Nietzsche, New School: Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln 9783495996041, 9783495996034

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Nietzsche, New School: Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln
 9783495996041, 9783495996034

Table of contents :
Cover
Prolog
1 Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School
Zugleich eine Darstellung, »um die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen…«
Auch ein Versuch: Sue Prideaux
Noch ein Versuch: Niemeyer
Kindheit und Jugend (1844–1864)
Ein Kamel kommt aus dem Tritt
Wagnerianer wider Willen
Professor Nietzsche: Ein Nachwuchsstar wirtschaftet ab
Der Löwe bricht aus und wird wieder Kind
Tautenburg – ein Käfig voller Narren (inner- als auch außerhalb)
In der Wüste (1889–1900)
2 Nietzsches Frühwerk, als Vorschein der New School aufbereitet
3 »… feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!«
Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur
4 Die implizite Pädagogik in Nietzsches Philosophie
Im Basislager: Nietzsche – (k)ein Philosoph?
Erste Sicherungen: Nietzsches Nietzsche
Zwischenstopp: Nietzsches Philosophie, revisited
Ein Aufstieg zu Nietzsches ›Centrum‹ – und ein Blick zurück ins Tal
Einige psychologische Tiefenbohrungen in pädagogischer Absicht
Zarathustra als Erzieher – oder als Psychologe?
5 Der Fall Fallada(s)
Über Nietzsche, den Niedergang des Bürgertums und das Ende der bürgerlichen Jugendbewegung
»Sinnsuche Jugendlicher«: Drei Beispiele und eine Lektion
»Bürgerliche Jugendbewegung«: Ein Beispiel und eine Lektion
6 Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche
Am Beispiel seiner Buddenbrook-Skizzen Der Tod (1897) sowie Der Weg zum Friedhof (1900) und im Vergleich zu Doktor Faustus (1947)
Doktor Faustus (1947)
Doktor Faustus (1947) in der Lesart Helmut Koopmanns
Der Tod (1897)
Der Weg zum Friedhof (1900)
7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902
Nebst einem Dokument über Nietzsche, das diese sehr wahrscheinlich macht
Möbius’ Botschaft ad Nietzsche im Vergleich zu jener der Schwester
Möbius’ Botschaft ad Nietzsches Vater im Vergleich zu jener der Schwester
Möbius’ Botschaft zu Paul Deussens Bordellanekdote
Möbius’ Komplett-Versagen als Nietzsche-Interpret
Epilog: Das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 – ein definitiver Beleg pro Möbius’ Syphilisdiagnose?
Fazit
8 Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Krankengeschichte ihres Bruders
Eine weitere offenbar notwendige Rückerinnerung
Fazit
9 Nietzsches Dichtung Also sprach Zarathustra (1883–85), gelesen als Subtext eines Syphilitikers
10 »Ich kenne mein Loos«
Warum Nietzsches Schwester nichts wissen wollte vom ersten Ecce homo vom April 1888 sowie vom zweiten, 1908 aber eine Version absegnete, deren euthanasienahen Schluss sie ebenso unangetastet ließ wie dies die Old School bis heute tut
Dem antisemitischen Geheimcode auf der Spur
Ein Ecce-homo-Entwurf mitsamt der hübschen Idee vom vir obscurissimus
Ecce homo: Intention und Wirkung
Nietzsches Krankheit, sich immer lauter nach vorne drängend
Nietzsche als euthanasienaher Denker in eigener Sache: EH, GT 1–4
11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…«
Über die Hintergründe für Nietzsches spätes Bekenntnis zum exterminatorischen Anti-Antisemitismus
Unter Wagnereinfluss: Nietzsche als Antisemit
Nietzsche als Anti-Antisemit
12 Sartres Flaubert im Vergleich zu jenem Nietzsches
Oder: Über einen Existenzialisten avant la lettre unter Bezug auf Nietzsches Madame Bovary und seinem auf sie bezüglichen »Experimentalismus«
Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres
Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches
Fazit
13 Sexualpädagogik der Einfalt?
Über die Hintergründe und die Aktualität von Nietzsches Kritik am »Bauernaufstand des Geistes« – ein Interpretationsversuch zu Wir Furchtlosen (= FW V) 358 im erweiterten Kontext
Hintergründe
Aktualität
14 Nietzsche vs. Nussbaum
Oder: Warum die Rede vom ›guten Leben‹ nicht reicht und kritische Theorie sich besser – via Nietzsche – als Wissenschaft vom ›richtigen Leben‹ neu aufstellte
15 Vom Transhumanismus zurück zur Transformation, altdeutsch: »Verwandlung«
Oder: Warum man um unser aller Zukunft und um Nietzsches wegen fortan besser vom »guten Europäer« denn vom »Übermenschen« reden sollte
These, vom aktuell im Raum stehenden Übermenschen-Verbot ausgehend
Diskussion, von Nietzsches Systematik her
Vom Übermenschen zum Untermenschen: Ein Schnellkurs zur (deutschsprachigen) Nietzscherezeption zwischen 1890 und 1945
Vom ›No Nietzsche‹ über den ›nicht ansteckenden‹ hin zum nur noch ›anregenden‹ Nietzsche: Ein Schnellkurs zur Nietzscherezeption nach 1945 bis heute, mit einem kurzen Schluss
16 Sozialpädagogisches Verstehen verstehen
Ein Versuch gegen den Trend, mit Nietzsche und Freud
Nietzsche verstehen – und Taine (der schon Balzac nicht verstanden hatte)
Nietzsche als Freuds ›Vordenker‹
Freud als Nietzsches ›Nachdenker‹
Drucknachweise
Literaturnachweise

Citation preview

Christian Niemeyer

Nietzsche, New School

Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln

https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

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Christian Niemeyer

Nietzsche, New School Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln

https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

Titelbild: Gemeinfrei https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche#/media/Datei: Nietzsche187a.jpg Bearbeitung Nomos Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99603-4 (Print) ISBN 978-3-495-99604-1 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

Meinen Freunden Wolfgang Schrader & Sigmar Stopinski zum Gedächtnis

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Inhaltsverzeichnis

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

13

Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School

Zugleich eine Darstellung, »um die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen…« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2

Nietzsches Frühwerk, als Vorschein der New School aufbereitet . . . . . . . . . . . . . . . .

77

3

»… feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!«

Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur . . . . . . . . . .

4

Die implizite Pädagogik in Nietzsches Philosophie

5

Der Fall Fallada(s)

6

107

Über Nietzsche, den Niedergang des Bürgertums und das Ende der bürgerlichen Jugendbewegung . . . . . . . . . .

123

Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche

Am Beispiel seiner Buddenbrook-Skizzen Der Tod (1897) sowie Der Weg zum Friedhof (1900) und im Vergleich zu Doktor Faustus (1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

95

137

Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902

Nebst einem Dokument über Nietzsche, das diese sehr wahrscheinlich macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

Inhaltsverzeichnis

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Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Krankengeschichte ihres Bruders

Eine weitere offenbar notwendige Rückerinnerung . . . . .

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Nietzsches Dichtung Also sprach Zarathustra (1883–85), gelesen als Subtext eines Syphilitikers

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10 »Ich kenne mein Loos«

Warum Nietzsches Schwester nichts wissen wollte vom ersten Ecce homo vom April 1888 sowie vom zweiten, 1908 aber eine Version absegnete, deren euthanasienahen Schluss sie ebenso unangetastet ließ wie dies die Old School bis heute tut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…«

Über die Hintergründe für Nietzsches spätes Bekenntnis zum exterminatorischen Anti-Antisemitismus . . . . . . . . . .

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12 Sartres Flaubert im Vergleich zu jenem Nietzsches

Oder: Über einen Existenzialisten avant la lettre unter Bezug auf Nietzsches Madame Bovary und seinem auf sie bezüglichen »Experimentalismus« . . . . . . . . . . . . .

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13 Sexualpädagogik der Einfalt?

Über die Hintergründe und die Aktualität von Nietzsches Kritik am »Bauernaufstand des Geistes« – ein Interpretationsversuch zu Wir Furchtlosen (= FW V) 358 im erweiterten Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14 Nietzsche vs. Nussbaum

Oder: Warum die Rede vom ›guten Leben‹ nicht reicht und kritische Theorie sich besser – via Nietzsche – als Wissenschaft vom ›richtigen Leben‹ neu aufstellte . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495996041 .

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Inhaltsverzeichnis

15 Vom Transhumanismus zurück zur Transformation, altdeutsch: »Verwandlung«

Oder: Warum man um unser aller Zukunft und um Nietzsches wegen fortan besser vom »guten Europäer« denn vom »Übermenschen« reden sollte . . . . . . . . . . . . . . .

16 Sozialpädagogisches Verstehen verstehen

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Ein Versuch gegen den Trend, mit Nietzsche und Freud . . .

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Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Entschuldigung, aber das ist […] keine Wissenschaft (auch keine fröhliche). (Anonymus, 12. Mai 2022, 12:39) Ein wichtiges und ›schönes‹ Buch. (Sander Gilman, 9. Juni 2023, 14:24) Es bleibt kein andres Mittel, die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: man muß zuerst die Moralisten aufhängen. (Nietzsche, Oktober 1888) Man behandelt mich daselbst [im lieben Vaterlande], als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen…. (Nietzsche, April 1888)

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Prolog

Das Voranstellen des Zitats eines Anonymus sowie gleich nachfol­ gend eines durchaus konträren des Nietzscheforschers Sander Gilman (USA) hat keinen anderen Sinn als den des Wachrufens des Pädago­ gen in mir. Der als solcher seinem Erzieher Nietzsche verpflichtet ist und dessen Ratschlag, der auch jener der mit diesem Buch vorge­ stellten New School der Nietzscheforschung sein soll und adressiert werden könnte an den Anonymus in Gestalt der Variante: Ringen wir nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Ver­ dunkeln wir den Andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg! (III: 552)

Grau ist alle Theorie – hier ein Beispiel, vielleicht weniger für dieses ›Wegsehen‹ denn für das ›Verdunkeln des Anderen‹: »Ob ich ein Philosoph bin? – Aber was liegt daran!« (8: 290), erfuhr der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes im April 1888 von Nietzsche – allerdings zum Ärger von dessen Schwester, die diesen Brief deswegen wenig später, nun als Editorin von Nietzsches Werken und Briefen, einfach unterschlug. Was leider kaum einer weiß oder wissen will in der Nietzscheszene, in welcher Briefe als Beiwerk gelten. Schade, denn das Wissen speziell um diesen Brief, den Rüdiger Schmidt-Grépaly (2018) verdienstvollerweise dem Vergessen entriss (vgl. Kap. 10), hätte sich durchaus mäßigend auswirken können auf jenen DFG-Gut­ achter, der 2016/17 meinen Forschungsantrag zu Nietzsches Briefen mittels der rhetorischen Frage abwies: Could such an extensive commentary be achieved if Nietzsche is not dealt with as what he is, namely first and foremost a philosopher?

Ab diesem Moment wusste ich, dass selbst Gutachtende nicht alle Texte Nietzsches kennen; sowie nichts unwichtiger ist als die Diszi­ plinzugehörigkeit Nietzsches oder gar die meine; und nichts unwahrer

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Prolog

als die These, es gäbe »unphilosophische« Argumente. Es gibt ledig­ lich überzeugende – oder eben nicht. Ein Beispiel: Curt Paul Janz, ›nur‹ Gräzist (und Musiker), nicht Philosoph, nicht Psychologe, brachte es trotz dieser disziplinären Herkunft zum wohl besten Nietzschebiographen aller Zeiten. Auffäl­ lig wurde er erstmals mittels eine wegbahnenden Studie über Nietz­ sches Briefe (vgl. Janz 1972). Und ich verspreche Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin: Wer dieses Buch hier bis zum Ende durchliest, weiß schließlich auch, welchem Anliegen jenes abgelehnte DFG-Projekt verpflichtet war. Und wer jetzt weiterliest und dazu noch einiges dazu (etwa Niemeyer 2019: 133 ff.), weiß, warum jener DFG-Gutachter unter Niveau argumentierte; ähnlich wie ein anderer Gräzist dies dort tut, wo er Nietzsches Metaphysikkritik in Ecce Homo als »humorvoll« (Müller 2020: 94) meinte bagatellisieren zu dürfen. Daran anschließbar, gleichfalls der New-School-Technik der ›Verdunkelung des Anderen‹ zurechenbar: Nichts zu fürchten habe ich auch von jenen meiner Fachkollegen, die mich, meines NietzscheInteresses wegen, inzwischen offenbar für einen Philosophen halten. Und mir also vorhalten, ich hätte »das Ende der Erziehungswissen­ schaft bzw. der ›Pädagogik als Wissenschaft‹« zu verantworten, sollte ich weiterhin das Fach zum »Tummelplatz beliebiger Einfälle« machen wollen, wie etwa jener Nietzsches; mit der Pointe: Lassen wir ihn [Nietzsche; d. Verf.] den Philosophen, arbeiten wir in unserem eigenen Revier, mit unseren eigenen Begriffen. (Tenorth 2016: 194)

Klingt, mit Verlaub, ein wenig nach double bind: Hier werde ich als Philosoph verprügelt, dort, weil ich keiner bin und Nietzsche einer gewesen sei. Als Besonderheit hier kommt noch die unausgespro­ chene Beschwörung des Ideals pädagogischer Autonomie resp. »ein­ heimischer Begriffe« à la Johann Friedrich Herbart (1776–1841) in Betracht, immerhin des Begründers der ›Pädagogik als Wissenschaft‹. Das Problem, andernorts erläutert (vgl. Niemeyer 2003b; 32010: 48 ff.): Herbarts ›einheimische Begriff‹ waren eher psychologische denn pädagogische, und er selbst recht eigentlich Psychologe; Päd­ agoge war er recht eigentlich im eingeschränkten Sinn, den das Wort ›Hauslehrer‹ evoziert. Aber wir wollen ja nicht ›Tadeln, Strafen und Bessernwollen‹, deswegen zurück zur Sache. First and foremost: Nietzsche, der stu­ dierte Altphilologe, war nun einmal, was die Philosophie angeht,

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Prolog

am Ende keiner mehr und zu Beginn ein Autodidakt. Gewiss, vier­ einhalb Jahre vor Beginn seiner Arbeit an Za, im Hochgefühl, das dem Erscheinen seiner Aphorismensammlung MA folgte, hatte er noch, sich zugleich zu seiner neuen, der anti-metaphysischen Position bekennend, geschrieben: [J]etzt wage ich es, der Weisheit selber nachzugehen und selber Philosoph zu sein; früher verehrte ich die Philosophen. Manches Schwärmerische und Beglückende schwand: aber viel Besseres habe ich eingetauscht. Mit der metaphysischen Verdrehung ging es mir zuletzt so, daß ich einen Druck um den Hals fühlte, als ob ich ersticken müsste. (5: 335)

Aber welcher Art war eigentlich diese neue Philosophie jenseits der ›antimetaphysischen Verdrehung‹? War es überhaupt noch Philoso­ phie? Besser vielleicht: Blieb es Philosophie? Denn man muss ja bedenken, welcher Pointe die anti-metaphysische, auf die Entfaltung moderner Einzelwissenschaften hinweisende Forschungsprogram­ matik Nietzsches ab MA zutrieb – auf kritischen »Ägyptizismus« nämlich, die in Nietzsches letztem, Anfang Januar 1889 erschienenen Werk GD ihre Erläuterung erfährt durch den Satz: Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien. (VI: 74)

Wie gesehen: Hierüber kann man als Philosoph oder auch nur als Gräzist, entsprechenden Humor à la Enrico Müller vorausgesetzt, vielleicht noch lachen – nicht aber, so jedenfalls nicht der renom­ mierte Nietzscheforscher Andreas Urs Sommer, über das zeitgleich entstandene Gesetz wider das Christenthum, in welchem Nietzsche den Philosophen als »Verbrecher der Verbrecher« (VI: 254) geißelt, damit, so Sommer (2017: 85), seinen »Austritt aus dem Kreis der Philosophen« besiegelnd. Um in diesem Bild zu bleiben: Als ›Eintritt‹ in diesen ›Austritt‹ darf dann wohl der zwei Jahre zuvor niedergelegte Satz aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft vom Herbst 1886 gelten: Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat. (III: 348)

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Prolog

In der Linie des späteren Kontextes dieser Einlassung läge es nahe, die Eröffnung »Jede Philosophie, welche…« zu ersetzen durch: »Jedwede Philosophie…« – um zu enden mit: »… ist unmöglich, zumindest mir, Nietzsche, von vornherein verdächtig!« Und damit dies nicht als subjektivistische Verteidigungsrede eines Autodidakten diffamiert werden kann: Selbst ein weltweit anerkannter Nietzscheexperte wie Volker Gerhardt befand schon vor über zwanzig Jahren: Natürlich wird sich niemand weigern wollen, Friedrich Nietzsche als hoch begabten, im Überfluss der Gedanken schwelgenden Schriftstel­ ler zu bewundern. Aber für den Philosophen kann hier nur das sic tacuisses gelten. (Gerhardt 2000: 262)

In Übersetzung geredet: Hätte Nietzsche geschwiegen, wäre er als Philosoph vielleicht anerkannt worden. Entsprechend konsequent war in der Folge das (übrigens von Gerhardt neuerdings bedauerte) Schweigen über Nietzsche »auf deutschen Lehrstühlen« (Gerhardt 2014: 43), also in der Schulphi­ losophie. Dem gewiss auch eine Festlegung wie jene Andreas Urs Sommers kaum Einhalt gebieten dürfte, wonach Nietzsche ein Philo­ soph sei, »dem die Lust zu unbedingten Festschreibungen mehr und mehr abhandenkam« und »der einen ganzen Figurenzoo unterhielt, dessen Bewohner sich auf mannigfache Weise zu Gehör bringen«, ergänzt noch um die Beobachtung, Nietzsches Philosophie sei »keine Lehre, sondern ein Tun, eine Praxis der denkenden Weltumgestal­ tung.« (Sommer 2017: 2) Meine Wette würde eher umgekehrt lau­ ten: Bei verwirrenden Vokabeln wie diesen selbst auf der Beletage wird man sich nicht wundern dürfen darüber, dass selbst jüngere Nietzscheforscher gönnerhaft meinen befinden zu dürfen, Nietzsche habe »bekanntermaßen kein theoretisches System« entworfen, könne »aber partiell als Ideen- und Stichwortgeber für den aktuellen sozial­ wissenschaftlichen Diskurs genutzt werden.« (Schuhmann 2014: 87) Dieser Zwischenbefund könnte dazu inspirieren, den Spieß all­ mählich umzudrehen und das Ganze New School zu nennen. Als Ausgangspunkt geeignet: die im Vorhergehenden umrissene antimetaphysische Wende Nietzsches ab MA. Dieser Wende zugehörend: Nietzsches Neugewichtung von Leiblichkeit, wie sie uns im allerers­ ten Aphorismus dieser Anti-Wagner-Schrift begegnet in Gestalt des Programmsatzes, wonach »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (II: 24), Kultur also – in Übersetzung geredet – Produkt der Sublimierung von Natur sei, mit der griffigen Pointe:

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Prolog

Es giebt nur leibliche Zustände: die geistigen sind Folgen und Symbo­ lik. (X: 358)

Ein Beispiel, gesetzt, Sex stünde für einen ›leiblichen Zustand‹, Setzung zwei: irritiere, als Vorstellung, die auf ›herrliche Farben‹, also auf Kulturschöpfung, abstellende Frau (wahlweise: Mann) am Schreibtisch: Auffällig ist, dass Nietzsches wohl allererstes ernstzu­ nehmendes Räsonieren über Sex aus der Zeit der Erstellung von MA ihn rasch zu einer geradezu anti-philosophischen Pointe führt, wie besonders schön im Nachlass von Ende 1876 bis Sommer 1877 beobachtbar: »Wenn Menschen mit starken geistigen Bedürfnissen an die Verbindung mit Frauen denken, so überkommt sie das Gefühl als ob sie sich einem Netz näherten, welches sie immer mehr zusam­ menzieht«, heißt es da zunächst, ehe im nächsten Aufschrieb jene ›geistigen Bedürfnisse‹ etwas genauer in Augenschein genommen, als »metaphysische« ausgewiesen und allesamt als »erhabene Irrthü­ mer« verworfen werden – mit einer überraschenden Pointe: Wie es ohne alle diese erhabenen Irrthümer um die Menschen ausse­ hen würde – ich glaube thierisch. (VIII: 410 f.)

›Tierisch‹ ist einerseits – der Ausgangspunkt war ja schließlich Sex – durchaus wortwörtlich gemeint und zu übersetzen mit ›triebgesteu­ ert‹. Und die Kritik ist durchaus grundsätzlich gemeint und also – wie reden ja schließlich von Nietzsche in der Zeit der Erstellung von MA – als (forschungs-) programmatisches Statement zu lesen, das der Philosophenzunft aufträgt, anstelle ›erhabener Irrtümer‹ eine von Menschenkenntnis getragene Antwort auf das dem Menschen eigene ›geistige Bedürfnis‹ zu erteilen. Wie das Ganze dann ausgehen könnte, lässt sich der Fortsetzung von MA II entnehmen, konkret: VM, wo unter dem Titel Wie Natur­ geschichte zu erzählen ist gleich zu Beginn ausgeführt wird: Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegesgeschichte der sittlichgeistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass Jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüthe, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfniss unaufhaltsam fortgerissen würde. (II: 460)

Setzt man in diesem Zitat einfach für ›Die Naturgeschichte…‹ ›Die Emanzipationsgeschichte jedes einzelnen Menschen….‹, wird etwas

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Prolog

klarer, was hier zur Debatte steht: nicht weniger als eine Bildungs­ theorie vom Typ »Bildung als Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt« (Tenorth 2014: 31), der zufolge jeder Einzelne notwendig in seinem Sozialisationsverlauf allen möglichen Gefährdungen unterliegt, die er aber überwinden lernen kann und aus deren Überwindung er neue Kraft und am Ende Persönlichkeit gewinnt und kulturtradierende Macht, Letzteres zumal dann und insofern es gelingt, diese höchst persönliche Bildungsgeschichte in ein Narrativ mit Vorbildwirkung zu verwandeln. Soweit mein Versuch – ich hoffe, diese Botschaft ist angekommen –, mich nicht nur mit jenem DFG-Gutachter, sondern auch mit einem bedeutenden deutschen Bil­ dungshistoriker, der Nietzsche zum Philosophen erklärte und mich, folgerichtig, für übergriffig, ins Benehmen zu setzen. Noch etwas liegt mir zu Beginn dieses Prologs am Herzen: Sollte mir dereinst in der Hölle im Rückblick auf dieses Buch ein Skelett mit Walrossbart freudig entgegentreten mit dem auf den Untertitel desselben anspielenden Spruch aus jenem einleitend erwähnten Brief Nietzsches vom April 1888: Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! – Wo haben Sie den Mut hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen!... (8: 286),

sei es hier schon verraten: ich hätte nichts dagegen. Zumal, wie in der Bildergeschichte Fritz & Lieschen in der ›Hölle‹, in Erwartung Putins – ein Einakter für Kinder sowie ›Kinder‹ von 20221 erläutert: Lieber eine Hölle mit interessanten Typen, wie sie schon Nietzsche dereinst in Aussicht stellte, als das pure Nichts. Wichtiger und apropos »vir obscurissmus«, was ja offenbar mehr und allemal Schlimmeres meint als »unbekannter Mann«, wie Matthias Perkams für Rüdiger SchmidtGrépaly (2018: 230) übersetzte: Ja, dieses offenbar nicht von jedem – außer Nietzsche in der Hölle oder dem zweiten und dritten Motto zufolge, – ersehnte Buch will Nietzsche, diesen mindestens obskuren, wenn nicht gar geheimnisumwitterten Mann mit zahlreichen dunklen Seiten neu aufbereiten. Ohne methodologische Beschränkung, ohne Angst vor frechen Zitaten aus von Nietzsches Schwester unterschla­ genen Briefen wie dem eben (und auch im letzten Motto) zitierten vom April 1888, in welchem ich später in diesem Buch (vgl. Kap. 10) 1 Zuerst erschienen auf Hagali.Jüdisches Leben online, http://www.hagalil.com/202 2/04/fritz-lieschen/

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Prolog

das »man« durch »die Nietzscheszene« ersetzen werde; ohne Sorge natürlich auch, Tabus zu verletzten, namentlich jenes, welches das Thema Syphilis vor Erörterung schützt. Und schließlich scheint mir ein werkbezogener Fokus erforderlich zu sein, allein schon wegen Nietzsches Klage (VI: 326), bei ihm habe in der Zeit unter Wagner »zehn Jahre« lang die »geistige Ernährung« ausgesetzt. Heißt: Im vorliegenden Buch interessiert ausschließlich Nietzsches Nietzsche (ab 1878), nicht Wagners, nicht Förster-Nietzsches, nicht jener der Postmodernen, schon gar nicht jener der Nazis (es sei denn im Inter­ esse, ihn zu zerstören, wie andernorts redlich versucht; vgl. etwa Nie­ meyer 2019: 326 ff; 2021: 249 ff.; 387 ff.). Worum es in diesem Buch ersatzweise geht, ist ein Nietzsche für unsere Zeit der sich aktuell vollziehenden Ukraine –, Demokratieund Planetenzerstörung, selbstredend, um all dies aufzuhalten und umzukehren (als Versuch, gerichtet gegen die AfD: Niemeyer 2021; 2023). Ein Nietzsche also für ein Zeitalter, welches wir, mit einem »68er-avant-la-lettre-Wort« (von 1880) geredet, »das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll« (IX: 48), die letztlich auf Vielfalt und Multikulturalität hinauslaufen – und das nur in Wirksamkeit treten kann, so wir endlich handeln als ob wir anderweitig tatsächlich die ›letzte Generation‹ sein werden. Ein Zeitalter also, das der ihr abzuverlangenden Aufgabenfülle wegen allererst der Zivilcourage sowie der Säkularisierung bedarf, also der grundlegenden Abschaffung »gebundenen Denkens« (Nietzsche), ganz im Sinne von Nietzsche Antichristentum. Dieses nämlich ist keine Zugabe, sondern conditio sine qua non von Nietzsches »neuer Aufklärung« – so ähnlich lautete der im Februar 2023 ins Internet ein­ gestellte Werbetext zu diesem Buch, hier ein wenig freihändig zitiert und verlängert, abgesehen vom Untertitel: Nicht alles interessiert am vir obscurissmus Nietzsche in diesem Buch, sondern, um am Ende mit den hellen Seiten dieses Genies besser leben zu können, bevorzugt seine dunklen Seiten. Und um diese freilegen zu können wie verfaulte Zahnhälse, bedarf es im weit ausführlicheren Ausmaß als bisher des Wissens um Nietzsches Psychologie und Biographie; kurz: es bedarf der New School der Nietzscheforschung. Schon dieser Zusatz sowie die zwischenzeitlich angebrachte Invektive gegen »die Postmoderne(n)« zeigt: der in diesem Buch erörterte Nietzsche hat nichts mit jenem New Nietzsche zu tun, den das MIT (= Massachusetts Institute of Technology) vor gut einem halben Jahrhundert durch die Welt jagte, in einem von David B. Allison

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(1977) edierten und Jahre später (vgl. Allison 2001) kommentierten Reader mit 15 Beiträgen, als deren Credo der erste Satz des Preface gelten darf: Nietzsche’s biography is uninspiring, to say the least. (Allison 1977: IX)

Um auch hier nur das Mindeste zu sagen: Dieser Satz kling zwar cool und ein wenig nach Martin Heidegger2, also den heimlichen Star der von Allison 1977 versammelten 14 Beiträger plus einer Beiträgerin (= Sarah Kofman). Aber der Satz ist gleichwohl grundfalsch und zugleich verräterisch, bringt also das Dilemma dieses New Nietzsche auf den Punkt, für den Eiligen nachlesbar im Index jenes Bandes: Nicht eine der im Folgenden und mithin die New School besonders interessierenden Sachen – wir beschränken uns aus Platzgründen auf die Vokabel »Syphilis« – kam 1977 in Allisons New Nietzsche zur Sprache, ganz zu schweigen von Personen wie Flaubert, Förster, Förs­ ter-Nietzsche, Fritsch (um nur des Buchstabens »F« zu gedenken). Nicht anders zu erwarten, könnte man hier erläutern, angesichts von »eminent scholars as Derrida, Heidegger, Deleuze, Klossowski, and Blanchot«, die Allison seinerzeit, nebst, um nur einen der auch in diesem Buch Verhandelten, Henri Birault (vgl. Kap. 14), zu nennen, zusammenführte zwecks Illustration von, wie der Untertitel aussagte, Contemporary Styles of Interpretation – was letztlich schon das mit »non-contemporary« überschriebene Todesglöckchen vorwegnimmt für diese 50 Jahre alte Anthologie, wie der für sie verantwortliche Philosoph von der State University of New York mit einem Folgeband – Reading the New Nietzsche (2001) – denn auch einräumte, jedenfalls indirekt.3 Dies kann man, noch einmal gut zwanzig Jahre später, nur begrüßen, zumal in Zeiten wie den jetzigen. Denen es, meinem Dafür­ Der, die »eigentliche Philosophie« (Heidegger 1961: 17) Nietzsches im Nachlass vermutend und damit auch in Der Wille zur Macht, die »Sache Nietzsches« unter Absehung von der Person meinte erörtern zu können und damit den Vorwurf aus Richtung der kurz darauf sich formierenden Nietzscheforschung freisetzte, einer Erör­ terung den Weg zu bahnen, die »von anderer Art [ist], als Nietzsche selber ›seine Sache‹ verstand.« (Müller-Lauter 1981/82: 136; ähnlich Behler 1985: 94; vgl. NLex2 [Niemeyer], 155 f.) 3 Der Term New Nietzsche spielt kaum eine Rolle, die Postmoderne und ihr zuzurech­ nende Autor*innen auch nicht. Stattdessen legt Allison eine durchaus konventionelle, überaus lesenswerte Darstellung zu GT, FW, Za sowie GM vor mit Sachkunde auch im biographischen Detail, etwa die Syphilis betreffend, die Allison, unter Verweis vor allem auf Pia Daniela Volz (1990) und unter der betont nüchternen Headline The Facts in the Strange Case of Mr. Nietzsche, als geklärt betrachtet (»…. symptoms that, it is 2

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halten zufolge, aus den angedeuteten Gründen um zukunftsrelevante, also nachhaltige Lösungen zu gehen hat, auch im Blick auf Nietzsche, und nicht um, etwas böse geredet, höhere Stilübungen, also den zumal bei jüngeren Menschen beliebten Nachweis, dass sie mit Nietzsches Fabulierkunst locker mithielten. Wer an dieser Stelle, einem vagen Verdacht nachhängend, gerne um Ross und Reiter wüsste, dem würde ich gerne (vgl. auch Niemeyer 2019: 25 f.) den Namen des österreichischen Schriftstellers Wilhelm Fischer (genannt »Fischer in Graz«) vor die Füße werfen, als seinen Stolperstein im wortwörtlichen Sinne. Immerhin schon 1910 erkannte dieser Avantgarde-Dichter, dass ihm Nietzsches »aphoris­ tische Denkart nicht eine systematisch zusammenhängende Darstel­ lung« abverlange, ergo: Ich knüpfe daher in seiner Weise an, wo es mir interessant erscheint, und lasse den Faden fallen, wo es nichts mehr nach meiner Anschauung zu weben gibt. Auch Wiederholungen, Widersprüche werden bei mir nicht ausgeschlossen sein; die Berechtigung dazu schöpfe ich aus Nietzsche selbst. (Fischer 1910: 2)

Heißt? Nun wie wäre es mit: Lesefaule hat es schon immer gegeben; vergleichsweise neu ist allerdings der Trick, aus dieser Not eine Tugend zu machen, behängt mit dem Schild: »vollendete Postmo­ derne«? Zumal sich diese Untugend und die ihr unterliegende kaum verborgene Identifizierung mit dem heimlichen Selbstideal prächtig mittels der Vorstellung drapieren lässt, dass, weil nichts mehr gewiss sei, den Leser doch immerhin interessieren könne, wie man sich selbst seinen höchst privaten Nietzsche zurechtgebastelt habe? Mir scheint, Kurt Tucholsky habe derlei Arbeitsweise noch ein­ mal über zwanzig Jahre später auf den folgenden Punkt gebracht: Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. (Tucholsky 1932: 9)

Aber, wieder im Ernst geredet: Mitunter gewinnt man, nochmals über neunzig Jahre nach dieser Äußerung, den Eindruck, es gäbe so viele Nietzsches, dass manch ein Nietzscheforscher den Überblick zu verlieren droht und seinen Beitrag zum Thema am liebsten mit der Überschrift Mein Nietzsche versehen würde. Indes: Ein derartiger Titel kann nach dem zu unserem »Fischer in Graz« Ausgeführten now fairly well agreed upon, characterize the tertiary phase of a cerebral syphilis«; Allison 2001: 9)

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irgendwann auch unter dem Vorwurf »Lesefaulheit« im Feuer stehen. Warum man derlei wenn schon nicht beschießen, so jedenfalls doch nicht adeln sollte, zeigt der Umstand, dass einer jener qua eigener Vollmacht und Herrlichkeit zur Debatte gestellten Nietzsches beson­ deres Unheil zumal über die deutschen Nietzscheleser gebracht hat: jener Förster-Nietzsches (mit Tucholskys 1932er Überschrift gespöt­ telt: Fräulein Nietzsche). Damit können wir Allisons New Nietzsche ad acta legen und uns, was unbedingt zu den Aufgaben eines Prologs gehört, der Genealogie des vorliegenden Buches zuwenden. Einen ersten Versuch in Sachen New School, damals noch nicht so genannt, legte ich in diesem Verlag unter dem Titel »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens (2019) vor, damals jene Abgründe noch weitgehend dem Epilog vorbehaltend, etwa im Ausblick auf eine Tragödie, die Nietzsche 1888 im Nachlass düster beschwört mit seinen Zeilen: Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst! (XIII: 557)

In der Hauptsache allerdings beschränkte sich das 2019er Buch zu Nietzsches 175. Geburtstag auf eine gründliche Einführung in das Wichtigste an Nietzsches Werk unter Konzentration auf Intention und Wirkung, dies etwa in Gestalt einer kleinen Werkschau, in welcher der ›frühe‹ Nietzsche unter Wagners Nietzsche, der ›mittlere‹ Nietzsche unter Nietzsches Nietzsche sowie der ›späte‹ Nietzsche unter der Chiffre ›Denker am Abgrund‹ abgehandelt und damit wei­ tergeführt wurde, was ich sechs Jahre zuvor (vgl. Niemeyer 2013) unter Berufung auf zwei bedeutende Nietzscheforscher, nämlich Karl Schlechta einerseits sowie Mazzino Montinari andererseits, aufge­ griffen hatte. Beide hatten es zu ihrer Hochzeit, Schlechta 1957, Montinari 1982 und aus je ihren Gründen für opportun erklärt, »das eigentliche Werk mit ›Menschliches, Allzumenschliches‹ begin­ nen zu lassen« (Schlechta) bzw. den »›echten‹, zu sich selbst […] zurückgekommenen Nietzsche« (Montinari) ins Zentrum zu rücken. Eine faszinierende Idee, die eigentlich jeweils Schockwellen im Fach hätte auslösen müssen, zumindest seitens jener, die ihre Kompetenz im Bereich des nun als ›uneigentlich‹ und ›unecht‹ verworfenen Frühwerks erwiesen hatten oder zu erweisen gedachten. Nichts der­ gleichen hingegen geschah, so dass auch ich derlei 2013 gänzlich ungefährdet wiederholen durfte, ähnlich wie 2019, will sagen: Man

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versteht sich offenbar in der Nietzscheforschung ganz gut auf Schwei­ gen, so es als überlebenssichernd gelten darf. Grund genug für mich, das Problem selbst noch einmal streng zu markieren: Nietzsche hielt offenbar seinem 1878er Vorsatz, als »freier Geist« fortan bei sich selbst bleiben zu wollen, nicht allzu lange die Treue, agierte vielmehr immer mal wieder wie ein »gebundener Geist«, verstrickt in den Kampf mit Dämonen seiner Vergangenheit. Ein deutliches Zeichen hierfür gibt schon Also sprach Zarathustra (1883–85), »eine Dichtung voller Narren«, wie ich sie 2013 in einer Charakterisierung hieß, sie, zusammen mit JGB, FW V, GM, GD und AC4, unter das Rubrum Nietzsche am Rubikon einordnend. Dass es noch schlimmer geht im Blick auf die Absicht, Nietzsches Nietzsche habhaft zu werden, offenbarte das Folgekapitel Nietzsche jenseits (jenseits des Rubikon nämlich), für welches ich damals WM sowie EH auserkor, will sagen: Für Nietzsches Nietzsche blieb allenfalls die Werkphase von 1878 bis 1882, im Einzelnen: MA, VM, WS, M und FW – zu wenig, um daraus Funken zu schlagen, etwa gruppiert um jene des freien Geistes. Dass sich aus der Grundidee, eines Nietzsche ohne Frühwerk habhaft zu werden, gleichwohl ein Lesebuch entwi­ ckeln ließ (= NLes), war, so betrachtet, der eigentliche konstruktive Ertrag dieser frühen Phase der Auseinandersetzung mit dem, was ich mit dem vorliegenden Buch neu aufs Gleis zu setzen suche unter dem Titel New School. Deren neuer Akzent, Folge auch meines zwischenzeitlich erar­ beiteten, in meinem zweiten Alber-Titel Nietzsches Syphilis – und die der Anderen (2020) niedergelegten Wissens um die Bedeutung dieser Geschlechtskrankheit und namentlich der auf sie bezüglichen subjektiven Krankheitstheorien des Patienten Nietzsche: Dass dieser damals, 1877/78, als seine Absetzung von Wagner Kontur gewann, schlicht unterschätzt hat, wie sehr ihm dessen »tödliche Beleidigung« vom Herbst 1877, also Wagners Indiskretion gegenüber Nietzsches Arzt Dr. Eiser in Sachen mutmaßlicher, Syphilis bezüglicher Sexual­ praktiken Nietzsches zu schaffen machte. Ganz abgesehen von seiner krankheitsbedingten Frühpensionierung als Professor im Alter von nur 35 Jahren, die ihn, offiziell aus Gründen des Klimas, letztlich aber aus Scham, zum Verlassen Basels und einem würdelosen Leben aus dem Koffer nötigte. Ab diesem Moment, so die in jenem Buch 4 Gängige Siglen von Nietzsches Werken nach dem vorangestellten Siglenverzeich­ nis.

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angedeutete und im vorliegenden Buch mittels exemplarischer Texte vertiefte These, thematisierte er in seinem Werk immer mal wieder in oftmals extrem verklausulierter Form das Thema Syphilis und die Sorgen, die er sich ob dieser Geschlechtskrankheit, die er sich 1865/66 zugezogen hatte, machte. Zeit vielleicht an dieser Stelle, jener zu gedenken, die mir anlas­ teten, ich wolle ja nur, etwa mit meinem allenfalls als »Science Fiction« interessanten Buch Nietzsches Syphilis – und die der Anderen, für die »negativen Seiten« Nietzsches Schuldige benennen wollen, etwa seine Schwester oder Wagner oder eben die Syphilis. Weit wichtiger als derlei Geplänkel ist mir das Lob von Pia Daniela Volz, der Expertin für Nietzsches Krankheit, für mein 2020er Buch. Ganz zu schweigen von den blurbs von Andreas Urs Sommer und Sander L. Gilman, nachzulesen auf dem Rückumschlag dieses Buches. Mein Dank geht des Weiteren an Dominik Becher für die Aufnahme meines Beitrags Nietzsche, Hoffnung, Syphilis in seinen Reader Brisantes Denken (2019); an Scarlett Marton für das Interesse an einer brasilia­ nischen Fassung eines Aufsatzes zu Nietzsche Syphilis, der, dank des Desinteresses der Psyche, erstmals in deutscher Urfassung in dieses Buch Aufnahme fand (vgl. Kap. 7); an Enrico Müller vom Jahrbuch Nietzscheforschung (vgl. Kap. 8) sowie Florian Steger & Vincenzo Damiani vom Jahrbuch Literatur und Medizin in vergleichbarer Ange­ legenheit (vgl. Kap. 9); und schließlich an Anette Simonis, Linda Simonis & Markus Winkler, die meine unter dem Titel Sex, Tod, Hitler (2022) laufende Kulturgeschichte der Syphilis in ihre Reihe Bei­ träge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik beim Universitätsverlag Winter übernahmen. Aber keine Sorge: Pflichtmitgliedschaften in der New School der Nietzscheforschung sind mit Danksagungen dieser Art nicht verbun­ den. Eines nur ist klar: Wer New School sagt, muss auch Old School sagen, also begründen können, warum man in der Folge und um der Zukunft Nietzsches willen nur noch von dem einen reden sollte und von dem anderen nur noch als Zeichen für ein Missverständnis, das nun überwunden sei und nur noch lehrreich ist, so es hilft, Nachgebo­ renen die Notwendigkeit dieser Umkehr zu erläutern, deutlicher und in der Sprache, die für derlei seit Thomas Kuhn zur Verfügung steht: dieses Paradigmenwechsel. Schon diese Vokabel erlaubt übrigens, die mittels dieses Buches propagierte New School der Nietzschefor­ schung nicht mit einem dogmatischen Satzsystem nach Art etwa der Old School zu verwechseln – einem unausgesprochenen, sich

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im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts in der Nietzscheforschung schleichend ausbreitenden mit einem identifizierbaren Mainstream und einer Art closed-shop-Kongress- wie Veröffentlichungspolitik. Im Gegenteil: Die New School der Nietzscheforschung will, streng orien­ tiert an den wissenschafts- wie erkenntnistheoretischen Vorgaben Nietzsches, Nietzsche unter der für ihn wichtigen Vorgabe »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt« wieder als Thema aller wissenschaftlich attraktiv machen ohne jegliche methodologische Beschränkung, mit einer Ausnahme: Das Verschweigen von Nietzsches Syphilis dort, wo das Gegenteil erforderlich gewesen wäre, wird die New School der Old School fortan als Kunstfehler ankreiden, darauf beharren, dass über Nietzsches euthanasienahes Denken im Spätwerk nur reden darf, wer über Nietzsches Syphilis und die düsteren Gedanken, die sie ihm eingab, reden will und kompetent reden kann. Dabei muss klar sein, dass es des biographischen Zugangs bedarf. Er wurde, wie einleitend angedeutet, auf ungeahnte Höhen geführt durch Curt Paul Janz in seiner legendären dreiteiligen Nietzschebio­ graphie von 1979 – und im letzten Vierteljahrhundert durch den hier als Old School bezeichneten Mainstream der Nietzscheforschung sukzessive ins Abseits gerückt, wie exemplarisch das Beispiel Klaus Goch, Verfasser einer sehr gründlichen Biographie von Nietzsches Vater, lehrt: »Keine Psychologie, kein aparter Ausblick auf kindli­ che Traumatisierungen des Philosophen Friedrich Nietzsche« (Goch 2000: 393), kein »die Philosophie überwältigender Schwundstufenund Vulgärfreudianismus« (ebd.: 1), lautete das Credo hier, als ginge es um eine Abrechnung in eigener Sache. Denn immerhin hatte Goch nur acht Jahre zuvor Nietzsches Za als »groß angelegte Macht- und Männerphantasie« gedeutet sowie gelesen als »Akt der Befreiung im schönen Schein der Kunst: Das schwache, durch alles Weibliche ver­ störte und darum angstvolle Ich rettet sich mit der Zarathustra-Figur in die Zwangspose männlicher Omnipotenz.« (Goch 1992: 219) Muss man dies sowie den Frontenwechsel acht Jahre später verstehen? Nein, verstehen muss man als Nietzscheforscher allein Nietz­ sche. Dies möglichst ausgehend von dem Bestreben, Nietzsche zu systematisieren und, in seinen eigenen Worten, auf seinen »einen und einzigen Gedanken« hin zu organisieren. Eine Idee, die durch Heideggers diesbezüglichen Versuch (s. NLex2 [Niemeyer]: 155 f.) ja nicht grundsätzlich diskreditiert ist. Gleichwohl: Die bei derlei Sys­ tematisierungsversuchen unvermeidliche und wissenschaftstheore­ tisch, etwa mit Karl R. Popper, zu rechtfertigende Technik der Wahr­

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heitsannäherung durch sukzessive Ausschaltung unwahrscheinlicher Lesarten geriet unter dem Regiment von derlei Idee zunehmend in Misskredit. Verstärkt wurde diese Entwicklung auch durch postmo­ derne Glaubenssätze, mit der Ergebnis, dass der Diskurs in der Nietzs­ cheforschung, also der Streit über das Argument des Anderen, so gut wie ausgestorben ist und dem vielstimmigen Geräusch nicht mehr wirklich mit dem Anderen Redender gewichen ist. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass Nietzsche, von seinem Frühwerk aus als überzeugter Altphilologe der Ritschl-Schule zu gelten hat sowie, gravierender und weit tiefer eingreifend in seine Selbstverständnissicherung, als Wagnerianer. Nietzsche hat, in vager Ahnung, sich zum letzten Mal zu äußern, in Ecce homo (1888/9) alles unternommen, um dieses Frühwerk dem späteren (ab Menschliches, Allzumenschliches; 1878) einzufügen. Er schreckte dabei nicht davor zurück, seinen eigenen, vielgestaltigen, teils sehr temperamentvollen Abschied von diesem Frühwerk und damit auch von Richard Wagner zu verleugnen. Die Old School der Nietzscheforschung, dominiert von Altphilologen sowie Antikenfreunden, hat über Jahrzehnte hinweg alles unternommen, die Zugehörigkeit dieser Werkphase zum späte­ ren Nietzsche zu behaupten. Die New School sieht sich, abweichend davon, dazu verpflichtet, in Fragen wie diesen jenem Nietzsche wieder Gehör und Stimme zu geben, der über sein Frühwerk frei von Eigen­ interessen, die in der Spätphase dominierten, zu urteilen vermochte. Des Weiteren wird die New School Nietzsches Psychologie den ihr gebührenden Rang verleihen und die in den letzten Jahren erziel­ ten Durchbrüche im Blick auf die Krankengeschichte würdigen, insbe­ sondere also die Gründe, die es nicht erlauben, für die Syphilis eine Ausschlussdiagnose zu erheben. Positiv reformuliert: Die Syphilis wird in allen zum Verständnis der Werke Nietzsches relevanten Hinsichten Thema sein, auch im Blick auf die Folgen, also die Rezep­ tionsgeschichte. Ein Beispiel: Die Nazifizierung Nietzsches wurde nicht nur durch die Deutschsprechung erleichtert, die Nietzsches Schwester seinem Werk angedeihen ließ, sondern auch durch die Gesundsprechung ihres Bruders als eines angeblichen Opfers von Schlafmittelabusus. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang: Wer nicht um Nietzsches Syphilis und um die subjektiven Krankheits­ theorien, die sie Nietzsche eingab, weiß und wissen will – etwa, weil der/die/das Widersprechende schließlich Philosoph sei und also angehalten, den Zutritt über die Hintertreppe zu verweigern –, wird an Nietzsche hoffnungslos scheitern, nichts von seiner großen Ver­

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zweiflung verstehen, die ihm, wie zu zeigen sein wird (vgl. Kap. 10), euthanasienahe Gedanken eingab. Und er wird am Ende tatsächlich glauben, wie die Lebenskunstapologeten heutzutage (zuletzt: Brock/ Gödde/Zirfas 2022), Nietzsche habe interessante Gedanken zum Thema Gesundheit geäußert, die, der ebenso besorgten wie betuchten Klientel aus der gehobenen Beratungsbranche zu Gehör gebracht, am Ende in geldwerten Vorteil umgemünzt werden können. Ganz anders Nietzsche, der, wie sein Leidensgenosse in puncto Syphilis, Oscar Wilde, zwar an und für sich der Idee nahestand, »das Leben mit artistischem Raffinement zu führen« (zit. n. Stein 1985: 57), dem es aber, wie Wilde, gleichwohl von Tag zu Tag schwerer fiel, seinem »blauen Porzellan zu leben« (ebd.: 58) – und der in der Hauptsache allerdings etwas ganz anderes zu bedenken gab: [I]ch nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht, – nun müßt ihr die größte Probe einer edlen Art geben. (XI: 88)

Dieser Satz zielt, wie noch deutlich werden wird (vgl. Kap. 14), letztlich auf »richtiges Leben« ab – wobei »ihr« alle meint, auch den Menschen als Wissenschaftler. Auch jene, vor denen Zarathustra warnte mit den Worten: Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt jeder Vogel entfedert. (IV: 361)

Dieses Bild schreit geradezu nach Nietzsches Witz: »Kant ist eine Vogelscheuche, irgendwann einmal« (XI: 263), aber auch nach Hitch­ cocks Die Vögel (1963), also nach der Vorstellung, die durch die Warnung »Hütet euch vor den Gelehrten!« nachdenklich Geworde­ nen würde man im Idealfall bei Ihren Versammlungen leicht daran erkennen, dass sie aufgereiht dasitzen, als Krähen, wie bei Hitchcock. Die Anderen eifersüchtig wegbeißend, weil sie ihrem Futtertrog zu nahekommen; oder etwas lehren, was ihnen neu ist oder jedenfalls doch fremd, als stünden sie, die Arrivierten, für Old School. Ein abstraktes, an den Haaren herbeigezogenes Bild? Da wäre ich nicht zu sicher eingedenk des Falles Max Heinze (1835–1909), ein Philosoph, den Nietzsche »seit 1874 aus Basel kannte« und dem es »später zu[fiel], als Nietzsches Gegenvormund zu fungieren und an seinem Grab eine Rede zu halten.« (Heit 2014: 39) Hinzugerechnet vielleicht noch: Dass Nietzsche Heinze als Lehrer schon von Schul­ pforta her kannte und seiner Schwester 1890 als erster Zeuge der

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Verteidigung in der Syphilisfrage, Unterabteilung Hereditäres, diente. (vgl. Niemeyer 2020: 39 f.) Heits Bericht über Nietzsches Urteil aus einem Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche (6: 569), er, Heinze »habe ›nicht den entferntesten Begriff von meiner Bedeutung‹ denn ›er ist geistig zu gering! Dies unter uns, Du weißt ja daß ich ihn per­ sönlich gerne habe‹« (zit. n. Heit 2014: 39), ist deswegen nicht falsch. Worum es aber wirklich geht – und Nietzsche sensibel registrierte –, ist der Umstand, dass Heinze Nietzsches 1883er Begehr um einen viersemestrigen Lehrauftrag an der Universität Leipzig als damaliger Rektor abgelehnt hatte unter Verweis auf die sicher zu erwartende Nicht-Genehmigung seines Gesuchs seitens des Ministers wegen »mancher scharfen Äußerung über die Gottesvorstellung und beson­ ders über das Christenthum« (KGB III 2: 389) in seinen letzten Schrif­ ten, lies: im Zarathustra – ein Argument, mit dem Nietzsche an sich ganz gut leben konnte: »Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Muth wieder« (6: 435), erfuhr beispielsweise Nietzsches Adlatus Heinrich Köselitz von Nietzsche im August 1883, als habe ihm Heinze nicht auch eine bittere Pille zu schlucken gegeben. Sie nämlich verbarg sich im Rat, Nietzsche möge sich durch die Ablehnung seines Gesuchs doch auf keinen Fall davon abhalten lassen, seine »Ansichten über Griechen und grie Cultur in etwas zusammenhängender Form zu Papier [...] zu bringen« (KGB III 2: 389), sprich: Er, Nietzsche, möge endlich lernen, was jedem Durchschnitts-Doktoranden auch aufge­ tragen wird, nämlich sich verständlich auszudrücken, systematisch zu argumentieren und mit der gebührenden Bescheidenheit und unter Konzentration auf einen ihm vom Werdegang her vertrauten Gegen­ standsbereich, was im Fall Nietzsche, dem Altphilologen, nur die grie­ chische Antike sein konnte. Erst über ein Jahr später, im Dezember 1884, gab Nietzsche sei­ ner Schwester gegenüber zu erkennen, dass er Heinzes Herablassung durchaus nicht überlesen hatte: Heinze, so heißt es hier, in jenem von Heit angeführten Brief an Mutter wie Schwester, dieser wieder einmal nichts Begreifenden, mit einem aber »er liebt Dich wirklich« (KGB III 2: 487) Reagierenden, habe »nicht den entferntesten Begriff von meiner Bedeutung.« (6: 569) Dem war wohl so, und dies nun als Frage an die aktuelle Nietzscheforschung: Hat sie eigentlich noch einen Begriff von Nietzsches Bedeutung? Und von dem, welcher Fallstricke ihrer harren? Denn der hier in Rede stehende Brief Nietzsches an Köselitz wurde von Letzterem, wohl auf Hinweis von Nietzsches Schwester (vgl. Janz 1972: 17), nur unvollständig überliefert, also

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unter Wegfall eines Passus, in welchem es heißt: »Der Gedanke der Vorlesungen in Leipzig war ein Gedanke der Verzweiflung« (6: 435), und zwar ob des Agierens seiner Schwester in der Lou-Affäre, auf die in Kap. 1 unter der Überschrift Tautenburg – ein Käfig voller Narren noch einzugehen sein wird. Dass die Sache noch komplizierter ist, zeigt die Wertung des Fal­ les Heinze durch Theodor W. Adorno: In seiner 2006 nachgelassenen Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65) nimmt er diesen Fall zum Anlass, an »die Verflechtung des Geistes in den etablierten akademischen Betrieb« zu erinnern; an die »thought control, die von der Zunft ausgeübt wird«; zusammenfassend: an »die Ranküne gegen Phantasie und die Ranküne gegen alles, was über­ haupt frei ist, was sich unterscheidet, was nicht einfach mitmacht«, mit dem Ergebnis, »daß die subalternsten Figuren [lies: Heinze, d. Verf.] geglaubt haben, etwa Nietzsche gegenüber sich erhaben fühlen zu dürfen.« (Adorno 1964/65: 230) Meine Frage liegt damit nahe: Was ist in jenen gut fünfzig Jahren seit jener Einschätzung an ›thought control‹ passiert, auch in der Nietzscheforschung, dass Nietzsche als ein letztlich ganz zu Unrecht Empörter dasteht und Heinze die Aura eines verdienten Trauerredners genießen darf? Meine Antwort auf diese Fragen kann kaum fraglich sein: Was an diesem Fall zutage tritt, ist der Niedergang kritischen Denkens, insonderheit der Losung der 68er schlechthin: »Das Private ist politisch« – eine Losung, die zwar in der NS-Zeit pervertiert wurde und der Euthansie Auftrieb gab (vgl. Niemeyer 2022: 13 f.); die aber, ihrer hellen Seite nach, jedem bio­ graphieorientierten Zugang notwendig die Aura des bloß Voyeuris­ tischen nimmt und zur Aufklärung beiträgt, wie Adornos Umgang mit Heinzes Nietzsche-Bashing exemplarisch illustriert. Ein weiteres Beispiel für unzulängliche Nietzscheforschung mit der Folge einer Art terra incognita im Kleinen: Ende August 1885 machte Nietzsche in Sils-Maria Nägel mit Köpfen und legte, wohl ein wenig auch aus Langeweile und um sich zu motivieren, ein Verzeichnis »Friedrich Nietzsche, gesammelte Schriften« an. Auffällig an diesem Ordnungsversuch: Der Wille zur Macht, auch nur als Projekt, wird mit keinem Wort erwähnt (vgl. auch Röllin 2012: 129). Und: Die Geburt der Tragödie, die (vier) Unzeitgemässen Betrachtungen sowie die Baseler Antrittsrede über Homer vom Mai 1869 werden unter der – im Kontext durchaus pejorativ klingenden – Rubrik »Erstlinge« (XI: 669) gelistet. Der Rest, also alles seit Menschliches, Allzumenschliches Erschienene mit Ausnahme von Der

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Wanderer und sein Schatten – ein Titel, der merkwürdigerweise fehlt –, wird aufgelistet ohne Rubrik. Nach dem eben Gesagten liegt es nahe, für diesen Part seiner »gesammelten Schriften« die Vokabel ›Hauptwerk‹ in Vorrat zu halten. Dem wird auch hier gefolgt, auf das Risiko hin, dass Nietzsche 1885 über noch nicht Geschriebenes, also etwa über Ecce homo, natürlich noch nicht urteilen konnte; sowie: dass er über Also sprach Zarathustra damals, unmittelbar nach Fertigstellung dieser Dichtung, selbstredend noch positiv dachte. Kurz: Die Die Exklusion des Frühwerks (GT, UB I-IV etc.) ist, Stand August 1885, auf Nietzsches Mist gewachsen – ein ›Mist‹, den ich mir gerne zu eigen mache, im Gegensatz zum Mainstream und mit zwei Ausnahmen, von denen noch die Rede sein wird (vgl. Kap. 2). Von hier ausgehend wird nun auch verständlich, warum Nietz­ sche im März 1885 in seiner ihm ganz und gar eigenen, ungeheuer witzigen Art gegenüber seine angeblich so »geduldigen, mütterli­ chen« (Lisson 2004: 170) Freundin Malwida von Meysenbug in Rom von Nizza aus spottete: Es ist der Humor meiner Lage, daß ich verwechselt werde – mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! (7: 30)

Nichts ging Nietzsche im März 1885 und erst recht ab August 1885 »dieser Herr« an – was natürlich die Frage aufwirft, warum uns Heutigen irgendetwas an selbigem gelegen sein sollte sowie an den Werken desselben, angefangen von Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) über die in der Pädagogik so sehr geschätzten Bildungsvorträge von 1872 bis hin zu den vier Unzeit­ gemässen Betrachtungen der Jahre 1873 bis 1876. Interessant ist dabei der Zusatz, der Reiz dieser frühen Schrift(en) gründe vielleicht darin, »dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er nicht ein Leidender und Entbehrender sei«, mehr als dies: Er, Nietzsche, habe damals gelernt, »das Leben wider den Schmerz zu vertheidigen und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und andrem Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen.« (II: 374) Denn dies könnte heißen, dass die aktuell zu registrierende Euphorie ob derlei Lebenskunst, deutlicher: ob des Umstandes, Nietzsche habe mit Analysen sowie Ratschlägen dieser Art »einer allgemeingültigen Wissenschaft vom guten Leben« (Brock 2022: 27) vorgearbeitet, eine Art Nebenfrucht zum Blühen zu bringen sucht, als handele

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es sich dabei um die Hauptsache – Nietzsches und nicht, was termi­ nologisch treffender wäre (»gutes Leben«), Martha C. Nussbaums, einer dezidierten Nietzsche-Gegnerin. Dem nämlich ist keineswegs so. Vielmehr handelt es sich, wie Nietzsche an der eben beigezogenen Stelle erläutert, lediglich um eine Technik eines über sich maßlos Enttäuschten, dem es durchaus schwerfällt zuzugestehen, dass sein Frühwerk, streng genommen, zur Makulatur ansteht. In der Umkehrung geredet und an die gleichwohl ja nicht aus­ sterbende Spezies der Fans des Frühwerks zumal unter den Lesebuch­ machern – wie beispielsweise Rüdiger Safranski5 – adressiert, in der Hoffnung, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen: Von Nietzsches Widerspruch der Jahre 1883–85 gegen Max Heinze her geurteilt scheint das Frühwerk vor allem für Bildungsphilister wie diesen, die sich in ihrem Gottesglauben nicht beirren lassen wollen, von Rele­ vanz. Diesem, wie ich’s nennen würde, Rechtsnietzscheanismus zure­ chenbar: Edith Düsing (2006: 125) mit ihrer durchaus unberechtigten Kritik an Joachim Köhler (1996: 107 ff.) wegen dessen Hinweis auf die – als Auftragsarbeit für Wagner zu deutende – unzulängliche Rele­ vanz der ›Straussiade‹ von 1873 für Nietzsches Gesamtwerk. Kurz: Jener Brief vom März 1885 macht Ihnen, jenen Fans des Frühwerks, schlechte Laune. Ähnlich übrigens wie Nietzsches briefliche Mittei­ lung vom 14. Dezember 1887 an den Musiker Carl Fuchs, seine frühe Zeit als Philologe und Wagnerianer scheine ihm jetzt als »Excentri­ cität«, als »über alle Maaßen gefährliches Experiment«, als seine »stärkste Charakter-Probe« (8: 209 f.), deutlicher und in positive Bot­ schaft überführt: Es gilt, als Auftrag an die New School und damit dieses Buch, Nietzsches ›Centrum‹ zu bestimmen, ausgehend davon, dass es im alt-philologischen resp. wagnerianischen Frühwerk jeden­ falls nicht gründen kann! Wie man dies macht, hat Nietzsche 1887 mit Seitenblick auf seine Philosophen-Kollegen Schopenhauer wie Kant angedeutet, als er monierte: [E]s giebt da keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu erra­ then, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Fall Kant’s, eines Kopfes(III: 285 f.).

In seinem Lesebuch widmet er gut 200 von über fünfhundert Seiten dem Frühwerk, ignoriert aber fast komplett Nietzsches Nietzsche (WS, VM, M und FW V) sowie GD und AC.

