbug“ nutze ich hier analog zum englischen Begriff „bullshit“ (zum Begriffsinhalt s. Frankfurt 2005).  Vgl. den Artikel „Edel“ im Nietzsche-Wörterbuch, Bd. 1, 691.  Zu Nietzsches Mitleidskritik s. insb. Nussbaum 1993, S. 831– 858. Für Nietzsche ist bezüglich der Parallele zwischen Odysseus und dem idealen Typen des höheren Menschen wichtig, dass Odysseus nicht nach Mitleid sucht und die Phäaken nur um praktische Hilfe bittet: Auch nach zahlreichen unglücklichen Ereignissen und in der Situation absoluter Unsicherheit und Armut ist er stark genug, seine edle Haltung nicht zu verlieren.  S. die Rede von Euryalos: Od.IX.159 – 164.  Vgl. diese These in Pratt 1993, S. 31– 32.  In dieser Hinsicht ist Nietzsche nicht weit von Aristoteles, der in seiner Ars Poetica (1460a–b) darauf hinweist, dass Odysseus’ Lügen v. a. wegen der Schönheit ihrer Form überzeugend sind und dass ein schlechter Dichter, im Gegensatz zu Homer, die Inkonsistenzen in Odysseus’ Geschichte nicht verschleiern könnte.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

edlen Charakters. Letzteres wird in Nietzsches Schriften der mittleren Periode mit einem weiteren Schlüsselthema in Verbindung gebracht.

3.3 Odysseus, das europäische Ideal Nietzsches Beschreibung von Odysseus ist ein Beweis dafür, dass er ihn nicht als isolierte Gestalt der griechischen Kunst, sondern als kulturellen Typus betrachtet. Zugleich stellt sich die Frage, wozu Nietzsche eine Historisierung seiner philosophischen Odysseus-Interpretation benötigt und warum er Odysseus’ Rolle des griechischen Ideals betont. Tatsächlich widerspricht Nietzsches Bild von Odysseus den meisten Deutungen nicht nur der römischen, was aus historisch-kulturellen Gründen verständlich ist, sondern auch der griechischen Autoren. Selbst in der klassischen, nicht-euripideischen Tragödie, etwa im Philoktet von Sophokles, erscheint Odysseus in einem eher ungünstigen Licht. Um den kranken Philoktet zu betrügen und ihn nach Troja zu bringen,²⁶⁰ versucht er, die Hilfe von Herakles’ Sohn Neoptolemos zu bekommen und überredet diesen auf sophistische Weise. Weil seine Strategie am Ende scheitert, verliert er auch die Kontrolle über Neoptolemos. Diese Darstellung von Odysseus’ Zweifel macht deutlich, dass Sophokles ihn negativ oder zumindest nicht als positives Ideal einschätzt. Eine ähnliche Deutung finden wir in Pindars achter Nemeischer Ode, die den Ausgang des Streits zwischen Ajax und Odysseus um die Waffen des verstorbenen Achill als ungerecht darstellt: Odysseus sei physisch schwächer als Ajax, kann aber mithilfe seiner „verhassten“ Kunst des Überredens (N.VIII.32: ἐχθρὰ πάρφασις) die Entscheidung der Achäer beeinflussen und die Waffen für sich gewinnen. Obwohl Homer ein wesentlich günstigeres Bild von Odysseus zeichnet, lassen sich in seinen Epen auch mehrere Indizien für eine kritische Einschätzung von Odysseus’ Verhalten erkennen – und zwar sowohl in der Ilias, wo der Vergleich zwischen Achill und Odysseus nicht zu Gunsten des letzteren ausgeht, als auch in der Odyssee, wo verschiedene unangenehme Episoden anklingen, in denen Odysseus eine wichtige Rolle spielt.²⁶¹ Die Inkonsistenz der Interpretation des Odysseus gibt also keinen Anlass, ihn als unbestreitbares griechisches Ideal der vorplatonischen Zeit zu bezeichnen. Aus historisch-philologischer Perspektive ist Nietzsches Interpretation zum Scheitern verurteilt. Sie ergibt nur Sinn, wenn wir, Nietzsches Aussagen in den Schriften und Nachlassfragmenten der 1880er-Jahre folgend, Odysseus mit Nietzsches

 Bei der Fahrt des Heers der Achäer nach Troja wurde Philoktet auf der Insel Chryse von einer Schlange gebissen. Später wurde er auf der Insel Lemnos ausgesetzt und verlassen. Nach mehreren Kriegsjahren haben die Achäer den Orakelspruch erhalten, dass Troja nur mit Philoktets Hilfe erobert werden kann, und eine Gesandtschaft wird unter Odysseus’ Leitung nach Lemnos ausgesandt.  Vgl. etwa die Hinweise auf Odysseus’ Rolle im hinterlistigen Mord an Philomeleides in Od.IV.341– 346.

3.3 Odysseus, das europäische Ideal

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Kritik an der zeitgenössischen europäischen Kultur und der traditionellen Moralphilosophie verbinden. Homers Odysseus hat die Fähigkeit, neue Wahrheiten zu schaffen und verschiedene Identitäten einzunehmen. Seine erfinderische Grausamkeit, Härte und Bereitschaft zum Leiden, die er in zahlreichen Krisensituationen aufweist, entsprechen den Qualitäten der großen sittlichen Menschen, die Nietzsche in der Morgenröthe als „kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite […] Seelen“ charakterisiert (M 18, KSA 3.30). Als griechisches Ideal und typischer Grieche, der auf eine schauspielerische Weise lügen kann,²⁶² wird Odysseus in Nietzsches späten Nachlassfragmenten in eine Reihe historischer „großer“ Menschen – mit Caesar und Napoleon – gestellt.²⁶³ Implizit lässt sich sein Odysseusbild auch im Hintergrund einiger Darstellungen großer und kleiner Menschen in Schriften der 1880er-Jahre erkennen. Das Leitmotiv, das die idealisierte homerische Gestalt mit Nietzsches Kultur- und Moralkritik verbindet, ist die Idee der Selbstbeherrschung im Sinn der Macht über die eigenen Triebe.²⁶⁴ Die Anspielung auf die schon früher angedeutete Fähigkeit von Odysseus, eigene asiatisch-dionysische Triebe zu bezwingen und seinen Zielen unterzuordnen, lässt sich auch in Nietzsches Gartenmetapher erkennen (M 266, KSA 3.326): Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren …

Diese Darstellung der Selbstbeherrschung, die auf sorgfältiger Kultivierung der eigenen Triebe beruht, erinnert an die homerische Szene des Gesprächs zwischen Odysseus und seinem Vater Laertes, die sich in Laertesʼ Garten abspielt.²⁶⁵ Nachdem Odysseus den guten Zustand und die Üppigkeit des Gartens preist, bemerkt er, dass Laertes sich mehr um den Garten als um sich selbst kümmert: Die Schönheit der grünen Umgebung kontrastiert mit der Traurigkeit und Müdigkeit des Gärtners. Die Bemerkung hat keinen bösen oder ironischen Unterton. Vielmehr meint Odysseus, dass eine adelig aussehende Person wie Laertes sich um sich selbst genauso gut wie

 Zur Fähigkeit großer Menschen, Masken zu tragen, s. Nachlass 1885, 34[96], KGW VII 3.171– 172: „NB. Ein großer Mensch, ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat, was ist das? […] Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und W i l l e n .“  Nachlass 1887, 10[159], KGW VIII 2.216: „Die höchsten Menschen wie Caesar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiäner), die Griechen (Odysseus); die Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen …“  Anders als Kant, der sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, 393 – 394) von der antiken Lobpreisung der Selbstbeherrschung distanziert und zugleich die guten und schlechten Aspekte dieser Eigenschaft demonstriert, steht Nietzsche mit seiner positiven Einschätzung auf der Seite der antiken Autoren.  Od.XXIV.244– 255.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

um den eigenen Garten sorgen soll. Nietzsche geht einen Schritt weiter als Homer, indem er die Kultivierung nicht auf den Menschen im Ganzen (wie bei Homer), sondern nur auf das Innere, auf menschliche Triebe und Emotionen bezieht. Als Ideal eines starken und grausamen Menschentypus wird Odysseus bei Nietzsche nicht nur zum Instrument der Kritik an „kleinen“ Menschen, sondern auch am zeitgenössischen „schwachen“ Europäer.²⁶⁶ Im vierten Buch von Also sprach Zarathustra, in dem wir eine erweiterte Beschreibung des idealen und des mangelhaften höheren Menschen der Gegenwart finden, wird Odysseus eine bedeutende Stellung eingeräumt. Die von Nietzsche auch im zweiten Buch von Menschliches, Allzumenschliches thematisierte asiatisch-dionysische Versuchung von Odysseus, samt Anspielung auf die Sirenen-Episode der Odyssee, wird zum Schlüsselelement des Zarathustra-Kapitels Unter Töchtern der Wüste,²⁶⁷ in dem der Wanderer vom Leben in der Wüste singt.²⁶⁸ Die Töchter der Wüste symbolisieren die asiatisch-dionysischen Triebe, die nur ein wirklicher höherer Mensch domestizieren kann. Die Parallelen zwischen dem Lied des Wanderers und der Sirenengeschichte im zwölften Buch der Odyssee sind zahlreich: ein bezauberndes Lied (der Wanderer spielt auf der Harfe des Zauberers; die Stimme der Sirenen bezaubert die Seefahrer), Frauen als handelnde Personen (die Sirenen singen von sich selbst; der Wanderer singt von den Töchtern der Wüste), das Vergessen (die Seefahrer vergessen ihre Heimat; in der Wüste verliert man seine Erinnerungen) und letztlich der wandernde Held als zentrale Figur des Fragments. Der starke Odysseus, der seine Triebe beherrschen kann, ist ein Gegenbild zum schwachen Wanderer, der seinen Trieben nachgibt. Der Wanderer, ein „Europäer“, versucht die asiatischen Triebe mit Hilfe der göttlich sanktionierten Moral (des „moralischen Löwen“²⁶⁹) zu bekämpfen, wobei sein Versuch wegen Gottes Tod offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist. Angesichts dieser moralischen Schwäche, die

 S. JGB 62, KSA 5.83: „bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdentier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges […], der heutige Europäer …“  Vgl. Nachlass 1888, 14[14], KGW VIII 3.17: „Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, sowenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.“  Za IV, Unter Töchtern der Wüste, KSA 4.383: „Diese schöne Luft trinkend, / Mit Nüstern geschwellt gleich Bechern, / Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, / So sitze ich hier, ihr / Allerliebsten Freundinnen“.  Za IV, Unter Töchtern der Wüste, KSA 4.384– 385: „Ha! Herauf,Würde! / Tugend-Würde! EuropäerWürde! / Blase, blase wieder, / Blasebalg der Tugend! / Ha! / Noch einmal brüllen, / Moralisch brüllen! / Als moralischer Löwe / Vor den Töchtern der Wüste brüllen! / – Denn Tugend-Geheul, / Ihr allerliebsten Mädchen, / Ist mehr als alles / Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger! / Und da stehe ich schon, / Als Europäer, / Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! / Amen!“ Das Lied des Wanderers kann man auch als selbstironisch interpretieren. In jedem Fall kann er seiner Unfähigkeit, ohne Gott mit den dionysischen Trieben zu kämpfen, nicht loswerden: Deswegen beginnt er, zusammen mit anderen Gästen Zarathustras nach dem Tod Gottes einen neuen, in Form des Esels, mit alten (biblischen) Worten anzubeten.

3.4 Odysseus und der Weg des Philosophen

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Nietzsche in den gegenwärtigen Europäern sieht, ist der unmoralische Odysseus nicht nur ein „griechisches Ideal“, sondern auch ein europäisches.

3.4 Odysseus und der Weg des Philosophen Im Zuge der früheren Beispiele liegt es nah, eine Parallele zwischen dem vielgewandten homerischen Odysseus, dem Wanderer und Krieger,²⁷⁰ der die Grenzen zwischen Mensch und Gott, Mensch und Tier, Leben und Tod (durch seinen Abstieg in den Hades) überwindet, und Zarathustra zu ziehen. Bei Nietzsche wird Odysseus sowohl zu einem idealisierten und historisierten Menschentypus als auch zum metaphorischen Instrument der Beschreibung vom Ideal der experimentalen und perspektivischen Philosophie des neugierigen Wanderns und Suchens nach neuen Antworten. Die deutlichsten Beweise der Parallelen zwischen Odysseus und Zarathustra finden sich in der Priamel zur Erzählung über Zarathustras Traum, in dem er mit dem Zwerg über die ewige Wiederkehr spricht (Za III, Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4.197): Zarathustra aber war ein Freund aller Solchen, die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben mögen. Und siehe! zuletzt wurde ihm im Zuhören die eigne Zunge gelöst, und das Eis seines Herzens brach: – da begann er also zu reden: Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, – euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird: – denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr e r r a t h e n könnt, da hasst ihr es, zu e r s c h l i e s s e n – euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich s a h , – das Gesicht des Einsamsten.

Die Anspielungen auf die Irrfahrten des kühnen Odysseus dienen hier sowohl kulturkritischen Zwecken, im Kontext der früheren Vergleiche zwischen Odysseus und den modernen Europäern, als auch der Bestimmung der Prinzipien des Philosophierens. Diese Bestimmung erfolgt vor dem Hintergrund der zentralen Opposition im vierten Buch zwischen Zarathustra und den zahlreichen Gestalten, die seine Ideen auf unterschiedliche Art und Weise missdeuten. Im letzten Buch von Also sprach Zarathustra wird Odysseus dem ewigen Wanderer gegenübergestellt. „Zarathustras Schatten“ stellt ein verzerrtes Bild von Zarathustras Ideen dar, die von kalter Einsamkeit, Müdigkeit und ziellosem Herumtappen nach dem Verlust der klaren und beständigen Orientierungspunkte durchdrungen sind. Das indirekt präsente Bild von Odysseus symbolisiert hingegen die Möglichkeit einer metaphorischen Beschreibung von Zarathustras Denken und Handeln. Im Kapitel Der Schatten entsteht in diesem Kontext eine Trias von Gestalten, die zugleich eine weitere, nicht präsente Gestalt von Odysseus als wirklicher Schatten Zarathustras im Vgl. Podoroga 1993, S. 142– 172.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

pliziert. Die extreme Leichtigkeit – oder, besser gesagt, Leichtsinnigkeit – des freiwilligen Bettlers und die extreme Schwermut des Wanderers erscheinen wie zwei einseitige, zur Ziellosigkeit führende (Miss‐)Deutungen von Zarathustras Weg, der eine Spannung zwischen Höhe und Tiefe, Leichtigkeit und Schwere, Glück und Leiden, Vergangenheit und Zukunft darstellt. Die ironische Szene, in der der Schatten Zarathustra folgt, während er hinter dem freiwilligen Bettler herrennt, sich also in der Mitte zwischen dem Schatten und dem freiwilligen Bettler befindet, repräsentiert genau diese Gegenüberstellung.²⁷¹ Dass Nietzsche Odysseus auch für die Beschreibung der eigenen Methode ohne Vermittlung Zarathustras verwendet, beweist ein früher Aphorismus aus dem zweiten Buch von Menschliches, Allzumenschliches, in dem er seine „Gespräche“ mit den Philosophen der Vergangenheit mit der Hadesfahrt von Odysseus vergleicht: Auch er sei „in der Unterwelt gewesen wie Odysseus“ und opferte anstatt des Hammels das eigene Blut, um „Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer“ mit ihm reden zu lassen (MA II, VM 408, KSA 2.534). Es handelt sich nicht um eine isolierte Metapher, die Nietzsche ad hoc erfindet. Der homerische Odysseus wird zum metaphorischen Vorbild von Nietzsches perspektivischer Philosophie,²⁷² weil diese an bestimmte Qualitäten von Odysseus erinnert: Er erhebt keinen Anspruch auf eine einzige Wahrheit und verhält sich wie ein „freier Geist“, der immer in Bewegung ist und – genau wie ein Künstler (bzw. Dichter) – neue Perspektiven für sich schafft. Wie der wandernde Zarathustra ist Nietzsche immer im Wandel und Übergang und sieht den Niedergang der alten, festen Werte als Möglichkeit, auf eine neue Weise gefährlich zu philosophieren.²⁷³ Die Eigenschaften von Odysseus – Vielseitigkeit, Neugier, Härte, Billigkeit, Hass und die Haltung eines Gesetzgebers und nicht bloß eines Zuschauers – entsprechen denen, die Nietzsche in einem Nachlassfragment von 1884 während seiner Arbeit am vierten Buch vom Zarathustra als typische Merkmale eines gut geratenen Philosophen nennt.²⁷⁴ Das Wesen

 In ähnlicher Weise wird bei Homer von seinen Gefährten Odysseus’ Denken der Leichtsinnigkeit einer- und der Schwermut andererseits gegenübergestellt (vgl. die Abenteuer auf der Insel von Kirke und in der Höhle von Polyphem).  Vgl. dazu Kaulbach 1990, S. 293: „Der perspektivische Philosoph ist ein Odysseus des Geistes, ein ‚Polytropos‘, der die Meere befahren hat.“ S. auch Konhardt 1992.  Vgl. etwa Nietzsches Beschreibung der Philosophen als kühne Seefahrer in FW 343. Für eine alternative, aber letztlich auch epistemische Auffassung der Parallelität zwischen Nietzsche und Odysseus s. Conway 2000, S. 33 – 35.  Nachlass 1884, 26[425], KGW VII 2.262– 263: „Weshalb der Philosoph selten geräth: zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen zu Grunde richten: / 1) eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen und niederen Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich; / 2) er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein – Gefahr der Zersplitterung; / 3) er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in Liebe Haß (und Ungerechtigkeit); / 4) er muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein – Richter und Gerichteter (insofern er eine Abbreviatur der Welt ist); / 5) äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.“

3.4 Odysseus und der Weg des Philosophen

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von Odysseus ist vielfältig: Er ist ein Mann der Gegensätze, hart im Umgang mit seinen Gegnern und mild zu seinen Untergeordneten auf Ithaka,²⁷⁵ Gerichteter (etwa in Bezug auf Agamemnon) und Richter (in Bezug auf die Freier) zugleich. Seine Gewandtheit hilft ihm, allen Schwierigkeiten gewachsen zu sein. Wie der Weg von Odysseus ist auch der Weg eines Philosophen weder leicht noch sicher. Zu den größten Gefahren, die einem Philosophen, der frei denken will, auf seinem Weg der Erkenntnis begegnen könnten, gehört laut Nietzsche die Moral – im Sinn des Strebens nach den moralischen Urteilen „gut“ und „schlecht“.²⁷⁶ Bereits in den Schriften vor Also sprach Zarathustra beschreibt Nietzsche die traditionellen Philosophen als Menschen, die sich von einer solchen Moral als „Circe der Philosophen“ verführen lassen (M, Vorrede 3, KSA 3.13): Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die grösste Meisterin der Verführung bewiesen – und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen²⁷⁷.

Die Denker, die sich von dieser Art von Moral verführen lassen und sich um solche Tugenden wie Keuschheit sorgen, charakterisiert Nietzsche metaphorisch-negativ als „Schweine der Kirke“.²⁷⁸ Die Erwähnung der Zauberin Kirke versetzt den Leser in den Kontext der Odyssee und erinnert zugleich daran, dass Nietzsche – sowohl in der Morgenröthe als auch in weiteren Schriften der mittleren Periode – den homerischen Odysseus als Ideal des vorsokratischen Griechen darstellt. Die Gegenüberstellung der alten griechischen Kultur vor Sokrates und der neuen, von der platonisch-christlichen Moral geprägten Kultur gibt der Metapher einen klaren philosophischen Umriss: Die Moral von „gut“ und „schlecht“ verwandelt unvorsichtige, ihr blind folgende Philosophen in Schweine, wie auch die Zauberin Kirke die leichtgläubigen Gefährten von Odysseus in Schweine transformiert. Odysseus, der seinen Gefährten zur Hilfe kommt und die Zauberin besiegt, wird damit, nach Nietzsches Logik, zum Ideal eines Denkers, der sich durch traditionelle moralische Konventionen nicht bändigen lässt. Als Einziger, der das Ziel seiner Reise immer im Gedächtnis behält, sich nicht verzaubern

 In Od.II.230 – 234 erscheint Odysseus als günstiger und gerechter Herrscher Ithakas: „Künftig befleiße sich keiner der zepterführenden Herrscher, / Huldreich, mild und gnädig zu sein, und die Rechte zu schützen; / Sondern er wüte nur stets, und frevle mit grausamer Seele! / Niemand erinnert sich ja des göttergleichen Odysseus / Von den Völkern, die er mit Vaterliebe beherrschte!“  S. dazu Nachlass 1884, 26[107], KGW VII 2.176: „Die Absicht, den guten Menschen darzustellen, hat bisher am meisten der Erkenntniß der Philosophen geschadet. Große Verlogenheit, am größten bei den Moralisten.“  Dieselbe Idee taucht in Nietzsches späteren Schriften auf. Vgl. EH, Warum ich ein Schicksal bin 6: „Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker, – sie standen in ihrem Dienst.“  So etwa im Nachlass 1882, 3[1]217, KGW VII 1.78: „Wer von Natur keusch ist, denkt nicht hoch von der Keuschheit, einige Eitelkeits-Narren abgerechnet. Ihre Vergötterer sind die, welche Gründe haben zu wünschen, sie möchten keusch sein oder gewesen sein – die Schweine der Circe.“ Vgl. Nachlass 1883, 12[1]137, KGW VII 1.413: „Die Schweine der Circe beten die Keuschheit an.“

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3 Odysseus und das europäische Ideal

lässt – sei es von Kirke, den Sirenen oder den Lotophagen, die seinen Gefährten das Gedächtnis nehmen – und den Weg zum wichtigsten Ziel findet, ist Odysseus in Nietzsches Augen das Gegenteil von den Philosophen, die ihre Unabhängigkeit wegen der Kirke-Moral verlieren. Seine Einsamkeit und Unabhängigkeit sowie sein Streben zum Neuen und zur Zukunft kontrastieren mit dem Streben der Philosophen zur alten Herdenmoral, die zum Verlust des persönlichen Wertehorizonts und zur Abhängigkeit von gemeinsamen moralischen Maximen wie „du sollst“ und „du sollst nicht“ führt.²⁷⁹ In vierten Buch von Also sprach Zarathustra wird die Versuchung des Philosophen durch die Moral am konkreten Beispiel des Mitleids des Haupthelden demonstriert. Zarathustra hört den Notschrei der modernen höheren Menschen, die im Vergleich zu seinem Ideal des höheren Menschen mangelhaft erscheinen, und riskiert die Unabhängigkeit seiner Lehre und seiner Werte, indem er sich diesen hilfsbedürftigen Personen nähert, sie als Gäste in seiner Höhle empfängt und sogar „Brüder“, d. h. Schüler oder Gefährten seiner experimental-philosophischen Reise, nennt.²⁸⁰ Die Szene im letzten Kapitel Das Zeichen, in der Zarathustra klar wird, dass seine Gäste nicht seine „rechten Gefährten“ sind, sodass er sich wieder allein auf den Weg zu seinem zukünftigen Ziel macht, erinnert an die Situation von Odysseus: Er kommt als Einziger an sein Ziel, seine Gefährten sterben bereits während der ersten Hälfte seiner Reise. Der Schlaf seiner Gefährten symbolisiert im Gegensatz zum Wach-Sein Zarathustras ihre Unfähigkeit, den gefährlichen Weg der experimentalen Philosophie bis zum Ende zu gehen. Ähnlich wie die verstorbenen Gefährten von Odysseus, die nicht genug Mut und Geduld hatten, um alle Hindernisse zu überwinden, bleiben Zarathustras zeitweilige Gefährten in den Problemen der Vergangenheit und der Gegenwart gefangen und kommen niemals ans Ziel.

 S. Nachlass 1885/86, 2[203], KGW VIII 1.163 – 164: „Und auch heute noch geben die Philosophen, ohne daß sie es wissen, den stärksten Beweis, wie weit diese Autorität der Moral reicht. Mit allem ihrem Willen zur Unabhängigkeit, mit ihren Gewohnheiten oder Grundsätzen des Zweifels, selbst mit ihrem Laster des Widerspruchs, der Neuerung um jeden Preis, des Hochmuths vor jeder Höhe – was wird aus ihnen, sobald sie über ‚du sollst‘ und ‚du sollst nicht‘ nachdenken? Es giebt sofort gar nichts Bescheideneres auf Erden: die Circe Moral hat sie eben angehaucht und verzaubert! Alle diese Stolzen und Einsam-Wandelnden! – Nun sind es mit einem Mal Lämmer, nun wollen sie Heerde sein. Zunächst wollen sie allesamt ihr ‚du sollst‘ und ‚du sollst nicht‘ mit Jedermann gemein haben, – erstes Zeichen der preisgegebenen Unabhängigkeit.“  S. Za IV, Das Nachtwandler-Lied, wo Zarathustra seine Gäste zum Wandern bei Mitternacht einlädt, um ihnen seine innersten und wichtigsten Ideen mitzuteilen (KSA 4.397): „K o m m t ! K o m m t ! Kommt! Lasst uns jetzo wandeln! Es ist die Stunde: lasst uns in die Nacht w a n d e l n !“ Die Gäste Zarathustras interessieren sich jedoch nur für den äußeren Teil seiner Lehre (z. B. für Zarathustras Worte über den Tod des alten Gottes) und sind nicht bereit, seinen inneren, „heimlichen“ Teil – seine Lehre des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen – zu erkennen.

3.5 Odysseus gegen Thersites: Ressentiment und Nihilismus

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3.5 Odysseus gegen Thersites: Ressentiment und Nihilismus in aristokratischer Umgebung Als höherer Mensch, der nicht nur seiner Herkunft, sondern auch seinen Taten nach adelig ist, kann der homerische Odysseus, so Nietzsches Sicht, den Versuchen eines „Aufstands von unten“ widerstehen. Diese Verteidigung der aristokratisch orientierten Sozialordnung lässt sich durch eine Ilias-Szene illustrieren, in der Odysseus den frechen Thersites mit Worten und Taten bezwingt.²⁸¹ Anders als Odysseus weist Thersites, der nach griechischen Standards körperlich und seelisch hässlich ist,²⁸² keine Erfolge auf, weder im Krieg noch im Rat. Trotz seiner vermutlich adeligen Abstammung²⁸³ hat er wegen seines Mangels an Verdiensten eine niedrige Position im achäischen Heer inne. Deswegen hat er auch kein Recht, seine Meinung während der gemeinsamen strategischen Versammlungen auszusprechen. Trotzdem ergreift er das Wort, um Agamemnon, die höchststehende Figur in der Rangordnung des achäischen Heeres, zu beschimpfen. Dieser rhetorische Angriff ärgert Odysseus, der in seiner Antwort ausdrücklich betont, dass Thersites als „schlimmer“ (niedriger) Mann nicht berechtigt ist, Kritik zu üben und Agamemnons Entscheidungen zu hinterfragen.²⁸⁴ Am Ende seiner Rede schlägt Odysseus seinen Gegner Thersites mit dem Zepter, d. h. mit dem Symbol des Rechts auf das Wort bei den allgemeinen Versammlungen. Wenn auch mit gewissen Einschränkungen bezüglich der schöpferischen Rolle des Ressentiments, lässt sich die Rede von Thersites als Illustration von Nietzsches Vorstellungen der Beziehungen zwischen der Aristokratie und den gemeinen Menschen begreifen, die Ressentiments gegenüber den Mächtigen empfinden. Thersites, der die bestehende Rangordnung angreift, möchte sich an Agamemnon rächen, weil er ihm niemals gleichen wird.²⁸⁵ Der Grund seiner Handlungen liegt im Neid, der Nietzsches Bild der guten Eris widerspricht. Da der unproduktive und reaktive Thersites seinen Gegner Agamemnon in einem Wettbewerb – sei es im Krieg oder im Rat – nicht besiegen kann, bleibt ihm nur das, was, laut Nietzsches Beschreibung in Zur Genealogie der Moral, das vernichtende Gefühl des Ressentiments begleitet: „Hass,

 Il.II.212– 277.  S. die Beschreibung von Thersites in Il.II.211– 22: „Alles saß nun ruhig, umher auf den Sitzen sich haltend; / Nur Thersites erhob sein zügelloses Geschrei noch: / Dessen Herz mit vielen und törichten Worten erfüllt war, / Immer verkehrt, nicht der Ordnung gemäß, mit den Fürsten zu hadern, / Wo ihm nur etwas erschien, das lächerlich vor den Argeiern / Wäre. Der hässlichste Mann vor Ilios war er gekommen: / Schielend war er, und lahm am anderen Fuß; und die Schultern / Höckerig, gegen die Brust ihm geengt; und oben erhob sich / Spitz sein Haupt, auf der Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet. / Widerlich war er vor allen des Peleus Sohn und Odysseus; / Denn sie lästert er stets. Doch jetzt Agamemnon dem Herrscher / Kreischt er hell entgegen mit Schmähungen“ (übers. von J. H. Voß).  Die Meinung, dass Thersites adeliger Abstammung ist, wird verteidigt in Geddes 1984, S. 22– 23. Vgl. die gegenseitige Position in Gebhardt 1934, S. 2456 – 2457, und Marks 2005, S. 1– 6.  Il.II.246 – 264.  Vgl. Za II, Von den Taranteln: „Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind.“

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3 Odysseus und das europäische Ideal

Neid, Missgunst, Argwohn, Rancune, Rache“ (GM II 11, KSA 5.310).²⁸⁶ Seine Stimme ist die der „Missratenen“, die in der homerischen Gesellschaft zu schwach ist, um große Wirkung zu entfalten.²⁸⁷ Doch anders als bei den gemeinen Menschen der späteren Zeit kann Thersites’ Ressentiment niemals produktiv werden, da er nicht gegen die Rang- und Wertordnung insgesamt, sondern nur gegen konkrete Personen wie Agamemnon rebelliert. Die Produktivität von Odysseus hingegen, etwa seine Fähigkeit, durch Lügen neue Wahrheiten zu schaffen, gibt ihm einen hohen Grad geistiger Kraft. Diese Kraft ist, laut Nietzsches späterer Klassifikation, charakteristisch für einen aktiven Nihilisten, weil der aktive Nihilismus ein „Zeichen der g e s t e i g e r t e n M a c h t d e s G e i s t e s “ ist (Nachlass 1887, 9[35], KGW VIII 2.14). Thersites ist hingegen ein typisch passiver Nihilist.²⁸⁸ Seine Einmischung in Angelegenheiten, die er nicht beeinflussen kann und darf, ist kein Zeichen einer aktiven Haltung, sondern Symptom seiner Frustration und Unzufriedenheit mit sich selbst, die mit der Ausgeglichenheit von Odysseus kontrastiert. Seine Handlungen, die die Bereitschaft zur Konfrontation aufweisen, zeugen zugleich von seiner Unfähigkeit, den Sieg mit eigenen Kräften zu erreichen: Er möchte nur vom internen Konflikt im achäischen Heer profitieren und nicht das ganze System der Machtrelationen ändern. Die Symbiose von Odysseusʼ Kühnheit und seiner Fähigkeit, auch in der Konfrontation mit mächtigeren Wesen wie etwa Polyphem zu siegen, ist hingegen ein Beweis dafür, dass eine Person mit genug Kraft auch die größten Hindernisse ohne fremde Hilfe überwinden kann. Dennoch zeigt sich Odysseus im Dialog mit Thersites nicht als typischer Nihilist: Seine Antwort lässt sich nur als Unterstützung der sittlichen Prinzipien deuten,²⁸⁹ ohne dass individuelle Werte in Frage kämen. Die bisher erwähnten Parallelen, auf die Nietzsche allerdings nirgendwo explizit hinweist, auch wenn sie einige seiner Schlüsselthesen und Oppositionen illustrieren können, helfen, die Verbindung zwischen der Szene mit Odysseus und Thersites und dem Gespräch zwischen Zarathustra und dem Narren im Kapitel Vom Vorübergehen zu erkennen. Der Narr der großen Stadt, ein galliger Nihilist und verzerrtes Abbild Za-

 Vgl. eine frühere Anmerkung Nietzsches in Nachlass 1880, 1[116], KGW V 1.360: „Z a n k , Verdruß, Ve r l e u m d u n g Verbitterung N i e d e r t r a c h t “.  Offensichtlich findet die Rede von Thersites auch keine Unterstützung bei den gemeinen Achäern. Vgl. ihre positive Reaktion auf die Antwort von Odysseus in Il.II. 272– 277: „Trau, gar vieles bereits hat Odysseus Gutes vollendet, / Heilsamen Rat zu reden berühmt, und Schlachten zu ordnen; / Aber anjetzt vollbracht er das Trefflichste vor den Argeiern, / dass er dem ungestümen und lästernden Redner das Maul stopft! / Schwerlich möchte’ er hinfort, wie das mutige Herz ihn auch antreibt, / Wider die Könige sich mit schmähenden Worten empören!“ (übers. von J. H. Voß)  Vgl. die Opposition des aktiven und passiven Nihilismus in einem Nachlassfragment von 1887 (9[35], KGW VIII 2.15). Die Kraft des Geists eines passiven Nihilisten sei „ermüdet, e r s c h ö p f t […], so daß die b i s h e r i g e n Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden.“  S. seine Verteidigung von Agamemnons Stellung an der Spitze des achäischen Heeres in Il.II.198 – 206.