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Anders Nietzsche, soll der Leser daraus lernen. Wer diese Pointe überliest, und sei es aus Verachtung für das Psychologische oder die (wenigen) Psychologen unter den Nietzscheforschern, ist Old School und sollte von Nietzsche die Finger lassen. Was daraus im Einzelnen folgt, sei gleich, ab Kapitel 3, anhand von Mustertexten erläutert, die zum Curriculum der New School gehören könnten und für welche als eine Art Gütesiegel für eben diese herausgestellt werden soll, dass sie a) kritisch ambitioniert sowie b) biographisch als auch c) psychologisch informiert sind und d) auf allen nur denkbaren Quellen (Brief, Werk, Nachlass) basieren sowie e) der wichtigen Sekundärliteratur unter f) Beachtung der Autorität des Arguments und nicht jener das Argumentierenden Rechnung zu tra­ gen suchen. Und, auch nicht zu verachten: Sie haben in ihrer großen Mehrheit ein peer-review überstanden, auch eine kritische Diskussion auf einem Kongress mit der Folge der Aufnahme in einen Kongress­ band. Wie man sieht: Dieses Buch kann noch spannend werden, will jedenfalls grundsätzlich argumentieren, also Entscheidungen vorbe­ reiten, etwa Abschied nehmen von lieb gewordenen Lesarten Nietz­ sches. Und dies im Rückblick auf den Beginn eines auf breiter Basis anhebenden Interesses an Nietzsche vor gut einhundertfünfunddrei­ ßig Jahren, gerechnet ab seinem spektakulären Turiner Zusammen­ bruch vom Januar 1889. Seitdem jedenfalls versucht eine sich beharr­ lich erneuernde, zunehmend professioneller agierende internationale Leserschaft Nietzsches Äußerungen Sinn abzugewinnen. Mehrheit­ lich und der Mehrheitsmeinung folgend unter weitgehender Abse­ hung von den dunklen Seiten, die sich in jenem Turiner Zusammen­ bruch nach allen Seiten hin offenbaren. Und zwar offenbaren über elf Jahre hinweg, in welchen Nietzsche weitere Zeichen produzierte unter den Bedingungen einer fortschreitenden und schließlich vollständi­ gen Demenz bis hin zum Tod vor, am 25. August 2025, exakt 125 Jahren. Ein Tag, auf den hin unser kleiner Lebensabriss (vgl. Kap. 1) konzipiert ist. Ein Fehler übrigens, das Absehen von speziell diesem Kapitel und damit von den Zeichen, die es ausweist und damit von den in Nietzsches Werken und Briefen enthaltenen zahlreichen Hinweisen, wie in diesem Buch scharf und nach allen Seiten hin markiert und letztlich mit der durchaus pejorativ gemeinten Vokabel Old School belegt werden wird. Meint zugleich: Das Gegenteil ist zu fordern, New School nämlich, also die strenge Erkundung eben jener dunklen Seiten vor allem anderen, und zwar ausgehend beispielsweise vom

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Rätselraten des Vierjährigen, woran denn, um alles in der Welt, der Papa litt, um derart jung, mit 36 Jahren, zu sterben; hinzugerechnet das Rätselraten des Vierzehnjährigen, was denn, um alles in der Welt, das Brüderchen hatte, um dem Papa als noch nicht einmal Zweijähriger nachzufolgen ins Grab; hinzugerechnet das Rätselraten Nietzsches auf der Krankenstation in Schulpforta, das – um die Sache etwas zu beschleunigen – komplettiert wurde durch das Nachdenken des 36-jährigen, wie lange es denn bei ihm, der nun seinerseits das Sterbealter des Vaters erreicht habe, noch dauern werde. All’ dies soll wichtig und geradezu unabdingbar sein für den Ver­ such der New School, das Forschungsprogramm Nietzsches erstmals in unverfälschter Gestalt ans Licht zu bringen, nicht aufbauend auf »verschwiegenen Wahrheiten« (Zarathustra)? Ja, und ich möchte sogar noch einen Hinweis vorausschicken an alle Gatekeeper auf die­ ser Welt, also nicht nur an jene aktuellen aus der Nietzscheszene, sondern an andere aus der Jugendbewegungsszene oder aus der Päd­ agogik, ein Fach, in welchem sie, wie mir scheinen will und im aller­ letzten Kapitel deutlich gemacht werden soll, auf Namen lauten wie Heinz-Elmar Tenorth oder Jürgen Oelkers: Was ihr bewacht, die jeweils in eurem Fach dominierenden Paradigmen, gehört nicht nach Fort Knox, sondern in die Abteilung Cold Cases, auf gut deutsch gere­ det: in die Asservatenkammer »Aktenzeichen X Y ungelöst, Unter­ abteilung Prof. Popper: noch nicht falsifiziert«. Wer dies anders sieht, hat mit Wissenschaft nichts am Hut, verbreitet, wie andernorts (vgl. Niemeyer 2023a: 185 ff.) für Jugendbewegungshistoriographen wie Jürgen Reulecke und Norbert Schwarte behauptet, »nützliche Wahr­ heiten« (Nietzsche) – ein absolutes No Go, ausgehend von dem fol­ genden Wort eines bedeutenden, aber längst vergessenen Klassikers der Sozialpädagogik, Aloys Fischer (1880–1937): »Wissenschaft will nichts als erkennen; in solcher Einstellung ist sie autonom und zugleich allumfassend«, ließ er, nicht zufällig 1932, verlauten, um dem die Umkehrung anzuschließen: Wer sich der Wissenschaft bedient, um sie vor den Karren seiner eigenen Interessen zu spannen, über­ sieht, »daß er mit solcher Zumutung die Autorität zerstört, die er nutzen möchte.« (zit. n. Niemeyer 32010: 114) Wer sich jetzt angesprochen fühlt, gleichsam auf frischer Tat ertappt, oder, als Unbetroffener, nach weiteren Namen verlangt, dem kann ich nur sagen: Wer dieses Buch mit Herz und Verstand liest, weiß am Ende ohnehin, von wem ich rede und dass es sich nur um Reprä­ sentant*innen der Old School handeln kann, die mir, so es ihnen

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wohltut, gerne ein »perfetto idiota« nachrufen können als Entschädi­ gung dafür, in Zukunft nicht mehr mit uneingeschränkter Aufmerk­ samkeit der Szene rechnen zu dürfen für Erörterungen über die Beob­ achtung Nietzsches, »dass die ganze antike Literaturgeschichte zeigt, wie bewusst sich die Griechen waren, dass sie es bei rhythmischen Phänomenen mit etwas Gefährlichem und Machtvollem zu tun hat­ ten.« (Santini 2019: 39) Oder die, wie Tszki Chow mit seiner nicht weiter problematisierten Fokussierung »auf die frühe Schaffensperi­ ode Nietzsches (vor 1878)« (Chow 2020: 225), die Bildungsvorträge von 1872 vorstellen, als sei derlei Tun nach Nietzsches Verdikt, sie zu veröffentlichen, noch irgendwie von Relevanz. Nicht, dass man derlei in Zukunft nicht mehr erforschen und publizieren dürfe, ist also mein Problem, im Gegenteil: so es hilft, Nietzsches diesbezüglicher Quellen inne zu werden (etwa neuerdings Lorenz Grasberger [1830–1903]; vgl. Jégoudez 2023), gehört dies natürlich auch zu den Aufgaben der New School – mit der entsprechenden Gelassenheit, für die Andreas Urs Sommer (2000a: 147 ff.) eine Reihe von Gründen geltend machte. Als Frage bleibt insofern allenfalls, ob Nietzsche, wäre ihm dies im Himmel möglich, derlei Texte lesen sollte. Doch wohl etwa nicht, weil es nichts Wichtigeres gibt, oder? Ergo: Warum sollen Nietzscheforscher sie dann schreiben? Und, um dies nicht zu vergessen: New School meint keineswegs Schulenbildung nach Art beispielsweise der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Die sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts unter Impuls­ setzung leadership von Eduard Spranger und Mithilfe von willigen Helfern wie Herman Nohl und Wilhelm Flitner unter Berufung auf die Hermeneutik à la Wilhelm Dilthey als herrschendes Paradigma im deutschen Sprachraum etablieren konnte – was eine Spur der Verwüs­ tung (im Wissenschaftssystem) hinterließ. Etwa in Gestaltung der systematischen Ausgrenzung »der Anderen«, etwa – dies war Her­ man Nohls Job – des Neukantianers Paul Natorp; mit Beiseitesetzung quantitativer Forschung zu Gunsten der einzig für richtig erkannten qualitativen; sowie mit der Beiseitesetzung jener nachwachsenden kritischen Forscher, die ihren Finger unbarmherzig in die offene Wunde der absichtsvoll ins Abseits gerückten NS-Verstrickung eini­ ger opinion leader rückten, und sei es am Beispiel der Kritik der durch geisteswissenschaftliche Heroen (wie namentlich Flitner) besorgten resp. kontrollierten Jugendbewegungshistoriographie. Wer in diesem Zusammenhang von derlei offenbar als un(zu)gehörig behandelten (vgl. Rieger-Ladich et al. 2020) Klagen an mich denkt, liegt nicht

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ganz falsch und wird nun möglicherweise mit Seitenblick auf das vorliegende Buch den Verdacht hegen, mir liege das Ketzerische im Blute und zwei weitere Bücher mit Überschriften wie Jugendbewe­ gung: New School oder Pädagogik: New School befänden sich schon in der Pipeline. Falsch. Was mir im Blute liegt, besser: was mich seit geraumer Zeit umtreibt, ist, wie einleitend schon begründet, allenfalls die Tech­ nik des ›Verdunkelns des Anderen‹ (etwa: Niemeyer 2018a) sowie die derselben zugehörige Frage, ob je ein Nietzscheforscher so wie Nietzsche gesprochen hat: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit?« Die Antwort »Nein« liegt auf der Hand und damit auch die Frage: Warum nicht? Weil ein(e) jede(r) sich scheut, ein derart großes Wort in den Mund zu nehmen wie: Ich will die Geschichte der Menschheit in zwei Teile spalten, in eine vor und in eine nach mir? Vermutlich schon – aber kann dies ein Grund sein so zu tun, als habe Nietzsche ein derart großes Wort nie gesprochen, und es pappe nur deswegen im Emp­ fangsraum des Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg an der Wand, weil es irgendwie cool klingt und mysteriös? Nein, ist das Credo des vorliegenden Buches, dieses Wort ist keineswegs Beiwerk, das sich auf Kaffeetassen in Studi-WG’s gut macht. Vielmehr steht es für den Inbegriff dessen, was die New School der Nietzscheforschung intendiert: Endlich die helle Seite Nietzsches in Gänze ans Licht zu ziehen und sie abgrenzbar zu halten von Nietzsches dunkler Seite, und sei es für den Preis der Abspaltung der Old School. Heißt dies dann aber nicht doch, einer Schule das Wort zu reden nach Art der eingangs getadelten geisteswissenschaftlichen Pädago­ gik in Deutschland? Nein, denn New School meint hier nicht ein dogmatisiertes Satzsystem nach Art des geisteswissenschaftlichen, sondern lediglich die Bestimmung der Lehr- und Unterrichtsfächer, die unverzichtbar sind für ein Verständnis Nietzsches, und dies gerich­ tet gegen einen sich im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts in der Nietzscheforschung schleichend ausbreitenden Mainstream. Im Ergebnis unterscheidet sich der mit dieser Publikation zur Anschau­ lichkeit gebrachte Nietzsche also von allen anderen auf dem Markt befindlichen durch acht Punkte: 1.

Die wissenschaftstheoretischen und -ethischen Positionen Nietzsches sind elementar und müssen in der Nietzschefor­ schung Widerhall finden, orientieren, beispielsweise, auf Furcht­ losigkeit und qualitative Methoden.

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2. 3. 4. 5. 6.

7. 8.

Der autobiografische Zugang ist, auch als versuchsweiser, selbst­ verständlich und also nicht, wie in der Vergangenheit vielfach geschehen, mit Tabu zu belegen. Die Systematisierung der vielfältigen Ideen Nietzsches muss wieder zu einem die Nietzscheforschung verpflichtenden Ziel werde. Zum Verständnis Nietzsches sind alle wichtigen Quellen zu konsultieren, auch Briefe, und zwar weit gründlicher als bis dato. Nietzsches Psychologie muss umfassender als bisher gewür­ digt werden. Das altphilologische und wagnerianische Frühwerk Nietzsches ist ohne Relevanz für das Werkverständnis insgesamt und wird vor allem unter diesem Gesichtspunkt – etwa als Holzweg – zu würdigen sein. Die Krankengeschichte Nietzsches ist elementar für das Werk­ verständnis, auch dort, wo sie, wie die Syphilis, in Bereiche einer terra incognita führt. Darauf bezügliche Forschungsverbote sind anti-nietzscheanisch und konservieren im Ergebnis das für die Old School kennzeich­ nende Beschweigen des Hitler-/Nietzsche-Komplexes.

Und damit ans Werk, an Nietzsches Werk und Leben, im gebührenden Abstand zu den, mit Nietzsche geredet, »schlechtesten Lesern«, die in der Nietzscheforschung nicht eben selten auch noch bis in die Gegenwart hinein das große Wort führen und »wie plündernde Sol­ daten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze.« (II: 436) Will sagen: Mir würde es vollkommen genügen, wenn die Leser*innen dieses Buches durch es »gute Leser« würden und nur das Richtige und Wichtige von Nietzsche und über ihn läsen. Dazu will das folgende Kapitel mittels eines Abrisses zu Nietzsches Leben einige Anregungen geben, gleichsam unter Abarbeitung an der aktuellen Benchmark in diesem Segment: Sue Prideaux; und mit der ketzerischen Frage im Hinterkopf: Wie nähme sich Nietzsches Leben aus, wenn es von einem Profi erzählt werden würde oder jedenfalls doch aus Perspektive der New School?

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1 Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School Zugleich eine Darstellung, »um die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen…«

So lange diese [Moralisten] von Glück und Tugend reden, überreden sie nur die alten Weiber zur Philosophie. (Nietzsche, Oktober 1888)

Auch ein Versuch: Sue Prideaux Wer sich des Prologs erinnert – solange ist es ja noch nicht her –, ins­ besondere des ihm vorangestellten dritten Mottos, weiß, mit welcher Conclusio der im Untertitel dieses Kapitels angerufene Zitatteil (»um die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen«) weitergeht: mit dem Satz, dass man »zuerst die Moralisten aufhängen [muss].« Für zarte Gemüter empfehle ich die Fortsetzung: So lange diese [Moralisten; d. Verf.] von Glück und Tugend reden, überreden sie nur die alten Weiber zur Philosophie. (XIII: 602)

Der Sinn ist in etwa der nämliche: Moralisieren war, die Metapher »alte Weiber« hier mit »meine Mutter Franziska« übersetzt, Nietzsche als Zögling wohlbekannt und eine Zeitlang tägliche Praxis in Schule und Elternhaus; es trägt aber, pädagogisch betrachtet, nichts aus und steht für pure Anti-Philosophie. Und, um nun langsam auf das Thema dieses Kapitels zu kommen: Es, das Moralisieren, darf in NietzscheBiographien keinerlei Rang beanspruchen, ist aber gleichwohl so sehr die Regel, das es schmerzt und gegenwirkend nach einer Vokabel verlangt, die, so hoffe ich doch, gegen-schmerzt: Old School. Wichtig vielleicht ist noch der Zusatz: Dass man Angehörige dieser Schule aufhängen solle, habe nicht ich gesagt und Nietzsche wohl auch nicht wirklich gemeint; mir genügt, sie, also jene, argumentativ in die Schranken weisen.

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1 Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School

Für dieses Bemühen gab es im Vorfeld viele Kandidat*innen im Segment biographisch orientierter Monographien, etwa, auf Basis meiner Rezensionstätigkeit,6 Jutta Georg-Lauer (2013), Kerstin Decker (2016), Robert C. Holub (2016), Jochen Schmidt (2016) oder Ulrich Sieg (2019); hängengeblieben bin ich aber, wie gegen Ende des Prologs schon angedeutet, bei Sue Prideaux (2020); vielleicht auch aus Respekt für schreibende Frauen, namentlich für von fast allen anderen gelobten; zumal mich dieser Respekt mit Nietzsches Interesse an seiner »Unmöglichen«, George Sand, gemein macht7 und hinführte zu Susanne Rettenwander vom Nietzsche-Dokumenta­ tionszentrum in Naumburg, die im Jahrbuch Nietzscheforschung, also mitten aus dem Herz der Old School heraus, 2020 Kunde gab von ihrem Leumundszeugnis pro Prideaux, etwa wie folgt: Sorgfältige Recherchearbeit und breit gefächertes geisteswissenschaft­ liches (Detail-)Wissen überzeugen in gewitzter und schlagfertiger Prosa, die den noch immer faszinierenden Philosophen greifbar und verständlich macht. (Rettenwander 2020: 356)

Dieses Urteil stimmt durchaus mit anderen Elogen auf diese Nietz­ sche-Biografie überein. »So wie diese sollte jede Biographie sein – fesselnd, intelligent, bewegend. Einfach ein Knaller«, schrieb bei­ spielsweise die durch ihr Buch Das Café der Existentialisten (2016) zu einigem Ansehen gekommenen britischen Autorin Sarah Bakewell über Prideaux. Das einzigartige Leben des Friedrich Nietzsche – begeisternd, originell, erschütternd, berauschend, filmreif erzählt,

meldet des Weiteren der Rückumschlag über dieses Buch der vor­ wiegend in Norwegen lebenden britischen Kunsthistorikerin, die zuvor mehrfach ausgezeichnet worden war für ihre Biographien über Edvard Munch und August Strindberg und deren nun ins Deutsche übersetzte, 2018 in London erschienene Nietzsche-Biographie »auf der Bestsellerliste der New York Times [stand].« (U 3) Mehr geht wohl kaum an Lob, wenngleich dem Ketzer – und was wäre der Ketzer Nietzsche ohne Ketzer? – damit die Frage auf der Zunge liegt: Will Niemeyer 2016a (Georg-Lauer); 2018 (Decker); 2017a (Holub), 2017b (Schmidt); 2018 (Sieg); 2019c (Prideaux). 7 Ich gebe zu: ein für Kenner*innen vermutlich beunruhigender Hinweis (vgl. Nie­ meyer 2019: 70 ff.; 2020: 383 ff.), allerdings mit, wie die conditio anzeigen soll, über­ schaubarem Risiko. 6

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Auch ein Versuch: Sue Prideaux

man wirklich, dass jede Biographie so ist wie diese? Sowie: Will man wirklich einen Film sehen nach diesem (Dreh-) Buch? Erste diesbezügliche Zweifel weckt schon die Anfangsszene: Lang und breit und beinahe schon im Stil einer Novelle referiert Pri­ deaux den fraglos längsten und lustigsten, im Stil einer Novelle ver­ fassten Brief Nietzsches an seinen Kommilitonen Erwin Rohde vom 9. November 1868 über den Abend in Leipzig im Hause des Verlegers Brockhaus. Der damals 24-jährige Student war, gleichsam als altphi­ lologischer Nachwuchsstar, bestimmt, Richard Wagner vorgestellt zu werden – und konnte sich, wie jener Brief belegt, schon im Vorfeld vor Aufregung kaum halten ob dieser damals durchaus zweifelhaften Ehre angesichts der halbseidenen Gerüchte um diesen Tondichter und seinen mutmaßlich schwulen Mäzen, den gleichfalls noch sehr jungen und (seit Neuestem) vaterlosen bayerischen ›Märchenkönig‹ Ludwig II. Insoweit, sollte man denken, ein Auftakt nach Maß – den Prideaux indes komplett versemmelt: Nichts gelangt bei ihr zur Klarheit, vor allem nicht die Gehirnwäsche, der sich Nietzsche, durchaus vergleich­ bar mit Ludwig II. und wie dieser traumatisiert durch den Vater, vor allem aber durch den frühen Tod desselben, an diesem Abend ausge­ setzt sah durch diesen problemlos und nach dem klassischen Muster einer Vaterübertragung (s. NLex2 [Niemeyer]: 390–394) als Ersatz­ vater adoptierten »Zauberer«, wie ihn Nietzsche Jahre später, dem Bann Wagners entrückt und wieder zur Klarheit gekommen, nennen wird. Deutlicher wird dies weiter unten im Abschnitt Wagnerianer wider Willen. Ein »Genie des Herzens«, so eine weitere spätere Variante Nietz­ sches auf diese Mär (vgl. Niemeyer 1998: 124 ff.), das ihm von jetzt auf gleich sein Gehirn auszuschneiden verstand und ihn, wie zu Beginn von Kap. 2 noch genauer zu zeigen sein wird, in ein kopfloses »Huhn« verwandelte, das fortan und über gut fünf Jahre hinweg zu mehr nicht in der Lage sein wird als zu Zeichen der Verehrung. Etwa mit der Folge, dass Nietzsche eine Zeitlang Wagners Antisemitismus vom Ansatz her teilte und auch dessen durch einen blonden Superman namens Siegfried zu verwirklichenden (völkischen) Traum von einer deutschen Leitkultur bei gleichzeitiger Verachtung der (französi­ schen) Aufklärung zunächst durchaus willig das Wort redete (vgl. Niemeyer 2019: 187 ff.) – ehe er schließlich 1876/77 in einer Villa in Sorrent unter Mithilfe eines Juden namens Paul Rée aus diesem Traum erweckt wird und beschließt, Nietzsche zu werden; mit Voltaire als seinem neuen, von Wagner selbstredend verachteten Idol und dem

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1 Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School

Plan, einer Ordnung der Dinge das Wort zu reden, die es den Men­ schen als sich zu eigener Willensbildung autorisierenden Übermen­ schen ermöglicht, der für sich selbst unbeeinflusst von anderen ein­ zustehen und Zeugnis zu geben vermag (ebd.: 200 ff.). Wie noch nicht gesagt: Einiges von dem hier im Schnellkurs auf den Punkt Gebrachten trägt auch Prideaux vor im Verlaufe ihres Buches, allerdings wenig anschaulich, also, beispielsweise, ohne »Huhn« und, gravierender: ohne dass wirklich Klarheit in der Frage geschaffen wird, wie Nietzsche wirklich zum Antisemitismus oder zu Ludwig II. oder zu Voltaire stand und aus welchen Gründen mal so und mal so. Vor allem aber, und um diesen Punkt nochmals aufzu­ greifen: All dies hätte Prideaux, wie angedeutet, von jenem Brief Nietzsches an Rohde vom 9. November 1868 ausgehend »filmreif« entfalten können, unterließ es aber, wohl infolge fehlender Aufmerk­ samkeit für den von ihr beigezogenen Text sowie seinen Subtext. Nur ein Beispiel: Verräterisch sind Wendungen Nietzsches aus jenem von Prideaux paraphrasierten Brief über Wagner wie: Es ist [...] ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht,

was wie abgeschrieben wirkt aus dem Porträt des Vierzehnjährigen über seinen leiblichen, leider so früh und zur Qual des damals Vierjährigen verstorbenen Vaters: Sein feines Benehmen und heiterer Sinn verschönerte manche Gesell­ schaften, zu denen er eingeladen war und machten ihn gleich bei seinem Ersten Erscheinen überall beliebt.

Die Erhebung Wagners in den Rang eines Ersatzvaters, ablesbar an zahlreichen späteren Briefen Nietzsche an den ›Meister‹, dürfte also durch Nietzsches November-68-Vision beschleunigt worden sein, dass so ungefähr wie Wagner auch sein eigener, gleichfalls 1813 gebo­ rener Vater hätte werden können, wenn er nicht 1849 gestorben wäre. (vgl. Niemeyer 1998: 131 ff.) Oder habe ich als Rezensent etwas falsch verstanden? Hat es beim professionellen Biographien schreiben allererst darum zu gehen, nicht gleich aufs Große und Ganze abzustellen, sondern für Anschau­ lichkeit zu sorgen und für »sharply observed details« (Bakewell)? So dass wohl durchaus gefragt werden darf, ob Prideaux nicht alles Recht und alle Zeit der Welt hatte, im Blick auf Nietzsches Brief vom 9. November 1868, in dem dieser seinerseits gemütlich darüber fabu­

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Auch ein Versuch: Sue Prideaux

liert hatte, dass der Tag davor »ein schrecklicher Regen- und Schneetag [war]«, ihrerseits gemütlich darüber zu fabulieren, dass Nietzsche »auf dem Heimweg von der schön gelegenen, gediegenen Villa des Professor Brockhaus […] an jeder Ecke eisige Windböen und Grau­ pelschauer [erwarteten]« (Prideaux 2020: 14)? Oder dass er damals »nur einen vergleichsweise bescheidenen Bart trug« und noch seine »vollen und wohlgeformten Lippen« zu erkennen gewesen seien, »eine Tatsache, die in späteren Phasen seines Lebens von Lou Salomé bestätigt wurde, eine der wenigen Frauen, die ihn küssten« (ebd.: 15) – ein Sachverhalt übrigens, den Lou, später befragt, keineswegs bestä­ tigte? Belassen wir es vorerst bei diesen Fragen – und infolgedessen bei der vagen Ahnung, dass, wenn Biographien derlei leisten müssen, ich wegen fehlender Bereitschaft zur Entschleunigung womöglich der falsche Kunde für dieses Genre bin und damit auch der nicht richtige Rezensent für dieses Buch oder gar das Verfassen einer NietzscheBiographie. Oder vielleicht doch? Denn immerhin muss durchaus auffallen, dass Prideaux ausgehend von jener November-Szene Nietzsches Leben recht routiniert nachzuerzählen weiß – sich allerdings an heiklen Stellen auffallend zurückhält, mit der Folge, dass sie nicht der Aufklärung strittiger Sachverhalte dient, sondern eher deren Verdüs­ terung. So erklärt sie beispielsweise den »Tod von Nietzsches Bruder im Kleinkindalter« mit einem »schweren Schlaganfall«, um hinzufü­ gen: »Eine abschließende Bewertung ist nicht möglich« (Prideaux 2020: 23) – ein Satz, den sie ehrlicherweise wohl besser beendet hätte mit: »… ist mir nicht möglich.« Denn die Nietzscheforschung kennt allerlei recht weit gediehene Versuche, ausgehend von Träumen Nietzsches Licht in das von seiner Schwester gezielt verbreitete Dun­ kel um den Tod seines Brüderchens als aus den seines Vaters zu brin­ gen – Details, um die man allerdings wissen muss, was bei Prideaux definitiv nicht der Fall ist und ihre Ausführungen zu diesem Punkt entwertet. Analoges – um bei diesem Themenfeld zu bleiben – gilt für die nach Nietzsches Tod von seinem Studienfreund Paul Deussen 1901 unters Volk gebrachte Geschichte von einem (unbeabsichtigten) Bordellbesuch Nietzsches vom Februar 1865. Prideaux referiert sie knapp, zusammen mit der in der »Literatur« verfochtenen Annahme, er hätte »sich dabei mit Syphilis angesteckt«, als »ein Grund für diese Annahme« anfügend, »dass er im Jahr 1889 […] gesagt hatte, er hätte sich ›zwei Mal angesteckt‹«, was »die Ärzte« damals infolge eines unzureichenden Studiums der Krankenakte – in welcher, aus der Zeit

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vor dem geistigen Zusammenbruch verzeichnet war, »dass er zwei Mal Gonorrhöe hatte« – irrtümlich zu der Annahme bewog, »er hätte die Syphilis gemeint.« (ebd.: 60) Diese Darstellung, der Tendenz nach jener von Nietzsches Schwester folgend, ist in mehrfacher Hinsicht ungenau. Hier sei nur ein Punkt herausgegriffen: Der entscheidende Grund für die Annahme, Nietzsches hätte sich bei jenem 1865er Bordellbesuch – oder bei einem weiteren, durch ihn inspirierten – mit Syphilis ange­ steckt, wurde 1925 vom Neurologen Ernst Benda vorgetragen. Benda bezog sich auf Krankheitssymptome, die Nietzsche in einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff vom 4. August 1865 schildert. Pri­ deaux erwähnt den Namen Benda und diese Diskussion um seine Einlassung nicht mit einer Zeile und den Brief an Gersdorff gleichsam in aller Unschuld8, also ohne sich des in der Nietzscheforschung breit diskutierten Zusammenhangs mit der von Deussen geschilderten Bordellszene gewahr zu sein, schlimmer: sie erwähnt das in jenem Brief angesprochene »Rheuma im Arm« so, als sei es »zum Sammel­ surium seiner Krankheiten […] dazugekommen.« (Prideaux 2020: 63) Zweifach falsch: Rheumabeschwerden waren ein altes Thema Nietzsches schon aus der Schulzeit – diese aber vom August 1865 waren durchaus neuartig und wurden von Benda denn auch mit jenem Ereignis vom Februar 1865 oder kurz danach in Verbindung gebracht, gelten mithin als potentielle Syphilissymptome. Aber mehr als dies, und auch dazu nichts von Prideaux: Jener Brief an Gersdorff vom August 1865 wurde von anderen Nietzsche­ biographen, vor über vierzig Jahren beispielsweise von Werner Ross, im Zusammenhang gebracht mit der Schopenhauer-Entdeckung Nietzsches. Hierauf wird gleich, unter Ein Kamel kommt aus dem Tritt, zurückzukommen sein. Auch das von Deussen ausdrücklich ins Gespräch gebrachte Zarathustra-Lied Unter Töchtern der Wüste, durch das er sich an den von ihm 1901 ja nur kolportierten seinerzeitigen Bordell-Rapport Nietzsches erinnert fühlte, wird von Prideaux nicht weiter ernst genommen: »Manche« – lies: Deussen, Thomas Mann etc. pp. – »sehen darin gar einen Rückgriff auf jene Begebenheit in dem Kölner Bordell«, erfahren wir hierzu von ihr zu diesem »überaus bizarren Darin dem Herausgeber der Briefe Gesdorffs an Nietzsche, Karl Schlechta, folgend, der sich, wohl von der Schwester kontrolliert, auf die Erläuterung beschränkte: »Nietzsche war von einem heftigen Rheumatismus überfallen worden.« (Schlechta 1934: 141)

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Auch ein Versuch: Sue Prideaux

Lied, das nur so überquillt von schwülstigen Bildern« (Prideaux 2020: 331), eine Wertung, die ein wenig erinnert an jene unduldsame des Paul J. Möbius (1902; vgl. Kap. 7) und deren Brisanz sich in der Ironie verrät, mit des es wenige Zeilen später heißt: »Nietzsche selbst sah in Also sprach Zarathustra sein bedeutendstes Werk.« Nicht so Prideaux: Es sei ein besonders frustrierender und irritierender Wesenszug Nietzsches, poltert sie recht unvermittelt und gespickt mit, psycholo­ gisch betrachtet, altertümlichen trait-Vokabeln (»Wesenszug«) los, dass er »uns noch nicht einmal [verrät], was genau der Übermensch eigentlich ist.« (Prideaux 2020: 332) Wer, mit Verlaub, ist hier »uns«? Ich beispielsweise habe keine besonderen Probleme zu erkennen, »was genau der Übermensch eigentlich ist« und finde in dieser Frage verlässliche Hilfe im Nietzsche-Lexikon (s. NLex2 [Niemeyer]: 383 ff.). Nicht so, derlei Textgattungen ignorierend, Prideaux, die gleich darauf insinuiert, Nietzsche habe Zarathustra IV nur deswegen als Privatdruck erstellt und gleich darauf wieder zurückgefordert, um diesen Werkteil verborgen halten zu können vor jedem, »der sie hätte kritisieren oder publizieren können« (Prideaux 2020: 333) – zu Recht, wie die Zusammenfassung zeigt, die Prideaux von diesem Buch gibt: Zarathustra IV liest sich wie eine ausufernde Rachefantasie gegen alle, die ihm in seinem Leben Unannehmlichkeiten bereitet hatten, von Gott bis hin zu den Blutegeln, die ihm die Ärzte an den Hals gesetzt hatten, damit sie sein Blut aussaugten. (ebd.: 330)

Spätestens dieser Satz und das ihm Vorhergehende macht deutlich: Auf dem Feld gehobener Textexegese möchte diese Nietzschebiogra­ phin offenbar nicht reüssieren, lieber schon sucht sie, wie in diesem Fall, ihr Heil in der Flucht in den Witz. Die Preise dafür hat die Leserin/der Leser zu entrichten: Über eigentlich kein Werk Nietzsches findet sich in diesem Buch Erhellen­ des oder gar eine Art gehobene Inhaltsangabe – im Blick auf den Titel dieser Biographie vielleicht zu entschuldigen, weil es ja ›nur‹ um Nietzsches Leben geht. So dass man resümieren könnte, dass Prideaux über weite Strecken eine durchaus gefällig geschriebenen Überblick über Nietzsches Leben gibt, besonders anziehend dort, wo sie, wie etwa in ihren Ausführungen zur Affäre Richard Wagners mit Judith Gautier oder zur Begegnung Nietzsches mit Resa von Schirnhofer, sehr textnah operiert oder auf eigenen Vorarbeiten aufbauen kann. Dies gilt etwa für ihr Schlusskapitel und die hier platzierten Äuße­

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rungen zu August Strindberg und Edvard Munch, wenngleich hiermit ein Themenfeld berührt wird, das weit über den Untertitel hinaus­ weist und seine Begrenzung findet nicht etwa mit dem Tod Nietzsches (1900), sondern mit jenem seiner Schwester (1935). In anderen Pas­ sagen ihrer Biographie – und diese überwiegen bei weitem – urteilt Prideaux unsicher und den Forschungsstand ignorierend, etwa wenn sie (vgl. Prideaux 2020: 319), über Gespräche Nietzsches mit Josef (nicht, wie es bei ihr durchgehend heißt, »Julius«) Paneth berichtet, nicht aber darüber, dass Nietzsches Schwester 1895 anlässlich ihrer Veröffentlichung der diesbezüglichen Gesprächsprotokolle ausge­ rechnet jene Passagen in Wegfall brachte, in denen sich ihr Bruder heftig dagegen verwahrte, dass nach seinem Tod von ihm nicht zum Druck Autorisiertes in Wegfall käme. Kaum besser ihre Ausführun­ gen zu Nietzsches Arzt Dr. Otto Eiser, der kein Hindernis gesehen habe, Nietzsche eine »glückliche Ehe« (ebd.: 219) in Aussicht zu stel­ len – ohne zu monieren, dass Eisers diesen Rat überhaupt erst ermög­ lichendes Vertrauen auf Nietzsches Angabe, »dass er nie syphilitisch gewesen sei« (ebd.: 218), für einen schweren Kunstfehler Zeugnis gibt, mehr als dies: ohne zu erwähnen, dass die Eiser-Korrespondenz fast vollständig von Nietzsches Schwester vernichtet wurde und dies nicht ohne Grund geschah (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 57 ff.). Meint: Vermutlich wäre es ein Gewinn für alle gewesen, wenn sich Prideaux auf das Leben Nietzsches konzentriert und ihre Wissenslücken nicht mit billiger Polemik kaschiert hätte. Das Buch hätte dann vermutlich erst zwei Jahre später erscheinen können, wäre den über es kursie­ renden Elogen aber vielleicht ein wenig näher gerückt, unter Ein­ schluss des Attributs »filmreif«. Mitten hinein in dieses Sinnieren und Hineinmontieren dieser Rezension in das vorliegende Buch erreichte mich, nein: nicht ein Brief von Til Schweiger oder gar aus Hollywood, wohl aber, Heiligabend bei schönstem Sonnenschein aus Ditzingen, die Frage, ob ich schon einmal über die Reihe ›100 Seiten‹ gestolpert sei und da vielleicht als Autor über Nietzsche… »Fake News!«, meldete meine KI-basierte Software à la Sam Altman, seit Neuestem ausgestattet mit einer Rand­ bedingungs-Enigma. »Willst Du vielleicht selbst?«, fragte ich zurück – und bekam einen Tag später ›33,33 Seiten‹ auf den Tisch geknallt, garniert mit dem Versprechen, es handele sich um eine KI-basierte hochprofessionelle Mustererzählung zu Nietzsches Leben und Werk vom Typ New School. Ich sagte zu meinen PC »Dankeschön!« und sage hier zu meiner Leserschaft: »Bitteschön!«

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Noch ein Versuch: Niemeyer | Nietzsche. 33,33 Seiten Der Pop- und Filmkritiker Dietmar Dath meinte 2020 in seinem mir vom Verlag zum Warmlaufen übereigneten Reclam-Bändchen ›100 Seiten‹ (über Hegel): Ein deutscher Fachphilosoph, dem eigentlich bekannt ist und der auch hin und wieder darüber schreibt, dass Philosophie nicht nur akademisch, sondern auch populär sein kann, manchmal sogar beides und mitunter keins von beidem, hat bedauerlicherweise, nachdem er erfuhr, dass ich an diesem Büchlein arbeite, öffentlich seine Sorge darüber ausgedrückt, dass durch den zu erwartenden Text »Zugänge« zur Philosophie »legitimiert« würden, die seine Fachphilosophie dann wieder mühsam werde »ausbügeln« müssen. (Dath 2020: 29)

Das Einzige, was mich an diesem für ein Hundert-Seiten-Buch erstaunlich langen Schachtelsatz störte, ist die Vokabel »bedauerli­ cherweise«; ich jedenfalls freue mich schon auf jene »Fachphiloso­ phen«, die, ausgehend von Werner Stegmaiers Satz, die »akademische Philosophie [hatte] verständlicherweise Vorbehalte [gegen Nietz­ sche] und hat sie bis heute« (Stegmaier 2011: 201), den durch dieses Kapitel resp. dieses Buch gebahnten neuen Zugängen zur Philosophie Nietzsches – etwa über die Hintertreppe – zu delegitimieren suchen. Auf geht’s:

Kindheit und Jugend (1844–1864) Er hat als Kind »über alle Dinge seine eigenen Gedanken, die mit denen andrer Leute garnicht übereinstimmten« (Förster-Nietzsche 1912: 33), klagte seine Mutter Franziska dereinst über den sechsjäh­ rigen Stammhalter. Der, natürlich, wie sein Vater, Pastor werden sollte. Was an sich ganz gut klappte. »Der kleine Pastor!« lautete der Spitzname des am ›Königsgeburtstag‹, dem 15. Oktober (1844) in Röcken b. Lützen geborenen Pastorenkindes schon auf der Schule und erst recht auf der berühmten Fürstenschule Schulpforta unweit Naumburg an der Saale, deren Gymnasium der Halbwaise zunächst besuchte, ehe ihm seiner Begabung wegen ab 6. Oktober 1858 (bis 1864) ein Freiplatz an dieser vortrefflichen Bildungsanstalt zuge­ standen wurde. Abgesehen von einzelnen Streichen des nun im Inter­ nat Untergebrachten – mit Erlaubnis, am Wochenende die Familie zu

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besuchen, – war damit der Spaß vorbei: »Spazierengehen ist mir jetzt etwas ganz unbekanntes da ich stets nach den Baden sowohl der Zeit als der Kräfte dazu entbehre« (1: 13), klagte der 13-jährige gegenüber einer Tante. »Überbürdung« nannte man dies damals, unmittelbar vor Erfindung von Reformpädagogik und Jugendbewegung. »Halbwaise?« »Königsgeburtstag?«

Ja, Ersteres, weil das allseits gelobte Vorbild des »kleinen Pastors«, der große Pastor also, war nicht mehr: Nach langer Leidenszeit, haut­ nah erlebt vom Erstgeborenen, war Nietzsches Vater Carl Ludwig am 30. Juli 1849 im Alter von nur 36 Jahren einer »königlichen Krank­ heit« erlegen, dies jedenfalls in der Logik dessen, der sich den Ärzten in der Jenaer Irrenanstalt als Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) vor­ stellte (vgl. Bäumler 1989: 255) und sich 1861 im Zusammenhang der Krankheit seines Vaters notierte: Es war eine Gehirnentzündung, in ihren Symtomen (sic!) der Krank­ heit des höchst seligen Königs gleich. (BAW 1: 280)

Dem zu Ehren zu sein Familienverpflichtung war. Verdankte Nietz­ sches Vater seinem königlichen Wohltäter doch die Pfarre in Röcken aus Dank für seine Tätigkeit als Hauslehrer der Königstöchter. Und Nietzsche verdankte das Läuten der Glocken an seinen Geburtstagen sowie seinen kompletten Vornamen (Friedrich Wilhelm) dem Umstand, dass zufällig auch der König an einem 15. Oktober das Licht der Welt erblickt hatte – mit der bitteren Pointe, dass Nietzsche sich als Siebzehnjähriger von seinem Schulfreund Wilhelm Pinder ver­ spotten lassen musste, dass sein Geburtstag nun, nach dem Tod des Königs, »nicht mehr im ganzen Land gefeiert wird.« (KGB I 1: 372) Apropos: Woran war der König eigentlich gestorben am 2. Januar 1861? Ab November 1860 »hoffnungslos daniederliegend« (Mey­ ers…. 21878: 690), meldeten zeitgenössische Lexika. Der Brockhaus brachte neunzig Jahre später eine »Gesichtsrose« (171968, Bd. 6: 614) als todesursächlich ins Spiel. Hauke Reich, Verfasser des NietzscheZeitgenossenlexikon, hielt es 2004 hingegen wieder mit Meyers HandLexikon von 1878, notierte also: »entmündigt wegen Wahnsinn« (Reich 2004: 70). Die basisdemokratisch eingestellte Verdummungs­ maschine Wikipedia schließlich, traditionell Syphilis-skeptisch ein­

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gestellt, redet aktuell von zwei Schlaganfällen9 – nur einer wusste es offenbar besser: Nietzsche. So verzeichnete die Jenaer Krankenakte, lt. dortigem Eintrag vom 23. Februar 1889, Nietzsches im Zusam­ menhang seiner Syphilisdiagnose stehende Äußerung (vgl. Niemeyer 2020: 34 ff.): Zuletzt bin ich Fried Will IV. gewesen. (zit. n. Volz 1990: 394)

Begonnen hatte das in diese Pointe auslaufende einschlägige Grübeln gut dreißig Jahre zuvor. Als Nietzsche eigentlich täglich darüber nachdachte, woran sein Vater wohl verstorben sei und warum ihn der Herrgott nicht gerettet habe. So dass das Wort ›königliche Krankheit‹, angewandt auf jene des Vaters, einen verheerenden Subtext offenbart, und dies im Verein mit dem Tod von Nietzsches Brüderchen Joseph (1848–1850), der seinem Vater nur sieben Monate später ins Grab nachfolgte – fast nach Skript eines Traums, den Nietzsche als 14-jähriger gehabt haben will und der wie folgt geht, nach der Überlieferung des Textes in Aus meinem Leben: In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbniß. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt denselben (sic!). Er eilt in die Kirche und kommt in kurzen mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder die Oeffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschwall und ich erwache. – Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josepfchen (sic!) unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in Wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt. (BAW 1: 6)

Wie man sieht: Ein Lied vom Tod wie aus einem Gruselbuch, bei dem man nicht recht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Dies gilt auch für die Variante, die Nietzsche drei Jahre später, im Mai 1861 in Mein Lebenslauf, präsentierte. Spannend beim Vergleich beider Fassungen: Dass Nietzsche noch 1858 davon sprach, den »Vater im Sterbekleid« (BAW 1: 6) – und nicht etwa nur, wie es 1861 heißen wird, eine »weiße Gestalt« (BAW 1: 282) gesehen zu haben. Ein weiterer Unterschied: Nietzsche hatte 1858 von »einem kleinen Kinde« (BAW 1: 6) berichtet, 9 Dort stirbt der König selbst noch am 24. Mai 2023 an zwei Schlaganfällen, bezeugt nicht etwa durch Nietzsches Schwester, wohl aber durch seinen Flügeladjutanten….

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meinte aber 1861 nur noch, etwas gesehen zu haben, das er »nicht deutlich erkannte« (BAW 1: 282). Die Differenz mag marginal sein und sich aus der zwischen­ zeitlich verblassenden Erinnerung erklären. Es kann sich aber auch um eine motivierte Erinnerungsfälschung handeln. Hierfür spricht, dass Nietzsche die sich aus ihr ergebende Anonymisierung zweier Handlungsträger durchaus zu seinem Vorteil zu nutzen weiß: Er belegt die entstandenen zwei Leerstellen neu – und besetzt eine der zu vergebenden Rollen mit sich selbst. Kaum anders nämlich lässt sich der Umstand interpretieren, dass ihm in der Darstellung von 1861 sein Bruder Joseph zu einem »lebhaften und begabten Kind« (BAW 1: 282) gerät – eine Umschreibung, die ganz unpassend ist für einen Säugling, die aber sehr wohl auf das kindheitsbezogene Selbstbild, das Nietzsche von sich hatte, zutreffen könnte. Der Vorteil dieser Konstruktion wird nicht sogleich deutlich, springt aber ins Auge, wenn man bedenkt, dass Nietzsche vier Monate zuvor, im Januar 1861, Anlass hatte, das Rätselraten über seinen Vater mit einem Rätselraten über sich selbst zu verknüpfen: »Wenn ich nur wüßte, woher das ganze herrühre« (1: 143), schreibt der Sechzehnjährige angesichts wochenlanger Kopfschmerzen an seine Mutter, als müsse diese eine Antwort wissen. Nietzsches Antwort in Mein Lebenslauf, gelesen im Vergleich zum in Aus meinem Leben niedergelegten Lebenslauf drei Jahre vor jenen Kopfschmerzen, scheint jedenfalls klar: Die angesprochene, 1861er Anonymisierung des Vaters durch jene »weiße Gestalt« hatte offenbar den Zweck, den durch die 1858er Version erzeugten Eindruck zu tilgen, Nietzsche wolle seinen Vater als todbringend für den neu eingesetzten ersten Handlungsträger, eben für sich selbst, fingieren. Diese Tilgung sollte wiederum ver­ decken, dass dieser Fiktion der Nietzsche vom Mai 1861 sehr viel dringlicher als jener von 1858 bedurfte, weil er nun an sich selbst jene ersten Krankheitssymptome meinte ausgemacht zu haben, die, seiner subjektiven Krankheitstheorie zufolge, auf die Krämpfe des Bruders vorwegwiesen und Hochrechnungen in Richtung des väterlichen Krankheitsbildes nahelegten. Die hier verfochtene Lesart bezogen auf beide Geschichten kann problemlos gegen bisher vorliegende alternative Deutungen oder Annahmen verteidigt werden – aber dies ist andernorts nachzulesen. (vgl. Niemeyer 2020: 197 ff.; 2022: 156 ff.) Hier nur noch die These, Nietzsche sei im Verlauf seiner ferneren Entwicklung und nach Auf­ lösung einiger weiterer Rätsel, die jedem Heranwachsenden in puncto

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Sexualthematik auferlegt sind, der Annahme nahegetreten, der Tod seines kleinen Brüderchens sei Ergebnis eines Drehbuchs, das sich vom Grundmuster her in der 1878 erschienenen 2. Auflage von Mey­ ers Hand-Lexikon des Allgemeinen Wissens skizziert findet, wo es auf Seite 1894 zum Lemma Syphilis heißt: … übertragbar beim Beischlaf […] auf einer Wunde (erworbene S.), oder auf das Kind von Seiten des Mannes bei der Zeugung, von Seiten der Frau während der Schwangerschaft und des Stillens […]. Die angeborne S. zeigt sich […] bald nach der Geburt, führt häufig zum Tod der Kinder, kann aber auch bis ins späte Alter bestehen.

Sämtliche hier angeführte Informationen hätten für Nietzsche von Belang sein können, zumal bei seinem ferneren Nachdenken über Josephs Tod. Zumal selbst die Ärzte in Schulpforta zwei Jahre später über den damals 16-jährigen festhielten, sein Vater sei »jung an Gehirnerweichung« und der Sohn in der Zeit gezeugt worden, »wo der Vater schon krank war«, um fortzufahren: »Noch sind keine schweren Zeichen sichtbar, wohl aber Rücksicht auf die Antecedentien nötig.« (zit. n. Janz 1978, Bd. I: 128 f.) Auch für Otto Binswanger, der Nietzsche 1889 in der Jenaer Irrenanstalt behandelte, war »wahr­ scheinlich die ›Hirnerweichung‹ des Vaters, im engeren Sinne als ›Paralyse‹ aufgefasst, Grund genug, einen engen Zusammenhang zwischen Erkrankung von Vater und Sohn im mittleren Lebensalter anzunehmen« (Volz 1990: 36) – was im Übrigen auch Nietzsche tat, wie gesehen. Die Schulepisode Nietzsches können wir indes nicht verlassen ohne Hinweis auf den geradezu anti-bürgerlichen wie anti–christli­ chen Bildungskanon, den sich Nietzsche, fraglos auch gegen-schu­ lisch, zusammenlas. Ein Beispiel ist hier Jean Paul (1763–1825), den der Vierzehnjährige vor allem seines »satyrischen Witz[es]« wegen zu einem seiner zukünftigen »Lieblingsschriftsteller« (KGW I, 2: 123) erklärte. Noch gewichtiger: Der englische Romantiker, Dandy und Bürgerschreck George Gordon Lord Byron (1788–1824) (vgl. Large 2019: 121 f.). Nietzsches Würdigung im Dezember 1861 in einem Vortrag für die Germania, einem mit seinen Naumburger Schulka­ meraden Gustav Krug und Wilhelm Pinder gegründeten Bildungs­ verein, ist beredt: Wenn man bedenkt, daß Byron frei von aller Religiösität, ja über­ haupt von allen Gottesglauben ist, unbeständig in der Liebe, sinnliche

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Genüsse im Uebermaße schöpfend [...], so muß man wahrhaftig die überaus große Genialität seines Geistes anstaunen. (KGW I/2: 349)

Ein wüstes, gleichwohl geistvolles Leben als Vorrecht des Atheisten? Fast blasphemisch musste dem sechzehnjährigen Pastorensohn diese Perspektive anmuten, aber auch verlockend, eröffnete sie doch den Ausblick auf ein Leben jenseits der »Naumburger ›Tugend‹« (6: 256) und mithin jenseits von Gut und Böse. Wie ein später Widerhall wirkt in dieser Frage der halb-pornographische Abschnitt Unter Töchtern der Wüste aus Zarathustra IV (1885), den Nietzsche, leicht verän­ dert, auch in seine Dionysos-Dithyramben (1888) aufnehmen wird. Bemerkenswert dabei: Die Namen der hier in einschlägiger Tätigkeit porträtierten sphinxhaften Huren entlehnte Nietzsche einschlägigen Werken Byrons (vgl. Köhler 1989: 64). Verlassen wir diesen Abschnitt mit dem Befund, dass in Naum­ burg allmählich still auseinanderwächst, was nicht zusammengehört: Nietzsches Mutter, als Pastorentochter kulturskeptisch aufgewachsen und als schwer trauernde junge Witwe sich nach baldiger Wider­ vereinigung mit dem verewigten, von ihr als gottgleich fingierten Gatten sehnend, die nach dem Tod auch noch ihres Jüngsten aus dem Pfarrhaus ausziehen muss, via Naumburg. Mit an Bord und klar dominierend: die verwitwete Schwiegermutter und eine unverheira­ tete Tante. Also vier Erzieherinnen (die 1846 geborene Schwester Elisabeth mitgerechnet) am Stück sowie am nämlichen Strick ziehend namens: »Du, Fritz, musst uns allen alles sein und später, sollte Sie nicht heiraten, auch Deiner Schwester!« (vgl. Niemeyer 1998: 17) So war es fraglos eine Erlösung für Nietzsche, als er sich endlich zum Wintersemester 1864/65 an der Universität Bonn für Theologie und Philologie immatrikulieren konnte mit dem Berufsziel Pastor. So jedenfalls waren die Naumburger überzeugt.

Ein Kamel kommt aus dem Tritt Pech gehabt, Naumburger: Schon zum zweiten Semester hin gibt Nietzsche die Theologie preis. Erklärt seiner Schwester, im Juni 1865, es sei an der Zeit, »im Kampf mit Gewöhnung neue Bahnen zu gehn.« (2: 60) Nur: Ist das von Nietzsche nun ausschließlich studierte Fach, die Altphilologie, wirklich geeignet, »neuen Bahnen« Rechnung zu

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tragen? Nietzsche ist skeptisch, notiert sich nach seinem Wechsel an die Uni Leipzig: Der Philologe liest noch Worte, wir Modernen nur noch Gedanken. (BAW 5: 268)

Klingt irgendwie cool, nur: Wer ist das »Wir Modernen«? Ein Fach? Eine Szene? Die Avantgarde? Und: Kann man davon leben, ernährt das seinen Mann? – Fragen, die ihn zu Hause erwarten, neben jener Dauerfrage seiner Mutter und der anderen Witwen und Tanten um sie herum: Was ist mit der Theologie? Krasser: Wie – so eine Tante – heißen die Kirchen in Bonn (oder Leipzig) und welche Predigt hat Dir am besten gefallen, lieber Fritz? Am Ende dieser Folter und jener, die ihm sein ›Doktorvater‹ Friedrich Wilhelm Ritschl (1806– 1876) zumutet, indem er ihn ein Register für ein von ihm heraus­ gegebenes Altphilologie-Periodikums erstellen lässt, gleichsam als Doktorarbeits-Ersatz, ist Nietzsche entsetzt und legt im Oktober 1868 seinem Studienfreund Paul Deussen gegenüber Verwahrung ein gegenüber Wissenschaftlern (wie Ritschl), die »abgezehrten Lei­ bes, mit vertrockneten Adern, welkem Munde das Blut junger und blühender Naturen aufsuchen und vampyrartig aussaugen.« (2: 329) Als Nietzsche dies niederschrieb, hatte er längst schon einen anderen Heroen im Visier, nämlich Arthur Schopenhauer (1788–1860), der, seinerseits ohne Professur, für seinen Spott über Altphilologen und ›Universitätsphilosophen‹ berühmt-berüchtigt war und dem Nietz­ sche die Kritik entlehnte, die »Kärrner« hätten unter sich einen »Arbeitsvertrag« geschlossen und »das Genie [also ihn; d. Verf.] als überflüssig decretirt« (I: 301) Entdeckt haben will Nietzsche Schopenhauer bzw. dessen Haupt­ werk Die Welt als Wille und Vorstellung (1851) im Herbst 1865 in einem Leipziger Antiquariat. Die in diesem Zusammenhang gewählte Darstellung Nietzsches, ihn habe damals über Tage hinweg ein »Bedürfniß nach Selbsterkenntniß, ja Selbstzernagung« gepackt, nährt den Verdacht, Nietzsche habe seinerzeit einen höchstpersönli­ chen Grund zur Selbstanklage gehabt. Worum es sich dabei handeln könnte, deutet Nietzsche an, wenn er die Darstellung wählt, ihm habe seinerzeit ein »Dämon« zugeflüstert: »Nimm Dir dieses Buch mit nach Hause.« (KGW I/4: 513) Denn diese Worte finden sich auch in den Confessiones des Augustinus, und zwar gesprochen von einem Kind, das Augustinus veranlasst, jene Stelle des Römerbriefs aufzu­ schlagen, in der Paulus die Gläubigen ermahnt, »vom Saufen und

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Fressen und Huren und Streiten abzulassen.« (Ross 1980: 157) War Nietzsche also in eben jenem Herbst 1865 einer analogen Bekehrung bedürftig? Einiges spricht für diese Annahme, etwa ein noch aus Bonn geschriebener Brief Nietzsches (vom August 1865) an seinen Freund Carl v. Gersdorff (1844–1904), in dem er diesem darüber berichtet, dass er an einigen Festen teilgenommen habe, aber in den letzten Wochen wegen Krankheit im Bett liegen müsse. Denn die Krank­ heitssymptome, die Nietzsche beschreibt – Rheumatismus, »der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne« (2: 76) –, galten zumindest dem Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum (1947: 16) als Anzeichen für den Beginn des sekundären Stadiums der Geschlechtskrankheit Syphilis. Diese Frage liegt manch einem aus der Nietzscheforschung so fern wie nur irgendetwas. Dabei scheint die Antwort umstandslos möglich, wenn wir Nietzsches Brief vom 4. August 1865 aus Bonn an Carl von Gersdorff in Göttingen einbe­ ziehen, insbesondere den Passus: Mein lieber Freund, wie schaal und langweilig sind alle diese Notizen. Ebenso nüchtern zähle ich einige Feste auf, an denen ich schöne und glückliche Augenblicke – und das Glück zählt nach Augenblicken – genossen habe. So nenne ich in erster Reihe das Kölner Musikfest. (2: 75 f.)

Ein brisanter Hinweis, wenn man den unmittelbar nach Nietzsches Tod durch seinen Freund Paul Deussen (1901) plausiblen gemachten Bordellbesuch Nietzsches im Februar 1865 bei jenem Fest bedenkt. Vergleichbar brisant der dann auf die unerwünschten Nebenfolge dieser Abenteuers beziehbare Erläuterung: Ich bin die letzten Wochn immer krank gewesen und habe viel zu Bett gelegen, sogar in jenen glühenden Tagen; mein Leiden ist ein heftiger Rheumatismus der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verursacht. Ich bin durch diese fortwährenden Schmer­ zen sehr abgemattet und meistens ganz apathisch gegen Außendinge. (2: 76)

Der Rückschluss fällt nicht schwer: Was Nietzsche hier beschreibt, ähnelt verdächtig jenen Plagen, von denen er noch Monate später in Leipzig heimgesucht wird, im Zusammenhang seiner ›SchopenhauerEntdeckung‹. Aber, und auch dies muss beachtet werden: Schon zwei Monate vor dem Gersdorff-Brief, am 11. Juni 1865, hatte Nietzsche in einem Brief an die Schwester darüber geklagt, er leide, »beiläufig

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bemerkt, seit den letzten Ferien an starkem Rheumatismus in dem linken Arm« (2: 62), eine Klage, die in einem weiteren Brief an Mutter wie Schwester vom 10. Juli 1866 erneuert wird: »Ich leide heftig an Rheumatismus.« (2: 74) Die Äußerung von Sue Prideaux, zum »Sam­ melsurium seiner Krankheiten war auch noch Rheuma im Arm dazu­ gekommen« (Prideaux 2020: 63), verrät jedenfalls medizinisches Laientum sowie die Unkenntnis von Pia Daniela Volz. Diese hatte, als Medizinerin, vor über dreißig Jahre nicht ausgeschlossen, »daß als Verursachung der rheumatoiden Beschwerden des Sommers 1865 durchaus eine venerische Infektion in Frage kommt.« (Volz 1990: 302) Allerdings weist sie gleich im nächsten Satz darauf hin, dass Rheumatismus ausweislich des Krankenbuchs von Schulpforta ein altes Thema ist – was wiederum erklären könnte, dass sowohl die erwähnten Verwandten-Briefe ohne Antwort blieben oder diese jedenfalls nicht überliefert sind. Denn Schwester wie Mutter dachten womöglich, es handele sich beim vom Filius Geschilderten um die Wiederkehr eines alten Problems. So wurde in jenem Krankenbuch »Rheumatismus« zum ersten Mal für März 1859 notiert, dann wieder, als »Rheumatischer Hals- und Kopfschmerz«, für Ende Januar 1861, schließlich ähnlich für den November 1961, dann nochmals für November 1862 – Anlass genug für die Ärzte in Schulpforta für ihren Ende des letzte Abschnitts angegebenen Zwischenbefund. Damit gewinnt die Rheumatismus-Spur, zumal jene von 1865, an Brisanz. Denn an sich hat diese Autoimmunkrankheit mit der infektiösen Geschlechtskrankheit Syphilis so gut wie nichts zu tun – was man a) allerdings erst heute weiß und b) seinerzeit in Nietzsches Kopf unheil­ voll zusammengewachsen sein könnte. Mit der Folge der subjektiven Krankheitstheorie Nietzsches, wonach sein Rheumatismus und die ›Gehirnerweichung‹ seines Vaters im Zusammenhang gesehen und im Duo als Syphilisindiz gelesen werden könnten. Unterm Strich bleibt mit Seitenblick auf die Krankengeschichte vergleichbarer Syphilitiker wie Alphonse Daudet (1840–1897) sowie Guy de Mau­ passant (1850–1893) (vgl. Niemeyer 2022), die Frage, ob nicht Dau­ dets Rheumatismus ebenso wie jener Maupassants als auch derjenige Nietzsches weitaus ernster genommen hätten werden müssen, zusätzlich: Wieso eigentlich niemand der Mediziner, die sich in jün­ gerer Zeit in puncto Nietzsche mittels Ausschlussdiagnosen in Sachen Syphilis hervortaten – wie etwa Richard Schain (2001) –, die erwähn­ ten Briefe thematisiert hat. Gesetzt jedenfalls – was man wohl setzen

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darf –, dass Ausschlussdiagnosen das sie definierende Merkmal nicht gewinnen durch Ausschluss konkurrierender Befunde. Wer derlei Einwände für kleinlich erklärt und die Frage, ob Nietzsche nun Syphilis hatte oder nicht, für unwichtig, sollte die Folgen bedenken: Der hier verfolgten Annahme nach verdüsterte das Nietzsche im Herbst 1865 zur Gewissheit gewordene Wissen, an einer damals unheilbaren Geschlechtskrankheit mit mutmaßlichem Ende in Demenz zu leiden, nie heiraten und unter keinen Umständen Kinder zeugen zu dürfen, sukzessive seine an sich so zukunftsfrohe Philosophie, ließ ihn, hin und wieder, mächtig aus den Tritt geraten.