3.6 Odysseus und der Wille zur Macht

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rathustras,²⁹⁰ ähnelt dem Nihilisten Thersites, der einige Menschen kritisiert (etwa Agamemnon) und anderen schmeichelt (etwa Achill). Wie Odysseus fordert Zarathustra vom Narren, seine lange Rede zu beenden, weil er kein Recht auf Kritik hat, auch wenn sie der von Zarathustra gleicht,²⁹¹ wie auch die Worte von Thersites sehr nah an Achills Kritik gegen Agamemnon waren.²⁹² Zarathustras Kommunikationsverbot für den Narren und die versteckte Anspielung auf die Szene zwischen Thersites und Odysseus spiegelt Nietzsches Auffassung von Kommunikation wider: Diese sollte möglichst dann stattfinden, wenn beide Gesprächspartner auf der gleichen Ebene sind und vergleichbare Werte vertreten.²⁹³ Genau wie Thersites die Diskussion nicht auf der Ebene von Odysseus und Agamemnon führen darf, ist auch der Narr nicht berechtigt, dieselbe Kritik wie Zarathustra auszusprechen, weil er seine Kritik von einem anderen Standpunkt ausübt: Die ziellose Galligkeit des Narren in Bezug auf die sich entartende Menschheit widerspricht der Bejahung und der Distanz Zarathustras, die er zwischen sich und den anderen aufbaut, um nicht missverstanden zu werden.

3.6 Odysseus und der Wille zur Macht In Also sprach Zarathustra, wo Odysseus die Rolle eines heimlichen Doppelgängers des Protagonisten spielt, wird zum ersten Mal der zentrale Begriff des Willens zur Macht erwähnt. Die Möglichkeit, Nietzsches Odysseus-Bild mit ihm zu verbinden, lässt sich ausgehend von seiner Vorstellung von Odysseus als griechischem Ideal begründen. Der Begriff der Macht wird vom frühen Nietzsche als Bestandteil des Konzepts des Agonalen entwickelt. Der Sieg im Wettkampf, d. h. die Möglichkeit, die Macht des Gegners zu überwinden, führt zur Steigerung der eigenen Macht.²⁹⁴ Der homerische Agon, der dem Individuum die Möglichkeit gibt, sich selber zu behaupten, gibt den notwendigen Impuls zur Entwicklung der griechischen Kultur der archaischen Zeit. Ein weiteres wichtiges Element ist die Lüge von Odysseus. Seine Selbstdarstellung, die Nietzsche in der Morgenröthe thematisiert, erlaubt ihm, seine Zuhörer zu überzeugen, ohne dass es noch wichtig wäre, ob das, was er erzählt hat, tatsächlich

 Vgl. Zarathustras Selbstdarstellung als Narr und Kritiker der Menschen.  Auf Ähnlichkeiten zwischen der Rede des Narren und verschiedenen Reden Zarathustras deutet auch Stanley Rosen hin in seinem Kommentar: Rosen 1995, S. 191– 192.  Vgl. Achills bittere Frage an Agamemnon (Il.I.150 – 151): „Wie doch gehorcht dir willig noch einer im Heer der Achaier, / Einen Gang dir zu gehn, und kühn mit dem Feinde zu kämpfen?“  S. etwa Nachlass 1884, 26[442], KGW VII 2.266: „Es gehört übrigens zur guten Diät, nicht unter Menschen zu leben, mit denen man sich gar nicht vergleichen darf, sei es aus Bescheidenheit, sei es aus Stolz. Diese Diät ist eine aristokratische Diät. G e w ä h l t e Gesellschaft – lebende und todte.“  Vgl. Gerhardt 1996, S. 119 – 120.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

wahr ist.²⁹⁵ In dieser Hinsicht gleicht Odysseus einem Künstler. Gerade die Selbstempfindung des lügenden Menschen als Künstler wird in einem späten Nachlassfragment mit dem Machtbegriff verbunden. Es geht um die Macht des geschaffenen Scheins (Nachlass 1888, 17[3], KGW VIII 3.319): Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht.

Die schöpferische Kraft von Odysseus steht im Einklang mit der Vielfalt des Lebens. Seine „natürliche“ Lüge ist keine Verneinung oder Zerstörung, sondern ein Ja-Sagen. Als Künstler hat Nietzsches Odysseus Zugang zur höchsten Form des Willens zur Macht.²⁹⁶ Als unmoralischer Schauspieler, der zu den höheren Menschen der Vergangenheit gehört, hat er eine „Irrthum w o l l e n d e Kraft“ (Nachlass 1887, 10[159], KGW VIII 2.216).²⁹⁷ Die „Wahrheit“, an die geglaubt wird oder geglaubt werden soll, hat eine kreative Natur: Ihr vielfältiger Charakter lässt sich durch das homerische Odysseus-Epitheton πολύτροπος (vielgewandt) beschreiben. Odysseus, der schauspielende Lügner, der sich immer neue Gestalten schaffen kann, schafft auch neue Wahrheiten: neue Namen, Genealogien, Geschichten seines Lebens, in denen er sich sogar mit dem „wirklichen“ Odysseus treffen kann.²⁹⁸ In der Höhle von Polyphem kann er dank einer alternativen Wahrheit zum „Niemand“ werden, also zugleich sich nennen und ohne Namen bleiben, um sich von seinem Gegner Polyphem und anderen Kyklopen nicht identifizieren zu lassen. Man könnte auch sagen, dass Odysseus die neue Wahrheit des Namens „Niemand“ auch selbst als solche empfindet. Jenseits der menschlichen Welt und für seine Verwandten als vermisst, wahrscheinlich sogar als tot geltend, ist er in dieser Welt der Halbgötter und Mischwesen fast allen unbekannt und hat keine Möglichkeit, seine Identität zu begründen. Die Fähigkeit, eine neue Wahrheit zu schaffen, rettet ihm sein Leben, das er als zur Lüge unfähige Person sicherlich nicht bewahren könnte. Odysseus, der sich in der Welt neu bestimmen, den ganzen Weg vom „Niemand“ zum König von Ithaka gehen und alle Hindernisse bewältigen soll, braucht die Kraft, dies mit Hilfe seiner Lügen zu realisieren. Nietzsches OdysseusInterpretation illustriert seine Idee, dass die Wahrheit nicht statisch ist und sie in einen unendlichen Prozess des Schaffens und aktiven Bestimmens tritt.²⁹⁹

 In der klassischen Philologie wurde die Frage über die „Wahrhaftigkeit“ der Erzählung von Odysseus (der sogenannten Apologen) zum Gegenstand einer lebhaften Diskussion. S. insb. Parry 1994, S. 1– 20 (mit Literatur).  Zur Kunst als höchsten Form des Willens zur Macht s. Nachlass 1887/88, 11[415], KGW VIII 2.435 – 436. Vgl. Djurić 1985, S. 205.  Zum „Dichten vor Denken“ bei Nietzsche s. Djurić 1986, S. 75 – 100.  Vgl. Od.XVII.522 (der verkleidete Protagonist sagt, dass Odysseus sein Gastgeber war).  S. dazu Nachlass 1887, 9[91], KGW VIII 2.49: „Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und dass den Namen für einen Prozess abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat:

3.6 Odysseus und der Wille zur Macht

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Das dritte Moment ist mit der Doppeldeutigkeit des Willens zur Macht verbunden, und zwar mit der Spannung zwischen dem äußeren und dem inneren Aspekt des Begriffs – Macht über die anderen vs. Macht über sich selbst.³⁰⁰ Das Leben und Handeln des homerischen Odysseus könnte beide Aspekte repräsentieren: Einerseits kann er v. a. dank der Selbstbeherrschung, die sich in seiner Geduld manifestiert und die es ihm erlaubt, den strategischen Plan der Wiedergewinnung seiner sozialen Position zu realisieren, als einziger nach Ithaka zurückkehren. Andererseits ist er auch fähig, seine physischen Mängel, die etwa im Wettkampf mit Polyphem zur Erscheinung kommen, durch die Macht der schauspielerischen Lüge zu kompensieren und dadurch Macht über die anderen auszuüben. Diese Fähigkeit kann erklären, warum Nietzsche kein Interesse an Homers Achill hat, obwohl dieser im Licht seiner Darstellung in nicht-homerischen Texten besser für die Rolle des griechischen Ideals geeignet wäre. Diese Konstellation ist jedoch nicht unproblematisch. Aus der Perspektive des Willens zur Macht hat die homerische Gestalt des Odysseus ein wesentliches epistemisches Defizit. Das Hauptproblem liegt im dynamischen Prinzip: Die Selbsterfahrung, die einem großen Menschen die Erschließung seiner Produktivität ermöglicht,³⁰¹ ist nicht typisch für die homerischen Helden. Odysseus ist keine Ausnahme: Sowohl in Troja als auch während seiner Wanderungen und nach seiner Rückkehr nach Ithaka weist er dieselben Qualitäten auf, nämlich List und Geduld. Seine Entscheidungen werden in vielen Fällen durch Götter – Zeus, Athena und Poseidon – beeinflusst, die letzten Endes sein Schicksal bestimmen und seine Rückkehr nach Ithaka ermöglichen. Seine Wanderungen bringen ihm keine neuen Wahrheiten, die sein Leben gründlich ändern könnten. Hinter allen Masken, die er trägt, ist keine „innere Odyssee“ zu finden. Es ist Nietzsches zuspitzende und die fremden Elemente aussondernde Interpretation, die Odysseus den Status eines typischen Griechen und griechischen Ideals verleiht, ihn eine Reihe mit historischen Figuren wie Napoleon stellt und in Verbindung mit dem Willen zur Macht bringt. Trotz dieser Hindernisse liegt es nah, die Verbindung mit dem Willen zur Macht als Kristallisierung von Nietzsches Interpretation der homerischen Odysseus-Gestalt zu sehen: Odysseus als Wettkämpfer, als lügender Künstler, dessen äußerste Produktivität kaum in Frage gestellt werden kann, als Symbol von Zarathustras Perspektivismus und als Ideal des großen Menschen, als Maskenträger und Schauspieler ist ein Typus des Menschen, der den eigenen Willen zur Macht als Voraussetzung des Lebens verstehen und nutzen kann. Seine Handlungen bieten eine Alternative sowohl zur christlichen Selbstverkleinerung und Reduzierung der Macht als auch zur direkten

Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, e i n a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewusstwerden von etwas, [das] ,an sich‘ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den ‚Willen zur Macht‘.“  Vgl. den Hinweis auf die Unmöglichkeit, diese zwei Aspekte des Willens zur Macht miteinander zu versöhnen, in Tugendhat 2010, S. 15 – 17.  Vgl. Gerhardt 2000, S. 351.

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3 Odysseus und das europäische Ideal

Machtsteigerung, die keine Verstellung oder innere Spannung braucht. Die πολυτροπία von Odysseus verkörpert die Schlüsselprinzipien von Nietzsches Denken in Gegensätzen: Ein erfolgreicher Intellekt kann nur zugleich vorsichtig und verwegen, ernst und spielerisch, konsequent und verwandelbar, gut und böse sein.³⁰² Wozu würde Nietzsche eine andere, keine Kontroversen auslösende homerische Gestalt brauchen?

 S. Nachlass 1884, 26[101], KGW VII 2.175: „Ein prachtvoller Intellekt ist die Wirkung einer Menge moralischer Qualitäten z. B. Muth, Willenskraft, Billigkeit, Ernst – aber zugleich auch von vieler πολυτροπία, Verstellung, Verwandlung, Erfahrung in Gegensätzen, Muthwille, Verwegenheit, Bosheit, Unbändigkeit. / Damit ein prachtvoller Intellekt entstehe, müssen die Vorfahren eines Menschen in hervorragendem Grade beides gewesen sein, böse und gut, geistig und sinnlich.“

4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral An Nietzsches scharfe Kritik am christlichen Glauben knüpft sich der Kampf mit den „Schatten“ Gottes,³⁰³ insbesondere mit der platonisch-christlichen Moral. Dieser Kampf, der nicht zuletzt mit historisch-genealogischen Mitteln geführt wird, beruht auf der Prämisse einer unüberwindlichen Kluft zwischen der vorplatonischen und der nachplatonischen Weltvorstellung. In Nietzsches mittleren und späteren Schriften, von der Morgenröthe bis zu Zur Genealogie der Moral, spielt die sogenannte „Unmoralität“ der homerischen Menschen³⁰⁴ als Gegenbeispiel für Platons ethisches Ideal sowie als Grundlage des kontroversen Konzepts der „aristokratischen Moral“ eine entscheidende Rolle. Angesichts evidenter historisch-genealogischer Mängel lässt sich das von Nietzsche konstruierte Bild der vor- und antiplatonischen Moral der adeligen griechischen Gemeinschaft allerdings nur schwer mit anderen Elementen seiner Kultur- und Moralkritik vereinbaren.

4.1 Griechische Sittlichkeit als Instrument von Nietzsches Moralkritik In Menschliches, Allzumenschliches ³⁰⁵ und insbesondere in der Morgenröthe zieht Nietzsche eine deutliche Grenze zwischen individueller Moral und überindividueller Sittlichkeit als deren notwendige Vorstufe.³⁰⁶ Letztere wird als „Gehorsam gegen Sitten“ charakterisiert, also gegen „die h e r k ö m m l i c h e Art zu handeln und abzuschätzen“ (M 9, KSA 3.22). Wichtig sei nicht der Inhalt einer Sitte, sondern die Unterwerfung gegenüber der Macht der Tradition. Sich von der Macht der Sitte öffentlich zu befreien, heißt, sich wissentlich und willentlich als „‚individuell‘, ‚frei‘, ‚willkürlich‘, ‚ungewohnt‘, ‚unvorhergesehen‘, ‚unberechenbar‘“ und daher in den Augen der anderen als „böse“ zu präsentieren (M 9, KSA 3.22). Die allgemeingültige Moral, die die

 FW 108, KSA 3.467: „N e u e K ä m p f e . – Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen.“ Vgl. Nachlass 1886/87, 5[71], KGW VIII 2.217: „Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden.“  Die Wortverbindungen „homerischer Mensch“ bzw. „homerische Menschen“ wie auch jene der „homerischen Welt“, die in der Homerforschung des 20. Jahrhunderts allmählich zu Begriffen wurden, finden wir in solcher Form v. a. bei frühem Nietzsche, etwa in GT 3 – 4 (wie auch im Nachlass und in kleinen griechischen Schriften).  S. MA I 96, KSA 2.92– 93.: „Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. […] Wie das Herkommen e n t s t a n d e n ist, das ist dabei gleichgültig.“  S. etwa Gasser 1997, S. 285 – 290. Vgl. Brusotti 1997, S. 253 – 255, und Heinrich 2018, S. 51– 54. https://doi.org/10.1515/9783110751406-007

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

platonisch-christliche Tradition prägt, ist in diesem Sinn auch nur Sittlichkeit, die eine moralische Maske trägt. Anstatt das Individuelle zu unterstützen, plädiert sie für ein traditionelles Handeln nach den festgelegten Prinzipien. Die moralische Bewertung der Handlungen beruht auf ihrer Sittlichkeit oder Unsittlichkeit. Die aus Eigennutz Handelnden setzen sich dem Risiko aus, als Gegner der Gemeinde isoliert oder bestraft zu werden. In diesem Kontext spricht Nietzsche von zwei höchst unterschiedlichen Moralen: der herkömmlichen Sittlichkeit und der Moral der autonomen Individuen, die sich der moralischen Opferung des Nutzens (und der eigenen Individualität) verweigern und stattdessen die Sozialisierung zum Opfer bringen.³⁰⁷ Das Moralische kommt in den persönlichen, für die Gemeinschaft unberechenbaren Interessen und Vorteilen zum Ausdruck. Das Sittliche bedeutet hingegen ein Opfern des persönlichen Vorteils zugunsten der Gemeinschaft, die sich traditionellen Regeln, den sittlichen Normen, unterordnet. Aus Nietzsches Perspektive ist die sokratisch-moralische Revolution, deren Folgen in der Morgenröthe vorerst nur skizzenhaft angedeutet sind, ein Widerstand gegen die Herrschaft der griechischen Sittlichkeit. Als Kritiker der Tradition sei Sokrates aus Sicht der meisten Athener notwendigerweise „böse“ in demselben Sinn, wie Nietzsches Moralkritik aus der Perspektive der christlichen Tradition „böse“ erscheint. Dadurch bekommt der Leser den Eindruck, dass die sokratische Stellung zur Sittlichkeit und Individualität derjenigen Nietzsches nahe stehe. Nietzsche fühlt sich daher gezwungen, die eigene Position in einem späteren Aphorismus (M 496) zu klären und sich von Sokrates und Platon zu distanzieren: Das Ziel der sokratisch-platonischen Kritik – den persönlichen Nutzen zu rehabilitieren und die individuellen Voraussetzungen eines tugendhaften Lebens festzustellen – sei nicht nur ein Instrument der Zerstörung des eigentlich Griechischen, sondern auch der Anlass zum Schaffen einer neuen Sittlichkeit, die sich hinter der moralischen Maske verstecke und die alte unmoralische (d. h. nicht-platonische) Sittlichkeit ersetzen solle. Nietzsche zufolge hatte die unmoralische Sittlichkeit, die Sokrates und Platon zu zerstören suchten, ihre Grundlage in der homerischen Gesellschaft. Diese ist somit aus Nietzsches wie auch aus der Sicht mehrerer Homerforscher und Historiker der spä-

 So Nietzsche in M 9, KSA 3.23: „Man täusche sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstüberwindung wird n i c h t ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vortheil: der Einzelne soll sich opfern, – so heischt es die Sittlichkeit der Sitte. – Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der s o k r a t i s c h e n Fusstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem I n d i v i d u u m als seinen eigensten Vo r t h e i l , als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an’s Herz legen, m a c h e n d i e A u s n a h m e – und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Strasse unter höchlichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, – sie lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstande, böse.“

4.1 Griechische Sittlichkeit als Instrument von Nietzsches Moralkritik

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teren Zeit (wie etwa Moses Finley oder Kurt Raaflaub)³⁰⁸ keine bloß literarische Fiktion, sondern auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse in den griechischen Poleis der archaischen Periode. Die hervorragenden Individuen dieser Gesellschaften sollten das Untypische in ihren Handlungen verstecken und wurden in diesem Sinn unmoralisch. Darauf weist Nietzsche explizit hin, als er in einer Nachlassnotiz aus derselben Zeit die Unmoralität Homers betont (Nachlass 1881, 12[186], KGW V 2.506): Das Individuum war lange „u n m o r a l i s c h“ – es versteckte sich folglich, z. B. das Genie (wie Homer) unter dem Namen eines Heros. Oder man machte einen Gott verantwortlich.³⁰⁹

Der Mensch der frühen archaischen Zeit befindet sich in einer sittlichen Umgebung und soll daher als Instrument der Gesellschaft handeln.³¹⁰ „Unmoralisch“ sind, so Nietzsche, selbst die großen Menschen (Individuen bzw. Ausnahmen), Heroen und dichterische Genies (wie Homer). Sie verbinden den nicht-traditionellen Charakter ihrer Handlungen nicht mit eigenen Interessen, sondern mit exklusiver Nähe zur göttlichen Instanz³¹¹ – mit Hilfe ihrer Genealogie, die sie als Nachkommen der Götter darstellt, oder durch die Berufung auf Inspiration bzw. auf eine spezielle Art von Wissen, die sie von den Göttern bekommen. Diese Instanz erlaubt es ihnen, als Vorbilder für gemeine Menschen zu wirken, wie auch die Götter Vorbilder für alle Menschen sind.³¹² Die sittliche Maskerade, die den nicht-herkömmlichen Charakter ihrer Motivationen verdeckt, hilft ihnen, dem öffentlichen Tadel und, als Folge, der gesellschaftlichen Isolierung zu entgehen.

 Finley 1954 und Raaflaub 1997. Für Argumente gegen diese Auffassung von Homers Epen s. insb. Snodgrass 1974. Auch in der gegenwärtigen Forschung bleibt die Frage, ob wir Homer als – wenigstens teilweise – zuverlässige historische Quelle behandeln können, unentschieden, insofern viele Details (etwa die homerischen Darstellungen großer Schlachten) aus historisch-archäologischer Sicht nicht realistisch wirken. Angesichts der andauernden Debatte um den Zeitpunkt der Entstehung und die Entwicklung der Texte der Ilias und der Odyssee wird auch die Frage nach der genauen Datierung der „homerischen Gesellschaft“ unterschiedlich beantwortet.  Vgl. Nachlass 1887, 9[157], KGW VIII 2.92: „man will, daß der G l a u b e das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die Erlaubniß sich eines Glaubens entschlagen zu können, die ‚Unmoralität‘ gehört zur Größe (Caesar, Friedrich der Große, Napoleon, aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe – man unterschlägt immer die Hauptsache ihre ‚Freiheit des Willens‘–).“  S. etwa Hektors Monolog (Il.XXII.99 – 130; vgl. Hektor an Andromache in Il.IV.407– 439), in der er seine Handlungen durch die Erwartungen der Gesellschaft begründet: Falls er mit Achill nicht kämpft, sein Leben nicht opfert und Troja im Stich lässt, wird er von den anderen, etwa von seinem Freund Polydamas, ἐλεγχείη (einen Tadel) erhalten.  Vgl. Nietzsches These, dass die Griechen ihre Eigenschaften als direkte Wirkungen von Göttern sehen. Diese Tendenz wird bereits in Homer’s Wettkampf im Kontext der Fremdheit der Griechen erwähnt (KSA 1.787): „Der Grieche ist n e i d i s c h und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer w o h l t ä t i g e n Gottheit: welche Kluft des ethischen Urteils zwischen uns und ihm!“  Vgl. dazu Thiele 1990, S. 41– 50.

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Die These, dass die alten Griechen ihre Erfolge und Misserfolge nicht moralisch, also nicht in Verknüpfung mit ihrer eigenen Individualität, einschätzen, wird in Zur Genealogie der Moral weiterentwickelt und mit der Idee der Notwendigkeit von gleichzeitiger Existenz verschiedener Moralen verbunden. Obwohl das Individuum sich als unmoralisch darstellt, kann gerade seine Fähigkeit, viele (etwa göttliche) Masken zu tragen, zu einem Vorteil werden, der es, aus Nietzsches Sicht, zum Vorbild für die jetzigen Menschen machen kann. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, nach welchen Mitteln Nietzsche greift, um die Kluft zwischen der Unverantwortlichkeit der homerischen Helden und dem eigenen Verständnis der Moral, die die Verantwortlichkeit des autonomen Individuums voraussetzt, zu überwinden – und ob dieses Ziel vollständig erreicht wird.

4.2 Die homerischen Helden und die Mehrheit der Moralen Die homerische Welt wird bei Nietzsche auf eine traditionelle Art und Weise, die uns an zahlreiche Homerinterpretationen der Neuzeit (etwa von Giraldi, Perrault und Vico) erinnert, als Gegenparadigma zur modernen Situation präsentiert. Die bereits in den frühen Schriften entwickelte Idee der Fremdheit der Griechen wird in der Morgenröthe mit der Analyse von begrifflichen Unterschieden verbunden, die nur an der Oberfläche einen familiären Eindruck vermitteln. Nietzsches Betonung der Unterschiede zwischen moralischen Gefühlen, die „v o r der Handlung“ wirken, und den moralischen Begriffen, die lediglich als „nachträgliches Warum“ erfunden werden (M 34, KSA 3.43),³¹³ warnt den Leser vor der „Leichtfertigkeit“, mit der oft „von den Alten“ geredet wird (M 195, KSA 3.170). Diese Mahnung, so vage sie auch erscheinen mag, ist sowohl aus der philosophischen als auch aus der philologischen Perspektive berechtigt.³¹⁴ Zugleich dient sie als Ausgangsimpuls für Nietzsches Analyse der Ursprünge des moralischen Gefühls an konkreten begrifflichen Beispielen in Zur Genealogie der Moral. Die Opposition der modernen und der archaisch-griechischen emotionalen Handlungsmotivation soll keinesfalls eine graduelle evolutionistische Verfeinerung begründen. Im Gegenteil, Nietzsches kritische Skepsis gegenüber der evolutionistischen Klassifikation kultureller Entwicklungsstufen resultiert darin, dass er die mit diesem Konzept verbundenen Begriffe (wie „Naturvolk“ und „Barbarei“) in Bezug auf Homer wie auch auf die Griechen im Allgemeinen nicht verwendet oder sie gar umkehrt. Eine solche Umkehrung betrifft auch die Emotionen selbst, denn die Neubewertung der uns fremd gewordenen Gefühle soll auch ihre produktive Aneignung

 S. auch Brusotti 1997, S. 258 – 259.  Vgl. die Analyse methodologischer Parallelen zwischen Nietzsches Homerdeutung und Arthur Adkins’ Untersuchungen der homerischen Moral im Kapitel 6.

4.2 Die homerischen Helden und die Mehrheit der Moralen

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ermöglichen. Selbstverständlich gilt das aus Nietzsches Sicht auch für die moralische Perspektive seines Denkens. Die moralischen Differenzen, die Nietzsche in der Morgenröthe mehrfach thematisiert, werden in der Fröhlichen Wissenschaft am Beispiel der griechischen Götter in einer sittlichen Umgebung erklärt. Anstatt auf die feineren inhaltlichen Unterschiede weist Nietzsche auf ihre allgemeinen systematischen Grundlagen hin, die konkrete, pragmatische Folgen haben: Den Glauben an einen einzigen Gott, der die Existenz einer einzigen Wahrheit und der allgemeingültigen Moral garantiert, charakterisiert er als „Lehre von Einem Normalmenschen“ und deswegen als „die größte Gefahr der bisherigen Menschheit“ (FW 143, KSA 3.490).³¹⁵ Der „Nutzen“ des Polytheismus bestehe hingegen in der Koexistenz einer Mehrheit von Wahrheiten und in der Möglichkeit für ein Individuum, eigene Ideale und Werte zu haben, die er nicht mit anderen Menschen teilt³¹⁶ (FW 143, KSA 3.490): G r ö s s t e r N u t z e n d e s P o l y t h e i s m u s . – Dass der Einzelne sich sein e i g e n e s Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite – das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich; in der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich: „nicht ich! nicht ich! sondern e i n G o t t durch mich!“ Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen – der Polytheismus – war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale f e i n d sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur Eine Norm: „d e r Mensch“ – und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu h a b e n . Aber über sich und ausser sich, in einer fernen Überwelt, durfte man eine M e h r z a h l v o n N o r m e n sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art […] war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn.