Wagnerianer wider Willen Nietzsches noch als Student im November 1868 aufbrechende Begeis­ terung für Richard Wagner kam durchaus überraschend für seine (Naumburger) Freunde. Extrem geschönt aus, wie man vermutend darf: Harmoniebedürfnis am Ende des sich abzeichnenden Lebensen­ des ist beispielsweise Nietzsches Bemerkung aus Ecce homo: Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab [...], war ich Wagnerianer. (VI: 289)

Die Fakten sehen jedenfalls anders aus: Nietzsches erster Kontakt mit Wagners Tristan und Isolde, für Weihnachten 1860 im Elternhaus seines Freundes Gustav Krug geplant, aber erst Ostern 1861 realisiert, war eher unglücklich verlaufen, ähnlich wie der zweite in den Herbst­ ferien 1862, der Nietzsche veranlasste, in einer nur noch als Fragment erhaltenen Ausarbeitung in Anspielung auf Krug den denkwürdigen Satz niederzulegen: [A]uch über dich und deinen Verstand schütteln manche Leute die Köpfe, wenn du wie niedergeschmettert von der Macht der Musik vor den leidenschaft Wogen Tristan und Isoldes dastehst. (KGW I/2: 474)

Der so Gescholtene zeigte auch in der Folge die später (ab 1868) auch bei Nietzsche beobachtbaren Symptome des kritiklosen Wag­ nerianers, kulminierend in einem Weckruf vom Mai 1864 unter Bezug auf eine Tannhäuser-Aufführung in Karlsruhe: »Ich wünschte Dich herbei, lieber Fritz, ich glaube Du hättest meine Freude geteilt über diese famose Oper.« (KGB I/1: 422) Nietzsche, sich zu dieser

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Wagnerianer wider Willen

Zeit in Pforta auf das Abitur vorbereitend, blieb in seiner Antwort demonstrativ gelassen: Er säße gerade an einer Arbeit über Theognis, ein Konzert habe es zwar auch gegeben, aber, und hier kommt es auf jedes Komma an: »vielmehr eine Vorlesung, denn das Konzert war die Nebensache.« (1: 283) Nietzsches geistige Welt, so kann man dieser kleinen subtilen Spitze entnehmen, war damals noch in Ordnung und wusste sich ungestört von jener schwärmerischen Selbstverlorenheit, der sich der hoffnungslose Wagnerianer Krug schon längst nicht mehr zu entziehen vermochte. Freilich: Diese Gelehrtenattitüde eines angehenden Philologie­ studenten, der anderen jenen Kunstgenuss durchaus gönnt, den er sich selbst im Namen der Wissenschaft versagen muss, verging Nietzsche in der Folge gründlich. Der endgültige Durchbruch hin zu Wagner vollzog sich, als Nietzsche in Leipzig der Aufführung der Ouvertüren zu den Meistersingern sowie zu Tristan und Isolde beiwohnte und nachher zugesteht, er habe »lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt.« (2: 32) Der erste Akt des nun anhebenden, von Sue Prideaux, wie einleitend dieses Kapi­ tels dargelegt, komplett verschenkten psychologiegeladenen Dramas ging, wie dort gezeigt, im November 1868 in Leipzig über die Bühne. Zunächst freilich ging alles noch seinen freundlichen Gang, als beide sich ein halbes Jahr nach ihrer ersten Begegnung in Leipzig (im November 1868) wiedersahen. Wagner bewohnte damals auf des Königs Kosten eine herrschaftliche, am Vierwaldstätter See gelegene Villa, zusammen – und zunächst in Unkenntnis des Königs – mit einer in Scheidung lebenden Baronin, der Liszt-Tochter und zweifachen Mutter Cosima v. Bülow (1837–1930), die ihrerseits hochschwanger war, von Wagner, mit dem sie bereits zwei weitere Kinder hatte und den sie dann im August 1870 heiraten sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren dies also delikate und für einen Pastorensohn wie Nietzsche durchaus anstößige Verhältnisse. Der Sache nach freilich war Nietz­ sche, dessen Gehalt in Basel noch nicht einmal zur Zahlung der Miete in Tribschen ausgereicht hätte, deutlich beeindruckt – eine Art Bilderbuchkarriere für einen, der gerade erst seiner Leipziger Stu­ dentenbude entwachsen war und sich schon in Tribschen mit einem eigenen Zimmer ausgestattet sah sowie schließlich selbst zu Weih­ nachten mit einer Selbstverständlichkeit erwartet wurde, als gehöre er bereits zur Familie. Kein Wunder also, dass Nietzsche Weihnachten 1872, in seinem Cosima Wagner zu deren 35. Geburtstag gewidmeten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Dank zu sagen wusste,

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indem er die Kultur zu einem allererst durch Sklavenarbeit ins Werk gesetzten »bluttriefenden Sieger« erklärte – eine Formulierung, die dann unanstößig ist, wenn man sie als analytischen Satz auf die Antike bezieht. Nietzsche indes begehrte nach zeitdiagnostischer Nutzan­ wendung – und leitete ab, dass hier »der Quell jenes Ingrimms [liegt], den die Kommunisten und Socialisten [...] jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen das klassische Altertum genährt haben.« (I: 767 f.) Dies war, an Cosima adressiert, eine Botschaft nicht ohne Hintersinn. Denn die Mittel für Tribschen hatte zwar der König aufgebracht, aber die Masse erwirtschaftet. Dieses Problem, das nach geistiger Adelung rief, war wie geschaffen für den im Gegensatz zu Wagner vom 1848er Geist gänzlich verschont gebliebenen Nietzsche. »Wir vernichten die Brüderlichkeit [...], insofern wir uns auf Kosten Andrer zu leben beru­ fen fühlen« (VII: 138), hatte er sich schon 1870/71 notiert. Aber dies war nicht etwa Indiz für das erste Stadium der Selbst- und vor allem Wagner-Kritik; es war vielmehr das nüchterne Protokoll einer grau­ samen Wahrheit, die vor allem eines nicht in Frage zog: dass man berufen sein müsse, um so leben zu dürfen. Erst Jahre später, in Ecce homo, erkannte Nietzsche, das sein via Wagner scheinbar erfüllbares »Bedürfnis nach einer Betäubung des Öde- und Hungergefühls durch eine narkotische Kunst« ohne seine »instinktwidrig gewählte Thätigkeit« (als Philologieprofessor in Basel) erst gar nicht bestanden hätte, folgernd: Eine Widernatur erzwingt förmlich eine zweite. (VI: 325)

Diese Verzögerung im kritischen Zugriff mag dann auch erklären, warum Nietzsche Wagners Antisemitismus sowie dessen ›Philoso­ phie‹ zunächst kaum als anstößig empfand, auch nicht in seinem ›Erstling‹, Die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie. Für Kritik oder gar Selbstkritik fand Nietzsche vorerst nicht die Kraft – abgese­ hen von einer Perfidie Wagners, die ihn sprachlos machte. Gerüchten zufolge sollte er Nietzsches Frankfurter Arzt, ein überzeugter Wag­ nerianer namens Otto Eiser (1834–1897), im Oktober 1877 mit seiner Vermutung konfrontiert haben, Nietzsches Ehelosigkeit sei Folge der Onanie. Dass sich hinter diesem Hinweis die Befürchtung verbarg, Nietzsche könne, ähnlich wie Ludwig II., homosexuell sein, lässt sich einem zeitgleichen Brief Cosimas an Malwida v. Meysenbug entneh­ men (vgl. Köhler 1989: 176 f.). Eiser jedenfalls ließ sich dazu verleiten, Wagner seinen Befund anzuvertrauen – und gab Nietzsche offenbar auch Kenntnis von Wagners Brief. Diesen Rückschluss erlaubt eine

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Wagnerianer wider Willen

erstmals 1981 veröffentlichte Anekdote Eugen Kretzers (vgl. Gilman 1981: 345), deren Glaubwürdigkeit durch den folgenden, 1879 veröf­ fentlichten Aphorismus Nietzsches untermauert wird: Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert muthig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los. (II: 406)

Dass Nietzsche bei diesem Aphorismus an Wagner dachte, macht ein nach Wagners Tod (1883) verfasster Brief Nietzsches an Köselitz wahrscheinlich, in welchem darüber Klage geführt wird, dass Wagner mit seinen Ärzten Briefe gewechselt habe, »um seine Überzeugung auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürli­ cher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie.« (6: 365) Erklären lässt sich mit dieser von Nietzsche als »tödliche Beleidigung« verbuchten Erfahrung (vgl. Niemeyer 1998: 211 ff.) allerdings allen­ falls die Drastik des Ausdrucks in manch späterer Äußerung Nietz­ sches über Wagner, nicht aber die aus der Sache sich begründende tiefgreifende Entfremdung zwischen beiden. In diesem Zusammen­ hang wird man nicht die rückblickende Bemerkung Nietzsches aus einem Brief an Overbeck vom 2. April 1884 außer Acht lassen dürfen: Die verfluchte Antisemiterei [...] hat R(ichard) W(agner) und mich verfeindet.« (6: 493)

Denn es ist zwar nicht zu leugnen, dass Nietzsche zu Tribschener Zei­ ten an Wagners Antisemitismus keinen Anstoß nahm. Andererseits aber fällt auf, dass Nietzsche ausgerechnet in der Zeit seiner Ablösung von Wagner Erfahrungen machte, die ihm »eine sehr grosse Erwar­ tung« eingaben gerade bezogen auf »Jünglinge« jüdischer »Herkunft« (5: 274). Nietzsche dachte dabei vor allem an Paul Rée, Autor einer an den französischen Moralisten geschuldeten Aphorismensammlung mit dem Titel Psychologische Betrachtungen (1875). Nietzsche war Rée, der seit 1874 in Basel studierte, im März 1876 nähergekommen, um in der Folge u.a. mit Rée jenen Winter in Sorrent zu verbringen, vertieft in gemeinsame Arbeit und gleichsam die »Flitterwochen« (Rée) ihrer Freundschaft (KGB II 6/2: 717) krönend. Wagner wurde zufällig Zeuge der in diese Pointe – von Nietzsche ironisch auch »Réealismus« (5: 346) genannt – auslaufenden Freundschaft, als er mit Cosima im Oktober/November 1876 gleichfalls in Sorrent Station machte.

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Fortan und zumal nach Erscheinen von der Aphorismensammlung MA, die Nietzsche mit dem Vermerk herausgehen ließ, er wolle im Vorfeld von Voltaires 100. Todestag (am 30. Mai 1878) einem der »grössten Befreier des Geistes« (II: 10) eine persönliche Huldigung darbringen, galt Nietzsche in Bayreuther Lesart als Opfer des Juden Rée und dessen Begeisterung für die französische Aufklärung, unter ihnen herausragend: Voltaire (vgl. Niemeyer 2019: 174 ff.). Und dass Nietzsche, wie er in einem Briefentwurf an die Wagners meinte (s. 5: 298), in diesem Buch die Peripherie seines ›eigenen Denkens‹ nun zum ersten Mal umlaufen habe, meinte unausgesprochen zugleich, dass Wagner ihn bisher immer für ›fremdes Denken‹ instrumentali­ siert hatte. Damit war das Wagnerkapitel in Nietzsches Biografie der Hauptsache nach abgeschlossen war. Ähnlich verhielt es sich mit der Professorenkarriere.

Professor Nietzsche: Ein Nachwuchsstar wirtschaftet ab Der Start in Basel als Protegé Ritschls war ein glänzender für Nietz­ sche, von Leipzig her »Ritschelianer« (zit. n. Gilman 1981: 65), der seinen Förderer mit Vorliebe als »Vater Ritschl« (BAW 3: 305) titu­ lierte. Und doch: ›Vater‹ ist das eine, ›Vatermord‹ das andere, »Vater­ übertragung« (s. NLex2 [Niemeyer]: 390 ff.) das Dritte. Nietzsche jedenfalls erkannte rasch Ritschls dunkle Seite, nämlich eine unbe­ dingte »Überschätzung seines Fachs« und die entsprechende Abnei­ gung, »daß Philologen sich näher mit der Philosophie einließen« (BAW 3: 305) – Wertungen, die sich auch in Briefen aus dem Jahr 1868 niederschlugen. Grundlagen für eine in diese Richtung weisende Philologiekritik hatte Nietzsche in Leipzig gelegt in der Absicht, die philologische Textkritik eher den hermeneutischen Verfahren der Geisteswissenschaften einzuarbeiten, anstatt beharrlich dem Streben nachzugeben nach einer von Inhalt und Kontext weitgehend abse­ henden präzisen Textentzifferung. Unter dem im Herbst 1865 anhe­ benden Einfluss Arthur Schopenhauers (1788–1860), der, seinerseits ohne Professur, für seinen Spott über die ›Universitätsphilosophen‹ berühmt-berüchtigt war, verstärkte sich diese philologiekritische Position, und dies keineswegs zur Freude des Schopenhauerskeptikers Ritschl. Nietzsche, der sich zusätzlich für Richard Wagner (1813– 1883) zu erwärmen begann, gab denn auch der Gattin seines ›Dok­ torvaters‹ im Juli 1868 fast schelmisch zu verstehen:

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Die Pferdefüße Wagners und Schopenhauers lassen sich schlecht verstecken. (2: 299)

Nachdem Nietzsche, im November 1868, in den Sog Wagners geraten war, entwickelten sich die Dinge in Basel in eine eher schwierige Richtung, dies insbesondere im Nachgang zu Nietzsches Antrittsrede vom 28. Mai 1869. Nietzsche hatte hier den »Beistand der Künstler« (BAW 5: 287) für eine Philologieauslegung gefordert, die in den Stand setze, Modernisierungs- und Kulturkritik zu leisten. Nur auf diesem Weg könne die Philologie jene »Scheinmonarchie« (BAW 5: 285) beenden, mit der sie sich solange begnügen müsse, solange sie ihre Ordnungsfunktion gegenüber den an ihrem Gewerbe zu beteiligen­ den disziplinären Sehweisen nicht ausübe. Dies war eine Konzeption, die in Richtung Wagners wies und die insoweit die Philologieüber­ windung Nietzsches ebenso forcierte wie seine Unzufriedenheit in Basel – und vice versa. Wie weit und wie rasch diese Entwicklung voranschritt, wurde im Januar 1871 deutlich: Nietzsche bewarb sich auf einen vakanten philosophischen Lehrstuhl in Basel – und scheiterte kläglich. Hinzu traten bald Zweifel über den Wert der Wagner Anfang 1872 noch mit Stolz dedizierten Geburt der Tragödie. Eigentlich hatte Nietzsche vor­ gehabt, sich mit diesem seinem ›Erstling‹ für die Bewerbungspanne vom Januar 1871 zu rehabilitieren und erstmals auch als Philosoph Anerkennung zu finden. Dies freilich ging gründlich schief: Wagner war zwar begeistert, aber Ritschl antwortete erst auf erneute Nach­ frage, demonstrativ reserviert. In der Folge wurde diese Schrift von den Philosophen totgeschwiegen und von den Philologen als das Werk eines Zunftgenossen gelesen, der sich in seinen Ambitionen verstiegen hatte. Nachdem im August 1873 auch noch Nietzsches erste Unzeitgemäße Betrachtung David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller erschienen war, die letzte Liebesgabe Nietzsches auf dem Altar Wagners, schien Nietzsches Schicksal besiegelt: Bei seinem Besuch Ritschls musste er sich von diesem »in einer halben Stunde ein schnell gesprochenes Wort-Feuer« (4: 187) anhören, das ihm verdeutlichte, wie sehr ihn sein ehemaliger Förderer als einen unzeitgemäßen Wirrkopf abzustempeln im Begriff stand. Zum Trost gereichte Nietzsche in dieser Situation die Erinnerung an seine soeben abgeschlossene zweite Unzeitgemässe Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in welcher Nietzsche ein Loblied auf die Jugend angestimmt hatte:

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Diese Jugend [...] glaubt [...] einer kräftigeren Gesundheit [...] sich berühmen zu dürfen als ihre Vorgeschlechter, die gebildeten ›Männer‹ und ›Greise‹ der Gegenwart. Ihre Mission [...] ist es, die Begriffe, die jene Gegenwart von ›Gesundheit‹ und ›Bildung‹ hat, zu erschüttern und Hohn und Hass gegen so hybride Begriffs-Ungeheuer zu erzeugen. (I: 331)

Nietzsche hatte sich nicht verkalkuliert: Mit derlei Sätzen vermochte Ritschl, der sich hier als ›Greis‹ (der Gegenwart) verspottet sah, nichts mehr anzufangen – ebenso wenig wie mit Nietzsche, der sich in seiner Stellung als Baseler (Alt-)Philologe nun zunehmend gefährdet sah und allein noch auf Zuspruch Wagners hoffen durfte. Dieser blieb denn auch nicht aus, wenngleich die allmählich anhebende Distanz Nietzsches mit Händen zu greifen ist. So feierte Nietzsche Wagner zwar im Mai 1874 als seinen »Vater«, dessen Geburtstag er auch zur Feier seiner eigenen, geistigen Geburt begehe. Zugleich aber stand für ihn zu eben jener Zeit durchaus in Frage, ob er jenes geistige Erbe Wagners wirklich weiterhin tradieren dürfe, und verantwortlich dafür war, wie man vermuten darf, Cosima Wagner, die Nietzsche mit Blick auf den überraschend Tod von Strauss (am 8. Februar 1874) rüde wissen ließ: Einer unserer Freunde schrieb mir Sie hofften dass Strauss Ihre Schrift nicht mehr habe kennen gelernt; ich finde dass diess ganz gleichgültig ist, erstens gehört Strauss gewiss […] zu denen die sich selbst bewun­ dern, und darin nicht irre machen lassen, zweitens gestatte ich keinerlei Sentimentalitäten in Dingen des Geistes, und es bleibt sich darin gleich ob einer krank oder sterbend ist wenn er schädlich erscheint« (KGB II/4: 414).

Dies war deutlich – und dürfte Nietzsche darüber belehrt haben, was ihm blühen würde, wenn die Wagners dereinst beschließen sollten, ihn als ›schädlich‹ zu definieren. Auffällig ist jedenfalls, dass in jener Zeit die ersten kritischen Niederschriften Nietzsches über Wagner einsetzten, die den endgültigen Bruch vom Sommer 1876 vorbereiten halfen. Förderlich für diese Loslösung war freilich auch Nietzsches Fest­ spielerlebnis: Von Kopfschmerzen geplagt und mit Grauen vor den »langen Kunst-Abende[n]« (5: 180), reiste er enttäuscht wieder ab, um als zentrale Lektion die Botschaft mitzunehmen: »Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf unsre Aufgabe zweifeln wollen« (II: 373). Nietzsche nahm sich nun also endlich jenes Recht – und konzipierte auf seiner ›Bayreuthflucht‹ und einem

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dreiwöchigen Aufenthalt im Bayerischen Wald erste Aphorismen für sein im Januar 1878 abgeschlossenes Buch Menschliches, Allzu­ menschliches. Weitere Ausarbeitungsschritte erfolgten im anschlie­ ßenden Winter in Sorrent auf Einladung Malwida von Meysenbugs. Es war diese Einladung, die Nietzsche auf die Idee brachte, einen mindestens einjährigen (Forschungs-)Urlaub zu beantragen, der im Oktober 1876 genehmigt wurde. Damit waren die Würfel gefallen: Nietzsche begann jene Lebensform zu realisieren, die er erstmals im April 1872 und spätestens seit 1874 immer wieder ersehnt hatte und die ihn Bayreuth nun auch räumlich fern rücken ließ. Im Novem­ ber 1877 wurde Nietzsche wegen andernfalls drohender Erblindung auch für das Wintersemester 1877/78 von seiner Lehrtätigkeit am Pädagogium entbunden, eine Befreiung, die dann im März 1878 auf Dauer ausgesprochen wurde. Als sich Nietzsches Gesundheits­ zustand im Verlauf des Jahres 1878 weiter verschlechterte, war das Finale unausweichlich, zumal die Jahresbilanz insgesamt eine über­ aus bedrückende war, am Exempel einiger Daten gesprochen: Im Dezember 1877 Bruch der Freundschaft (bis Dezember 1881) mit v. Gersdorff; im März 1878 Konkurs des ersten Verlegers (Fritzsch); im April 1878 Wegzug von Köselitz nach Venedig; im Mai 1878 Tod des Sorrentiner Miturlaubers Albert Brenner; im Juni 1878 Rückkehr von Nietzsches Schwester nach Naumburg und Auflösung des mit ihr seit September 1877 in Basel geführten Hausstandes mit der Folge, dass Nietzsche fortan unter äußerst bescheidenen Umständen ein stadtfern gelegenes kleines möbliertes Zimmer bewohnte, wo er infolge der zwischenzeitlichen Verheiratung fast all seiner Jugendund Studienfreunde weit weniger Besuch als früher erhielt. Zwar ging Silvester 1878 noch ein neues Druckmanuskript an den Verlag, das unter dem Titel Vermischte Meinungen und Sprüche 1879 separat erschien und 1886 zusammen mit der 1880 herausge­ brachten Fortsetzung Der Wanderer und sein Schatten zu Menschli­ ches, Allzumenschliches II vereinigt wurde. Aber der Text selbst war sowohl vom Inhalt her als auch wegen der auch hier bevorzugten aphoristischen Form kaum dazu angetan, Nietzsche größere Anhän­ gerschaft zu sichern. Auch hatte Nietzsche seiner Augenschwäche nun auch unter textkompositorischen Gesichtspunkten Tribut zu zollen. So kam es, wie es kommen musste: Am 2. Mai 1879 bat Nietzsche darum, aus dem Universitätsdienst entlassen zu werden, ein Gesuch, das Mitte Juni bei einem Ruhegehalt von 2/3 der zuletzt erzielten Einnahmen bewilligt wurde. Damit hatte Nietzsches Leben als Pro­

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fessor, aber auch sein Leben an einem Ort und mit einer eigenen Unterkunft, ein Ende.

Der Löwe bricht aus und wird wieder Kind Die Jahre der »Dachstuben-Einsamkeit« (6: 49) und des Aufschrei­ bens des zuvor auf langen Wanderungen Erdachten begannen mit der Haushaltsauflösung in Basel und ersten Versuchen, bei Davos eines seiner Gesundheit förderlichen Sommerdomizils habhaft zu werden. Das Ergebnis freilich blieb zwiespältig, wie ein Brief vom Januar 1880 belegt: Meine Existenz ist eine fürchterliche Last […]: Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit verwandtes Gefühl einer Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwerfällt, zur Abwechslung wüthende Anfälle (der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen, Bergluft, Milch- und Eier-Diät. (6: 3)

Skizziert ist damit zugleich auch der Tagesablauf, der von nun an der für Nietzsche typische sein wird bei seinem Leben in einer der Pensio­ nen, die er im Winter in Italien und im Sommer bevorzugt im Engadin, ab 1881 (außer 1882) in Sils-Maria (heutzutage Nietzsche-Museum und -Bibliothek mit Wohn- und Arbeitsmöglichkeit), bewohnt. Als Deussen ihn dort im September 1887 nach vierzehnjähriger Trennung wiedersieht, zeigt er sich erschüttert angesichts des zwischenzeitlich stattgehabten Niedergangs: Das war nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. Nur mühsam und etwas nach der Seite hängend, schien er sich zu schleppen, und seine Rede wurde öfter schwerfällig und stockend. (Deussen 1901: 92)

Dieser krankheitsbedingten Tragik steht der Misserfolg als Autor zur Seite. Sowohl die beiden Nachträge zu MA, Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) sowie Der Wanderer und sein Schatten (1880), erweisen sich als kapitale Flops, auch die Morgenröthe (1881) traf auf wenig Resonanz. Im Januar 1882 war Nietzsche wieder einmal ganz begeistert von einem neuen Buch – den ersten Kapiteln von Die fröh­ liche Wissenschaft (1882) –, um schließlich, nach Erscheinen dieser

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Aphorismensammlung im September 1882, verstört zu registrieren, dass er in den Augen seiner Freunde zum Erbauungsliteraten zu ver­ kommen drohte. Dazwischen lag das vor allem in Also sprach Zara­ thustra (1883–85) auf teils dramatische Art – so Nietzsches brieflich überlieferter Leseeindruck vom August 1883 (6: 441 ff.) – gespiegelte sog. ›Lou-Erlebnis‹ (s. NLex2 [Niemeyer]: 221 ff.), zurückgehend auf die einseitige (und damit unglückliche) Liebe, die Nietzsche für Lou von Salomé (1861–1937) empfand. (vgl. Niemeyer 1998: 32 ff.; Csef 2020) Die dazugehörenden Briefzeugnisse aus dem Zeitraum März bis Dezember 1882 sprechen hier eine deutliche Sprache. Nietzsche, persönlich gekränkt und teils wehrloser Spielball der von seiner eifer­ süchtigen Schwester kunstvoll gestrickten Intrigen, geriet infolgedes­ sen in eine existentielle Krise, wie Briefe aus dieser Zeit zeigen. Ver­ schärft wurde diese Krise durch den Umstand, dass sich auch Nietzsches damals bester Freund Paul Rée in Lou verliebt hatte und der Bruch mit ihm folglich unvermeidbar war, zumal Nietzsche in seiner ihm eigenen Naivität ausgerechnet ihn als seinen Postillon d’amour auserkor. Zusätzlich schlimm dabei: Auch Lou hatte sich entschieden, fata­ lerweise (und ihrer Unerfahrenheit geschuldet) für Rée und Nietz­ sche, und zwar unter ihren – für die damalige Zeit fraglos skandal­ trächtigen – Konditionen, die Ausdruck finden in ihrer Vision einer auf ›Dreieinigkeit‹ abzielenden Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, die platonische Liebe gleichsam nach allen Seiten hin zu gewährleisten vermochte (vgl. Andreas-Salomé 1968: 76). Dass dieses Projekt vom Typ »Kommune Null« nicht gut gehen konnte, zeigt die weitere Ent­ wicklung: Das von Lou entworfene trauliche Szenario wandelte sich unter dem Ansturm der Gefühle der sich allmählich in Rivalen wan­ delnden hochkarätigen Riviera-Freunde zusehends in eine Art trio infernale, mit der bitteren Pointe, dass Rée im Oktober 1901 unter mysteriösen Umständen, die den Schluss auf Selbstmord zulassen, im Engadin, unweit von Sils-Maria, einen Berg herabstürzen wird. Auch Nietzsche ging, zumindest im Winter 1882/83, mit Selbstmordge­ danken schwanger und litt ansonsten, seiner unerwiderten Gefühle wegen, leise vor sich hin, so wie in seinem im Mai 1883 in Rom zu Papier gebrachten Gedicht Das Nachtlied (aus Zarathustra II), aber auch in Das andere Tanzlied aus Zarathustra III, ein raffiniert ange­ legtes, dialogförmiges Kompendium zum Thema der Nicht-Bedroh­ lichkeit des Gedankens der ewigen Wiederkunft unter den Bedingun­ gen weltlicher Vollkommenheit, dargeboten in Gestalt einer Art

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Selbstparodie auf Nietzsches Liebesleid in Sachen Lou als »unschul­ dige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!« (IV: 283) Dass der heutige Leser um derlei Deutungsoptionen in Kenntnis der Zusammenhänge wissen kann (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.), meint zugleich auch, dass Nietzsche nur pure Verzweiflung blieb ob der Reaktion Heinrich v. Steins. Der nämlich zeigte sich zwar bei einem mehrtägigen Besuch Nietzsches in Sils-Maria (im August 1884) gerade von Das andere Tanzlied »aufs Tiefste ergriffen« und hatte es auch auswendig gelernt – aber offenbar seiner Botschaft nach über­ haupt nicht verstanden.

Tautenburg – ein Käfig voller Narren (inner- als auch außerhalb) Nur zwei Jahre zuvor hatte sich Nietzsche noch von Lous Jungmäd­ chenfantasie einfangen lassen, wie seine stolze Mitteilung an seinen inzwischen in Tübingen lehrenden alten Studienfreund Rohde vom Juli 1882 belegt, er gehe im Herbst »an die Universität Wien und fange neue Studentenjahre an, nachdem die alten mir, durch eine zu einseitige Beschäftigung mit Philologie, etwas mißrathen sind.« (6: 226) Als eine Art Generalprobe in Sachen dieses Projekts gilt Nietzsches dreiwöchiger (Arbeits-)Aufenthalt mit Lou im August 1882 im Tautenburger Wald unweit Naumburg unter Kontrolle seiner gleichsam als Anstandsdame fungierenden Schwester. Nietzsches hatte das Ganze akribisch vorbereitet nach Art eines romantischen Ritters, ließ gar Bänke aufstellen am Rande von ihm auserkorener gemeinsamer Wegstrecken und mit Schriftzügen versehen (wie Die fröhliche Wissenschaft), die ihm seine Werke zu erläutern erlaub­ ten. Absurd und nicht wirklich auf Erfolg hin getrimmt waren die Randbedingungen, zumal Lou ihrerseits zuvor wochenlang auf dem elterlichen Landgut Paul Rées zu Gast gewesen war, wo sie im Übrigen auch sehnsüchtig zurückerwartet wurde. »Mehr brauchst Du nicht zu befreunden, hörst Du, Schneckli« (zit. n. Pfeiffer 1970: 221), bekam Lou denn auch nach zwei Wochen Aufenthalt in Tautenburg von dem sich nun immer deutlicher von Nietzsche distanzierenden Rée zu hören. Mit an Bord, gleichsam mit eigener Funkfrequenz: Rées Mutter, die ihr zeitgleiches Rückrufschreiben an Lou mit Zärtlichkeitsformeln pflasterte, die einer Schwiegermutter in spe alle Ehre gemacht hätten.

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Nietzsches aus dem Zenith der Bruderliebe verstoßene Schwester hin­ gegen, die sich in Lous Todfeindin wandelt, nachdem diese ihr erklärt hatte, es sei nicht sie, sondern ihr vermeintlich so »rein gesinnter Bruder« gewesen, der »zuerst die schmutzige Absicht einer wilden Ehe« (Pfeiffer 1970: 254) gehabt habe, weiß auch nach vier Wochen Trauerarbeit gegenüber einer Bekannten nur bitter zu klagen: »ich habe mein Ideal verloren und kann mich noch nicht trösten« (ebd.: 252). Im Rücken dieses untergegangenen Ideals identifizierte sie den Teufel in Gestalt Lous: »Sie hat auch sonst noch manches Thierische an sich kann die Ohren einzeln und die Kopfhaut bewegen« (ebd.: 293), petzt sie, den Gipfel an Skurrilität erreichend, mit todernster Miene im Januar 1883 via Basel. Und ihrer Mutter gegenüber äußerte sie – wie Nietzsche im September 1882 halb entrüstet, halb amüsiert Overbeck mitteilt –, als Katholikin würde sie in Anbetracht des Tautenburger Geschehens ins Kloster gehen, um »für all das Unheil [zu] büßen, was daraus entstehen werde.« (6: 256) Die Fiktion indes eröffnet glücklicherweise denn doch noch weniger aufwendige Sühnehandlungen. Hierzu gehört auch eine Novelle aus Feder der Schwester, in welcher eine gewisse Nora mit einem »gefährlichen Frauenzimmer« voll »geistreicher Häßlichkeit« um einen heiratswilligen Philosophen namens Georg konkurriert. Das happy end bleibt nicht aus, ist aber nicht ohne Brisanz. Denn Georg (= Nietzsche) entsagt zwar der ohnehin schon an seinen Freund (= Rée) gebundenen Dritten (= Lou), aber Nora, für die er sich dann entscheidet, trägt deutlich Züge Elisabeths, womit deren Fiktion, gewiss ungewollt, inzestuöse Anteile aufweist. Und: Georg muss sich am Familientisch zu einer seiner Theorien über die Frauen noch den Kommentar anhören, dass nichts Philosophen unangenehmer sei, »als wenn man ihre philosophischen Behauptungen ins Persönliche überleitet« (zit. n. Wollkopf 1994: 266). Dies war unfreundlicher gesprochen als es den Anschein hat, wie auch ein Blick auf die Vorlage dieser Fiktion erweist. Denn der bitterste Vorwurf Nietzsches in der Lou-Affäre an die Adresse seiner Schwester war gewesen, dass sie – wie er sich gegenüber Franz Overbeck ausdrückte – seiner Mutter geschrieben hatte, »›sie habe in Tautenberg meine Philosophie in's Leben treten sehen und sei erschrocken: ich liebe das Böse, sie aber liebe das Gute.‹« (6: 256) Aber auch in der Wahrnehmung der Mutter hatte ihr Sohn in Tautenburg eine peinliche Rolle gespielt, sich zum Narren machen las­ sen. Lous »Haupttalent«, so übermittelte sie ihrem Sohn im Novem­

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ber 1882, bestünde offenkundig darin, »anderer Personen Geist für sich auszuquetschen«, weswegen »sie auch aus einem Verhältniß mit Männern in das andere« (KGB III/2: 301) übergehe. Den damit ausgelegten Faden hat Nietzsches Schwester noch über ein halbes Jahrhundert später aufgenommen, indem sie einen von ihr gefälsch­ ten Brief ihres Bruders aus Rom vom April 1882 präsentierte, dem die Leserschaft entnehmen sollte, Nietzsche habe seine Visite in Rom schon sehr rasch als »Irrtum« bereut, Lou als »unschön« erlebt und an ihr »keinen eigenen Gedanken« (Förster-Nietzsche 1935: 110) entdecken können. Den Höhepunkt der Infamie indes erreichte sie in ihrem Rückblick dort, wo sie Lou anlastete, die seit Beginn des Jahres 1882 »besonders glückliche Stimmung« (ebd.: 111) ihres Bruders destruiert zu haben, was sich dann auch im Zarathustra spiegele. Denn einzelne der hier von ihr ins Auge gefassten Sätze, beispielsweise: Mich zu tödten, erwürgt man euch, ihr Singvögel meiner Hoffnungen! Ja, nach euch, ihr Liebsten, schoss immer die Bosheit Pfeile – mein Herz zu treffen! (IV: 143),

nehmen eindeutig Bezug auf jene Pfeile der Bosheit, die keine andere als sie selbst abgeschossen hatte, und zwar auf Lou, die dem Leser noch in dieser retrospektiven Sicht der Dinge von Nietzsche in ver­ schlüsselter Form als Singvogel seiner Hoffnungen präsentiert wird. Nicht zu vergessen: Tautenburg (s. NLex2 [Hödl]: 371) als Ort für Nietzsches ihn zutiefst bewegende Begegnung mit Lou von Salomé und also als Inkarnation dessen, was »Lou-Erlebnis« meint (s. NLex2 [Niemeyer]: 221–225), setzte durchaus auch legendäre Effekte frei auf Seiten der Nietzscheforschung insbesondere der Old School jenseits der Naumburger Tugend und also dem Credo folgend: Moralisch zu Gericht sitzen, sollte uns wider den Geschmack gehen! (III: 563)

Ein Beispiel gibt Gunna Wendt. Sie berichtete im Jahrbuch Nietzs­ cheforschung von einem Brief Nietzsches an seine Schwester vom April 1882, in welchem er die Vierundzwanzigjährige (Lou war 21 Jahre!) als »unschön« geschildert habe; aber, so Wendt: seine Schwes­ ter »fiel […] auf seinen Täuschungsversuch nicht herein, sondern spürte sofort, dass eine Rivalin in ihr Leben getreten war.« (Wendt 2012: 148) Das Problem: Einen Brief Nietzsches dieses Inhalts gibt es nicht: Wendt fiel, ihren Satzbau kopierend, ihrerseits auf einen Mann herein, nämlich auf den US-Amerikaner Heinz Frederick Peters (1964:

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101), der einer (auch) von ihm nicht erkannten Brieffälschung Elisa­ beth Förster-Nietzsches aufgesessen war, wie beispielsweise auch für Yirmiyahu Yovel, Bernhard F. Taureck, Steven E. Aschheim, Robert C. Holub, Crane Brinton sowie Bertrand Russell nachweisbar (vgl. Nie­ meyer 2014; 2017), des Weiteren für Weaver Santaniello, Jacob Golomb & Robert Wistrich (vgl. Niemeyer 2011: 45) sowie Alexander Nehamas (vgl. Niemeyer 2013: 140). Was dabei auffällt: Diese Reihe konfrontiert uns mehrheitlich mit – den Fälschungen der Schwester aufsitzenden – Nietzsche-Skeptikern aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, nicht zuletzt infolge einer Briefedition (Kaufmann 1954), die in manchen Passagen die zu diesem Zeitpunkt fast fünfzig Jahre alte Edition der Schwester (GBr) kopierte und ihres Erschei­ nungsdatums wegen noch nicht bedacht worden sein konnte bezüg­ lich der Details der 1958 durch eine Titelgeschichte des Spiegel (Heft 4) öffentlichkeitswirksam gewordenen Vorwürfe von Karl Schlechta aus dem Jahr 1956 (s. SA III: 1383 ff.) gegen die Schwester. So betrach­ tet gibt es Anzeichen dafür, dass die internationale Nietzschefor­ schung in Sachen der Spezifika der frühen, deutschsprachigen Editi­ onsgeschichte von Nietzsches Werken und Briefen in lokale Wissenskulturen verfällt, je nach Sprachmächtigkeit und Rezeptions­ willigkeit. Auf ein hiermit zusammenhängendes Problem machte Jutta Georg-Lauer mit ihrer einschlägig relevanten Studie Nietzsche Den­ ken im Spiegel seiner Korrespondenz (2013) aufmerksam. Denn die Briefe Nietzsches an Lou aus dem Jahr 1882 werden hier nicht wirklich interpretiert, sondern aus Sicht einer mit Letzterer geistesverwandten modernen, feministisch aufgeklärten Frau von heute moralisch qua­ lifiziert, gleichsam in die Bewusstseinshaltung heutiger Leserinnen verändernden, also erzieherischen Absicht. Was natürlich nicht gut gehen kann, an einem Beispiel geredet, entnommen einer sehr grund­ legenden Kritik (vgl. Niemeyer 2016) an diesem Buch: Nietzsches harmlose, irgendwie auch rührende, Bemerkung aus einem Brief vom 20. August 1882 aus Tautenburg an Heinrich Köselitz: Sie [Lou] ist das intelligenteste aller Weiber. Alle fünf Tage haben wir eine kleine Tragödienszene. (6: 239),

wird von Georg-Lauer mittels der Vokabel »bizarr« ins Abseits gerückt sowie wenige Zeilen darauf gänzlich entsorgt mittels des harschen Kommentars:

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Soll wohl heißen: Obwohl sie ein ›Weib‹ ist, ist sie intelligent. (GeorgLauer 2013: 177)

Nietzsche, so viel darf man daraus lernen, hat bei dieser Interpretin keine Chance. »Sie hatte ihn nicht um Verzeihung gebeten, und wofür auch?« (ebd.: 249) – so denn auch viele Seiten später ihr Resümee zu dieser Affäre, die Nietzsche an den Rand des Selbstmords gebracht hatte, für Georg-Lauer hingegen nur Anlass für weiteren Spott. So witzelt sie über Nietzsches Bemerkung aus einem Brief an Lou, er brauche jetzt »Berg und Hochwald« und »Einsamkeit«, und zwar nicht der Gesundheit wegen, sondern weil der »das Ende machen« (6: 203) wolle, das Ende eines Werkes, wie man vermuten darf: Welches Ende will er machen, was will er beenden, sein bisheriges Leben, seine Einsamkeit? (Georg-Lauer 2013: 186)

Kurz und zusammenfassend geredet: Derlei Kommentar würde ich gerne, in Nachahmung dieses Vorbildes, ›abstoßend« heißen, ›arro­ gant‹, auch ›verletzend‹ – wenn mich nicht grundlegende Bedenken abhielten, will sagen: Mir nicht Wissen fehlte über die Hintergründe der so Attribuierenden, Wissen übrigens, um die sich die hier Kri­ tisierte in Sachen Nietzsche erst gar nicht bemühte, damit ihre Zugehörigkeit zu dem ausweisend, was Old School, methodologisch betrachtet, meint und was im Ergebnis nicht auf Verstehen zuläuft, sondern auf Erziehung namens einer hehren Sache. Diese selbst steht übrigens nach Tautenburg keineswegs im helleren Licht dar. Gemeint ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft, der Nietzsche angeblich erstmals ein Jahr zuvor gekommen sein will. Dies bezeugt ein im Nachlass nachlesbares Ideenstakkato, das Nietzsche mit den pathetischen Worten abzeichnete: »Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen!« (IX: 494) Was es mit diesem in der Folge insbesondere im Zarathustra in immer neuen Anläufen skizzierten Gedanken auf sich hat, suchte auch Lou zu ergründen in jenen Tautenburger Gesprächen, über deren hier interessierenden Kern sie in ihrem Nietzsche-Buch mit den Worten Bericht erstattete: Unvergeßlich sind mir die Stunden, in denen er ihn mir zuerst, als ein Geheimnis, als etwas, vor dessen Bewahrheitung und Bestätigung ihm unsagbar graue, anvertraut hat: nur mit leiser Stimme und mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens sprach er davon. (Andreas-Salomé 1894: 196)

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In ähnlicher Weise ließ sich Nietzsche auch gegenüber anderen Gesprächspartnern vernehmen, darunter Franz Overbeck (1906: 68) – mit der Folge, dass sich in der Nietzscheforschung der Vorwurf einer gekonnten Selbstinszenierung festzusetzen begann, zumal Nietzsche für den Gedanken der ewigen Wiederkunft keine Priorität beanspru­ chen konnte: Ihm musste dieser Gedanken von der Antike her zumin­ dest dem Grundzug nach längst bekannt sein. Dies war auch Lou nicht verborgen geblieben, deren Frage denn auch eher dahin ging, warum Nietzsche einer Vorstellung verhaftet blieb, vor der ihm grauen musste, wenn man den frappierenden Kontrast zwischen seinem krankheitsbedingten Lebensüberdruss und der in der Wiederkunfts­ lehre ausgesprochenen Gewissheit der ewigen Lebenswiederkehr in Rechnung stelle (Andreas-Salomé 1894: 199). In der Linie dieser Überlegung liegt die Annahme nahe, dass es Nietzsche um die – in der Antike sich so noch nicht stellende – Frage ging, wie jenseits des Todes Gottes gleichwohl eine re-göttlichte Seinsverfasstheit im Sinne eines gleichsam nach-christlichen Pantheismus begründet und in der ewigen Wiederkunft ihrer selbst bejaht werden kann (vgl. Niemeyer 1998: 370 ff.). Jenseits dieser insoweit in Tautenburg erörterten sehr grundsätzlichen Fragen blieb als Extrakt die Botschaft der auf Lou eifersüchtigen Schwester an die Mutter: »[I]ch habe mein Ideal ver­ loren und kann mich noch nicht trösten.« (6: 252) Ersatzweise identifizierte sie als ihren neuen geistigen Heroen den von Nietzsche verachteten militanten Antisemiten und Wagne­ rianer Bernhard Förster (1843–1889), den sie im Mai 1885 heiratete, um ihm ein Jahr darauf zwecks Gründung einer deutsch-völkischen Kolonie nach Paraguay zu folgen. Dies, aber auch der Umstand, dass Nietzsches Schwester noch im hohen Alter die durch die LouAffäre heraufbeschworene Brüskierung der »Vorurteile der Gesell­ schaft« (Förster-Nietzsche 1935: 113) tadelte, bezeugt, dass ihr das Verständnis für ihren Bruder vollständig abging. Nietzsches Reaktion war zunächst konsequent: Er ließ es zum Bruch mit Mutter wie Schwester kommen – und genoss diese Entscheidung im ersten Überschwang sogar. Zwar kam es zwischenzeitlich zur Versöhnung, schließlich aber doch zum endgültigen Bruch – mit dem Nachschlag des in gleichsam letzter Minute eingefügten Einschubs zu Ecce homo, in welchem Nietzsche seiner Mutter wie Schwester unter Vorzei­ chen wie »Gemeinheit«, »canaille«, »Höllenmaschine« oder »giftiges Gewürm« (VI: 268) gedenken wird.

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Die Rache der Schwester für diese Vokabeln war fürchterlich: Sie ließ diesen Einschub wenig später, nun in ihrer Eigenschaft als Nach­ lassverwalterin ihres geistig zusammengebrochenen Bruders, ver­ schwinden, zusammen mit einem Abschnitt aus einem Brief Nietz­ sches an Heinrich Köselitz vom 26. August 1883 anlässlich der von diesem 1908 (als GBr IV) – auf ihren Wunsch hin – besorgten Edition der Briefe Nietzsches an ihn. »Man« (lies: meine Schwester) habe ihn in der Lou-Affäre »ein Jahr lang zu einer Gattung von Gefühlen gehetzt, denen ich mit allerbestem Willen abgeschworen habe«; und dabei – und hier setzte Köselitz (vgl. GBr IV:172), wie erstmals Curt Paul Janz (1972: 17) nachwies, den Rotstift an, ebenso wie nach ihm Richard Oehler in seiner Auswahl Nietzsches Briefe (1911) – hätten sich »[s]eine Triebe und Absichten verwirrt und sind labyrinthisch geworden«, so dass auch das noch passieren [könnte], woran ich ebenfalls nie bei mir geglaubt habe: daß mein Verstand sich verwirrt. (6: 435)

Eine Äußerung, welche die Schwester selbstverständlich nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken lassen durfte, zumal sie sich kräftig biss mit der Botschaft aus von ihr gefälschten Briefen Nietzsches, die sie als liebende und seine Absichten verstehende Schwester auswie­ sen. Diese sowie andere, weitaus schlimmere Fälschungen bestätigen nur, was Nietzsche seine Schwester Ende 1887 in einem – von ihr später (1909) unterschlagenen – Brief aus Nizza geschrieben hatte: Ich denke jetzt über Schwestern ungefähr so, wie Sch dachte, – sie sind überflüssig, sie stiften Unsinn. (8: 219)

Bittere Scherze wie diese boten Nietzsche allerdings nur wenig Trost angesichts eines nach der Lou-Affäre und dem Bruch mit Rée um sich greifenden tiefen Gefühls der Einsamkeit. Auskunftsträchtig ist in dieser Frage vor allem der – Jenseits von Gut und Böse abschließende – ›Nachgesang‹ Aus hohen Bergen mit den ergreifenden Zeilen: Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn’ ich’s doch? – Nur FreundsGespenster! Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, Das sieht mich an und spricht: »wir waren’s doch?« – Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch! (V: 242)

Diese Zeilen zielten auf Rohde, aber ein stückweit auch auf den ›neuen‹ Freund Heinrich Freiherr von Stein (1857–1887; vgl. Reich 2004: 210 f.), dem Nietzsche im November 1884 eine Vorstufe dieses Gedichts unter dem damaligen Titel Einsiedlers Sehnsucht als Dank

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für dessen Besuch in Sils-Maria geschickt hatte, ohne dass dieser, wie Nietzsche im Januar 1885 verbittert registrierte (7: 5), dafür ange­ messen zu danken wusste. Komplettiert wurde diese Tragödie durch Nietzsches fortdau­ ernde Erfolglosigkeit als Autor. Der Höhepunkt in dieser Hinsicht war mit JGB erreicht: Im April 1886 meinte Nietzsche noch, die ablehnende Haltung eines von ihm für dieses Buch ins Auge gefassten neuen Verlegers durch das Versprechen verändern zu können, »auf Zahlung des Honorars bis zu dem Zeitpunkt zu warten, wo 600 Exemplare verkauft sind.« (7: 180) Aber selbst für dieses Anerbieten kassierte er postwendend eine Absage wegen unrealistisch hoher Absatzerwartungen. Hinzu kam Nietzsches nach wie vor prekäre Gesundheit. Entsprechend gegenstandslos war seine vage Phantasie vom März 1886, wonach er, dauerhafte Besserung vorausgesetzt, sicherlich als Nachfolger seines von ihm schon seit 1869 – gleichsam tragisch einseitig – verehrten Baseler Kollegen Jacob Burckhardt (1818–1897) angefragt worden wäre (7: 159). In der Folge wird sich Nietzsche zunehmend mit der Vorstellung beruhigen, dass er auf­ grund der vor ihm stehenden Aufgaben ohnehin tiefe Isolation benö­ tige. Tatsächlich offenbart gerade der ›späte‹ Nietzsche eine erstaun­ liche Produktivität – aber auch eine zunehmend pathologischer wer­ dende Selbstüberhebung. So brüstete er sich nach Fertigstellung der Genealogie der Moral im August 1887, er habe diese Schrift, obgleich »krank und extrem indisponiert« (8: 123), in noch nicht einmal drei Wochen geschrieben. Im Februar 1888, im auffälligen Nachgang zur Nachricht des Verlegers, dass JGB »zuletzt nur noch wenig verlangt [wurde]« (KGB III 6: 152), suchte sich Nietzsche in einem Briefent­ wurf dem für dieses Buch in Aussicht genommenen Rezensenten Carl Spitteler mit den Worten zu empfehlen, er habe »seit 10 Jahren lauter Meisterwerke hervorgebracht.« (8: 245) Mitte September 1888, WA ist soeben erschienen und GD in Druck gegangen, erprobte Nietzsche die eher gegenläufige Taktik des lässigen Understatement, indem er diese beide Schriften als »wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlich schweren und entscheidenden Aufgabe« bagatellisiert, die geeignet sei, »die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften« (8: 426) zu spalten. Anfang Dezember 1888 schließlich, begleitend zu seinen letzten Arbeiten, den Dionysos-Dithyramben sowie dem Kom­ pendium Nietzsche contra Wagner, kalkulierte Nietzsche in einem Briefentwurf an seinen dänischen Entdecker Georg Brandes in Sachen

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von Der Antichrist gar auf »eine Million Exemplare in jeder Sprache als erste Auflage.« (8: 500) Vermutlich am selben Tag verfasste Nietzsche mehrere Entwürfe für Widmungsschreiben, einerseits an Wilhelm II., andererseits an Bismarck, dem Nietzsche »durch Überreichung des ersten Exemplars von ›Ecce homo‹ meine Feindschaft anzukündigen« (8: 504) sich vor­ nahm. Wenn all dies noch keine Reaktion erzeugte, dann vor allem, weil es sich zumeist um Briefentwürfe handelte. Einen Monat später lagen die Dinge etwas anders: Nietzsche verfasste Anfang Januar 1889 mehrere dann auch verschickte ›Wahnsinnszettel‹ – u.a. an August Strindberg, Cosima Wagner, Georg Brandes‚ Hans v. Bülow, Paul Deussen, Heinrich Köselitz, Malwida v. Meysenbug, Franz Overbeck, Erwin Rohde, Carl Spitteler sowie den italienischen König Umberto I. –, darunter, unter dem Datum des 6. Januar, einen an Jacob Burck­ hardt, in dem es u.a., in wohl kalkulierter Provokation dessen, der ihn nie seinem wirklichen Rang nach anerkannt hatte, heißt: Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. (8: 577 f.)

Als Burckhardt diese in Turin verfassten Zeilen las, alarmierte er Overbeck, der, seinerseits beunruhigt durch die Mitteilung Nietzsches an ihn, er »lasse eben alle Antisemiten erschiessen« (8: 575), nach einigem, von Joachim Köhler (2000: 56 ff.) literarisch ausgestalteten Zögern schließlich doch nach Turin fuhr und Nietzsche dort in seiner Pension auf einem Sofa liegend vorfand und sofort wusste, dass nichts mehr zu machen war: Nietzsche hatte sich seinerseits in eine Art ›Wüste‹ verwandelt eingedenk seiner schrecklichen Warnung von 1885: »Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!« (IV: 385)

In der Wüste (1889–1900) Der Rest ist rasch erzählt: Overbeck, von Jacob Burckhardt alarmiert, aber auch seinerseits durch einen ›Wahnsinnszettel‹ Nietzsches vom 4. Januar 1889 (»Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…. Dio­ nysos«; 8: 575) beunruhigt, fuhr sofort nach Turin und fand Nietz­ sches dort am 8. Januar in seiner Pension in einem offensichtlichen Wahnsinnsanfall befangen, über den er Mitte Januar in einem Brief an Heinrich Köselitz das Folgende berichtete:

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Ich erblickte Nietzsche in einer Sophaecke kauernd und lesend […] entsetzlich verfallen aussehend, er sah mich und stürzt sich auf mich zu, umarmt heftig mich erkennend und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sopha zurück […] (zit. n. Volz 1990: 206)

Wichtiger aber ist die Fortführung und der hier gegebene Hinweis auf Bromwasser – wohl, wie man nun vermuten darf, von Nietzsches Wirt Fino bereitgestellt aufgrund der Verordnung eines gewissen Dr. Turina im Blick auf Fälle wie diese und im Rückblick auf einen womög­ lich schon stattgehabten epileptischen Anfall als Begleitsymptom einer anhebenden Paralyse. Letztere wurde denn auch zwei Tage spä­ ter, am 10. Januar, deutlich als Diagnose herausgestellt. Jedenfalls verzeichnete die Basler Krankenakte von diesem Tag, im Original von Ludwig Wille (1834–1912), dem Direktor der Kantonalen Irrenanstalt Basel Stadt, mit der Diagnose »Paralysis progressiva« überschrieben, über den Pat. Nietzsche: Er habe auch einige Anfälle gehabt, während derselben habe sich Pat. ungemein wohl und gehoben gefühlt, er hätte am liebsten alle Leute auf der Straße umarmt u. geküßt, wäre am liebsten an den Mauern in die Höhe geklettert. Pat. ist schwer zu fixieren, beantwortet bloß teil­ weise u. vollständig oder gar nicht die an ihn gerichteten Fragen, fort­ während in seinen verworrenen Reden fortfahrend. Sensoriell stark benommen […]. Nachmittag spricht Pat. fortwährend wirr durchein­ ander, zuweilen laut singend und johlend. Der Inhalt seines Gesprä­ ches ist ein buntes Durcheinander von früher Erlebtem, ein Gedanken jagt den anderen ohne jeden logischen Zusammenhang. – Gibt an, daß er sich spezifisch inficiert habe. (zit. n. Volz 1990: 380 f.)

Wichtig auch, dass Nietzsche zwischen dem 10. und 17. Januar 1889 eine – inzwischen verschollene – Zeichnung vom Löwendenkmal in Luzern anfertigte, die alles sagt über die wirkliche Bedeutung Lou v. Salomés für ihn. Denn hier, vor jenem Denkmal, hatte Nietzsche Lou dereinst, im Wonnemonat Mai (des Jahres 1882), einen weiteren, wiederum abgelehnten Heiratsantrag unterbreitet. (vgl. Niemeyer 2020: 33 f.) Temps perdu: Nietzsches Mutter holte ihren Sohn, noch im Januar, in Basel ab und überführte ihn nach Jena, in die dortige Irren­ anstalt. Die hier angelegte Krankenakte verzeichnet, allerdings im Unklaren haltend, ob hier Nietzsche selbst noch sich entsprechend geäußert hatte: »1866 Syphilit. Ansteckg.« (Volz 1990: 393). Nimmt man Nietzsches Jenaer Prostituiertenträume hinzu (ebd.: 398) sowie

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die Mitteilung eines der ersten ihn nach seinem Turiner Zusammen­ bruch diagnostizierenden Ärzte, wonach der Patient »fortwährend Frauenzimmer« (zit. n. Podach 1930: 107) verlange, entsteht jener Kontext, in den Nietzsches Krankheit gehört: Syphilis, und zwar, wie noch im Detail zu zeigen sein wird (vgl. Kap. 8), allen Ablenkungs­ manövern (Überarbeitung, Schlafmittel- resp. Drogenmissbrauch, Schlaganfall etc. pp.) seiner Schwester zum Trotz. Nietzsches Nieder­ gang jedenfalls war nicht mehr aufzuhalten, ähnlich wie die Hybris seiner Schwester, die Jahre später suggerierte, die Jahre 1894–1897, in denen Nietzsche der mütterlichen Pflege oblag, seien die »unglück­ lichsten« ihres Lebens gewesen, Nietzsche sei erst nach dem Tode der Mutter unter schwesterlicher Pflege in Weimar aufgeblüht (vgl. Förs­ ter-Nietzsche 1914: 542). Auf diese Weise suchte sie nachträglich ihre eigenen Handlungsmotive zu adeln. Über deren Abgründigkeit belehrt schon der Umstand, dass Nietzsche nach dem Tod seiner Mut­ ter und dem von der Schwester veranlassten Umzug nach Weimar bis zu seinem Tod am 25. August 1900 nicht eben selten als eine Art Requisite für einflussreiche und finanzstarke Gönner zur Schau gestellt wurde, als Teil eines veritablen Nietzsche-Kults, zu dessen dunklen Seiten die systematische Verfälschung der Werke und Briefe Nietzsches durch die Schwester gehört. In deren Logik kam Nietzsche in der schrecklichsten aller Wüsten zu liegen: in der ungeistigen des Nationalsozialismus. PS 1 will als gemeinsamen Nenner des bisher Berichteten das tragi­ sche Motiv markieren, dass Nietzsche offenbar nichts ausließ, nichts ihm erspart blieb: nicht die ergreifendste Liebestragödie, nicht die tiefste Vereinsamung und die sich in ihr als Symptom zur Anzeige bringende Missachtung seines Schaffens, nicht die schlimmste Krank­ heit, nicht den frühen Tod nach elfjährigem Siechtum. Beinahe ist man versucht zu sagen: Es ist ein Kreuz mit Nietzsche, wenn nicht gar ein Hakenkreuz. Denn man muss hier beachten: Erst verweigerte ihm die Kirche, vor 125 Jahren, Beistand bei seiner Beisetzung – und dann, im Jahre 4 des »Tausendjährigen Reichs«, nach dem Tod seiner Schwester (1935), adelt ihn der Ur- und Ewig-Nazi (auch nach 1945 bis zu sei­ nem Tod 1986) Heinrich Härtle mit dem Hakenkreuz. Mit, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Kap. 8), einem Schuss Dankbarkeit Richtung Schwester. Die zur Erleichterung der Nazis Nietzsche bücherverbren­ nungsfrei ediert und angeblich nachgewiesen habe, dass Nietzsche den Folgen eines Schlaganfalls sowie seiner Arbeitssucht erlegen sei.

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Nicht aber der Syphilis. Wäre dem so gewesen, hätten sich die Nazis den Nachfragen der alt-völkischen Nietzschegegner um Theodor Fritsch ausgesetzt gesehen, ob Nietzsche, dieser Deutschtumsveräch­ ter und Judenfreund, nicht, die Ungnade der späten Geburt voraus­ gesetzt, seiner post-paralytischen Demenz wegen vergast gehört hätte wie vergleichbare Fälle »lebensunwerten Lebens«. Statt als National-, kürzer geredet: Nazi-Heiliger verehrt zu werden. Gleichsam bis zur letzten Patrone, seinem 100. Geburtstag am 15. August 1944, im Völkischen Beobachter durch Härtles Chef Alfred Rosenberg. Der rote Faden dieses Nietzsche-Überblicks auf 33 Seiten? Ganz klar, ob Kreuz, ob Hakenkreuz: Nietzsche wurde Unrecht getan! Der Pastor bei der Beisetzung hätte ihm Beistand eigentlich nicht verwei­ gern dürfen, weil das Sakrament der Taufe ewig gilt und nicht durch Gesinnungswechsel gebrochen wird. Das heimliche Begründungs­ motiv liegt denn auch woanders: Niemals zuvor, Hans Küng und Eugen Drewermann eingerechnet, wurde »das Kreuz mit der Kirche«, deutlicher und weiter geredet mit Karlheinz Deschner (2004), die »Kriminalgeschichte des Christentums« so tiefgehend aufgeblättert wie von diesem sowie Nietzsche, der von der Syphilis der Renais­ sance-Päpste ahnte (vgl. Niemeyer 2022: 31 ff.) und aus dem es erst mit einem seiner allerletzten Wahnsinnsbriefe (vom 3. Januar 1889) herausbrach, es gelte, den Papst ins Gefängnis zu werfen (8: 572). Und, apropos Hakenkreuz: In der Tat, die zahllosen Werk- und Brief­ fälschungen der Elisabeth Förster-Nietzsche in Anschlag gebracht, inklusive ihrer lebenslangen Unterdrückung von Nietzsches Briefen an den Hitlervorläufer und Gesinnungsgenossen ihres Gatten Bern­ hard Förster, Theodor Fritsch, hätte Nietzsche unmöglich als Haken­ kreuzler Karriere machen können. Dies wussten (jüdische) Exilanten wie Theodor W. Adorno weit besser als in der Nazizeit zur Schule gegangene traumatisierte Ex-Pimpfe wie Jürgen Habermas. Dem Erstgenannten und seinen kritischen Mit-Exilanten waren Nietzsches Fritsch-Briefe durch Exil-Editionen bekannt und heilig als Doku­ mente für Nietzsches Anti-Antisemitismus. Anders als Habermas & Co., hinzugerechnet den Wagnerianer Peter Wapnewski, denen die Nachricht, dass es diese Briefe gab und Nietzsches Schwester sie unterschlug, vermutlich eine ebenso große Neuigkeit gewesen wäre wie den Förster-Nietzsche-Biograph*innen Kerstin Decker, Ulrich Sieg oder Sue Prideaux, allesamt, wie hier nur für diese gezeigt (vgl. Kap. 1), der Old School zugehörig, ganz zu schweigen von marxisti­ schen Nietzsche-Verächtern vom Schlage eines Domenico Losurdo

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1 Nietzsche – ein Abriss zu Leben und Werk aus Perspektive der New School

sowie dessen Fürsprechern, von Philipp Flesch bis zurück zu Kurt Flasch (vgl. Niemeyer 2022: 16 ff.). PS 2 soll – immer ein gern genutztes Erzählprinzip –, ganz am Ende, nochmals auf den Anfang schauen, in Gestalt der Frage, ob Dietmar Darths dort referierte und kommentierte Sorge vor dem Widerstand der ›Fachphilosophen‹ gegen seinen, Darths Hegel – den eines Autodidakten – von Relevanz ist auch für mich. Meine Antwort lautet: »Nein!« – und sie soll damit Nietzsche retten als spannendste Herausforderung aller Nicht-Philosophen, zumal der Psychologen unter diesen, so ihnen der Namen Freud irgendetwas sagt (was ja beim sich nach 1945 verfestigenden Zustand dieses Faches schon beinahe für eine Sensation stünde!). Mildern wir also unsere Ansprüche, verlangen wir nur nach Denkern. Sie gilt es zu ermutigen, etwas mit dem Hinweis, dass es so viele ›Fachphilosophen‹ mit Nietzsche-Schwerpunkt, wie man meinen könnte, gar nicht gibt auf der Welt, verglichen etwa mit Philologen, Germanisten oder auch Kultur- oder Geisteswissenschaftler*innen – und darunter dann Denker (und natürlich Denkerinnen). Hauptsache, es ist noch jemand da, der mit Nietzsche, dem »enfant terrible der deutschen Philoso­ phiegeschichte« (Hesse 1993: 903), etwas anzufangen sich getraut und sich nicht irritieren lässt durch Nietzsches Spott: Das Wort Philosophie, auf deutsche Gelehrte und Schriftsteller ange­ wandt, macht mir neuerdings Beschwerde: es scheint mir unpassend. (VII: 739)

Kein Wunder, dass Nietzsche, wie der zu Beginn des Prolog bereits zitierte letzte Satz seines knapp dreiseitigen Lebenslaufs vom 10. April 1888 zeigt, in dieser Frage keine Kompromisse erlaubte: »Ob ich ein Philosoph bin? – Aber was liegt daran!« (8: 290) Nochmal: Nichts liegt daran, weswegen ich in aller Gelassenheit alle ›Fachphi­ losophen‹ unter den Nietzscheforschern auf der Welt aussitzen werde und sie hiermit auffordere, ihre Argumente in die Lostrommel zu werfen auf der Suche nach dem besseren, aber ohne Anspruch, nur »philosophische« Argumente kämen in Betracht.