 S. auch Witzler 2001, S. 72– 73. Den Vorteil des Polytheismus im Vergleich zum Monotheismus thematisiert Nietzsche zum ersten Mal in einem Nachlassfragment aus der Baseler Periode (Nachlass 1872/73, 19[231], KGW III 4.80 – 81): „Der ä l t e s t e M o n o t h e i s m u s meint eben das e i n e glänzende Himmelsgewölbe und nennt es dewas. Sehr beschränkt und unplastisch. Welcher Fortschritt sind die polytheistischen Religionen.“  Vgl. Za I, Von den Freuden- und Leidenschaften, KSA 4.42: „Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so hast du sie mit Niemandem gemeinsam. / Freilich, du willst sie bei Namen nennen und liebkosen; du willst sie am Ohre zupfen und Kurzweil mit ihr treiben. / Und siehe! Nun hast du ihren Namen mit dem Volke gemeinsam und bist Volk und Heerde geworden mit deiner Tugend! / Besser thätest du, zu sagen: ‚unaussprechbar ist und namenlos, was meiner Seele Qual und Süsse macht und auch noch der Hunger meiner Eingeweide ist.‘ / Deine Tugend sei zu hoch für die Vertraulichkeit der Namen: und musst du von ihr reden, so schäme dich nicht, von ihr zu stammeln. / So sprich und stammle: ‚Das ist m e i n Gutes, das liebe ich, so gefällt es mir ganz, so allein will i c h das Gute. / Nicht will ich es als eines Gottes Gesetz, nicht will ich es als eine Menschen-Satzung und -Nothdurft: kein Wegweiser sei es mir für Über-Erden und Paradiese.‘“

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

Obwohl auch der homerische Held nach den sittlichen Prinzipien handeln und eigene Interessen zugunsten der Gemeinschaft opfern soll, hat er zugleich eine Alternative: Er kann seine individuell bedingten Handlungen, die in den Augen der anderen Mitglieder der Gemeinde als Fehler erscheinen, durch die Tätigkeit eines Gottes erklären. Die griechischen Götter repräsentierten somit die Pluralität der nebeneinander existierenden Möglichkeiten, eigene Handlungen durch ein hohes Ideal zu beweisen. Die Abwesenheit der „Lügengötter“, die dem einzigen Gott gegenüberstehen, kontrastiert mit der moralischen Ordnung nach dem Vorbild Platons mit seiner Idee des absolut guten Demiurgs. Der Polytheismus, den Nietzsche sowohl in der Fröhlichen Wissenschaft als auch in Also sprach Zarathustra positiv gegenüber dem Monotheismus hervorhebt,³¹⁷ verbirgt in sich den eigentlichen Individualismus, der nicht mit dem Glauben an ein allgemeingültiges Wertesystem verbunden ist. Um aus mehreren Alternativen wählen zu können und verschiedene Wege im Auge zu behalten, braucht ein Individuum viel Geist,³¹⁸ worunter Nietzsche etwas völlig anderes als Hegel versteht – und zwar die Kraft des Schaffens zur eigenen Machtsteigerung, die er später als Kunst der Verstellung und Selbstbeherrschung definiert.³¹⁹ Es ist somit keinesfalls überraschend, dass Nietzsche die griechische „Vielgeistigkeit“ am Beispiel des homerischen Odysseus illustriert, dessen Fähigkeiten, sich in schwierigen Situationen zu beherrschen und mehrere Identitäten anzunehmen, von den Göttern bewundert wird. Aus der frühgriechisch-polytheistischen Perspektive erscheint das christliche Gebot, nur einen Gott zu haben, lächerlich. Odysseus lässt sich hingegen trotz seines unglücklichen Schicksals als Person darstellen, die die Gesetze der polytheistischen Welt am besten versteht und zugunsten eigener Interessen nutzt. Die kreative Natur eines vorbildlichen Helden manifestiert sich in der Möglichkeit, ein eigenes Wertsystem und eine eigene Moral zu schaffen. Während das Christentum mit den einmal geschaffenen und gemeinsamen Idealen und Werten operiert und daher keinen freien Raum für die Entwicklung der individuellen Werte lässt, hat der vorsokratische Grieche die Möglichkeit, einen Gott als Bild des autonomen Individuums für sich selbst zu schaffen, um das eigene Handeln nach diesem persönlichen Ideal zu gestalten. Dieses Handeln gemäß der persönlichen Wertordnung markiert

 Vgl. Za III, Von den Abtrünnigen 2, KSA 4.230: „Mit den alten Göttern gieng es ja lange schon zu Ende: – und wahrlich, ein gutes fröhliches Götter-Ende hatten sie! Sie ‚dämmerten‘ sich nicht zu Tode – das lügt man wohl! Vielmehr: sie haben sich selber einmal zu Tode – g e l a c h t ! / Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausgieng – das Wort: ‚Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir!‘ – / – ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger, vergass sich also: / Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen und riefen: ‚Ist das nicht eben Göttlichkeit, daß es Götter, aber keinen Gott giebt?‘“  Vgl. bereits Nachlass 1875, 5[103], KGW IV 1.143: „Zu einem griechischen P o l y t h e i s m u s gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen [Gott] hat.“  Vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 14, KSA 6.121: „Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend).“

4.3 Die homerischen Götter und das Problem der Schuld

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nach Nietzsche die Trennung des „Ich“ vom ursprünglichen „Wir“, die vor der sokratisch-moralischen Revolution erfolgt. Nicht nur Homer, sondern auch seine Helden haben das Vermögen, in Ketten zu tanzen,³²⁰ indem sie nach ihrem Platz zwischen den Regeln der Sittlichkeit und den Prinzipien der gemeinsamen Moral suchen.

4.3 Die homerischen Götter und das Problem der Schuld Die Kunst, Götter zu schaffen, hat auch ihre Kehrseite: Indem das Individuum nicht sich, sondern den von ihm geschaffenen Gott für die eigenen Fehler und Irrtümer verantwortlich macht, verliert es auch seine Unabhängigkeit – das, was Nietzsche als Autonomie einer übersittlichen Handlung charakterisiert.³²¹ Dass ein solcher „Ausweg“ aus der Gefangenschaft der sittlichen Normen gerade für den griechischen Polytheismus typisch ist, stellt Nietzsche auch in der zweiten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral fest. Wenn der Grieche adeliger Herkunft einen Fehler begeht, nennt er eine Gottheit als Urheber des „unverständlichen Greuels und Frevels“, der „Störung im Kopfe“ (GM II 23, KSA 5.334– 335): ³²² „Es muss ihn wohl ein G o t t bethört haben“, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd … Dieser Ausweg ist t y p i s c h für Griechen … Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es v o r n e h m e r ist, die Schuld …

Gerade für die homerischen Epen (im Gegensatz zu den späteren Texten) ist diese Eigenschaft besonders charakteristisch. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass die Helden der homerischen Epen die Gewohnheit haben, ihre großen Fehler durch einen – meistens unbekannten oder als Zeus bezeichneten – Gott zu rechtfertigen. Somit spielt die eigene Schuld für den homerischen Menschen keine wichtige Rolle, auch wenn wir in den Handlungsmotivationen der homerischen Helden bei einem näheren Blick auch Spuren dessen finden können, was wir heute als Schuldgefühl bezeichnen

 Vgl. MA II, WS 140 (in Bezug auf Homer) und JGB 226 (in Bezug auf immoralisches Handeln).  S. GM II 2, KSA 5.293: „Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, w o z u sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m , das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ‚autonom‘ und ‚sittlich‘ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der v e r s p r e c h e n d a r f “.  Vgl. dazu auch Redner 2006, S. 104, der allerdings nicht erklärt, dass Nietzsche unter „Griechen“ an vielen Stellen nur die Griechen der archaischen bzw. vorplatonischen Zeit versteht. Stattdessen stellt Redner nur fest, dass Nietzsches These in historischer Hinsicht eine Übertreibung ist, und begrenzt Nietzsches Argument fälschlich auf die klassische (und nicht auf die archaische) Epoche der griechischen Kultur.

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

würden.³²³ Man denke in diesem Zusammenhang wiederum an Odysseus, der die unglückliche Heimfahrt, deren Ereignisse zum Tod aller seiner Kameraden führen, nicht als eigene Schuld sieht, sondern die Götter als Urheber des Unheils bezeichnet.³²⁴ Ein weiteres Beispiel der von Nietzsche erkannten Unverantwortlichkeit der homerischen Menschen, abgesehen von der in Zur Genealogie der Moral erwähnten Rede des Zeus,³²⁵ bietet die Ilias-Szene, in der Agamemnon, schockiert und niedergeschlagen durch die letzten Misserfolge der Achäer, sich angesichts seiner früheren Befehle nicht selbst, sondern Zeus für schuldig erklärt und sich als Spielzeug der Götter präsentiert.³²⁶ Um Götter als Quelle der menschlichen Fehler und um die mögliche Abhängigkeit menschlicher Handlungen vom göttlichen Willen geht es auch im 17. Buch der Ilias, in dem Alkimedon sich über die Unvernünftigkeit von Automedons Handlungen wundert (Il.XVII.469 – 470): Welch ein Gott, Automedon, warʼs, der den nichtigen Vorsatz Dir in die Seele gelegt, und entwand die gute Besinnung?

In Zur Genealogie der Moral betont Nietzsche mehrmals, dass die Griechen, anstatt eigene Schuld vor Gott zu fühlen, was im Christentum der Fall wäre, die olympischen Götter als Mittel sehen, „um sich das ‚schlechte Gewissen‘ vom Leibe zu halten“ (GM II 23). Dieses Verfahren gehört, so Nietzsche, zu den „v o r n e h m e r e [ n ] Arten […], sich der Erdichtung von Göttern zu bedienen“ (GM II 23) – im Vergleich zur „Selbstpeinigung“ (GM II 22) und zur gegen sich selbst gerichteten Grausamkeit des schlechten Gewissens. Die griechischen Gottheiten erscheinen als „Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das T h i e r im Menschen sich vergöttlicht fühlte und n i c h t sich selbst zerriss, n i c h t gegen sich selber wüthete!“ (GM II 23) Für Nietzsche sind also die Götter der Grund, warum die homerischen Menschen sich selbst für eigene Triebe nicht bestrafen sollten. Aus der Perspektive historisch-philosophischer Rekonstruktion der Ursprünge der Moral im Licht von Nietzsches Moralkritik hat die Idee der Unschuld der Griechen eine solide Begründung, weil ihre wichtigsten Elemente sich an konkreten Textbeispielen illustrieren lassen, auch wenn es für einen aufmerksamen Leser Homers klar ist, dass

 Vgl. Williams 1993, S. 75 – 102. Zu Nietzsche und Williams im Kontext der philologisch-philosophischen Debatte um die homerische Moral s. Kapitel 6.  In Od.IX.37– 38 sagt Odysseus, dass der ganze Verlauf seiner Rückfahrt, in der er alle seine Gefährten verloren hat, von Zeus orchestriert wurde: „vernimm jetzt meine traurige Heimfahrt, / Die mir der Donnerer Zeus vom troischen Ufer beschieden.“  Od.I.32– 34: Zeus äußert seinen Verdruss darüber, dass die Menschen die Götter zu oft als Quelle ihres Unheils nennen. Dieses Beispiel übernimmt Nietzsche von Leopold Schmidt (s. dazu Orsucci 1996, S. 272– 273).  Il.IX.17– 21: „Hart hat Zeus der Kronid in schwere Schuld mich verstricket! / Grausamer, welcher mir einst mit gnädigem Winke gelobet, / Heimzugehn ein Vertilger der festummauerten Troja. / Doch nun sann er verderblichen Trug und heißet mich ruhmlos / Wieder gen Argos kehren, nachdem viel Volks mir dahinstarb“ (übers. von J. H. Voß).

4.4 Der soziale Ursprung der moralischen Begriffe bei Homer

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die homerischen Menschen die Götter nicht in allen Fällen für eigene Fehler verantwortlich machen.³²⁷ Sie erweist sich andererseits als problematisch für die Konsistenz von Nietzsches Versuchen, der vorplatonischen Antike einen vorbildlichen Status zu verleihen. Er gibt Rechenschaft darüber, dass sich die psychologische Unschuld der Griechen als Naivität erweist³²⁸ – und zwar nicht in dem von ihm früher kritisierten Sinn der künstlerischen Ungeschicktheit, sondern im Sinn des Mangels an völlig manifestierter Individualität. In dieser Hinsicht stößt Nietzsches Strategie der Orientierung an bestimmten historisierten Handlungsmodellen wie der des Odysseus auf erhebliche Komplikationen. Letztere lassen sich besonders deutlich angesichts von Nietzsches Verständnis der griechischen Aristokratie und ihrer Weltvorstellung erkennen.

4.4 Der soziale Ursprung der moralischen Begriffe bei Homer und das Problem der Interpretation Nietzsches Argumente in Zur Genealogie der Moral stellen einen klaren Zusammenhang zwischen der Unmoralität und dem Aristokratismus der Griechen fest. Es geht um eine Gesellschaft, in deren Zentrum die „Vornehmen“ und „Wohlgeratenen“ stehen, also die, deren Leistungen im Krieg und Rat von anderen Mitgliedern der adeligheroischen Gemeinschaft anerkannt werden. Die Verbindung zwischen Nietzsches Behandlung der moralischen Begriffe und seiner Analyse des altgriechischen Sozialsystems, so wie es etwa bei Homer dargestellt ist, wird besonders deutlich, wenn es um den Ursprung der zentralen Moralbegriffe ἀγαθός (gut, tugendhaft, edel), κακός (schlecht, gemein) und ἐσθλός (gut, edel, tapfer) geht (GM I 5, KSA 5.262– 263): Sie heissen sich zum Beispiel ‚die Wahrhaftigen‘: voran der griechische Adel, dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort ἐσθλός bedeutet der Wurzel nach Einen, der i s t , der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn ‚adelig‘ über, zur Abgrenzung vom l ü g e n h a f t e n gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt und schildert, – bis endlich das Wort, nach dem Niedergange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird. Im Worte κακός wie in δειλός (der Plebejer im Gegensatz zum ἀγαθός) ist die Feigheit unterstrichen: dies giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren ἀγαθός zu suchen hat.

 Ob die homerischen Menschen die Götter für eigene Fehler verantwortlich machen können, insofern in der Ilias und in der Odyssee alles Geschehen durch das göttliche Schicksal bzw. durch das Los (μοῖρα) bestimmt ist, wäre eine andere interessante Frage, die Nietzsche allerdings nirgendwo berührt. Zu Schicksal und Verantwortung bei Homer s. Yamagata 1994, S. 105 – 120.  S. Nachlass 1886/87, 7[30], KGW VIII 1.314: „Naivetät des philosophischen Alterthums, psychologische U n s c h u l d ; ihre ‚Weisen‘ waren langweilig.“

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

Obwohl Nietzsche nur Theognis explizit erwähnt, ist klar, dass sich seine These auch auf die vornehmen Helden der Ilias und Odyssee erstreckt. Laut ihm waren ἀγαθός und κακός auch bei Homer mit der sozialen Position verbunden,³²⁹ wobei ihre moralische Bedeutung aus der ursprünglichen Bezeichnung der Handlungen der jeweiligen sozialen Gruppe deriviert wurde.³³⁰ Nietzsches Thesen über die Rolle der Götter bei Homer wie auch über die ursprünglich soziale Bedeutung der Begriffe des Guten und Schlechten korrespondieren mit denen, die der Altphilologe Leopold Schmidt in seiner Monografie Die Ethik der alten Griechen (1882) entwickelt. Schmidts Buch war Teil von Nietzsches persönlicher Bibliothek und wurde von ihm aufmerksam gelesen. An einer Stelle, in der es bei Schmidt um homerische Menschen geht, die die Götter für „Urheber des von den Menschen begangenen Unrechts“ halten „könnten“ (mit Zitat aus dem ersten Buch der Odyssee ³³¹),³³² finden wir Nietzsches zuspitzende Notiz³³³ „vielmehr nur“. Auf Kosten eines Widerspruchs zu den literarischen Quellen bekommen Schmidts Beobachtungen bei Nietzsche somit einen schärferen Umriss, indem der Gegensatz zum (sokratisch‐)christlichen Modell, in dem der Gott nicht als imperfektes, in Affekt geratendes Wesen und mögliche Ursache des menschlichen Unheils, sondern als Gutes an sich erscheint, deutlicher wird. Auch die genealogische Methode von Schmidt, deren Ziel die Entwicklung der ethischen Begriffe der Griechen angefangen bei den frühesten literarischen Texten, d. h. mit den homerischen Epen, ist, weist wesentliche Ähnlichkeiten mit Nietzsches allgemeinem Ansatz in Zur Genealogie der Moral auf.³³⁴ Der Einfluss von Schmidt ist insbesondere dort sichtbar, wo Nietzsche seine philosophischen Thesen zur Unmoralität der alten Griechen durch philologisch-etymologische Analysen begründet. Nicht nur die Gleichsetzung der Guten (ἀγαθός) mit den Vornehmen,³³⁵ sondern auch die Beschreibung der sozialen Rolle der ἀρετή

 Für die Auseinandersetzung mit der (un)moralischen Interpretation von ἀγαθός bei Homer s. insb. Adkins 1960; Long 1970; Lloyd-Jones 1971; Gagarin 1987; Yamagata 1994; Zanker 1996. Zu Nietzsches Einfluss auf die gesamte Diskussion um die sogenannte homerische Moral s. wiederum Kapitel 6.  Auf die Wichtigkeit von Nietzsches Analyse der Moral nicht nur vom psychologischen, sondern auch vom soziologischen Standpunkt weist Volker Gerhardt (Gerhardt 2004, S. 82) hin: „Nietzsche [ist] einer der Wegbereiter der soziologischen Ausdeutung der Moral. […] Über Simmel, Tönnies, Weber und Freud hat er die von marxistischen Soziologen inaugurierte ‚Dialektik der Aufklärung‘ inspiriert und kann selbst noch als Vorläufer der postmarxistischen ‚Detranszendentalisierung‘ der Vernunft durch Jürgen Habermas gelten.“  Od.I.32– 34.  Schmidt 1882, Bd. 1, S. 232. Zum Einfluss von Schmidt auf Nietzsche s. Brusotti 1992, S. 81– 136; Orsucci 2000 und insb. Orsucci 1996, S. 250 – 275. Zu den Parallelen zwischen Schmidts Buch und Fragmenten von Nietzsches Entwurf „Die Griechen als Menschenkenner“ s. Brusotti 1992, S. 119.  S. dazu Brusotti 1992, S. 123 – 124.  Diese methodologische Ähnlichkeit von Schmidts Buch und Nietzsches GM wird in Orsucci 1996, S. 251, erwähnt.  Vgl. Schmidt 1882, Bd. 1, S. 159: „schon bei Homer vorkommende und später immer häufiger werdende Sprachgebrauch, nach welchem der Begriff ‚adelig‘ durch dasselbe Wort gegeben wird, welches ‚gut‘ bezeichnet“. S. auch Orsucci 1996, S. 250 – 251. Zur Quelle von Nietzsches Theognis-

4.4 Der soziale Ursprung der moralischen Begriffe bei Homer

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(Tugend) als „jede[r] Art von Vorzügen, welche geeignet ist, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken, Schönheit, Schnelligkeit, Klugheit, kriegerische oder agonistische Tüchtigkeit, aber auch ein von den Göttern gewährtes Gedeihen und Gelingen“,³³⁶ spielt eine bedeutende Rolle für Nietzsches These über die ursprünglich soziale (vornehme) und nicht-moralische Natur der Wörter, die später – insbesondere seit Platon – zu rein moralischen Schlüsselbegriffen wurden. Selbst dort, wo Nietzsche ohne Verweise auf konkrete Texte über „das Gefühl der Vornehmheit“ und die Unbilligkeit „gegen die Bescheidenen“³³⁷ bei den Griechen schreibt, sind die Parallelen zu Schmidt unbestreitbar: Letzterer betont das Selbstvertrauen und den mangelnden Zweifel an der Richtigkeit der Selbsteinschätzung bei den Griechen. Diese Beobachtungen Schmidts dienen Nietzsche als Grundlage seiner wohlbekannten Kritik der menschlichen Selbstverkleinerung in der platonisch-christlichen Tradition. Die Rolle von Schmidts Monografie als Nietzsches Quelle, insbesondere für seine Ausführungen in Zur Genealogie der Moral, ist kaum zu überschätzen. Nietzsches Thesen zur Immoralität der vorplatonischen Griechen stehen in enger Verbindung mit den Themen der früheren Perioden seines Denkens³³⁸ wie dem Agon und der archaische Grausamkeit in der Geburt der Tragödie und in den kleinen griechischen Schriften sowie der Fremdheit der Griechen³³⁹ und den Beziehungen zwischen Sittlichkeit und Moral in Menschliches, Allzumenschliches, der Morgenröthe und weiteren Werken. Im Kontext von Zur Genealogie der Moral wird besonders deutlich, dass Nietzsche die Opposition adelig–gemein als Vorstufe zur Opposition gut–böse und als Erdichtung (bzw. Interpretation) der herrschenden Schicht der Griechen sieht, die alle Dinge vom eigenen Standpunkt aus bewertet.³⁴⁰ Die Wichtigkeit dieser auf etymologischen Beispielen beruhenden These hat Michel Foucault in Nietzsche, Freud und Marx sowie in Les mots et les choses hervorgehoben:

Beispiel im bereits erwähnten Kontext von GM I 5 s. Schmidt 1882, Bd. 1, S. 235: „ein Distichon des Theognis (165. 166) […] in welchem […] die durch ‚gut‘ und ‚schlecht‘ wiedergegebenen Worte – ἀγαθός und κακός – nichts Anderes bedeuten als adelig und unadelig.“  Schmidt, Bd. 1, S. 295. Vgl. dieses Zitat in Orsucci 1996, S. 251. Die Gleichsetzung von ἐσθλός und Wahrhaftem stammt jedoch von Nietzsche selbst. Vgl. 8[78], KGW V 1, und Brusotti 1992, S. 127.  S. Nietzsches Plan: Nachlass 1883, 8[15], KGW VII 1.349 (mit Verweis auf Schmidt 1882, Bd. 2, S. 397).  Ein Fehler solcher Art tritt m. E. in Orsucci 1996 auf: Indem Orsucci sich nur auf den Vergleich von Schmidts Thesen mit Nietzsches Werken und Fragmenten ab 1883 konzentriert, wird die Bedeutung von Nietzsches früheren Beschäftigung mit denselben Themen deutlich gemindert.  Vgl. Zhavoronkov 2012.  Vgl. GM I 2, KSA 5.259: „Nun liegt für mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsherd des Begriffs ‚gut‘ an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Urtheil ‚gut‘ rührt n i c h t von Denen her, welchen ‚Güte‘ erwiesen wird! Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

Pour Nietzsche, il ne s’agissait pas de savoir ce qu’étaient en eux-mêmes le bien ou le mal, mais qui était désigné, ou plutôt qui parlait lorsque, pour se désigner soi-même, on disait Agathos, et Deilos pour désigner les autres.³⁴¹

Indem Nietzsche den Ursprung der moralischen Begriffe vom etymologischen Standpunkt betrachtet, versucht er die Frage „wer spricht?“ (bzw. „wer interpretiert?“) und nicht die Frage „was wird gesagt?“ zu beantworten. Dieser Ansatz ist sinnvoll auch aus gegenwärtiger philologischer Perspektive. Denn weil die Haupthelden bei Homer sich selbst, als Menschen mit einer bestimmten sozialen Stellung und gemeinsamen Prinzipien und Werten, ἀγαθοί nennen, zwingen sie ihre Interpretation den anderen auf: Derjenige, der den Kriterien von ἀγαθός nicht entspricht, soll sich als κακός (bzw. als δειλός) bezeichnen. Die Wirksamkeit der frühgriechischen Opposition adelig–gemein lässt sich auch durch die Darstellung sozialer Beziehungen bei Hesiod begründen: Obwohl sich der Fokus in Hesiods Epos Werke und Tage von den Herrschenden zu den gemeinen Menschen verschiebt,³⁴² ist der Rahmen der Interpretation derselbe. Der Bruder des Erzählers, der, genau wie der Erzähler selbst, zu den gemeinen Menschen (Bauern) gehört, ist bei Hesiod ein δειλός – im Gegensatz zu einem Aristokraten, der ein ἐσθλός ist.³⁴³ Mit Nietzsches und Foucaults Worten könnten wir sagen, dass der gemeine Mensch bei Hesiod sich der ihm aufgezwungenen aristokratischen Interpretation als Wahrheit bedient.³⁴⁴ Ungleich vielen anderen etymologischen Versuchen Nietzsches erweisen sich die von Leopold Schmidt übernommenen Beobachtungen über den sozialen Charakter der griechischen moralischen Schlüsselbegriffe bei Homer zugleich aus Nietzsches eigener und aus der uns gegenwärtigen philologischen Perspektive als produktiv. Um ihre philosophische Überzeugungskraft und Wirksamkeit abzuschätzen, soll sie nun im Kontext von Nietzsches Idee der Gemeinschaft und des Aristokratismus betrachtet werden.

 Foucault 1966, S. 316, sowie Foucault 1967. Zu diesen Stellen s. Schrift 1995, S. 45 – 46.  Das erklärt u. a., warum Nietzsche in den frühen Schriften Homer und Hesiod gegenüberstellt: In Hesiods Werke und Tage geht es um das Leben und um die Interessen gemeiner Menschen.  Vgl. OD 214: Perses, der Bruder des Erzählers, ist hier ein δειλός βροτός (ein Sterblicher niedriger Abstammung). Für die Begründung der sozialen Interpretation dieser Passage s. Zanker 1986, S. 27.  Mit den Texten des von Nietzsche erwähnten Theognis steht es allerdings nicht so eindeutig: Hier lassen sich die ersten Symptome des Zerfalls der aristokratischen Basis der Opposition ἀγαθός–κακός erkennen. S. dazu Donlan 1999, S. 77– 111.

4.5 Auf der Suche nach der aristokratischen Moral: von Homer zu Theognis

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4.5 Auf der Suche nach der aristokratischen Moral: von Homer zu Theognis Es wäre eine unmögliche Aufgabe, bei Nietzsche nach einer klaren Trennung zwischen den Begriffen der Gemeinschaft und der Gesellschaft zu suchen.³⁴⁵ Diese Opposition, die, in Deutschland wie auch im englischsprachigen Raum, zum festen Bestandteil der soziologischen und sozialphilosophischen Debatten des 20. Jahrhunderts wurde, entsteht erst einige Jahrzehnte später im Rahmen des soziologischen Diskurses, v. a. bei Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner. Zugleich wird dieser Diskurs im Wesentlichen auch von Nietzsche beeinflusst.³⁴⁶ In seiner Vorrede Der griechische Staat stellt Nietzsche fest, dass der Staat bei Individuen in den natürlich vorhandenen „Trieb zur Geselligkeit“³⁴⁷ durch künstliche Mittel eingreift und „die größeren Massen“ so zueinander zwingt, dass sie sich dem „neuen pyramidalen Aufbau“ der Gesellschaft unterordnen (KSA 1.769).³⁴⁸ Diese Entwicklung ist, so Nietzsches Logik, nicht vermeidbar, da sie eine kulturelle Rangordnung konstituiert und jedem politischen Handeln vorausgeht. Seine Analyse der protodionysischen (bzw. vorapollinischen) Periode der antiken Geschichte in der Geburt der Tragödie und die im Lauf dieser Analyse untersuchte Differenz zwischen Individuellem und Kollektivem, Einzelnem und Ganzem führt ihn zur späteren Schlussfolgerung, dass die Ursachen der Entstehung der Gemeinschaften im Beenden des Kampfs ums Dasein und im Streben nach sozialem Gleichgewicht liegen.³⁴⁹ Im Vergleich zur permanenten Unsicherheit des unkontrollierbaren und totalen Konflikts von Individuen kann die Gemeinschaft verhältnismäßige Sicherheit bieten.³⁵⁰ Die Entstehung der Gemeinschaft hat, aus Nietzsches Sicht, negative und positive Folgen, da der gemeinschaftliche Kollektivismus das Individuelle unterdrückt und zugleich zum Katalysator der Entwicklung individueller Schutzmechanismen wird. Einen deutlicheren Umriss gibt Nietzsche dem Begriff von Gemeinschaft in seinen mittleren und späten Schriften, in denen er die Kriterien der Gleichheit von sozialer Stellung, agonaler Selbstbehauptung und der Abwesenheit des Zwangs, eigene Ziele und Werte miteinander zu teilen, einführt. In Jenseits von Gut und Böse und insbesondere in Zur Genealogie der Moral macht er einen weiteren wichtigen Schritt: Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem christlichen Verständnis der Gemein Dasselbe gilt auch für die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gemeinde als deren einzelne Form.  Mehr zu diesen Parallelen s. in Zhavoronkov 2018, S. 347– 365. Der einleitende Teil dieses Artikels entspricht im Wesentlichen der vorliegenden Analyse des Gemeinschaftsbegriffs bei Nietzsche.  Nietzsches verwendet den Begriff „Geselligkeit“ sowohl in Bezug auf Gesellschaft im Allgemeinen als auch ganz konkret auf die Salonkultur (vgl. Nachlass 1873, 27[66], KGW III 4.211), was an Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Beitragens (1799) erinnert. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Nietzsche den Begriff von Goethe entlehnt.  S. auch Günther 2008, S. 97– 98.  S. Nachlass 1879, 41[42], KGW IV 3.448.  S. Nachlass 1880, 3[119], KGW V 1.414.