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2 Nietzsches Frühwerk, als Vorschein der New School aufbereitet

Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt dazu sich selber. (Nietzsche, 1880)

Die Vielfalt und der Wandel in Nietzsches Auffassungen ist erheblich, ebenso Nietzsches (Selbst-) Ironie diesem Umstand gegenüber, wie das im Motto angeführte Wort aus Der Wanderer und sein Schatten verdeutlicht. Kaum weniger clever und selbstironisch sein Notat von 1882/83: Daß Jedermann lesen kann lernen darf und liest, das ruiniert auf die Dauer nicht nur die Schriftsteller, sondern sogar die Geister überhaupt (X: 132)

– ein Satz, unmittelbar nachdem er sich zu seinem ›Erstling‹ notiert hatte: Darstellung der Geburt der Tragödie – schwebende Wolkenguirlanden, weiss bei Nachthimmel, durch welche Sterne hindurchschimmern – undeutlich allzudeutlich geisterhaft erhelltes Thal. (VIII: 497 f.)

War dadurch und infolge des wenige Seiten später folgenden Zuge­ ständnisses bezogen auf das nämliche Werk (»undeutlich und hoch­ trabend, wie ich damals nach Wagner’s Vorbilde mich auszudrücken beliebte«; VIII: 540) dasselbe aber »ruiniert«? Um Gottes willen, war doch schließlich kein Mensch verpflichtet, derlei Urteile vom Inhalt her zu lesen und nicht etwa vom Stil (etwa Gauger 2012) ausgehend. Und Verstehen? Nun ja, so würde ich jetzt weitermachen, wäre ich ein eingefleischter Frühwerk-Fan: Warum nur musste sich Nietzsche auch immer so kompliziert ausdrücken, etwa im OktoberDezember 1876, also in der Hochzeit des Bruchs mit Wagner? Als er doch tatsächlich schrieb: Kein Schriftsteller hat bis jetzt genug Geist gehabt, um rhetorisch schreiben zu dürfen. (VIII: 342)

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2 Nietzsches Frühwerk, als Vorschein der New School aufbereitet

Obgleich: Setzt man, wie der Ausdruck ›bis jetzt‹ nahelegt, den Satz fort mit: ›Außer Nietzsche…‹, muss man zugestehen: Nietzsche glo­ rifiziert hier einen Vorgang, der keineswegs bewusst gewollt war, sondern sich ihm als Folge der 1868 anhebenden Bedeutungszuwei­ sung an die Adresse Wagners gleichsam zwingend nahelegte. Deut­ licher gesprochen und unter Bezug auf eine andernorts (Niemeyer 1998: 151 ff.; 2011: 75 ff.) gegebene ausführliche Begründung: Was Nietzsche in seinem Frühwerk an Bildungs- und Kulturkritik vorlegte, war, ebenso wie sein früher, sich in seiner Tragödienschrift nieder­ schlagender Antisemitismus (vgl. Niemeyer 1997), in weiten Teilen rhetorisch, diente also vor allem dem Zweck der Einverständniser­ klärung gegenüber Wagner, der von ihm die Mitwirkung an der Errichtung eines geistigen Überbaus für sein eigenes Streben erwar­ tete. Daraus folgt nicht, Nietzsche habe keine seiner Positionen, etwa aus den Bildungsvorträgen (BA) von 1872), beibehalten. Denken könnte man etwa – Fabien Jégoudez (2023: 68 ff.) hat dies unlängst getan – an manchen Passus aus der im September 1888 abgeschlos­ senen Götzen-Dämmerung. So meinte Nietzsche hier unter der Head­ line Was den Deutschen abgeht – im Rahmen einer vehementen Kritik an der damaligen Bildungsdebatte und so, als wolle er seine Bildungsund Kulturkritik von 1872 aktualisieren: [U]nsre ›höheren‹ Schulen sind allesammt auf die zweideutigste Mit­ telmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzie­ len. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht ›fertig‹ ist, noch nicht Antwort weiss auf die ›Hauptfrage‹: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht ›Berufe‹, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss... Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, ›fertig‹ zu werden, – mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger, ein Kind.« (VI: 108)

Nietzsche, so macht zumal dieser letzte Satz deutlich, spricht hier auch von sich, also davon, dass er erst mit seiner im Alter von dreißig Jahren anhebenden Loslösung von Wagner reif zu werden begann für das, was ihm nun zunehmend als seine ›hohe Kultur‹ galt. Das bildungskritische Zentralargument Nietzsches korrespondiert aber nach wie vor jenem von 1872, wie insbesondere das folgende Zitat belegt:

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Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Haupt­ sache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Dass Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht ›das Reich‹ –, dass es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und der Universitäts-Gelehrten – man vergass das ...« (VI: 107)

Wenige Zeilen später folgt, wiederum in deutlicher Anknüpfung an die schon in BA eingenommene Sicht der Dinge: Jede höhere Erziehung gehört nur den Ausnahmen: man muss privi­ legirt sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grosssen, alle schönen Dinge können nie Gemeingut sein [...]. Was bedingt den Niedergang der deutschen Cultur? Dass ›höhere Erzie­ hung‹ kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der ›allgemeinen‹, der gemein gewordnen ›Bildung‹ ... Nicht zu vergessen, dass militäri­ sche Privilegien den Zu-Viel-Besuch der höheren Schulen, das heisst ihren Untergang, förmlich erzwingen. (VI: 107 f.)

Wir sehen also: Die Themen des Jahres 1888 sind jene des Jahres 1872 – abgesehen von der kulturpolitischen Sendung Wagners, der Nietzsche nun, 1888, nicht mehr folgt. In der Umkehrung gesprochen: Nicht alles, aber vieles an der frühen Bildungs‑ und Kulturkritik Nietz­ sches erweckt der Eindruck, als habe er seinen Auftrag darin erblickt, Loyalität gegenüber Wagner zu signalisieren und Kulturwidriges aus der »Bahn des Genius« (VI: 356) zu räumen. Insoweit kann, was diese Phase angeht, von einer in der Hauptsache rhetorischen Bildungs‑ und Kulturkritik gesprochen werden, die ihrerseits in manchen Teilen allerdings auch noch im Spätwerk von Bedeutung bleibt und mithin die tatsächliche Meinung auch schon des frühen Nietzsche wiedergibt. Von hier bis zur These, es gäbe Kontinuität zwischen ›Frühwerk‹ und ›Spätwerk‹ (vgl. etwa Strong 2008: 439), ist es allerdings ein weiter Weg. Unpassierbar wird er, wenn trotz aller aufwändig zusam­ mengestellten Argumente (vgl. Niemeyer 2005), BA doch bitte nicht als von Nietzsche autorisierten Quellentext zu betrachten, gleichwohl trotzig als solchen behandelt (etwa Thompson/Weiß 2005), schlim­ mer, so die Entscheidung von Winfried Böhm im Verein mit Britta Fuchs sowie Sabine Seichter: BA den »Hauptwerken der Pädagogik« zu rubrizieren (vgl. Schweidler 2009). Wer derlei unterstützt und noch nicht einmal Respekt zeigt für Nietzsches Veröffentlichungsveto, um ersatzweise der Entscheidung der Schwester, dieses »herrliche Werk« (Förster-Nietzsche 1897: 123) gleichwohl 1893 – also, anders als in der Pädagogik, zuletzt von Jürgen Oelkers (2005: 91), behaup­ tet, durchaus noch zu Nietzsches Lebzeiten – zugänglich zu machen

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(s. NLex2 [Niemeyer]: 39), muss wissen, was er (oder sie) tut. Wis­ senschaft jedenfalls kann es nicht sein, Old School allerdings schon, wenn man diesen Term vorübergehend gelten lassen will für durch Autorität (nicht die des Arguments!) getragene Entscheidungen. Wie – um auf die Nietzscheforschung zurückzukommen – Argu­ mente hier gebaut sein müssen, um als werkanalytische in Betracht zu kommen, hat Nietzsche selbst noch niedergelegt, etwa in einem Brief vom Februar 1888, in welchem er den Sammelrezensenten Carl Spitteler für die »Sicherheit des ästhetischen Taktes« lobte, »mit der er die Form der verschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt.« (8: 244) Zu vermerken ist des Weiteren, wie im Prolog dargetan, dass Nietzsche sein Frühwerk – unter Einschluss seiner Baseler Antrittsrede – 1885 unter der (pejorativ gemeinten) Rubrik »Erstlinge« (XI: 669) auflistete. Auch war er es, der Die fröhliche Wissenschaft mit dem Vermerk herausgehen ließ, hiermit käme eine Reihe von Schriften zum Abschluss, die mit Menschliches, Allzumenschliches begonnen habe und deren gemeinsames Ziel es sei, »ein neues Bild und Ideal des Freigeistes aufzustellen.« (zit. n. Schaberg 2002: 121) Einzuräumen bleibt, dass sich diese Phase nicht strikt von der des Spätwerks trennen lässt. Entscheidend aber ist: Das Frühwerk unterscheidet sich fundamental von allen anderen Werkphasen, dies vor allem wegen Nietzsches abfälligen Urteilen über selbiges. Das früheste Zeugnis in dieser Richtung findet sich in einem Brief Nietzsches an Carl v. Gersdorff, der ihn im März 1874 wegen seiner im selben Jahr erschienenen zweiten Unzeitgemässen Betrach­ tung sowie der Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten einen Schriftsteller genannt hatte, der »in Leder gebunden« (KGB II/4: 407) werden müsse. Nietzsche war entsetzt und erklärte in seiner Antwort aus seiner »besten Selbsterkenntniss heraus«, dass er derlei Lobsprüche »nicht verdiene«, denn: Von einem wirklichen Produciren kann […] nicht geredet werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit […] heraus ist. (4: 214)

Unter der Hand hatte Nietzsche hiermit die von ihm bis zu diesem Zeitpunkt produzierten Texte zur Makulatur erklärt, zu Überbleibseln eines Vorgangs, den er, etwa noch im Februar 1888 gegenüber Georg Brandes, mit der Vokabel »Häutung« (8: 260) belegte. Dies vorausgesetzt, gibt es gute Gründe, das Frühwerk nur mit gleichsam spitzen Fingern anzufassen und es der Old School zu über­ antworten, getragen dabei zusätzlich von Nietzsches Spott auf die ihm

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zu Ohren gekommene Begeisterung über sein Frühwerk zu Zeiten seiner geistigen Gesundheit. Exemplarisch hierfür ist der bereits erwähnte Brief an v. Gersdorff vom 1. April 1874, aber auch der Brief an Paul Rée vom 19. November 1877. Hier reagiert Nietzsche mit Ironie auf die Nachricht, in Wien sei ein »wahres Nest von Leuten« – der sog. ›Pernestorfer-Kreis‹ um Siegfried Lipiner (vgl. Venturelli 1984; McGrath 1997/98; Müller-Buck 2004), – entstanden, welche den zweifelhaften Geschmack haben, meine [frühen; d. Verf.] Schriften zu schätzen (Sie wissen, ich selber bin ein wenig über diesen Standpunct hinaus). (5: 291)

Als ein gutes halbes Jahr später MA erschien, war Lipiner denn auch bitter enttäuscht und schrieb Malwida v. Meysenbug im Blick auf den nun geltenden Slogan Nietzsches: »’Für freie Geister!’ Die ganze Hölle lacht, wenn sie das hört!« (zit. n. Stummann-Bowert 1998: 222) Auf einen ähnlich gehaltenen Brief an ihn reagierte Nietzsche im August 1878 geradezu erleichtert: Den ›Verehrer‹ und seinen Kreis bin ich nun los – ich athme dabei auf. (5: 346)

Nietzsche tat dies sehr zu Recht, wie sich später zeigen sollte. Denn Lipiner, der in der Folge vorübergehend (und erfolglos) im Kreis um Wagner als Autor der Bayreuther Blätter mit Beiträgen über sein (weiteres) Idol Paul de Lagarde zu reüssieren suchte, ließ sich, wie Nietzsche im Winter 1883/84 von Josef Paneth erfuhr, schließlich taufen und wurde Antisemit (6: 494). Die Geschichte der ›Verwechslungen‹ Nietzsches, insbesondere sein Frühwerk betreffend, war damit allerdings nicht zu Ende, ebenso wie der darauf bezogene Ärger Nietzsches. Dies belegt Aph. 246 aus WS. Er zielt, so die wohl begründete Vermutung von Eugen Kretzer (vgl. Gilman 1981: 344), auf Nietzsches Arzt Otto Eiser: Da macht Jemand als Denker und Mensch eine tiefe schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugnis davon ab. Und die Hörer merken Nichts! glauben ihn noch ganz als den Alten! (II: 661 f.)

Auch in der Folge kam Nietzsche immer wieder auf dieses Problem zurück, auch auf die Gründe für jene ›Umwandlung‹, wie etwa im Sommer 1885, im Entwurf einer Vorrede zu MA II:

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Es war im Sommer 1876. Damals stieß ich, wüthend vor Ekel, alle Tische von mir [...] und zürnte und tobte darüber, dort geliebt zu haben, wo ich hätte verachten sollen. (XI: 683)

Wenig später, im Entwurf einer (nie fertiggestellten) neuen unzeitge­ mässen Betrachtung, lesen wir: Man verachtet und verehrt in jungen Jahren wie ein Narr und bringt wohl seine zartesten und höchsten Gefühle zur Auslegung von Men­ schen und Dingen dar, welche nicht zu uns gehören, so wenig als wir zu ihnen gehören […]. Später, wo man stärker, tiefer, auch ›wahrhaf­ tiger‹ geworden ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt hat, als man auf diesen Altären opferte. (XI: 669 f.)

Dies war deutlich – und erinnert an die Klarheit der Rede im Entwurf einer Vorrede für M vom Frühjahr 1880: Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus […] – häßliche Anzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger näher bekannt gewesen. (IX: 47)

Was diese – durch die Bank dann doch nicht veröffentlichten – State­ ments vergleichbar macht, ist die Vehemenz in der Kritik am Früh­ werk. In der Sache ist Nietzsche recht zu geben: Die Sprache des frü­ hen Nietzsches ist, teilweise jedenfalls, die Sprache des Fanatismus. Und darum ist es so wenig mit Nietzsches Frühwerk, übersetzt in das hier verfochtene dritte Gebot: Der Nietzscheleser muss um die Pro­ blematik des frühen Nietzsche wissen. Ihm darf nicht unbekannt sein, dass Wagner schon die Vaterübertragung Ludwigs II. (1845–1886), König von Bayern (seit 1864), skrupellos für politische Absichten auszunutzen versucht hatte. Er muss wissen, dass sich Wagner, ein­ schlägig erfahren – schließlich ist ein zentrales Motiv seines Siegfried das der Vatersuche –, Ludwig II. gegenüber als dessen »erziehender Vater«, schließlich gar als Wotan und mithin »als allwissender, gött­ licher Berater« präsentiert hatte. (vgl. Naegele 1995: 90) Und ihm muss geläufig sein, dass der Beginn dieser Phase dokumentiert wird durch Nietzsches Brief an seinen damals besten Freund Erwin Rohde vom 15. August 1869, aus welchem der Briefempfänger etwa erfährt von Nietzsches »Juppiter« (Wagner), »bei dem ich von Zeit zu Zeit aufathme« und der ihm seine (damals noch) unveröffentlichte Schrift

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Über Staat und Religion (1864) – eine aus heutiger Sicht eher peinlich berührende »Memoire an den jungen Baiernkönig« – gegeben habe, von deren »Höhe und Zeitentrücktheit« er ganz begeistert sei. Hier­ mit hatte sich Nietzsche in die Reihe jener eingefügt, denen es nur noch um Glorifizierung ging: in die Reihe spätpubertärer Fans von, in heutige Sprache übersetzt, Follower-Zuschnitt. Und wie lange diese Phase währt, zeigt der Umstand, dass sich Nietzsche noch in WB (s. NLex2 [Niemeyer]: 412–415), im fast unveränderten Tonfall notiert: Gewisse Schriften [Wagners; d. Verf.], wie ›Beethoven‹, ›über das Dir­ giren‹, ›über Schauspieler und Sänger‹, ›Staat und Religion‹, machen jedes Gelüst zum Widersprechen verstummen und erzwingen sich ein stilles, innerliches, andächtiges Zuschauen, wie es sich beim Aufthun kostbarer Schreine geziemt. (I: 501 f.)

Derlei Sätze muss man eigentlich nicht mehr kommentieren, sie sprechen für sich: Was Nietzsche hiermit offenbart, ist der peinlich berührende Gestus unkritischer Heiligenverehrung. Forciert wurde derlei durch Nietzsches Berufung nach Basel und die nachfolgenden Besuche in Tribschen. Er sei damals, so wird Nietz­ sche später (1885) spötteln, »lächerlich-glücklich« (7: 52) gewesen – und dabei möglicherweise gedacht haben an seinen Brief vom 25. August 1869 an Paul Deussen, den er länger nicht gesehen hatte und nun unter dem mahnenden Slogan »Zur Freundschaft gehört Gegenwart« wissen lässt: Neuerdings beglückende Annäherung der wärmsten und gemüthvolls­ ten Art an Richard Wagner: den größten Genius und größten Menschen dieser Zeit, durchaus incommensurabel! (3: 46)

Wagner seinerseits, der Nietzsche erstmals ausgerechnet für jenes Wochenende nach Tribschen eingeladen hatte, an dem Cosima mit seinem ersten und einzigen Sohn Siegfried (»Fidi«) niederkam, schreckte nicht davor, Nietzsche an Fidis erstem Geburtstag (zugleich der »Gedächtnisstag Ihres ersten Aufenthaltes in meinem Hause«) als »Wächter über diese Angedenken an mich« (KGB II/2: 218) zu bestimmen. Zwei Jahre später legte er nach: Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel. (KGB II/4: 29)

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Dies war die gleichsam offizielle Erhebung Nietzsches in den Rang eines – zugleich als Nachlassverwalter bestellten – Ersatzsohnes (vgl. Borchmeyer/Salaquarda 1994: 1289), ausgesprochen auf dem Höhepunkt der Beziehung beider. Nietzsche war begeistert: Sie geben mir Zeit, meiner Aufgabe entgegen zu reifen; ja Sie reuten mit gütiger Hand selbst das zähere widerborstige Unkraut aus meinem Wege. (4: 15)

Hier macht der (Konfirmanden-)Ton die Musik: Wagner war zu dieser Zeit Nietzsches Gott, so dass die Frage, ob er in der Tragödienschrift (und anderen Texten) wirklich seine und nicht vielmehr Wagners Auf­ gabe verfolge, nicht wirklich eine Chance hatte – und dies, obgleich sie an der Zeit gewesen wäre. Nietzsche nämlich suchte auch in der Folge immer wieder Wagners Nähe als der »wahren ›Bildungsanstalt‹« (4: 39), als »feste[n] Anker, der mich hält und der es verhindert, dass ich in die schlimme Strömung der Zeit gerathe.« (4: 61) Auch Wagner stimmte immer wieder das nämliche Leitmotiv an: Der Junge [Fidi; d. Verf.] weist mich nun auf Sie, Freund, und giebt mir schon aus reinem Familienegoismus, die Sucht ein, alle meine auf sie gegründeten Hoffnungen buchstäblich zur Erfüllung getrieben zu sehen: denn der Junge – ach! – braucht sie! (KGB II/4: 104)

Was sich hier andeutet – Nietzsche als Quasi-Stiefvater, Beschützer der trauernden Witwe (Cosima) und Pate für Wagners Werk –, scheint zumindest vom Ansatz her jener Konstellation nachgebildet, die Wagner einige Jahre zuvor in seiner Autobiographie Mein Leben als die für das Verhältnis seines Vater zu seinem Stiefvater maßgebliche ausgewiesen hatte. Nietzsche, der intime Kenner (weil von Wagner zu Beginn ihrer Freundschaft beauftragte Korrektor) dieser Autobio­ graphie, ließ sich davon nicht schrecken, im Gegenteil: Noch Jahre später lässt er seine nach wie vor unverheiratet in Naumburg herum­ sitzende Schwester wissen, dass es im Hinblick auf die »mannigfache Verpflichtung«, die er »später einmal gegen Wagner's Familie haben könnte […], sehr wichtig« (5: 12) sei, wenn sie sich schon einmal genauer mit Haus und Hof bekannt mache, sprich: vorübergehend, wie von ihr beabsichtigt, im Haus ›Wahnfried‹ in Bayreuth einhüte. Ein fürwahr imposantes Szenario (im Fall von Wagners Tod) dürfte sich da vor den Augen des in Basel zunehmend unzufriedenen Alt­ philologen aufgetürmt haben: mit seiner Schwester in der Rolle der Bayreuther Haushofdame und sich selbst als Verwalter des leiblichen, aber natürlich auch geistigen Nachlasses.

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Kürzen wir die Sache hier ab: Wagner wusste die für ihn sehr vorteilhafte Vaterübertragung Nietzsches mit großer Instinktsicher­ heit zu konservieren. Beständig ließ er Nietzsche um die Verlässlich­ keit seiner Gunstbeweise bangen. So wurde er im Mai in Tribschen auf der Basis eines Gerüchts der »Sucht des Verrats« (CWT I: 347) bezichtigt und entsprechend in eine Art »Schule der Unterwerfung« (Köhler 1996: 62) genommen. Unzufriedenheit fungierte dabei offen­ bar als ›Erziehungsmaxime‹. So klagte Nietzsche beispielsweise gegenüber v. Gersdorff, nachdem ihn Cosima von Wagners Kränkung wegen seines unterlassenen Bayreuth-Abstechers auf seiner Weih­ nachtsreise via Naumburg in Kenntnis gesetzt hatte (KGB II/4: 206 ff.): Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. (4: 131)

Ängste dieser Art – in der Regel basierend auf Auftritten ähnlichen Charakters – befielen Nietzsche in der Folge in schöner Regelmäßig­ keit (vgl. Förster-Nietzsche 1897: 178 f.) und finden einen wohl letzt­ maligen Niederschlag in den Entwürfen Nietzsche für (an die Wag­ ners adressierte) Begleitschreiben vom Juli 1876 zu Richard Wagner in Bayreuth. Die Folgen dieser Abhängigkeit sind in Nietzsches Früh­ werk zu besichtigen: Es dient in vielen Passagen der Einverständnis­ erklärung gegenüber dem, der von ihm die Mitwirkung an der Errich­ tung eines geistigen Überbaus für sein eigenes Streben erwartete: eben Wagner, eine These, die für Nietzsches ›Erstling‹ Die Geburt der Tragödie (1872), seine Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsan­ stalten (1872) sowie UB I, also die ›Straussiade‹ (1873) und UB IV, die ›Festspielschrift‹ (1874), vergleichsweise leicht belegt werden kann (etwa Niemeyer 2011: 83 ff.). Etwas anders verhält es in dieser Frage mit UB II und III, wie nun zumindest angedeutet werden soll. UB II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) ist die fraglos wichtigste und wirkmächtigste Schrift aus dem Frühwerk, in der Nietzscheforschung auch ›Historienschrift‹ genannt (im Folgenden auch HL; zur ersten Orientierung: NLex2 [Niemeyer]: 165–169). In ersten Umrissen kann hier ein kosmopolitisch angeleg­ ter Begriff kultureller Vielfalt besichtigt werden, der speziell von der Jugend im Zuge eines Aktes der Gegenwehr gegen die ihr »bereits anerzogne Natur« (I: 328) erwartet wird. Auch geht es ein Stück weit

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um Nietzsches Selbstbefreiung von Wagner – was die Historienschrift zu einer historischen Schrift machen würde, die allenfalls noch von Interesse ist, um den Denkweg Nietzsches nachzuvollziehen. Dass Wagner auch hier noch eine Rolle spielt, zeigt die Rubri­ zierung der Historienschrift als (zweite) Unzeitgemässe Betrachtung, zumal Nietzsche zwischenzeitlich den Reihentitel »Bayreuther Hori­ zont-Betrachtungen« (VII: 585) in Erwägung zog. Verräterisch ist auch Nietzsches rückblickende Äußerung (vom Juni-Juli 1885): Meine ›unzeitgemäßen Betrachtungen‹ richtete ich als junger Mensch an junge Menschen, welchen ich von meinen Erlebnissen und Gelöb­ nissen sprach, um sie in meine Labyrinthe zu locken, – an deutsche Jünglinge: aber man überredet mich zu glauben, dass die deutschen Jünglinge ausgestorben seien. Wohlan, so habe ich keinen Grund mehr, in jener früheren Manier ›beredt‹ zu sein; heute – könnte ich es vielleicht nicht mehr. (XI: 579)

Das »vielleicht« hätte Nietzsche hier streichen können: 1885 konnte und wollte er definitiv nicht mehr in jener Weise beredt sein. Auch eine andere Korrektur ist angebracht, ausgehend von der Vokabel »deutscher Jüngling«. Denn hierbei handelt es sich um ein deutsch­ tümelndes Konstrukt Wagners, wie Nietzsche 1879, nach seiner Trennung von diesem, erkannte. Was Nietzsche also mit seiner 1885er Nachlassnotiz eigentlich sagen wollte, liegt insoweit auf der Hand: Nicht in seine Labyrinthe, sondern in jene Wagners hatte er seinerzeit junge Menschen mit seinen »Unzeitgemässen Betrachtungen« locken wollen – eine Absicht, die ihm erst verdächtig wurde, nachdem er sich selbst überredet hatte zu glauben, dass es mit Wagners Konstrukt vom »deutschen Jüngling« nichts Gutes auf sich habe. Für diese These spricht, dass die Stileinheitsthese – und mit ihr auch die Vokabel ›Volk‹ – im Verlauf dieser Schrift zunehmend in den Hintergrund tritt. Nur ganz zu Anfang spielt sie eine tragende Rolle, etwa wenn Nietzsche von der – notwendig zu steigernden – »plastische[n] Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur« spricht. Dies klingt so, als gäbe es das Ganze eines spezifisch deut­ schen Kulturvermächtnisses und eine darauf bezügliche Selbsthei­ lungskraft, gründend in einem spezifisch deutschen Kulturschaffen, zumal dem nachfolgt: [J]edes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu

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ziehen [...], so siecht es matt oder hastig zu zeitigem Untergang dahin. (I: 251)

Allerdings ist auffällig, dass Nietzsche diesen Satz nicht mit den Worten ›das Deutsche‹ eröffnet – was notwendig gewesen wäre, wenn er vollständig im Geiste Wagners hätte argumentieren wollen. Nietzsche nutzt vielmehr die Vokabel ›jedes Lebendige‹ – und muss dies auch tun, weil er ja ein »allgemeines Gesetz« zu verkünden sich anheischig macht. Über den Sinn dieses Gesetzes und die Triftigkeit der – letztlich auf den ›deutschen Volkskörper‹ gerichteten – Organismusvorstel­ lung, die ihm unterliegt, kann trefflich gestritten werden. Kaum Streit möglich ist aber über die Frage, dass die hier in Rede stehende Denkfigur in der Historienschrift randständig bleibt, weitergehen­ der gesprochen: dass sich in Nietzsches Hintansetzung der Vokabel ›das Deutsche‹ ein Paradigmenwechsel ankündigt, ebenso wie in der These, dass »der Deutsche keine Cultur hat, weil er sie auf Grund seiner Erziehung gar nicht haben kann.« (I: 328) Dies klingt unspektakulär, aber man sollte den programmatischen, vor allem aber den proklamatorischen Charakter dieses Satzes nicht ignorieren: mit ihm beendet Nietzsche seine Mission als Propagandist einer endlich in ihr Recht einzusetzenden ›deutschen Leitkultur‹ à la Wagner – und bringt sich als Erziehungs- und Bildungskritiker zur Anzeige, dem vor allem an einem gelegen ist: an der Jugend, an der Rehabilitierung ihrer »stärksten Instincte [...]: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe [...], die Hitze ihres Rechtsgefühles [...], die Begierde langsam auszureifen [...], die Ehrlichkeit und Keckheit der Empfindung.« (I: 323) Für Nietzsche geht es darum, all dies gegenüber der potentiell lebenszerstörenden Wirkung von Historie zur Geltung zu bringen. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang sein Ausruf: » Und hier erkenne ich die Mission jener Jugend, jenes ersten Geschlech­ tes von Kämpfern und Schlangentödtern, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht. (I: 331)

Wagner hat offenbar speziell dieser Satz besonders gut gefallen, auch wegen der Vokabel ›Schlangentöter‹. Jedenfalls schrieb er Nietzsche unter dem Datum des 27. Februar 1874: In aller Kürze hätte ich Ihnen nur das Eine zuzurufen gehabt, dass ich einen schönen Stolz empfinde, nun nichts mehr zu sagen zu haben, und Ihnen Alles Weitere überlassen zu können. (KGB II/4: 396)

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Freilich steht noch sehr dahin, ob Wagner nicht doch hätte Anlass haben müssen, seine Begeisterung etwas zu zügeln. Denn es ist durchaus auffällig, dass Nietzsche im Gegensatz zur Geburt der Tragödie die Vokabel »Drachentödter« (I: 119) ebenso meidet wie die in ihr angelegte Anspielung auf Wagners Siegfried-Mythos, ja mehr als dies: auch von der notwendigen »Wiedergeburt des deutschen Mythus« (I: 147) ist nun nicht mehr die Rede. Und schon gar nicht hat Nietzsche jene Lesart vorbereitet, die Cosima Wagner andeutet, wenn sie Nietzsche im März 1874 mit Seitenblick auf Wagner rückmeldet: Was mich persönlich ganz besonders an Ihrer Schrift ergriffen hat, ist die mir durch sie noch klarer gewordene Gewissheit dass Ihnen an dem Leiden des Genies in unserer Welt, die Erleuchtung der ganzen Zustände geworden ist. (KGB II/4: 413)

Denn tatsächlich redet Nietzsche in der Historienschrift ganz und gar nicht jenen das Wort, die – so wie Nietzsche dies bis zu diesem Moment mit Wagner getan hatte – »ein halb begriffenes Monument irgendeiner grossen Vergangenheit götzendienerisch und mit rechter Beflissenheit« umtanzen, »als ob man sagen wollte: ›Seht, das ist die wahre und wirkliche Kunst: was gehen euch die Werdenden und Wollenden an!‹« (I: 263) Nietzsches Sympathie gilt vielmehr eben jenen, und sie gilt mithin auch sich selbst: Er ist es, der sich hier als ›Werdender und Wollender‹ zur Anzeige bringt – und der, verdeckt, aber schon gut erkennbar, Wagner und das in ihm nach Götzendienst Verlangende als sein eigentliches Hemmnis outet. So gesehen ist Nietzsches Protest gegen die ›monumentalische Historie‹ auch ein Protest im Namen dessen, was in ihm nach ›Leben‹ und Ausdruck ringt: ein Protest also eben jenes »Leidenden und der Befreiung Bedürftigen« namens Nietzsche gegen Wagner, den »Thätigen und Strebenden« (I: 258), und all dies im Auftrag der »Gesundheitslehre des Lebens« (I: 331), die Nietzsche als Desiderat einklagt. Und zugleich führt Nietzsche hier einen verdeckten Prozess gegen das ›monumentale‹ deutsche Vermächtnis, das Wagner exemplarisch im Ring des Nibelungen als vorbildhaft und erzieherisch wirksam zu sichern suchte. Ein Aspekt allerdings ist es, der überdauerndes Interesse ver­ dient. Gemeint ist das Konzept »kritischer Historie«, das auf den dabei erforderlichen ›kritischen‹ Menschentypus hin bedacht sein will. Nietzsche schreibt hierzu:

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Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Ver­ gangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt. (I: 269)

Mit diesem Satz verliert die Vergangenheit und das Tradierenswerte an ihr an Geltung – und mit ihm die Jugend ihre Rolle als »Erbe und Epigone« (I: 333). Temperamentvoll ruft Nietzsche der Jugend ersatzweise zu: Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. (I: 295)

Angelegt ist darin zugleich die Forderung, dass »unsere erste Genera­ tion« (I: 328) Geschichte nicht länger nur rezipieren kann. Vielmehr muss sie den Mut haben, »Geschichte zu machen« (VII: 611), sprich: sie muss sich selbst erziehen und zwar sich selbst gegen sich selbst, zu einer neuen Gewohnheit und Natur, heraus aus einer alten und ersten Natur und Gewohnheit: so dass sie mit sich altspanisch reden könnte Defienda me Dios de my Gott behüte mich vor mir, nämlich vor der mir bereits anerzognen Natur. (I: 328)

Welcher Gott es ist, der in dieser Frage hilfreich sein könnte, wird rasch klar: Es ist der delphische Gott, dessen als Imperativ verstandener Spruch »›Erkenne dich selbst‹« (I: 333) Nietzsche, in kritischer Wen­ dung auch gegen die Frühaufklärung und mithin Descartes’ ›cogito, ergo sum‹, in der lebensphilosophischen Variante ›vivo, ergo cogito‹ vorträgt, um gleichsam frei übersetzend auszurufen: Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! (I: 329)

Mit diesem Ausruf wurde Nietzsche zum Stichwortgeber der ihm nachfolgenden Jugend der 1890er Jahre sowie des von Gustav Wyne­ ken beeinflussten Teils ›der‹ deutschen Jugendbewegung. (vgl. Nie­ meyer 2002: 79 ff.) Wagner freilich hat diesem Ausruf vermutlich weit weniger abgewinnen können, zumal in Anbetracht von Nietz­ sches Antwort auf die Frage, wer dieses Leben schenken werde: Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigne Jugend: entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Leben befreit haben. Denn es lag nur verborgen, im Gefängniss, es ist noch nicht verdorrt und erstorben – fragt euch selbst! (I: 329)

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Was immer man von diesem Enthusiasmus in Sachen Selbstkonsti­ tution halten mag – von dem Künstler als Geist erweckende Macht ist hier nicht mehr die Rede. Mehr als dies: Wenn Nietzsche nach einer Jugend verlangt, die lernt, »das Chaos in sich zu organisieren«, um auf diese Weise »Erstling und Vorbild aller kommenden Culturvöl­ ker« zu werden und in diesem Zusammenhang als »Gleichniss für jeden Einzelnen von uns« den Ausblick auf eine Generation anbietet, die »zu begreifen [beginnt], dass Cultur noch etwas Andres sein kann als Dekoration der Lebens, das heisst doch immer nur Verstellung und Verhüllung« (I: 333 f.), dann klingt dies fast schon nach einer Dro­ hung via Bayreuth. Eine vergleichsweise deutliche Sprache spricht hier ein wenige Monate vor der Historienschrift entstandenes, wohl nicht umsonst – so Nietzsche 1886 im Rückblick auf eine Zeit, zu der er »bereits ›an gar nichts mehr‹ [glaubte]« – »geheim gehaltenes Schriftstück« (II: 370) namens Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Hier heißt es in erkennbarer Anknüpfung an das Stichwort ›Verstellung und Verhüllung‹ aus der Historienschrift, dass »das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst […] so sehr die Regel und das Gesetz« sei, »dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.« (I: 876) Dies war wie ein zweiter Schopenhauer, auch wie ein zweiter Rousseau gesprochen – und erinnert an die Worte, mit denen die Historienschrift ausklingt: So lernt er [Nietzsche; d. Verf.] aus seiner eignen Erfahrung [...], dass jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung der wahren Bildung sein muss: mag diese Wahrhaftigkeit auch […] einer ganzen dekorativen Cultur zum Falle verhelfen können. (I: 334)

Derlei Kritikpotential harrte der Anwendung auf den 1876er Wagner und das Publikum, das er anlockte, will sagen: Die Kritik, die Nietz­ sche in Reaktion auf seinen für ihn enttäuschenden, ja von ihm als krankmachend erlebten Festspielbesuch in aller Radikalität vollziehen sollte, war insoweit folgerichtig und setzte letztlich nur um, was sich hier, in den Schlusszeilen der Historienschrift, andeutet. UB III: Schopenhauer als Erzieher (1874). Durchaus vergleichbar nimmt sich die Sachlage aus in betreffs dieser im Oktober 1874 erschienenen dritten Unzeitgemässen Betrachtung Schopenhauer als

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Erzieher (im Folgenden auch SE; zur ersten Orientierung: NLex2 [Niemeyer]: 343–346). Nietzsche meinte später, im April 1888, in Vorbereitung seines Lebensabrisses für Georg Brandes, es handele sich bei SE um sein »Erkennungszeichen«, »wem sie nichts Persönli­ ches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun« (8: 287); noch später, in Ecce homo, ergänzte er, SE sei seine »innerste Geschichte«, sein »Werden«, eingeschrieben (VI: 320). Etwas weniger vornehm gesprochen: Nietzsche gab mit SE eine Art Ode auf seine allmählich sich vollendende Selbstbefreiung, und zwar ausgehend von der Beobachtung, dass die Menschen eigentlich »furchtsam« seien und sich »unter Sitten und Meinungen [verstecken].« (I: 337) Dahinter verbarg sich eine Art Forschungsprogramm mit dem Ergeb­ nis einer Sozialpsychologie menschlichen Verhaltens, ja mehr als dies: einer Psychologie menschlichen Handelns, die in der Linie des Anti-Psychologen Kant nicht zu entwickeln war, wohl aber in der Linie des Kantkritikers Schopenhauer. Zu denken ist dabei vor allem an Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit, etwa an das 4. Kapitel, wo Schopenhauer »unser Daseyn in der Meinung Anderer« (SW IV: 350) analysiert und beispielsweise herausstellt: »Bei Allem, was wir thun und lassen, wird, fast vor allem Andern, die fremde Meinung berücksichtigt.« (SW IV: 353) Vielleicht sollte man variieren: ›So wie Nietzsche bei allem, was er unter Bezug auf Wagner tat oder ließ, fast vor allem anderen die fremde Meinung, jene Wagners, berücksichtigte.‹ Zu ergänzen bleibt, dass die in SE geübte, von Schopenhauer inspirierte Kritik an den ›Scheinmenschen‹, die mit ihrer ›kulturellen‹ Hinterlassenschaft »ihre Zeit […] tödten« und folglich »sammt ihrer Zeit unterzugehen« (I: 339) verdienten, von Ferne an die Kritik am ›Bildungsphilister‹ David Friedrich Strauß erinnert. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Kritik zunehmend Abstand nimmt von der sowohl in der Geburt der Tragödie als auch in der ersten sowie, in abge­ schwächter Form, auch in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung vorgetragenen Alternative in Richtung einer notwendig herzustellen­ den »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines [lisez: des deutschen; d. Verf.] Volkes.« (I: 274) Der Fokus ist nun ein anderer: Es steht nicht mehr ›das‹ Deutsche’ gegen ›das‹ Ausländische, sondern der Topos »Bürger dieser Zeit« (I: 339) gegen den anderen: den des ›Unzeitgemässen‹, des sich – ob zu Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt – als Avantgarde Verstehenden.

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Folglich kann Nietzsche auch nicht mehr das Hohe Lied auf den ›Franzosenhasser‹ Wagner und dessen Deutschtumsvision in der Logik jenes ›deutschen Jünglings‹ anstimmen – dies jedenfalls nicht in Reinkultur: Nur ganz zaghaft tritt es noch hervor: das Loblied auf die »deutsche Musik, Tragödie und Philosophie« sowie auf Wagners Hoffnung auf das »deutsche Feuer«, vor dem, so Nietzsche nun mit entschlossener Weiterführung des von ihm aus Wagners Schrift Über das Dirigiren Zitierten (GSD VIII: 316), »die Eleganten [lisez: jene die frankophone Kultur nachahmenden Deutschen der Reichsgründungs­ generation; d. Verf.] allen Grund [haben] sich in Acht zu nehmen.« (I: 391) Aber diese Rede ist zunehmend Pose: Sie wird gebremst durch Nietzsches nun immer heftiger werdende Kritik seiner Landsleute nach dem Muster: [W]er unter Deutschen zu leben hat, leidet sehr an der berüchtigten Grauheit ihres Lebens und ihrer Sinne, an der Formlosigkeit, dem Stumpf- und Dumpfsinne, an der Plumpheit im zarteren Verkehre, noch mehr an der Scheelsucht und einer gewissen Verstecktheit und Unreinlichkeit des Charakters. (I: 392 f.)

Jahre später, in Ecce homo, wird Nietzsche voll Stolz auf diese Stelle zeigen und hervorheben, dass er sein »Misstrauen gegen den deut­ schen Charakter […] schon mit sechsundzwanzig Jahren ausgedrückt [habe].« (VI: 362) Worüber Nietzsche bei dieser Gelegenheit aller­ dings schweigt, ist der Umstand, dass er damals noch gefolgert hatte, als sei er über sich selbst erschrocken: »Ich weiss mir hier nicht recht zu helfen und kehre deshalb auf meine Bahn der allgemeinen Betrach­ tung zurück« (I: 393) – eine Bahn, so würden wir gern ergänzen, auf der Nietzsche das nicht so sehr national denn kosmopolitisch konnotierte Lob derer möglich wird, die »sich nicht als Bürger dieser Zeit fühlen« und die die Zeit »zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.« (I: 339) Dass Nietzsche mit dieser Wendung seines Arguments auf Widerspruch in Bayreuth und im Kreis der Wagnerianer traf, darf kaum erstaunen. Denn dort dominierte zunehmend die Sorge, »daß die Begeisterung von 1870, anstatt des Bayreuther Theaters, Dach­ auer Banken aufgerichtet [hat]«, symbolisch geredet, so Mathilde Maier weiter in diesem Brief an Nietzsche vom Februar 1875, den in ihren Augen eigentlichen, in Schopenhauer als Erzieher nicht hinrei­ chend thematisierten Skandal auf den Punkt bringend: »Juden sind wir geworden!« (KGB II 6/2: 25) Aufschlussreich ist in diesem

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Zusammenhang auch ein Brief Cosimas an Nietzsche vom 26. Okto­ ber 1874: Moniert wird an der Schopenhauerschrift, dass man Deutschland nicht als Winkel [...] betrachten darf, da es in seinem Guten und Schlimmen einzig ist, und wir nur wünschen können, dass die Raupen und Würmer [lisez: Juden; d. Verf.] die Pflanzen vor ihrer Entwickelung nicht zernagen möchten. (KGB II/4: 592)

Eine Antwort Nietzsches auf diesen Brief ist nicht überliefert – Cosima hat später die meisten Briefe Nietzsches verbrannt –, wohl aber eine solche auf einen ähnlich gehaltenen Einwand Emma Guer­ rieri-Gonzages, die Nietzsche Wochen später direkt anging mit ihrer Frage: Warum ereifern sie sich gegen das deutsche Reich? Erweckt es in Ihnen nicht mehr Hoffnung für die Zukunft als die schwache, kraft- und saftlose Zusammengehörigkeit der deutschen Staaten in früherer Zeit? (KGB II/4: 618)

Dies war deutlich, so deutlich, dass Nietzsche – wenn dieses Wort hier ausnahmsweise erlaubt ist – die Spucke weg blieb: »ob ich ein Feind des nationalen Gefühls bin oder ob ich das deutsche Reich verunglimpfe, oder ob nicht viel mehr – – doch nein, in solchen Dingen sollten Sie mich rechtfertigen, nicht ich mich.« (5: 5) Nachzutragen bleibt der Kern der Schopenhauerschrift. Er grün­ det in jenem Leitmotiv, das diese dritte Unzeitgemässe Betrachtung mit der zweiten gemeinsam hat: die Figur des »›Erkenne dich selbst‹« (I: 333), aber auch das dazugehörende Lob des Einzelnen bei gleich­ zeitigem Tadel der Masse. Entsprechend klingt es fast nach einer Fort­ setzung der Historienschrift, wenn Nietzsche schon auf der zweiten Seite der Schopenhauerschrift verlauten lässt: »Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ›sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst.‹« Auch das in der Historienschrift angestimmte Loblied auf die Jugend – und deren ›Mission‹ – klingt nun erneut an, diesmal in Gestalt des Tadels, »[j]ede junge Seele« sei »in Ketten der Meinungen und der Furcht gelegt.« (I: 338) Beides ist mit diesen häufig als folgenreich für die Jugendbewegung behaupteten Sätzen zur Geltung gebracht: Dass Erziehung nicht helfen kann, wenn der Einzelne seine ›Furcht‹ nicht überwindet; und dass Erziehung unter der damit gegebenen Bedingung nur als eine Art Hilfe zur Selbsterziehung bestimmt

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werden kann, also als eine befreiende Tat im Blick auf die notwendige Emanzipation des Einzelnen nach dem Muster: Deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. (I: 341)

Dass Nietzsche selbst eines solchen Befreiers bedürftig war, zeigen Formeln wie die von einem von Schopenhauer ausgehenden »zau­ berartigen Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes«, ebenso wie der Zusatz, dass Schopenhauer »nur solche zu seinen Erben zu machen verhieß, welche mehr sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und Zöglinge.« (I: 349 f.) Dazu passt, dass Nietzsche wie ein guter Sohn noch bis in den Sommer 1875 hinein kaum eine wichtigere Nebenbeschäftigung kannte als die Auseinandersetzung mit denen, die sich, wie etwa Eugen Dühring, als Schopenhauers »entschiedenste Antagonisten« (VIII: 131) auslegten. Mit ›Befreiung‹ jedenfalls und mit ›kritischer‹ Historie hatte dies wenig zu tun, viel allerdings mit ›monumentali­ scher‹ (Wissenschaftler-)Historie – ein, wie es scheinen will, deutli­ cher Rückfall also hinter den in der Historienschrift erreichten Erkenntnisstand. Dieses Problem wird Nietzsche erst Jahre später erkennen, etwa in der Morgenröthe, wenn er, das Beispiel Wagner gleich einschließend, sich irritiert darüber zeigt, dass er damals »sei­ nem Durste nach der ›Huldigung in Bausch und Bogen‹« (III: 149) unter Zurückstellung durchaus vorhandener Bedenken nachgegeben habe – ein Problemkomplex, der uns von Wagner her seltsam vertraut vorkommt und Anlass geben könnte, erneut die Vokabel ›Vaterüber­ tragung‹ ins Spiel zu bringen. Vielleicht noch mit dem Zusatz: Was noch fehlte, war »Vater­ mord«, etwa nach dem Muster von Nietzsches Lesebuch NW. Nietz­ sche gibt in diesem am 2. Januar 1889 (s. 8: 571) zurückgezogenen Publikationsprojekt (s. NLex2 [Landerer]: 278; vgl. Sommer 2008) laut seines Weihnachten 1888 verfassten Vorworts Kunde davon, dass die von ihm ausgewählten eigenen Textstücke (ab Menschliches, All­ zumenschliches) »hinter einander gelesen, weder über Richard Wag­ ner noch über mich einen Zweifel lassen [werden]: wir sind Antipo­ den.« (VI: 415) Eben dies scheint mir eine der wenigen gesicherten Wahrheiten der Nietzscheforschung zu sein, die allerdings als solche anzuerkennen der Old School weit schwerer fällt als der New School – ein klarer Punktsieg also für letztere, der durchaus als Überleitung zum nächsten Kapitel taugt.

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3 »… feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!« Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur

Es besteht wohl kein Zweifel: Der ›frühe‹ Nietzsche, präziser gespro­ chen: Der unkritische Wagnerianer aus der Zeit der Geburt der Tragödie, der noch mit der ganzen spätpubertären Gläubigkeit eines Hitlerjungen der Flakhelfergeneration darüber fabulierte, dass der Mensch nur so viel Würde habe, als er »bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius« (lies: Wagner) sei und nur als ein solches »völlig determinirtes […] Wesen […] seine Existenz entschuldigen« (VII: 348) könne, war ein boshafter Fanatiker und (deutschtümelnder) Leitkulturtheoretiker par excellence und bekundete mit Stichworten wie den vorgenannten kaum mehr als seine Not, einer Rechtfertigung zu bedürfen für die Unterordnung des eigenen Strebens unter die Vorgaben Wagners. Als Beleg mag hier Nietzsches späteres Räsonie­ ren über diese Zusammenhänge gelten, etwa ein für sich stehendes Nachlassnotat von Juni/Juli 1885: Der beleidigte Stolz, der Verdruß darüber, dort geliebt zu haben, wo man hätte verachten können, eine hinzukommende Schwermut über die entstandene Leere und Lücke, endlich der Biß der intellektuellen Eitelkeit, welche sagte »du hast dich betrügen lassen« – : dies war das nächste Erlebniß.« (XI: 573)

Vielsagend ist auch Nietzsches Erste Unzeitgemässe Betrachtung von 1873, eine Abhandlung, die fraglos mit den von Nietzsche nicht zur Veröffentlichung freigegebenen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten um den Rang als schwächste Schrift Nietzsches konkurrieren darf und dies vor allem dem Umstand verdankt, dass sie insgesamt als letzte Opfergabe Nietzsches auf dem Altar Wagners zu gelten hat (vgl. Niemeyer 1998: 165ff.). Die Differenzen der kulturpo­ litischen Sendung – die Geburt der Tragödie als Maßstab genommen – sind denn auch minimal: Statt Einheitsstiftung qua Rückbesinnung

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auf spezifisch deutsche Mythen redet Nietzsche nun von der not­ wendig herzustellenden »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäusserungen eines [lies: des deutschen; d. Verf.] Volkes.« (I: 163) Das Ziel also bleibt das nämliche. Vor allem aber scheint nun der diesem Streben hindernd entgegenstehende Feind ausgemacht: eben David Friedrich Strauss resp. der Typus des ›Bildungsphilister‹, den er repräsentiert. So macht Nietzsche Strauss zum zentralen Vorwurf, »dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile« Vorschub geleistet zu haben, folgernd: »Mit dieser Art von ›Kultur‹ [...] kann man […] keine Feinde bezwingen […] (ebd.). Freilich: An sich braucht man nicht viel Lärm zu machen wegen des Umstandes, dass Nietzsche hier sowie mit seinem Erstling der aus Wagners Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik herrührenden Denkfigur des ›deutschen Jünglings‹ ebenso seine Reverenz erwies wie Wagners hier vorgetragener und dann in der Beethoven-Fest­ schrift von 1870 deutlich politisierten Absicht, das »Streben der Deut­ schen nach einer höheren politischen Bedeutung« mittels Rekurses auf »deutsche[] Kunstbestrebungen« (GSD 8: 30f.) zu stärken. Denn wer hier und so redet, ist ja letztlich gar nicht Nietzsche, sondern Wagner (vgl. Niemeyer 1998: 150 ff.). Die beinahe totale Wagnerab­ hängigkeit des frühen Nietzsche und mithin der Umstand, dass sich hier jemand äußert, dem Wagner – wie Nietzsche, längst hellsichtig geworden, 1880 andeutet, – »ein Stück Gehirn« ausgeschnitten habe, so dass er (seinerzeit) allenfalls noch »halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung ausführen« konnte (IX: 159), dokumentiert auch das Zentralpostulat aus der Geburt der Tragödie: »erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Cul­ turbewegung zur Einheit ab«, heißt es hier, sowie, ausgehend von dem hiermit erstmals aufgestellten Kultureinheitsideal: »das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstleri­ schen Phantasie« sei ebenso fraglich wie eine Kultur – etwa, so darf man wohl ergänzen, die gegenwärtige deutsche –, »die […] von allen Culturen sich kümmerlich zu ernähren verurtheilt ist.« (1: 145 f.) Soweit Nietzsches seinerzeitige Diagnose, und auch die Therapie konnte für einen Wagnerianer wie ihn kaum fraglich sein, wie insbe­ sondere die Schlusspassage der Geburt der Tragödie deutlich macht mit der – nach 1933 in Deutschland folgenreich werdenden (vgl. Niemeyer 2002: 210) – Anrufung der »mythische[n] Heimat« des »deutsche[n] Geist[es]«, der sich eines Tages wach finden werde, »in

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aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes«, und der dann »die Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken [wird]!« (I: 154) Für den Eingeweihten war hiermit erkenn­ bar, dass Nietzsche sein Einverständnis mit Wagners Absicht bekun­ det hatte, den Ring des Nibelungen als Moritat auf die Unterdrückung des ›deutschen Genius‹ Siegfried durch die als Judenkarikaturen angelegten ›tückischen Zwerge‹ Mime und Alberich aufzubereiten. All dies und auch das in den Bildungsvorträgen von 1872 hierzu noch nachgetragene ist vergleichsweise eindeutig und unendlich weit entfernt von jener Nonchalance, mit der Nietzsche im Nachlass vom Frühjahr 1880, zwei Jahre nach seinem endgültigen Bruch mit Wagner, als eine Art Philosoph der Kulturen im besten Sinne des Wortes einen Ausblick wagen wird auf ein kommendes Zeitalter, »welches wir das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll« (IX: 48), um im gleichen Atemzug, anlässlich der Relektüre einiger seiner »älteren Schriften« – und man hat dabei Anlass, sowohl an die Tragödienschrift als auch an die Erste Unzeitge­ mässe Betrachtung zu denken, – sein Erschrecken zu äußern über die »Sprache des Fanatismus« (ebd.: 47), die er damals präferiert habe. Umso mehr muss erstaunen – und dies gibt vielleicht ein Zeugnis für eine Wagnerabhängigkeit in zweiter Potenz –, dass Nietzsche acht Jahre später, in Ecce homo, dem neu hinzugekommenen Leser der 1886 in Neuauflage wieder zugänglich gemachten Geburt der Tragödie glauben machen wollte, sein eben zitiertes Wort von den ›tückischen Zwergen‹ habe sich seinerzeit auf »die christlichen Priester« (VI: 310) bezogen. Ohnehin wird man nur staunen können über die Keckheit, mit der Nietzsche seinen Erstling nun, 1888, als »politisch indifferent«, gar als »undeutsch« (VI: 310) meint einordnen zu dürfen. Als einzige Erklärung für diese bagatellisierende Lesart wider besseres Wissen bleibt, dass es Nietzsche um eine Nebelkerze zu tun war, gezündet aus Scham über das einstmals Publizierte, dem Motto (aus der GötzenDämmerung) folgend: Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss... (VI: 59).

Etwas mutiger – um an dieser Vokabel anzuknüpfen – war Nietzsche da schon in seinem Versuch einer Selbstkritik von 1886 mit seiner Bemerkung gewesen, er habe damals »vom ›deutschen Wesen‹ zu fabeln« (I: 20) begonnen, noch mutiger war er im Frühjahr 1888

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zumindest privatim, beim heimlichen Erproben einer dann doch nicht zur Veröffentlichung gebrachten Vorstufe zur eben angeführten Ecce homo-Passage, die da lautet: Diese Schrift [die Geburt der Tragödie; d. Verf.] gebärdet sich deutsch, selbst reichstreu – sie glaubt selbst noch an den deutschen Geist!... (XIII: 227)

Dies war zutreffend beobachtet und klingt – erneut, wenn man die oben erwähnte Leseerfahrung vom Frühjahr 1880 in Rechnung stellt – nach erschrecktem Erstaunen angesichts der nochmaligen Lektüre des fast schon Vergessenen, wenn nicht gar Verdrängten. Fast verständlich also, dass sich Nietzsche wenige Seiten später, als gelte es, den eigentlichen Schuldigen für seine 1872er Ausfälle namhaft zu machen, unter der Überschrift »Wagner als Problem. Ein Wort zur Aufklärung.« den Satz notierte: [Wagner] der zu jedem Schmutz condescendirte, mit dem sich der deut­ sche Geist, dieser so corrupte deutsche Geist, befleckt hat. (XIII: 243)

Die dann von Nietzsche in Druck gegebene Variante – für Nietzsche contra Wagner – war allerdings schon wieder irreführend: »seitdem Wagner in Deutschland war, condescendirte er Schritt für Schritt zu Allem, was ich verachte – selbst zum Antisemitismus…« (VI: 431), eine Formulierung, mittels derer Nietzsche suggeriert, er habe nicht bereits in jener Zeit, in der Wagner ›noch nicht in Deutschland‹ (also noch in Tribschen) war, um Wagners Antisemitismus wissen können. Aber auch abzüglich dieser das Psychologische streifenden Über­ legungen, bleibt ein Befund: Nietzsche hat sich in seiner Geburt der Tragödie erstmals und mit Verbeugung gegenüber Wagner zu einem völkischen Kultureinheitsideal bekannt. Später, selbst noch in der Zeit von Ecce homo, unterzog er sein Wissen um die dunkle Seite Wagners sowie sein Wissen um die Fragwürdigkeit seiner Geburt der Tragödie und weiterer seiner ›älteren Schriften‹ immer mal wie­ der der Zensur, um als nun arrivierter Deutschtumsverächter und Anti-Antisemit nicht mit der Problematik seiner Wagnerverehrung sowie seines frühen Antisemitismus zum Thema zu werden. Davon freilich bleibt die Leistung unberührt, die sich in dem von Nietzsche vollzogenen Paradigmenwechsel weg vom Streben nach deutscher Leitkultur hin zu einem psychologischen Forschungsprogramm samt einer dazugehörigen neuen Forschungskultur ausspricht. Diese These sei im Folgenden am Beispiel von Also sprach Zarathustra erläutert.

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Dass sich zwischen der Geburt der Tragödie und dem Zarathustra ein Paradigmenwechsel ereignet haben muss, ist kaum zu bestreiten, zumal es in Zarathustras Rede Von den Hinterweltern thematisiert wird. Man darf sie nämlich dechiffrieren als kaum verklausulierte Abrechnung mit Nietzsches eigener metaphysischer Phase aus der Zeit der Geburt der Tragödie (vgl. De Bleeckere 1979: 273; Hödl 2002: 275). Insoweit sieht man, dass im Zarathustra zwar teilweise die The­ men noch die gleichen sind, aber neue hinzukommen und diese sowie die alten nun ganz neu und in Gleichnis- sowie Rätselform entwickelt werden – bis hin zu dem Umstand, dass einem auch Wagner unter diversen Masken immer wieder begegnet, etwa in Der Zauberer, wo Nietzsche diesem zwei Jahre nach dessen Tod in extrem verklausu­ lierter Form einen bitterbösen Nekrolog hielt (vgl. Niemeyer 2007: 94 f.), aber auch in Das Grablied (ebd.: 51 f.), wo die Wagnerschelte ihren Höhepunkt erreicht mit den auf Nietzsches frühe Wagnerbe­ geisterung anspielenden Zeilen: Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch tanzte […]. Da überredetet ihr meinen liebsten Sänger. / Und nun stimmte er eine schaurige dumpfe Weise an; ach, er tutete mir, wie ein düsteres Horn, zu Ohren! (IV: 144)

Es fällt nicht schwer, im ›Überreden‹ zur ›schaurigen dumpfen Weise‹ und zum ›düsteren Horn‹ eine Anspielung zu erkennen auf jenes angeblich erst in Bayreuth greifende ›Condescendieren‹ zum ›schmutzigen‹ ›deutschen Geist‹, von dem Nietzsche im Frühjahr 1880 mit kritischem Seitenblick auf Wagner gesprochen hatte. Und doch: Hier und da in der Nietzscheforschung wird ja durch­ aus die Vermutung laut, auch im Zarathustra sei weiterhin Wagners Nietzsche in Wirksamkeit, zum Beispiel in der Rede Vom Lande der Bildung aus Zarathustra II. Timo Hoyer (2002: 508) etwa las Zara­ thustras Diagnose: »›hier ist ja die Heimat aller Farbentöpfe!‹ […] / Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen!« sowie den Nachsatz: »Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden« (IV: 153 f.) unter den Vor­ zeichen einer in diesem Punkt kontinuierenden Bildungskritik Nietz­ sches. Tatsächlich sind beide Sätze des Zarathustra zumindest auf den ersten Blick durchaus nicht so weit entfernt von dem, was Nietzsche in der Geburt der Tragödie gemeint hatte mit seiner Kritik an einer Kultur, »die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern […] von

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allen Culturen sich kümmerlich zu ernähren verurtheilt ist« (I: 146). Mithin steht die hier vertretene These eines sich im Zarathustra voll­ ziehenden Paradigmenwechsels zugunsten eines psychologischen Forschungsprogramms und einer entsprechenden Forschungskultur scheinbar auf tönernen Füßen – vorerst jedenfalls, weil wir noch nicht recht wissen, wie wir den von Hoyer praktischerweise ignorierten merkwürdigen Fortgang dieser Rede und vor allem die von mir in der Überschrift dieses Kapitels herausgestellte Textzeile »[…] feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!« (IV: 154) zu deuten haben. Hilfreich in dieser Situation ist vermutlich Nietzsche selbst, zumal er immer mal wieder gegen wirkend zu ihm zu Ohren gekom­ menen Verständnisschwierigkeiten der ersten (sehr wenigen) Zara­ thustra-Leser bereit war, Lesarten- und Übersetzungsvorschläge zu unterbreiten, und sei es nur dahingehend, dass M und FW »als Einlei­ tung, Vorbereitung und Commentar« (6: 496) zu Za bzw. zumindest doch zu dessen ersten drei Teilen zu lesen seien. Dies ist ein sehr wichtiger Hinweis, dem nicht schon Rechnung getragen ist, wenn man auf den ’vorbereitenden’ Charakter der Aph. 125 sowie 342 von FW für Zarathustra’s Vorrede verweist. Zentraler ist, dass die beiden von Nietzsche genannten Aphorismensammlungen für die konsequente, nun auch um stärker anti-christliche Akzente bereicherte und psycho­ logisch ambitionierte Fortführung der anti-metaphysischen Program­ matik stehen, wie sie Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches auf die Agenda gerückt hatte. Nimmt man noch hinzu, dass an M das Ausmaß erstaunen muss, in welchem Nietzsche zentrale Programmformeln der Psychoanalyse Freuds vorwegnimmt, wohingegen an FW vor allem das Konzept jener »neue[n] Philosophen« (III: 530) imponiert, die Nietzsche von einem »kriegerischen Zeitalter« erwartet, »das den Heroismus in die Erkenntniss trägt« (III: 526) und die ihm eine »andere Welt« (III: 530) des Wissens und des Lebens zu entdecken und zu begründen haben, ergibt sich im Blick auf Za plötzlich eine Fülle an Deutungsoptionen, angefangen vom Procedere eines Therapeuten mit anti-biblischem und zugleich prä- und pro-psychoanalytischem Gestus, als welcher Zarathustra in der Rede Vom Baum am Berge (aus Za I) auftritt (vgl. Niemeyer 2007: 20 f.), bis hin zu einer forschungsmethodologisch interessierten Lesart von Zarathustras Rede Von der unbefleckten Erkenntnis (aus Za II) in welcher unter dem Symbol des ›Mondes‹ Kant seine Hinrichtung erfährt als »Mönch im Monde, lüstern nach

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der Erde und nach allen Freuden der Liebenden« (IV: 156), aber, vom Geistigen her, zur »Verachtung des Irdischen« (IV: 157) überredet – und in welcher schließlich, gleichfalls als Symbol für die (nun aller­ dings hinreichende) Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, die ›Sonne‹ angerufen wird, deren allererstes Anzeichen seit der gleich­ namigen Aphorismensammlung von 1881 fraglos die »Morgenröthe« ist, die »ungeduldig über das Meer kommt«, denn: »Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten.« (IV: 158 f.) Zugegeben: Geklärt war hiermit sowie mit der nachfolgenden Pointe (»Und diess heisst mir Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!«; IV: 159) nur wenig. Immerhin greift aber nun, von dieser Lesart ausgehend, ein Anschluss in Richtung von Zarathustras Rede Der Wanderer (aus Za III), in welcher Zarathustra auf dem Bergrücken seiner (glückseligen) Insel stehend das »andere Meer« vor sich ausgebreitet sieht und spricht: Die Nacht aber war kalt in dieser Höhe und klar und hellgestirnt. (IV: 195)

Wieder nämlich geht es – wie die Vokabel ›hellgestirnt‹ zeigt (vgl. auch Klass/Kokemohr 1998: 319) – um Kant. Gemeint ist die berühmte Gleichsetzung des »bestirnten Himmels über mir« mit dem »moralische[n] Gesetz in mir« aus Kants Kritik der praktischen Ver­ nunft (1788), die, so Wolfram Groddeck (1989: 490), Nietzsche seit 1868 zumindest über die Quelle Kuno Fischer bekannt gewesen sein dürfte. Und wenn man nun noch bedenkt, dass Zarathustra dem den Hinweis folgen lässt auf die Ahnung um den Beginn seiner »letzte[n] Einsamkeit«, um fortzufahren: »Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese schwangere nächtliche Verdrossenheit!« (IV: 195), ist von einer durchaus provokanten Gedankenfolge zu sprechen, die bedeuten könnte, dass der ›hellgestirnte‹ Himmel, auf den Kant noch vertraute, für Zarathustra keine Hilfe mehr ist. Die nahe liegende Folgerung: Praktische Philosophie hat ausgespielt, was Not tut, ist so etwas wie Forschung im Blick auf die ›schwarze traurige See‹ bzw. die ›schwangere nächtliche Verdrossenheit‹, vielleicht darf man auch übersetzen: Was Not tut ist Forschung im Blick auf die Nacht- und Schattenseite des Menschen, was Not tut ist Psychologie. Dasjenige übrigens, was Zarathustra dem noch folgen lässt, nämlich Assoziatio­ nen zum Wort ›Meer‹, klingen so, als könne man für dieses Wort auch bequem die Vokabel ›Mensch‹ einsetzen. Dies gilt etwa für Sätze wie:

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Schlaftrunken und fremd blickt sein Auge nach mir. / Aber es athmet warm, das fühle ich. Und ich fühle auch, dass es träumt. Es windet sich träumend auf warmen Kissen. / Horch! Horch! Wie es stöhnt von bösen Erinnerungen! Oder bösen Erwartungen? (IV: 195)

Was hier dominiert, ist die Reflexion über den Traum. Dürfen wir ergänzen: im Modus des Nachdenkens über den Traum als Sprache des Unbewussten? Und mit Zarathustra in der Rolle des Quasi-The­ rapeuten und Geburtshelfers am Bett des zukünftigen Übermen­ schen? Fast jedenfalls sieht es so aus: Zarathustra umschreibt die ihn nun dominierende Tendenz – »dem Meere Trost [zu] singen«, »ver­ traulich zu allem Furchtbaren« zu sein, »es zu lieben und zu locken« (IV: 196) – mit Vokabeln, die durchaus auch auf das Procedere eines Therapeuten passen könnten (vgl. Niemeyer 2007: 20 f.). In der Tat und um hier nun auch M in Betracht zu ziehen: Der entscheidende Paradigmenwechsel in der Grundanlage des ersten Zarathustra, nämlich Zarathustras in der Rede Von den Verächtern des Leibes vorgetragene provokante Setzung: »Leib bin ich ganz und gar und Nichts ausserdem« sowie die Fortführung: »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich« (IV: 39) basiert auf der psychologischen Raffinesse der Aphorismen M 119, 120 und 128 und auf dem hier gezogenen Fazit: »du wirst gethan!« (III: 115) Die Konsequenzen dieser Einsicht für die Neuauslegung Zarathustras – der sich bisher als Pädagoge verstand und als ›Lehrer des Übermenschen‹ agierte – sind erheblich: Er verabschiedet sich vom Weg der »Verächter des Leibes« – »Ihr seid mir keine Brücken zum Übermenschen!« (IV: 41) – und erkennt, dass es ersatzweise einer Theorie der Leiblichkeit bedarf, man kann vielleicht auch sagen: es bedarf einer Psychologie des Unbewussten und seiner Profilierung als Psychologe. Ist dies nun aber auch – und damit komme ich zurück auf das eben verlassene Problem – die Botschaft, die Zarathustra in seiner Rede Vom Lande der Bildung vorträgt? Ich denke schon, und zwar nicht nur, weil diese Rede mit dem Resümee endet: So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, – das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen. / An meinen Kindern will ich es gut machen, dass ich meiner Väter Kinder bin: und an aller Zukunft – diese Gegenwart! (IV: 155)

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Denn mit diesen in der (reform-)pädagogischen Rezeption stark beachteten Worten (vgl. Niemeyer 2002: 143 ff.) wird zumindest eines klar: Das Land der Bildung, sofern es das Vermächtnis der Väter zu sichern hat, ist abgebrannt, der Versuch, eine Art deutsche Leit­ kultur im Geiste Wagners und im Sinne der Bildungsvorträge von 1872 aufbauen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Was Not tut, ist ein gänzlicher Neuanfang, den Zarathustra denn auch skizziert unmittelbar nachdem er der Nacktheit der ›bunt gesprenkelten‹ Gebildeten ansichtig geworden ist: Lieber wollte ich noch Tagelöhner sein in der Unterwelt und bei den Schatten des Ehemals, – feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen! (IV: 154)

Vor allem, so darf man vielleicht paraphrasieren, sind die ›Unter­ weltlichen‹ auskunftsträchtiger und ein wesentlich interessanterer Forschungsgegenstand als diejenigen, die ihre Bildung – so Nietzsche schon in VM – »nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute« zusammengestellt haben und deren (öffentliche) Meinungen nichts anderes sind »als Masken, Putz und Verkleidung« (II: 514). Die Vokabel ›Unterwelt‹ wird man insoweit, aber auch wegen ihr leicht erkennbaren Gegenstellung zur metaphysisch gemeinten Voka­ bel ›Hinterwelt‹ aus der eben erwähnten gleichnamigen Rede als Metapher für einen (neuen) Gegenstandsbereich der Forschung – den des Unbewussten, aber auch den mit den Vokabel ›Leib‹, ›feist‹ und ›voll‹ belegten des Triebhaften – lesen dürfen. Dass es dabei, methodologisch gesehen, eines ganz neuen Zugangs bedarf, scheint der Nachsatz anzudeuten: ›Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben und Aberglauben‹: also brüstet ihr euch – auch ohne Brüste!« (IV: 154)

Dies ist als Wortspiel zwar komplett misslungen. Aber es scheint nicht abwegig, das Wort ›Brüste‹ als Indiz zu lesen für Nietzsches Interesse an notwendiger Tatsachenforschung in Sachen der – gut fünfzehn Jahre später von Freud ins Zentrum gerückten – ›sexuellen Frage‹ (als Chiffre eben für jene ›feiste‹ und ›volle‹ ›Unterwelt‹). Und damit, so scheint mir, ist endgültig der Konsens zerbrochen mit jenen, die sich allererst – so wie Wagner – meinten zuständig fühlen zu können für den Rückgewinn eines spezifisch deutschen, dem Leiblichen gegen­ über allenfalls normierend auftretenden Kulturvermächtnisses. Nicht erledigt ist damit allerdings die Frage nach den Gründen für die spezifische Stil- und Erzählform in Za, zumal sie Nietzsche

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keineswegs zum Vorteil gereichte, wie das nach wie vor doch recht fest gefügte Heer der Zarathustra-Gegner unter den Nietzschefreunden belegt. Sieht man von Petitessen ab – hierzu rechne ich, dass Nietzsche in Das Grablied an Verklausulierung gelegen sein musste, weil er so besser mit seiner Schwester wegen ihres Verhaltens in der Lou-Affäre abrechnen konnte (vgl. Niemeyer 2007: 51 f.) –, wird man wohl jenen einleitend nicht ganz absichtslos erwähnten Hitlerjungen der Flak­ helfergeneration wieder ins Spiel zu bringen und also zu antworten haben, dass dem Erschrecken Nietzsches über den boshaften Fanatis­ mus seines Frühwerks vom Frühjahr 1880 die Hauptverantwortung zukommt für den Wandel der Erzählform, der mit den ab 1878 erschei­ nenden Aphorismensammlungen zu beobachten ist und der mit Za einem neuen Höhepunkt zutreibt. Einigermaßen aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung aus dem Nachlass von Juni-Juli 1885, in welcher Nietzsche zunächst die Besonderheit seiner Aphorismenbücher zu charakterisieren sucht, in welchen »zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten [stehen]«, um dann fortzufahren mit: Abhandlungen schreibe ich nicht: die sind für Esel und ZeitschriftenLeser. Ebensowenig Reden. Meine ›unzeitgemäßen Betrachtungen‹ richtete ich als junger Mensch an junge Menschen, welchen ich von meinen Erlebnissen und Gelöbnissen sprach, um sie in meine Labyrin­ the zu locken, – an deutsche Jünglinge: aber man überredet mich zu glauben, daß die deutschen Jünglinge ausgestorben seien. Wohlan: so habe ich keinen Grund mehr, in jener früheren Manier ›beredt‹ zu sein; heute – könnte ich es vielleicht nicht mehr. (XI: 579)

Ins Auge sticht hier die Vokabel ›deutscher Jüngling‹ – ein deutsch­ tümelndes Konstrukt des »Predigers des Franzosenhasses« (II: 652) Wagner, wie Nietzsche 1879 erkannte, als er nachtrug, dass zumin­ dest doch die Großväter dieses angeblich ›deutschen‹ Jünglings in Paris (sprich: Voltaire) sowie Genf (sprich: Rousseau) zu Hause gewesen seien. Was Nietzsche also mit seiner 1885er Nachlassnotiz eigentlich sagen wollte, liegt insoweit auf der Hand: Nicht eigentlich in seine Labyrinthe, sondern in jene Wagners wollte er seinerzeit mit seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen junge Menschen locken – eine Absicht, die ihm erst verdächtig wurde, nachdem er sich selbst überredet hatte zu glauben, dass es mit Wagners Konstrukt vom ›deutschen Jüngling‹ nichts Gutes auf sich habe. Kommen wir zum Schluss: Nietzsche, dieser zum Anti-Fanatis­ mus konvertierte Freigeist, wollte offenbar für die Zukunft sicherge­

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stellt wissen, dass man ihn eines Tages nicht erneut werde haftbar machen können für die Wirkung einzelner seiner Gedanken, in der Umkehrung gesprochen: dass es mittels der Textform gelte, dem Leser die Verantwortung für die Auslegung des Gelesenen zu über­ antworten. Dass dabei manches schief ging, zeigen einige der im Vorhergehenden referierten Vokabeln oder Bilder sowie die zwiespäl­ tigen, ja manchmal aggressiven Kommentare, auf die Nietzsches Za nach wie vor trifft. Hier nicht weiter Öl ins Feuer gegossen zu haben, ist meine letzte Hoffnung, und meine vorletzte lautet: Dass Sie, liebe Leser*in, der von mir vertretenen These, in Za vollzöge sich – von GT aus betrachtet – ein Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu einem psychologischen Forschungsprogramm samt dazugehörender neuer Forschungskultur, nun etwas mehr abgewin­ nen können als (möglicherweise) zu Anfang.

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Die Kenntnis des Menschen vorwärts zu bringen! […]. Es wird irgendwann einmal keine Gedanken geben als Erziehung. (Nietzsche, 1875)

Im Basislager: Nietzsche – (k)ein Philosoph? Diese Frage ist dem Beginn des Prologs entnommen. Der Titel dieses Beitrags und das Motto rühren her aus einem durch die Editionspolitik von Nietzsches Schwester (vgl. Niemeyer 2008: 85 f.) populär gewor­ denen Nachlassfragment von 1875 (vgl. VIII: 45) – das auf das Ganze und Große einer kaum zu überbietenden, immer auch psychologisch unterlegten erzieherischen Ambition Nietzsches abstellt. Zumal die­ ser letzte Aspekt verhält sich durchaus sperrig zu neueren Tendenzen in der Nietzscheforschung, darunter die Neigung, Nietzsche als »Großmachtphilosophen« ad acta zu legen und ersatzweise »die Größe seines Denkens im Kleinen zu zeigen« (Caysa/Schwarzwald 2012: VII). Im Sog von derlei Grundorientierung leidet hier und da und zumal im deutschsprachigen Nietzschediskurs nicht nur das Ver­ ständnis für Nietzsches Projekt an sich, sondern auch das Ansehen des 1869 nach Basel berufenen Altphilologen aus Röcken als Philo­ soph. So meinte beispielsweise Volker Gerhardt, beileibe kein berüch­ tigter Nietzscheverächter, sondern ein Gatekeeper der Zunft par excellence (in seiner Eigenschaft als langjähriger Mitherausgeber des von der Nietzschegesellschaft e.V. edierten Jahrbuch Nietzschefor­ schung), erstmals 1990: Auch wenn sein [Nietzsches; d. Verf.] Werk in fast allem unfertig geblieben ist, obgleich sich viele seiner Gedanken in einer exaltierten Geste erschöpfen und es in seinen Schriften kaum eine Einsicht gibt, die sich nicht schon bei anderen findet, ist er zum Klassiker der Philosophie geworden. (Gerhardt 2012: 31; 1990: 151)

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Dem fügte Gerhardt noch eine auf Nietzsche als Philosophen bezüg­ liche Fehlerliste an, die es wahrlich in sich hat: »Missachtung Hegels«, »Spott über Schleiermacher«, »Verrat an Kant«, »Schwanken zwi­ schen Leugnung der Freiheit und der Affirmation des ›freien Geis­ tes‹«, »Verkennung der Metaphysik«, »Annihilation der Schulen«, »unbekümmerte[r] Umgang mit Widersprüchen in seinen eigenen Schriften« (ebd.: 32), nicht zu vergessen, und dies eher auf Nietzsches Spätwerk hin gemünzt: »Phantasterei«, »empörende Wertung[en]«, »Ressentiment[s] gegen Juden und Christen« (ebd.: 43) – kurz: Werner Stegmaier, der Wichtigkeit nach durchaus mit Gerhardt vergleichbar (in seiner Eigenschaft als langjähriger Herausgeber der Nietzsche-Studien), hatte durchaus gute Gründe, Gerhardt wegen Äußerungen wie den zitierten unter der Rubrik »›Anti-Nietzsche‹« (Stegmaier 2013: 360) zu listen. Freilich: Auch Stegmaier hatte (und hat) mit Nietzsche und seinem Rang als Philosoph durchaus seine Schwierigkeiten und meinte beispielsweise 2009, Zarathustra habe mit seiner Lehre vom Übermenschen »verständlicherweise« Gelächter geerntet, »in der namhaften Philosophie des 20. Jahrhunderts« sei diese Lehre (und die der ewigen Wiederkunft) denn auch nicht weiterverfolgt wor­ den, Nietzsche habe durch diese beiden Lehren »erfolgreich auf sich aufmerksam gemacht, langfristig aber wenig gewirkt, seine tiefere Wirkung sogar eher verstellt.« (Stegmaier 2009: 20) Konsequenter­ weise forderte Stegmaier im Nachgang zu bereits von Hermann Wein (1972) vorgetragenen und von Josef Simon (2000: 225) erneuerten Bedenken dazu auf, Nietzsche nicht mit Zarathustra zu ›verwechseln‹ und also die in diesem Werk – immerhin das Hauptwerk Nietzsches – erstmals ausgeführten Lehren vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkunft und vom Willen zur Macht nicht für solche Nietzsches zu halten, eingeschränkter: nicht für die entscheidenden Lehren Nietz­ sches (vgl. Stegmaier 2009: 20). Indes: Wer diesem Lockruf in Richtung eines Nietzsche ohne Zarathustra folgt und also auch nicht durch die Zwiespältigkeit des in diesem Kontext verabreichten Trostes – etwa dahingehend, dass Nietzsche seinem Zarathustra ja »auch zahllose andere, nicht weniger bedeutsame Lehren lehren ließ« – irritiert wird, unterliegt der Gefahr, am Ende nur einen domestizierten Nietzsche zu präsentieren, etwa nach Art von Stegmaiers Bemerkung: Wirken Zarathustras Lehren düster und belastend, so wollte er, Nietz­ sche, doch eine Wissenschaft schaffen, durch die die Europäer ihres

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Erste Sicherungen: Nietzsches Nietzsche

Lebens wieder froh werden sollten, eine fröhliche Wissenschaft. (Stegmaier 2009: 20 f.)

Am Ende von derlei Trivialisierung wird am Geistesheroen Nietzsche kein anderer Gesichtspunkt mehr interessieren als der von Stegmaier herausgestellte, nämlich als »Anregungspotential für die verschie­ densten Bereich der Philosophie« (ebd.: 19) in Betracht zu kommen – wobei, ganz nebenbei, ein Reduktionismus der besonderen Art in Geltung tritt, insofern Nietzsches ›Anregungspotential‹ für die ver­ schiedensten Bereich der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hiermit schlicht unterschlagen wird. Wie aber auch immer: Hätte Stegmaier recht, wäre Nietzsche ein Denker, dessen ›Anregungen‹ in Sachen Pädagogik es im Folgenden aufzulisten gilt, um am Ende Bilanz zu ziehen. Gegen diese Pointe der neueren Nietzscheforschung meldet sich indes eine Reihe von Bedenken an.

Erste Sicherungen: Nietzsches Nietzsche Zunächst einmal hat jene – hier bestrittene – Pointe gerade ihrer Ein­ fachheit halber eigentlich durchaus etwas für sich, zumal sie recht gut die Geschichte von gut einhundertfünfundzwanzig Jahren (deutsch­ sprachiger) pädagogischer Nietzscherezeption abbildet. Was an ihr indes auffällt (zu Details vgl. Niemeyer 2002), ist die dabei zutage tretende extrem hohe Selektivität im Umgang mit Nietzsches Werk, was für die Zeit zwischen 1890 und 1914 meint: Der späte, moralkri­ tische Nietzsche rückte insbesondere für die Vertreter einer Jugend­ generation ins Zentrum, die von ruinösen Bildungs- und Erziehungs­ erfahrungen betroffen war. Das sich Nietzsche gegenüber zunächst noch versperrende pädagogische Establishment hingegen brachte allenfalls den frühen Nietzsche der Bildungsvorträge (von 1872) zur Geltung, der sich kaum in derartiger Absicht instrumentalisieren ließ, sondern noch dem Ideal einer wahren, auf Selbstzucht bauenden Bildung verpflichtet blieb. Erst in den Jahren 1914 bis 1918 entdeckte dieses Establishment Nietzsche in größerem Umfang als staatszuträg­ lichen Bildungsphilosophen, dessen Willen-zur- Macht-Konzeption dem Ideal einer deutsch-nationalen, militärischen Jugenderziehung zuführbar schien. In der Weimarer Epoche hingegen nahm man das gemeinschaftsstiftende Kriegserleben als Anlass, dem vermeintlich radikalen Individualismus Nietzsches, wie er sich noch in der Vor­

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kriegszeit hier und da Resonanz erhoffen durfte, endgültig Adieu zu sagen. Der pädagogische Nietzsche des Nationalsozialismus, gruppiert um Härtemetaphern, erweckte schließlich gar den Eindruck, als sei es Nietzsche um nichts anderes gegangen als um die Zelebrierung eines heroischen Jugendlichen arischer Wesensart, der durch Züchtung erzeugt und durch Selektion verhindert werden könne. Und wenn man nun noch die vielen Facetten einbezieht, die die pädagogische Rezep­ tion in der Nachkriegszeit an Nietzsche herantrug – als Exempel muss der Hinweis auf Jürgen Oelkers (1998) genügen, der mehrheitlich und ohne Gespür für die hierbei zu beachtende Problematik (hierzu etwa Niemeyer 2017: 286 ff.) »einige Bemerkungen Friedrich Nietzsches über Erziehung« (so der zentrale Teil des Titels seines Beitrages) zitierte, und zwar dies bevorzugt aus den Nachlassfragmenten, die Nietzsches Schwester für ihre Kompilation von Der Wille zur Macht (1906) nutzte –, bleibt nur der Befund, dass bei all dem offenbar der von Nietzsche gegeißelte Typus des »schlechtesten Leser« je das große Wort führte, von Nietzsche, wie gegen Ende des Prologs erläutert, der Gattung der »plündernden Soldaten« (II: 436) zugerechnet. So also geht es, mit Nietzsche geredet, nicht, wenngleich es, mit Stegmaier gedacht, notwendig so gehen muss, wenn man Nietzsche als ›Anre­ gungspotential‹ anempfiehlt und damit fast schon zum Plündern frei­ gibt, zumal wenn man, wie Stegmaier, zusätzlich der Meinung frönt, Nietzsche gehe nicht mehr »vom Verstehen, sondern vom Nicht-Ver­ stehen [aus].« (Stegmaier 2000: 42) »Nietzsche verstehen« lautet, so betrachtet, das andernorts (vgl. Niemeyer 2011) genauer erläuterte Gebot der Nietzscheforschung, dies auch zwecks Abwehr jeden weiteren Versuchs, ihm unsortiert und im Unwissen um die tieferen Zusammenhänge pädagogische ›Anre­ gungen‹ abzugewinnen. Dies meint auch, allererst dass Nietzsche als Nietzsche Kennzeichnende (vgl. Niemeyer 2013a: 9 ff.) in Erinnerung zu bringen, etwa, wie gleichfalls im Prolog begründet, im Rückgriff auf Karl Schlechta oder auch Mazzino Montinari und deren Konzen­ tration auf das Werk ab MA. Der nächste Schritt wäre dann die Her­ ausstellung zentraler, dieses ›Echte‹ ausmachenden Konstanten in Nietzsches Werke im Blick in die hier im Zentrum stehende pädago­ gische Thematik, also etwa der Umstand, dass Nietzsche eigentlich von Beginn an infolge eigener, desaströser Erziehungserfahrungen (vgl. Niemeyer 1998: 9 ff.) sowie später im Nachgang zu entspre­ chender Schopenhauer-Lektüre (ebd.: 106 ff.) von der Frage umge­

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trieben wurde, wie »[d]er Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will« (I: 338), agieren solle, wie dieser also verhindern könne, immer nur an seine Existenz »in den Köpfen der Anderen« zu denken (IX: 63), um darüber mit Notwendigkeit das ihm Eigene zu verfehlen. Nietzsches Antwort auf dieses Dilemma hatte zwei Seiten, darunter den Selbstauftrag: »[B]ehüte mich vor mir, nämlich vor der mir bereits anerzognen Natur.« (I: 328)

Sowie, und dies auch als Gebot für Erzieher, das dem bis dato vorherr­ schenden kulturpädagogischen Paradigma Paroli bot, ebenso wie dem ›cogito, ergo sum‹ des Descartes zugunsten des nun von Nietzsche geltend gemachten neuen lebensphilosophischen Imperativ ›vivo, ergo cogito‹: Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! (I: 329)

Kaum weniger revolutionär waren die sechs Jahre später (1880) nachgetragenen Varianten: [S]ei anders, als alle Übrigen und freue dich, wenn Jeder anders ist, als der Andere

sowie: [W]ir wollen nicht gedankenlos unter dem Regimente der Furcht vor wilden Thieren weiterleben. So lang, allzulang hieß es: Einer wie Alle, Einer für Alle. (IX: 73)

Wie man hier sehen kann, gehorchte Nietzsches Gerechtigkeitsund Gleichheitskritik, auch seine Bildungskritik, die infolge der Veröffentlichung seiner von Wagner angeregten und von Nietzsche selbst bald schon wenig geschätzten Bildungsvorträge von 1872 als bildungselitär verengt rezipiert wurde, an sich einem durchaus hehren Ziel: Es ging darum, so etwas wie ›ewige Wiederkunft‹ (in Nietzsches Begriffen), also, wie man wohl sagen darf und später erläutert werden wird (vgl. Kap. 14), ›richtiges Leben‹ zumindest für die Zukunft hin sicherzustellen, ausgehend von der Einsicht, dass der Mensch infolge von Christentum (und Demokratie) – also den von Nietzsche als dys­ funktional eingeschätzten, von Ressentiments getragenen Entitäten – »alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinde«, mit der Pointe:

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So entsteht nothwendig der Sand der Menschheit: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. (IX: 73)

Legendär geworden – auch wegen unerwünschter Anhänger wie Mussolini (vgl. Niemeyer 2002: 217) – ist in diesem Zusammenhang Nietzsches 1882 nachgereichter Imperativ »gefährlich leben!« (V: 526), der nur Sinn macht unter der Maßgabe, dass das bisher geführte Leben noch nicht als ›richtiges‹ gelten kann. Zarathustra, ab 1883 eine neue Stufe in Nietzsches Entwicklung markierend, insofern Nietzsche nun als Dichter das Wort führte, nahm diesen Hinweis auf, etwa in Gestalt seiner bitteren Bemerkung: Kein Hirt und eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. (IV: 20)

Indes wusste Zarathustra in der Linie des von ihm verkündeten Tod Gottes auch um eine weitere, tragfähigere Alternative: Es muss nun neu über die (Begründbarkeit der) Verschiedenheit der Menschen nachgedacht werden, und dies insbesondere im Blick auf eine Exis­ tenzform, für die der Übermensch steht. Deswegen auch lässt Zara­ thustra dessen Gegenpart, den ›letzten Menschen‹ (vgl. Niemeyer 2007: 12 f.), im Blick auf die vermeintlich gesicherte, ihn beruhigende Wahrheit: »[W]ir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!«, überaus trocken auflaufen, indem er repliziert: »Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott!« (IV: 356) Deutlich wird hier: Zarathustra à la Nietzsche negiert zwar die Gleichheitsvorstellung, aber dies nicht aus sozialpolitischer Ignoranz heraus, sondern weil er den Menschen mittels der Neuwertung von Andersartigkeit und Nicht-Gleichheit dazu bringen will, die Verantwortung für seine Lebensgestaltung zu übernehmen und sich in diesem Sinne als Über­ mensch zu erweisen (vgl. Niemeyer 2016: 200 ff.).

Zwischenstopp: Nietzsches Philosophie, revisited Vor diesem Hintergrund überrascht denn auch nicht, dass Nietzsche im Sommer 1882, auf dem Höhepunkt seines um den Zarathustra gruppierten Schaffens, keine Schwierigkeiten hatte, von seiner Philo­ sophie als eines Ganzen zu sprechen, die er abzugrenzen vermochte von den Philosophien Anderer, etwa jener Schopenhauers. Ihr stellte er im Zuge dieser Abgrenzung den Auftrag, die Philosophie zu Wagners Kunst, kulminierend in Siegfried (1871), zu entwickeln:

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»Erst meine Philosophie ist recht dafür.« (IX: 683) Worum es dabei zu gehen hatte, stand ihm schon seit dem Siegfried-Porträt aus dem Nachlass von Herbst 1875 bis Frühling 1876 (VIII: 273) außer Frage, das dann in Richard Wagner in Bayreuth (1876) einfließen und die klagende, rhetorische Frage an das Bayreuther Publikum motivieren wird: Wo sind […] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch? (I: 509)

Schon hier steht der Übermensch und die Überzeugung vor der Tür, das nur Nietzsche dessen Philosophie geben könne – ein Thema, dass Nietzsche zwölf Jahre später, in Der Fall Wagner (1888), wieder auf­ greifen und in das Bild vom Schiff Wagners, einer Art OptimistenJolle, wie man scherzhaft wohl ergänzen darf, pressen wird, das auf das Riff einer »conträren Weltansicht«, der (pessimistischen) »Scho­ penhauerischen Philosophie« (VI: 20), aufgelaufen sei. In der Umkehrung geredet: Nietzsches Philosophie, deren Notwendigkeit hiermit behauptet wird, ist als eine optimistische resp. bejahende zu lesen. Um welches Zweckes will, wird deutlicher, wenn man sich jener 1876 noch als vermisst deklarierten ›Siegfriede‹ erinnert und zusätz­ lich den gleichfalls bereits erwähnten Nachlassvermerk vom Sommer 1882 einbezieht, ebenso wie dessen Weiterführung von April-Juni 1885, der dahingehend lesbar ist, dass nur Nietzsches Philosophie (und nicht jene Schopenhauers) geeignet sei, Siegfried als »Figur […] eines sehr freien Menschen« (XI: 491), und man darf nun wohl auch sagen: des 1876 sich der Sache nach andeutenden und seit Zarathustra auch als Begriff eingeführten Übermenschen, zu exponieren, der sich in einer ›Ordnung der Dinge‹ ohne Gott zu bewähren hat (vgl. Nie­ meyer 1998: 339 ff.). Soweit also Nietzsches (implizite) Pädagogik, anspruchsvoller: sein Bildungsprogramm in einem allerersten Umriss. Dass es von Nietzsche nicht durchgängig und mit entsprechender Stringenz ver­ fochten wurde (wie ja schon die angesprochenen, Wagner verpflich­ teten und deswegen ›bildungselitären‹ Bildungsvorträge von 1872 zeigen), bedarf nun einer etwas genaueren Erläuterung, ausgehend von der folgenden, im Prolog als programmatisch für dieses Buch angesprochenen, in der Nietzscheforschung der Old School leider kaum beachteten Bemerkung aus einem Brief Nietzsches aus Nizza an Carl Fuchs in Danzig vom 1. Dezember 1887:

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In Deutschland beschwert man sich stark über meine ›Excentricitäten‹. Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher ›excentrisch‹ gewesen bin. Zum Beispiel, daß ich Philologe war – damit war ich außerhalb meines Centrum […]. Insgleichen: heute scheint es mir eine Excentricität, daß ich Wagnerianer gewesen bin. (8: 209)

Diese Bemerkung gibt Nachgeborenen letztlich auf, jenes ›Centrum‹ Nietzsches, das ihn als Philosophen Charakterisierende, genauestens zu beachten, ausgehend von der Versicherung, dass es jedenfalls nicht in seiner frühen Karriere als Altphilologe gründe, ebenso wenig wie in seiner gleich nachfolgenden Karriere als Wagnerianer.

Ein Aufstieg zu Nietzsches ›Centrum‹ – und ein Blick zurück ins Tal Um mit Letzterem zu beginnen und damit zugleich Nietzsches Rang als Altphilologe belegfrei als ›excentrisch‹ im gemeinten Sinne vor­ aussetzend: Jenes Zitat, auch der im Motto schon angeführte Auftrag: »Die Kenntniss des Menschen vorwärts zu bringen!« (VIII: 45) wäre Nietzsche als Wagnerianer nicht möglich gewesen. Dessen Credo ging noch auf in Sätzen wie: »Meine Religion […] liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius« (VIII: 46) – ›Einsichten‹ also, denen eine seriöse psychologische Analyse notwendig den Garaus gemacht hätte. So gesehen können wir jenes auf ›Frühling-Sommer 1875‹ zu datierende Motto und den ihm gleich nachfolgenden psychologischen Auftrag: »Die Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht zu bringen, ohne jede Verschämtheit – das ist das Ziel unserer Brüder und Genossen« (VIII: 45) als Vorschein lesen bezogen auf die sich in diesem Moment herausbildende eigene Intention Nietzsches, die im Übrigen das ersatzweise Kalkül auf eigene ›Brüder und Genossen‹ (sog. ›Nietzscheaner‹ also, in Abgrenzung zu Wagners ›Wagneria­ nern‹ geredet) einschließt. In der Umkehrung geredet und nach diesem Gipfel noch einmal ins Tal geschaut: Der frühe Nietzsche bis hin zu dieser sich hier abzeichnenden Einsicht war (seit November 1868, wie in Kap. 1 ange­ sprochen) – ein hoffnungsloser Wagnerianer gewesen und als solcher nicht an (psychologischer) Erkenntnis interessiert, sondern an Hel­ denverehrung nach dem Muster des Entwurfs des Vorwort[s] an

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Ein Aufstieg zu Nietzsches ›Centrum‹ – und ein Blick zurück ins Tal

Richard Wagner (zu Nietzsches ›Erstling‹ Die Geburt der Tragödie, 1872) vom 22. Februar 1871, in dem wir u.a. lesen: Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen, in den großen ›Einzelnen‹, den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel. (VII: 354)

Wenige Wochen zuvor hatte sich Nietzsche diese Quintessenz in einer privaten Niederschrift gleichsam als Auftrag in eigener Sache vorgelegt: »[J]eder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur so viel Würde als er, bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius ist.« (VII: 348) So weit Nietzsche damals, mit 26 Jahren, noch die »Sprache des Fanatismus« (IX: 47) sprechend und Wagner verfallen wie – so insinuierte Nietzsche im Sommer 1880 – ein Huhn, dem »ein Stück Gehirn« ausgeschnitten wurde und das nun »halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung« (IX: 159) ausführt. Übrigens, um auch dies nicht außer Acht zu lassen: Die Quittung für diese Art Missbrauch präsentierte Zarathustra mit seinem kaum verklausulierten Spott auf Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie »gleich allen Hinterweltlern« (sprich: Metaphysikern), »seinen Wahn jenseits des Menschen« (IV: 35) geworfen habe. Dem folgt neuer Spott auf Wagner, etwa in Gestalt der Zeilen: Vieles krankhafte Volk gab es immer unter Denen, welche dichten und gottsüchtig sind; wüthend hassen sie den Erkennenden [lisez: Nietzsche; d. Verf.] und jene jüngste der Tugenden, welche heisst: Redlichkeit. (IV: 37)

Und wenn man nun noch bedenkt, dass sich Nietzsche 1888 über Wagners Schriften mit dem Wort lustig machen wird, dass in diesen eigentlich nur ein Satz wiederholt werde, nämlich »dass seine Musik nicht nur Musik bedeute« (VI: 35), wird man auch den folgenden Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten (1879) als einen gegen Wagner gerichteten lesen dürfen: Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, – sie wollen nur, so gut sie es können, unsre Nächte erhellen. (II: 623)

Der Sache nach wird damit nur beglaubigt, was Nietzsche 1876/77 im Entwurf einer Art Vorrede für sein neues Buch Menschliches, Allzumenschliches (1878) behauptet hatte:

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Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentli­ chen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhalt­ bar. (VIII. 463)

Dies vorausgesetzt, gibt es gute Gründe, das Frühwerk nur mit besonderen, mit gleichsam spitzen Fingern anzufassen – ebenso wie Einführungen und andere Texte, in welchen Werkeinheitlichkeit unterstellt und behauptet wird, Themen des Frühwerks würden im Spätwerk »fortgeschrieben.« (Schönherr-Mann 2008: 8) Daraus folgt nicht, es wäre fair, den frühen Nietzsche nur als Opfer (Wagners) sehen zu wollen. So war es durchaus Nietzsches eigener Impuls, Wahrheitserwerb zunächst für durchaus unmöglich zu erklären und Erkenntnisheroismus folglich für deplatziert. Auskunftsträchtig ist in dieser Hinsicht der Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermo­ ralischen Sinne (1873). Beides ist hier gut erkennbar: Die Neugier Nietzsches auf das Andere der Vernunft des Menschen; aber auch die Furcht im Blick auf den dabei sich möglicherweise auftuenden Abgrund – eine Furcht, die drapiert wird mittels der Annahme, dass der Mensch die Wahrheit ohnehin nur in einem beschränkten Sinn will und zu erwerben vermag: Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die rein folgenlose Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt. (I: 878)

Ganz ähnlich heißt es wenig später in Schopenhauer als Erzie­ her (1874): Es ist eine dunkle und verhüllte Sache [...]. Zudem ist es ein quäleri­ sches und gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass ihn kein Arzt heilen kann. (I: 340)

Aber nicht nur dies: Wahrheitserkundung dieser Art sei auch ent­ behrlich, weil man ja auf sein eigenes Leben zurückschauen und sich fragen könne: »was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt?« (I: 340) Diese Fragehaltung, dieser Blick zurück und in die Tiefe – so Nietzsches gleichsam letzte Ausflucht, – sei im Übrigen auch deswe­ gen nicht erforderlich, weil gelte: »dein wahres Wesen liegt nicht tief

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Einige psychologische Tiefenbohrungen in pädagogischer Absicht

verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.« (I: 340 f.)

Einige psychologische Tiefenbohrungen in pädagogischer Absicht Mit derlei Metaphysik freilich war spätestens mit MA (1878) Schluss. Er sei, so schrieb er 1886, in diesem Werk tätig gewesen »als Aben­ teurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die ›Mensch‹ heisst, als Ausmesser jedes ›Höher‹ und ›Übereinander‹, das gleichfalls ›Mensch‹ heisst.« (II: 21) In der Linie des hiermit umrissenen For­ schungsprogramms wird Nietzsche die Ernte einfahren, die er Scho­ penhauer schon 1874 hätte entnehmen können – wenn er ihn damals als Erzieher auch in Sachen Psychologie genutzt hätte. So gesehen wäre die Emanzipation Nietzsches hin zum Freigeist eine weg vom Metaphysiker Schopenhauer hin zu Schopenhauer als Vorläufer Freuds, der, ähnlich wie dieser, dekretiert: »Allen moralischen Syste­ men, welche befehlen, wie der Mensch handeln soll, fehlte die Kennt­ niß und Untersuchung, wie der Mensch handelt.« (IX: 266) Ganz ähnlich wie hier, im Nachlass vom Herbst 1880, klingt Nietzsche in der Folge immer häufiger. So kennen wir aus Morgenröthe (1881) Nietzsches Begeisterung für die »Leidenschaft der Erkenntniss« (III: 265), aus Die fröhliche Wissenschaft (1882) die Fortführung dessen in Gestalt der Forderung, den »Heroismus in die Erkenntnis [zu] tragen (III: 526), die »Welt des Irrsinnigen« zu rehabilitieren und Platz zu schaffen für »die Ausnahme und die Gefahr« (III: 431 f.). Entsprechend liest sich Nietzsche als »Don Juan der Erkenntnis« (III: 232), der die »Seele des Colombo« (XIV: 269) in sich spürt und am Ende ausrufen wird: »Ich bin meiner Art nach kriegerisch!« (VI: 274) Dass dies (auch) gegen Kant ging, haben wir andernorts (vgl. IV/1) gezeigt. So gesehen scheint er hinreichend beglaubigt: Nietzsches Wan­ del hin zum Vertreter jenes Erkenntnisheroismus in letztlich pädago­ gischer Absicht, der seinen Verdacht auch immer gegen Wagner wenden wird, vor allem aber gegen sich selbst und das Rätsel, das seine frühe, grenzenlose Verehrung Wagners in sich birgt. Am deutlichsten ist in dieser Hinsicht die folgende Bemerkung vom August-September 1885 aus dem Entwurf einer (nie fertig gestellten) neuen Unzeitgemässen Betrachtung:

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4 Die implizite Pädagogik in Nietzsches Philosophie

Man verachtet und verehrt in jungen Jahren wie ein Narr und bringt wohl seine zartesten und höchsten Gefühle zur Auslegung von Men­ schen und Dingen dar, welche nicht zu uns gehören, so wenig als wir zu ihnen gehören […]. Später, wo man stärker, tiefer, auch ›wahrhaf­ tiger‹ geworden ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt hat, als man auf diesen Altären opferte. (XI: 669 f.)

Dies erinnert an die Klarheit der Rede im Entwurf einer Vorrede für M vom Frühjahr 1880 mit dem Erschrecken ob des seinen »älteren Schriften« eigenen »Fanatismus« (IX: 47). Was beide Statements vergleichbar macht, ist die nachträgliche, staunend registrierte Ver­ zweiflung ob des ›frühen‹ Nietzsche, der den ›späten‹ eigentlich sprachlos macht ob dessen Wagnerverehrung. Vor allem deswegen, so die hier vertretene Vermutung, fordert Nietzsche in FW jeden »Vernunft-Durstigen« voller Vehemenz dazu auf, seinen »Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag!«« (III: 551) Zugleich macht dieses Zitat deutlich: Nietzsche ging es nicht nur um die – wohlfeil zu erhebende – Forderung nach Redlichkeit, sondern auch um einen Verfahrensvorschlag, der konsequente Selbstbeobachtung erfordert und im weiteren Sinne auf das Projekt einer Hermeneutik des Erle­ bens hinausläuft, und zwar mit Konsequenzen für die Grundanlage des Zarathustra.

Zarathustra als Erzieher – oder als Psychologe? Zumal in der pädagogischen Za-Rezeption (vgl. Niemeyer 2011a) wird kaum einmal in Zweifel gezogen, dass Zarathustras als Erzieher zu lesen ist, etwa gemäß des in Zarathustra’s Vorrede herausgestell­ ten Satzes: »Ich lehre euch den Übermenschen.« (IV: 14) Indes: Zarathustra scheitert erbärmlich in dieser Rolle als Erzieher, deutli­ cher: als Lehrer – und illustriert damit, was Nietzsche eigentlich immer schon (so etwa 1874) gesagt hat: »[D]eine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier« (I: 341); sowie 1880, unter der Überschrift Es giebt keine Erzieher: »Nur von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden.« (II: 667) Zarathustras Rolle ist folgerichtig ab diesem Scheitern (gleich in der ersten Szene) eine andere: Es ist die des Psychologen, des »Räthselrathers und Erlösers des Zufalls« angesichts dessen, »was Bruchstück ist am Menschen und Räthsel und

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Zarathustra als Erzieher – oder als Psychologe?

grauser Zufall.« (IV: 248) Diese Neuauslegung seiner Rolle beginnt mit der Setzung aus der berühmten vierten Rede, wie in Kap. 3 ausführlich gezeigt. Folgerichtig scheint denn auch, dass Zarathustra im Interesse seiner Aufgabenerfüllung einer Psychologie des Lernens sowie des Unbewussten bedarf, beides einer Pädagogik des Übermenschen zuarbeitend, zumindest aber einer subtilen Menschenkunde in der Linie der 1888 nachgereichten Titulierung Zarathustras als »der erste Psycholog der Guten« und folglich »Freund der Bösen« (VI: 369). Tatsächlich erweist sich Zarathustra zumindest in einigen der Reden, die noch folgen, als beides, und dies in durchaus raffinierter Konstruk­ tion, denn: Als ›Psychologe der Guten‹ auftretend, ist er zugleich der vermeintlich Guten hartnäckigster ›Feind‹; und als ›Freund der Bösen‹ agierend, ist er zugleich der vermeintlich Bösen hartnäckigs­ ter Psychologe, der dartun will, dass »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (II: 24) resp., so Zarathustra in einer seiner Reden an einen potentiellen Jünger: dass »deine Tugenden […] aus deinen Leidenschaften [wuchsen].« (IV: 43) Von diesem Forschungsprogramm erwartete Zarathustra offen­ bar eine belehrende, beispielgebende Wirkung auch für jene, die er als seine ›Gefährten‹ und ›Mitschaffenden‹ in Aussicht nimmt, insofern er ihnen in der übernächsten Rede abverlangt, dass am »Meer […] ein Jeder einmal seine Tag- und Nachtwachen haben [soll], zu seiner Prü­ fung und Erkenntniss.« (IV: 204) Diesen Vorschlag unterbreitet Zara­ thustra – und damit tritt er nun deutlich in seine zweite Rolle als (psychologisch belehrter) Erzieher ein –, nachdem er die in der Päd­ agogik beliebte Wachstums- und Gärtnermetaphorik bemüht hat und seiner »Kinder in ihrem ersten Frühlinge« gedenkt, »nahe bei einan­ der stehend und gemeinsam von Winden geschüttelt.« (IV: 204) Auch hier fällt – unter Rückbesinnung auf die Rede Vom Baum am Berge aus Za I (vgl. Niemeyer 2007: 22 ff.) – die Übersetzung nicht schwer: Der ›erste Frühling‹ repräsentiert die Pubertät, und die Fortführung ›gemeinsam von Winden geschüttelt‹ symbolisiert die triebhafte Unruhe und Beunruhigung, die für sie kennzeichnend ist. Diesem Kontext gehört schließlich Zarathustras Satz (sowie die daraus entspringenden Forderung) zu: »[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« (IV: 149) Der Sache nach begegnet einem hier in neuer Gestalt ›Pyrrhons‹ Antwort aus WS, dass das Mißtrauen »gegen Alles und Jedes [...] der einzige Weg zur Wahrheit« (II: 645) sei, anfügend:

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Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, – das sind die Wahr­ heiten: Jahrzehende lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, dass es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht giebt es einmal einen Tag der Ernte. (II: 646)

Ähnlich ging es Nietzsche: Er war es, der, vermittelt über seine Erzieher und Lehrer, Jahrzehnte lang ›Lügen händevoll verschlingen‹ musste, ›um nicht Hungers zu sterben‹, um also nicht der Liebe derer, die ihm wichtig waren, vor der Zeit – und dies meint: vor dem Moment der Findung seiner selbst – verlustig zu gehen. Diese Lehre trägt in Kurzform noch Nietzsches Wort aus Ecce homo vor: »Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.« (VI: 366) Die häufig allein wissenschaftstheoretisch inter­ essierende Wahrheitsthematik hat Nietzsche hiermit auf die Ebene der Selbstermächtigung des aufstrebenden Subjekts angehoben. Eine Illustration dessen bietet die Lehre von den drei Verwandlungen (des Geistes), in welcher, mit Eugen Fink geredet, die »Genesis des Über­ menschen« (Fink 1960: 72) vorgeführt wird. Das Ganze ist angelegt als befreiungsorientierte Theorie des Bildungsgangs, die ihr Zentrum erkennbar auf der zweiten Stufe findet: auf der des ›Löwen‹, der an Nietzsche in seiner nach-philologischen Ära erinnert und dessen Auftrag ein zweigleisiger ist: Nach hinten hin hat er, in Analogie zu Nietzsches Bildungsgeschichte gesprochen, die Destruktion der das ›Kamel‹ (den Philologen Nietzsche) noch regierenden Klugheit zu leisten. Und nach vorn zu muss er die Schaffung neuer Werte und mithin eine Lebensform vorbereiten, in der dann, in Gestalt des als Übermenschen zu lesenden Kindes, das Motiv der Selbstbestimmung das Regiment übernehmen kann und die Epoche des Epigonalen end­ gültig endet, gleichsam als unverzichtbare Prämisse für eine Selbstund Weltgestaltung in einer ›Ordnung der Dinge‹ ohne Gott. Damit ist ein Fazit möglich. Nietzsche nämlich, so will mir schei­ nen, wäre von Pädagogen heutzutage unter Wert wahrgenommen, wenn man ihn nur mit seinen mehr oder weniger interessanten Aus­ führungen zu Erziehungs- und Bildungsfragen in Betracht zöge, also in seinem diesbezüglichen ›Anregungspotential‹ nutzte. Sicherlich: In der Summe ist das, was Nietzsche, beispielsweise, zur Erziehung zu sagen wusste, fraglos origineller als das insbesondere in BA (1872) zum Terminus ›Bildung‹ Ausgeführte und durch Richard Wagners Geniekult Geprägte. Es ist indes auch sehr heterogen und reicht von der Beobachtung, dass des ›frühen‹ Nietzsche Einstellung zur

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Zarathustra als Erzieher – oder als Psychologe?

Erziehung als gemeinsamen Nenner die Bejahung ihrer Notwendig­ keit und Bedeutung aufweist, bei moderater Kritik ihrer Ziele und Mittel. Beim ›mittleren‹ und ›späten‹ Nietzsche hingegen tritt eine zunehmend schärfer werdende Kritik an der Berechtigung und Mög­ lichkeit von Erziehung hervor, bis hin zu ihrer Negation zugunsten von Selbst-Erziehung. Gegenüber derartigen Bilanzen scheint mir allerdings der hier unternommene Versuch überlegen, den Extrakt der impliziten Pädagogik in Nietzsches Philosophie zu identifizieren – und auf diese Weise auch der Bedeutung seines psychologischen Erkenntnisinteresses inne zu werden. Dafür geeignet, wie mir schei­ nen will: Der Fall des Rudolf Ditzen (1893–1947) alias Hans Fallada. Meint: Am besten weiterlesen….

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5 Der Fall Fallada(s) Über Nietzsche, den Niedergang des Bürgertums und das Ende der bürgerlichen Jugendbewegung

Wen es im Sommer 2006 an bestimmten Abenden unvermutet in den Park von Schloss Neuhardenberg verschlagen hätte, wäre wohl Zeuge der Aufführung eines extrem mysteriösen Werkes geworden, ein Werk voller seltsamer kleiner Geschichten, in denen merkwürdige Gestalten auf- und abtreten und offenbar Bedeutungsschweres von sich geben, besser gesagt: etwas aus sich heraus schreien, etwas in den Wald hinein rufen, dessen Sinn sich allerdings nicht recht erschließen will. Genauere Nachfrage hätte ihn dann instruiert: Nein, es geht nicht um ein Experiment in Sachen ›offene Psychiatrie‹ – es geht nur um den Verrückten aus Naumburg und dessen Hauptwerk Also sprach Zarathustra.10 Diese Inszenierung entsprach ganz dem Geist postmodernen Theaters, zu dessen Prinzipien es gehört, sich erst gar nicht um Interpretation und Entschlüsselung der Intention eines Autors zu bemühen, sondern ganz auf Wirkung abzustellen nach dem Motto der ausgerechnet von Nietzsche so heftig gegeißelten ›plündernden Soldaten‹: Sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmut­ zen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze. (II: 436)

Damit bin ich beim Thema. Denn ist eben dies nicht auch ein Indiz für den Niedergang des Bürgertums, insofern es diesem immer weni­ ger um Inhalte zu gehen scheint und immer mehr um die Sorge, sich unwissend zu zeigen in Sachen der allerneuesten Parolen der Avantgarde – mit der Folge duldsamen Verweilens selbst dort, wo seine Werte in Gefahr sind? Welche Werte?, mögen Sie fragen, und Gemeint ist die »theatralische Exkursion nach Friedrich Nietzsche« mit dem Titel ZARATHUSTRA – Die Gestalten sind unterwegs, die, mit Jonathan Meese und Martin Wuttke in den Hauptrollen, am 10. August 2006 im Schlosspark Neuhardenberg Premiere hatte.

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5 Der Fall Fallada(s)

ich denke, wir können uns ziemlich rasch zumindest darauf einigen, dass vom Bürgertum nur gesprochen werden kann, wo noch Kultur da ist und Bildung und somit die Überzeugung, es lohne sich, Kultur zu tradieren. Und eben dies wurde in Neuhardenberg dementiert, bildlich gesprochen: aus der zweifelnden Überlegung des Zarathustra: »Nur Narr! Nur Dichter!« (IV: 372)11 wurde in Neuhardenberg im Publikum am Ende ein glasklares: Nietzsche – nur Narr! Wenn nicht gar: Nietzsche ist tot! Eigentlich toll, Letzteres, könnten Sie nun einwenden, denn immerhin ist Nietzsche ja der wohl radikalste Kritiker, den das Bürgertum aus sich heraus gezeugt hat. Fürwahr: Es geht ja nicht nur um ›Gott ist tot‹ oder um Zarathustras Frechheiten gegen den (letzten) Papst. Sondern es geht auch um Zarathustras Skandalisierung des Bürgers in Gestalt des »letzten Menschen«, der weder »Liebe« kenne noch »Schöpfung« noch »Sehnsucht« und der gleichwohl meine, er habe »das Glück erfunden« (IV: 19) – sowie gefunden, gefunden nämlich im Kreis derer, die in ihrer Nivellierung des Fremden, ihrer »gemeinsame[n] Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtig­ ten« (V: 147) ihre Freude finden, um auf dem Höhepunkt des Abends weinselig zu skandieren: »Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.« (IV: 20) Wenn wir Nietzsche so lesen, also als Ideologiekritiker, und wenn wir ihn zusätzlich noch als Deutschtumsverächter, sprich: als »Antiesel par excellence« (VI: 302) in Erinnerung bringen, muss, so scheint es, gegen Nietzsche zumal mit dem Interesse an Skizzierung einer ›deutschen Leitkultur‹ an sich jedes Mittel recht sein, sprich: Diesen Kritiker, wie in Neuhardenberg geschehen, qua zerstückelnder Insze­ nierung allmählich dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen zu entreißen, ist so verdienstvoll, dass man nicht kleinlich sein sollte. Warum eigentlich, so könnten Sie mich folgerichtig fragen, habe ich mich dann eigentlich eingangs so echauffiert? Meine Antwort lautet: Weil mir an ›deutscher Leitkultur‹ und Sommermärchen-Patriotismus nichts liegt und an Bürgertum nur, wenn es die Schule Nietzsches durchlaufen hat. Diese Antwort 11 Auch in neuerer Zeit, etwa von Christina Kast, als Startpunkt einer Analyse dahin­ gehend genommen, dass Nietzsche, der »sich von der Möglichkeit von Wahrheit bereits in seinen ersten Schriften verabschiedet« habe, endlich, mit den DionysosDithyramben, einmündet »in dem Versuch einer Neubegründung der Philosophie in der Dichtung.« (Kast 2017: 377 f.) Was, wäre dies Nietzsches Intention gewesen, dabei herauskommt, war 2006 im Wald bei Neuhardenberg zu besichtigen.

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»Sinnsuche Jugendlicher«: Drei Beispiele und eine Lektion

werde ich im Folgenden an beiden Themenaspekten erläutern: am Themenblock »Sinnsuche Jugendlicher« und am Themenblock »bür­ gerliche Jugendbewegung«.

»Sinnsuche Jugendlicher«: Drei Beispiele und eine Lektion Mein erstes Beispiel zum Themenblock »Sinnsuche Jugendlicher« nimmt den Ausgang von einer Beobachtung im familialen Nahraum. Wer nämlich das Glück hat, einem acht Monate alten Zwillingspär­ chen tagtäglich bei der morgendlichen Sinnsuche zuzuhören, der wird nicht genug staunen können über die Anstrengungen, die diese klei­ nen Wesen im Bereich der stimmlichen Nachahmung aufbringen, um endlich, endlich das offenkundige Lieblingswort des Papis fehlerfrei auszusprechen: »N-i-e-t-z-s-c-h-e-!« Bald aber schon, so scheint es mir, ist es vorbei mit dieser fröhlichen Suche nach Sinn, und ganz vorbei ist es oft dort, wo an der anderen Seite der Leitung sich nicht erwartungsfreudige Neugierde verbirgt, sondern die ängstliche Attitüde des »Es-musste-ja-so-kommen«. Ich denke dabei an den Fall des ältesten Sohnes des Leipziger Reichsgerichtsrats Wilhelm Ditzen, der Anfang 1910 am Ende seiner jugendlichen Sinnsuche im Alter von 16 Jahren gleichfalls auf den Namen Nietzsche traf, aber dies keineswegs zur Freude des Vaters.12 Was Ditzen jun. so sehr an Nietzsche und speziell am Zarathustra Interesse nehmen ließ – wie übrigens viele seiner Generation –, weiß ich nicht genau, will aber nicht ausschließen, dass es Sätze waren wie: Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. / So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, – das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen. / An meinen Kindern will ich es gut machen, dass ich meiner Väter Kinder bin: und an aller Zukunft – diese Gegenwart! (IV: 155) Dieser, im Februar 1910 durch einen Hinweis des Direktors auf des Sohnes Zarathustra-Lektüre aufmerksam gemacht und einigermaßen betroffen, denn »ich und meine Familie bevorzugen Schriftsteller mit sonniger Lebensauffassung wie Dickens, Raabe, Freytag usf.«, kontrollierte daraufhin heimlich, aber ergebnislos des Sohnes Bibliothek – heimlich, da er »ihn nicht auf Nietzsche hinweisen wollte.« (zit. n. Liersch 1993: 27) Dass dies damals eine gängige Praxis im Umgang Erwach­ sener mit Nietzsche, dem ›Jugendverführer‹, war, habe ich andernorts gezeigt (vgl. Niemeyer 1998a). 12

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5 Der Fall Fallada(s)

Vielleicht aber was es auch die folgende Stelle, wo ein Jüngling gegenüber Zarathustra klagt: Ich traue mir selbst nicht mehr, seitdem ich in die Höhe will, und Niemand traut mir mehr, – wie geschieht diess doch? / Ich verwandle mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern. Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige – das verzeiht mir keine Stufe. / Bin ich oben, so finde ich mich immer allein. Niemand redet mit mir, der Frost der Einsamkeit macht mich zittern. Was will ich doch in der Höhe? (IV: 52)

Dies ist anrührend, auch Zarathustras Reaktion ist bemerkenswert, insofern er zwar das Streben des Jünglings nach Höhe lobt, aber hinzusetzt, dass auch die »schlimmen Triebe« resp. die »wilden Hunde« nach Freiheit dürsten und »vor Lust in ihrem Keller [bel­ len], wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet.« (IV: 53) Denn dies klingt nach einer verklausulierten Anerkennung der Sexua­ lität als gesonderte Macht im Seelenhaushalt des Pubertierenden – eine Lektion, die möglicherweise für Ditzen jun. damals allein deshalb von besonderem Interesse war, weil er sie von seinem Vater umsonst ersehnte.13 Aber nicht nur dies, schlimmer noch: Nietzsche-Lektüre, so schien es Ditzen sen. und mit ihm gleichsam der ganzen Generation der damaligen Väter inklusive der Presse14, hatte den Sohn zu allen nur denkbaren Schandtaten angeregt, zum Dichten beispielsweise in Zarathustra-Manier, inklusive eines grandios – als Duell – inszenier­

13 Dafür spricht, dass Ditzen jun. das vom Vater erbetene Gutachten über den Sohn, das zu dem Ergebnis kam, die seelische Überreizung des Sohnes habe seine Ursachen »in seiner vollkommenen sexuellen Unaufgeklärtheit« (zit. n. Manthey 1963: 27), später literarisch weiterverarbeiten wird mit der Pointe, dass er den Vater des Helden seines frühen Romandebüts Der junge Goedeschal (1920) gegen diese Diagnose angehen lässt unter Hinweis darauf, sie würde ihn – nach dem Muster: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« – gesellschaftlich kompromittieren (ebd.). 14 Das Presseecho auf das Duell von Rudolstadt war beachtlich (vgl. Crepon 1979: 61 ff.). Verheerend war es vor allem für das gleichsam offiziöse Nietzschebild, denn selbst Reformkräfte, die der im Übermaß geforderten Schullektüre in Richtung »Klop­ stock und Co.« Schuld gaben, kamen am Ende doch auf Nietzsche & Co. zu sprechen, etwa mittels der Überlegung, dass ein Stoff, der zumindest die Schüler, die sich als »Kinder der Zeit« auszulegen suchten, langweile, diesen Anlass gebe zur Privatlektüre von Schriften der »drei ›Jugendverderber‹ Nietzsche, Schopenhauer und Oscar Wilde« (Ilgenstein 1911: 1159 f.).