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4 Der homerische Mensch und die Grenzen der Moral

schaft als metaphorische Verbindung durch das Blut Christi benutzt Nietzsche den Begriff „Blutgemeinschaft“ als terminus technicus im anthropologisch-physiologischen Sinn.³⁵¹ In Anlehnung an Julius Wellhausens Beschreibung arabischer Gemeinschaften³⁵² versucht Nietzsche, seine Idee der Gemeinschaft als effektives Instrument der Säkularisierung der sozialen Sphäre, insbesondere im Sinn der Befreiung vom christlichen Schuldgefühl, zu nutzen.³⁵³ Seine Idee der natürlichen Gemeinschaft, deren Grundlagen mit der gemeinschaftlich-christlichen „Verteufelung der Natur“ (GM II 21) kontrastieren, ist in vielerlei Hinsicht ähnlich zu der von Homer. Abgesehen von der bereits erwähnten moralischen Unschuld ihrer Mitglieder zeichnet sie sich in erster Linie durch die Beziehung der Freundschaft aus: Die Art von Gemeinschaft, die nicht auf gemeinsamen, sondern auf individuellen Leidenschaften beruht (darin besteht etwa die Differenz zwischen Mitleid und Mitfreude bei Nietzsche³⁵⁴), könnte auf Freundschaft beruhen. Im Gegensatz zur Genossenschaft setzt die Freundschaft keinen unbedingten gemeinsamen Zweck voraus, sondern beruht auf Anerkennung bzw. Bejahung sowie auf Interesse für den Anderen. Die für die homerischen Menschen eine grundlegende Rolle spielenden Gesetze der Gastfreundschaft (ξενία) erweitern die Grenzen der Gemeinschaft über den engeren Kreis der Familie und Nachbarschaft: Jeder, der ins Haus bzw. zum Gastmahl eingeladen wird, kommt in eine gemeinschaftliche Beziehung zum Gastgeber – eine Beziehung zwischen Personen, die sich auf Augenhöhe befinden. So wird auch Odysseus, ein Fremder, dank Alkinoos’ Einladung zum Gastmahl als Person mit einer sozialen Stellung, die der von adeligen Phäaken gleicht, anerkannt. Das pervertierte Verständnis der Gastfreundschaft bei den Kyklopen, die ihre Gäste essen, oder bei der Göttin Kirke, die ihre Gäste in Schweine verwandelt, bestätigt lediglich, dass die gastfreundschaftlichen Prinzipien exklusiv für die menschliche Gesellschaft charakteristisch sind und sich somit als

 S. GM II 20. Der Inhalt von Nietzsches Begriff „Blutgemeinschaft“ ist also deutlich anders als bei Tönnies. Letzterer versteht unter Blutgemeinschaft eine Gemeinschaft, deren Mitglieder im biologischen Sinn von Familienverhältnissen verwandt sind.  Wellhausen 1887, S. 119 – 120. Vgl. das Wellhausen-Zitat, ohne Bezug auf arabische Gemeinschaften und zugleich mit einem wichtigen Kommentar Nietzsches zu Beginn des Fragments (Nachlass 1887/88, 11[292], KGW VIII 2.355): „Das Christenthum hat das Abendmahl nicht verstanden: die communio durch Fleisch und Trank, die sich auf natürlichem Wege in Fleisch und Blut transsubstantiiren – / Alle Gemeinschaft ist B l u t g e m e i n s c h a f t . Diese ist nicht nur angeboren, sie wird auch erworben; ebenso wie das Blut nicht bloß angeboren ist, sondern auch erworben wird. Wer mit einander ißt und trinkt, erneuert sein Blut aus demselben Quell, bringt dasselbe Blut in seine Adern. Ein Fremder, sogar ein Feind, der unser Mahl theilt (auch ohne und gegen unseren Willen) wird dadurch, wenigstens für eine Weile, in die Gemeinschaft unseres Fleisches und Bluts aufgenommen.“  Vgl. Nietzsches These, dass der Ursprung der Idee der „Schulden gegen die Gottheit“ in der „blutverwandtschaftlichen Organisationsform der ‚Gemeinschaft‘“, so wie sie im Christentum vorkommt, liegt (GM II 20, KSA 5.329).  S. etwa MA I 499, KSA 2.320, sowie MA II, VM 62, KSA 2.405.

4.5 Auf der Suche nach der aristokratischen Moral: von Homer zu Theognis

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anthropologisches Kriterium des Unterschieds zwischen Menschen, Tieren, Mischwesen und Göttern deuten lassen. Der Kontext von Zur Genealogie der Moral macht klar, dass Homers Epen eine bedeutende Rolle in der Ausarbeitung von Nietzsches umstrittenem Konzept der aristokratischen Moral bzw. der „Herrenmoral“ spielen, die er der seit Sokrates existierenden „Sklavenmoral“ gegenüberstellt, die durch den Sklavenaufstand in der Moral die Herrschaft erlangt habe. Auch wenn man von den problematischen Implikationen von Nietzsches Übertragung des Begriffs auf die ihm gegenwärtige europäische Tradition Abstand nimmt, um primär auf die historisch-genealogischen Grundlagen einzugehen, stößt man auf erhebliche Komplikationen. Denn die Welt der homerischen Epen ist keinesfalls identisch mit der griechischen Gesellschaft bei Theognis, den Nietzsche – im Gegensatz zu Homer – explizit erwähnt: Während der kulturelle Hintergrund der Ilias und Odyssee die Zeit widerspiegelt, in der die Macht der Aristokraten unbestreitbar war, entstehen die Gedichte von Theognis zu einem späteren Zeitpunkt, als die immer schwächer werdende Aristokratie und das gemeine Volk bereits in einem tiefen Konflikt zueinander standen. Sehen wir also, aus Nietzsches Perspektive, bei Homer den Beginn der aristokratischen Moral und bei Theognis ihre Kulmination oder letzte Blüte? Um dieser Frage nachzugehen, kehren wir zu den Grundlagen von Nietzsches Begriff der Herrenmoral zurück. Während Nietzsche die platonisch-christliche Moral kritisiert, weil sie den Menschen verkleinert, stellt er ihr die zur „Erhöhung des Typus Mensch“³⁵⁵ beitragende Herrenmoral (bzw. die aristokratische Moral) gegenüber, die vom Standpunkt der traditionellen Moral unmoralisch erscheint. Seine Definition der Herrenmoral präsentiert er im letzten Abschnitt von Jenseits von Gut und Böse – als Teil der Antwort auf die Frage „was ist vornehm?“ (JGB 260).³⁵⁶ Die Opposition setzt eine bestimmte „Rangordnung“ der Werte voraus.³⁵⁷ Den gemeinen Menschen, die er mit äußerst  Nachlass 1885, 37[8], KGW VII 3.307– 308: „Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den u m g e k e h r t e n Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Obermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoicismus, Versucher-Kunst, Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Heerden-Wünschbarkeiten, zur Erhöhung des Typus Mensch nothwendig sind.“ Vgl. Gerd Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, Berlin / New York 2000, 319 – 320.  S. auch Solms-Laubach 2007, S. 117– 120. In demselben Aphorismus verbindet Nietzsche die Begriffe ‚gut’ und ‚vornehm‘ miteinander: „Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz ‚gut‘ und ‚schlecht‘ so viel bedeutet wie ‚vornehm‘ und ‚verächtlich‘“. In diesem Kontext (im Gegensatz zu GM I 5) geht es jedoch nicht nur um die Griechen der archaischen Zeit, sondern um Menschen verschiedener Kulturen.  S. etwa JGB 257, KSA 5.205: „Jede Erhöhung des Typus ‚Mensch‘ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat.“

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scharfen Worten beschreibt, ist sowohl das Glück als auch das aristokratische Gefühl des Pathos der Distanz unzugänglich. Ein solcher Mensch ist „der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner“ (JGB 260, KSA 5.209), wobei Nietzsche hier offensichtlich von einem anderen, neidischreaktiven und künstlerisch unproduktiven Lügner-Typus im Vergleich zu Odysseus ausgeht. Zu den aristokratischen Eigenschaften gehören „das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte“ (JGB 260, KSA 5.20). Die Vornehmen bestimmen die eigenen Werte und sind somit nicht gezwungen, sich selbst nach einem fremden Maßstab zu messen (JGB 260, KSA 5.20): Die vornehme Art Mensch fühlt s i c h als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt ‚was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich,‘ sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist w e r t h e s c h a f f e n d .

Nietzsche beginnt seine Suche nach den Werten, die die aristokratische Moral bestimmen können,³⁵⁸ bereits in Also sprach Zarathustra, wo er einen neuen Begriff der Tugend formuliert.³⁵⁹ Hier geht es um Mut,³⁶⁰ um Keuschheit, die ihre Verbindung zur christlichen Askese und Selbstbestrafung verliert,³⁶¹ um „schenkende Tugend“ als unersättliches Schenken, das nur einem unersättlich Erkennenden möglich ist,³⁶² und um Einsamkeit.³⁶³ In Jenseits von Gut und Böse kommen „tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen“, die „Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit und langer Rache“ sowie „eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben […] als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth“hinzu (JGB 260, KSA 5.211). In keinem der Fälle liefert Nietzsche eine klare Unterscheidung zwischen aristokratisch in sozialem Sinn des Worts und aristokratisch im Sinn geistiger Fähigkeiten, die nicht unbedingt mit der sozialen Position korrelieren. Im Gegenteil, es ist gerade die Folge seiner genealogischen Analyse, dass die sozialen Merkmale der bei Homer und in der archaischen Lyrik beschriebenen Aristokratie mit denen der geistigen Aristokratie zusammenfallen sollen. Insofern wird Nietzsche gezwungen, seine Unterscheidung auch historisch zu begründen. Ein solches Unternehmen scheint auf den ersten Blick nicht unmöglich, wenn man von den problematischen Implikationen der Opposition von Nietzsches Analyse  Allerdings geht es in Also sprach Zarathustra nicht explizit um aristokratische Moral oder Herrenmoral, sondern eher um neue Tugenden oder neue Werte. Die Opposition Herrenmoral–Sklavenmoral erscheint zum ersten Mal in Jenseits von Gut und Böse.  S. Za I, Von den Freuden- und Leidenschaften.  Za I, Vom Lesen und Schreiben; Vom Krieg und Kriegsvolke usw.  Za I, Von der Keuschheit.  Za I, Von der schenkenden Tugend; Za II, Von den drei Bösen.  Za I, Von den Fliegen des Marktes.

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der sozialen Realität seiner Zeit absieht und sich auf die wichtigsten aristokratischen Eigenschaften konzentriert.³⁶⁴ Denn der größte Teil der Merkmale, die Nietzsche der aristokratischen Moral zuschreibt, fällt zusammen mit denen, die auch für die homerischen Helden typisch sind, auch wenn Nietzsche diese Parallele selbst nicht präsentiert. Die Ehrfurcht vor der Herkunft erinnert an die Wichtigkeit der Genealogien in der Ilias sowie an die prominente Rolle der älteren Helden wie Nestor.³⁶⁵ Die durch Achill repräsentierte Notwendigkeit der Feindschaft illustriert Nietzsches frühere These zur Notwendigkeit eines dauerhaften Wettkampfs und die Gefahr eines überwältigenden Siegs. Das Thema der langfristigen Dankbarkeit kommt bei Homer zur Sprache in einigen Szenen, in denen es um Gastfreundschaft – sogar unter Gegnern – geht. Im sechsten Buch der Ilias ³⁶⁶ kämpfen Glaukos (auf Seiten der Trojaner) und Diomedes (auf Seiten der Achäer) aufgrund der alten Gastfreundschaft zwischen ihren Familien³⁶⁷ nicht gegeneinander und tauschen stattdessen ihre Waffen aus. Die Einsamkeit erinnert an Odysseus, der während des Großteils seiner Reise nach Ithaka allein war. Der Protagonist der Odyssee repräsentiert zugleich die Möglichkeit einer langfristigen Rache: Erst nach zwanzig Jahren der Abwesenheit kommt er in die Heimat zurück und tötet die Freier, die sein Haus besetzen und seine Position des Herrschers von Ithaka zu usurpieren suchen. Allerdings gibt es auch wichtige Ausnahmen, die in erster Linie mit Fragen nach der Schuld und Verantwortung der homerischen Helden verbunden sind: Der homerische Held ist – nach Nietzsches Standards – noch kein vollständig souveränes Individuum. Wohl aus diesem Grund gibt Nietzsche im Kontext seiner Beschreibung der griechischen, aristokratisch zentrierten Gesellschaft, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit³⁶⁸ und ihren Wert in der Erhaltung eines bestimmten Typus des edlen, gut geratenen Menschen hat, zu, dass die homerische Moral nur Keime der sich entfaltenden aristokratischen Moral enthält. Dass Nietzsche bei Homer keine vollständig entfaltete aristokratische Moral sieht, bestätigt der Aphorismus FW 143, in dem er die „Erfindung“ der griechischen Helden lediglich als eine „unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen“ charakterisiert (KSA 3.490). Wenn die aristokratische Moral bei Homer erst in den Anfängen steckt, liegt es nah, ihre entfaltete Form bei Theognis zu suchen, den Nietzsche in Zur Genealogie der  Nietzsches radikale und kategorische Charakterisierung der gemeinen Menschen lässt von Anfang an keinen Spielraum, um seine Analyse mit den aktuellen historischen Untersuchungen der gesellschaftlichen Verhältnisse der archaischen Periode Griechenlands zu verbinden.  S. etwa Il.I.254– 284 zur Rolle Nestors im Streit zwischen Achill und Agamemnon. Die Meinung von Nestor bekommt mehr Gewicht wegen seines hohen Alters (er ist der älteste von allen Helden im achäischen Lager) und seiner umfangreichen Erfahrung.  Il.VI.212– 236.  Oineus, der Großvater von Diomedes, hatte Bellerophontes, den Großvater von Glaukos, im eigenen Haus für 20 Tage beherbergt.  Der Grund dafür liegt im Pathos der Distanz des vornehmen Menschen, der die eigene Moral nicht mit den anderen teilen möchte.

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Moral direkt nennt. Allerdings ist das keine leichte Aufgabe. Der aristokratische Standpunkt der Texte, die Theognis zugeschrieben werden, ist kaum in Frage zu stellen: Bei ihm werden die Begriffe ἀγαθός und κακός in ihrer sozialen Bedeutung viel öfter als bei Homer oder anderen antiken Autoren verwendet.³⁶⁹ Dies lässt sich, wenigstens zum Teil, durch die sozialen Umstände erklären. Während die Aristokratie bei Homer zu stark und ihre Opposition zu schwach ist, um von einem wirklichen Wettkampf in Nietzsches Sinn zu sprechen, sieht die Situation zu Lebzeiten von Theognis, im 6. Jahrhundert v.Chr., ganz anders aus: Die Aristokratie befindet sich in einer Identitätskrise, weil ihre Weltinterpretation von einer fremden, nicht-aristokratischen Deutung bedroht wird. Es entsteht eine Gefahr für ihre Existenz, weil ihr eigenes Wertsystem plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Diese Tendenz betont Theognis mehrmals ausdrücklich: Kyrnos, die vorher die Guten [ἀγαθοί] waren, sind jetzt schlecht [κακοί] und die vormals Schlechten sind jetzt gut. Wer könnte das ruhig mitansehen, dass die Guten verachtet werden, die Schlechteren Ehre gewinnen, und ein edler Mann die Tochter eines Schlechten zur Frau nimmt.³⁷⁰

Die Zeiten, in denen ein ἀγαθός nur von vornehmer Herkunft sein konnte, sind vorbei: Nun möchten auch die anderen das Recht auf eigene Interpretation haben, selber ἀγαθοί heißen und einen Aristokraten als κακός bezeichnen können. Es geht somit nicht mehr um die soziale, sondern um die seelische „noblesse“, die Nietzsche in Zur Genealogie der Moral mit dem Untergang der adeligen Schicht verbindet. Theognis versucht sich gegen diese Deutung zu wehren, indem er, beinah verzweifelt, nach deutlichen Kriterien für die Bestimmung einer vornehmen Person sucht. Die Symptome des kommenden Verfalls der aristokratischen Werte sind bei Theognis klar zu spüren. Daher wäre es zu gewagt, von einem „goldenen Zeitalter“ der aristokratischen Moral im 6. Jahrhundert zu sprechen. Es sieht eher so aus, als gebe es bei Homer noch keine vollständig entwickelte und „gesunde“ aristokratische Moral und bei Theognis schon keine mehr: Andere soziale Gruppen haben sich zu viele Qualitäten angeeignet, die die Vornehmen bisher von den anderen abgrenzten, sodass etwa der Reichtum aus Sicht von Theognis nicht mehr zu den exklusiven Qualitäten eines ἀγαθός gehört.³⁷¹ Ein intensiver und dauerhafter Wettstreit mit anderen Weltinterpretationen, der, nach Nietzsches Logik, ein notwendiger Hintergrund für die Entwicklung sowie für eine vollständige Entfaltung des aristokratischen Ideals ist, erweist sich als nicht mehr möglich: Genau wie bei Homer ist die eine Seite zu schwach, um mit der anderen zu kämpfen, ohne sich dabei selber zu zerstören.

 Vgl. Donlan 1999, S. 77– 78.  1109 – 1112 (Übers. von Dirk Uwe Hansen). Vgl. 53 – 60.  S. Donlan 1999, S. 84– 85.

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Man kann mit Sicherheit feststellen, dass die vornehmen Griechen der archaischen Periode für Nietzsche das Vorbild der wertbestimmenden Menschen sind.³⁷² Die Möglichkeit der homerischen Helden, deren Handlungen nicht immer typisch und sittlich sind, mehrere Moralen nebeneinander existieren zu lassen, ist für Nietzsche ein Orientierungspunkt für die modernen Menschen, die sich der Koexistenz von verschiedenen Moralen bewusst werden sollten.³⁷³ Dennoch lässt Nietzsche die Frage nach dem Höhepunkt der Entwicklung der aristokratischen Moral unbeantwortet. Während einzelne aristokratische Werte sowohl bei Homer als auch bei Theognis zu finden sind, bleibt ein vorbildliches Modell der aristokratischen Moral in Nietzsches Denken genauso flüchtig wie die Persönlichkeit Homers. Etwas anders sieht Nietzsches Argumentation in Zur Genealogie der Moral aus der allgemeineren Perspektive sozialer Beziehungen aus. Hier spielen gerade die Parallelen zu Homer und nicht zu Theognis eine ausschlaggebende Rolle für Nietzsches säkularisierte Idee der Gemeinschaft. Allerdings bleibt diese Interpretationsstrategie Nietzsches nur angedeutet und wird nicht im Detail ausgearbeitet. Die polemische Umwertung der Idee der Blutgemeinschaft sowie der Mangel einer klaren Differenzierung zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Formen wird später in Missverständnissen in der Rezeption durch Tönnies, Plessner und Carl Schmitt sowie in Schwierigkeiten moderner Interpretationen von sozialen Aspekten von Nietzsches Denken resultieren. In der wesentlich engeren Perspektive von Nietzsches Homerdeutung hat diese doppelte Unklarheit hinsichtlich seines Bilds von der sozialen Entwicklung der antiken Gesellschaft und der daraus folgenden Vorstellung vom gesellschaftlichen Ideal für die Moderne tiefe Folgen für seine kulturphilosophisch zentrale Opposition von Homer und Platon, die sich sowohl in historischer und sozialer als auch in ethischer Hinsicht als zweideutig erweist.

 Vgl. Ottmann 1999, S. 279, wo es um eine direkte Rückkehr Nietzsches zu den griechischen Werten geht.  JGB 215, KSA 5.152: „Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres ‚Sternenhimmels‘– durch v e r s c h i e d e n e Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, – und es giebt genug Fälle, wo wir b u n t e Handlungen thun.“ Nietzsches „bunte Handlungen“ sind ein impliziter Hinweis auf den homerischen Odysseus als Ideal des höheren Menschen: Allem Anschein nach verwendet er das Wort „bunt“ im Sinn des altgriechischen ποικίλος (bunt, gesprenkelt, mannigfaltig, verwickelt, veränderlich, kunstvoll, listig, verschlagen).Vgl. etwa Za IV, Das Lied der Schwermuth, wo das Wort „bunt“ sechs Mal erscheint und die Zweideutigkeit des zugleich im positiven und negativen Sinn verwendbaren griechischen Worts deutlich demonstriert: Zarathustra ist ein Künstler und zugleich ein Lügner, der das Lügen (und die Verschiedenheit der Masken, die für Odysseus typisch ist) als etwas Notwendiges sieht, während der alte Zauberer diese Lügen als eine Art Tartüfferie angreift. Zu Nietzsches Umgang mit einigen altgriechischen Begriffen vgl. die Bemerkung von Stanley Rosen (Rosen 1995, S. 150) am Beispiel des Worts „Gerechtigkeit“ im Sinn der altgriechischen δίκη.

5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel Genau wie Homer ist Platon für Nietzsche eine flüchtige, rätselhafte Figur.³⁷⁴ Freilich ist diese Rätselhaftigkeit nicht von gleicher Art: Im Gegensatz zu dem mit gutem Gewissen lügenden Künstler ist Platon ein Mensch „mit vielen Hinterhöhlen und Vordergründen“,³⁷⁵ der – trotz seines Wahrheitsanspruchs – immer zu verstecken sucht, was er wirklich meint. Während Nietzsche seinen Homer allmählich von einem öffentlichen zu einem geheimen Gesprächspartner macht, wird seine Polemik zu Platon mit der Zeit expliziter und heftiger. Nietzsche geht einen langen Weg von der Bewunderung der „Gesammtconception des platonischen Staates“, die einen „Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n S t a a t u n d G e n i u s “ feststellt (GS, KSA 1.777), bis zu seiner extrem zugespitzten Bezeichnung Platons als „Malheur“ Europas und schließlich als Antigriechen.³⁷⁶ Angefangen mit seinen frühen Schriften sucht Nietzsche die ihn interessieren³⁷⁷ den Figuren gegenüberzustellen und in einen Wettstreit zu bringen, wobei er sich selbst auch als Teilnehmer dieses Wettstreits inszeniert.³⁷⁸ Platon ist ein Paradebeispiel solcher Konkurrenz, die auf den ersten Blick Nietzsches Bild der genuin griechischen Kultur zu untermauern scheint und auf den zweiten Blick die problematischen Aspekte der vorbildlichen Rolle Homers für den späten Nietzsche aufdeckt.³⁷⁹

 Zu Platons „Sphinx-Natur“ s. JGB 28.  Nachlass 1884, 34[66], KGW VII 3.160: „Ich glaube, daß der Zauber des Socrates der war: er hatte eine Seele und dahinter noch eine und dahinter noch eine. In der vordersten legte sich Xenophon schlafen, auf der zweiten Plato und auf der dritten noch einmal Plato, aber Plato mit seiner eigenen zweiten Seele. Plato selber ist ein Mensch mit vielen Hinterhöhlen und Vordergründen.“  S. Nietzsche an Overbeck (Nizza, 09.01.1887, KGB III 5.9): „Die F ä l s c h u n g alles Tatsächlichen durch Moral […]. Und an alledem ist P l a t o schuld! er b l e i b t das größte Malheur Europas!“ S. auch Nachlass 1888, 14[94], KGW VIII 3.64: „Plato, der Mann des Guten – aber er löste die Instinkte ab v o n der Polis, vom Wettkampfe, von der militärischen Tüchtigkeit, von der Kunst und Schönheit, von den Mysterien, von dem Glauben an Tradition und Großväter […] Er ist tief, leidenschaftlich in allem A n t i hellenischen …“ Vgl. hingegen Nietzsches Brief an Overbeck (22.10.1883, KGB III 1.449), in dem er eine erstaunliche Nähe von Zarathustra zu Platon feststellt. Sogar in den Schriften der späteren Periode gibt es deutliche Parallelen zu Platon, was auch Aichele, Philosophie als Spiel, 109 – 173, am Beispiel des spielerischen Elements in Nietzsches Denken nachweist.  Genau wie im Fall Homers hat Nietzsche sehr früh begonnen, sich mit Platon zu beschäftigen. In Basel hielte er mehrere Vorlesungen über Platons Philosophie: im WiSe 1871/72, im WiSe 1873/74, im SoSe 1876 und im WiSe 1878/79.  Zu dieser Problematik im Kontext der Rolle von Homer und Platon bei Nietzsche s. Acampora 2002.  Ich bestreite Thomas Brobjers These nicht, dass Nietzsches Polemik mit Platon nicht so persönlich ist, wie es bei einer oberflächlichen Analyse scheinen könnte (s. Brobjer 2004, S. 241– 259). Dies aus meiner Sicht kein Hindernis, Platon als einen wichtigen und etwa im Lichte der Opposition von https://doi.org/10.1515/9783110751406-008

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Den bekanntesten und explizitesten Hinweis auf den Antagonismus von Platon und Homer finden wir in Zur Genealogie der Moral im Rahmen einer Beschreibung des asketischen Ideals (GM III 25, KSA 5.402– 403): Die Ku n s t , vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des Längeren darauf zurück, – die Kunst, in der gerade die L ü g e sich heiligt, der W i l l e z u r T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Platoʼs, dieses grössten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato g e g e n Homer: das ist der ganze, der ächte Antagonismus – dort der „Jenseitige“ besten Willens, der grosse Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die g o l d e n e Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-C o r r u p t i o n , die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn Nichts ist corruptibler, als ein Künstler.

In einer früheren Nachlassnotiz von 1884 ist Nietzsche noch entschiedener und charakterisiert den Gegensatz des Künstlers (Homers) und des Philosophen (Platons) als „Parole der Philosophen“.³⁸⁰ Während es wahrscheinlicher ist, dass es hier um bisherige, nachplatonische Philosophen geht, die der Kunst eine untergeordnete Rolle einräumen, könnte Nietzsche auch Philosophen der Zukunft meinen, die angesichts dieses mehr als zweitausendjährigen Konflikts eine Entscheidung zugunsten Homers treffen sollen. Auf mehreren Ebenen erweist sich Nietzsches komplexe Aussage über den Antagonismus von Platon und Homer als Ergebnis der Entwicklung und Kristallisierung seiner früheren Thesen über Wahrheit, Kunst, Kultur, Religion, Moral und menschliche Natur.³⁸¹ Insofern ist es notwendig, die Entwicklung von einigen Gedankensträngen und ihre Umwandlung zu Oppositionen von den frühen Perioden bis zur späteren Zeit zu verfolgen, um die Rolle der Formel „Plato gegen Homer“ innerhalb und außerhalb des Kontexts von Zur Genealogie der Moral zu verstehen.

Sein und Werden unausweichlichen Gegner Nietzsches zu verstehen. Dass er seine Polemik mit Platon nicht zuletzt mithilfe von Bezügen auf Homer zuspitzt, soll im Folgenden demonstriert werden.  Nachlass 1884, 26[334], KGW VII 2.235 – 236: „Das Ausschweifende und Krankhafte an Vielem, was sich bisher ‚Wille zur Wahrheit‘ nannte. / Mit schreckhaftem Ernste haben die Philosophen vor den Sinnen und dem Trug der Sinne gewarnt. Der tiefe Antagonismus der Philosophen und der Freunde des Trugs, der Künstler, geht durch die griechische Philosophie: ‚Plato gegen Homer‘ – ist die Parole der Philosophen!“ Zur Möglichkeit eines impliziten Hinweises auf Longinus, der Platon ebenfalls als Homers ἀνταγωνιστής versteht, s. Halliwell 2011, S. 158, n. 8.  Nietzsches Gegenüberstellung von Platon und Homer lässt sich, aus meiner Sicht, weder auf die Opposition des Dionysischen und des Apollinischen noch auf die relativ enge Frage nach der Definition des künstlerischen Schaffens reduzieren, wie es etwa bei Annamaria Lossis Monografie über Nietzsches Platonbild der Fall zu sein scheint: vgl. Lossi 2006, S. 144– 153.

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

5.1 Wille zur Täuschung contra Willen zur Wahrheit Die epistemische Schicht von Nietzsches Formel, die im Nachlassfragment von 1884 etwas deutlicher als in Zur Genealogie der Moral auftritt, besteht in der Gegenüberstellung des lügenden, mehrere Wahrheiten schaffenden Dichters und des zu einer einzigen Wahrheit strebenden Philosophen. Bereits in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) deutet Nietzsche auf Homers Fähigkeit zur Verstellung als natürliche Antwort auf das menschliche Bedürfnis, getäuscht zu werden. Für ihn manifestiert sich der „unbesiegbare“ Hang des Menschen, „sich täuschen zu lassen“, in der Bezauberung durch die Erzählung eines Rhapsoden, der „ihm epische Märchen wie wahr erzählt“ (WL 2, KSA 1.888). Diese Art der intellektuellen Verstellung richtet beim Publikum keinen Schaden an. Mithilfe von Metaphern, die „die Gränzsteine der Abstraktion“ verrücken, wird die Beweglichkeit des menschlichen Lebens dargestellt (WL 2, KSA 1.888).³⁸² Die plastische Mehrdeutigkeit der Metapher, im Gegensatz zur starren Eindeutigkeit der Begriffe, verleiht dem Dichter seine Freiheit von verschiedenen Sprachkonventionen, aber natürlich nicht von der Sprache als Voraussetzung der anthropologisch notwendigen Mitteilbarkeit. In Anknüpfung an Nietzsche lässt sich sagen, dass der griechische Dichter an das Alphabet, die Gesetze der Metrik und die Prinzipien der Verwendung von Metaphern gebunden bleibt. Seine Freiheit liegt in der Abwesenheit des Zwangs, über tatsächliche Ereignisse zu sprechen oder mythologisches Material nur auf eine bestimmte Weise darzustellen: Um das Interesse des Publikums zu erwecken, soll der Dichter eine völlig umgekehrte Richtung wählen und eine bekannte Geschichte auf neue Weise darstellen, um andere Dichter, mit denen er im direkten oder indirekten Wettstreit steht, zu übertreffen. Das von Nietzsche skizzierte Bild der künstlerischen Täuschung wird in der Geburt der Tragödie durch den Apollinismus und die scheinbare Naivität Homers erweitert.³⁸³ Diese Argumentationsrichtung wird später in einer knappen und der in Zur Genealogie der Moral ähnelnden Aussage zur Lüge der Dichter in den Dionysos-Dithyramben und im vierten Buch von Also sprach Zarathustra zusammengefasst: Der Dichter sei nicht „der Wahrheit Freier“, sondern ein Tier, das „wissentlich, willentlich lügen muss“.³⁸⁴ Gleich den Freiern in der Odyssee erweist sich auch ein Freier der Wahrheit letzt-

 Bertino 2011, S. 200 – 201, bezeichnet diese Art des Sprachgebrauchs als intuitiv, obwohl Nietzsche diesen Begriff weder an dieser noch an einer anderen Stelle benutzt.  GT 3. Zur angeblichen Naivität Homers vgl. Kapitel 2.  DD, Nur Narr! Nur Dichter!, und Za IV, Das Lied der Schwermuth 3. Vgl. bereits CV 1, Über das Pathos der Wahrheit (KSA 1.757– 758): „An sich scheint ja jedes Streben nach Erkenntniß, seinem Wesen nach, unbefriedigt und unbefriedigend; deshalb wird Niemand, wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche Selbstachtung, an eine so unbegränzte Überzeugtheit, der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen. Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen.“ Die Redewendung „Freier der Wahrheit“ bzw. „Freier der Wirklichkeit“ lässt sich auch in MA I 261 und 635 sowie in MA II, VM 3 finden.