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»Sinnsuche Jugendlicher«: Drei Beispiele und eine Lektion

ten15, aber dilettantisch ausgeführten Doppel-Selbstmord(-versuchs) am 17. Oktober 1911 in Rudolstadt, bei welchem sein bester Freund, da nur verwundet von der ersten Kugel des Ditzen jun., den Gnaden­ tod von diesem erflehte, wohingegen Ditzen jun. mit viel Glück über­ lebte – was sage ich: überleben musste, denn sonst könnten wir ja heute seine Romane nicht lesen. Denn ich rede hier natürlich – einige von Ihnen werden es längst gemerkt haben – von Hans Fallada, von dem man nicht reden muss, aber reden kann unter der Überschrift: Von einem, der auszog, den Sinn zu finden, und der dann Schuld auf sich lud und nach Sühne suchte, sei es infolge der Verleugnung seiner hoch ambitionierten expressionistischen frühen Prosa, sei es in Gestalt eines autobiographischen Textes mit dem Titel Damals bei uns daheim (Fallada 1942), der ein extrem verharmlosendes, fast um Ver­ gebung bemühtes Bild des Vaters zeichnet und bei der das wichtigste Erlebnis seiner Jugend schlicht unterschlagen wird.16 Deswegen darf ich vielleicht auch resümieren: Hätte das Bürgertum damals17 willig 15 Dazu gehört, dass der Freund auf dem Weg zum Duell die Waffen trägt, wohin­ gegen Ditzen jun. verschiedene Schriften Nietzsches bei sich führt (vgl. Crepon 1979: 57). 16 Auch der zeitgleich gestartete Versuch der literarischen Aufarbeitung der Rudol­ städter Ereignisse in Romanform scheiterte kläglich und vermutlich aus nämlichen Gründen. Denn auffällig ist am Romanvorhaben Unterprima Tott, das Fallada 1939 in Angriff nahm, der Umstand, dass der Autor schon nach wenigen Tagen von einer für ihn ganz untypischen Schreibblockade heimgesucht wurde, gleichwohl aber bis zum April 1941 brauchte, um das Projekt endgültig zu den Akten zu legen. Für sich spricht auch das, was vorliegt bzw. erhalten blieb: Es geht um einen hoch begabten Schüler, der leider das Pech hat, von seinem Vater, einem Oberlandesgerichtsrat, tyrannisiert zu werden, und zwar auch dahingehend, dass dieser sich darüber aufregt, dass sein Sohn mit seinem Freund die »halben Nächte […] aufsitzt und […] verstiegene Ferse moderner Atheisten« (Fallada 1939–41: 65) liest… 17 Dass diese Einschränkung eigentlich unnötig ist, zeigt die Fallada-Forschung und das in ihr dominierende extrem negative Nietzschebild. So nutzte Werner Liersch den Umstand, dass Ditzen sen. drei Jahre nach Nietzsche als Zögling in die Landesschule Pforta eintrat, um seinen Lesern gleich zu Beginn seiner Fallada-Biographie Nietzsche als jemanden vorzustellen, der »dem deutschen Bürger eine Philosophie liefern wird, mit der er – schamhaft wie er ist – seine nackte Expansionslust etwas verklären kann.« (Liersch 1993: 8) Noch ärger trieb es Tom Crepon: Er sagte zu Nietzsche selbst eigentlich nichts – außer, dass Falladas Tante Adalaide Ditzen, die sich nach dem Duell vom Oktober 1911 um den in die Psychiatrie eingelieferten Jungen kümmerte, »Mitte der neunziger Jahre« dem Kreis um Malwida v. Meysenbug angehört habe, um dann fort zufahren: »Zeitweilig gehörte auch Friedrich Nietzsche zu diesem Kreis, aber sein aggressiv-reaktionäres Benehmen schreckte die Damen ab, die im Haus Malwidas oder Adalaides zusammenkamen« (Crepon 1979: 70). Den Leser in der DDR oder

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5 Der Fall Fallada(s)

Nietzsches Schule durchlaufen, verfügten wir heute vermutlich über bessere Prosa aus Falladas Feder. Mein zweites Beispiel führt mich in die USA der 1950er Jahre, wo, glaubwürdigen Zeitzeugen zufolge – ich beziehe mich hier auf Jerry Rubin, einen Heroen der Yippiebewegung – der nachwachsen­ den Generation zumal der weißen Mittelschicht über Jahre hinweg die Botschaft vermittelt wurde, das »Ende der Geschichte« sei erreicht, die beste aller Welten sei nun endlich da (Rubin 1971: 87), man könne würdig und mit Kraft in das Bestehende eintreten und es tradieren. Diesmal freilich, vor allem gegen Ende der 1960er Jahre, verfing diese Botschaft nicht mehr, wohl wegen der Eigendynamik von Viet­ nam einerseits und Flower-Power andererseits, entsprechend war der Gegenslogan rasch gesetzt: »Traue keinem über dreißig.« (ebd.: 89) Oder, in der etwas elaborierteren Variante von Jerry Rubin: »Werdet nicht erwachsen. Erwachsen werden heißt Träumen aufgeben.« (ebd.: 87) Mit Nietzsche freilich hatte dies wenig zu tun, oder? Genau, Sie sagen es: Die These vom ›Ende der Geschichte‹ und ihre Kritik als eine von den Erwachsenen zu verantwortende resignative Botschaft an die Jugend stammt von Nietzsche, ebenso wie die Rehabilitierung der Jugend, ihrer – so Nietzsche 1874 in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben – »stärksten Instincte« wegen: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe […], die Hitze ihres Rechtsge­ fühles […], die Begierde langsam auszureifen […], die Ehrlichkeit und Keckheit der Empfindung. (I: 323).

Dies, so denke ich, hätte wohl auch Jerry Rubin gerne so gesagt, ebenso wie das andere: Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. (I: 295)

Angelegt war darin zugleich die Forderung Nietzsches, dass die Jugend sich selbst als neuen Anfang setzen [muss]«, hin »zu einer neuen Gewohnheit und Natur, heraus aus einer alten und ersten aus der DDR, gewöhnt an derlei staatsoffizielle Anti-Nietzsche-Propaganda (vgl. Drerup 1998), wird es bei derlei Worten ordentlich gegruselt haben, ebenso wie den Nietzscheexperten, dies aber aus anderen Gründen. Denn »Mitte der neunziger Jahre« saß Nietzsche, jedenfalls dem bisherigen Forschungsstand zufolge, schon seit Jahren geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg, und Malwida v. Meysenbug wird ihm allenfalls noch eine gütige Erinnerung an längst schon verflossene Zeiten gewesen sein…

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»Sinnsuche Jugendlicher«: Drei Beispiele und eine Lektion

Natur und Gewohnheit.« (I: 328) Nimmt man noch hinzu, dass es Nietzsche gewesen war, der ein »kommende[s] Zeitalter« beschwor, »welches wir das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll« (IX: 48), könnte man fast versucht sein, ihn im Nachhinein als den eigentlichen Philosophen und Ideengeber der Hippiebewegung zu inthronisieren. In jedem Fall aber scheint mir nun außer Frage zu stehen, was zu demonstrieren war: nämlich dass man dem Bürgertum damals, wäre es über Nietzsche belehrt gewesen, in Aussicht hätte stellen können, der Krise anders zu trotzen als nur mit Entsetzen und nachfolgender Repression. Mein drittes Beispiel greift jenseits der Epoche, die der Hippie­ bewegung nachfolgte, jenseits also des gerade im Zuge der Studen­ tenbewegung aufbrechenden Strebens, Geschichte zu gestalten und als unerbittlicher Ankläger der durch ihr Schweigen vor, zu und nach Auschwitz unheilbar diskreditierten Erwachsenenkultur Furore zu machen. Wie all dies endete – in bleierner Zeit, im deutschen Herbst, in der dumpfen Sorge vor Berufsverbot –, ist hier nicht nachzuerzählen. Wohl aber ist zu notieren, dass zwischenzeitlich eine ganz andere Sorge Platz griff: die Sorge von Erwachsenen und Jugendforschern darüber, dass Jugend nicht mehr nach vorne sich wendet, sondern zurück; dass Jugend gar nichts mehr will, außer dass sie das Nichts will; dass Jugend von nichts mehr träumt, außer von jenem Alpdruck namens Zukunft. Nur frage ich mich: Wie kann man Sinnsuche erwarten von einer Generation, die, geschockt vom unbegreiflichen Terror des 11. Sep­ tember 2001, den eigenen Daddy atemlos fragte: »Why do they hate us?« – und der dann im Verlauf der nächsten Jahre aufgegangen ist, dass der eigene Präsident nicht davor zurückschreckte, die Weltöf­ fentlichkeit zu belügen in Sachen der ominösen smoking gun? Ist es ein Wunder, wenn diese Jugend an nichts mehr glaubt? Oder soll man ihr etwa sagen, der Präsident habe sich schlicht an die Devise Zara­ thustras gehalten: »›Nicht ist wahr, alles ist erlaubt‹« oder, schlimmer noch: »der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.« (IV: 59)?18 Nein, ich denke, dass kann man der amerikanischen Jugend nicht sagen, und zwar vor allem Nietzsches wegen, der ja, indem man Slogans anführt, noch nicht verstanden ist. Eben deswegen habe 18 Passagen wie diese sind erkennbar zeitgebunden (auf das Jahr 2006 hin) und sollen hier nicht aktualisiert werden auf die sich ganz anders darstellende und überaus prekäre Weltlage des Jahres 2023 hin (vgl. dazu Niemeyer 2023).

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ich mich ja auch eingangs verwahrt gegen den in Neuhardenberg zu besichtigenden Umgang mit Nietzsche im Stil des von diesem gegeißelten ›plündernden Soldaten‹. Gleichwohl kann ich es mir nicht versagen, die im Motto dieses Buchabschnitts aufgerufene Letzte Erwägung Nietzsches von 1888/89 anzuführen, die – wenn Nietzsches Schwester sie nur veröffentlicht hätte – endgültig hätte klarstellen können, was Nietzsche wirklich Sorgen machte: nämlich dass Europa – und man muss aus aktuellem Anlass wohl ergänzen: dass Amerika und die ›Koalition der Willigen‹ –, damit »das Haus von Narren und Verbrechern sich obenauf fühlt«, die »hirnverbranntesten Kriege« geführt habe, die je geführt worden seien. Die Konsequenz, die Nietzsche zog, war unmissverständlich: Zuletzt können wir selbst der Kriege entrathen; eine richtige Meinung genügte unter Umständen schon. (XIII: 644)

Kurz: Der von fast allen verachtete Kriegsphilosoph Nietzsche steht plötzlich als Pazifist vor uns – wenn man das Richtige liest und von seiner Schwester die Finger lässt. Aber selbst wenn Nietzsche auch insoweit aus dem Schneider wäre, bleibt die Diagnose im Raum vom Niedergang des Bürgertums, vom Beiseitetreten der Werte und Tugenden, für die es einst einstand, denen es seine Macht und Geltung verdankt und auf deren Einhal­ tung es allein seine Loyalitätserwartung gründen kann gegenüber der je nachwachsenden Generation – eine Diagnose, so meine ich, die für alle drei Beispiele in je unterschiedlicher Weise Geltung beanspruchen kann: für den Fall des Mr. Bush infolge der Dominanz von weltmarktstrategischen Gesichtspunkten gegenüber moralphilo­ sophischen; für den Fall des Mr. Rubin im Blick auf die von ihm skandalisierte Dominanz des Gefühls von Selbstzufriedenheit und Saturiertheit, infolge derer der amerikanische Gründermythos und die Mentalität ins Abseits gedrängt wurden, dass jederzeit und von jeder je nachwachsenden Generation das Vermächtnis neu erarbeitet und begründet werden muss; und im Fall des Herrn Ditzen sen. die Bürgertumsgewissheit, weil dieser schlicht übersehen hat, dass sein Sohn in die für ihn vorgesehene Ordnung – selbstredend eine Karriere auch als Jurist – nur dann widerstandslos eingetreten wäre, wenn er auch in dem, was ihm an ihm selbst Problem und Rätsel war, wahr­ genommen und angenommen worden wäre. Dem war aber nicht so, wie Falladas expressionistischer Erstling Der junge Goedeschal (1920) ebenso belegt wie der Nachfolgeroman Anton und Gerda (1923),

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in welchem der Held, nach seinen Eltern gefragt, die beklemmende Antwort gibt: Ich verstoße sie. Ich reiße sie aus meinem Herzen aus. Sie haben mich lügen gelehrt und nun ist die Lüge eine Wunde geworden über meinen ganzen Leib hin[…]« (zit. n. Manthey 1963: 52)

›Sie, meine Eltern, haben mich lügen gelehrt…‹ – dies also ist, so meine ich, der eigentliche Skandal, die geheime Lektion in Sachen Bürgertum aus Sicht der Jugend, aus Sicht einer jeden Jugend dieses und des vergangenen Jahrhunderts weltweit, würde ich nun fast ergänzen wollen. Damit kann ich diesen Punkt abschließen und zum nächsten übergehen.

»Bürgerliche Jugendbewegung«: Ein Beispiel und eine Lektion Ich möchte – um dies noch einmal in Erinnerung zu rufen – in meinem zweiten Argumentationsschritt zeigen, dass ein nicht durch die Schule Nietzsche gegangenes Bürgertum auch Verantwortung trägt für die fatale Fehlleitung der »Sinnsuche Jugendlicher«, sofern sie sich im ersten Drittel des letzten Jahrhundert auf so etwas gerichtet hat wie den Wandervogel als Keimzelle der (deutschen) ›bürgerlichen‹ Jugendbewegung. Meine Betrachtungsweise und Fragerichtung ist also eine etwas andere als die herrschende: Natürlich weiß ich um Einzelfälle, um Ludwig Gurlitt etwa oder Walter Hammer, die unmit­ telbar vor dem Ersten Weltkrieg für Nietzsche Propaganda zu machen suchten. Aber dieses Beispiel zeigt auch, dass derlei fast postwendend auf vehementen Protest der völkischen Kreise traf. In der Summe also ist die seit Else Frobenius und Herman Nohl gängige Annahme zu bestreiten, Nietzsche sei der entscheidende Prophet und Anreger der deutschen Jugendbewegung gewesen. (vgl. zuletzt Niemeyer 2021: 222 ff.) Zunächst bewusst trivial gesprochen: Es bedurfte nicht des Wissens um Nietzsche, um Freude am Wandern zu empfinden19, um das Leben zu genießen in neu eroberten Sozialräumen und an unkon­ trollierten Orten und zu ungewöhnlichen Zeiten, etwa auch des Sonn­ Wie man wiederum am Exempel Fallada studieren kann, insofern dieser ein Jahr vor dem Skandal von Rudolstadt seine eigene, höchst kuriose Wandervogelerfahrung sammelte (vgl. Fallada 1942: 287 ff.).

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tags, fern der elterlichen Obhut und der Nötigung zu Kirchgang und nachfolgendem gemeinsamen Spaziergang hin in ein Ausflugslokal und geborgen in der Entdeckung der Gleichaltrigengruppe resp. der »Horde« als Sozialisationsagentur und der darin verborgenen Mög­ lichkeiten jugendlicher Eigensozialisation. Und schon gar nicht bedurfte es des Wissens um Nietzsche, um dem heidnischen Brauch der Sonnenwendfeuer Sinn zuzusprechen, um sich dem Germani­ schen zuzuwenden, um sich an den Texten des Hans Breuer zu erfreuen oder gar an dessen Liedsammlung Zupfgeigenhansl, oder um im Juni 1913, kurz vor dem Meißnerfest, es nicht als anstößig zu empfinden, dass Juden die Aufnahme in den Zittauer Wandervogel verweigert wurde und ein ›Arierparagraph‹ in vielen Ortsgruppen Usus wurde, wenn er es unausgesprochen nicht längst schon war – im Gegenteil, und nun wird es etwas weniger trivial: Das Wissen um Nietzsche hätte hier nur geschadet, wie am Genauesten und aus eige­ ner Anschauung Theodor Fritsch wusste, der 26 Jahre zuvor, im März 1887, verleitet von Nietzsches antisemitischem Schwager, Nietzsche brieflich für die völkische Sache zu gewinnen versucht hatte – und sich dafür eine Abfuhr einhandelte, die er nie wieder vergessen sollte (vgl. Niemeyer 2003). Deutlich wurde dies vor allem 1911 in der von Fritsch herausgegebenen und verlegten, in völkischen Kreisen der Jugendbewegung viel gelesenen antisemitischen Kampfblatt Ham­ mer. »1911?«, werden Sie nun möglicherweise dazwischenrufen, »da war doch was?« Richtig, da war was, in Rudolstadt, mit Hans Fallada in der unglückseligen Hauptrolle – und, wie wir nun zusätzlich lernen können, mit dem Hitlervorläufer Theodor Fritsch in der Rolle des advocatus diaboli, der Nietzsche nun gleichsam in Haft nahm als Anstifter für Schülerselbstmorde deutschlandweit, schlimmer noch: der ihn als »frechen Polen« und »undeutsche Natur« geißelte – und zwar unter Bezug auf eben jene Briefe vom März 1887, »worin er mich« (so O-Ton Fritsch) »wegen meiner nationalen Bestrebungen verhöhnt und Schimpf und Schande auf alles Deutsche häuft.« (Fritsch 1911: 115) Entsprechend des Geistes der Zeit hielt nun, im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, auch Fritsch die Zeit für gekommen, Paul de Lagarde gegen Nietzsche und andere »heimliche Zernager und Untergraber des Deutschtums« (ebd.: 116) ins Spiel zu bringen. Dass dies gelang, kann im Blick auf die weitere Entwicklung kaum bestritten werden. Ein Rätsel allerdings bleibt: Was hat es mit der ›Meißnerformel‹ vom Oktober 1913 auf sich? Etwas anders gefragt:

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Gibt es etwa nicht den Kreis um Gustav Wyneken und um Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld, der Nietzsche als ihren Helden auserkor und sich deswegen freute über jene ›Meißnerformel‹, mittels derer sich die dort versammelte Freideutsche Jugend gelobte, ihr Leben fortan »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten« zu wollen? Doch, es gab diesen Kreis, und ich will auch gar nicht abstreiten, dass man sich gar nicht genug darüber wundern kann, dass da jemand in der Hochphase des Wilhelminismus ankündigt, er wolle fortan sein Leben »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten«! Verdient dies nicht das Wort von einer Magna Charta aller Bürgertugenden? Müsste man nicht stolz sein auf eine Jugend, die heutzutage so spräche und ihr Bedürfnis nach Sinnsuche in derlei Formeln gösse? Eine Jugend, die offenkundig nahe dran war, im Sinne Nietzsches auch noch das Folgende zu verkünden: In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der einen über die Anderen ist der Ekel an der Zeit! […] Ueberlassen wir diess Geschwätz […] Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, – den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-sel­ ber-Schaffenden! (III: 563)

Übrigens: Im Prinzip ist mit dieser Art fröhliche Wissenschaft oder frohe Botschaft schon das Geheimnis aller bürgerlichen Jugendbewe­ gungen seit jener benannt, die sich in der ›Meißnerformel‹ Ausdruck verschaffte. Dabei setze ich voraus, dass das Attribut ›bürgerlich‹ nicht primär Bezug nimmt auf die soziale Herkunft – die ohnehin unter der wandervogeltypischen Verkleidung kaum dechiffrierbar war, was gerade bei Interessenten aus dem Bürgertum mitunter für heillose Verwirrung sorgte20 –, sondern auf die Tugenden und Rechte, für Ebenso lustig wie beredt ist in diesem Zusammenhang eine Jugenderinnerung Theodor W. Adornos: »Ich erblickte drei, vier ganz junge Burschen, unziemlich ver­ kleidet, es sollte malerisch sein. Mir wurde erklärt, das seien Wandervögel, ohne daß ich mir darunter etwas Rechtes hätte vorstellen können. Mehr noch als die greulichen, obendrein falsch auf Klampfen begleiteten Volkslieder erschreckte mich der Anblick. Keineswegs entging mir, daß das nicht Arme waren wie die, welche in Frankfurt auf den Bänken der Mainanlagen zu nächtigen pflegten, sondern, nach kindlichem Sprachgebrauch, bessere Leute. Keine Not, vielmehr eine mir unverständliche Absicht veranlaßte ihren Aufzug. Er erfüllte mich mit der Angst, es ebenso halten und eines 20

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welche sich der Bürger seit der Französischen Revolution gegen den Adel ins Zeug legte und seinen Seelenadel geltend machte. Insoweit geht es immer auch um den Protest des aufblühenden Lebens gegen das verwelkende, es geht um den Protest des Authentischen und Nicht-Epigonalen gegen die Maske und die Konvention. Und damit eben auch: Es geht um den Aufstand des Bürgertums gegen das Spieß­ bürgertum, Letzteres als Indiz für Verfall und Dekadenz genommen – die 68er nannten es Establishment –, Ersteres als Chiffre genommen für den von Kant vorgetragenen Anspruch des Bürgers, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen (die 68er nannten es, frei nach John F. Kennedy, Zivilcourage). In diese Größenordnung also würde ich gerne die ›Meißner­ formel‹ einordnen – und ebenso natürlich auch den Protest gegen sie. Denn dies muss man hier ganz klar machen: eben jener Formel, der noch heute in jedem zweiten deutschsprachigen Lexikon eine Weihe­ stätte ohnegleichen errichtet wird – als gelte es, der deutschen Jugend mit aller Gewalt ein Ehrenmal zu setzen –, wurde nur ein knappes halbes Jahr nach dem Mythen durchtränkten Fest auf dem ›Hohen Meißner‹ der Garaus gemacht, und zwar in Marburg im März 1914 unter federführendem Einfluss dessen, der, meiner Beobachtung nach, diese Formel unmittelbar vor dem Meißnerfest in einem Aufsatz in die Welt gesetzt hatte21, nämlich unter dem Einfluss des Marburger Sozialpädagogen Paul Natorp, ein versierter und berüchtigter Nietz­ schegegner übrigens, der nun geltend machte, dass diese Formel wegen der fehlender Anerkennung von Erwachsenen als den berufe­ nen Agenten der Kulturtradierung inakzeptabel sei. Damit war nun Schluss, und man darf wohl sagen: Nach Marburg war der Geist Tages schutzlos lärmend durch die Wälder stampfen zu müssen: die Drohung des Deklassiertseins in der Jugendbewegung, längst ehe in dieser die deklassierten Bürger sich verbanden und auf große Fahrt zogen.« (GS 10.1: 307) 21 Ich beziehe mich hier auf einen in Vorbereitung auf das Meißnerfest im zweiten Oktoberheft 1913 der von Ferdinand Avenarius herausgegebenen und in der Jugend­ bewegung viel gelesenen Zeitschrift Der Kunstwart erschienenen Text Natorps, in welchem dieser gleich einleitend argumentiert, dass es nicht ganz leicht sei, das Gemeinsame des Wollens der zu diesem Fest Einladenden »auf eine einfache Formel zu bringen« (Natorp 1913: 491), um dann im weiteren Argumentverlauf die Formulie­ rung anzubieten: »Sie [diese Jugend; d. Verf.] will: leben aus eigner Verantwortung, will sie selbst sein; sein in des Wortes erfülltem, gedrängtem Sinn: sein aus eigener innerer Wahrheit, mit Austilgung alles Scheins.« (ebd.: 492) Dies, so denke ich, ist die – von Lesern dieser Zeitschrift dann auf dem Meißnerfest geltend gemachte – Meißnerformel gleichsam in ihrem Urzustand.

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Nietzsches weitgehend draußen aus der Jugendbewegung, die Sitt­ lichkeit der Sitte sah sich wieder in Geltung gesetzt, Jugendbewegung wie Jugendpflege huldigten fortan dem nämlichen Ziel, nämlich dem der Vermittlung der alten Erwachsenenkultur zuungunsten der Her­ vorbringung einer neuen Jugendkultur (vgl. Niemeyer 2002: 88 ff.), kurz: der Erste Weltkrieg konnte beginnen. Insoweit kann ich zumindest die im ersten Teil des Titels meines Vortrages verborgene Frage abhaken bzw. wie folgt beantworten: Das Ende der bürgerlichen Jugendbewegung ereignete sich im März 1914 in Marburg, und was dem nachfolgte bzw. nun zu dominieren begann, war allenfalls und in Anlehnung an Charlotte Lütkens22 gesprochen kleinbürgerliche Jugendbewegung in dem Sinne, dass sich nun das Ressentiment Bahn brach gegen alles Fremde und Andere, gegen die Juden ebenso wie gegen das Frankophone und das Kosmopolitische. Was nun Platz griff – erneut, wie man im Rückblick auf die Anfänge des Steglitzer Wandervogel zu betonen hat –, war Sinnsuche Jugend­ licher der schlimmsten Art; war das dumpfe Suchen nach den zur Heldenverehrung und Selbstverherrlichung geeigneten Wurzeln des Germanischen inklusive des intensiven und vor allem völkischen Nachsinnens darüber, wie man nach dem Krieg diesem neu erwachten Bedürfnis nach einer ganz anderen und dem angeblichen deutschen Volkscharakter sehr viel angemesseneren Lebensform Rechnung tra­ gen könne. Was dies für die ›Meißnerformel‹ bedeutete, konnte man spätestens im Juni 1933 beobachten, und zwar bei Werner Kindt: Ver­ waschener Kosmopolitismus à la Meißnerformel und à la Wyneken & Co. haben nun nämlich endgültig ausgespielt, was nun zähle sei »Gefolgschaftstreue« im Interesse der »Volkswerdung«. Ähnliches konnte man ein Jahr später in einem von Kindt initiierten und vom Nazi-Schriftsteller Will Vesper herausgegebenen Band aus der Feder keines Geringeren als Wilhelm Flitner erfahren. (vgl. Niemeyer 2005: 359 ff.) Mein Fazit kann, von hier aus betrachtet, nicht zweifelhaft sein: Ein – so meine Ausgangsthese – nicht durch die Schule Nietzsche gegangenes Bürgertum, deutlicher gesprochen: ein ihm feindlich gegenüberstehendes Klein- und Spießbürgertum trägt nicht nur Ver­ 22 Lütkens (1924: 35) vertrat die Auffassung, dass sich in der Jugendbewegung, bedingt durch die kleinbürgerliche Herkunft der meisten ihrer Mitglieder, ein NichtVerstehen des Kapitalismus, wenn nicht gar ein anti-kapitalistisches Ressentiment geltend machte, das sich dann auch gegen ›die‹ Juden wendete.

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antwortung für den Fall Fallada/Ditzen; es trägt auch Verantwortung für die fatale Fehlleitung der Sinnsuche Jugendlicher, sofern sie sich im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts auf so etwas gerichtet hat wie den Wandervogel als Keimzelle der mehrheitlich völkisch geprägten deutschen ›bürgerlichen‹ Jugendbewegung. Wenn man nun noch einbezieht, dass auch heute noch Sinnsuche Jugendlicher jener schlimmsten Art zu verzeichnen ist – und das eingangs ange­ sprochene Fußball-Sommermärchen 2006 sollte einen nicht hinweg­ täuschen über die realen Fakten in Sachen des vor rassistischen und antisemitischen Übergriffen nicht geschützten Fußballeralltags23 –, wenn also, und ich wiederhole mich hier wirklich ungern, »das dumpfe Suchen nach den zur Heldenverehrung und Selbstverherrlichung geeigneten Wurzeln des Germanischen« registriert werden muss, resultierend aus kleinbürgerlichem Ressentiments und mitunter auch noch getragen von dem Glauben, auf diese Weise den arbeitslos gewordenen und seit der Wende mehrfach entehrten Vater rächen zu können, dann, so meine ich, wird man neu nachzudenken haben über die Wiederaufnahme Nietzsches und der von ihm aufgeworfenen Fragen in das kulturelle Gedächtnis des deutschen Bürgertums.

23 Dies belegt die Schmähung des Nationalspielers Gerald Asamoah in Rostock, dies belegen aber auch die wenig später sich ereignenden antisemitischen Ausfälle gegen die Spieler eines jüdischen Vereins bei einem Spiel im vormaligen Ost-Berlin. (vgl. Berliner Morgenpost v. 14.10. 2006: 24).

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6 Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche Am Beispiel seiner Buddenbrook-Skizzen Der Tod (1897) sowie Der Weg zum Friedhof (1900) und im Vergleich zu Doktor Faustus (1947)

Das Thema Syphilis und der Name Nietzsche war Thomas Mann (1875–1955) von Beginn seines Schaffens an wichtig, ablesbar etwa, wie Anja Schonlau (2005: 250 ff.) gezeigt hat, an der Herausstellung der Syphilophobie des Christian Buddenbrook. Kaum weniger ein­ schlägig und zumal für den Fall Nietzsche interessanter, weswegen wir gleich auf sie zu sprechen kommen wollen, unter Rückgriff auf andernorts angedeutete Überlegungen (vgl. Niemeyer 2020: 46–48; 56–58; 2022: 237 ff.; 241 ff.; 307 ff.): Thomas Manns als Vorstudien zu den Buddenbrooks (1901) zu lesende Novellen Der Tod (1897) und Der Weg zum Friedhof (1900) sowie, natürlich und von seiner Bedeu­ tung für unser Thema her gar nicht zu überschätzen: der geniale Roman Doktor Faustus (1947). Spannend an ihm: Nietzsches Syphilis wird hier am Exempel des Nietzsche-Double Adrian Leverkühn the­ matisiert, in der Absicht einer Allegorie auf den Untergang des NSRegimes. Allegorie meint: Die um 1900 zumal in bürgerlichen Krei­ sen gängige Lesart von Nietzsches Syphilis als verdiente Gottesstrafe für diesen als Pastorensohn ins Rennen gegangenen Gottesleugner wird von Mann, um mehrere Stufen angehoben, in eine Lektion ver­ wandelt in puncto Gottesstrafe für das deutsche Volk und dessen in seiner Hitlerverehrung sich als gotteslästerlich erweisende Hybris. Deswegen sei erst einmal dieser Roman vorgestellt, ehe die eben erwähnten frühen Erzählungen gleichsam als Syphilisdiagnosen als, in Relation zu jenem Roman betrachtet, solche avant la lettre gewür­ digt werden sollen.

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6 Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche

Doktor Faustus (1947) Dieser Roman, im engen Zusammenhang zu sehen mit seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrungen (1947), trans­ formiert die dort vertretene Position zu Nietzsches Krankheit in große Literatur. Ausgangspunkt hier, in diesem Essay: Nietzsches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889, die Frage nach dessen Ursache – und die Forderung, der »Wahrheit als Ganzes« die Ehre zu geben und »nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichtspunkt [zu] ver­ leugnen, unter dem sie [= Nietzsches Krankheit] gesehen werden kann.« Deswegen auch fällt gleich nachfolgend ein Lob Manns selbst auf den Arzt Paul J. Möbius ab, der, wie wir gleich diskutieren werden (vgl. Kap. 7), 1902 gegen Nietzsches Schwester auf der Syphilisdia­ gnose ad Nietzsche bestand: »Der Mann sagt, auf seine Weise, die unbestreitbare Wahrheit.« (GW IX: 678) Nicht zu vergessen die Hauptsache: Mann expertisierte sich für diesen Roman ausführlich in puncto Syphilis, etwa durch Lektüre von Wilhelm Gennerich (1921), auch mittels einschlägiger Zuarbeit durch den mit ihm befreundeten Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955), wie Pia Daniela Volz herausstellte (vgl. Volz 1990: 200), die auch Gumperts für Mann verfertigtes Kurzreferat zu den Stadien der syphilitischen Infektion zugänglich machte. (ebd.: 369 f.) Schließlich und entscheidend: Mann arbeitete in seinen Roman Paul Deussens Bordellgeschichte von 1901 (vgl. Niemeyer 2020: 58 f.) ein sowie – dies bleibt implizit – deren Transformation durch Helmut Brann (1931)24 unter Bezug auf das Lied Unter Töchtern der Wüste aus Zarathustra IV (vgl. Niemeyer 2020c). Mann in seinem 1947 er Nietzsche-Essay, entschlossen: Die ›Erscheinungen in Flitter und Gaze‹ von damals haben sichtlich zu den wonnigen Wüstentöchtern Modell gestanden, und von diesen ist es nicht weit mehr, es sind nur noch vier Jahre, bis zur Basler Klinik, wo der Kranke zu Protokoll gibt, er habe sich zweimal in früheren Jahren spezifisch infiziert. Die Jenaer Krankengeschichte nennt für das erste dieser Mißgeschicke das Jahr 1866. Ein Jahr also, nachdem er aus jenem Kölner Hause geflohen, kehrt er, ohne diabolische Führung diesmal, an einen solchen Ort zurück und zieht sich – einige25 sagen: absichtlich, als Selbstbestrafung – zu, was sein Leben zerrütten, aber 24 Mann verzeichnete Branns Buch als eines seiner vorbereitenden Lektüren zum Doktor Faustus. 25 ›Einige‹ meint vor allem: Brann, dessen Nichtnennung hier, gesetzt, Mann lehne diese Zusatzannahme ab, als Schutzmaßnahme zu verstehen ist. Zumal Branns Spe­

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Doktor Faustus (1947)

auch ungeheuer steigern wird –, ja, wovon auch teils glückliche, teils fatale Reizwirkungen auf eine ganze Epoche ausgehen sollen. (GW IX: 679)

Damit ist das Szenario zu Doktor Faustus fixiert, verlegt nach Leipzig, Herbst 1905, in Leverkühns erstem dortigen Semester und ergänzt um eine gewisse Esmeralda »mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen« (Mann 1947: 191), derentwegen Leverkühn einen zweiten Gang wagt in jenes Deussens Überlieferung nachgebildete Bordell und sich, trotz ihrer Warnung, ansteckt, kurz: »Es war dafür gesorgt, daß er sie nicht vergaß.« (ebd.: 206) Hinzuzurechnen sind einige Details, die Mann aus der einschlägigen Sekundärliteratur bezogen haben dürfte, etwa aus Erich F. Podach (1937), darunter eine Fantasie über Leverkühns begonnene, dann aber aus skurrilen Grün­ den – der eine Arzt stirbt, der andere wird verhaftet – abgebrochene Behandlung sowie den Umstand betreffend, dass Nietzsches geistiger Zusammenbruch aus der Sicht der Mutter für Gottesstrafe zeugte, aber auch, was ihre Person angeht, für Erlösung. Diesen Rückschluss erlaubt der Umstand, dass Mann in diesem Roman den Erzähler angesichts des komplementären Geschehens um seinen nach dem Bild Nietzsches gezeichneten Romanhelden Adrian Leverkühn sagen lässt, nachdem dieser, an Syphilis erkrankt nach einem Bordellbesuch, sich in häuslicher Pflege wiederfindet: Einer Mutter ist der Ikarusflug des Helden-Sohnes, das steile Man­ nesabenteuer des ihrer Hut Entwachsenen, im Grunde eine so sünd­ liche wie unverständliche Verwirrung, aus der sie auch immer das entfremdet-geistesstrenge ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!‹ mit heimlicher Kränkung vernimmt, und den Gestürzten, Vernichteten, das ›arme, liebe Kind‹, nimmt sie, alles verzeihend, in ihren Schoß zurück, nicht anders meinend, als daß er besser getan hätte, sich nie daraus zu lösen. (GW VI: 671)

Auch Nietzsches Mutter, so Manns offenkundige Hintergrundan­ nahme, dürfte den geistigen Zusammenbruch ihres Sohnes »nicht ohne Genugtuung, nicht ohne Zufriedenheit« registriert haben. Denn nun konnte sie ihm, bar aller Sorgen um das, was da noch aus seiner Feder fließen möge, die bisher vorenthaltene Unbedingtheit ihrer Mutterliebe zurückgeben und ihr diesbezügliches Schuldgefühl kom­ pensieren. kulation über einen dritten Vorfall 1876 in Nürnberg dürfte Mann nur mit Bedenken zur Kenntnis genommen haben.

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6 Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche

Die letzte Szene des Romans gilt dem Helden, »1939, nach den Besiedlung Polens, ein Jahr vor seinem Tode«, den Mann auf den 25. August 1940 terminiert. An exakt diesen Tag gemahnt denn auch das allerletzte Porträt Leverkühns: Tief lagen die Augen in den Höhlen, die Brauen waren buschiger geworden, und darunter hervor richtete das Phantom einen unsäglich ernsten, bis zur Drohung forschenden Blick auf mich, der mich erbeben ließ […]. (GW VI: 675)

Eine Allegorie auf Deutschland, das damals »die Wangen hektisch gerötet […] auf der Höhe wüster Triumphe [taumelte], im Begriffe, die Welt zu gewinnen«; heute, 1944/45, hingegen »stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem anderen ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweif­ lung.« (ebd.: 676) So also, so bedeutungsschwer, endet sie, die Mär des Adrian Leverkühn, der, wie sein Nachname schon andeuten soll, Nietzsches Imperativ »gefährlich leben« ein wenig zu streng befolgt hat – wie Nietzsche im Bordell 1866, aber eben auch: wie Deutschland im Banne Hitlers resp. Italien im Banne Mussolinis. Man muss diese Botschaft Thomas Manns nicht notwendig mögen. Zumal ihr ein bedenklicher Konstruktionsfehler eingegeben ist, insofern einer wie Leverkühn angesichts der Euthanasiepolitik in Deutschland das Jahr 1940 wohl kaum lebend erreicht hätte – große Literatur ist Doktor Faustus trotzdem.

Doktor Faustus (1947) in der Lesart Helmut Koopmanns Helmut Koopmanns Aufsatz Syphilis. Wie ein Wort Nietzsche zu einer Krankheit verhalf, an der er nicht litt, und Thomas Mann zu einem Romanstoff, den er sonst kaum gegeben hätte (2012) überrascht zunächst einmal durch die Bestimmtheit, mit der, zumindest per Titel, die Syphilisdiagnose verneint wird. Zumal hier nicht ein Mediziner redet, sondern ein Germanist – allerdings ein ausgezeichneter. Was den Zusatz erfordert, dass im Folgenden nur Koopmanns Argumente zu Nietzsche interessieren. Die Frage lautet dabei, warum Koopmann das Risiko einging, sich eben dieser Bestimmtheit wegen zu blamie­ ren, im Vergleich etwa zu der durchaus denkbaren und auf der letzten Seite seines Textes verwendete Alternativformulierung, er, Koopmann, halte die Syphilisdiagnose im Fall Nietzsches »mit größ­

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Doktor Faustus (1947) in der Lesart Helmut Koopmanns

ter Wahrscheinlichkeit« (Koopmann 2012: 175) für nicht hinreichend begründet. Um in medias res zu gehen: Welches sind die Gründe, die Koopmann zu der Annahme bewegen, Nietzsche habe nicht an Syphilis gelitten? Die Antwort fällt enttäuschend aus, insofern Koopmann letztlich nichts weiter aufzulisten vermag – etwa den »langen Überlebenszeit­ raum […] nach gestellter Diagnose« – als dasjenige, was immer schon gegen die Syphilisdiagnose vorgetragen und bequem mittels des Arguments vom ›atypischen Verlauf‹ ins Abseits gedrängt werden konnte (und weiterhin kann). Entscheidend aber ist, dass Koopmann sich mit seinem Argument, der Umstand, »dass Nietzsche bereits als Kind alle Symptome ausbildete, die dann zum Ausbruch seiner Krank­ heit führten und manifest wurden«, sei nur dann plausibel, wenn man annähme, »dass Nietzsches Vater Syphilitiker gewesen sei und das Kind sich früh bei ihm infiziert habe«, keineswegs so zum Lachen ist, wie Koopmann mittels seines selbstgewiss vorgetragenen Arguments »Dafür gibt es aber nicht den geringsten Beweis« (Koopmann 2012: 157) suggeriert, im Gegenteil: In der Nietzscheforschung (etwa Nie­ meyer 1998: 79 ff.) wird genau diese lachhafte Hypothese längst schon sehr ernsthaft diskutiert, aber selbstredend nicht mit dem Interesse, eines Beweises für die Syphilis auch von Nietzsches Vater habhaft werden zu wollen, sondern orientiert an der Überlegung, dass Nietz­ sches subjektive Krankheitstheorien in diese Richtung weisen. Kaum akzeptabel ist auch Koopmanns Rekonstruktion der von Thomas Mann in Doktor Faustus (1947) aufgegriffenen Bordellanek­ dote Paul Deussens. Ein Bordellerlebnis, »das keines war«, heißt es dazu apodiktisch bei Koopmann, sowie: »Deussen […] kann sich nur auf Nietzsches eigenen Bericht stützen. Alles andere sind vage Andeu­ tungen.« (Koopmann 2012: 160) So locker hat, wie gleich genauestens zu zeigen sein wird, noch nicht einmal Nietzsches Schwester die Sache genommen – und eben deswegen die Aufmerksamkeit auf einen der damals dabei mutmaßlich Beteiligten gelenkt, Ernst Schnabel nämlich. (vgl. Kap. 8) Förster-Nietzsche freilich war für Koopmann vermutlich eine Quelle unter Niveau. Und dass man bei Fragen wie diesen über den Tellerrand (in diesem Fall: Deussen) schauen muss, versteht sich wohl von selbst und zeigt der von Koopmann gleichfalls missachtete Name Clemens Ernst Benda und mithin das Jahr 1925: Seitdem gibt es nicht nur ›vage Andeutungen‹, sondern einen von Benda geltend gemachten sehr aufschlussreichen Brief Nietzsches an Carl von Gersdorff. (vgl. Kap. 1: Ein Kamel kommt

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6 Thomas Mann als Syphilisdiagnostiker ad Nietzsche

aus dem Tritt) Koopmann erwähnt weder diesen Brief noch Bendas Auslegung desselben noch das von Hellmut Walter Brann (1931) ins Spiel gebrachte und von Thomas Mann adaptierte Zarathustra-Lied Unter Töchtern der Wüste und die Diskussion um es – nicht sehr vertrauenerweckend, sondern eher dem Typus dogmatisierender Kri­ tikimmunisierung zugehörig, die eines jedenfalls nicht zu leisten vermag: Erkenntnisfortschritt. Was Koopmann ansonsten noch gegen die Syphilisdiagnose anzuführen weiß, ist entweder – dies gilt etwa für das von Christiane Koszka (2009; 2010) eingebrachte MELAS-Syndrom – inzwischen widerlegt, etwa durch Thomas Klopstock (2013) sowie Roland Schiff­ ter (2013; 2013a). Oder aber es ist ohne jede Relevanz, wie etwa Koopmanns Berufung auf Heinrich Köselitz in Sachen der die Syphi­ lisdiagnose abweisende Urteile (vgl. Koopmann 2012: 159) – ohne dass beachtet wird, dass Köselitz sich schon 1900, nachdem er ins Lager der Schwester übergelaufen war, durch Mitwirkung an der Unterschlagung der Eiser-Korrespondenz kompromittiert hatte (vgl. Kap. 10) und seit dem Bekanntwerden zweier seiner Briefe vom März 1900 an den Musikschriftsteller Heinrich Möller (1876–1958) des Inhalts, Nietzsche habe ihm, Köselitz, gestanden, sich bei einem Bor­ dellbesuch infiziert zu haben (vgl. Vorberg 1933: 34; Krummel/ Krummel 1994: 322 f.), als danach eisern schweigender Kronzeuge zu gelten hat. Kaum weniger fragwürdig: Koopmanns Hinweis auf Sigrid Montinaris »freundliche Mitteilung«, ihr verstorbener Gatte, einer der beiden Herausgeber der neuen Kritischen Nietzsche-Ausgabe, sei der »festen Überzeugung« gewesen, »dass Nietzsches Erkrankung nicht syphilitischen Ursprungs gewesen sei.« (Koopmann 2012: 159) Das ist Wissenschaft qua Autorität, nicht qua Autorisierung durch das bessere Argument – womit die Aufgabe für das Folgende abgesteckt ist: die erneute Insichtnahme jener eingangs erwähnten zwei frühen Novellen Thomas Manns.

Der Tod (1897) Thomas Manns im Januar 1897 im Simplicissimus – in deren Redak­ tion er 1898 eintrat – veröffentlichte Novelle Der Tod gibt Kunde von dem überragenden Potential des damals 21-jährigen, durch den frü­ hen Tod seines Vaters Erschütterten und dieses Thema in dieser

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Der Tod (1897)

Novelle thematisierend. (vgl. Krüll 1993: 125) Ähnlich wie in der Novelle Der Wille zum Glück (1896) sind, hier schon durch den Titel signalisiert, Nietzsche-Motive erkennbar.26 Wichtiger im Blick auf Nietzsche ist aber fraglos der hier in Rede stehende Text, dessen Rang als Vorstudie zum Roman Doktor Faustus (1947) zwar für ein Detail behauptet wurde (vgl. Vaget 1990: 546), insgesamt aber umstritten ist (etwa Pütz 1977; Körber 2006: 57 ff.) und auch hier nicht behauptet werden soll. Außer Frage aber steht Manns Interesse für die Syphi­ listhematik in jenen Jahren27 sowie der Umstand, dass der Autor von Italien aus – wo er diese Novelle während eines gemeinsam mit sei­ nem Bruder Heinrich verbrachten Aufenthalts konzipierte – lebhaft Anteil nahm an der sich zeitgleich in Naumburg (später in Weimar) abspielenden Tragödie um Nietzsche. Manns als Protokoll eines Ster­ benden angelegter Text, eigentlich ein Tagebuch und als solches der Versuch, die subjektiven Theorien eines um sein Sterbedatum wis­ senden Grafen28 nachvollziehbar zu machen, darf insoweit auch gele­ sen werden als Anspielung auf diese seinerzeit die europäische Kul­ turszene beschäftigende Tragödie. Anspielungen auf Nietzsche sind denn auch anhand zahlreicher Details erkennbar, angefangen – was die Praxis, nicht die Theorie29 angeht, – bei dem Sterbedatum (»den zwölften Oktober meines vierzigsten Lebensjahrs«; GW VIII: 71) und die um es gebaute Mär. »Ich wußte mit neunzehn oder zwanzig Jahren, daß ich mit vierzig sterben müßte« (GW VIII: 73), lesen wir da, fast in Fortschreibung Der Sache nach geht es um den literarischen Versuchs, den Tod des an einer mysteriösen Krankheit leidenden jugendlichen Helden als einen zu denken, der sich infolge des Veto des zunächst sich sperrig gebärdenden Brautvaters um fünf Jahre hinauszögern lässt, ehe er nach endlich erreichtem Liebesglück in der Hochzeitsnacht schließlich eintreten kann. 27 Als Beleg kommt auch sein Kommentar von 1895 zum Fall von Oskar Panizzas Anti-Syphilis-Groteske Das Liebeskonzil (1894) in Betracht. (vgl. Niemeyer 2020: 339 ff.) Denn Manns Gutheißung von Panizzas Verurteilung wg. Blasphemie vom Standpunkt jener »Leute, die in der Kunst ein bißchen guten Geschmack noch immer verlangen« (GW XIII: 367), spricht ja nicht dagegen, sondern eher dafür, dass Mann eine geschmackssichere Erörterung des Themas Syphilis – wie in Der Tod – begrüßt hätte. 28 Dass dieser, wie Hans R. Vaget behauptete, »mit Blick auf Bourgets ›Dilettanten‹Gestalten und Huysmans‘ Grafen Des Essentes (A Rebours) konzipiert« (Vaget 1990: 547) sei, scheint mir vorerst nur eine These zu sein. 29 Im Blick auf diese wird man die in der bisherigen Forschung herausgestellte Anspielung auf die – etwa in Götzen-Dämmerung gelehrte – Lehre vom »Tod aus freien Stücken« (vgl. Vaget 1990: 547) zu erwähnen haben. 26

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brieflicher Mitteilungen Nietzsche über Sorgen, die ihm wegen des frühen Todes seines Vaters (im 36. Lebensjahr) umtrieben (vgl. Kap. 1). In Richtung Nietzsche weist des Weiteren die Anspielung auf eine zu erhöhende »Brom-Dosis« des Grafen, »vielleicht, daß ich nun ein wenig mehr schlafen kann.« (GW VIII: 72) Die Vokabel »vielleicht« könnte andeuten, dass das Therapeutikum Brom nicht nur in die Richtung des von Nietzsches Schwester als kausal für ihres Bruders Zusammenbruch im Januar 1889 geltend gemachten Schlafmittelabu­ sus zugehört, sondern in die Richtung weist, die dem in jenem Januar von Franz Overbeck in Nietzsches Turiner Zimmer gefundenen Brom zukommt: als Anti-Epileptikum, eingesetzt gegen ein Begleitphäno­ men jenes Zusammenbruchs. (vgl. Niemeyer 2020: 33) Nicht zu vergessen: Die Erinnerung des Grafen an sein »wir­ res buntes Leben« (GW VIII: 70) könnte auf Nietzsches Imperativ »gefährlich leben!« und die entsprechenden Fantasien vom Ausleben des bisher Unausgelebten in der Zeit unmittelbar vor der Lou-Affäre reflektieren. In Der Tod wird diese Denkfigur weiterentwickelt in Gestalt der den Grafen auf dem Sterbebett überwältigende Erinnerung an das »anmutige und flammend zärtliche Geschöpf unter dem Sam­ methimmel von Lissabon«, das ihm zwölf Jahre zuvor die jetzt bei ihm lebende Tochter »schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um [s]einen Hals lag.« Eröffnet ist mit diesem Tod im Kindbett die Spurensuche endgültig in Richtung Syphilis, etwa in Gestalt der Suche nach diesbezüglich verräterischen Anzeichen im Antlitz der Tochter. »Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder sind sie und nachdenklicher.« Ertragreicher ist da schon der Umstand, dass dem ein striktes, an Asuncion gerichtetes Dementi des Vaters der Art folgt: Weintest Du, weil ich ›krank‹ sei? Ach, was hat das damit zu tun! Was hat das mit dem zwölften Oktober zu tun!... (GW VIII: 71)

Deutlich erkennbar, durch diese Zeilen hindurch und gesetzt, der ›zwölfte Oktober‹ könne als Zahl genommen werden für einen Fata­ lismus anderer Ordnung, geheftet an den frühen Tod von Nietzsches Vater, der aus sich heraus auch den frühen Tod des Sohnes zu einem nicht vermeidbaren Ereignis macht: die Abwehr der Vorstellung, Nietzsches Tod sei in Wahrheit Spätfolge der Syphilis seines Vaters. Ein Szenario, das durch Henrik Ibsens Gespenster (1881) damals durchaus im Diskurs präsent war und auf den Fall Nietzsche(s) anwendbar scheint.

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Der Weg zum Friedhof (1900)

Noch aufschlussreicher, wie gesagt: als, Doktor Faustus zum Maßstab genommen, Vorstudie zu Nietzsches Syphilis avant la lettre, scheint mir die zweite Novelle zu sein, der wir uns nun zuwenden wol­ len.

Der Weg zum Friedhof (1900) Thomas Manns am 20. September 1900, also vier Wochen nach Nietzsches Tod im Simplicissimus veröffentlichte Novelle Der Weg zum Friedhof, vom Autor später als »kleine Groteske« (GW XI: 621) bezeichnet, geschrieben aus Erleichterung und als »Erholung« (GW XIII: 117) von der anstrengenden Arbeit an den Buddenbrooks (1901), wurde bisher kaum einmal im Kontext von Nietzsches Krankenge­ schichte diskutiert. Hans-Dieter Mennel rechnet sie mit guten Grün­ den der Vorgeschichte des ursprünglich Abwärts geheißenen Budden­ brook-Romans und dem darin sich dokumentierenden Interesses des Autors am »Dekadenzdiskurs der Zeit des Fin de Siécle« zu, »dessen wichtigster Vertreter im deutschen Sprachraum, Friedrich Nietzsche, zu Thomas Manns Kirchenvätern zählt.« (Mennel 2015: 61 f.) Aber von hier bis zu der Annahme, diese Novelle thematisiere nicht nur das damit benannte Theorieproblem, sondern auch Nietzsches prak­ tisches, ist es noch ein weiter Weg. Auch Helmut Koopmann rechnet diese Novelle nicht der auf »Frühjahr oder Herbst 1904« (Koopmann 2012: 150) zu datierenden Vorgeschichte des Doktor Faustus (1947) zu, liest sie also nicht als Bestandteil der mit diesem Roman anschau­ lich gemachten literarischen Thematisierung von Nietzsches Syphilis. Tatsächlich scheint die pure Handlung weit entfernt zu sein von die­ sem Thema: Einen alten Mann auf dem Weg zum Friedhof entrüstet der Umstand, dass ein jungen Radfahrer diesen gleichfalls nutzt, mit der Folge, dass er dieser Aufregung wegen zusammenbricht und von einem Krankenwagen, offenbar sterbend, abgeholt werden muss. Schauen wir uns, auf der Suche nach Spuren ad Nietzsches Syphilis, die Einzelheiten dieser Novelle einmal etwas genauer an.Weiterfüh­ rend ist die Zeichnung der Figur des sich entrüstenden Alten namens Liebgott Piepsam. Auffällig an ihm – deswegen wurde diese Novelle bereits im Prolog erwähnt – ist die Nase, offenkundig die Nase eines Syphilitikers (wie Nietzsche; vgl. Kap. 7), wie dunkel angedeutet wird. Einerseits mittels der vieldeutig auslaufenden Beschreibung:

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Diese Nase […] sah aus wie angesetzt, wie eine Faschingsnase, wie ein melancholischer Spaß. Aber es war nicht an dem…

Andererseits durch den Satz: Erstens trank er. Nun, davon wird noch die Rede sein. (GW VIII: 188)

Denn dies bedeutet, dass der gleich nachfolgend aufgelistete Tod von Piebsams Frau (sowie des Neugeborenen) im Kindbett sowie der Tod zweier weiterer Kinder vom Erzähler nicht dem Suff des Vaters in Rechnung gestellt wird und deswegen auch nicht nur von einer Knollen- resp. Säufernase gesprochen werden kann, wie es in der Sekundärliteratur überwiegend geschieht. Deswegen übrigens auch die ins Ungefähre auslaufende Ursachenerklärung für den Tod der Kinder (»das eine an der Diphterie, das andere an nichts und wieder nichts, vielleicht an allgemeiner Unzulänglichkeit«). Denn dadurch bleibt Platz für später nachgelieferte Andeutungen auf Piepsams – weit über Alkoholabusus hinausgehendes – »Lasterleben« (ebd.: 195), was wiederum seine ihm schließlich den Tod bringende Entrüs­ tung über den Radfahrer zu einer vom Typ Nietzsche machen könnte. Deren substantieller Kern ist, dass man dem anderen jene sexu­ elle Aktivität zum Vorwurf macht, derer man selbst, anders als in frü­ heren Jahren, nicht mehr frönen kann. Für diese auf ein wichtiges Nietzsche-Motiv beziehbare Lesart spricht, dass Piebsams Aufreger (zum Tode), ein »Jüngling« mit »blondem Haar« und »blitzblauen« Augen, der daherkam »wie das Leben« (GW VIII: 191), fortan nur noch »das Leben« genannt wird. Unverkennbar ist hier Manns Anleihe bei Nietzsches Gestaltungskniff in Das andere Tanzlied aus Za III, der ihm erlaubte, sein Liebesleid in Sachen Lou von Salomé aus einer persönlichen Lektion in eine höhere Botschaft – eben über resp. für »das Leben« – zu transferieren. (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.) Piebsams Aufforderung auf dem Höhepunkt seiner Entrüstung: »Du steigst ab, du steigst sofort ab, du unwissender Geck!« (GW VIII: 195 f.) gilt, so betrachtet, »dem Leben« insgesamt, also, wie man viel­ leicht übersetzen darf: Sie gilt stellvertretend den für den Fall Nietz­ sche(s) Mitverantwortung Tragenden, denen der damals gerade ein­ mal fünfundzwanzigjährige Autor namens seiner Generation Unwissenheit sowie Perpetuierung derselben über eben diese dunkle Seite des Lebens (und Liebens) vorhält. Die in Scham, Sexualvernei­ nung und falsch verstandener Christengläubigkeit gründende Unwis­

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senheit ob der Geschlechtskrankheit Syphilis ihren Höhepunkt erreicht.

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7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902 Nebst einem Dokument über Nietzsche, das diese sehr wahrscheinlich macht

»Macht Turnübungen, hält oft stundenlang die Nase fest.« (Jenaer Krankenjournal, 17. Juni 1889)

Bevor ich, ganz am Ende, den zweiten Teil der Überschrift und das im Motto verborgene Dokument erläutern kann, zur Prämisse all dessen, nämlich zur (aktuellen) Kritik an Paul J. Möbius’ (1853–1907) bzw. dessen Buch Über das Pathologische bei Nietzsche (1902). Es gilt als Klassiker der pathographischen Literatur über Nietzsche, stammend vom Erfinder des Terminus Pathographie (vgl. Dahlkvist 2012: 173). Aber: Es gilt auch seit seinem Erscheinen als Aufreger par excellence, zusammen mit seinem Autor, einem promovierten Philosophen als auch promovierten sowie habilitierten Neurologen und Psychiater. Ein aktuelles Beispiel: Kerstin Decker nannte Möbius in ihrer erstaunlich30 erfolgreichen Elisabeth-Förster-Nietzsche-Bio­ graphie Die Schwester (2016) ein »vagabundierendes Unglück von einem Psychologen«, das »schon zuvor mit so wegweisenden Pro­ grammschriften wie Über den psychologischen Schwachsinn des Wei­ bes aufgefallen [war].« (Decker 2016: 417) Auch Deckers Nachfolger in speziell diesem Biographiensegment, Ulrich Sieg, urteilte nur wenig freundlicher31, desgleichen, nun in chronologisch absteigen­ der Linie, Reto Winteler (mittels Spott32), Helmut Koopmann (vgl.

Näheres zur Erläuterung dieser Vokabel in Niemeyer 2018. »Es verstand sich von selbst, dass das Pamphlet nicht unwidersprochen bleiben konnte.« (Sieg 2019: 203) 32 »Dass Overbeck sich durch die Argumente eines solchen ›Sachverständigen‹ zum Umdenken bewegen lassen konnte, ist schwer nachzuvollziehen.« (Winteler 2014: 200) 30 31

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Kap. 6), Richard Schain (mittels vergiftetem Lob33), die letzten drei übrigens engagierte Gegner der Syphilisdiagnose, was die Frage nahelegt: Wird hier womöglich der Bote seiner störenden Botschaft halber erschlagen? Wir wollen dieser Frage nachgehen in Bezug auf Möbius’ Botschaft ad Nietzsches Vater (2.); Möbius’ Lesart der Bordellanekdote Paul Deussens im Vergleich zu jener der Schwester (3.) sowie Möbius’ Versagen als Nietzscheinterpret. (4.) Das Ganze beschließt ein Epilog, der das im Motto aufgerufenen ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 als Beleg pro Möbius’ Syphilisdiagnose fruchtbar machen will. (5.)

Möbius’ Botschaft ad Nietzsche im Vergleich zu jener der Schwester Schauen wir uns, um auf die Frage, ob Möbius seiner Botschaft wegen ›erschlagen‹ wurde, sinnvoll antworten zu können, diese Bot­ schaft erst einmal etwas Genauer an. Voranzustellen ist dabei, um speziell Kerstin Deckers Empörung (»vagabundierenden Unglück«) zumindest vom Ansatz her nachvollziehbar zu machen, dass der »Psychologe« (Decker) und Antifeminist Möbius ganz sicher kein Sympathieträger war. Dies zeigt schon der Umstand, dass er aus Ärger über eine ausstehende, aber seiner Meinung nach sachlich gebotene Ruferteilung seine Habilitationsurkunde zurückgab und im Vorwort zur 2. Auflage von 1904 einen Kritiker aus dem Förster-NietzscheLager (Raoul Richter) mit dem Hinweis abfertigte, er könne sich leider nicht »mit einem Privatdocenten der Philosophie in Erörterungen über die Diagnose der Paralyse einlassen.« (Möbius 31909: VI) Schon das Vorwort zur Erstauflage war in diesem Ton gehalten und enthielt eine versteckte Drohung: Er sei aufgefordert worden, »etwas über die Krankheit Nietzsches zu schreiben«, ein sachverständiges Urteil könne allerdings »nicht die Pietät im Sinne der Familie zum Führer nehmen.« Dem folgt ein vieldeutiger Dank an Nietzsches Schwester, ihn, als er sie besuchte, »freundlich entgegengekommen« zu sein und »zu den nöthigen Nachforschungen ermächtigt« zu haben, ergänzt um den Satz: »Möbius is particulary informative about Nietzsche’s migraine headaches.« (Schain 2001: 81)

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Möbius’ Botschaft ad Nietzsche im Vergleich zu jener der Schwester

Die Schwester hat uns zuerst gesagt, dass Nietzsche an progressiver Paralyse gelitten hat; weil diese eine exogene Krankheit ist, wird das Leiden zu einem von Aussen kommenden Unglücke, für das die Natur des Kranken nichts kann. (ebd.: VIII f.)

Der Nachsatz, geschickt die auf Möbius zurückgehende Unterschei­ dung zwischen exogen und endogen ins Spiel bringend, sollte Nietz­ sches Schwester beruhigen, ebenso wie das Referat ihrer im Januar 1900 publizierten Darlegungen: Möbius trug sie ohne jeden Verdacht vor, er habe es bei ihren Erzählungen mehrheitlich mit fälschungsba­ sierten Erfindungen zu tun – was sie ohne jede Frage waren. und kurz erläutert sei, zumal Förster-Nietzsches Fürsprecherin Decker nicht ein Wort dazu verlor. Förster-Nietzsches Aufsatz Die Krankheit Friedrich Nietzsches (1900), am 9. Januar 1900 in Maximilian Hardens Zukunft erschie­ nen, sollte allererst, erkennbar gegen die von Ola Hansson (1889/90) losgetretene und von Hermann Türck (1891) fortgeführte Debatte über Hereditäres, der Annahme entgegentreten, »unser Vater sei kränklich und mit einem Hirnleiden behaftet gewesen.« (FörsterNietzsche 1900: 622) Ins Zentrum des hier Interessierenden gehört die Erklärung der Schwester für Nietzsches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 in Turin (nach Nietzsches Tod erweitert um eine Erklärung auch für diesen), die notwendig geworden war, weil die bis dato favorisierte Diagnose »Überarbeitung« nicht mehr trug. Mit Varianten dieser Diagnose war in den 1890er Jahren noch so mancher Naumburg-Besucher nach Hause geschickt worden. Am Ergreifends­ ten ist dabei wohl der Rapport, den der selbsternannte ›Naturarzt‹ Philo vom Walde 1898 erstattete: Frau Pastor Nietzsche sowohl als auch ihre Tochter sind stets über­ zeugte Anhängerinnen der hygienisch-diätetischen Heilweise (Natur­ heilkunde) gewesen und haben es mit tiefem Schmerz empfunden, daß der liebe Fritz gegen seine Schlaflosigkeit und die neuralgischen Schmerzen allerlei Medikamente gebrauchte, die seine Gehinnerven immer mehr ruinierten, bis er zuletzt am Chloralgebrauch zu Grunde ging. (zit. n. Gilman 1985: 702)

Diese Erklärung hatte ab 1900 als unzulänglich ausgedient. FörsterNietzsche schrieb jetzt und wiederholte dies weitgehend unverändert im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie von 1904 sowie 1914 in Der einsame Nietzsche:

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Der […] Angriff ging von antisemitischer Seite aus: In einigen anony­ men Schreiben wurde auf wahrhaft raffinierte Weise meinem Bruder der Glaube beizubringen gesucht, als ob mein Mann von Südamerika aus einen gegen den Zarathustra gerichteten Artikels geschickt hätte und als ob dieser nun mit seiner und sogar mit meiner Billigung in einem antisemitischen Blatt zum Abdruck gebracht werden solle. Der anonyme Briefschreiber wollte sich für einige judenfreundliche und antisemitenfeindliche Bemerkungen meines Bruders rächen; und um den Einsamen der Einsamsten zu zeigen, daß er selbst die Wenigen verloren habe, die seinem Herzen nahe standen, schrieb er ihm diese boshaften Erfindungen. Mein Bruder fühlte sich tötlich verletzt. Mit keinem Menschen konnte er sich in seiner Verlassenheit aussprechen; und diese Angriffe müssen sich wiederholt haben – schließlich brachen sie ihm das Herz. Erst nach dem Tode meines Mannes […] fand ich in seinen Papieren einen mir vorenthaltenen Antwortbrief meines Bruders, in dem er von diesem empörenden Angriffen spricht und in den leidenschaftlichsten Ausdrücken des Schmerzes meinen Mann anklagt, ihm seinen treusten angeborenen Jünger, seine Schwester, entwendet und verdorben zu haben. Er richtet die bittersten Anklagen gegen meinen Mann und fährt dann fort: ›Ich nehme Schlafmittel über Schlafmittel, um den Schmerz zu betäuben, und kann doch nicht schlafen. Heute will ich so viel nehmen, daß ich den Verstand verliere...‹ (Förster-Nietzsche 1900: 636)

– was ihm dann auch gelang, so darf man jedenfalls die Schwester ver­ stehen, zumal sie fortfährt, jedenfalls in der deutlich aufgemöbelten Variante dieser Mär von 1904: Der ganze Brief klang wie der letzte Aufschrei seines gequälten Her­ zens, – der Borgen zersprang, der Held brach zusammen – ein Schlag­ anfall traf den Theuersten in den letzten Tagen des Jahres 1888 und lähmte für immer diesen unvergleichlichen Geist. (Förster-Nietzsche 1904: 897)

Hier, aber noch zehn Jahre später, in Der einsame Nietzsche, dominiert als ursächlich der »Schlaganfall« (Förster-Nietzsche 1914: 524), von dem Nietzsche erstmals im Dezember 1888 in Turin gefällt worden sei und letztmals kurz vor seinem Tod. Auffällig an der Urvariante dieser Mär von 1900 ist der Publi­ kationsort. Denn Maximilian Harden, Begründer und Herausgeber der Zukunft und 1922 von rechtsextremen Freikorpssoldaten halb totgeschlagen (er erlag den Spätfolgen dieses Attentats 1927), war ursprünglich jüdischen Glaubens, so dass Nietzsches Schwester

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Möbius’ Botschaft ad Nietzsche im Vergleich zu jener der Schwester

womöglich darauf kalkulierte, ihre Erklärung zur Krankheit ihres Bruders werde eher goutiert, wenn sie eine anti-antisemitische Pointe aufweise. Und, nicht zu vergessen: Diese Pointe werde ihrem Bruder weitere Leser und ihr weitere Sponsoren aus jüdischen Kreisen zufüh­ ren. Man erkennt schon an diesem Detail die für Förster-Nietzsche typische Raffinesse jedes einzelnen ihrer Argumentationsschritte – was Pleiten im Detail nicht ausschließt. Denn mit ihrer Andeutung von 1900, der anonyme Briefschreiber, ein Antisemit, habe »sich für einige judenfreundliche und antisemitenfeindliche Bemerkungen meines Bruders« resp., wie 1904 präzisiert wird: »in Nietzsche’s letzten Schriften« (Förster-Nietzsche 1904: 896) rächen wollen und sei letztlich qua dadurch indizierter Aufregung Schuld am Turiner Zusammenbruch ihres Bruders vom Januar 1889, erlaubte es kriti­ schen Lesern, diesen Antisemiten mit Juden aufgrund der beiden eigenen ressentimentgetragenen Vorgehensweise in Vergleich zu setzen – ein Unding aus antisemitischer Sicht. Dies indes war, so vermutlich Förster-Nietzsches Kalkül, in Kauf zu nehmen angesichts der scheinbaren Schlüssigkeit des Gesamtarguments. Sie verfeinerte es 1904 insofern, als sie Nietzsches Gegner nun unter der Rubrik »Feinde aus dem tückischen Zwergengeschlecht der Kleinen, die alles Hohe und Übermenschliche hassen« (ebd.), darbot – eine Variante nicht ohne Hintersinn, die unter der Hand bestätigte, was Nietzsche in Ecce homo schlicht in Abrede gestellt: nämlich dass sein Wort von den »tückischen Zwergen« (I: 154) aus der Geburt der Tragödie antise­ mitisch konnotiert war, und zwar ganz im Geiste Richard Wagners. (vgl. Niemeyer 2011: 124) Den Preis für dieses ohnehin, solange Ecce homo noch nicht veröffentlich war, gegen Null gehende Risiko: Förster-Nietzsche konnte auf diese Weise den geistigen Erben ihres verblichenen Gatten Bernhard Förster aus der völkischen Bewegung suggerieren, Nietzsche sei weiterhin einer von ihnen und gelte nach wie vor als Hassfigur der Juden resp. jener tückischen Zwerge. Freilich: Sie konnte nicht ein einziges Original jener »anony­ men Schreiben« aus dem Nachlass ihrer Bruders aufweisen – wenig erstaunlich, entsprang doch der ganze Vorgang schlicht ihrer Fanta­ sie, deutlicher: war Effekte ihrer kriminellen Energie, die ihr riet, die Syphilisdiagnose mit allen Mitteln zugunsten der von ihr favo­ risierten Schlaganfalldiagnose ins Abseits zu rücken und allenfalls der Vokabel »atypische Paralyse« (Förster-Nietzsche 1900: 639) ein gewisses Recht zuzugestehen, entschlossener, und dies war ihre Variante hierzu vier Jahre später im Zuge ihres nun deutlich Fahrt

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7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902

aufnehmenden Feldzugs gegen die »ekelhafte Verleumdung«, als die ihr die Syphilisdiagnose nun galt: Die Ärzte nannten seine Krankheit ›eine atypische Form der Paralyse‹ d.h. eine Paralyse, die durchaus nicht die Kennzeichen dieser Krankheit trug – also nicht Paralyse war. (Förster-Nietzsche 1904: 922)

Erkennbar nutzte die Schwester hier Otto Binswangers nachträglich angebrachten Jenaer Journalvermerk »Verlauf und Zeitdauer der Krankheit Nietzsches gestatten deren Herleitung aus Lues nicht« (zit. n. Hoffmann et al. 1998: 535), hinter dem sich ein veritabler Gelehr­ tenstreit verbirgt. So war Binswanger noch der irrtümlichen Annahme, dass nicht (richtigerweise) 100 %, sondern »höchstens 70 % von Paralysis-Fällen auf Lues zurückzuführen seien« (ebd.: 535), jenen von Nietzsche selbstredend eingerechnet. (vgl. auch Volz 1990: 298) Erst 1922, neun Jahre, nachdem der Japaner Noguchi Hideyo (1876–1928) »nachweisen konnte, daß in den Gehirnen an Paralyse verstorbener Kranker regelmäßig Spirochäten [die 1905 von Schaudinn entdeckten »Erreger der Syphilis«; d. Verf.] zu finden waren«, also galt: »Paralyse ist Syphilis« (Kolle 41966: 38), räumte auch Binswanger ein, »daß die Diagnose: progressive Paralyse nicht angezweifelt werden kann und daß dieses Leiden nach dem heutigen Stand der Wissenschaft eine syphilogene Erkrankung des Nerven­ systems ist.« (zit. n. Vulpius 1923: 723) Damit, nach diesem Intermezzo, zurück zu Möbius resp. Kerstin Decker. Denn sie hätte durch Studium der Sekundärliteratur um das vorstehend Berichtete wissen können, besser, gesetzt, sie hätte ein Buch vorlegen wollen, das der Kritik stand hält: sie hätte darum wissen müssen. Dann wäre ihr vermutlich zu Möbius ein etwas milderes Urteil eingefallen – zu einem Mediziner nämlich, der, arg getäuscht durch eine mit allen Wassern gewaschenen Betrügerin, arglos Förster-Nietzsches Wertung übernahm, ihr Bruder »sei in den letzten Zeit ›schon vielfach in den Beschlüssen unbeständig und verworren‹ gewesen« bzw. habe unmittelbar von dem Turiner Zusam­ menbruch »eine tiefe Kränkung erfahren« (Möbius 31909: 177) – beides Eindrücke, die, wie eben gesehen, auf von Förster-Nietzsche frei erfundenen Briefen beruhten und von ihr zwei Jahre zuvor in Har­ dens Zukunft, einem Blatt mit einer Auflage von immerhin 14.000 Exemplaren, breitgetreten worden waren. Nochmal: Förster-Nietz­ sche hätte angesichts dieses gläubigen Weiterträgers ihrer Lügen eigentlich dankbar sein müssen für diesen Mann. Dessen Verständnis

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Möbius’ Botschaft ad Nietzsches Vater im Vergleich zu jener der Schwester

einer exogenen Verursachung im Übrigen nicht verlangte, Nietzsche als einen von vornherein gesunden Menschen zu denken. Entspre­ chend war Platz für die Zusatzannahme, »dass Nietzsche auf Grund erblicher Annahme abnorm war, dass er an Migräne litt, und dass seine geistige Beschaffenheit disharmonisch war.« (Möbius 31909: 2) Kurz und aus Perspektive der Schwester bedacht: Auch dieses Damo­ klesschwert, erstmals geschmiedet von Ola Hansson, schwebte nach wie vor über ihr, zumal Möbius Förster-Nietzsches gegen Hansson gerichtetes Statement aus der Zukunft (»wir stammen von väterlicher und mütterlicher Seite aus kerngesunden Familien«; Förster-Nietz­ sche 1900: 621) zum Ausgangspunkt eigener Recherchen machte und beispielsweise referierte, ein ihm bekannter Herr habe dem Vormund Nietzsches im Herbst 1867 von den literarischen Erfolgen Nietzsches erzählt und dieser habe erwidert, »diese Frühreife erfreue ihn nicht, denn er kenne die Familie zu genau und müsse fürchten, Nietzsche werde einmal im Irrenhaus enden« (Möbius 31909: 11) – Gerede ohne jeden Wert, das Förster-Nietzsche nicht wirklich zu fürchten hatte, im Gegenteil: Es bzw. dessen Weitergabe beschädigte eher Möbius denn Nietzsche.

Möbius’ Botschaft ad Nietzsches Vater im Vergleich zu jener der Schwester Anders verhielt es sich da schon mit Möbius’ Bereitschaft, das ihm von der Schwester über den Tod des Vaters Erzählte weiterzutragen mit der von Förster-Nietzsche erhofften Pointe: Möbius bezweifelte nicht, dass in diesem Fall »eine grobe Herderkrankung des Gehirns bestan­ den hat, also eine Krankheit, bei der eine Vererbung unwahrscheinlich ist.« (Möbius 31909: 15) In diesem Zusammenhang zitierte Möbius völlig unkritisch und über Seiten hinweg einen Brief der Schwester an ihn, eingeleitet mit ihrer Wendung, sie habe »noch einmal eifrig nachgedacht und dabei einige Notizen gefunden, die ich mir nach Erzählungen meiner Mutter und sonstiger Verwandter gemacht habe« (ebd.: 13) – Notizen, die sie 1912 selbst, in ihrem Buch Der einsame Nietzsche, in einer etwas weniger dramatischen Version erneut zum Abdruck brachte. Diese Version lautet in ihrer entscheidenden Pointe: Ende August 1848 traf uns ein großes Unglück. Unser Vater begleitete eines Abends Freunde nach Hause. Bei seiner Rückkehr in das Pfarr­

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7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902

haus kam ihm an der Tür unser kleiner Hund zwischen die Füße, den er, seiner Kurzsichtigkeit wegen, nicht gesehen hatte. Er stolperte und stürzte rückwärts sieben steinerne Stufen auf das Pflaster des Hofes hinab. Er zog sich eine Gehirnerschütterung zu.« (Förster-Nietzsche 1912: 18)

Fast dreißig Jahre später, in der Franziska-Nietzsche-Biographie ihres Cousins Adalbert Oehler, begegnet einem diese Treppengeschichte erneut, nun aber in einer wieder deutlich abgespeckten Version und ergänzt um den Hinweis, dass »Joseph, der jüngste kleine Sohn, der noch in der Wiege liegt, […] dem Vater bald nach[stirbt]«, deutlicher: [E]r fällt einem damals bei Kindern häufigen Leiden, schweren Krämp­ fen während des Zahnens, zum Opfer. (Oehler 1940: 43)

Ach ja? Merkwürdig nur, dass man ›damals‹, etwa in einem seit Juni 1875 in Basel gekauften, in Nietzsches Besitz befindlichen Gesundheitsratgeber eines Leipziger Pathologen, zu diesem Thema lesen konnte: Daß Kinder in Folge des Zahnens sterben oder überhaupt nur ernstlich krank werden können, kann nur von alten Weibern und von solchen Aerzten behauptet werden, die keine Kenntniß vom kindlichen Orga­ nismus und seinen Krankheiten haben. (Bock 81870: 766)

Merkwürdig auch, dass dieser Hinweis es offenbar selbst einhundert­ dreißig Jahre später noch nicht bis in die USA geschafft haben. Jeden­ falls lesen wir beim Anti-Syphilis-Propagandisten Richard Schain, als sei seit 1940 kein weiterer Text zum Thema erschienen: »Joseph, died at 22 months of age after manifesting seizures (Krämpfe) and a terminal ›stroke‹.« Dem folgt, übergangslos: Not much can be said about the relationship of his illness to the problems of the rest of the family but it is another piece of evidence that the Nietzsche family was indeed affected by a predisposition to neurological disorders. (Schain 2001: 3)

Der erste Satzteil scheint mir, mindestens dies doch, grammatikalisch inkorrekt, insofern bis hin zu Schain schon eine Menge gesagt worden ist zur Beziehung der Krankheit des Joseph Nietzsche und jener seines Vaters (plus Großvaters), zuletzt durch Klaus Goch (2000) – nur dass Schain auch darum nicht weiß oder wissen will. Auch Pia Daniela Volz argumentierte in dieser Frage zurückhaltend, brachte gegen die Dia­ gnose der Mutter, der Schwester und des Cousins (»Zahnkrämpfe«) als Todesursache eine »fieberhafte Infektion« (Volz 1990: 36) ein, was

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Möbius’ Botschaft ad Nietzsches Vater im Vergleich zu jener der Schwester

aber Schain nicht entlastet: Nach Volz und noch vor Abschluss seiner Publikation ist in durchgängig von ihm ignorierten Publikationen (etwa Niemeyer 1998: 79 ff.) der Tod des kleinen Brüderchens, aus­ gehend von aufschlussreichen Träumen Nietzsches, zum Gegenstand einer Debatte darüber geworden, ob Nietzsche diesen Tod als einen vom Typ – um erneut einem in Nietzsches Besitz befindlichen Gesundheitsratgeber die Ehre zu geben – »Syphilis congenita« (vgl. Kunze 71881: 426 f.) gelesen und also als Neugeborenen-Syphilis sei­ nem syphilitischen Vater in Rechnung gestellt hat. All dies als fernere Entwicklung in Rechnung gestellt, hätte Nietzsches Schwester – und dies nicht gesehen zu haben, ist ein weiterer Vorwurf an die Adresse ihrer (zweit-)neuesten Biographin (Decker) – auf dem Stand des Jahres 1902 Möbius eigentlich dankbar sein müssen können, hatte er doch durch sein ausführliches Referat ihres Briefes in Sachen des Treppensturzes des Vaters und die an es angeschlossene Folgerung, es sei nicht anzunehmen, »dass die Krank­ heit des Vaters für Nietzsche von Bedeutung gewesen sei« (Möbius 31909: 15), eine von Nietzsches Schwester mit allen nur denkbaren Mitteln durchgesetzte Familienlegende gleichsam heiliggesprochen, ohne (erneut) zu merken, dass er von ihr systematisch belogen und betrogen worden war. Was Möbius nicht wusste bzw. damals, 1902, nicht wissen konnte, weil es ihm von Nietzsches Schwester vorenthalten wurde: Dass sich in Nietzsches Schriften von dieser Treppengeschichte, die allenfalls als Symptom, nicht aber als Ursache der Krankheit des Vaters zu gelten hat (vgl. Janz 1979, Bd. III: 46), nichts findet. Stattdessen schrieb er in einer der Schwester bekannten, aber erstmals 1933 in authentischer Form veröffentlichten autobio­ graphischen Skizze von 1858 (alle folgenden Unterstreichungen vom Verf.): »Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vater gemüthskrank.« (BAW 1: 4) Die 1924 von der Schwester präsentierte Fassung hatte an dieser Stelle noch den Satz geboten: »Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vater infolge eines Sturzes sehr krank.« (Förster-Nietzsche 1924: 10) Noch einmal dreißig Jahre zuvor (1895) hatte sie gleichfalls eine Variante mit Sturz angeboten, aber nur noch mit der Lesart »bedeutend krank« (zit. n. Hödl 1994: 297) Diese Lesartendifferenzen offenbaren exemplarisch das ganze Unheil bei Experimenten vom Typ ›Verwandteneditionen‹: Im schlimmsten Fall, dem hier in Rede stehenden also, tragen sie Züge konjunkturre­ levanter Beschäftigungsprojekte für arbeitslose Wissenschaftlerinnen (und Wissenschaftler), die erst das Büro aufräumen und die Quellen

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mühsam rekonstruieren können, ehe sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen können. Hierzu gehört in der hier anstehenden Causa der Hinweis, dass Förster-Nietzsche das von ihrem Bruder hinterlassene Originalmanuskript an der maßgeblichen Stelle angebrannt hatte, um die für sie anstößige, aber noch ansatzweise entzifferbare Vorsilbe »gemüths-« zu tilgen und Platz für ihre Legende zu schaffen, hier hätten ursprünglich die Worten »infolge eines Sturzes« gestanden (vgl. Hödl 1994: 297). Ein Hitchcock wäre auf so viel Phantasie gewiss neidisch gewesen, zumal Förster-Nietzsche sich auch auf das Handwerk verstellter Rede verstand. Resa von Schirnhofer etwa, die ihr berichtete, Nietzsche habe ihr nach einem Krankheitsanfall 1884 seine Angst eingestanden, er könne, wie sein Vater, wahnsinnig werden, erhielt von Förster-Nietzsche eine eindeutige Abfuhr, die sie in die Worte kleidete: Sie aber wehrte sogleich erschreckt ab und sagte mit Betonung, daß ich diese Äußerung ihres Bruders ausgesprochen noch unter der Wirkung eines bösen Anfalls in ihrer Bedeutung missverstanden haben müsse. Keinesfalls aber könne er gesagt haben, daß sein Vater an einem Gehirnleiden gestorben sei, denn er starb an den Folgen eines schweren Unfalls. (zit. n. Lohberger 1969: 444)

Diese Anekdote macht vielleicht noch deutlicher, welche Bedeutung die Schwester der Treppengeschichte gab – und wie glücklich sie hätte sein können, dass Möbius ihr Glauben beimaß.

Möbius’ Botschaft zu Paul Deussens Bordellanekdote Kommt das große Aber: Möbius war in seinem Buch von 1902 erkennbar bereit gewesen, der von Paul Deussen ausgelegten Bor­ dellfährte nachzugehen – und allein dies, so meine These, erklärt Förster-Nietzsches (aber doch mitnichten die ihrer Biographin!) Empörung über Möbius, den sie gar gerichtlich zu belangen erwog (vgl. Fiebig 2018: 83). Denn ihr Verständnis von Paralyse (»atypische Paralyse«) schloss ja gerade das aus, wessen Möbius gewiss war: nämlich dass der Paralyse, einer »exogenen Krankheit«, eine »Ein­ wirkung von aussen, dadurch, dass ein Gift in den Körper eindringt«, vorausgegangen sein muss. Dass dieses Gift syphilitischen Charak­ ters sei, sagte Möbius zwar nicht, jedenfalls nicht expressis verbis. Es legte sich aber nahe in der Linie einer Mär, die in die sich zum Fin de

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Möbius’ Botschaft zu Paul Deussens Bordellanekdote

siécle formierende Nietzscheszene einschlug wie eine Bombe, soll heißen: Die Tinte des Textes der Schwester zur Krankheit ihres Bru­ ders (für Hardens Zukunft) war kaum getrocknet, als am 15. Oktober 1900 in der Wiener Rundschau unter dem vom Verfasser im Nachgang nicht gebilligten spektakulären Titel Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche ein Aufsatz erschien, der Wasser in den von der Schwester unmittelbar zuvor aufgetischten Wein zu kippen half. Verantwortlich dafür: Paul Deussen, einer der ältesten Freunde Nietzsches, schob das Thema Syphilis – statt Schlaganfall – wieder nachhaltig auf die Agenda, als er Deussens in Buchform unter dem harmloseren Titel Erinnerungen an Friedrich Nietzsche (1901) in aller Unschuld ausge­ breitete, durch Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1947) legen­ där gewordene Anekdote zum Besten gab, des Inhalts, Nietzsche sei »im Februar 1865 allein nach Köln gefahren« und habe »sich dort von einem Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen«, dar­ unter »ein übel berüchtigtes Haus«, in welchem er sich »plötzlich umgeben [sah] von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen.« (Deussen 1901: 24) Kurz: Nietzsche sei durch Zufall in ein Bordell geraten und sei dadurch neugierig geworden auf die ihm bis dato unbekannte Welt des Ver­ botenen, mit der Folge seine Infektion mit Syphilis, wohl bei einem späteren Besuch. Auf diese Mär werden wir gleich noch ausführlich zurückzukehren haben anlässlich der Variante, die Förster-Nietzsche hierzu 1912 in Umlauf brachte (vgl. Kap. 8). Hier wollen wir uns beschränken auf den Umstand, dass Möbius 1902 vergleichsweise wenig Umstände machte und Deussens »wunderliche« Anekdote mit dem Zusatz versah, man könne »unbedenklich zugeben, dass Nietz­ sche bis 1865 jede bedenkliche Berührung vermieden habe«, nicht aber, »dass es immer so geblieben sei«, im Gegenteil: »Nietzsche spricht ja selbst so oft von seiner gefährlichen Neugierde, und nun sollen wir glauben, dass sie vor der interessantesten Angelegenheit Halt gemacht habe. Die Lust hätte er überwinden können, die Wiss­ begierde nicht.« Der übernächste Satz war spektakulär: Wir sind aber nicht auf bloße Vermutungen angewiesen. Gewährs­ männer, deren Namen nicht genannt werden soll, erklären, dass Nietz­ sche schon in Leipzig geschlechtlichen Verkehr gehabt habe, und dass er später von Zeit zu Zeit mit den Personen, die sich nun einmal den männlichen Bedürfnissen zur Verfügung stellen, Beziehungen gehabt habe. (Möbius 31909: 50)

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Belege werden nicht gegeben. Auch muss beachtet werden: Möbius hat an keiner Stelle seines Buches, auch nicht an der hier in Rede ste­ henden, die Vokabel Syphilis erwähnt, auch dort nicht, wo er »mit Bestimmtheit« meinte sagen zu können, »dass bei Nietzsche der Grund zur Paralyse vor 1870 gelegt worden ist« (ebd.: 67 f.), konkre­ ter: auf das Jahr 1866, »die Zeit der Incubation« (ebd.: 188). Hiermit wird also denn doch noch, zumindest implizit, auf den zuvor von Möbius eher beiläufig referierten Brief Nietzsches vom 4. August 1865 an Carl von Gersdorff reflektiert. Möbius zitiert die zentralen Passagen dieses Briefes korrekt (vgl. 2: 76): In Bonn (1865) leidet Nietzsche an ›heftigem Rheumatismus, der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verur­ sacht.‹ (Möbius 31909: 67 f.)

Die eben verwendete Vokabel ›implizit‹ meint, in der Umkehrung: Möbius’ Berufskollegen Ernst Benda (1925) bleibt das Erstgeburts­ recht, diesen Brief als Indiz zu lesen für Folgen, die die von Paul Deus­ sen berichtete 1865er Bordellszene (oder eine durch sie inspirierte wenig später) gehabt haben dürfte: Syphilis. Pech also für Möbius, Glück für die Schwester, um von deren 2016er Biographin besser zu schweigen? Warum nicht. Jedenfalls passt zur fehlenden Aufmerk­ samkeit von Möbius auch sein beiläufiges Thematisieren von Nietz­ sches Interesse für »Ausländer« – genannt werden Stendhal, Flaubert, Dostojewski, Baudelaire –, das Möbius zwar erwähnt, vermutend, dass Nietzsche »in ihnen ganz richtig ›den Fond von Krankheit, von Unheilbarkeit‹« (Möbius 31909: 60) erkannt habe. Dass aber bei drei der Genannten der Name der je spezifischen Krankheit auf ›Syphilis‹ lautete, wird nicht bedacht – womöglich, weil Möbius, wie sein andernorts angesprochener Vergleich des Falles Nietzsche mit den »Lebensgeschichten der berühmten Leute, die an Paralyse gestorben sind (R. Schumann, Lenau und Andere)« (ebd.: 129), deutlich macht, ihm die Vokabeln ›Paralyse‹ und ›Syphilis‹ als bedeutungsgleich galten. Dennoch: In Möbius’ fingierter Wechselrede, in deren Verlauf ihn sein Leser auffordert, endlich zu sagen, »ob Nietzsche an Neuras­ thenie, an Melancholie, an Zwangsvorstellungen oder an was sonst gelitten habe« (ebd.: 55), fehlen beide Vokabeln. Unscharf ist auch die Rede von dem »die Paralyse verursachenden Gift« (ebd.: 87), die sich kumuliert hin zu der »Annahme, bei Nietzsche sei eine ererbte Migräne durch die Wirkungen des Giftes verschlimmert worden.« (ebd.: 88)

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Möbius’ Komplett-Versagen als Nietzsche-Interpret

Bleibt, so Möbius’ selbstgesetzter, schon im Vorwort zur ers­ ten Ausgabe seines Buches vom März 1902 betonter Auftrag, die Werke Nietzsches inklusive der Sekundärliteratur genau zu lesen (vgl. Möbius 31909: IX), um Antworten auf Fragen geben zu können wie: »Bestand die progressive Paralyse schon, als Nietzsche seine Schriften schrieb, wann hat sie begonnen, und inwiefern hat sie seine Aussagen beeinflusst?« (ebd.: 3) Fragen wie diese gehören nicht jenen zu, bezüglich derer ein Mediziner, zumal damals, als besonders gerüstet gelten darf – und dass Möbius sein Professionsideal vor allem jenem Fach abgewann, für welches er die venia legendi erworben hatte, zeigt sein im Herbst 1904 verfasstes Vorwort zur neuen Ausgabe seines 1902er Buches, in welcher er sich gegen Raoul Richter verwahrte im Blick auf seinen Befund, den sein (skeptischer) Rezipient August Vetter folgendermaßen zusammenfasste: Der erste Anfall [der progressiven Paralyse; d. Verf.] trat 1881 ein; ein stärkerer folgt 1882; mit ihm beginnt ein Ansteigen der Krankheits­ kurve bis 1884; das darauf einsetzende Nachlassen hält bis 1887 an, und der erneuten Verstärkung 1888 folgt im Januar 1889 der völlige Zusammenbruch. Demnach wäre die Konzeption der ewigen Wieder­ kunft sowie die Niederschrift des »Zarathustra«, insbesondere die des vierten Teils, im paralytischen Erregungszustand erfolgt; ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Zur Genealogie der Moral‹ und selbst ›Der Fall Wag­ ner‹, ferner ein großer Teil des Materials zum Hauptwerk fielen in die Remissionszeit; die ›Götzendämmerung‹, die aus dem Jahr 1888 stam­ menden Teile der ›Antichrist‹ und ›Ecce homo‹ endlich müßten als völlig paralytische Erzeugnisse betrachtet werden. (Vetter 1926: 39 f.)

Klingt heftig – und passt nicht wirklich zur Möbius-Kritik (etwa Amende 1907: 194 f.), die darauf abstellte, dass Möbius insbesondere in Sachen Zarathustra als Hermeneut versagte, wie nun zu zeigen ist und auch von anderen der vorgenannten Möbius-Kritiker, wie etwa Reto Winteler mit dem Vermerk »haarsträubendste Urteile« (Winte­ ler 2014: 202), berechtigterweise moniert wurde, eingedenk analoger Einlassungen aus älteren Studien zur pädagogischen ZarathustraRezeption. (vgl. etwa Niemeyer 2011:14 ff.)

Möbius’ Komplett-Versagen als Nietzsche-Interpret An ihnen anknüpfend und in Verallgemeinerungsabsicht geredet: Möbius’ unverständliche und insofern seiner Meinung nach grund­

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sätzlich unverstehbare Aphorismen und Lieder Zarathustras las Möbius als Indizien für den Wahnsinn des Verfassers, ohne sich um ernsthafte Deutung zu bemühen und unter Beiseitesetzung des Umstandes, dass diese Schrift zumindest auch als Kunstwerk verstan­ den sein will, für das entsprechend ästhetische Kriterien zu gelten haben, nicht aber jede, die Möbius allein zu handhaben verstand: ethische. Was Möbius, ausgestattet mit dieser seiner Sehhilfe und mithin ungebrochen getragen von dem christlich geprägten Werte­ kanon, den zu entlarven Nietzsches Absicht war, vornehmlich im späten Nietzsche identifizierte, waren Geschmacklosigkeiten, so dass er resümierend befand: Gewissermassen ist es ein Trost, dass der hässlichste Zug im Bilde Nietzsches, seine gassenjungenhaften Schmähungen christlicher Leh­ ren und Einrichtungen, ganz der Gehirnkrankheit Schuld gegeben werden kann. (Möbius 31909: 125)

Dies war zwar dem Deutsch nach holperig, der Sache nach aber klar: Erst die Psychiatrisierung Nietzsches eröffnete einen Weg zur gefahr­ losen Tradierung der durch die Pathologie unversehrten Bestandteile seines Oeuvre. Dass Möbius bei der Auslegung desselben komplett versagte, zeigt auch eine genauere Analyse jener Sätze, bei denen nach Möbius »gar kein Sinn zu entdecken ist« (Möbius 31909: 119). Nietzsche schrieb (und Möbius spottet darüber in der genannten Weise): »Wie Manches heisst jetzt schon ärgste Bosheit, was doch nur zwölf Schuhe breit und drei Monate lang ist!« (IV: 185) Dies klingt in der Tat völlig sinnlos – aber auch nur, solange man nicht der von Nietzsche in diesem Zusammenhang eingearbeiteten Quelle nachgeht. Wenn man dies tut, stellt man fest, dass der Ausdruck ›zwölf Schuhe breit‹ Bezug nimmt auf eine mittelalterliche Rechtsbestimmung, der zufolge bei Haftantritt eine bestimmte, in diesem Fall durchaus komfortable Zel­ lengröße zu verlangen sei. Ähnliches gilt für den zweiten rätselhaften Ausdruck (›drei Monate lang‹). Denn man musste der damaligen Rechtsprechung zufolge schon eine Strafe von mehr als drei Monaten in Aussicht haben, um ein Fall für das Schwurgericht (und nicht nur das Schöffengericht) zu sein (vgl. XIV: 307) und mithin berechtigten Anspruch erheben zu dürfen auf das Attribut ›ärgste Bosheit‹. Dabei sei gerne zugestanden, dass wie Heutigen als Erben fortgeschritte­ ner Nietzscheforschung um diese Zusammenhänge wissen können, Möbius’ erwähntes Verdikt also letztlich nur für ein übereiltes Urteil Zeugnis gibt.

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Möbius’ Komplett-Versagen als Nietzsche-Interpret

Gravierender ist da schon Möbius’ Spott auf Zarathustra IV, speziell »das über alle Beschreibung widerliche Eselsfest« betreffend, ebenso wie die »vollkommen blödsinnig[en]« (Möbius 31909: 125) Verse Unter Töchtern der Wüste. Denn diese Verse – und dies hätte Möbius leicht erkennen können – gewinnen in der Linie von Paul Deussens Bordellanekdote ganz neuen und im Blick auf die Syphilis­ frage durchaus einschlägigen Sinn, wie noch. Möbius hingegen blieb fixiert auf Hohn und Spott der Marke, derlei Dichtung pflege zwar »angetrunkene Studenten zu erfreuen«, mehr als dies: er monierte widerwärtige »Lästerung[en]«, »wüste[s] Schimpfen«, schlüpfrigen »Wortsalat« und stellte die für ihn offenbar entscheidende Frage: [W]ie konnte Nietzsche dieses erbärmliche Gefasel in sein Buch auf­ nehmen, da er doch nicht dauernd in dem Zustand war, in dem er es verfasst hat? (ebd.: 126)

Eine letztlich rhetorische Frage, die auf den Schluss des Lesers abstellt: weil er eben doch dauerhaft oder jedenfalls doch überwiegend in jenem Zustand war, der in jenen Passagen, die »in einem vorüberge­ henden Zustande paralytischer Erregung« (ebd.) niedergeschrieben worden seien, sich Ausdruck verschafft. Im Ergebnis seiner Studie ebnet Möbius Förster-Nietzsches »Schlaganfall«-Hypothese ein – »[e]s wird sich wohl um eine gewisse Erregung als Vorläufer des paralytischen Anfalles gehandelt haben« (ebd.: 187). Und er hält auch die extreme Dauer der Krankheit für kein nicht durch Erklärung zu bewältigendes Hindernis, um auf progressive Paralyse, also Syphilis, hochrechnen zu können: Rechnet man die Zeit der Incubation dazu, oder, bei anderer Auffas­ sung der Migräne-Anfälle, die Zeit der nur körperlichen Störungen, so haben wir von 1866–1900 34 Jahre, von 1870–1900 30 Jahre

– keine Zahlen, die nicht erklärbar wären angesichts der fraglos lebensverlängernden Effekte von Nietzsches »kräftiger Körperbe­ schaffenheit, der Abwesenheit des Alkoholismus sowie der überaus sorgfältigen Pflege.« (ebd.: 188 f.) Die letzte Bemerkung war unver­ kennbar ein (weiterer) Diener in Richtung der Schwester. Dass er viel ausrichtete, lässt sich nicht sagen: »Der jämmerli­ che, wahrhaft dilettantische Versuch des Dr. Möbius hat nichts als Verwirrung gestiftet«, er fuße »auf unbewiesenen Hypothesen und auf Nachrichten, die aus einem wahren Morast von Neid, Bosheit und Unwissenheit zu stammen scheinen« (Förster-Nietzsche 1904: 898), lautete ihr alles andere als schüchterner Einstieg zu diesem Thema

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im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie, ehe sie dann zur Exekution in Betreff der sie empörenden Hauptsache schritt: Was soll man aber von der ›Gewissenhaftigkeit‹ des Herrn Dr. Möbius denken? der auf eine erfundene Behauptung oder Vermutung hin wagt, das Andenken des edelsten Menschen zu beschmutzen, indem er von einer luetischen Ansteckung im Jahre 1866 spricht und darauf seine Hypothesen aufbaut – obgleich er mit der geringsten Anstrengung die Wahrheit erfahren konnte, daß das eine ekelhafte Verleumdung ist.« (ebd.: 922)

Ganz klar, und die als ironischer Diener in Richtung Kerstin Decker: Förster-Nietzsches Sound in diesem Zitat ist einer zukünftigen Litera­ turnobelpreisträgerin und Feminismusikone durchaus würdig. Auch passt es auf den promovierten Philosophen und habilitierten Leipzi­ ger Psychiater Paul J. Möbius, pardon, auch wegen der Wiederholung dieses Zitats: auf dieses »vagabundierende Unglück von einem Psy­ chologen.« (Decker 2016: 417) Lustig, in der Tat – und ansatzweise gedeckt durch den Umstand, dass auch der bedeutende Literaturwis­ senschaftler Richard M. Meyer (1860–1914) in seiner beachtenswer­ ten Gesamtdarstellung Nietzsche (1913) zur Causa Möbius vergleich­ bar harsch befand: Auf jeden Fall aber durfte am wenigsten ein Mann, der sich als Vertreter der reinen Forschung aufspielte, mit so unerhörter Frivolität und so wenig begründeter Bestimmtheit sein Urteil aussprechen; mit dersel­ ben Frivolität und derselben Unfehlbarkeit, mit der er die lächerlichen Behauptungen seines Misogynen-Pamphlets n die Welt schleuderte.« (Meyer 1913: 174)

Indes: Meyer, diesen von Förster-Nietzsche mit antisemitischen Argumenten aus dem Nietzsche-Archiv Gedrängten, dessen Frau, eine Duz-Freundin von Nietzsches Schwester, Opfer des Holocaust wurde (vgl. Fiebig 2012: 40), kann man vielleicht noch nachsehen, was im Fall Decker nicht geht: nämlich dass sie trotz inzwischen weit­ gehend zugänglicher Quellen keine Zeile erübrigt zwecks Tadel der harschen und maßstabslosen Möbius-Kritik von Nietzsches Schwes­ ter sowie die zahllosen Brieffälschungen, mittels derer sie den geisti­ gen Zusammenbruch ihres Bruders als Folge eines durch Aufregung über den Brief eines Antisemiten bedingten Schlaganfalls meinte auslegen zu dürfen, um den Syphilisverdacht entsorgen zu können. So dass am Ende nur die Ankläger der Schwester, selbstredend Männer wie Karl Schlechta, am Pranger stehen.

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Möbius’ Komplett-Versagen als Nietzsche-Interpret

Und auch dies sei, einmal im Schwange, eingeräumt, gleichfalls ironisch, diesmal adressiert an den Förster-Nietzsche-Biographen Ulrich Sieg: Die Maßlosigkeit der im herausgestellten Zitat von 1904 vorgetragenen Kritik der Schwester an »Otto (sic!) Möbius« (Sieg 2019: 202) muss man nicht erwähnen, es genügt vollkommen der als Schulterschluss mit ihr34 zu lesende Hinweis Siegs: »Es verstand sich von selbst, dass das Pamphlet [jenes von Möbius; d. Verf.] nicht unwi­ dersprochen bleiben konnte.« (ebd.: 203) Allen anderen (Lesern die­ ser Zeilen) sei noch der Hinweis gegeben, dass Möbius auch von Männern scharf kritisiert wurde, wie eben gesehen von Richard M. Meyer, aber auch nach 1933 von nationalsozialistischen Nietzsche­ verehren (etwa Härtle 1937a: 292), schließlich aber auch schon davor und parallel zu Förster-Nietzsches Kritik etwa à la Meyer wegen sei­ ner Methode und Argumentationsstrategie (vgl. etwa Horneffer 1906: 104 f.; Gramzow 1907: 36 ff., 63 f.; Jonkoff 1911: 20 ff.), aber auch wegen des von ihm als unstrittig gesetzten Krankheitsbilds (Syphilis), das eklatant dem widersprach, was man bisher, so Otto Gramzow vieldeutig, »über Nietzsches Verhältnis zum weiblichen Geschlecht« (Gramzow 1906: 538) wusste. Abschließend sei nachgetragen, dass Förster-Nietzsches ent­ hemmte Möbius-Kritik sich schließlich fortsetzt, wiederum angeblich der Ehre ihres Bruders wegen, im Kampf gegen dessen Basler Freund (und Ex-Kollegen) Franz Overbeck, den sie bis in dessen frühen Tod (1905) zu Unrecht, den Dokumenten Overbecks zufolge (vgl. Ber­ noulli 1908, Bd. I: 430 ff.), beschuldigte, Möbius bei einem Besuch in Basel auf die Syphilis-Fährte gesetzt zu haben und hinter dem – tat­ sächlich wohl von Nietzsche selbst stammenden – einschlägigen Ein­ trag in der Jenaer Krankenakte (1866 »zweimal specifisch inficiert«; zit. n. Volz 1990: 381) zu stecken. Mit vergleichbarer Unerbittlichkeit zog Nietzsches Schwester, auch gerichtlich, gegen Möbius sowie wei­ tere Verfechter der Syphilisdiagnose und gläubige Möbius-Leser wie etwa den Arzt und Psychologen Willy Hellpach zu Felde, wiederum in Hardens Zukunft (vom 13. August 1904) (vgl. Fiebig 2018: 83) und unter Assistenz williger Helfer wie den Theobald-Ziegler-Schüler 34 Diesem Rubrum gehört wohl auch Siegs Argument zu, das nach 1945 »sehr abwertende Urteil über Elisabeth« verkenne, dass »ihr nonchalanter Umgang mit Behauptungen trefflich in die Zeit um 1900 [passte], als sich viele Menschen nach ›Wiederverzauberung‹ einer immer zweckrationaler werdenden Welt sehnten« (Sieg 2019: 212) – und damit zugleich nach Wiederverzauberung Nietzsche? Merke: Alles lässt sich rechtfertigen – man muss nur wissen, wie.

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Walter Jesinghaus, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit – in die­ sem Fall ad des Möbius-Gläubigen Adalbert Düringer (vgl. Jesinghaus 1907: 16) – bereit war zu bekennen, »wir Anhänger Nietzsches« wür­ den »die Behauptungen des Herrn Möbius […] als eine schimpfliche Schmähung scharf zurückweisen.« (ebd.: 76) Für Schlachten auf etwas höherem Niveau mobilisierte sie willige Helfer wie Raoul Richter. Dessen Geschichte steht auf einem anderen, noch zu beschreibenden Blatt. Auf diesem sei lediglich noch als Fazit notiert, was uns auch im Fall Hermann Türck das geeignete zu sein schien (vgl. Niemeyer 2020: 40 ff.): Das Vorstehende schreit geradezu nach Nietzsche als Kritiker, deutlicher: legt die Idee nahe, er habe ihn, Möbius als auch dessen Kritikerin Förster-Nietzsche, gemeint, als er in JGB schrieb: [D]er entrüstete Mensch […] mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem ande­ ren Sinne aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehren­ dere Fall.

Nicht zu vergessen, und auch dies scheint auf Möbius als auch FörsterNietzsche zu passen: »Und Niemand lügt soviel als der Entrüstete.« (V: 45) Meint: An diesen beiden Fällen, aber auch schon am Fall Türck, tut sich ein mentalitätsgeschichtlich aufzuklärender Abgrund des Irrationalen im Herzen von Christen- wie Bürgertum auf. Wer diesen Abgrund missachtet oder ihn gar noch vergrößert, redet notwendig über Nietzsche, aus einer mentalitätsgeschichtlich anderen, damals als neu und fremd erlebten Liga stammend, weit unter Niveau, ob als Mann oder als Frau, ob als Mediziner oder, wenn’s denn sein muss und um Ende Kerstin Decker die Ehre zu geben: als Psychologe.

Epilog: Das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 – ein definitiver Beleg pro Möbius’ Syphilisdiagnose? Damit nun – am Ende soll man ja auf den Anfang schauen – zurück zum zweiten Teil der Überschrift und zum Motto. Es wurde der von Nietzsches Schwester noch 1931 als »wahrscheinlich gestohlen« (Förster-Nietzsche 1931: 122) behaupteten Jenaer Krankengeschichte entnommen, aus dem zuerst Erich F. Podach 1929 zitiert hatte und dessen letzte, noch einmal durchgesehene Fassung Pia Daniela Volz

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Epilog: Das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889

1990 erstmals publizierte.35 Hier findet sich das im Motto dargebo­ tene, auf den 17. Juni 1889 datierte Zitat, das hier nochmals gesondert herausgestellt sei: Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest. (zit. n. Volz 1990: 401)

Es ist nicht ersichtlich oder gar überliefert, dass das Jenaer Personal seinerzeit speziell diesem Notat, in der Überschrift und im Folgenden ›Nasen-Notat‹ geheißen, größere Bedeutung beimaß. Auch in der Nietzscheforschung hat meiner Beobachtung zufolge niemand welt­ weit bis auf den heutigen Tag dieses Notat beachtet, auch nicht jene, die vom Fach sind, wie etwa Pia Daniela Volz. Sie analysierte zwar in ihrer heute als Standardwerk anzusehenden, hier in Rede stehenden medizinischen Dissertation Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit mit erheblichem Ertrag sehr viele Einträge des Jenaer Krankenjournal sowie vergleichbarer Dokumente (ebd.: 254 ff.), ließ aber ausgerech­ net das Notat mit der Nase unbeachtet. Dies gilt auch für Christopher M. Owen, Carlo Schaller und Devin K. Binder, die gleichwohl via Erich F. Podach den Jenaern eine Art Vorentschiedenheit pro Syphilisdia­ gnose meinten vorwerfen zu können (»the Jena records were made by persons who had paralysis (i.e., syphilis) in mind all the time«) und, komplementär dazu, ihren Vorrednern Leonard Sax (2003) und Richard Schain (2001) »powerful arguments« zugestanden, »that Nietzsche did not have syphilis at all«, um selbstsicher und ganz im Sinn der Vorgenannten hinzuzufügen, »the actual event of Nietzsche’s presumed infection is known only through third-hand accounts at best.« (Owen/Schaller/Binder 2007: 628) Ist, zurückgefragt, ein Notat wie das eben zitierte aus dem Jenaer Krankenjournal eine ›thirdhand-information‹? Oder stammt sie nicht vom Betroffenen selbst, muss also ernstgenommen und sorgsam interpretiert? Die Frage ist rhetorisch – und richtet sich damit kritisch an die Adresse des Neurologen Richard Schiffter.36 Er nämlich ist der Einzige (Irrtum vorbehalten!), der sich bisher für das Jenaer ›Nasen-Notat‹ Volz war es auch, die die ausgesprochen verwickelte Geschichte des Verschwindens und des Wiederauftauchens dieses Dokuments subtil nachzeichnete. (vgl. Volz 1990: 390 f.) 36 Ihm lag eine Erstfassung dieses Artikels ohne diesen auf ihn bezüglichen Abschnitt – den für dessen Verfassung erforderlichen Text Schiffters kannte ich bis dato nicht bzw. bekam ihn freundlicherweise erst durch ihn zugeschickt – vor, verbunden mit der Frage nach seiner Einschätzung des ›Nasen-Notats‹. In seiner Antwort verwies er 35

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7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902

vom Juni 1889 interessierte – ein wichtig zu nehmendes Interesse, ist doch Schiffter einer der engagiertesten Proponenten der Syphilisdia­ gnose aus jüngerer Zeit. Umso auffälliger, um nicht zu sagen: ärger­ licher, dass er an jenem ›Nasen-Notat‹ nur das »stundenlang« für auffällig hielt, unter dem Gesichtspunkt der sich darin aussprechen­ den »Stereotypie« (Schiffter 2013a: 72) – nicht aber auf die Idee kam danach zu fragen, was Nietzsche da eigentlich stundenlang festgehal­ ten hat: eben die Nase, also exakt das Organ, um dessen Bestand ein auch nur ungefähr über die Syphilis informierter Patient damals als allererstes fürchten musste. Mein Interpretationsvorschlag zu diesem Notat lautet also, in Gestalt einer These vorgetragen: Am 17. Juni 1889, dem Tag, von dem das ›Nasen-Notat‹ stammt, trägt »des Ver­ gessens Kunst« (XIII: 557), die Nietzsche noch im Sommer 1880 beschworen hatte (vgl. hierzu Niemeyer 2019: 427 ff.), nicht mehr. Folge: Angesichts des dem Pat. Nietzsche noch gut drei Monate später attestierten, jedenfalls »ab und zu deutlichen Krankheitsbewußt­ seins« (zit. n. Volz 1999: 404)37 bricht das bisher kunstvoll Verdrängte unvermutet durch und begehrt Mitspracherecht im Reich des Mani­ festen, etwa in Gestalt der entsetzten stillen Frage Nietzsches, die wir hier als Subtext des in Rede stehenden Eintrags vom 17. Juni 1889 meinen sichern zu können: Oh Gott, es ist passiert, was ich lange schon befürchtet hatte, die Para­ lyse als schlimmste Folgeerscheinung meiner syphilitischen Infektion ist ausgebrochen, und ich muss so gut es geht versuchen, der weiteren fatalen Entwicklung Einhalt zu gebieten!

Diese lange Übersetzung des in Rede stehenden kurzen Einzeilers klingt recht weit hergeholt – aber nur, solange man ignoriert, was ein zu Nietzsches Zeiten gebräuchliches Nachschlagewerk über das Lemma ›Nase‹ mitzuteilen wusste: nämlich unter dem Rubrum »Krankheiten der N.«, als letztes, nach »Schnupfen«, »Nasenbluten« sowie »Polypen«: Syphilis. Letztere führt oft zu Zerstörung der äussern N. (Meyers…, 1878: 1330) darauf, diese Frage beträfe nicht sein Interessengebiet. Warum er, im Blick auf seinen 2013er Text, so antwortete, erschließt sich mir nicht. 37 Ähnlich ein Eintrag vom 30. März 1889: »Überhaupt hat er jetzt mehr als früher das Bewußtsein krank zu sein und wisse meist, daß er in Jena in einem Krankenhaus sei und rede sowohl Binswanger als Ziehen mit den richtigen Namen an.« (zit. n. Volz 1990: 397)

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Epilog: Das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889

Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht, ob Nietzsche zu geistig gesunden Zeiten speziell diesen Eintrag gelesen hat oder sich anderswo expertisierte. Zu denken ist etwa an das seiner persönlichen Bibliothek in 7. Auflage von 1881 zugehörende 647-seitige Compen­ dium der praktischen Medicin des Hallenser Arztes C. F. Kunze, das im Index das Stichwort »Nasensyphilis« ausweist. (vgl. Kunze 71881: 419) In Betracht kommt des Weiteren, womöglich vermittelt über die Kenntnis der von Nietzsches nachweislich (vgl. Campioni et al. 2003: 227 f.) sehr gründlich studierten Lettres à Georges Sand (1884), das Wissen um Gustave Flauberts Reisebericht von 1850 aus Nordafrika über Syphilitiker mit »Löchern an der Stelle der Nase.« (Flaubert 1977: 156) Indes, und dies wiederum könnte das Desinteresse des Jenaer Personals ein Stück weit erklären: Nietzsches auf seine Nase gerich­ tete Sorge war wohl unberechtigt eingedenk der von Alain Corbin referierten Bemerkung des Medizinhistorikers Jacques Léonard: »Die grauenhaften Geschwüre, die man seit der Eroberung Algeriens in Nordafrika antrifft, bestärken die Mediziner in ihrer Überzeugung, daß die Schwere der Krankheit in Europa stark nachgelassen habe.« (zit. n. Corbin 1981: 128) Wie aber auch immer: Der Jenaer Krankenjournaleintrag vom 17. Juni 1889 erlaubt die Deutung, dass Nietzsche, der als Hypochon­ der gelten darf und sich entsprechend beharrlich ständig expertisierte sowie hin und wieder (etwa in Venedig 1885; vgl. Volz 1990: 359 f.) selbst Rezepte ausstellte, um seine Syphiliserkrankung wusste. Auch ahnte er wohl, dass er, wie sein Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 offenbarte, ins tertiäre und damit finale Stadium seiner Geschlechtskrankheit, nämlich in die paralytische, eingetreten war. Zu deren Merkmalen gehört die sukzessiv und unaufhaltsam voran­ schreitende und am Ende vollständige Demenz – ein Stadium, deren Beginn durch eben jene im Lexikon von 1878 verzeichnete ›Zerstö­ rung der äußeren Nase‹ indiziert werden kann (nicht muss). Und um diese Entwicklung aufzuhalten, schien dem Pat. Nietzsche das ›stun­ denlange Festhalten‹ eben dieses Organs ein durchaus probates Mit­ tel. Rührend (wenn man so sagen darf) dabei, dass er, um dem Per­ sonal keinen Rückschluss auf diese seine Befürchtung zu erlauben, das Ganze als Teil von ›Turnübungen‹ tarnte (und mit dieser Tarnung, wie das Notat bzw. seine angesprochene Geringschätzung durchs Personal sowie die nachfolgende Nietzscheforschung erkennen lässt, offenbar erfolgreich war).

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7 Über Paul J. Möbius und seine Syphilisdiagnose von 1902

Fazit Was folgt aus diesem Beispiel ad Möbius? Dass man (insonderheit: Frau), so mein Vorschlag, ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte und der von ihm angeschlagene Ton kein Vorbild abgeben darf für Repliken auf ihn. Sowie, wichtiger: Was folgt aus dem ›Nasen-Notat‹, wenn man es in der Linie der hier vorgeschlagenen Deutung pars pro toto liest? Dass man, so mein zweiter Vorschlag, jenen Gerechtigkeit widerfahren lässt, die die Syphilisdiagnose für keineswegs erledigt halten – und neue Anstrengungen fordern, ihr endlich qua Werkin­ terpretation Rechnung zu tragen. Dass Möbius dafür kein gutes Bei­ spiel gab, ist im Vorhergehenden dargelegt worden, so dass ich seine Verwahrung gegen Raoul Richter nun umkehren kann: Ich, Nietzs­ cheforscher seit 1992 und von Haus aus Erziehungswissenschaftler und Psychologe, bin nicht bereit, mit einem Nur-Mediziner und Nicht-Nietzscheexperten in Erörterungen über die Diagnose der Para­ lyse am Exempel von Nietzsches Werken einzutreten. Oder, etwas zurückhaltender formuliert: Eine ›Ausschlussdiagnose Syphilis‹ à la Richard Schain und Reto Winteler ist weder redlich noch möglich noch zielführend – sie ist, wie ich nun im Lichte des ›Nasen-Notats‹ hin­ zufügen würde, geradezu empiriefeindlich, wenn auch nicht ganz so forschungsfeindlich, wie die Abweisung dieses Textes durch die Psy­ che mit dem Argument (vom 1. Juni 2023), er, der Text, böte „eine Reihe von Anekdoten, die aber nicht durch eine stringente Argumen­ tation zusammengehalten und auch nicht durch wissenschaftliche Reflexion ausgewertet werden.«

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8 Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Krankengeschichte ihres Bruders Eine weitere offenbar notwendige Rückerinnerung

Der Titel knüpft an einen 2009 in der Nietzscheforschung erschiene­ nen Aufsatz an (vgl. Niemeyer 2009), der offenbar nur wenig bewirkt hat, steht doch Nietzsches Schwester nach wie vor (vgl. Decker 2016; Sieg 2019), im Zentrum eines geradezu wunderlichen Reha­ bilitierungsstrebens, wobei Ulrich Sieg die Berücksichtigung jenes Aufsatzes zu Gute zu halten ist, anders als Kerstin Decker, die sich in ihrem Buch mit dem Spruch »Also sprach Karl Schlechta« (Decker 2016: 600) über eben diesen die Machenschaften der Schwester in den 1950er Jahren aufdeckenden Nietzscheforscher auch noch lustig machte. Weil, so will es scheinen, andernfalls das Alleinstel­ lungsmerkmal gefährdet wäre, das sie für ihr Buch reklamiert. (vgl. Niemeyer 2018) Kann dieses so begründete Es-nicht-besser-wissenwollen aber ein Grund sein, auf Aufklärung und Kritik zu verzichten? Natürlich nicht, wie im Folgenden gezeigt werden soll, unter Konzentration auf – dies wäre dann mein Alleinstellungsmerkmal – sechs Veröffentlichungen der Schwester aus dem Zeitraum 1900 bis 1935, die eines eint: nämlich das mit unermüdlicher krimineller Energie vorangetriebene beharrliche Bemühen um Verdecken der eigentlichen Ursachen für Nietzsches geistigen Zusammenbruch im Januar 1889 in Turin: Syphilis, eine Diagnose, die zu begründen hier (vgl. allerdings Niemeyer 2020) nicht der Platz ist). Nacheinander geht es im Folgenden also um Förster-Nietzsches Aufsatz Die Krank­ heit Friedrich Nietzsches (1900) sowie ihre Bücher Der junge Nietzsche (1912), Der einsame Nietzsche (1914), Der werdende Nietzsche (1924), den nur als Buchanhang verfügbaren Text Die Zeit von Nietzsches Krankheit bis zu seinem Tode (1931) sowie die für dieses Thema wich­ tigen Äußerungen aus ihrem letzten Buch Friedrich Nietzsche und die Frauen seiner Zeit (1935). Meine Deutung dieser Texte soll im Ergebnis die Überschrift rechtfertigen, die eine Zeit lang auf den – dann als

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8 Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Krankengeschichte ihres Bruders

verharmlosend und als beleidigend für das Original (im doppelten Wortsinn) ad acta gelegten38 – Titel Die Lügenbaronin lautete. Förster-Nietzsches Aufsatz Die Krankheit Friedrich Nietzsches erschien am 9. Januar 1900 in Maximilian Hardens (1861–1927) Zukunft. Um ihn von seiner Vorgeschichte her angemessen einordnen zu können, ist vielleicht der für Tatort-Kenner nicht ungewöhnliche Hinweis wichtig, dass ein guter Krimi gendermäßig korrekt nicht nur eine Böse kennt, sondern auch einen Bösen. In diesem Fall lautet er auf den Namen Peter Gast, Klarname: Heinrich Köselitz (1854–1918), Nietzsches langjähriger Vertrauter, der spät, ab 1899, zu FörsterNietzsches wichtigstem Helfer wurde, ungeachtet seinen frühen Spotts auf sie – damals, unmittelbar nach Nietzsches Turiner Zusam­ menbruch, als Köselitz der ideale Herausgeber zu sein schien, auch, weil die Schwester noch in Paraguay gebunden war. Freilich: Köselitz versagte auf ganzer Linie, sah sich beispielsweise autorisiert zu klei­ neren Eingriffen in den Text, am Beispiel der im August 1893 in Druck gegangenen dritten Auflage von JGB geredet, die vom Verlag als »endgültige Ausgabe mit den Aphorismen-Titeln« beworben wurde: Die hier dargebotenen insgesamt 299 Aphorismen-Titel stammten nicht etwa von Nietzsche, sondern von Köselitz persönlich – eine Eigenmächtigkeit, die ihm in September 1893 den Job kosten sollte, als Nietzsches Schwester nach dem Tod ihres Gatten aus Paraguay zurückkehrte. Immerhin: Ab 1899 funktionierte Köselitz wieder wie von der Schwester erhofft, und bis 1893 agierte er zumindest in puncto der Krankheit Nietzsches getreulich im Geist der Schwester. Exempla­ risch zeigt dies ein auf seinen Informationen beruhender, am 1. April 1893 in der Zukunft erschienener Bericht Maximilian Hardens unter dem Titel Neues von Friedrich Nietzsche des Inhalts, Besserung sei wohl nicht mehr zu erwarten, allerdings gelte: »Die Geisteskrankheit Nietzsches ist von Herrn Ola Hansson u.a. irrtümlich auf eine erbliche Belastung zurückgeführt worden.« (Harden 1893: 308) Hauptentlas­ tungszeuge: Eben Köselitz, der, so Harden, in der Vorrede zu seiner Zarathustra-Edition hingewiesen habe auf (1.) Nietzsches Urgroßva­ ter Gotthelf Engelbert Nietzsche (1714–1804), »Sohn eines polni­ schen Schlachtziz Nietzki«, der »noch mit 90 Jahren Galopp [ritt]«; 38 Ich danke an dieser Stelle dem Münchhausen-Experten und Autor sowie Überset­ zer Erik Gloßmann für die diesbezügliche Kritik an einer Erstfassung dieses Beitrages.

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sowie auf (2.) den natürlichen Tod des Vaters infolge eines Unfalls (Treppensturz); schließlich auf (3.) den Umstand eines möglichen Schlafmittelabusus (Choral) plus Überarbeitung. Köselitz: »In einer so häufigen […] Anwendung aber, wie sie Nietzsche für nötig befin­ den mochte, mußte das Mittel schließlich schädigend wirken.« (ebd.: 309) Kurz: Köselitz, obgleich offenbar von Nietzsche höchstpersön­ lich in einen Bordellbesuch mit einschlägigen Folgen eingeweiht, jedenfalls einer 1931 publizierten Mär des Lehrers und Musikschrift­ stellers Heinrich Möller (1876–1958) zufolge (vgl. Krummel/Krum­ mel 1994: 322 f.), wollte einfach aus Pietät oder falsch verstandener Verehrungssucht nicht glauben, was er wusste – ein großer Trumpf für Nietzsches Schwester, ebenso wie Hardens Bereitschaft, Köselitz’ Lesart der Krankheit Raum zu geben und nun, Anfang 1900, auch ihrer: Gegen die von Ola Hansson (1889/90) sowie Hermann Türck (1891) grundgelegte Auslegungstendenz trat Nietzsches Schwester hier gleichfalls engagiert der Annahme entgegen, »unser Vater sei kränklich und mit einem Hirnleiden behaftet gewesen.« (FörsterNietzsche 1900: 622) Diese Position ergänzte die Schwester um eine solche für Nietz­ sches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 (nach Nietzsches Tod am 25. August 1900 erweitert um eine Erklärung auch für die­ sen). Sie war notwendig geworden, weil die bis dato, etwa auch von Köselitz, favorisierte Diagnose »Überarbeitung« sowie, um gleich­ wohl leistungsfähig zu bleiben, »Choralmissbrauch«, nicht mehr trug. Näheres hierzu haben wir eben im Möbius-Kapitel angesprochen, so dass hier der Hinweis genügen soll, dass der Schlaganfall-Hypothese, anders als die Schwester gehofft hatte, keine die Syphilisdiagnose ausschließende Relevanz zukam. Pia Daniela Volz: »Das Auftreten derartiger apoplektiformer Insulte, die an und für sich für das Alter von 55 Jahren ungewöhnlich sind, gehören zum Krankheitsbild der Paralyse.« (Volz 1990: 305) Nicht minder wichtig ist der Hintergrund der in die Abusus-Thematik eingeflossenen Antisemitenmär. Sie sollte offenbar den geistigen Erben von Förster-Nietzsches verbliche­ nen Gatten Bernhard Förster aus der völkischen Bewegung suggerie­ ren, Nietzsche sei weiterhin einer von ihnen und gelte nach wie vor als Hassfigur der Juden resp. jener tückischen Zwerge. Festzuhalten ist unter dem Strich, dass Förster-Nietzsche nicht ein einziges Original jener »anonymen Schreiben« aus dem Nachlass ihres Bruders aufweisen (vgl. Podach 1930: 63), mehr als dies: der von ihr 1900 präsentierte Brief mit der Mitteilung Nietzsches, er

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werde »so viel nehmen, daß ich den Verstand verliere«, bezog sich in seiner ursprünglichen Fassung gar nicht auf Schlafmittel, sondern auf Opium, war nicht an Förster, sondern an Rée gerichtet – und ist nicht von 1888, sondern von 1882. (ebd.: 151) Kurz: Der ganze Vorgang entsprang schlicht ihrer Fantasie, deutlicher: war Effekte ihrer kriminellen Energie, die ihr riet, die Syphilisdiagnose mit allen Mitteln zugunsten der von ihr favorisierten Schlaganfalldiagnose ins Abseits zu rücken und allenfalls der Vokabel »atypische Paralyse« (Förster-Nietzsche 1900: 639) ein gewisses Recht zuzugestehen. Gravierender, weil auf eine eigenaktive Fälschung hinweisend: Förster-Nietzsche unterschlug reale Briefe oder Briefentwürfe ihres Bruders und ließ an ihre Stelle von ihr frei erfundene Briefe treten, etwa einen von ihr 1900 präsentierten, von ihr auf den 10. Februar 1888 datierten, ihrer Phantasie entsprungenen Brief Nietzsches an sie mit den Zeilen: Eine unerträgliche Spannung liegt auf mir, Tag und Nacht, hervorge­ bracht durch die Aufgabe, die mir gestellt ist, und die absolute Ungunst aller sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: hier steckt jedenfalls die Hauptnoth. Das Gefühl, allein zu sein, die allge­ meine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich. (zit. n. Förster-Nietzsche 1900: 631 f.)