5.1 Wille zur Täuschung contra Willen zur Wahrheit

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endlich als naiv, weil er alternative Möglichkeiten, die eine zur Verstellung fähige Person wie etwa der homerische Odysseus erkennt oder erfindet, nicht sehen kann. Aus intratextueller Sicht ist es bemerkenswert, dass wir in den homerischen Epen keine allwissende, absolute Instanz der Wahrheit finden. Auch unter den unsterblichen homerischen Göttern (etwa Zeus oder den kleinen Gottheiten), die zweifelsohne mehr Wissen als die sterblichen Menschen besitzen, kann mitunter Verwirrung herrschen, da sie bestimmte Ereignisse übersehen oder bestimmtes Wissen zu spät erhalten. Deswegen lassen sich die Götter täuschen, was sich durch zahlreiche Geschichten wie der von Aphrodite und Ares in der Odyssee (VIII.266 – 366) bestätigen lässt. Die homerischen Menschen besitzen ihrerseits in vielen Fällen keine deutlichen Kriterien, die es ihnen ermöglichen könnten, klar zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.³⁸⁵ Die Idee, dass die Götter bewusst und absichtlich Lügen mit Wahrheiten mischen, bevor sie den Menschen etwas mitteilen, ist somit für Homer keinesfalls fremd (etwa wenn wir uns an die täuschenden Träume erinnern, die die Götter den Menschen senden). Doch erst bei Hesiod wird sie in den Kontext seiner Konkurrenz mit Homer und anderen Dichtern gestellt, und so lässt sie sich auch ganz anders interpretieren: als erster vorphilosophischer Versuch einer grundlegenden epistemischen Unterscheidung, in der die Lüge, anders als bei Homer, in einem einseitig-negativen Licht erscheint. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Homer für Nietzsche als deutlich geeigneteres griechisches Vorbild als Hesiod. Nicht weniger bedeutsam ist dabei, dass Nietzsche in Homer auch ein Instrument seiner Kritik an wissenschaftlicher Wahrheit sieht. Obwohl bei Homer mehrere Wissensformen und -Praktiken beschrieben werden, bieten seine Texte keine klare linguistische Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Wissen, geschweige denn Hinweise auf Kriterien der Wissenschaftlichkeit, so wie sie etwa bei Aristoteles definiert werden. Dies spielt jedoch aus Nietzsches Perspektive keine primäre Rolle, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die homerischen Götter als Urheber des gesamten Wissens und jeder praktischen Technik (des Spinnens, des Schmiedens, aber auch der Dichtung usw.) auftreten. Vielmehr sieht er in Homers Weltbild eine Möglichkeit, einen anderen, nicht-platonischen Weg zu wählen und für Wissenschaft und Kunst eine gemeinsame Grundlage zu finden.³⁸⁶ Platon ist, im Gegensatz zu den meisten Vorsokratikern außer Xenophanes, als scharfer Kritiker Homers bekannt. Im Dialog Ion wird argumentiert, dass die epischen Dichter wie Homer und die ihre Texte interpretierende Rhapsoden nicht richtig wissen, worüber sie singen, und somit in allen Bereichen, die sie in ihren Erzählungen berühren (sei es Medizin oder militärische Strategie, Pferderennen oder Seefahrt), praktisch inkompetent sind. Um diesen Mangel zu kompensieren, berufen sich die Dichter auf ihre göttliche Inspiration als Quelle ihres Wissens und täuschen so ihr  Die volatile Grenze zwischen Wahrheit und Lüge bei Homer bildet auch den Ursprung vieler moderner Kontroversen unter den Homerforschern, etwa in Bezug auf Odysseus’ Erzählungen über eigene Abenteuer.  Zur Verbindung von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche s. etwa Abel 2012, S. 515 – 530.

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Publikum über die durch das epische Material begrenzten Kenntnisse. Dieses platonische „jack of all trades, master of none“-Argument transformiert sich in der Politeia in eine sozial-politische Kritik an der Nützlichkeit der Dichter als Polisbürger.³⁸⁷ Dass Platons Aufklärung auf der Kritik des schönen Scheins als Hauptelement der Kunst beruht, stellt Nietzsche bereits in seinen Notizen der Baseler Zeit fest.³⁸⁸ Derselbe Aspekt wird in der Geburt der Tragödie, wo es, mit Hinblick auf eine Stelle aus dem Ion,³⁸⁹ um Platons ironische Haltung gegen das „schöpferische Vermögen“ des Dichters geht, betont (GT 12, KSA 1.87). Allerdings geht es im Ion vielmehr um den Wissensanspruch der Dichter.³⁹⁰ In diesem Licht ist es – wohl auch für Nietzsche – wichtiger, dass Platon Homer und anderen Dichtern einen Wissensanspruch zuschreibt, den sie niemals explizit erhoben haben. Die platonische Interpretation zwingt dem Dichter die von Anfang an unmögliche, eher für Götter als für Menschen geeignete Aufgabe auf, eine zugleich umfangreiche und profunde Wissensexpertise in allen Bereichen des Lebens zu haben, von der er seinem Publikum erzählt. Der Schluss, dass kein Dichter oder Rhapsode dieser Aufgabe gewachsen ist, ist unausweichlich. Nietzsche impliziert zu Recht, dass es in diesem Konflikt zwischen Platon und Homer letzten Endes darum geht, wer die Griechen erziehen kann und darf. Aus seiner Perspektive ist die dichterische Art der Erziehung trotz ihrer offensichtlichen Unfreiheit von Irrtümern und Vorurteilen produktiver, weil sie eine Pluralität der Perspektiven öffnet und die Furcht vor dem Schein aufhebt.Wie schon gezeigt,³⁹¹ bedeutet das keinesfalls, dass Nietzsche, den Stoikern folgend, in den homerischen Epen eine Lehre über die Welt sähe oder er Homer als absolutes Ideal für moderne Dichter und Erzieher darstellen wollte. Seine epistemologische, homerisch-orientierte Kritik an Platon impliziert lediglich – und das ist nicht wenig – die zukünftige Aufgabe einer Revitalisierung der durch die platonische Tradition diskreditierten Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft, dichterischer Produktivität und Erziehung, Irrtum und Erkenntnis. Nietzsches Kritik wird durch eine aus derselben Periode stammende Aussage unterstützt, in der er seine eigene Methodologie als „umgedrehten Platonismus“ beschreibt mit dem „Leben im Schein als Ziel“ (Nachlass 1870/71, 7[156], KGW III 3.207). Die These vom „umgedrehten Platonismus“ legt nah, dass seine Sympathien auf der Seite des homerischen Scheins liegen. Ein expliziter Zusammenhang zwischen dem „umgedrehten Platonismus“ und den homerischen Epen stellt sich zwar erst in den Schriften der mittleren Periode heraus, in denen Odysseus, der viele Masken tragende

 Für einen höchst informativen und klaren Überblick dieser Kritik im Kontext von Nietzsches Platonverständnis s. Anderson 2017, S. 32– 37 sowie S. 40 – 41.  Nachlass 1869/70, 3[47], KGW III 3.74.  Ion 534b–c.  Vgl. die Anmerkung zu dieser GT-Stelle in von Reibnitz 1992, S. 338.  S. Kap. 2.1.3 zu Homer als Erzieher.

5.1 Wille zur Täuschung contra Willen zur Wahrheit

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Lügenmeister, als typischer Grieche³⁹² und großer Mensch der Vergangenheit³⁹³ auftritt und in Also sprach Zarathustra zur versteckten Metapher von Nietzsches Perspektivismus wird.³⁹⁴ Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft charakterisiert Nietzsche Platons Willen zur Wahrheit als ihre Vergöttlichung, als „Christen-Glaube[n]“ an den Gott der Wahrheit, der auch für die moderne Wissenschaft charakteristisch ist (FW 344, KSA 3.577). Die Verbindung von Platons Metaphysik mit dem Christentum und die Bezeichnung der Wahrheit als Gott wird zur Grundlage von Nietzsches Kritik am wissenschaftlich-asketischen Ideal, dem das Leben zum Opfer fällt. Homers „lebendiger“ Antiasketismus, die schöpferische Kraft der Dichtung und die Fähigkeit des Künstlers zur Lüge (sowie die Lüge als eigentliches Ziel und Aufgabe der Dichter, die von ihrem Publikum erwartet wird) stehen hier im impliziten Gegensatz zu Platons Streben, mit wissenschaftlichen Mitteln ein einheitliches Vorbild zu schaffen und die „schädlichen“ Lügen der Dichter zu isolieren (GM III 24, KSA 5.401): Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher H e r r war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein d u r f t e . Versteht man dies „durfte“? – Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, g i e b t e s a u c h e i n n e u e s P r o b l e m : das vom We r t h e der Wahrheit.

Laut Nietzsche ist „der unbedingte Wille zur Wahrheit […] der Glaube an das asketische Ideal selbst“ (GM III 24, KSA 5.401). Der nicht hinterfragte Glaube „an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit“ (GM III 24, KSA 5.401), der den Menschen zur Selbstverleugnung führt, ist nach seiner Logik ein Gegensatz zur Fähigkeit, mehrere Urteile bilden und denselben Gegenstand auf unterschiedliche Weise interpretieren zu können, etwa nach der Art der Sophisten, die in den platonischen Dialogen oft die Rolle von Sokrates’ Opponenten übernehmen. Nietzsches Argumentation erinnert an die bei Plutarch zitierte Aussage von Gorgias über die lügenden Dichter, die ihr Versprechen vor ihrem Publikum erfüllen, wobei dieses durch die „Lust der Worte“ getäuschte Publikum mehr versteht als das, das nicht getäuscht wird und deswegen empfindungslos ist.³⁹⁵ Indem Nietzsche die platonische, ursprünglich aber hesiodische Opposition von Sein und Schein in Frage stellt, wird ihr selbst der Status des Scheins verliehen. Die in Also sprach Zarathustra zum Ausdruck kommende These „Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was die Wahrheit ist“ (Za IV, Von höheren Menschen 9, KSA 4.361) steht hier wieder auf der Bühne: Platons Wille zur Wahrheit sollte den Impuls für eine zweitausendjährige Täuschung geben, die ihren eigenen Ursprung mit schlechtem Gewissen verleugnet.

   

MA II, VM 219. Nachlass 1887, 10[159], KGW VIII 2.216. Vgl. Za IV, Unter Töchtern der Wüste; Das Nachtwandler-Lied; Das Zeichen. Gorgias, Fr. 23 (DK).

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

5.2 Polytheismus contra Einförmigkeit Nietzsches andauernder, graduell intensivierter Kampf mit den Schatten Gottes impliziert die Kritik am platonischen Gottesbild, das in Zur Genealogie der Moral als lebensverneinend und deswegen unnatürlich erscheint. Die als Gegensatz dazu thematisierte „Natürlichkeit“ des homerischen Welt- und Götterbilds ist eine alte, in der kleinen Frühschrift Die Geburt des tragischen Gedankens (1870) zum ersten Mal explizit formulierte These Nietzsches (KSA 1.587– 588): Die griechischen Götter sind in der Vollendung, wie sie im Homer bereits uns entgegentreten, gewiss nicht als Geburten der Noth und des Bedürfnisses zu begreifen: solche Wesen ersann gewiss nicht das angsterschütterte Gemüth: nicht um sich vom Leben abzuwenden, projicirte eine geniale Phantasie ihre Bilder in das Blaue. Aus ihnen spricht eine Religion des Lebens, nicht der Pflicht oder der Askese oder der Geistigkeit. Alle diese Gestalten athmen den Triumph des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl begleitet ihren Cultus. Sie fordern nicht: in ihnen ist das Vorhandene vergöttlicht, gleichviel ob es gut oder böse ist.

Die homerischen Götter stellen kein hohes und in seiner Vollständigkeit unerreichbares, vom Leben getrenntes Ideal dar, das trotz seiner Unerreichbarkeit erstrebenswert ist.³⁹⁶ In Platons Philebos wie auch im Theaetetus ³⁹⁷ wird die Kluft zwischen dem für die göttliche Instanz möglichen Leben und dem Leben, das für die Menschen möglich ist, deutlich angesprochen: Während das reine Leben der Vernunft nur für die Götter möglich ist, kann der Mensch nur ein gemischtes Leben führen, in dem zugleich Lust und Vernunft präsent sind.³⁹⁸ Bei Homer hingegen ist die Ähnlichkeit der Menschen mit den Göttern kein anvisiertes Ziel, weil sie bereits vorhanden ist: Zeus, Hera, Athene, Poseidon und andere Gottheiten können zürnen, froh sein, täuschen und getäuscht werden.³⁹⁹ Gleich den Menschen sind die homerischen Götter von Affekten betroffen, und auch ihre Lebensweise macht in keinerlei Hinsicht den Eindruck eines reinen Vernunftlebens, kann somit auch keine Forderung an die Menschen sein. Außerdem gibt es keinen qualitativen, sondern nur einen quantitativen Unterschied⁴⁰⁰ zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wissen. Im Gegensatz zu

 Letztere These ist mit Platons Idee der menschlichen Ähnlichkeit mit Gott verbunden. Vgl. Phaedrus (246d etc.), Timaeus (47c), Phaedon (78b–84d) und Politeia (X.613a–b). S. auch Russell 2005, S. 140 – 149 und passim.  Theaetetus 176a–b.  Philebos 21a–22b.  Zur Ähnlichkeit des Göttlichen und des menschlichen Lebens bei Homer s. insb. GT 3, KSA 1.36: „So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche S c h m e r z der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, ‚das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben.‘“  Vgl. Hussey 1990, S. 36 – 37.

5.2 Polytheismus contra Einförmigkeit

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den Göttern wissen und können die Menschen nur sehr wenig und sollen auch gar nicht nach göttlicher Allwissenheit streben: Sich ein solches Ziel zu setzen wäre frevelhaft in Bezug auf die unsterblichen Götter, die – trotz ihrer Ähnlichkeit – im Vergleich mit den sterblichen Menschen doch auf einer anderen Ebene stehen. Schließlich können die homerischen Götter sich direkt und persönlich in das menschliche Leben einmischen – im Gegensatz zum Demiurgen bei Platon, der nur durch vermittelnde Instanzen (Daimonen) handeln kann.⁴⁰¹ Diese Menschenähnlichkeit und Nähe der homerischen Götter erlaubt Nietzsche, in Menschliches, Allzumenschliches von der tiefen Irreligiosität⁴⁰² Homers zu sprechen. Homer sei „unter seinen Göttern so zu Hause, dass er […] mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte“, also mit dem „rohen […] Aberglauben“, frei verkehrte „wie der Bildhauer mit seinem Thon“ (MA I 125, KSA 2.121).⁴⁰³ Die „Unbefangenheit“ Homers, die Nietzsche mit der von Aeschylus und Aristophanes oder auch der von Shakespeare und Goethe vergleicht, entspricht seiner Vorstellung von einem Künstler höchster Produktivität, der nicht durch religiöse Konventionen gebunden ist. Auf den ersten Blick steht Nietzsches Argumentation im Gegensatz zu seiner Aussage über die Verherrlichung religiöser und philosophischer Irrtümer durch die Kunst.⁴⁰⁴ Nietzsche meint jedoch nur, dass die frühere Kunst in vielen Fällen der Religion folgt (er führt nur Beispiele der mittelalterlichen und neuzeitlichen Kunst an: Raphael, Michelangelo und die Gotik), wobei Homer auch in dieser Hinsicht einen besonderen Fall darstellt, weil er mit seinen Göttern frei umgeht und deswegen unreligiös erscheint. In der Fröhlichen Wissenschaft verbindet Nietzsche die Natürlichkeit der homerischen Götter mit einer Analyse der Sittlichkeit, wobei in FW 143 die Opposition von Monotheismus und Polytheismus erstmals explizit zum Ausdruck kommt. Hier wird der Akzent auf die Koexistenz und Konkurrenz von mehreren Normen verschoben: Die homerischen Götter werden zum Abbild der Vielfalt des menschlichen Lebens sowie der menschlichen Werte, während die platonische Lehre den Gegenpol eines be-

 Symposion 202e–203a: „Und durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer und Weihungen und Besprechungen und allerlei Wahrsagung und Bezauberung. Denn Gott verkehrt [μίγνυνται] nicht mit Menschen; sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf.“  Diese Irreligiosität könnte sich etwa in der fehlenden Pietät der homerischen Götter zeigen sowie in seiner Angst, sie ironisch darzustellen. Vgl. etwa die Erzählung über Ares und Aphrodite in Od.VIII.266 – 366.  Vgl. Zittel 2000, S. 116, zu den Parallelen zur Homerdarstellung bei Heine.  MA I 220, KSA 2.180: „Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens“. S. auch Heller 1972, S. 101.

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

stimmten Normalmenschen zu dieser Welt- und Wertvorstellung ausmacht. Für einen Denker, dessen Horizont durch die Verkündung vom Tod Gottes befreit ist,⁴⁰⁵ wird der homerische Umgang mit seinen Göttern zu einem neuen Orientierungspunkt und zum Symbol der Lebensbejahung und produktiven Selbstentwicklung. In Nietzsches späteren Schriften wird Homers Natürlichkeit nicht nur dem platonischen, sondern auch dem stoischen Weltbild gegenübergestellt. In Jenseits von Gut und Böse betont er, dass der stoische Imperativ des Lebens „gemäß der Natur“ nichts anderes als Selbstbetrug ist. Die stoische Indifferenz und Gleichgültigkeit führen, aus Nietzsches Sicht, letztendlich dazu, dass die Stoiker ihre eigene Moral der Natur von außen „vorschreiben und einverleiben“ möchten, ohne sich als „Stück der Natur“ zu verstehen (JGB 9, KSA 5.22).⁴⁰⁶ Diese Art der externen Teleologie,⁴⁰⁷ die der Natur bestimmte Charakteristiken zuschreibt, welche für die Realisierung des stoischen Experiments am besten geeignet scheinen, sieht aus Nietzsches Perspektive nicht besser aus als die naiven Zweckmäßigkeitsargumente eines Meisters Pangloss. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Entwicklung von Nietzsches Argumentation in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral besser verstehen: In der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse nennt er das Christentum „Platonismus fürʼs ‚Volk‘“ und Platon einen Denker, der „die Wahrheit auf den Kopf“ gestellt und „das P e r s p e k t i v i s c h e , die Grundbedingung alles Lebens“, durch seinen Begriff des Guten verleugnet hat (KSA 5.12). So setzt Nietzsche im Rahmen seiner Kritik am verabsolutierenden Dogmatismus den Ursprung des christlichen Monotheismus endgültig mit Platons Idee des Göttlichen als absolut Gutem gleich.⁴⁰⁸ Das Perspektivische, das in diesem Kontext explizit thematisiert wird, erscheint allerdings nicht vorrangig im moralischen, sondern im physiologisch-ontologischen Licht,⁴⁰⁹ indem das konstitutive Moment in den Vordergrund tritt. Auch die Kluft zwischen Homer und Platon lässt sich aus ontologischer Sicht als notwendiger Konflikt zwischen den Perspektiven unterschiedlicher Lebewesen begreifen. Für den späten Nietzsche ist Homers Natürlichkeit somit auch eine Metapher für die Idee des organischen, moralisch und sozialpolitisch interpretierten Gleichgewichts des Ganzen, das die Pluralität der Willen einzelner Teile garantiert.⁴¹⁰

 Vgl. FW 343.  Mehr zu diesem Thema s. in Zhavoronkov 2018, S. 17– 31.  Zum Begriff der externen Teleologie s. Toepfer 2011, S. 795 – 798.  Mark Anderson bemerkt zu Recht, dass die These von der Existenz eines einzigen ewigen göttlichen bzw. metaphysischen Wesens, obwohl Platon sie niemals direkt formuliert oder verteidigt, im Einklang mit seiner Philosophie im Ganzen steht (s. Anderson 2017, S. 63).  Vgl. den Kommentar zu dieser Stelle in Sommer 2016, S. 62– 65.  Zu homerischer Gemeinschaft als Vorbild für Nietzsches Idee eines physio-politisch organisierten Einheit s. in Heit 2018, S. 110.

5.3 ‚Unmoralität‘ contra Moral

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5.3 ‚Unmoralität‘ contra Moral Vor dem Hintergrund der Aussagen über den sozialen Ursprung der Begriffe „gut“ und „böse“ in der ersten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral erscheint die Opposition von Homer und Platon als eine der zentralen Illustrationen von Nietzsches Verständnis der ethisch-kulturellen Entwicklung Griechenlands. Den Vorwurf, Platon mangele es an der diachronisch-moralischen Perspektive, begründet Nietzsche durch einen eher impliziten als expliziten Hinweis auf die sozialen Relationen bei Homer. Im Vergleich zu den Autoren der platonischen Tradition erscheint Homer als unmoralisch,⁴¹¹ wobei die Existenz der homerischen Helden, aus Nietzsches Sicht, einen Impuls für die Entwicklung einer anderen, dem sokratisch-platonischen Wertsystem entgegengesetzten aristokratischen Moral gibt. Nietzsches Bild einer auf säkularen Grundlagen physiologischer Gemeinsamkeit beruhenden homerischen Gemeinschaft kontrastiert somit mit der moralischen Uniformität der platonischen Gesellschaft. Allerdings verliert dieser Kontrast deutlich an Schärfe angesichts des Mangels an einer historisch-genealogisch überzeugenden Begründung von Nietzsches Idee der aristokratischen Moral. Die ersten kritischen Pfeile gegen Platons Idee des Guten und des Bösen schießt Nietzsche bereits in Der Wanderer und sein Schatten. Hier wird Platon des Mangels an historisch-genealogischer Perspektive in der Darstellung „der moralischen Empfindungen“ sowie des blinden Glaubens „an Gut und Böse, wie an Weiss und Schwarz: also an eine radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften“ beschuldigt (MA II,WS 285, KSA 2.680 – 681).⁴¹² Ein zentraler Bezugspunkt für Nietzsche ist eine Stelle der Politeia sein, in der heftige Kritik an Homers Metapher von den zwei Gefäßen mit guten und schlimmen Schicksalen⁴¹³ – ohne Rücksicht auf mögliche Unterschiede zwischen Homers Zeit und der gegenwärtigen Situation – geübt wird (Politeia II 379c–380b): Also auch Gott, weil er ja gut ist, kann nicht an allem Ursache sein, wie man insgemein sagt, sondern nur von wenigem ist er den Menschen Ursache, an dem meisten aber unschuldig. Denn es gibt weit weniger Gutes und Böses bei uns; und das Gute zwar darf man auf keine andere Ursache zurückführen, von dem Bösen aber muss man sonst andere Ursachen aufsuchen, nur nicht Gott. […] Also ist es nicht anzunehmen, weder vom Homeros noch von irgendeinem anderen Dichter, wenn einer so unvernünftig fehlt in bezug auf die Götter, dass er sagte, es seien zwei / Fässer gestellt an der Schwelle Kronions: / Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des

 Vgl. Nachlass 1887, 9[157], KGW VIII 2.92.  Es ist auch zu betonen, dass Nietzsches Beschäftigungen mit dem Problem des Ursprungs des Bösen, laut seinen eigenen Worten, sehr früh beginnen. S. dazu Nachlass 1884, 26[390], KGW VII 2.251: „Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit: nämlich Gott-Vater, GottSohn und Gott-Teufel. Mein Schluß, war, daß Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf: daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. – Damit fieng ich an, zu philosophiren.“ Vgl. GM, Vorrede 3, und Montinari 1982, S. 36 – 37.  Il. XXIV.525 – 533. Es geht um die zwei Gefäße, eines mit „Gaben des Heils“ und das andere mit „Gaben des Wehs“, von denen Zeus etwas in reiner oder gemischter Form den Menschen gibt.

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

Heiles. / Und wem nun vermischt Zeus von beiden gibt: / Solchen trifft abwechselnd ein böses Los und ein gutes; wem aber nicht, sondern unvermischt das eine: / Diesen verfolgt herznagende Not auf der heiligen Erde; […]. Allein wenn sie sagen wollten, dass als unselige die Bösen der Strafe bedurft hätten und dadurch, dass sie Strafe litten, ihnen von Gott geholfen worden sei, dies kann man lassen.

Falls das Göttliche auch der Ursprung des Bösen wäre, würde das Streben nach dem guten Leben seinen Sinn verlieren. Deswegen betont Platon, dass die Menschen nur dann durch die Götter Schaden nehmen, wenn sie von ihnen für etwas bestraft werden. Die dadurch angeregte Diskussion um die Quelle des Bösen in der Welt nimmt in der neuplatonischen Tradition eine zentrale Stellung ein. Zum Beispiel stellt Jamblich im Rahmen seiner Polemik gegen Porphyrius in De mysteriis fest, dass das Böse nicht nur von den Menschen selbst, sondern auch von den korrupten, verstandslosen und die menschliche Seele verwirrenden „bösen Daimonen“ kommt, denen er die „guten Daimonen“, die die vom Demiurgen geschaffene Weltordnung unterstützen, gegenüberstellt. Das platonische Problem der Strafe nimmt im Neuplatonismus die Form der Frage an, ob der Mensch für etwas bestraft werden könnte, was er in seinem früheren Leben getan hat. Bei Homer finden wir hingegen weder das Konzept menschlicher Wiedergeburt noch die Idee, dass Menschen für ihre bösen Handlungen von den Göttern unbedingt bestraft werden. Dies bedeutet natürlich keinesfalls, dass alle frevelhaften Handlungen, auch wenn sie nicht direkt gegen die Götter gerichtet sind, unbeachtet und unbestraft bleiben. Außerdem kann die Strafe den Nachkommen auferlegt werden (wie etwa im Falle von Agamemnons Vater Atreus), was der neuplatonischen Idee der Strafe im nächsten Leben nahesteht, insofern es in beiden Fällen um eine aufgeschobene, während des jetzigen Lebens nicht erfolgende Bestrafung geht. Aus Nietzsches Perspektive ist hingegen wichtiger, dass göttliche Strafen nicht die einzige Quelle des von den Göttern stammenden Bösen bei Homer sind, was sich durch die göttliche Einmischung in den Trojanischen Krieg, die wesentlich zu seiner Verlängerung beigetragen hat, oder auch durch die zahlreichen Konflikte zwischen den Göttern bestätigen lässt. Dieses Argument bleibt auch dann bestehen, wenn wir den nichtallgemeingültigen Charakter von Nietzsches These über Homers Unmoralität erkennen: Denn obwohl sich diese These von einer ursprünglich sozialen Bedeutung der Begriffe άγαθός und κακός durch viele Beispiele in den homerischen Epen begründen lässt, gibt es bei Homer auch Textstellen, an denen die beiden Begriffe keine soziale Bedeutung haben und mit hoher Wahrscheinlichkeit in ethischem Sinn verwendet werden.⁴¹⁴ Ohne in die Diskussion konkreter Stellen einzusteigen, können wir zwar annehmen, dass Nietzsches Beschreibung von Homer als unmoralisch derjenigen

 So beklagt Zeus in Od.I.32– 34, dass die Götter von den Menschen allzu oft als Quelle ihres Unheils bzw. des Bösen (κακά) genannt werden. Die Verantwortlichkeit liege aber bei den Menschen selbst, deren Freveltaten in der Überschreitung der Grenzen, die ihnen das Schicksal setze (ὑπὲρ μόρον), bestünden.

5.3 ‚Unmoralität‘ contra Moral

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Platons folgt, er sie aber kritisch umdreht. Die Gegenüberstellung von Homer und Platon erweist sich somit, wenigstens in ethischer Hinsicht, als Zuspitzung und Umdeutung von Platons Homerkritik. In Also sprach Zarathustra sehen wir, wie diese These der Politeia wie auch das verwandte, ebenfalls bereits erwähnte Argument gegen die böse Natur der Götter aus dem Theaithetos ⁴¹⁵ ironisch-metaphorisch umgedreht werden: Wenn Nietzsche im ersten Buch den unbedingten Zusammenhang zwischen der Zunahme des Guten und des Bösen – in Verbindung mit seiner Dynamik von Gegensätzen – betont,⁴¹⁶ wirkt es, als ob er selbst in den platonischen Dialog eingreife, um sein berühmtes „um so besser“ zu sagen. Diese Ironie gegen Platons moralische Einseitigkeit lässt sich auch durch eine zentrale Passage des vierten Buchs illustrieren: Der „moralische Löwe“, mit dessen Hilfe der Wanderer die Sinnlichkeit in der Gestalt von asiatischen „Mädchen“, der „Töchter der Wüste“, zu bekämpfen versucht,⁴¹⁷ ist eine Umwertung des platonischen Löwensymbols. Bei Platon soll der wilde Löwe⁴¹⁸ ein Abbild des Muts des homerischen Aias sein, im Gegensatz zu den durch die allgemeingültige Moral gezähmten Tieren bzw. den „guten“ Menschen.⁴¹⁹ In Nietzsches magnum opus wird er, neben dem Adler und der Schlange, zwar den zahmen Tieren (etwa den Kühen) gegenübergestellt, jedoch mit umgekehrter Deutung: Der Löwe, das aufgewachte Raubtier, symbolisiert hier das Heraustreten aus dem Kreis der platonisch-christlichen Moral sowie die Vorbereitung auf die Ankunft des Übermenschen.

 S. Theaithetos 176a–b: „Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich, und diese Verähnlichung besteht darin, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht.“  Za I, Vom Baum am Berge. Für eine mögliche Anspielung auf Platon spricht die dialogische Form des Kapitels.  Za IV, Unter Töchtern der Wüste 2.  S. Politeia IX 589c–d: Dem Löwenbeispiel folgt die These, dass die „unmoralischen“ Handlungen nicht vornehm sind, weil sie unsere Seele „in die Sklaverei des Wilden“ bringen. Vgl. auch Politeia X 620b–c (hier wird eine ganze Reihe von homerischen Helden erwähnt: Außer Aias sind das Agamemnon, Odysseus und sogar der „Possenreißer“ Thersites), Gorgias 484a (Kritik von Kallikles gegen Sokrates: Die Jugendlichen, die den Löwen gleichen, werden durch die allgemeingültige Moral gezähmt) und Gorgias 516a–d (laut Sokrates hat Homer die gerechten Menschen zahm genannt; jedoch „hat er sie wilder gemacht, als er sie vorgefunden hatte, und zwar gegen ihn selbst, was er doch am wenigsten wollte“).  S. dazu Ottmann 1999, S. 261– 262. Zur Problematik der moralischen Verlogenheit s. auch Nachlass 1885, 40[35], KGW VII 3.378: „Die allgemeine Verlogenheit der Menschen über sich, das moralisch-Ausdeuten dessen, was sie thun und wollen, wäre zu verachten, wenn es nicht auch etwas sehr Lustiges wäre: und es bedürfte wirklich der Zuschauer – so interessant ist das Schauspiel! N i c h t von Göttern, wie Epicur sie sich dachte! Sondern homerischer Götter: so fern und nahe den Menschen und ihnen zusehend, wie etwa Galiani seinen Katzen und Affen stand: – also ein wenig verwandt den Menschen, aber höherer Art!“

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

Diese Interpretationsstrategie wird in Zur Genealogie der Moral durch die Verbindung zwischen der Genealogie moralischer Begriffe und sozialen Machtbeziehungen⁴²⁰ sowie durch konkrete Beispiele und Etymologien, die skeptisch gesinnte Forscher als „philosophisch enttäuschend“ bezeichnen, illustriert und weiterentwickelt.⁴²¹ Wie gezeigt, sind zwar gerade die etymologischen Argumente Nietzsches, die sich implizit auf Homer beziehen, größtenteils berechtigt. Andererseits ändert dies wenig daran, dass Nietzsches Übergang von der Beschreibung einer historisch belegbaren, aristokratischen Sozialordnung zur Begründung seiner Idee des Ressentiments und des „Sklavenaufstandes in der Moral“ spontan und unbegründet erscheinen mag. Insofern stellt sich aufs Neue die Frage nach der philosophischen Notwendigkeit und den theoretischen Folgen der ethischen Gegenüberstellung von Homer und Platon. Philosophisch gesehen sind Nietzsches etymologisch begründete Argumente nicht hoffnungslos. Die Demonstration des sozialen Ursprungs von Gut und Böse beweist, abgesehen von den fehlerhaften Etymologien, v. a. den perspektivischen Charakter der homerischen Ethik. Die homerische Weltordnung wird auf ethischer Ebene durch die komplexe Dynamik der zwischengöttlichen und göttlich-menschlichen Beziehungen relativiert. Die Götter können aus menschlicher Sicht zugleich als Ursprung des Guten und des Bösen erscheinen – wie auch die Mächtigen unter den Menschen. Ein Adeliger kann den Göttern nicht überlegen sein und kein unantastbares Ideal repräsentieren, sodass seine Taten ethisch hinterfragt werden können, sobald nicht seine soziale Position, sondern die Folgen seiner Handlungen zur Diskussion stehen. Der „Sklavenaufstand“ in der Moral ist somit eine potentielle Gefahr, die von Anfang an präsent ist und nicht erst durch Platons moralische Revolution zustande kommt, sondern diese lediglich vorbereitet. Wenn wir Nietzsche nicht so verstehen, dass die Worte „gut“ und „böse“ bei den Griechen ursprünglich ausschließlich einen sozialen Inhalt hatten, sondern so, dass ihre primär soziale Bedeutung durch die moralische graduell verdrängt wurde, können wir seine Thesen in der ersten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral mit anderen späten Aussagen über Homer in Einklang bringen: So kann die auf den ersten Blick enigmatisch erscheinende Beschreibung Homers als Ursache der Krise der griechischen Kultur auch so verstanden werden, dass die Zweideutigkeit und Spannung zwischen sozialen und  Vgl. GM I 2, KSA 5.259: „Nun liegt für mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsherd des Begriffs ‚gut‘ an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Urtheil ‚gut‘ rührt n i c h t von Denen her, welchen ‚Güte‘ erwiesen wird! Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“  S. Wolf 2004, S. 42, zu GM I 4– 5: „Zum einen bedient sich Nietzsche hier schwacher und z.T. fehlerhafter Argumente aus der Etymologie; zum anderen ist von der berüchtigten ‚blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse‘ die Rede. Die beiden Abschnitte 4 und 5 fallen deutlich hinter Nietzsches eigene Anforderungen an wissenschaftliche Methode zurück und exemplifizieren so etwas wie ein vom Wunschdenken geleitetes freies Assoziieren.“

5.4 Ganzheit contra Dualismus

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ethischen Aspekten der Begriffe άγαθός und κακός ursprünglich da war, wobei das Verhältnis zwischen diesen Aspekten von der jeweiligen Interpretation abhing. Der Nachteil einer solchen Deutungsstrategie ist allerdings, dass die Opposition von Homer und Platon in ethischer Hinsicht an Schärfe verliert, wobei das angedeutete Problem, wie wir später sehen werden, auch tiefere Gründe hat.

5.4 Ganzheit contra Dualismus Die epistemischen, kulturphilosophischen und ethischen Ideen, die das Fundament von Nietzsches Opposition von Homer und Platon formen, werden von anthropologischen Argumentationen begleitet. In Zur Genealogie der Moral verkleidet sich die Rivalität zwischen den beiden als Konflikt zwischen unfreiwilliger Vergöttlichung und Verleumdung des Lebens. Die ursprünglich epistemische Idee der Ganzheit homerischer Menschen wird hier anthropologisch erweitert, zugleich als Teil von Nietzsches Kritik am Leib-Seele-Dualismus und als Element seines komplexen Konzepts der Naturalismus. Mit seiner Kritik des Leib-Seele-Dualismus nimmt Nietzsche die Fragestellungen der Philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners um Jahrzehnte vorweg, während sein Naturalismus seine eigene anthropologische Perspektive von der der früheren philosophisch-anthropologischen Projekte und der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts deutlich abgrenzt und zugleich eine Brücke zwischen der ihm gegenwärtigen anthropologischen Problematik und seinen anthropologischen Quellen unter den antiken Autoren schlägt. Die Natürlichkeit und Gesundheit der homerischen Menschen, die Nietzsche betont, wird spätestens seit Goethe und Schiller oft thematisiert. Neben den bekannteren Quellen lassen sich hier auch thematische Parallelen zu Charles Emersons (Ralph Waldo Emersons Bruder) Beschreibung von Homer⁴²² und zu Schopenhauers origineller wie eleganter (wenn auch philologisch unhaltbarer) Interpretation der Rolle von wiederholt auftretenden, formelhaften homerischen Epitheta finden.⁴²³ Als anthropologischer Ausgangspunkt für Nietzsches Gegenüberstellung von Homer und Platon sollte die platonische Trennung des sterblichen Leibes von der unsterblichen

 S. Emerson 1966, S. 283: „Homer I read with continually new pleasure. Criticism of Homer is like criticism upon natural scenery. […] The Iliad is before us as a pile of mountains. So blue & distant – so simple & real, even so much an image of majesty & power. / He is as prolific as the earth, & produces his changing scenery with the ease & the finish & the inexhaustible variety of Nature. Homer never mistakes. You might as well say there was untruth in th song of the wind.“  S. Parerga II, 477 (§ 234): „Dass beim Homer die Dinge immer solche Prädikate erhalten, die ihnen überhaupt und schlechthin zukommen, nicht aber solche, die zu Dem, was eben vorgeht, in Beziehung oder Analogie stehen, dass z. B. die Achäer immer die wohlbeschienenen, die Erde immer die lebennährende, der Himmel der weite, das Meer das weindunkle heißt, dies ist ein Zug der im Homer sich so einzig aussprechenden Objektivität. Er lässt, eben wie die Natur selbst, die Gegenstände unangetastet von den menschlichen Vorgängen und Stimmungen. Ob seine Helden jubeln, oder trauern; die Natur geht unbekümmert ihren Gang.“

122

5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

Seele dienen. So wird etwa im Phaidon festgestellt, dass die Seelen, „bevor sie in die menschliche Gestalt kamen“, „unabhängig von ihren Körpern“ existierten und Vernunft hätten (76c). Außerdem wird behauptet: 1) dass die Seele zusammen mit dem Leib nicht „in Kontakt mit Wahrheit“ kommen könne, weil sie von ihm „getäuscht“ werde (65b); 2) dass unser Leib Anlass „für tausenderlei Ablenkungen“ sei (66 b–c) und 3) dass es unser Streben sein sollte, „unsere Seele so weit wie möglich vom Leib abzusondern“, damit sie „allein für sich“ lebe „vom Leibe wie von einer Fessel losgelöst“ (67c). In der Politeia geht es darum, dass die Seele ihre Lebensweise vor dem Wiedereintritt ins Leben wählt (X.617d–620e). Ein weiterer Aspekt taucht im Philebos im Zusammenhang mit der Diskussion um die Rolle der Lust auf: Diese werden in rein körperliche, rein seelische und gemischt körperlich-seelische gegliedert (31b–36c). Eine Anspielung auf die platonisch-christliche Grundlage des Leib-Seele-Dualismus ist im Zarathustra-Kapitel Von den Hinterweltlern deutlich zu erkennen.⁴²⁴ Hier wird die Entzweiung der Seele und des Leibes bei den „Hinterweltlern“, d. h. bei denjenigen, die von einer anderen Welt „jenseits des Menschen“ träumen und deswegen den Leib verachten, zum Symptom der Verzweiflung des Leibes an sich selbst.⁴²⁵ Jedoch kann der Leib nicht in der reinen Welt des Geistes existieren und durch den Geist von der Erde – und somit über seine eigenen Grenzen hinaus – fliehen. Zarathustra kritisiert dieses krankhafte Streben ins „himmlische Nichts“ und schlägt vor, „nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken“ und stattdessen „auf die Stimme des gesunden Leibes“ zu hören. Diese Idee ist eine Vorstufe seiner Lehre über die „große Vernunft“ des Leibes und die „kleine Vernunft“ als deren „Werkzeug“. Denselben platonischen und homerischen Hintergrund hatte Nietzsche vielleicht vor Augen, als er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft festhielt (Vorrede 3, KSA 3.349): Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen.⁴²⁶

Mit seinem Hinweis auf Homers Natürlichkeit impliziert Nietzsche, dass es in den homerischen Epen, im Gegensatz zu Platons Texten, keine Leib-Seele-Opposition gibt. Der für die menschlichen Emotionen zuständige θυμός (Geist) hat eine konkrete Lokalisierung in der Brust. ψυχή (Atem, Seele) stammt etymologisch von ψύχειν (blasen,

 Zur Rolle des Leibes in Also sprach Zarathustra s. Pieper 2000, S. 74– 76. S. auch Pieper 1990, S. 149 – 162.  Nietzsches versteckte Kritik gegen Platon wird durch die Zuspitzung einiger Thesen begründet, denn bei Platon geht es auch um einige wichtige Aspekte des Verhältnisses zwischen Leib und Seele. Auf diese Tatsache weist Volker Gerhardt hin (Gerhardt 2000, S. 132; vgl. auch Gerhardt 1996, S. 336 – 340).  Vgl. Gerhardt 1996, S. 310, der darauf hinweist, dass „‚Leib‘ nicht den cartesianischen Körper meint, sondern eine nicht weiter auflösbare lebendige Verbindung von res cogitans und res extensa.“ Somit symbolisiert der Leib die Unmöglichkeit, die Seele vom Körper zu trennen.

5.4 Ganzheit contra Dualismus

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atmen).⁴²⁷ Wissen und Denken sind ebenfalls lexikalisch mit dem Leib verbunden: οἶδα, das zentrale Verb des Wissens bei Homer, ist die Perfektform von εἴδω (ich sehe) und bedeutet somit in den meisten Fällen „[ich habe gesehen, folglich:] ich weiß“. Der menschliche Verstand steht ebenfalls in einer engen Beziehung zum Leib, die sogar noch nach dessen Tod spürbar ist. So sind die Seelen der Verstorbenen, die die Unterwelt bewohnen, zwar verstandslos, behalten aber ihren Namen und ihr körperliches Abbild, sodass man jeden von ihnen erkennen kann, wie es Odysseus während seiner Hadesfahrt macht. In einzelnen Fällen kann der Schatten des Menschen sogar Verstand haben, etwa wenn der Körper noch nicht begraben ist. Außerdem kann der Verstand zurückkommen, falls der Schatten das Blut eines rituell geschlachteten Tiers trinkt.⁴²⁸ Während die Rolle des Verstands in der Ilias und insbesondere in der Odyssee eine zentrale Stellung hat, gibt es keine Hinweise darauf, dass der Leib eine Ablenkung für die Seele sein könnte. Um die Präexistenz der Seele vor der Geburt des Menschen und folglich um das bereits vorhandene Wissen geht es bei Homer nicht. Anders als die Hinweise auf Platons Leib-Seele-Dualismus sind Nietzsches Anspielungen auf Homers Idee des Leibes verdeckt. Das wichtigste Zeugnis der anthropologischen Rolle Homers im Gegensatz zu Platon, abgesehen von den Stellen in Zur Genealogie der Moral, ist der bereits zitierte Aphorismus JGB 257, in dem Nietzsche seine These von der Einheit der Menschen der homerischen Zeit entwickelt (KSA 5.206): Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die g a n z e r e n Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als „die ganzeren Bestien“ –).

Die Ganzheit, von der hier die Rede ist, unterscheidet sich wesentlich von der dionysischen Ganzheit, die beim frühen Nietzsche eine kulturell differenzierende Rolle spielt: Es geht nicht um die Beschreibung der Grenzen des Apollinischen und des Dionysischen, die sich in griechischen Kunstwerken manifestieren, sondern um die Feststellung der Differenz in der menschlichen Selbstvorstellung und -beschreibung vor, seit und nach Platon im Licht von Nietzsches Konzept des Vornehmen. Die These der Ganzheit lässt sich im Kontext von Jenseits von Gut und Böse sowohl epistemisch als auch ethisch deuten: Einerseits weist Nietzsche auf den vollständigeren, durch die platonische Marginalisierung des Leibes zugunsten der Vernunft unbegrenzten Charakter der Welterkenntnis der homerischen Menschen hin. Ande-

 Für eine knappe Beschreibung der Opposition von ψυχή und θυμός bei Homer s. Bremmer 1983, S. 13 – 19 (mit Literatur). Bei den späteren griechischen Autoren findet eine allmähliche Verschmelzung der Begriffe von Geist und Seele statt.  Auf die Tatsache, dass bei Homer „dem Schattenbild der Psyche […] Name und Werth der vollen Persönlichkeit, des ‚Selbst‘ des Menschen“ zugestanden wird, weist auch Nietzsches Freund Erwin Rohde in seiner berühmten und umfangreichen Monografie Psyche (Rohde 1898, S. 5) hin.

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

rerseits ist die Ganzheit eine wichtige – wenn auch nicht die einzige⁴²⁹ – Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Allerdings sind die homerischen Menschen in Nietzsches Sinn keinesfalls völlig frei und souverän, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, die Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen den Göttern zuschreiben zu können. Dies setzt, zusammen mit der allgemeinen Unklarheit der historischkulturellen Verortung von Nietzsches Konzept der aristokratischen Moral, strikte Grenzen auch für die anthropologische Perspektive von Nietzsches Opposition. Trotz der angedeuteten Limitationen bleibt der anthropologische Kern des Gegensatzes intakt. In Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral impliziert die Anspielung auf das homerische Menschenbild die ursprüngliche Zentralität des Leibes, die durch das platonische Verständnis des asketischen Ideals unterminiert wurde. Auch wenn Homer aus Nietzsches Sicht die Natur nur „unfreiwillig“ vergöttlicht, finden wir in den homerischen Epen eine besondere Art des Zusammenhangs zwischen Vernunft und Leib, die für Nietzsches späte Platonkritik relevant ist. Ob den homerischen Helden eine Natürlichkeit des Handelns gemäß Nietzsches Standards zuzuschreiben wäre, ist eine andere Frage, die letztlich eher negativ zu beantworten ist. Die homerischen Menschen, unter ihnen auch der von Nietzsche favorisierte Odysseus, sind weder „freie Geister“ noch Personen, die – im weiten Sinn dieses Worts – redlich sind.⁴³⁰ Obgleich Nietzsche Homer in den späten Schriften als angeblichen Gegenspieler Platons hervorhebt, ist für ihn zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass er sich von den homerischen Vorbildern in vielen Aspekten distanzieren sollte.

5.5 Einheit der Gegensätze? Bisher ging es im Wesentlichen um die Aspekte von Nietzsches Gegenüberstellung von Homer und Platon, die er selbst explizit nennt. Wir könnten uns aber auch fragen, ob seine Opposition eine doppelbödige ist und somit zugleich auf ganz andere, implizite Motive verweist. Nietzsche ist im Lauf seines Lebens aus den Schatten von großen Figuren wie Schopenhauer oder Wagner herausgetreten, wobei auch die Nähe zu Sokrates für ihn ein ständiges,von ihm selbst explizit betontes Problem war. Es könnte auch im Fall von Homer und Platon eine absichtlich scharfe Abgrenzung vorliegen, die ihre mögliche Ähnlichkeit verdecken soll. Diese Deutung lässt sich durch Beweise bekräftigen, die sowohl die Relation zwischen Nietzsches Argumenten und den his-

 S. Katsafanas 2011, S. 92– 93 (mit Literatur). Zwar besteht der Mangel nicht darin, dass die homerischen Menschen, so Katsafanas, „are clearly not examples of individuals struggling to gain independence from traditional values“, da diese Möglichkeit für ausgewählte, die eigenen Motive maskierende Helden zugänglich war (vgl. die Beispiele im Kap. IV). Vielmehr können wir sagen, dass dieser Kampf um Individualität (noch) nicht offen verlaufen konnte.  Zu anthropologischen Implikationen von Nietzsches Begriff der Redlichkeit und der engen Verbindung mit seinem Begriff des Naturalismus, der in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren hat, s. Lemm 2018, S. 33 – 49.

5.5 Einheit der Gegensätze?

125

torischen bzw. literarischen Zeugnissen als auch die theoretisch-philosophische Folgerichtigkeit seiner Gegenüberstellung von Homer und Platon in Frage stellen. Wenn wir vom mehrschichtigen Charakter der Opposition und ihrer von Nietzsche beabsichtigten spezifischen Rolle in Zur Genealogie der Moral absehen und sie als Ganzes betrachten, erweist sie sich vor allem aus epistemischer und kulturphilosophischer Perspektive als problematisch: Die epistemischen Schwierigkeiten bestehen darin, dass Platon laut Nietzsche zugleich am Anfang einer neuen Tradition als auch am Ende der alten, genuin griechisch-archaischen Epoche steht, sodass es theoretisch möglich wäre, einige Schlüsselkonzepte, die Nietzsche mit dieser Periode und Homer als ihrem Symbol verbindet, auch mit Platon zu assoziieren. Aus kulturphilosophischer Sicht ist Nietzsches Argumentation aufgrund seiner Thesen zu den Ursachen der Entwicklung und des Niedergangs der griechischen Kultur anfechtbar. Das lässt sich an drei konkreten Beispielen zeigen. Der erste Beweis für die von Nietzsche niemals direkt erwähnte Nähe von Platon zu Homer ist die Rolle des Wettkampfs für die Interpretation des Mythos: Platon kämpft mit Homer nach den gleichen Regeln wie etwa Hesiod oder Xenophanes, indem er seine hohe Autorität zu unterminieren sucht.⁴³¹ Außerdem kämpfen sowohl Homer als auch Platon gegen die Herrschaft des Mythos:⁴³² Beide versuchen (wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln: denen der Kunst und der Philosophie), den Mythos eindeutig und somit begreifbar zu machen. Mit Nietzsche könnte man erwidern, dass bei Homer eine Art Gleichgewicht zwischen der chaotischen und zugleich vitalen Kraft des Mythos und der olympischen Götterordnung der Freude zu sehen ist. Platon strebt eine ähnliche Art Gleichgewicht an, nämlich das zwischen Mythos und Logos – oder, enger gefasst, zwischen Mythos und Begriff.⁴³³ Auch an der Form des sokratischen Dialogs ist sichtbar, dass mythische und literarische Beispiele philosophische Argumente illustrieren und bekräftigen,⁴³⁴ etwa in der berühmten Phaidon-Rede von Sokrates über das Jenseits.⁴³⁵ Insofern ist die Rolle des Mythos in der platonischen Philosophie wesentlich komplexer, als wir aus Nietzsches Platon-Darstellung schließen können, sodass der angebliche Gegensatz – trotz Platons direkter Kritik an den homerischen Epen – zumindest argumentativ-methodologisch nicht selbstverständlich ist. Eng verknüpft mit der Rolle des Mythos und der Problematik des Agonalen ist der zweite Beweis, nämlich der Kampf des Apollinischen gegen das Dionysische. Die antidionysische Stellung Platons thematisiert Nietzsche noch vor der Geburt der Tragödie: Bereits im Nachlass von 1870 wird Sokrates zum „apollinischen Einzelnen“, der „gegen Dionysos auftritt“ (Nachlass 1870/71, 7[84], KGW III 3.165). In der Geburt der Tragödie wird Platons Kampf mit der Tragödie durch die Metapher von Sokratesʼ     

Nachlass 1871/72, 16[27], KGW III 3.430 und 16[17], KGW III 3.425. Nachlass 1875, 6[18], KGW IV 1.180. Vgl. Janke 2007, S. 66 – 67. Vgl. dazu etwa Ricken 2013, S. 167– 177. Phaidon 107d –115a.

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5 Homer contra Platon: Diesseits und jenseits von Nietzsches philosophischer Formel

„Cyklopenauge“ illustriert. Das daraus folgende Bild der Beziehung zwischen Homer und Platon ist elegant wie komplex, wenigstens aus rhetorischer Sicht: Das „Cyklopenauge“ impliziert eine einzige, als Wahrheit dargestellte Perspektive. Die Relation zwischen Platon und Homer gleicht der zwischen dem grausamen, aber leichtgläubigen Zyklopen Polyphem und dem listigen und vielgewandten Odysseus. Auf diese epistemische Deutung der Zyklopenmetapher weist auch Nietzsches Schlussfolgerung hin, Platons „a p o l l i n i s c h e Tendenz“ habe sich im „logischen Schematismus […] verpuppt“ (GT 14, KSA 1.94). Platons Kritik an der Kunst im Ganzen erscheint somit als Vollendung der apollinischen Welterkenntnis und Weltdeutung, als endgültiger Sieg über das Dionysische. Auch wenn Nietzsches These eine gewisse Überzeugungskraft besitzen mag, wenn man sich auf sein Odysseusbild fokussiert, sollte man nicht vergessen, dass Homer und Platon laut Nietzsches Darstellung der Entwicklung der griechischen Kultur wie Platons Lehrer Sokrates⁴³⁶ neben dem Mythos auch einen weiteren gemeinsamen Gegner haben: die Tragödie. Beide Genies der griechischen Kultur stehen in der Opposition zum Dionysischen – als Vertreter derselben apollinischen Tradition. Auch wenn das Apollinische bei Homer und Platon in unterschiedlicher Beziehung zum Dionysischen steht, insofern Homer es lediglich zu verschleiern, Platon hingegen völlig zu zerstören sucht, ist klar, dass in beiden Fällen das Dionysische vom Apollinischen getrennt und durch es unterdrückt wird – anders als in der Tragödie, in der beide Elemente einander transformieren und voneinander abhängig sind. Der Begriff des Apollinischen und die Tatsache, dass Mythos und Tragödie sowohl für Homer als auch für Platon Reizfaktoren sind, führt zum dritten Beweis: Sie lassen sich mit dem Problem der kulturellen Décadence verbinden. Homer ist nicht nur Grundlage und Kristallisationspunkt des Griechischen, sondern, wie Platon, ein wichtiger Grund für dessen Niedergang: Als unübertroffenes Ideal und Vorbild, dessen Größe mögliche Gegner abschreckt und so Wettkampf und produktive Weiterentwicklung unmöglich macht, erscheint er in Nietzsches Darstellung als Damoklesschwert über der griechischen Kultur.⁴³⁷ Beim späten Nietzsche wird nicht nur Platons Rolle als Ideal⁴³⁸ in der europäisch-christlichen Denktradition, sondern auch die Wirkung von Homer auf die griechische Archaik als kulturelles Problem dargestellt. Platons Umkehrung des alten Wertsystems lässt sich in diesem Sinn sogar als logische

 Zu Sokrates als „Gegner der tragischen Kunst“ s. GT 13. Zu Platons Kampf mit der Tragödie vgl. GT 14.  Es sei darauf hingewiesen, dass Nietzsches Idee von Platon als Verhängnis Griechenlands bzw. Europas zur gleichen Periode (1887/88) wie die Idee über Homer als Ursprung des Untergangs der Griechen gehört.  Zu Platon als Ideal im Kontext seiner Verbindung mit dem Christentum s. GD, Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6.156: „Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene ‚Ideal‘ genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, sich selbst misszuverstehn und die B r ü c k e zu betreten, die zum ‚Kreuz‘ führte … Und wie viel Plato ist noch im Begriff ‚Kirche‘, in Bau, System, Praxis der Kirche!“

5.5 Einheit der Gegensätze?

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und unvermeidliche Konsequenz der griechischen Kultur begreifen, während seine Wirkung auf die spätere Tradition, die mit ihm beginnt, in Bezug auf die archaische Periode in bestimmten Aspekten mit der von Homer vergleichbar erscheint. Dies sollte, neben anderen, in früheren Kapiteln thematisierten Ursachen, zur graduell abnehmenden Rolle Homers in Nietzsches Denken nach Also sprach Zarathustra beitragen. Die beschriebenen Faktoren können die überraschende Schärfe und latente Zweideutigkeit von Nietzsches Gegenüberstellung von Platon und Homer erklären. Einerseits ist nicht zu verleugnen, dass die Differenzen zwischen ihnen, die Nietzsche mit der Sorgfältigkeit eines Archäologen ans Tageslicht bringt, eine grundlegende Rolle für sein Bild der griechischen Kultur und der platonisch-christlichen Tradition spielen. Andererseits erweist sich Homer in mehreren Fällen als unzuverlässiger Verbündeter, wobei Nietzsche selbst – wenigstens in Bezug auf Also sprach Zarathustra – seine Nähe zu Platon eingesteht.⁴³⁹ Laut Zarathustra soll man „in seinem Freunde noch den Feind ehren“ (Za I, Vom Freunde). Das Beispiel der „Feindschaft“ von Platon und Homer, die Nietzsche als philosophische Formel gebraucht, indem er sie mit den Gedankensträngen verschiedener Perioden seines Denkens verbindet, erlaubt uns, diese Aussage kritisch umzudrehen: In einem Feind kann sich auch ein Freund verbergen.

 S. Nietzsche an Overbeck (22.10.1883, KGB III 1.449): „Lieber alter Freund, beim Lesen Teichmüllers bin ich immer mehr starr vor Verwunderung, wie wenig ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra πλατονίζει.“

6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts Der Mangel an Untersuchungen, die Nietzsches Stellung zu Homer behandeln, betrifft in noch höherem Grad seinen Einfluss auf die spätere Homerforschung. Während Nietzsches Wirkung auf die klassische Philologie seit langer Zeit nicht mehr als marginal eingeschätzt wird, liegt der Schwerpunkt der Forschung auf diesem Feld vorwiegend bei der griechischen Tragödie und Geschichtsschreibung. Die Einzigartigkeit von Homers Stellung in Nietzsches Denken legt jedoch nah, dass es eine explizite oder zumindest implizite Verbindung zwischen seinen Ideen und den methodologischen und thematischen Diskussionen, die die Homerforschung des 20. Jahrhunderts prägten, gibt. Diese Hypothese soll an konkreten Beispielen geprüft werden.⁴⁴⁰

6.1 Methoden der Homerforschung: Wolfgang Schadewaldt und Walter Arend In seiner Baseler Antrittsrede lenkt Nietzsche die Aufmerksamkeit seines Publikums auf Homers Persönlichkeit, die aus seiner Sicht trotz der Entdeckungen Wolfs den zentralen Punkt für die klassische Philologie ausmacht. In seinen späteren Baseler Vorlesungskursen, etwa in der Vorlesung über die Geschichte der griechischen Literatur sowie im Nachlass derselben Periode (Mitte 1870er-Jahre), spricht er vom ursprünglich mündlichen Charakter der homerischen Epen sowie von der ästhetischen Notwendigkeit homerischer Wiederholungen, die von vielen Homerforschern des 19. Jahrhunderts als Anlass der Zerstückelung der Ilias und Odyssee auf mehrere Teile bzw. Fassungen gesehen wurden. Trotz ihrer Bedeutsamkeit haben diese Gedanken Nietzsches⁴⁴¹ relativ wenig Resonanz bei den klassischen Philologen gefunden: Selbst bei Karl Reinhardt, einem der besten Schüler von Wilamowitz, der in seinen früheren Jahren Nietzsches Student an der Universität Basel war⁴⁴² und von seinen Ideen stark beeinflusst wurde,⁴⁴³ sind keine expliziten Erwähnungen zu finden. Dennoch gibt es Spuren davon, dass diese Ansätze Nietzsches – sowohl aus seinen Vorlesungen als auch, in weiterentwickelter Form, aus seinen philosophischen Werken – seit den

 Das vorliegende Kapitel ist eine überarbeitete Fassung eines früheren Artikels zu demselben Thema: Zhavoronkov 2014.  Zum Einfluss von Nietzsches Gedanken über die Rolle der Philosophie für die klassische Philologie am Beispiel von Werner Jaeger s. Landfester 1995, S. 18 – 19.  Eine vollständige Liste von philologischen Schülern und Studenten Nietzsches sowie von den Philologen unter seinen Briefpartnern und denen, die im Weimarer Nietzsche-Archiv gearbeitet haben, s. in Cancik/Cancik-Lindemaier 1999, S. 237– 240.  S. dazu Hölscher 1965, S. 35 – 36 und passim. Vgl. Lloyd-Jones 1976, S. 1. https://doi.org/10.1515/9783110751406-009

6.1 Methoden der Homerforschung: Wolfgang Schadewaldt und Walter Arend

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1920er-Jahren von den Vertretern der unitarischen Position, die, im Gegensatz zu den Analytikern, von einem Autor der Ilias und Odyssee gesprochen haben, in Betracht gezogen wurden. Das beste Beispiel bietet Wolfgang Schadewaldt, einer der prominentesten klassischen Philologen des 20. Jahrhunderts, der sowohl in der Homerforschung als auch in vielen anderen Bereichen tätig war. Die in der Einleitung zum Sammelband seiner Schriften Von Homers Welt und Werk formulierte These Schadewaldts, die homerische Frage ringe „im Grunde um ein einfaches Problem“, nämlich „um das Wesen des dichterischen Schöpfers und des dichterischen Werks“⁴⁴⁴ – in ihrem Verhältnis zur „geschichtlichen Wirklichkeit“⁴⁴⁵ –, wirkt wie ein indirektes Nietzsche-Zitat.⁴⁴⁶ Außerdem bezeichnet Schadewaldt die homerische Frage wie Nietzsche als besonders deutlichen Beweis der Notwendigkeit einer „wechselseitigen Befruchtung“ der Geisteswissenschaften, des „Ineinandergreifen[s] von Ideen, Methoden, Entdeckungen“.⁴⁴⁷ Schadewaldts methodologischer Ansatz unterscheidet sich jedoch von Nietzsches vage skizziertem Projekt der Zukunftsphilologie, da sein Verständnis der Philologie keine bestimmende Rolle der philosophischen Analyse vorsieht. Dabei nimmt er bewusst Bezug auf Nietzsche während seiner Kritik an früheren Theorien, die die historisch-kulturelle Perspektive der engen philologisch-lexikalischen Analyse zum Opfer brachten. Bei Schadewaldt finden sich kritische Aspekte, die an Nietzsches entschieden negative Beurteilung des altertumswissenschaftlichen und künstlerischen Epigonentums in der Behandlung des antiken Erbes erinnern. Seine Kritik an Wolfs Glauben „an jenes begnadete griechische Jugendzeitalter, jenen paradiesischen MenschheitsFrühling […], wo der Mensch kindisch-bewusstlos aus einem geheimen Einklang der Seelen lebte und schuf“,⁴⁴⁸ wird in eine explizite Verbindung mit Nietzsches Haltung gestellt, die er in einem Brief an Erwin Rohde beschreibt.⁴⁴⁹ Wie Nietzsche kritisiert auch Schadewaldt das im 19. Jahrhundert herrschende klassizistische „Ideal der Griechenschönheit“, das „mehr und mehr zur Larve erstarrte“.⁴⁵⁰ Somit wird – wenn

 Schadewaldt 1944, S. 10.  Schadewaldt 1944, S. 25. Vgl. Schröter 1982, S. 43.  Vgl. Schadewaldt 1944, S. 43 – 44. Nietzsches Baseler Rede sowie die Frage nach der Persönlichkeit Homers als deren Hauptgegenstand werden auch auf S. 15 erwähnt.  Schadewaldt 1944, S. 16.  Schadewaldt 1944, S. 25.  Basel, 16.07.1872, KGB II 3.23: „Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw. hörte! In d e m Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein ungeheures, wildes Ringen aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus, vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen. Die Griechen sind viel älter als man denkt. Von Frühling kann man reden, wenn man vor den Frühling noch den Winter setzt: aber vom Himmel gefallen ist diese Welt der Reinheit und Schönheit nicht.“  Schadewaldt 1944, S. 25.

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6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts

auch eher indirekt – auch Nietzsches Rolle als Verkünder der methodologischen Erneuerung der klassischen Philologie thematisiert. Auch einzelne Vorläufer und Vertreter der in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre entstandenen Oral-Poetry-Forschung, die ihre Aufmerksamkeit der Genese der homerischen Epen widmen, nehmen Bezug auf Nietzsches Bemerkungen zu Homers Persönlichkeit und seiner Stellung in der griechischen Kultur, die in⁴⁵¹ und außerhalb der Baseler Rede gemacht werden. In seiner bahnbrechenden Arbeit Die typischen Scenen bei Homer zitiert Walter Arend eine berühmte Stelle aus Der Wanderer und sein Schatten, in der Nietzsche, so Arend, „einen Versuch“ macht, die homerischen „Wiederholungen positiv zu erklären“ (MA II, WS 140, KSA 2.612):⁴⁵² In K e t t e n t a n z e n . […] Schon bei Homer ist eine Fülle von ererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, i n n e r h a l b deren er tanzen musste: und er selber schuf neue Konventionen für die Kommenden hinzu. Dies war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmutig besiegen: so dass Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden.

Arends Interesse für Nietzsche lässt sich, wenigstens zum Teil, dadurch erklären, dass Nietzsche die homerischen Wiederholungen nicht als Interpolationen und Beweis für die Arbeit mehrerer Autoren sieht, wie es bei vielen Analytikern der Fall ist, sondern sie als etwas Natürliches und Traditionsgemäßes einschätzt. Insofern gilt Nietzsche Arend als einer der Vorläufer der Oral-Poetry-Forschung.⁴⁵³ Von seinen Kollegen wurde diese Deutung mit Skeptizismus und scharfer Ironie aufgenommen. Die Konsensmeinung hat der amerikanische Philologe Milman Parry, der Gründer der „oral theory“, folgendermaßen ausgedrückt: „Having nothing better, Arend outlines a philosophic and almost mystic theory, to which he seems to have been inspired (cf. p. 2, n. 3) by Nietzsche’s oracular utterances about Homer dancing in chains.“⁴⁵⁴ In der Tat wirkt Nietzsches theoretisch-kulturphilosophischer Ansatz in der Perspektive von Parrys sprachlicher Analyse, die sich auf eine vergleichende empirische Erforschung der von den balkanischen Sängern überlieferten Epen orientiert, völlig fremd oder gar verwirrend, auch wenn seine Schlüsselargumente bezüglich der Rolle der Tradition, der dichterischen Konkurrenz und Kreativität Parry nicht widersprechen.⁴⁵⁵ Es über S. z. B. die Verwendung von Nietzsches Begriff der Persönlichkeit Homers, mit direktem Bezug auf Nietzsches Baseler Vorlesung, in Shein 1984, S. 14.  Arend 1933, S. 2.  Natürlich gibt es auch frühere und bedeutendere Vorläufer der „oral theory“ wie z. B. Herder (mit seinen Thesen zu Homer als Volksdichter, zur Mündlichkeit seiner Epen wie auch zu deren Struktur) oder Hermann.Während Nietzsches Einfluss auf Arend sichtbar ist, wurden seine Ideen in den Werken der wichtigsten Vertreter der „oral theory“ entweder kritisch beurteilt oder, viel öfter, außer Acht gelassen.  Parry 1936, S. 357– 360.  Es geht vielmehr um unterschiedliche Akzente: Während Nietzsche die Rolle der Tradition und der kulturellen Umgebung betont und ihn die Frage nach den technischen Voraussetzungen der

6.2 Der homerische Polytheismus: Walter F. Otto

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rascht deswegen kaum, dass Arends These trotz des steigenden Interesses der klassischen Philologen für Nietzsches Schriften zu antiken Themen und Autoren auch in der Homerforschung der Nachkriegszeit als Kuriosum gesehen und äußerst selten referiert wurde. Während es sich bei den allgemeinen methodologischen Fragen eher um kleine, wenn auch nicht unwichtige, direkte und indirekte Erwähnungen handelt, ist Nietzsches Wirkung auf bestimmte Themenkreise der Homerforschung deutlich sichtbar. Als besonders anschaulich erweisen sich die Fragen nach der Rolle der homerischen Götter und der göttlichen und menschlichen Unmoralität bei Homer.

6.2 Der homerische Polytheismus: Walter F. Otto Nietzsche gehörte zu den wenigen Denkern seiner Zeit, die die homerischen Götter ernst genommen haben.⁴⁵⁶ Sein Interesse für sie lässt sich durch ihre Rolle in seiner Kritik am Monotheismus als Gefahr für die Menschheit erklären. Seine Methode, die Eigenarten der homerischen Götter im Rahmen der Opposition des griechischen und des christlichen Glaubens zu untersuchen, fand ihren Widerhall bei Walter Friedrich Otto, einem prominenten Latinisten, der aber vor allem durch seine späteren, der griechischen Religion und Mythologie gewidmeten Studien berühmt wurde. Otto war zwölf Jahren im wissenschaftlichen Ausschuss des Weimarer Nietzsche-Archivs tätig und hat Nietzsches Philologica-Ausgabe mit vorbereitet. Nicht nur in seinem Nietzschespezialisten wohl bekanntesten Buch Dionysos (1933),⁴⁵⁷ sondern auch in seinen Werken Die Götter Griechenlands (1929) und Der Geist der Antike und die christliche Welt (1923) finden sich eine Reihe von Themen und Thesen, die mit denen Nietzsches in Einklang stehen. Zu den wichtigsten zählen die Überlegungen über die homerischen Götter. In Geist der Antike lesen wir folgende Passage: Wer die homerischen Gedichte ohne dogmatische Befangenheit liest […], muß fortwährend über ihre Frömmigkeit erstaunen. Hier ist alles unter einem übermenschlichen Gesichtspunkt gestellt. Nie wird von etwas Beachtenswertem, was es immer auch sei, berichtet, ohne die Bemerkung, daß ein Gott es so gefügt oder gegeben habe. Aber freilich steht nicht hinter allen diesen Fügungen eine sogenannte höhere Absicht, und erst recht keine moralische. Tausendmal kommen sie ohne Hintergedanken, wie das Gute und Böse, das Menschen einander antun, wenn sie sich lieben oder hassen. Es ist also eine natürliche Frömmigkeit, was der homerische Mensch im Angesicht des Daseins empfindet, sehr verschieden von der Frömmigkeit der sogenannten offenbarten Religionen. […] Sein Gottesglaube ist die religiöse Interpretation der Wirklichkeit. […] Die abstrakte Logik, die den Kampf gegen diesen Polytheismus schon frühzeitig aufnahm und endlich Siegerin blieb, hätte ihr gar nicht beginnen können, wenn sie nicht die Erlebniskraft gesunken wäre.⁴⁵⁸

mündlichen Darstellung großer Epen nicht interessiert, wird bei Parry gerade der Mnemotechnik eine zentrale Stellung eingeräumt, wenn auch immer mit Rücksicht auf allgemeinere kulturelle Faktoren.  Vgl. Lloyd-Jones 1971, S. 10.  Zu Nietzsches Einfluss auf dieses Buch s. Cancik 1986, S. 105 – 123.  Otto 1923, S. 21– 23.

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6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts

Ottos vehemente Bekämpfung des dogmatischen altertumswissenschaftlichen Vorurteils über die Irrelevanz einer nicht-antiquarischen Beschäftigung mit den griechischen und nicht zuletzt mit den homerischen Göttern beruht, ganz im Geist Nietzsches, auf der Überzeugung, dass die bisherigen Untersuchungen durch die für christliche Tradition charakteristischen Vorstellungen und Vorurteile verhindert wurden. Auch wenn diese Überzeugung nur für eine relativ kurze Periode in einer scharfen, in philologischen Kreisen sehr skeptisch aufgenommenen Kritik am Christentum resultiert, bleibt sie eine theoretische Voraussetzung auch in späteren Monografien und Textsammlungen, etwa in Theophania (1956).⁴⁵⁹ Natürlich geht es nicht nur um Nietzsches Spuren in Ottos methodologischem Ansatz und den Ausgangsfragen seiner Analyse. Viele Schlüsselthemen – die Unmoralität der homerischen Götter, die Natürlichkeit des Glaubens der homerischen Menschen und der Kampf der metaphysisch orientierten, abstrakten Logik gegen den Polytheismus –, die in der zitierten Passage aufgegriffen werden, sowie der gesamte Ton seines Buchs, in dem der „lebendige“ griechische Polytheismus dem die „Erlebniskraft“ tötenden und daher in einem sehr ungünstigen Licht erscheinenden Monotheismus⁴⁶⁰ gegenübergestellt wird, erlauben es, hier von einem erheblichen Einfluss Nietzsches zu sprechen. Er besteht nicht nur in der positiven Einschätzung des Polytheismus, sondern auch in der Perspektive von Ottos Untersuchung, die einen deutlich anthropologischen Kern aufweist, obwohl er seinen Ansatz selbst wohl eher als „lebensphilosophisch“ bezeichnen würde. In Ottos zentraler und erfolgreichster Monografie Die Götter Griechenlands nimmt die Kritik am Christentum deutlich ab und mit ihr auch der explizite Bezug auf Nietzsche.⁴⁶¹ Dennoch lassen sich hier einige der früheren Ideen und Anspielungen erkennen,⁴⁶² insbesondere in Bezug auf das natürliche und lebendige Bild der homerischen Götter⁴⁶³ sowie auf die göttliche Nähe zu den Menschen bei Homer:

 Vgl. Otto 1993, S. 4: „Warum wird die Götterwelt der alten Griechen so gering geachtet, daß man sie zwar als Objekt antiquarischen Interesses mit wissenschaftlichen Eifer studiert, aber nicht daran denkt, daß sie darüber hinaus einen Sinn und Wert haben und […] vielleicht auch uns etwas angehen könnte? Der erste Grund liegt natürlich in dem Sieg einer Religion, die – im Gegensatz zu der Duldsamkeit aller früheren – den Anspruch auf alleinige Wahrheit erhebt, so daß also die Vorstellungen aller anderen […] nur unwahr und verwerflich sein können.“  Vgl. Otto 1923, S. 40: „Der neue überweltliche Gott ist ein bloß noch moralisches Wesen, um so erhabener, je tiefer der Mensch sich verachtet, um so selbstsicherer, je unzulänglicher der Mensch sich fühlt. Und der göttliche Kosmos, die lebendige Natur sind erstorben.“  Infolge der heftigen Polemik, die seine frühere Schrift auslöste, hat Otto sie kritisch umgewertet und auf eine neue Auflage verzichtet.Vgl. das bibliographische Register in Otto 1962, S. 383. Siehe auch Cancik 2003, S. 197. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Buchs von 1929 s. insb. Cancik 1998, S. 139 – 163, und Stavru 2004, S. 316 – 323.  Freilich finden sich auch wichtige Unterschiede: So spricht Otto etwa nicht mehr von der „Unmoralität“ der homerischen Götter, sondern von einem relativ niedrigen Wert des Moralischen.Vgl. Otto 1929, S. 3: „man darf sie nicht unmoralisch nennen, aber sie sind viel zu natürlich und naturfroh, als daß sie dem Moralischen den höchsten Wert zuerkennen sollten.“

6.2 Der homerische Polytheismus: Walter F. Otto

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die homerischen Gedichte [sind] so voll von der göttlichen Nähe und Gegenwart, wie keine anderen irgendeiner Nation oder Zeit. In ihrer Welt ist das Göttliche dem Naturgeschehen nicht als souveräne Macht übergeordnet: es offenbart sich in den Formen des Natürlichen selbst, als dessen Wesen und Sein.⁴⁶⁴

Diese Betonung der Lebendigkeit der homerischen Götter im Kontext von Ottos Lob der archaisch-griechischen Kultur erinnert wiederum an Nietzsches Opposition von Polytheismus und Monotheismus,⁴⁶⁵ wobei der von Otto postulierte „vornehme Abstand“⁴⁶⁶ der Götter zu den Menschen Nietzsches Pathos der Distanz ähnelt. Der hier deutlich sichtbare allgemein-theoretische, begriffliche und thematische Einfluss auf Ottos Analyse des griechischen (u. a. des homerischen) Polytheismus ist seinen Nietzsche-Lektüren der 1910er- und 1920er-Jahre zu verdanken.⁴⁶⁷ Sowohl Ottos Studien dieser Periode als auch seine späteren Veröffentlichungen weisen eine deutliche, in vielerlei Hinsicht nietzscheanische Geringschätzung philologischer Fachsprache und akribischer Analyse zugunsten einer breit angelegten, rhetorisch eindrucksvollen Darstellung des Themas auf, die den Leser mit scharfen Fragen und kühnen Hypothesen provoziert. Der Name „Nietzsche redivivus“, den ihm sein Buch von 1923 einbrachte,⁴⁶⁸ war von seinen damaligen Kollegen nicht als Lob gemeint, da sein Stil für sie unwissenschaftlich, geradezu mystisch-prophetisch wirkte.⁴⁶⁹ In den gegenwärtigen klassischen Religionswissenschaften werden Ottos Pionierideen zu Recht gewürdigt, obwohl ihre akademische Wirkung trotz des Erfolgs der Götter Griechenlands wegen der zeitgenössischen philologischen und theologi-

 Vgl. Otto 1929, S. 7: „Und nun bedenke man, dass sich bei Homer kein Vorgang vollzieht, ohne daß das Bild der Gottheit, die dahintersteht, sichtbar würde. Aber in dieser unerhörten Nähe des Göttlichen verläuft alles auf natürliche Weise“. Zur Nähe der homerischen Götter zu den Menschen s. ein Fragment im Nachlass von 1885, zit. im Kap. IV (40[35], KGW VII 3.378).  Otto 1929, S. 8. Zur Natürlichkeit der homerischen „religiöse[n] Anschauung“ s. auch S. 19.  Sowohl Nietzsches als auch Ottos Verteidigung des Polytheismus werden von einigen Forschern (s. Kutzner 1986 und Wessels 2003, S. 185 – 200) als „Neopaganismus“ bzw. „Neuheidentum“ bezeichnet – aus meiner Sicht zu Unrecht, weil dadurch v. a. Nietzsches Bild der griechischen Antike sowie seine späte genealogische Analyse der Moral auf wenige plakative Aussagen reduziert werden.  Otto 1929, S. 317: „Freilich offenbart die griechische Gottheit kein Gesetz, das als absolute Größe über der Natur steht. Sie ist kein heiliger Wille, vor dem die Natur erschrickt. […] Ihr großer Blick fordert Ehre und Anbetung, aber sie selbst bleiben in vornehmen Abstand.“  Mehr zu diesem Thema in Stavru 2004. Im Ganzen stimme ich Hubert Cancik zu, dass Otto sich mehr auf Winckelmann, Goethe, Schiller und Hölderlin als auf Nietzsche bezieht (s. Cancik 1998, S. 153). Dennoch spielen die expliziten und impliziten Nietzsche-Bezüge eine wesentliche Rolle bei Otto, wenn es um seine Gegenüberstellung von Polytheismus und Monotheismus geht.  S. dazu Kerenyi 1959, S. 10, und Cancik 1986, S. 105.  Vgl. das Fazit von Martin P. Nilssons Charakteristik von Ottos Dionysos: „Ich verkenne durchaus nicht die wissenschaftliche Bedeutung Ottos. Er hat in der wissenschaftlichen Arbeit Vorzügliches geleistet, er wandelt aber jetzt andere und erlauchtere Pfade als die der schlichten Forschung. Dieses Buch ist nicht Wissenschaft, wie ich Wissenschaft begreife und begreifen muß, sondern Prophetentum“ (Nilsson 1935, S. 181).

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6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts

schen Kritik wie auch nicht zuletzt durch seine Karriereprobleme unter dem NS-Regime für längere Zeit stark begrenzt blieb.⁴⁷⁰ Otto war nicht der einzige, der seine Aufmerksamkeit Nietzsches Stellung zu den homerischen Göttern in Hinblick auf moralische Fragen schenkte.Während er in erster Linie Nietzsches Opposition von Polytheismus und Monotheismus in seine Gedankengänge einbaut, wird bei späteren Antikenforschern hauptsächlich Nietzsches These von Homers Unmoralität aus der Sicht der platonischen Moral zum Hauptgegenstand der Rezeption. Dieser Aspekt von Nietzsches Einfluss auf die Homerforschung tritt in der langen und für die klassische Philologie höchst bedeutsamen Polemik um die homerische Moral zutage.

6.3 Nietzsche in der Diskussion um die homerische Moral: Eric Dodds, Arthur Adkins und Bernard Williams Nietzsches Ideen zum Wertsystem des homerischen Menschen wurden vorwiegend in der englischsprachigen Homerforschung rezipiert, wobei die erste Anregung von außen kam: 1934 veröffentlicht die Anthropologin Ruth Benedict ihre Monografie Patterns of Culture, in der sie ihre Gegenüberstellung der Kultur von Pueblo-Indianern und anderen Kulturen Nordamerikas mit Nietzsches Opposition dionysisch–apollinisch⁴⁷¹ verbindet.⁴⁷² Dieser Versuch, ein adäquates Schema für eine solche interkulturelle Analyse zu finden, wird in ihrem späteren, der japanischen Kultur gewidmeten Werk The Chrysanthemum and the Sword (1946) weitergeführt. Hier geht es um die Opposition von „shame culture“ und „guilt culture“:

 Neben den erwähnten Studien von Hubert Cancik s. auch Bremmer 2013, S. 4– 22.  Zit. nach einer späteren Ausgabe (Benedict 1968, S. 56 – 57): „The basic contrast between the Pueblos and the other cultures of North America is the contrast that is named and described by Nietzsche in his studies of Greek tragedy. […] The Dionysian […] seeks to attain in his most valuable moments escape from the boundaries imposed upon him by his five senses, to break through into another order of experience. The desire of the Dionysian, in personal experience or in ritual, is to press through it towards a certain psychological state, to achieve excess. […] The Apollonian distrusts all this, and has often little idea of the nature of such experiences. […] He keeps the middle of the road, stays within the known map, does not meddle with disruptive psychological states. […] The South-West Pueblos are Apollonian.“ Zum Einfluss Nietzsches auf Benedict s. auch Mead 1959, S. 206 und S. 210 – 212.  Obwohl Benedict die kleineren Differenzen zwischen der Lebensweise der Griechen und der von Indianern betont, hält sie die Übertragung des allgemeinen Schemas für durchaus möglich. Vgl. Benedict 1968, S. 57: „Not all of Nietzsche’s discussion of the contrast between Apollonian and Dionysian applies to the contrast between the Pueblos and the surrounding peoples. […] It is with no thought of equating the civilizations of Greece with that of aboriginal America that I use, in describing the cultural configurations of the latter, terms borrowed from the culture of Greece. I use them mainly because they are categories that bring clearly to the fore the major qualities that differentiate Pueblo culture from those of other American Indians, not because all the attitudes that are found in Greece are found also in aboriginal America.“

6.3 Nietzsche in der Diskussion um die homerische Moral

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A society that inculcates absolute standards of morality and relies on men developing a conscience is a guilt culture by detention, but a man in such a society may […] suffer in addition. […] In a society where shame is a major sanction, people are chagrined about acts which we expect people to feel guilty about. […] Where shame is a major sanction, a man does not experience relief when he makes his fault public even to a confessor. […] True shame cultures rely on external sanctions for good behavior, not, as true guilt cultures do, on an internalized conviction of sin.⁴⁷³

Benedicts Thesen, die eine große Resonanz innerhalb und außerhalb der Anthropologie erfahren haben, erinnern an Nietzsches Beschreibung der vornehmen Griechen, die keine Schuld vor Gott fühlen. Diese Parallele wurde zum wichtigen Punkt in der Diskussion um die griechische Moral, wobei Benedicts Opposition zunächst bedingungslos übernommen und später scharf kritisiert wurde.⁴⁷⁴ Fünf Jahre später fand Benedicts Argumentationslinie ihren Weg in die klassische Philologie: In seinem Buch The Greeks and the Irrational (1951) hat Eric Robertson Dodds die Opposition zwischen „shame culture“ und „guilt culture“ zur Grundlage seiner Analyse von Homers Epen gemacht. Dodds, der viele Schriften Nietzsches in seinen jungen Jahren gelesen hat und von ihnen stark beeinflusst wurde,⁴⁷⁵ lenkt seine Aufmerksamkeit auf eine Stelle der Ilias, in der Agamemnon die Schuld des Zeus betont, anstatt von seiner eigenen Schuld zu sprechen:⁴⁷⁶ „Not I“, he declared, „not I was the cause of this act, but Zeus and my portion and the Erinys who walks in darkness: they it is who in the assembly put wild ate in my understanding, on that day when I arbitrarily took Achilles’ prize from him. So what could I do? Deity will always have its way.“⁴⁷⁷

Laut Dodds ist Agamemnons Bezug auf ἄτη⁴⁷⁸ kaum zufällig und weist auf eine wichtige Tendenz hin: Der homerische Mensch, dessen Gefühle seine Zugehörigkeit zur „shame culture“ aufzeigen, projiziert sein Schamgefühl auf eine äußere Instanz.⁴⁷⁹ Die These von Dodds demonstriert wiederum eine deutliche Übereinstimmung mit Nietzsches Beschreibung der vornehmen Griechen. Dies zeigt sich auch darin, dass er

 Benedict 1946, S. 22– 23.  Für eine höchst überzeugende Kritik an dieser Opposition aus der Perspektive der klassischen Philologie s. Cairns 1993, S. 14– 47.  Vgl. Dodds 1977, S. 19 – 20. Von diesem Hintergrund kann man annehmen, dass Nietzsches Opposition der Irrationalität der früheren Griechen und der Rationalität der Griechen seit Platon zum wichtigen Anlass von Dodds’ Buch wurde.  Il.XIX.86 – 89.  Dodds 1951, S. 3. In seiner Analyse des ἄτη-Konzepts im Kontext der Schuld des homerischen Menschen führt Dodds viele weitere Beispiele aus Ilias (I.412, VI.234, IX.376, XII.254– 255 etc.) und Odyssee (xii.371– 372, xxiii.11– 14) an.  Buchstäblich lässt sich dieses Wort als „Irrsinn“ übersetzen. Freilich geht es im Fall Agamemnons (wie auch in anderen ähnlichen Fällen) nicht nur um die Feststellung des eigenen Irrsinns (und keineswegs um eine Krankheit), sondern eher um das Eingreifen der bestrafenden Götter, die den Verstand des Menschen trüben. Vgl. Nietzsche zur „Störung im Kopfe“ in GM II 23.  Dodds 1951, S. 17.

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6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts

den Begriff „shame culture“ mit der archaischen Periode der griechischen Kultur verbindet.⁴⁸⁰ Weitere Spuren von Nietzsches Thesen lassen sich im 1960 veröffentlichten Buch Merit and Responsibility von Arthur Adkins finden, in dem es um die Entwicklung der griechischen Moral seit der archaischen Zeit bis Platon und Aristoteles geht. Adkins spricht von einer unüberwindlichen Kluft zwischen unseren Weltvorstellungen und denen der Griechen in Bezug auf die Moral⁴⁸¹ und illustriert seine Idee eines unvermeidlichen „begrifflichen Defizits“ bei der Beschreibung des archaisch-griechischen Moralsystems an denselben Beispielen wie Nietzsche. Das dritte Kapitel seines Buchs mit dem Titel Homer: Mistake and Moral Error ist der Analyse von ἀγαθός, κακός⁴⁸² und αἰδώς (Scham) gewidmet, wobei die Beschreibung dieser Begriffe derjenigen in Zur Genealogie der Moral ähnelt. Adkins kommentiert die Rolle von ἀγαθός und κακός in Od.XV.324⁴⁸³ folgenderweise: Here evidently agathoi and cherees characterize high and low social position respectively. This usage […] forms part of one world-view. Agathos commends the most admired type of man; and he is the man who possesses the skills and qualities of the warrior-chieftain in war and […] in peace, together with the social advantages which such a chieftain possessed.⁴⁸⁴

Obwohl Nietzsche nicht direkt erwähnt wird, lässt sich zumindest ein indirekter Einfluss vermuten: Viele Schlüsselpunkte bei Adkins, etwa die von ihm postulierte archaische „Ethik der Leistungen“, in der nicht Intentionen, sondern nur Ergebnisse wichtig sind und Gerechtigkeit keine große Rolle spielt,⁴⁸⁵ beruhen auf den Ansätzen seines Lehrers – Eric Robertson Dodds.⁴⁸⁶

 S. das Kapitel From Shame-Culture to Guilt-Culture in Dodds 1951, S. 28 – 63. Im Gegensatz zu Nietzsche spielt bei Dodds die Opposition von Homer und Platon keine wichtige Rolle. Dennoch können wir annehmen, dass er die Grenze der „shame culture“ an selben Zeitpunkt ansetzt, wo Nietzsche den eigentlichen Beginn der Herrschaft des Sokratismus in der griechischen Kultur sieht. So spricht Dodds von Sophokles als „the last great exponent of the archaic world-view“ (Dodds 1951, S. 49; vgl. Nietzsche zum „Sokratismus“ von Euripides in GT 12).  Adkins 1960, S. 2– 3. Vgl. auch Adkins 1975, S. 239 – 254. Zum Einfluss von Nietzsches Idee der Fremdheit des Griechischen auf Adkins s. Zhavoronkov 2012.  Vgl. auch Adkins 1960a, S. 23 – 24, der über die Schwierigkeiten und sogar über die Unmöglichkeit einer adäquaten Übersetzung mehrerer homerischer Begriffe spricht.  Der als Bettler verkleidete Odysseus spricht mit Eumaios über die Differenz zwischen den Vornehmen und denen, die ihnen dienen.  Adkins 1960, S. 32.  Obwohl die handelnden Personen bei Homer an Götter als eine übermenschliche Instanz glauben, die Richtigkeit des menschlichen Handelns kontrollieren sollen, zeigen die olympischen Gottheiten kein Interesse für die Bestrafung der Ungerechten.  Vgl. Louden 1996, S. 14, n. 18.

6.3 Nietzsche in der Diskussion um die homerische Moral

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Wie die Monografie von Dodds hat auch Adkins’ Buch einen großen Einfluss auf die gesamte klassische Philologie und Homerforschung ausgeübt.⁴⁸⁷ Einer der wichtigsten Opponenten von Adkins – und zugleich einer der ersten nicht-deutschen klassischen Philologen, der Nietzsches Einfluss auf diese Disziplin explizit festgestellt hat⁴⁸⁸ – war Sir Hugh Lloyd-Jones. In seiner Schrift The Justice of Zeus (1971) wird ein archaisches Wertsystem darstellt, dessen Grundstein die Kontrolle der Gerechtigkeit (δίκη) durch die Götter, und zwar durch Zeus selbst, bildet: Like men the gods also have their king, whose attributes are based on those of human rulers. […] Being father of gods and men, he rules over men also. […] He defends the established order (dike) by punishing mortals whose injustices disturb it, and at the same time by sternly repressing any attempt of men to rise above the humble place where they belong.⁴⁸⁹

Lloyd-Jones postuliert eine Kontinuität und Homogenität des griechischen Wertsystems von Homer bis in die klassische Periode. Diese Idee, der die Vorstellung von Zeus als einziges Maß menschlichen Handelns folgt, war sowohl Adkins als auch Nietzsche fremd. Nietzsches Überlegungen wurden auch von Bernard Williams, der sich ebenfalls mit den Problemen der archaisch-griechischen Moral beschäftigt hat, in Betracht gezogen. In Shame and Necessity (1993) wie auch in der früheren Schrift Ethics and the Limits of Philosophy (1985) übernimmt Williams wesentliche Aspekte von Nietzsches Moralkritik.⁴⁹⁰ Er stellt zwar die These der tiefen Kluft zwischen Archaisch-Griechischem und Platonisch-Christlichem nicht in den Vordergrund und betont auch das Problem des begrifflichen Defizits im Gegensatz zu Adkins nicht,⁴⁹¹ ebenso wenig die von den früheren Forschern übersehenen Ähnlichkeiten zwischen modernen Konzepten und denen der Griechen. Trotzdem sieht er die Notwendigkeit, moderne Denkweisen klar von denen der Griechen des 5. Jahrhunderts zu trennen.⁴⁹² Gleich

 Von 1960 bis Mitte der 1980er-Jahre fand eine scharfe Diskussion statt, an der neben Adkins und Lloyd-Jones auch Anthony A. Long und Michael Gagarin intensiv teilgenommen haben. Die „zweite Welle“ der Polemik (Ende der 1980er- bis Mitte 1990er-Jahre) beginnt mit dem Erscheinen der Schriften von Bernard Williams und Douglas L. Cairns, die viele von den früheren Begriffen und Ansätzen kritisch umwerten.  S. Lloyd-Jones 1982, S. 165 – 181.  Lloyd-Jones 1971, S. 27.  Zu Nietzsche und Williams s. v. a. Clark 2001. Mehr explizite Hinweise auf die Relevanz von Nietzsches Einflüssen auf ihn finden sich in Williams’ Essays über Nietzsches Psychologie und Ethik: Williams 2006.  Oft übt Williams scharfe Kritik an einzelnen Thesen von Adkins, etwa an seiner Überzeugung, dass die archaischen Griechen sich in erster Linie um den eigenen Erfolg – oft auf Kosten der anderen – kümmern (s. dazu Williams 1993, S. 81– 84).  Williams 1993, S. 1– 2: „Cultural anthropologists […] understand and describe another form of human life. The kind of work I have mentioned helps us to understand the Greeks by first making them seem strange […].We cannot live with the ancient Greeks or to any substantial degree imagine ourselves doing so. Much of their life is hidden from us, and just because of that, it is important for us to keep a

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6 Nietzsche und die Homerforschung des 20. Jahrhunderts

Nietzsche versucht Williams, die archaisch-griechische Vorstellung von Scham und Schuld von der traditionellen Opposition moralisch–nicht moralisch zu lösen.⁴⁹³ Höchst interessant und in gewisser Weise auch einleuchtend für Nietzsches Konzept der aristokratischen Moral ist die von Williams genutzte Trennung zwischen Ethik und Moral: Laut Williams umfasst Moral „ein ganzes Spektrum ethischer Anschauungen“ und „steht uns so nahe, dass die Moralphilosophie viel Zeit darauf verwendet, die Unterschiede zwischen diesen Anschauungen zu erörtern, statt den Unterschied zwischen ihnen insgesamt und ganz anderen Anschauungen zu diskutieren“.⁴⁹⁴ Durch die Abgrenzung der Moral im engeren Sinn als Pflicht gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft von der Ethik als praktische Notwendigkeit, die mit den Zielen des Individuums verbunden ist, lässt sich die scheinbare Inkonsistenz von Nietzsches Kritik an der Moral, die sich mit seiner Hochschätzung der aristokratischen Moral verbindet, auflösen. Obwohl Williams die Begriffe von Moral und Ethik anders als Nietzsche verwendet,⁴⁹⁵ können sie zur Klärung von Nietzsches Unterscheidung zwischen Sitte und Moral – in Verbindung mit seinem Konzept einer übersittlichen Moral, die nur ein bewusstes Individuum erreichen kann – dienen.⁴⁹⁶ Ein weiteres Bindeglied der beiden Denker ist ihre „immoralische“ Tendenz, die sich in der Art und Weise manifestiert,

sense of their otherness, a sense which the methods of cultural anthropology helps us to sustain. This study does not use such methods. […] But I do not want to deny the otherness of the Greek world. I shall not be saying that Greeks of the fifth century B.C. were […] really almost as much like Victorian English gentlemen …“  Williams 1993, S. 91– 92: „If we ask exactly how great a difference lies between the Greeks and ourselves in this respect, we run into a problem that I mentioned in the first chapter, of distinguishing what we think from what we think that we think. One thing that a marked contrast between shame and guilt may express is the idea that it is important to distinguish between ‘moral’ and ‘nonmoral’ qualities. Shame is itself neutral to that distinction“.  Williams 1985, 174 (zit. nach der dt. Ausg.: Williams 1999, S. 242). Zur Ethik bei Williams und zu seiner Kritik an der Moral s. Clark 2001, insb. S. 113: „Williams’s case against morality […] depends […] on being able to make it plausible that the moral interpretation of ethical experience (and in particular the idea of moral obligation as an all-things-considered conclusion) conflates and hides from view a distinction we ought to accept: between obligations, on the one hand, and conclusions of practical necessity, on the other. What is principally hidden from view by the idea of moral obligation is the fact that obligations are rooted outside of us, in other people’s expectations and the conditions of ethical life, whereas conclusions of unconditional practical necessity are rooted in one’s own identity.“  Bei Nietzsche ist keine explizite Abgrenzung der Moral von der Ethik zu finden.  In dieselbe Richtung, allerdings ohne Bezug auf Willams, geht Volker Gerhardt (Gerhardt 2011, S. 216): „Ethik, im klassischen Sinn der Tugendlehre, ist die Anweisung zur Wahrung der inneren und äußeren Form des Menschen. Und wenn ein Mensch unter ethischem Anspruch so weit geht, dass er sich individuell, als diese eine Person unter einmaligen Bedingungen zur Wahrung dessen, was er nach seinem Selbstverständnis eigentlich ist, herausgefordert sieht, dann ist er vor die moralische Frage gestellt. Dann gehorcht er bereits in der Frage einem kategorischen Imperativ, den Nietzsche so formuliert: ,Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren […]‘ [MA 1, Vorrede 6]. Damit ist der Schritt von der allgemeinen Sittlichkeit zur Moral des freien Geistes markiert.“

6.3 Nietzsche in der Diskussion um die homerische Moral

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bestimmte archaisch-griechische Begriffe zu analysieren. Es wäre daher keine Übertreibung festzuhalten, dass Nietzsches Spuren sowohl am Beginn der Diskussion um die homerische Moral zu finden sind als auch an ihrem Höhepunkt, den Shame and Necessity als zugleich philologisch und philosophisch äußerst einflussreiches Werk ausmacht. In der gegenwärtigen Homerforschung genießt Nietzsche kein hohes Ansehen, es lassen sich kaum Bezüge auf ihn finden. Auch die Philologen, die sich für Nietzsche interessieren, würden mit großer Wahrscheinlichkeit der Aussage von Karl Reinhardt zustimmen: „Wer seine Belehrungen aus Nietzsche schöpfen will, bleibt in der Wissenschaft ein Dilettant“⁴⁹⁷ und eine klare Grenze ziehen zwischen den Ideen Nietzsches, die einige Altertumswissenschaftler der Vergangenheit inspiriert haben, und dem Versuch, Nietzsche strategisch-methodologisch dicht zu folgen. Dennoch ist Nietzsches Einfluss auf die Homerforschung trotz ihres sporadischen Charakters nicht zu unterschätzen, insbesondere wenn es um die (Vor‐)Geschichten einiger ihrer zentralen Diskussionen geht. Und die Warnung, ihm nicht zu dicht zu folgen, würde Nietzsche wahrscheinlich sogar selbst erfreuen: Ist das nicht derselbe Rat, den Zarathustra seinen Schülern gibt?

 Reinhardt 1960, S. 309.

Schluss Nietzsches Homerbild demonstriert anschaulich, dass sich sein Denken wesentlich an archaisch-griechischen Vorbildern orientiert. Während viele Elemente und Konzepte seiner Philosophie als Reaktionen auf zeitgenössische Tendenzen und Diskussionen entstehen, bildet gerade der Fall Homer eine Ausnahme: Obwohl er sich gelegentlich auch auf die Diskussion der homerischen Frage bezieht, ist Nietzsches eigene Vorstellung von Homer und insbesondere von homerischen Gestalten wie Odysseus in erster Linie eine Auseinandersetzung mit traditionellen, vorwiegend antiken Deutungen, von denen er sich bewusst distanziert. Dass antike philosophische (und nicht-philosophische) Texte zu Nietzsches wichtigsten Inspirationsquellen gehören, ist bekannt. Die Ilias und die Odyssee sind in ihrer Bedeutung für Nietzsche vergleichbar mit der philosophischer Werke. Homerische Spuren lassen sich in der Mehrzahl von Nietzsches Texten finden, von seinen frühen philologischen Studien bis zu den philosophischen Schriften und Nachlassfragmenten der 1880er-Jahre, wobei direkte Erwähnungen und Hinweise mit der Zeit spärlicher werden. Insofern wird Homer zum Bindeglied für verschiedene Elemente von Nietzsches Denken, angefangen bei seiner Auseinandersetzung mit den Methoden der klassischen Philologie bis hin zu seinen ethischen und epistemologischen Theorien der mittleren und späteren Periode. Vom Standpunkt der klassischen Philologie und auch von einem allgemeineren historischen Standpunkt fällt es leicht, Kritik an Nietzsches Thesen über Homer und die von ihm dargestellte Welt zu üben, die Nietzsche in einigen Fällen allzu schlicht mit der historischen Realität der archaischen Epoche des antiken Griechenlands identifiziert. Vor allem seine Betonung der Vorbildlichkeit von Odysseus für die Griechen und seine Idee einer aristokratischen Moral stoßen auf die gleichen Schwierigkeiten wie seine Opposition von apollinisch und dionysisch: Es finden sich keine antiken Quellen, die hinreichende Belege bieten könnten. Das gilt selbst für Nietzsches problematisches Konzept der aristokratischen Moral, das zwar auf korrekten etymologischen Beobachtungen beruht, letztlich jedoch keine ausreichend verlässliche historische Verankerung hat – die historische und philologische Glaubwürdigkeit wird also der Plastizität des philosophischen Gedankens zum Opfer gebracht. Seine Distanz zur klassisch-philologischen Tradition und die Priorität des Philosophischen vor dem Historischen können erklären, warum Nietzsches Homerdeutung nur einen begrenzten Einfluss auf die zeitgenössische und spätere Homerforschung hatte. Zudem war es niemals Nietzsches Absicht, einen direkten Beitrag zur philologischen Diskussion über Homer zu leisten. Auch wenn er in seiner Baseler Rede Homer zur Kritik an den vorherrschenden methodologischen Ansätzen der klassischen Philologie heranzieht, liefert er damit keine neue Antwort auf die homerische Frage, sondern vielmehr ein neues Bild der möglichen Entwicklung der Disziplin im Ganzen. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sein Einfluss auf die https://doi.org/10.1515/9783110751406-010

Schluss

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Homerforschung völlig ausbliebe: Die Beispiele Wolfgang Schadewaldt, Walter F. Otto und Bernard Williams bestätigen das Gegenteil. In welcher Hinsicht untermauert nun Nietzsches Homerbild seine philosophischen Strategien, und warum ließ sich Homer so organisch in seine Philosophie einbauen? Die Antwort auf die zweite Frage ist in der außerordentlichen Vielseitigkeit von Homers Epen zu suchen: Die heftigen Kontroversen zwischen Analytikern und Unitariern wie auch die spätere Entwicklung der Homerforschung demonstrieren die Möglichkeit völlig unterschiedlicher Deutungen der Ilias und der Odyssee, die durch die komplexe Struktur beider Epen ermöglicht werden. Es ist in diesem Licht nur verständlich, dass Homer im Vergleich zu anderen antiken Autoren als kulturelles Symbol und Vorbild der archaischen Epoche für einen interpretationsorientierten Denker wie Nietzsche am besten geeignet war: Als eine enigmatische und widerspruchsvolle Figur, deren Existenz in der Geschichte selbst Sache der Interpretation war und bleibt, bot Homer auch einen guten Referenzpunkt für Nietzsches Philosophie der Gegensätze. In ihr steht Homer immer in Opposition zu anderen antiken Figuren, insbesondere zu Hesiod, den Vorsokratikern und Platon, wie auch zu sich selbst – als Anfang und Ende der „eigentlichen“ griechischen Kultur. Homer gehört zu den wenigen Autoren, die Nietzsche nur selten explizit kritisiert. Trotzdem kann er, so wie Nietzsche ihn deutet, nicht den Status eines kulturellen Ideals für die Gegenwart erreichen. Der Grund liegt, aus einer Makroperspektive betrachtet, in der von Nietzsche postulierten Kluft zwischen der griechischen Archaik und der sokratisch-christlichen Epoche, die bis zu unserer Zeit fortdauert und deren Teil Nietzsche letztendlich auch selbst ist. Auf der Mikroebene lässt sich eine Reihe hindernder Faktoren finden, insbesondere die zentrale Rolle der Sittlichkeit und der Mangel einer vollständigen Souveränität des Individuums in den homerischen Epen. Homer ist bei Nietzsche eher ein Impuls für die Ausarbeitung eigener Konzepte, etwa die der Aufklärung, oder ein pragmatisches Instrument oder sogar eine Waffe, wenn es um die Opposition zu Platon geht. Wie Homer hat auch die ebenfalls kontroverse Gestalt von Odysseus für Nietzsche eine instrumentelle Bedeutung, zugleich aus ästhetischer, ethischer, psychologischer, epistemischer und allgemein-methodologischer Perspektive: Nietzsches Historisierung von Odysseus, zusammen mit der äußerst positiven Darstellung seines Charakters, steht in bewusster Opposition zu den konkurrierenden, in erster Linie literarischen und philologischen Interpretationen. Nietzsches Interesse besteht aber nicht darin, die alten Interpretationen zu überbieten, sondern seine perspektivische Methode durch ein prägnantes antikes Beispiel zu illustrieren und zu begründen. Odysseus und die homerischen Menschen sind für Nietzsche ein Vorbild des gelungenen und gesunden Lebens, das die Spaltung von Leib und Seele und die Tyrannei einer gemeinsamen Moral noch nicht kennt. Für Nietzsche ist die Möglichkeit, frei zwischen unterschiedlichen Masken und Handlungsstrategien wählen zu können, ein entscheidender Faktor, der den grundlegenden Unterschied zwischen Homers und Platons sozialer Struktur ausmacht. Obwohl die Unverantwortlichkeit von Homers Helden seiner Vorstellung von souveränem Handeln widerspricht, wirkt die Organi-

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sation der adeligen Gemeinschaft Homers bei Nietzsche als anthropologisches Argument für ein säkularisiertes und entpolitisiertes Verständnis von Gemeinschaftsbeziehungen. Obwohl die Häufigkeit von homerischen Passagen in Nietzsches wichtigsten Schriften überschaubar bleibt, ist Homer für viele der zentralen Themen seiner Philosophie ein unerlässlicher Anhaltspunkt, auch wenn seine Haltung gegenüber Homer mit der Zeit kritischer wird. Analysen von Nietzsches Verständnis des Apollinischen, der Aufklärung und Erziehung, des Wettstreits, der Rolle der Décadence, des griechischen Polytheismus und der aristokratischen Moral würden sich ohne Bezug auf Homer als mangelhaft erweisen. Auch unser Verständnis von Nietzsches Idee des Ressentiments, seines Nihilismus-Konzepts sowie der Begriffe des höheren Menschen und des Willens zur Macht, die auf den ersten Blick nur eine oberflächliche Beziehung zur griechischen Archaik haben, kann von der Berücksichtigung dieses Hintergrunds von Nietzsches Denken profitieren. Insofern erweist sich Nietzsches Deutung von Homer und den homerischen Gestalten in vielen Fällen als entscheidend für die Beschreibung zentraler Elemente seiner Philosophie. Wer oder was ist also „Nietzsches Homer“? Ein methodologisches Problem der klassischen Philologie? Ein künstliches Konstrukt mit nostalgischer Bedeutung? Das größte Fragment genuin griechischer Kultur? Ein wichtiger Baustein von Nietzsches Ästhetik? Oder ein Teil seiner Genealogie der Moral? Eine Waffe gegen Platon und das Christentum? Oder eine anthropologische Konstante, die eine Brücke schlägt zwischen Nietzsches Analyse von sozialen Beziehungen und physiologischen Prozesse? All diese Aspekte haben in Nietzsches Denken ein ungleiches Gewicht und sind letztlich doch alle präsent in seinem Bild von Homer, das zahlreiche Seiten seiner Philosophie berührt. Anstelle der bloß philologischen homerischen Frage finden wir eine Reihe philosophischer Fragestellungen, die nicht weniger umstritten, wohl aber genauso weitreichend sind.

Anhang: Chronologie von Nietzsches Homer-Rezeption 1857/1858 Studium von Homers Epen im Naumburger Domgymnasium. 1860/1864 Studium von Homers Epen in Schulpforta. 1869 Baseler Antrittsrede Homer und die klassische Philologie. 1870 Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, 1– 2 1871 Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi. E codice florentino post Henricum Stephanum denuo edidit Fridericus Nietzsche Numburgensis. Sokrates und die griechische Tragoedie: Odysseus als „der typische Hellene der älteren Kunst“. 1872 HW: Homer und das Agonale; Homer als Erzieher; die Grausamkeit der vorhomerischen Welt. GT: Homers Apollinismus; Homer contra Lyriker; Homer contra Tragödie. Nachlass 1872/73, 19[278]: Homer als Kristallisationspunkt der griechischen Kultur. 1873 Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, 3–5 1874/5 Vorlesungen zur Geschichte der griechischen Literatur (WiSe 1874/5 und SoSe 1875). 1875 Nachlass 1875, 5[146]: „der frühzeitig panhellenische Homer“ als „die gewaltigste Schranke“ der griechischen Kultur; Homer und Entartung. 1879 MA II, VM 219: die Griechen als „Volk des Odysseus“. https://doi.org/10.1515/9783110751406-011

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Anhang: Chronologie von Nietzsches Homer-Rezeption

MA II, VM 408: „Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus …“ (Nietzsches Methode). 1881 M, Vorrede 3: Moral als „Circe der Philosophen“. M 306: Odysseus als „griechisches Ideal“ und seine schauspielerische Lüge. Nachlass 1881, 12[186]: frühere Unmoralität des Individuums. 1884 Nachlass 1884, 26[334]: „‚Plato gegen Homer‘ – ist die Parole der Philosophen!“ 1885 Za IV: Zarathustra, der Wanderer und Odysseus. 1886 JGB 224: „Wir geniessen Homer wieder …“ 1887 FW 143: Nutzen des Polytheismus. GM I 5: sozialer Ursprung der altgriechischen moralischen Begriffe bei Homer und Theognis. GM II 23: der Glaube der Griechen; Götter als „Ursachen des Bösen“ in der Odyssee. GM III 25: „Plato gegen Homer: das ist der ganze, der ächte Antagonismus …“ Nachlass 1887, 9[157]: die „Unmoralität“ Homers. Nachlass 1887/88, 11[375]: Homer als Ursache des Zugrundegehens der griechischen Welt. 1888 GD, Was ich den Alten verdanke 2: die Fremdheit der Griechen (vgl. HW). EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5 und EH, Warum ich ein Schicksal bin 6: Moral als „Circe der Philosophen“.

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Register Acampora, Christa D. 7 f., 29, 63, 108 Achill 18, 40, 44 f., 52 f., 69, 71, 76, 85, 87, 91, 105, 135 Adkins, Artur 11, 92, 98, 134, 136 f. Adorno, Theodor W. 8, 58, 61 Agamemnon 18, 81, 83 – 85, 96, 105, 118 f., 135 Agon 52, 73, 85, 99 – agonal 63 f., 72 f., 85, 101 – Agonalität 52, 71 – Wettbewerb 52, 73, 83 Aias 69, 119 Alkidamas 34 – 36 Alkinoos 72, 74 f., 102 Analytiker (Homerforschung) 5, 129 f., 141 Apollinismus 1, 56, 110, 143 – apollinisch 3 f., 37, 41 – 49, 56 f., 63, 67 f., 70, 72, 109, 123, 125 f., 134, 140, 142 Archilochus 44, 47 f. Arend, Walter 11, 128, 130 f. Aristarch 20, 38 Aristoteles 28, 35, 38, 54 f., 75, 111, 136 Asketismus – Antiasketismus 113 – asketisch 64, 109, 113, 124 Aufklärung 45, 58, 61, 98, 112, 141 f. Barbarei 61, 65 – 68, 92 – Barbar 67 f., 123 – Halbbarbarei 65 – 67 Benedict, Ruth 134 f. Benne, Christian 6, 21 – 23, 32 f. Bertino, Andrea 66 f., 110 Boeckh, August 21 f. Bonner Schule 21 – 23 Cancik, Hubert 13, 70, 128, 131 – 134 Christentum 1 f., 5, 7, 67, 94, 96, 102, 113, 116, 126, 132, 142 – christlich 67, 81, 90, 94, 99, 103, 119, 122, 127, 131 f., 137 Décadence 15, 37, 58 f., 126, 142 Demokrit 55 dionysisch 3 f., 40 f., 46 – 48, 63, 67, 70, 72, 109, 123, 126

https://doi.org/10.1515/9783110751406-013

Dionysos 35, 41, 47 f., 51, 110, 125, 131, 133 Dodds, Eric R. 11, 134 – 137 Emerson, Ralph Waldo Eris 8, 50 – 52, 83 Euripides 2, 136 Ferguson, Adam Foucault, Michel

121

66 8, 99 f.

Gemeinschaft 90, 97, 101 f., 107 – Blutgemeinschaft 102, 107 – gemeinschaftlich 107 – Gemeinschaftsbegriff 101 Genie 32, 42 f., 50 f., 60, 91, 108 Gerhardt, Volker 56, 85, 87, 98, 122, 138 Goethe, Johann Wolfgang von 15, 18, 27, 32, 38, 58, 68, 80, 91, 101, 115, 121, 133 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 58, 94 Heidegger, Martin 4 Heine, Heinrich 115 Hektor 40, 52 f., 91 Heraklit 55 Herder, Johann Gottfried 18, 29, 45, 130 Hermann, Gottfried 18 – 22, 130 Herrenmoral 103 f. – aristokratische Moral 9 f., 89, 101, 103 – 107, 117, 124, 138, 140, 142 Hesiod 1, 3, 6, 10, 13 f., 28, 33 – 35, 49 – 56, 100, 111, 125, 141, 143 Horaz 24 Horkheimer, Max 8, 58, 61 Jaspers, Karl 4 Jensen, Anthony K.

21 – 23

Kant, Immanuel 22, 25, 77 Kaufmann, Walter 4 Kirchhoff, Adolf 18 f. Kirke 80 – 82, 102, 144 Lachmann, Karl 18 f., 23, 29, 31 Lachterman, David R. 7, 32 Laertes 77 Latacz, Joachim 5, 30, 34, 36 Lehrs, Karl 20

156

Register

Leib-Seele-Dualismus 67, 121 – 123 Lloyd-Jones, Hugh 11, 21, 98, 128, 131, 137

Ritschl, Friedrich 14, 20 – 24, 32, 34, 47 Rohde, Erwin 24, 34, 123, 129

Maske 33, 58, 60, 77, 87, 90, 92, 107, 112, 141 Midas 35 Müller, Enrico 4, 33, 39, 51, 63, 71 Müller, Karl Otfried 19

Saint-Évremond, Charles de 65 – 67. Santini, Carlotta 6, 22, 28, 32 Schadewaldt, Wolfgang 6, 11, 19, 128 f., 141 Schein 73, 75, 86, 112 f. – Scheinen 73 Scheler, Max 121 Schiller, Friedrich 18, 27, 45, 121, 133 Schlegel, Friedrich 17, 31, 42 f. Schmidt, Leopold 42, 96, 98 – 100 Schopenhauer, Arthur 42, 45, 80, 121, 124 Schröter, Hartmut 6, 27, 32, 129 Shakespeare, William 42, 58, 115 Sittlichkeit 10, 55, 59, 89 f., 93, 95, 99, 115, 138, 141 – sittlich 73, 89, 95, 107 Sokrates 8, 48, 55, 60, 81, 90, 103, 108, 113, 119, 124 – 126, 143 Sophokles 22, 36, 41, 76, 136 Stobaios 35

Nägelsbach, Karl Friedrich 20 Napoleon 77, 87 Nihilismus 83 f., 142 – Nihilist 84 f. – nihilistisch 61 Nitzsch, Gregor Wilhelm 19 f., 28, 37 f. Nutzhorn, Frederik 28, 37 f. Odysseus 2, 6, 8 – 10, 18, 37 f., 45, 52 f., 63, 69 – 88, 94, 96 f., 102, 104 f., 107, 111 f., 119, 123 f., 126, 136, 140 f., 143 f. Orsucci, Andrea 7, 71, 96, 98 f. Otto, Walter F. 11, 21, 131 – 134, 141 Ovid 67, 69, 71 Pathos der Distanz 104 f., 133 Peisistratos 17, 29, 31 – peisistratidisch 18, 20 f., 23, 29 Perspektivismus 8, 87, 113 – perspektivisch 116 Platon 2 – 5, 7, 9 f., 12, 46, 54 – 61, 63 f., 70, 75, 80, 89 f., 94, 99, 107 – 109, 111 – 127, 135 f., 141 f., 144 – neuplatonisch 118 – Neuplatonismus 118 – platonisch 1, 3, 7 f., 12, 49, 57, 63, 67, 90, 99, 103, 108, 111 – 119, 121 – 125, 127, 134, 137 – Platonismus 1, 61, 63, 112, 116 Plautus 22 – 24 Plessner, Helmuth 101, 107, 121 Polyphem 74, 80, 84, 86 f., 126 Polytheismus 3, 10 f., 20, 93 – 95, 114 f., 131 – 134, 142, 144 Porter, James I. 5 f., 27 Prometheus 67 Reinhardt, Karl 128, 139 Reschke, Renate 15, 60, 67 Ressentiment 83, 120, 142 Rhapsode 38 f., 55, 110 – 112

Theognis 36, 97 f., 100 f., 103, 105 – 107, 144 Thersites 54, 83 – 85, 119 Thukydides 64 Tönnies, Ferdinand 98, 101 f., 107 Trieb 50, 53, 56, 63, 71, 77 f., 93, 96, 101 Übermensch 93, 119 Unitarier (Homerfoschung) 5, 19 f., 141 Unmoralität 9 f., 12, 89, 91, 97 f., 117 f., 131 f., 134, 144 – unmoralisch 69, 79, 90 – 92, 103, 117 – 119, 132 Vergil 24, 69, 71 Vico, Giambattista 17, 19, 92 Vogt, Ernst 5, 17, 21 f., 25, 34 f. Wagner, Richard 34, 124 Wahrheit 10, 48 f., 58, 66, 74 f., 77, 80, 86, 93, 100, 109 – 111, 113, 115 f., 122, 126, 132 Welcker, Gottlieb 19 f., 28 West, Martin L. 36, 48, 51, 70, 134 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 5, 19, 36 Wille 44 f., 56, 65, 77, 82, 86, 91, 95, 102 f., 109 f., 113, 116, 133 Wille zur Macht 10, 82, 85 – 87, 103, 142 Williams, Bernard 96, 137 f., 141

Register

Winckelmann, Johann 15 f., 133 Wolf, Friedrich August 6, 15 – 19, 21 f., 25 – 29, 32 f., 38 f., 42 f., 66, 71, 120, 128 f.

Xenophanes Zeus

54, 111, 125

87, 95 f., 111, 114, 117 f., 135, 137

157