Der Sinn der (Schreib-) Übung: Es waren nur noch elf Monate bis zum Turiner Zusammenbruch – höchste Zeit also, ein Überforde­ rungsszenario zu kreieren, dass diesen wahrscheinlich machte, sprich: ihn als Folge eines (Schlaf-) Tabletten-Abusus ausdeutbar machte, vor allem das »Schlafmittel Chloralhydrat« betreffend. Ihr Bemühen, Nietzsches Krankheit möglichst zu bagatellisieren, war allerdings schwer in Einklang zu bringen mit Briefen ihres Bruders, die auf ernsthafte und langandauernde Beschwerden hinwiesen. Aus diesem Grund schrieb sie sich selbst einen weiteren angeblichen Brief ihres Bruders, in der Erwartung, das Publikum werde ihm entnehmen, Nietzsche habe im Interesse der Weitergewährung seiner Baseler Pension viele seiner Briefe immer nur an »schlechten Tagen« (GBr V/2: 475) geschrieben. Damit nicht genug: Förster-Nietzsche verfiel auf die – 1909 brieflich gegenüber Josef Hofmiller zum Ausdruck gebrachte – Idee, all diese Zeugnisse gleichsam über einen Leisten, den des Krankheitsgewinns, zu schlagen: »Um es kurz zu sagen: seine Krankheit erkaufte ihm die persönliche Freiheit.« (zit. n. Hofmiller 1931: 103) Noch kürzer: 1900, zu Beginn des Jahres, in dessen ach­ ten Monat Nietzsche starb, erschien Förster-Nietzsches Aufsatz Die

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Krankheit Friedrich Nietzsches, der die Guidelines aller nachfolgenden Fälschungen fixierte, insbesondere auch jene dann 1904 im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie zusammengetragenen im Blick auf Krankheit und Tod ihres Bruders, aber auch jene 1912 vorgetragenen, denen wir uns nun zuwenden wollen. Förster-Nietzsches Buch Der junge Nietzsche (1912) interessiert hier vor allem wegen der Neufassung ihrer 1895, im ersten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie, vorgelegten Darlegung der Kindheitsals auch Studentenjahre Nietzsches. Beginnen wir mit dem die Jahre der Kindheit (1844–1858) behandelnden Abschnitt. Kontinuierendes Motiv bezogen auf den frühverstorbenen Vater: Nietzsche sei »dem Gedanken, daß alles Tüchtige und Ungewöhnliche in seinem Wesen und Denken, das ihn von anderen unterschied, Erbschaft von unserm frühverstorbenen Vater wäre, […] sein ganzes Leben hindurch treu geblieben.« (Förster-Nietzsche 1912: 68) Von anderer als dieser pri­ mär kognitiven Mitgift ist nicht die Rede, zumal nicht von jener Mit-Gift, die Nietzsche in Ecce homo aufruft, wenn er, mit Seitenblick auf seinen Vater, die Vokabel »schlechtes Blut« (VI: 268) in Betracht zieht. Warum Förster-Nietzsche hiervon schweigt bzw. schweigen kann? Ganz einfach: Sie hat zusammen mit ihrem willigen Helfer Raoul Richter (1871–1912) exakt diesen Passus vier Jahre zuvor beim Erstdruck dieser Autobiographie ihres Bruders unter den Tisch fallen lassen. Kommen wir zur auffälligsten Veränderung: Dem 1895 über Sei­ ten sich hinziehenden Zitaten aus Nietzsches autobiographischem Text Aus meinem Leben (1858) (vgl. Niemeyer 2022: 156 f.) wird 1912 folgender Abschnitt vorangestellt: Ihr [gemeint ist die Mutter; d. Verf.] jüngstes wunderschönes Kind, unser Brüderchen Joseph, erkrankte wenige Tage nach seinem zweiten Geburtstag infolge des Durchbruchs mehrerer Zähne, die sich alle auf einmal durchdrängten. Er starb plötzlich, wie der Arzt konstatierte, an Zahnkrämpfen. (Förster-Nietzsche 1912: 20)

Was verbirgt sich als Erkenntnisinteresse hinter dieser Korrektur? Schauen wir ganz genau hin: Nach »Zahnkrämpfen« folgt übergangs­ los: »Sehr merkwürdig war der Traum meine Bruders Fritz, den er in seinem vierzehnten Jahr niederschrieb…« – ein Traum also, den der Leser bitte nicht ernstnehmen möge, etwa dahingehend, es ergäbe sich aus ihm ein Hinweis in Sachen der Frage, woran Joseph Nietzsche

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(1848–1850) gestorben sei, denn: Er starb an Zahnkrämpfen, basta! Diese Dezidiertheit war, aus ihrer Sicht, notwenig, weil Paul J. Möbius in seinem Buch von 1902 von Epilepsie gesprochen hatte, unter Beru­ fung auf Friedrich Gutjahr (1857–1940), den Hausarzt (etwa ab 1894) der Familie Nietzsche, der sich seinerseits auf Mitteilungen von Nietz­ sches Mutter bezog, ihr Mann habe »schon jahrelang vor dem Unfalle ›seine Zustände‹ gehabt, d. h. er sei von Zeit zu Zeit im Stuhle zurück­ gesunken, habe nicht gesprochen, starr vor hingesehen, und hinterher habe er von dem ganzen Zufalle nichts gewusst.« Sowie, und auch dies ist wichtig und war vermutlich Nietzsches Schwester bekannt: In der Jenaer Krankenakte wird unter dem Datum des 5. September 1889 Nietzsches Behauptung notiert, er habe »bis zum 17. Jahr an epilep­ tischen Zuständen ohne Bewußtseinsverlust gelitten« (Volz 1990: 404)39 – Grund genug (nebst anderen), für Nietzsches Schwester, auch diese Quelle zu entsorgen, gleichsam nach Art des Hauses: »Pro­ fessor Binswanger habe ihr 1914 den Verlust von Nietzsches Kran­ kenakte als ›wahrscheinlich gestohlen‹ mitgeteilt und ihr versichert, er werde jeden Versuch einer unberechtigten Veröffentlichung juris­ tisch unterbinden«, notierte hierzu Pia Daniela Volz (1990: 390) mit deutlicher Skepsis und ironischem Seitenblick auf Förster-Nietzsches Empörung darüber, dass Erich F. Podach 1929 erstmals Auszüge aus dieser Akte nach einer 1899 verfertigten Abschrift öffentlich präsen­ tierte. Dass Epilepsie und Progressive Paralyse gleichsam als Geschwister auftreten können, wie der Fall Jules de Goncourt offen­ bart (vgl. Niemeyer 2019b), sei hier nur der Vollständigkeit halber angeführt. Zurück zum 1912er Coup der Schwester im engeren Sinne, also zu ihrer Lesart von Nietzsches 1850er Traum am Vorabend des Todes seines Brüderchens. Denn an sich war die Idee der Erweiterung von Nietzsches Ausdruck »die Krämpfe« zu »Zahnkrämpfe« recht gut durchdacht, um Hanssons »Erbübel«-Gespenst zu vertreiben. Zumal im Verwandtenkreis erfreute sich diese Lesart großer Zustimmung, wie sich anhand der Franziska-Nietzsche-Biographie von deren Cou­ sin Adalbert Oehler erweist und der hier nachlesbare Befund belegt: Vor diesem Hintergrund ist die folgende Stelle in einem Brief Nietzsches vom März 1882 aus Genua an seinen ihm damals noch innig vertrauten Freund Paul Rée durchaus auffällig: »Gestern badete ich am Meere, genau an jener berühmten Stelle wo – – – denken Sie im vorigen Sommer einer meiner nächsten Verwandten von einem solchen Anfall im Bade überrascht wurde und weil zufällig Niemand in der Nähe war ertrank.« (6:185) 39

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»[E]r [Joseph Nietzsche, d. Verf.] fällt einem damals bei Kindern häufigen Leiden, schweren Krämpfen während des Zahnens, zum Opfer.« (Oehler 1940: 43) So, in etwa, hatte es auch schon die hier porträtierte Tante, Nietzsches Mutter, über ein halbes Jahrhundert zuvor Franz Overbeck brieflich wissen lassen. Gegen Binswangers Kalkül auf Gehirnschlag als Todesursache im Fall von Joseph Nietz­ sche machte sie geltend, offenkundig instruiert durch ihre Tochter, dass es um Zahnkrämpfe gehe, die ihr »kleiner 1 3/4 alter Knabe« »schon 7 Wochen vor Durchbruch eines Spitzzahns vorher einmal hatte.« (zit. n. Podach 1937: 48) Indes: Was man dieser alten Dame vielleicht noch durchgehen lassen mag, nicht aber ihrer Tochter 1912 oder ihrem Cousin 1940, ist die Ignoranz gegenüber ärztlichem Grundwissen jener Zeit. Ein Beispiel: Einem seit Juni 1875 in Nietzsches Besitz befindlichen Gesundheitsratgeber, den wir in Kap. 7 bereits beizogen, konnte, wer wollte, den Hinweis entnehmen, dass Kinder nicht infolge des Zahnens sterben können. Merkwürdiger noch: Dass es dieser Hinweis selbst einhundertfünfzig Jahre später noch nicht bis nach England geschafft hat, bis in die 2018 dort erschienen Nietzsche-Biographie von Sue Prideaux. Ohne jedes Zögern wird hier kundgetan: Joseph litt an Anfällen, bevor er infolge eines schweren Schlaganfalls starb. (Prideaux 2018/20: 23)

Dies wirkt wie abgeschrieben vom Anti-Syphilis-Propagandisten Richard Schain, der 2001 meinte, als markiere Adalbert Oehlers Biographie Nietzsches Mutter (1940) nach wie vor die Benchmark in puncto Nietzscheforschung und als verharre das zahnärztlich Wissen in den USA auf dem Stand von vor 1870: Joseph died at 22 months of age after manifesting seizures (Krämpfe) and a terminal ›stroke‹.

Dem folgte übergangslos: Not much can be said about the relationship of his illness to the problems of the rest of the family but it is another piece of evidence that the Nietzsche family was indeed affected by a predisposition to neurological disorders. (Schain 2001: 3)

Der erste Satzteil scheint mir, mindestens dies doch, grammatikalisch inkorrekt, insofern bis hin zu Schain schon eine Menge gesagt worden ist zur Beziehung der Krankheit des Joseph Nietzsche und jener seines Vaters – nur dass Schain auch darum nicht weiß oder wissen will. So

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ist beispielsweise in einer vor Abschluss der Arbeit an seiner Publi­ kation in einer anderen (vgl. Niemeyer 1998: 79 ff.) der Tod des klei­ nen Brüderchens im Zuge der Neuinterpretation des von FörsterNietzsche sowohl 1895 als auch 1912 aufgegriffenen NietzscheTraums aus dem Jahre 1850 zum Gegenstand einer Debatte darüber geworden, ob Nietzsche diesen Tod seinem syphilitischen Vater in Rechnung gestellt hat. Hier indes soll es noch um einen anderen, in der Kapitelüber­ schrift bereits aufgerufenen Aspekt der 1912 er Intervention FörsterNietzsches gehen: Ihre Entsorgung der 1901 von Nietzsches Studi­ enfreund Paul Deussen (1845–1919) unters Volk gebrachten und, wie gesehen (vgl. Kap. 7), von Paul Möbius mit der Autorität medizini­ schen Wissens ausgestatteten Bordellgeschichte nebst Präsentation eines neuen Gegners, dem sich ihr Bruder 1866, statt der Syphilis, zu erwehren gehabt habe: der Cholera. Den ersten Part dieses Jobs erle­ digte die Schwester mit einer Raffinesse, die ihres gleichen sucht: Sie widerlegte die Bordellgeschichte, ohne sie zu erwähnen. Deswegen muss sie hier ganz kurz dargelegt werden, am besten von ihrem Anfang her: Am 15. Oktober 1900 erschien in der Wiener Rundschau unter dem vom Verfasser im Nachgang nicht gebilligten spektakulä­ ren Titel Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche ein Aufsatz, der Wasser in den von der Schwester Anfang des Jahres in Hardens Zukunft ver­ öffentlichten Aufsatz Die Krankheit Friedrich Nietzsches zu kippen versprach. Verantwortlich dafür: Deussen, dem als Philosophiepro­ fessor und Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft (1911) Seriosität nicht abzusprechen ist, dem aber auch Neid auf Nietzsche nicht fremd war. Insofern möglicherweise doch nicht gänzlich in aller Unschuld, gab er in seinem aus jenem Aufsatz entwickelten Buch Erinnerungen an Friedrich Nietzsche (1901) die folgende, Jahre später in seiner Auto­ biographie Mein Leben (1914) noch einmal wiederholte Anekdote zum Besten: Nietzsche war eines Tages, im Februar 1865, allein nach Köln gefahren, hatte sich dort von einem Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen und forderte diesen zuletzt auf, ihn in ein Restaurant zu führen. Der aber bringt ihn in ein übel berüchtigtes Haus. ›Ich sah mich‹, so erzählte mir Nietzsche am andern Tage, ›plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte

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Wesen in der Gesellschaft los und schlag einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung, und ich gewann das Freie.‹

Deussens gleich nachfolgende Erläuterung stellte auf das Ungesuchte und Atypische dieses Erlebnisses ab: »Nach diesem und allem, was ich von Nietzsche weiß, möchte ich glauben, daß auf ihn die Worte Anwendung finden […]: mulierem nunquam attigit« (Deussen 1901: 24), auf gut Deutsch, so übersetzte später Richard Blunck: »Er rührte nie ein Weib an.« (Blunck 1953: 109) Dies bestätigten in der Folge einige Studienfreunde Nietzsches, zumeist Leumundszeugnisse pro Nietzsche, im Januar 1910 publiziert und von Curt Wachsmuth (1837–1905) sowie Wilhelm Heinrich Roscher (1845–1921) stam­ mend. (vgl. Vulpius 1923) Blunck indes, der von seiner geplanten mehrbändigen Nietzsche-Biographie nur diesen einen, Kindheit und Jugend thematisierenden Teil fertigstellen konnte, sprach sich gegen jene aus, die an dieser Anekdote zweifelten oder eine Erinnerungstäu­ schung Deussens meinten geltend machen zu können. (vgl. Blunck 1953: 109) Auch Nietzsches Schwester kannte Deussen gut – und wagte es eben deswegen nicht, den von Blunck angedeuteten Weg der Kritik zu beschreiten. Ihre Lösung des Problems ist in Der junge Nietzsche zu besichtigen. Wichtig dabei: Deussens Narrativ wird vorverlegt, von Februar 1865 auf Oktober 1864, deutlicher: es wird überdeckt durch Erinne­ rungen an »einen entfernten Verwandten Deussens mit Namen Ernst Schnabel« (Förster-Nietzsche 1912: 142)40, den Nietzsche seiner Mut­ ter wie Schwester brieflich am 27. September 1864 als »jungen, äußerst liebenswürdigen Kaufmann« vorstellte, ergänzt um den Hin­ weis: »er ist Deussens bekannter und begünstigter Nebenbuhler.« Das zwischen beiden strittige Liebesobjekt verbirgt sich offenbar hinter der zweiten der in diesem Brief Genannten, Marie, über welche Nietz­ sche mitteilt, er sei von ihr am Ende wegen seiner religiösen Ansichten »bemitleidet« (2: 4 f.) worden. Der zweite und letzte Hinweis auf Der Name Ernst Schnabel steht für eine Art terra incognita der Nietzscheforschung abgesehen von Hauke Reich (2004: 200) sowie Otto A. Böhmers Nietzscheroman Der Hammer des Herrn (1994), spielend, wie die meisten Werke dieses Genre, in den Jahren nach dem Turiner Zusammenbruch, taucht Schnabel auf, bezeichnenderweise in auf Herbst 1864 bezüglichen, feucht-fröhlicheren Zeiten Nietzsches gedenkenden Rückblenden (vgl. Böhmer 1994: 44 ff.), aber ohne jeden Hinweis auf die via Deussen aufgekommene Syphilisdebattte oder gar dahingehend, Böhmer, auch als Nietzsche­ biograph hervorgetreten (vgl. Böhmer 2004), habe Förster-Nietzsches 1912er Erzähl­ variante zu Deussens Mär und die hinter ihr verborgene Absicht auf dem Schirm. 40

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Schnabel in Nietzsches Korrespondenz findet sich Ende April/Anfang Mai 1868 in einem auch von Deussen (1901: 45 f.) präsentierten Brief Nietzsches an Deussen, »die angenehme Nachricht von Ernst Schna­ bels Verheirathung« (offenbar mit jener Marie) betreffend (2: 271) – eine Ehe, die alles andere als glücklich ausging, wie die ganze Geschichte zeigt, die Deussen 1901 unterbreitete. Ihr zufolge scheint Schnabel, sein »nächster Freund« und Cousin, ein rechter Luftikus gewesen zu sein, der 1874, also nur sechs Jahre nach seiner Eheschlie­ ßung, am »gelben Fieber« in Havanna starb, nachdem er nach dort gleich nach dem Tod seiner Frau ausgewandert sei. Deren Tod betrau­ erte Deussen lautstark, nicht ohne Grund. Denn er musste letztlich mit ansehen, wie Schnabel sie unglücklich machte. O-Ton Deussen: »Der Kummer nagte an Mariechen, sie gebar ihrem Gatten ein Söhn­ chen und starb.« Aber es kam noch schlimmer: Bald nach dem Tod des Vaters auf Kuba starb auch der von ihm bei den Großeltern gelassene Sohn, so dass sich »über dieser ganzen Liebestragödie das Grab geschlossen hat.« (Deussen 1901: 17) Also eine Lovestory, mit Deus­ sen in der Rolle des um seinen Freund, vor allem aber um dessen Frau Trauernden, mehr als dies: eine Tragödie, verursacht durch Syphilis? Wir wissen es nicht, ahnen es nur, ausgehend von der Überle­ gung, dass die im Fall Schnabel, Deussens Bericht zufolge, als todesur­ sächlich angenommene Gelbsucht, etwa auch jene leichte Nietzsches nach seiner Ruhrinfektion 1870, gemeinhin dem »syphilitischen Sekundärstadium« (Schiffter 2013: 62) zugerechnet wird. Was wir des Weiteren annehmen dürfen: Förster-Nietzsches sehr ausführliches 1912er Referat dieser von ihr noch 1895 komplett ignorierten Story muss Sinn machen – möglicherweise den, zu suggerieren, die von Deussen auf Februar 1865 datierte Bordellgeschichte passe viel eher auf Schnabel denn auf Nietzsche, vielleicht habe er, Deussen, ja die Namen verwechselt. So habe Schnabel, erzählte Deussen 1901 des Weiteren und referierte die Schwester nun, 1912, lang und breit, auf einer 1864 er Rheinreise abends in den Gassen Königswinters mit Nietzsche als Beteiligtem, »um den Mädchen, die wir hinter den Fenstern vermuteten, Ovationen darzubringen« und »allerlei lose Reden [zu führen] von einem armen rheinischen Jungen, der um ein Unterkommen für die Nacht bitte«, und auch »Nietzsche flötete und girrte; sein’s Liebchen, sein’s Liebchen«, ehe dann folgte, in Deussens Bericht: Gleichsam als Sühne für dieses, übrigens vereinzelte Vorkommnis geschah es, daß wir am nächsten Tag im Klavierzimmer des Berliner

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Hofes eine Flasche Wein bestellten und durch das wundervolle Phan­ tasieren Nietzsches unsere Seelen läuterten. (Deussen 1901: 18)

Nochmals sei es betont: Nietzsches Schwester referierte diesen Abschnitt in Der junge Nietzsche ausführlich (vgl. Förster-Nietzsche 1912: 142 ff.), verlor aber nicht ein Wort über die von Deussen vier Seiten später präsentierte Bordellanekdote vom Februar 1865. Warum? Nun, eine Vermutung wäre: Da einige Ingredienzien dieser Anekdote, etwa das Klavierspiel Nietzsches, schon in jener auf Okto­ ber 1864 bezüglichen Königswinter-Szene enthalten waren, aller­ dings mit einer sehr viel fragwürdigeren Hauptperson wie Schnabel im Zentrum, hoffte Nietzsches Schwester mittels ihrer 1912er Mär denjenigen, die nur von ungefähr um die Deussen-Mär wussten, zu suggerieren, sie habe sich nicht auf Februar 1865 (Köln), sondern auf Oktober 1864 (Königswinter) bezogen – und also nicht wirklich ihren Bruder als Hauptperson, sondern den 1874 an einer Tropenkrankheit verstorbenen Luftikus und mutmaßlichen Syphilitiker Ernst Schna­ bel. Abgesichert wird das Ganze mittels der wenige Seiten später dargebotenen, auf die Leipziger Jahre bezogenen Cholera-Mär, ein­ geleitet mit den Worten, im Sommer 1866 habe sich in Leipzig ein »unheimlicher Gast« eingestellt, vor dem es ihren Bruder ordentlich gruselte, wörtlich: Mein Bruder hat von der Cholera eine schauerliche Erinnerung behal­ ten; er behauptete, zweimal von der Seuche ergriffen worden zu sein. (Förster-Nietzsche 1912: 186)

Eine Rechnung, zu der ich nun gerne den Wirt geben würde: Nietz­ sches Schwester kalkulierte erkennbar darauf, dass die Choleramär vor dem Hintergrund der damaligen Pandemiezahlen mit, beispiels­ weise, 160.000 Toten im August 1892 in Europa (vgl. Fröschen 1999: 121) auf Glauben traf und ein jeder den Schluss ziehen würde von die­ sem »zweimal« zu jenem auf das Jahr 1866 bezogenen Eintrag »zwei­ mal specifisch inficiert« (Volz 1990: 381) aus der Jenaer Krankenakte – und ihr ab jetzt glaubte, Nietzsche habe nicht etwa die Syphilis gemeint, sondern seine zweimalige Cholera-Infektion in Leipzig 1866. »Das Wort ›Lues‹«, so vermerkt hierzu eine interne Aufzeich­ nung des von Nietzsches Schwester kontrollierten Nietzsche-Archivs, »mit der ursprünglichen Bedeutung ›Seuche‹, ›Epidemie‹, ist erst seit wenigen Jahrzehnten, halb euphemistisch, für ›Syphilis‹ in Gebrauch. Es bleibt fraglich, ob Nietzsche diese moderne Sinnverschiebung des

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Wortes gekannt hat.« (ebd.: 369) Freilich, und dies meine ich mit ›Wirt geben‹: Es ist noch weitaus fraglicher, dass die Mär der Schwester stimmt, inklusive des Zusatzes: Eine Nacht, die er im gleichen Haus mit einer Choleraleiche zubrachte, ist ihm besonders unheimlich im Gedächtnis geblieben. (FörsterNietzsche 1912: 186)

Es ist vor allem Joachim Köhlers Verdienst, diese Mär nach allen Regeln der Kunst seziert und damit demontiert zu haben. (vgl. Köhler 1989: 89 ff.) Aber auch unabhängig davon verschwand die Geschichte mit der Cholera zügig in der Versenkung. Förster-Nietzsches Buch Der einsame Nietzsche (1914) bringt in den Kapiteln 27 (Die Erkrankung) sowie 28 (Krankheit und Tod) erneut ihre erstmals 1900 vorgetragene und 1904 als auch 1906 erneuerte Erklärung zu Nietzsches Krankheit; eine Wiederaufführung erlebt die Antisemitenmär von 1900 und 1904, ergänzt um dunkle Andeutungen über »Spuren geistiger Erregung und Verwirrung« im unmittelbaren Vorfeld des Turiner Zusammenbruchs. Die Schwester in diesem Zusammenhang, wortwörtlich: Die Vorstellung, daß er, verursachte durch jene später geschilderten Mittel, zeitweise ohne völlige Besinnung allein in den Straßen Turins herumgegangen ist, vielleicht die Beute von allerhand Gesindel, das sich an ihn drängte, zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke. (Förster-Nietzsche 1914: 535)

Worauf die Schwester hiermit hinauswollte, wurde erst siebzehn Jahre später vollends klar, im Zusammenhang des Falles Paul Cohn, dem wir uns gleich zuwenden wollen. Hier nur so viel: Ihr ging es 1914 offenbar um eine Art Blankoscheck im Blick auf eine Zeit, zu der Argumente wie Schlafmittelabusus nicht mehr als ausreichend empfunden wurden und weitere Erklärungsversuche verlangt waren, die sich denn auch wenige Seiten später in Der einsame Nietzsche andeuten in Gestalt des Hinweises auf ein »javanisches Mittel« und der gleich nachfolgenden Anekdote: Am Anfang seiner Erkrankung pflegte er nämlich unserer Mutter öfters geheimnisvoll zu sagen, ›daß er 20 Tropfen genommen habe‹ – er sagte nicht wovon – ›und daß ihn dann der Geist hinweggeführt hätte.‹ Vielleicht hat er sich bei seiner Kurzsichtigkeit in der Tat vergriffen, und darauf wäre dann jener furchtbare Schlaganfall zurückzuführen.« (ebd.: 536)

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Dem folgte unmittelbar ein Hinweis auf »Herrn Dr. Paul Cohn in Berlin«, der »sorgfältige Nachforschungen und Untersuchungen angestellt [hat], welcher Art wohl dieses javanische Beruhigungsmit­ tel gewesen sein könnte« und von dem nur zu hoffen sei, »daß er diese Untersuchungen, wenn sie abgeschlossen sind, veröffentlicht« (ebd.: 537) – kein frommer, allerdings erst 1931 erfüllter Wunsch, wie wir gleich sehen werden. Ansonsten bringt Der einsame Nietzsche Neues insofern, als ihr Nietzsche »am 22. Februar 1891 nach Berlin einen kleinen Brief« geschrieben habe mit der Einleitung »Mein liebes Lama. Komm bald wieder!« und dem Vierzeiler: Ein Bruder und eine Schwester / Nichts Treueres auf der Welt / Kein Goldkettlein hält fester / Als Eins zum Andern hält.

Interessant ist vor allem der Zusatzhinweis, der Reichstagsabgeord­ nete Dr. Pachnicke – gemeint ist Hermann Pachnicke (1857–1935), – hätte sie damals »um das Original dieses rührenden Briefes« gebeten, aber sie habe sich nicht davon trennen können, und später sei er ihr »dann entwendet worden.« (ebd.: 541) Einem Brief der Schwester an Mutter wie Bruder vom 29.1.1891 zufolge hatte sie sich damals tat­ sächlich mit Pachnicke in Berlin getroffen. (vgl. Krummel 2006: 26) Der (angebliche) Brief Nietzsches, um den es hier geht, ist allerdings drei Wochen später geschrieben worden, so dass man angesichts der Argumentationsstrategie der Schwester in vergleichbaren Fällen annehmen darf, dass die ganze Geschichte unter Fake News fällt. Im Einzelnen: Schon der Zeuge Pachnicke ist, nicht nur des realen Berli­ ner Januartreffens wegen, klug gewählt. Denn als junger Mensch war er ein geradezu schwärmerischer Nietzscheverehrer gewesen. Dafür gibt ein Exemplar seiner mit gedruckter Widmung versehenen Dis­ sertation von 1882, erhalten in Nietzsches persönlicher Bibliothek (vgl. Campioni et al. 2003: 430), Zeugnis. Drei Jahre zuvor hatte Pachnicke den elf Jahre älteren Philosophen, ermutigt durch einen legendär gewordenen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschli­ ches41, mit Sätzen behelligt wie: »Habe ich sie verstanden, mein Vater, mein väterlicher Freund? Seien Sie mir Das, begleiten Sie meine Ent­ wicklung mit einem gütigen Blick.« (KGB II 6/2: 1104) Würde man diesen schwärmerischen Pachnicke schockgefroren transferieren – so offenbar das Kalkül von Nietzsches Schwester 1914 –, könnte man 41

»Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.« (II: 266)

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ihm unbesehen ein Interesse für eine Trouvaille wie jenen Brief Nietz­ sches vom 22. Februar 1891 zutrauen. Aus der gesetzten Kondition ergibt sich schon das Problem: Pachnicke hatte sich (ob zu seinem Voroder Nachteil, bleibe dahingestellt) weiterentwickelt, war längst ein gewiefter Realpolitiker geworden – und dies so sehr, so vermutlich Förster-Nietzsches weiteres Kalkül zum Zeitpunkt 1914, dass er ihrer kleinen harmlosen Anekdote, wäre sie ihm zu Ohren gekommen, wohl kaum widersprochen hätte. Zumal sie diesen Widerspruch ver­ mutlich als Zeugnis für sein schlechtes Gedächtnis verbucht hätte – keine geringe Gefahr damals für einen im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Mitfünfziger. Weitere Auffälligkeit: Dieser Brief Nietzsches vom 22. Februar 1891 fand in keine der vorliegenden Briefsammlungen Eingang und ist auch von Förster-Nietzsche nie wieder erwähnt worden. Entspre­ chend spielt er auch in der Nietzscheforschung kaum eine Rolle – abgesehen von der biographisch interessierten à la Sander L. Gilman: Ihm war aufgefallen, dass Nietzsches Mutter, anders als später die Schwester nach deren Tod (1897) und also frei von der Sorge, sie könne noch widersprechen, nicht verhehlt hatte, dass sie jenen Brief ihrem Sohn diktiert hatte. Entsprechend äußerte sie sich in einem Brief an Overbeck vom 29. Juni 1891 (vgl. Podach 1937: 131), von dem aus­ gehend sich Gilman auf die Suche nach der Diktatvorlage machte – und jenen von Pachnicke als »rührend« qualifizierten Vierzeiler als vom Literaturnobelpreisträger (1910) Paul Heyse (1830–1914) stam­ mend identifizierte (vgl. Gilman (1981a: 325 f.), mehr als dies: Auch die von Nietzsches Schwester in Der einsame Nietzsche als »ergrei­ fende Worte«, die Nietzsche damals in der Irrenanstalt Jena, »unter den verschiedensten Mißständen« dortselbst leidend, einem Herren aufzeichnete, »der ihn um ein Autograph bat« (Förster-Nietzsche 1914: 528), erweisen sich, wie Gilman (1981: 326) herausstellte, kei­ neswegs, wie die Vokabel ›Autograph‹ nahelegt, als Spontanschöp­ fungen eines angeblich keineswegs vollständig Erloschenen. Viel­ mehr zitierte die Schwester, ziemlich plump diesmal, keinen anderen als Nietzsche selbst, Stand 1881.42 Ziehen wir ein Zwischenresümee: Beide Beispiele, sowohl diese Anekdote Förster-Nietzsches um den Autografensammler als auch jene subtil durchgearbeitete um den Brief Nietzsche vom 22. Februar »Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mitteilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter Cypressen schweigend ergeht.« (III: 330)

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1891, sollten der Schwester dabei helfen, die Erkrankung ihres Bruders zu verharmlosen. Insbesondere jener Brief mit dem Vierzeiler wirkt beinahe wie ein Kassiber aus dem Jenseits, den der Briefschreiber, der gut zwei Jahre zuvor, in Turin, in geistige Umnachtung versunken war, der Schwester aus seiner häuslichen Naumburger Pflege zukommen ließ des Inhalts: »Komm’ bald wieder«, ergänzt um den Subtext: »Und hol’ mich hier raus!«, denn: »Es besteht noch Hoffnung auf Besserung, wenn nicht gar auf Heilung!« Dieser Subtext ging also posthum gegen die Mutter, der Förster-Nietzsche schon zu ihren Lebzeiten immer mal wieder ankreidete, nicht genug für den Bruder zu tun, ihm zu wenig Anregungen zu geben. Das Perfide dabei: Nietzsches Schwester schreckte nicht davor zurück, für diese Zwecke ein von der Mutter erstelltes Dokument zu verwenden. So hatte sie am 24. Februar 1891 in einem am 28. Februar an Franz Overbeck weitergeleiteten Notat über ein halbwegs gehobenes Frage-und-Antwortspiel mit Nietzsche über Émile Zola (1840–1902) berichtet. (vgl. Niemeyer 2020: 423 f.) Erst dieses Notat dürfte die Schwester später auf die Idee gebracht haben, jenen gleichfalls als Zeugnis für eine Besserung lesbar zu machenden Brief ihres Bruder an sie vom 22. Februar 1891, also aus eben jener Zeit, geltend zu machen. Förster-Nietzsches Buch Der werdende Nietzsche (1924) steht für eine mittels Fälschungen aller Art durchsetzte großflächige Umschrift der Jugendschriften Nietzsches. Eine Kostprobe zu diesem Themen­ komplex, bezogen auf Nietzsches wichtige Aufsätze Fatum und Geschichte (1862) sowie Willensfreiheit und Fatum (1862), hatte die Schwester schon dreißig Jahre zuvor im Anhang des ersten Bandes ihrer großen Nietzsche-Biographie gegeben. (vgl. Förster-Nietzsche 1895: 309 ff.) 1923 waren diese beiden Aufsätze erneut ediert worden, als Teil einer unter dem Titel Friedrich Nietzsche: Jugendschriften Sammlung von Arbeiten aus dem Zeitraum 1858 bis 1868 (auch als Band I der Musarion-Ausgabe verfügbar, versehen mit einem Vor­ wort der Schwester und einem Nachbericht Max Oehlers). Die Absicht der hier in Rede stehenden, sich auf die autobiographischen Aufzeichnungen Nietzsches konzentrierenden Edition ist eine andere: Es gilt, so die mutmaßliche Absicht der Schwester, die seit Ola Hans­ son in Umlauf befindliche »Erbübel«-Hypothese von den Quellen her zu entsorgen sowie die 1912 in Der einsame Nietzsche exemplarisch vorgetragene Umschrift der Bordellanekdote Paul Deussens nun auch von den Quellen her abzusichern.

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Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Förster-Nietzsche präsen­ tierte in Der werdende Nietzsche erstmals (in quelleneditorischer Absicht) und an prominenten Ort, gleich zu Beginn, Nietzsches Jugendschrift Aus meinem Leben (1858), die Erinnerungen ihres Bru­ ders an den Tod des Vaters betreffend. Doch Obacht: Die Wiedergabe dieses Dokuments ist inkorrekt, verglichen mit der gut ein Jahrzehnt später im Rahmen der von Hans Joachim Mette edierten Historischkritischen Gesamtausgabe. Der entscheidende Unterschied: FörsterNietzsche fügte 1924 die Vokabel »infolge eines Sturzes« ein in den Satz Nietzsches: »Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vater gemüths>>krank« (BAW 1: 4) – und ersetzte die letztgenannte Vokabel durch den Ausdruck »sehr krank«43. Mit diesem kleinen, subtilen Eingriff war die von Ola Hansson in die Welt gesetzte »Erbübel«-These außer Kraft gesetzt – ein Fehler, der, wie angedeutet, spätestens hätte auffallen müssen, als 1933 die BAW erschien und die korrekte Fassung von Nietzsches Aus meinem Leben vorlag. Freilich, so lautete offenbar das Kalkül der Schwester: eine Korrektur ihrer Korrektur, die ihre Zeit brauchte und die es im Interesse der Sache auszusitzen galt. Warum sie nicht wissen, allenfalls ahnen konnte: 1933 begann im Zuge der nun einsetzenden umfassenden Nazifizie­ rung Nietzsches das Interesse an derlei Fragen rapide gegen Null zu gehen, wie abschließend noch zu zeigen sein wird. Der zweite Punkt ist kaum weniger brisant: Die eben nacher­ zählte, 1912 von Förster-Nietzsche unterbreitete Schnabel-Mär wird in Der werdende Nietzsche per selektivem Deussen-Referat fast wort­ wörtlich wiederholt. (vgl. Förster-Nietzsche 1924: 244 ff.) Und kom­ plementär dazu wird sorgfältig darauf geachtet, nur Briefe aus dem damit im Zentrum stehenden Zeitraum Herbst 1864 zu zitieren und den im Sinne der Bordellanekdote Deussens brisanten Zeitraum Februar 1865 lieber ganz aus dem Fokus zu nehmen bzw. zu ver­ harmlosen. Hierzu gehört ein von Förster-Nietzsche erstmals 1909 (in: GBr V/1: 94 f.) präsentierter und nun erneut aufgerufener Brief Nietzsche an Mutter und Schwester von Mitte Februar 1865 aus Bonn, in dem es gleich im zweiten Satz heißt:

Das Originalmanuskript wurde an der maßgeblichen Stelle angebrannt, um die für die Schwester anstößige, aber noch ansatzweise entzifferbare Vorsilbe »gemüths-« zu tilgen und Platz für ihre Legende zu schaffen, hier hätten ursprünglich die Worten »infolge eines Sturzes« gestanden. (vgl. Hödl 1994: 297) 43

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Das, was seit einigen Wochen alle Köpfe in den Rheinlanden beun­ ruhigt hat, ist der große kölnische Karneval, an dem ich mich aber durchaus nicht beteiligt habe, und zwar aus allen möglichen Gründen, jedenfalls zum größten Erstaunen meiner Bekannten und Freunde. (zit. n. Förster-Nietzsche 1924: 274)

Muss man hier wirklich noch hinzufügen, dass dieser Brief komplett der Fantasie der Schwester entspringt und dass ihre Absicht, wie schon 1909, dahin ging, gegen Deussens auf Köln bezügliche Bordellanek­ dote einen Zeugen der Verteidigung anzubieten, wie er sonst in kei­ nem Buche steht: Nietzsche? Wohl nicht. Und auch dies versteht sich dann wohl von selbst: Der Brief Nietzsches vom 4. August 1865 aus Bonn an seinen Freund Carl v. Gersdorff, in welchem Nietzsche darüber berichtet, dass er an einigen Festen teilgenommen habe, aber in den letzten Wochen wegen Krankheit im Bett liegen müsse wg. eines heftigen Rheumatismus, »der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne« und der ihm gegenwärtig »die stechendsten Kopfschmerzen« (2: 76) verursache, wird in Der wer­ dende Nietzsche nicht mit einer Zeile erwähnt. Ersatzweise zitiert Förster-Nietzsches aus einem am nächsten Tag abgegangenen Brief Nietzsches an sie und ihre Mutter Erfreuliches über eine Einladung nach Berlin – lässt aber, anders als noch 1909, den entscheidenden Abschnitt fort: jenen, in welchem Nietzsche, ähnlich wie einen Tag zuvor gegenüber Gersdorff, darüber klagt, dass er »jetzt so viele und häufige Schmerzen« (2: 78) habe. Ganz klar: Diese Klage passt nun, 1924, nicht zu der Mär eines allein der Wissenschaft verpflichteten ›heiligen‹ Bruders – und gerät eben deswegen in Wegfall, zumal sie den Keim enthält zu einer nur ein Jahr später vom Neurologen und Syphilisspezialisten Ernst Benda (1925/26) vorgetragenen Ablei­ tung, wonach die Bordellanekdote eben doch Hand und Fuß haben müsse – wie an ihren Krankheitsfolgen ablesbar. Förster-Nietzsches Die Zeit von Nietzsches Erkrankung bis zu sei­ nem Tod (1931) wird in der Nietzscheforschung wenig beachtet. Zusammen mit dem Buch, dem es als Anhang dient, gilt er als ziem­ lich untergegangen. Tatsächlich ist das Büchlein Um Nietzsches Unter­ gang aus der Feder des Berliner Arztes Paul Cohn wissenschaftlich ohne Belang, handelt es sich bei ihm um eine Auftragsarbeit für Nietzsches Schwester, der Cohn, wie er betont (vgl. Cohn 1931: 16), schon 1908 gehuldigt hatte (vgl. auch Fiebig 2018: 169 f.), des Wei­ teren 1910, ohne dass der Nietzschebiograph Horst Althaus (1985:

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585) hierbei irgendetwas zu beanstanden hatte. Indes, und die Voka­ bel »Auftragsarbeit« deutet es ja bereits an: Cohn war, aus welchen Gründen auch immer, nicht wirklich frei, sich vor Vereinnahmung zu schützen, wie schon die auf ihn bezügliche Passage in Förster-Nietz­ sches Buch Der einsame Nietzsche (1914) deutlich macht. Ein »Herr Dr. Paul Cohn in Berlin« habe »sorgfältige Nachforschungen und Untersuchungen angestellt«, welcher Art das von Nietzsche Schwes­ ter hier erwähnte und von ihrem Bruder genommene »javanische Beruhigungsmittel« gewesen sein könne, erfuhr man damals auch diesem Buch, ergänzt um die Hoffnung, »daß er diese Untersuchun­ gen, wenn sie abgeschlossen sind, veröffentlicht.« (Förster-Nietzsche 1914: 537) Siebzehn Jahre später – so zeigt Um Nietzsches Untergang – ist es so weit. Peinlich insoweit, dass Cohn, ein jüdischer Arzt aus Berlin, dem wohl in letzter Minute die Flucht vor den Nazis gelang (vgl. Niemeyer 2020: 110), den Eindruck zu erwecken suchte, er habe der Schwester einfach so seine Arbeit geschickt und diese habe ihm dann »die unverdiente Ehre [erwiesen], ihm einen ergänzenden Beitrag zu seinen Ausführungen zu liefern« (Cohn 1931: Vorwort), auf den gleich einzugehen ist. Kaum weniger peinlich: Robert C. Holubs Versuch, diese Zusammenarbeit und den »appendix with letters she wrote to Cohn« als Beleg zu nehmen für seine These, dass Nietzsches Schwester »was not an anti-Semite herself.« (Holub 2016: 22) Denn Holub verliert kein Wort über den Charakter dieser Briefe: Sie sind, wie wir gleich noch sehen werden, durchgängig verlogen und geben dadurch einen Hinweis auf ihr Bild Paul Cohns, der ihr kaum mehr war als ein nützlicher Idiot, was man durchaus als anti-semitisch geißeln darf. Was Cohn Anlass gab für seine blinde Förster-Nietzsche-Vereh­ rung, muss hier außerhalb der Betrachtung bleiben. Ersatzweise wol­ len wir uns konzentrieren auf sein organisierendes Argument. Es lau­ tet, dass, da im Fall Nietzsche »eine spezifische Infektion«, die als »alleinige Ursache« der Paralyse zu gelten habe, von Nietzsches Schwester »energisch abgelehnt [wurde]«, »mit anderen Ursachen« (Cohn 1931: 25 f.) gerechnet werden müsse – eine Argumentation, deren Crux auf der Hand liegt: Der Vorbehalt der Schwester wird als konstant und unverrückbar gesetzt, alles andere hingegen als variabel. Damit wird zugleich als gleichsam alternativlos behauptet, dass es »andere Ursachen« geben müsse – nicht-syphilitische selbstredend, um den wichtigsten, für Nietzsche Schwester entscheidenden Punkt

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zu nennen. Dies meint zugleich, dass sie in anderen Hinsichten Abstriche machen musste. »Gemütserregungen allein«, so Cohn erläuternd, als rede er direkt mit ihr, kämen nicht in Betracht, »um den Zerfall der Nervensubstanz im Gehirn Nietzsches, wie er bei der schweren organischen Krankheit vorhanden sein mußte, zu erklären.« (ebd.: 26) Was blieb? Cohn: Endogene Gifte, etwa eine Stoffwechsel­ störung, schieden aus, desgleichen, aus der Gruppe der exogenen Gifte, die Lues, ebenso der Alkohol – blieb: »ein Zusammenwirken von Chloralhydrat und Haschisch.« (ebd.: 27) Wie leicht erkennbar: Haschisch war Cohns Zauberwort und zugleich die Kröte, die Nietz­ sches Schwester schlucken müsste (vgl. auch Niemeyer 2020: 110 ff.)44 – und schlucken konnte eingedenk ihres von Cohn in Erin­ nerung gebrachten Passus aus ihrer großen Nietzsche-Biographie, in welchem sie einen Holländer ins Spiel gebracht hatte, den Nietzsche im Sommer 1884 kennengelernt habe und »der ihm aus langer eigener Erfahrung ein javanisches Mittel anempfahl.« (Cohn 1931: 30) Weiter mit O-Ton Förster-Nietzsche: Es war eine dunkle Flüssigkeit, eine Art starker Alkohol. Mein Bruder sagte mir aber, daß er damit sehr vorsichtig wäre, denn ein Mal habe er in das Glas Wasser ein paar Tropfen zu viel genommen und sei davon absolut betrunken geworden. Er habe sich auf den Teppich hingeworfen und immer lachen müssen (er sagte ›grinsen‹). (Förster-Nietzsche 1904: 919)

So weit, so lustig, denn auch hier ist alles Kalkül, die allerletzte Voka­ bel beispielsweise, die Nietzsches Schwester benötigte, um das in späten Briefen von Nietzsche berichtete Grimassieren als uner­ wünschte Nebenfolge dieses Mittel deutbar zu machen und von dem Verdacht zu entlasten, es handele sich um ein Paralyse-Indiz. (vgl. Volz 1990: 172) Auch die Java-Geschichte hat sich nie wirklich auf­ klären lassen (ebd.: 164 ff.), half der Schwester aber, einen neuen Akzent in der Schlafmittel-Debatte zu setzen. Bis hin zu der von Cohn mit ihrer Unterstützung in die Welt gesetzten Mär, auch Haschischa­ busus komme in Betracht, da Cannabis (Stichwort »grinsen«) »Hei­ Dass ein vehementer Kritiker des zuletzt zitierten, der Verharmlosung Nietzsches schuldig gesprochenen Buches um diese Zusammenhänge und das Folgende weder in jener Rezension aus der Nietzscheforschung 28 (2021) noch in einem Aufsatz weiß, mit welchem er Nietzsche als »den Philosoph des Rausches« (Stephan 2019: 236) vorstellt, sei hier nur, ebenso wie jenes Attribut, als irritierend vermerkt, nicht aber weiter bewertet. 44

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terkeit und fortwährende Lachlust« (Cohn 1931: 34) erzeuge – eine in einschlägig interessierten Kreisen bis auf den heutigen Tag (vgl. Bennett 2018) auf Anklang treffende Auffassung, für die Cohn neben Charles Baudelaire45 einen wichtigen Kronzeugen mobilisieren konnte: Nietzsche, deutlicher: sein Wort aus Ecce homo: Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence, – Gift, ich bestreite es nicht… (VI: 289)

Als eindeutiges Bekenntnis kann dieser Satz indes nicht gelten, wie schon Pia Daniela Volz (1990: 168 f.) betonte, die auch auf die Bedeu­ tung einer auf Baudelaire hinweisenden Nachlassnotiz vom Oktober 1888 hinwies46 und Nietzsches Gebrauch von Schlaf- und Schmerz­ mitteln (Kapitelüberschrift) umfassend rekonstruierte, ohne dabei einen wirklich Abusus etwa auch von Chloralhydrat oder – damals gleichfalls als Schlafmittel in Gebrauch befindlich – von Cannabis, Cocain oder Morphium feststellen zu können. Der Fairness halber sei hinzugefügt, dass auch Cohn Haschisch nicht »als direkt Paralyse ver­ anlassendes Gift« in Betracht zog, sondern nur als ein »das Gehirn schwer schädigendes Gift«; zusätzlich räumte er ein, dass »eine schwere Haschisch-Vergiftung den plötzlichen Ausbruch einer schlummernde Gehirnkrankheit provoziert haben [könnte].« (Cohn 1931: 41) Die Syphilisoption blieb also weiterhin im Spiel, ungeachtet aller Solidarisierung Cohns mit Förster-Nietzsche. Damit sind wir hinreichend vorbereitet, dem Sinn und Zweck von Förster-Nietzsches Anhang zu Cohns Buch nachzugehen. Ihrer eige­ nen Darstellung zufolge sei sie durch Cohns Buch ermutigt worden, die in ihrem Buch Der einsame Nietzsche angedeutete Rolle Nietzsches in Turin als Beute von »allerhand Gesindel« (Förster-Nietzsche 1914: 525) auszubauen. Dieser ihrer neuen, erstmals Cohn im August 1930 brieflich übermittelten Mär zufolge sei es so gewesen, dass ihr Bruder sich im Frühling und Herbst 1888 mehrmals mit einem Aus dessen Les Paradis artificielle (1860; dt.: Die künstlichen Paradiese) wird seitenlang zitiert, mit dem Fazit: »Wer diese Schilderung liest und nicht an Nietzsches letzte Zeit denkt, der muß ein schlechtes Gedächtnis oder kein starkes Interesse an Nietzsche haben.« (Cohn 1931: 38) 46 »Ein solcher ›Unfreier‹ hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhül­ lende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein – er hat Wagnersche Musik nöthig…« (XIII: 601) 45

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italienischen Bekannten ihres Gatten getroffen habe, wobei dieser durch jenen in langen, italienisch gehaltenen Briefen, vorwiegend Fragen der Kolonisation behandelnd, in Kenntnis gesetzt worden sei – Briefe, die allerdings nicht mehr verfügbar seien, sondern »nach dem Tod meines Mannes in andere Hände übergegangen sind.« (Förster-Nietzsche 1931: 121) Diese Argumentation war nicht neu, sondern vielfach erprobt zwecks Kaschierung von Brieffälschungen aus ihrer Feder. Ähnliches gilt für ihre dem angefügte Erläuterung, sie habe glücklicherweise ihrer Mutter aus Paraguay davon berichtet, könne also auf diese Aufzeichnungen zurückgreifen etc. pp., kurz und im Rückgriff auf das von der Schwester zu jener Zeit seit bald vierzig Jahren praktizierte Fälschungshandwerk gesprochen: Ihre hier in Rede stehenden Briefe an Cohn von August (Brief 1), Oktober (Briefe 2 und 3) sowie November (Brief 4) 1930 sind mit äußerster Vorsicht zu betrachten, stehen für eine raffinierte Mischung aus Zitiertem, Authentischem und Erfundenem. Ein Beispiel, ad Brief Nr. 2 gesprochen: Ja, es gab tatsächlich im Mai 1888 an der Turiner Universität einen Professor namens Pasquale d’ Ercole (1831–1917). Und dieser hat tatsächlich, einem Brief Nietz­ sches vom 26. Mai 1888 zufolge (8: 322), den Besucher aus Deutsch­ land in Turin aufgesucht. (vgl. Amoretti 1973; Reich 2004: 60) Aber der ganze Rest ist, wie schon Anacleto Verrechia (1986: 249 ff.) dartat, Fiktion, angefangen von der Darstellung der Schwester, de Ercolo (wie sie sagte) habe einen an der Universitätsbibliothek in Turin beschäf­ tigten Deutsch-Italiener, dessen Name ihr »nicht mehr genau erin­ nerlich« (Förster-Nietzsche 1931: 125) sei und den sie und ihr Gatte immer nur »Don Enrico« nannten, um Dolmetscherdienste im Hin­ blick auf weitere Treffen gebeten. Frei erfunden sind insoweit alle von Don Enrico nach Paraguay berichteten Anekdoten, etwa jene gleich­ wohl hin und wieder (vgl. Chronik 2000: 722 f.) als seriöse Quelle präsentierte vom verletzten Hündchen, dem Nietzsche geholfen habe und dass zum Dank eines Tages das bei dieser Gelegenheit beschmutzte Taschentuch ihres Bruders »gewaschen und geplättet« (Förster-Nietzsche 1931: 126 f.) im Maule zurücktrug. Vor allem aber, und dies ist der Punkt, auf den Förster-Nietzsche mit dieser Fälschung abzielte: Frei erfunden ist Don Enricos in Brief 3 im Zentrum stehen­ der Bericht, Nietzsche habe ihm gegenüber sein »eigenes Erstaunen« ausgesprochen, »was er in der letzten Zeit alles geschaffen hätte, des­ halb wäre er nun auch so heiter, das wäre nur mit Hilfe des Mittels seines guten holländischen Freundes möglich gewesen« (ebd.: 144) –

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eine Szene, die Förster-Nietzsche benötigte, um ihre alte, dreißig Jahre zuvor erstmals unterbreitete und zu Beginn dieses Kapitels in Erin­ nerung gerufene Mär vom geistigen Zusammenbruch ihres Bruders infolge von Schlafmittel-Abusus etwas aufzumöbeln, unter Beizie­ hung eines weiteren Nietzsche empörenden Briefes, den der Wind Nietzsche auf offener Straße entrissen habe und den Don Enrico habe aufheben wollen, dies aber nicht zu Ende führend, weil Nietzsche ver­ schwunden war etc. pp. – kurz: Dieser, so Förster-Nietzsche an Paul Cohn im Oktober 1930, »entsetzliche Brief«, unterzeichnet von einem »Siegfried Wagner« und voller »boshaftester Lügen und Fälschungen« (ebd.: 147), habe ihrem Bruder den Rest gegeben. Damit können auf den Anfang zurückblicken. Denn dieser angeblich Ende September 1888 in Turin gleichsam vom Winde verwehte Brief vertritt im Rahmen dieser nunmehrigen Mär FörsterNietzsche zum Turiner Zusammenbruch ihres Bruders die Funktion jener antisemitischen Briefe aus ihrer 1900er Mär, nur dass nun die Variable »Schlafmittel« neu besetzt ist durch die Variable »Mittel des holländischen Freundes«, die, wie gesehen, durch Paul Cohn übersetzt wurde in Richtung Haschisch. Dies also ist schon die ganze Pointe dieses 1931 publizierten Auftritts von Nietzsches Schwester, über die – gemeint ist die Pointe – man eigentlich schallend lachen müsste, wäre die Sache nicht so furchtbar traurig, was für alle im Vorhergehen­ den unterbreiteten Lügengeschichte von Nietzsches Schwester, die Krankheit ihres Bruders betreffend, gilt, vor allem aber für die nun, zum bitteren Ende hin, folgende. Förster-Nietzsches Buch Friedrich Nietzsches und die Frauen sei­ ner Zeit (1935) platzte in eine Zeit hinein, in welcher sich infolge der ›Machtergreifung‹ Hitlers die NS-Guidelines im Diskurs um Nietzsche und Nietzsches Krankheit grundlegend geändert haben. Namentlich die Krankheitsfrage interessierte im Prinzip nicht mehr, jedenfalls nicht die in der Mehrheit befindlichen, um Alfred Rosen­ berg (1893–1945) gruppierten Nietzscheanhänger unter den Nazis. Dass Nietzsches Schwester in Fragen wie dieser seit nun über dreißig Jahren Desorientierendes zu Papier gebracht hatte, wurde insoweit von Nazi-Insidern mit einer gewissen Nonchalance registriert, nach dem Motto: Solange in der Hauptsache alles von ihr uns nutzt – wie etwa ihre Kompilation Der Wille zur Macht (1906), – und sie in Sache von Nietzsches Krankheit nur von Harmlosigkeiten Kunde gibt, ist alles gut.

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Harmlos war insoweit auf den ersten Blick auch ihr neuestes und letztes Buch, das in Sachen von Nietzsches Krankheit nichts Neues und ansonsten allerlei Klatsch und Tratsch bietet, etwa darüber, dass ihr Bruder »einmal einem jüngeren Freund, der Junggeselle bleiben wollte und sich recht humoristisch über etwaige Eheabsichten aus­ breitete, mit großem Ernst auf die Wichtigkeit und hohe Bedeutung der Ehe aufmerksam machte.« (Förster-Nietzsche 1935: 168) Indes: Schon auf der nächsten Seite bricht das Grauen hervor, jedenfalls aus NS-kritischer Sicht. Die Schwester nämlich referiert weiter aus einer nur in Nietzsches »Privatnotizen« erhalten gebliebene Rede, um auf einmal zu folgern, auch unter Beiziehung von Passagen aus Der Wille zur Macht: [M]it dem höchsten Erstaunen erkennen wir, daß sie der Gesetzgebung des neuen Reichs vorgeschwebt haben muß, so wunderbar treffen die Anschauungen Nietzsche’s mit den gegenwärtigen Gesetzen zusam­ men. (ebd.: 169)

In Übersetzung geredet: Worauf die greise, zuvor durch einige Besu­ che Hitlers bei ihr in Weimar geehrte, im 88. Lebensjahr stehende Dame hier reflektiert, ist das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach­ wuchses von 1933/34, das als »Schubladengesetz« der Weimarer Republik gilt – eine Bezeichnung, die nach dem eben Zitierten den Rückschluss erlaubt, der Gesetzgeber habe aus Nietzsches Schublade sich bedient, Nietzsche gebühre also eigentlich der allererste Rang als geistiger Wegbahner der NS-Zwangssterilisation und -Euthanasie. Und dies gleichsam passgenau zum Versprechen Hitlers auf dem Reichsparteitag 1935, er werde im Fall eines Krieges die Euthanasie­ frage aufgreifen und durchführen. Sowie, nicht zu vergessen: Am Vorabend des 11. November 1935, als Nietzsche in Weimar im Beisein Hitlers als unangreifbare Nazi-Ikone heiliggesprochen wurde, und zwar ausgerechnet am Grabe Elisabeth Förster-Nietzsches, die kurz nach Erhalt von Hitlers Dankschreiben (vom 26. Juli) für ihr letztes Buch erkrankt und am 8. November verstorben war. Kurz: Nietzsches Schwester vollendete 1935 ihre Politik der Nazifizierung Nietzsches – und wurde postwendend, gleich nach ihrem Tod, von den Nazis deswegen geehrt, zusammen mit ihrem Bruder. (vgl. Niemeyer 2020: 445 ff.; 2022: 311 ff.) Die Folgen dieser durch sie bewirkten Heiligsprechung Nietz­ sches liegen auf der Hand, auch der Widersinn derselben. Damit sei nicht bestritten, dass zumal dem späten Nietzsche, auch aus Ver­

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zweiflung über seine Krankheit, euthanasienahes Denken konve­ nierte, wie eine Durchsicht seiner Werke auf den darauf bezüglichen Subtext hin offenbart und im Folgenden exemplarisch anhand von Za (vgl. Kap. 9) sowie EH (vgl. Kap. 10) gezeigt. Gravierender ist aber, und darauf zielt die Vokabel ›Widersinn‹: Nietzsche, nur vierzig Jahre jünger gedacht – und dies verunklart Thomas Manns Konstruktion in Doktor Faustus (1947) –, wäre ohne jede Frage Opfer jener Gesetz­ gebung geworden, die seine Schwester 1935 als auf seinen Geist zurückgehend meinte behaupten zu dürfen. Dass sie dies nicht erkannte, liegt an ihrer Verstrickung in jene Verblendung, an die sie nun offenbar selber zu glauben begann nach dem Motto: Warum soll­ ten die Nazis jenen etwas antun, die sich des Schlafmittel- oder Haschisch-Abusus schuldig gemacht hatten? Oh heilige Unschuld: Wie der von den Krankheitssymptomen her durchaus vergleichbare Fall eines fanatischen Nazis offenbart, der des Oldenburger Gauleiters und Reichstatthalters Carl Röver (1889–1942), der wg. seiner krank­ heitsbedingten öffentlichen Beschimpfung des Führers nach Aus­ bruch seiner Paralyse prompt Besuch von Hitlers Todesengeln Karl Brandt (1904–1948) sowie Max de Crinis (1889–1945) bekam, den er nicht überleben sollte (vgl. Harms 2020), kannten die Nazis kein Pardon. Deswegen ja auch, ganz klar, durfte eine Nazi-Ikone vom Range Nietzsches schlicht nicht verrückt oder gar syphilitisch gewe­ sen, musste einem vergleichsweise harmlosen Ding wie einem Schlag­ anfall à la Förster-Nietzsche erlegen sein. Kurz: Darüber anders als so, zumal nach dem 11. November 1935, zu reden oder gar zu for­ schen, war mit Verdikt belegt, etwa entsprechend der Warnung von Alfred Rosenbergs willigstem Helfer Heinrich Härtle (1909–1986), der sich noch nach 1945 ungerührt als (Neo-) Nazi und Judenhasser betätigte (vgl. Härtle 1976) und 1936 im Völkischen Beobachter eine Art ›Führerbefehl‹ verlauten ließ: Wer heute über Nietzsche schreibt, muß wissen, daß er sich mit einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus auseinandersetzt, und daß er sich darum vor dem Nationalsozialismus in jedem Fall zu verantworten hat. (Härtle 1936: 5)

Es ist jene Zeit, der Karl Jaspers (1883–1969) Nietzschebuch ent­ stammt (vgl. Jaspers 1936), an sich bedeutend und einschlägig rele­ vant, weil hier ein (überragender) Philosoph und Arzt sich äußert. Und doch kann es zumal im Blick auf die hier getätigten Ausführun­ gen insbesondere zu Nietzsches Krankheit kaum anders als das Ergeb­

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Fazit

nis eines Ritts auf des Messers Schneide durch einen seiner jüdischen Gattin wegen ohnehin jederzeit von Verfolgung und Tod Bedrohten gelesen werden, heißt: es muss entschuldigt und auf die Schere im Kopf hin bedacht werden, die Jaspers durchaus klug handhabte resp. handhaben musste. (vgl. Niemeyer 2020: 123 f.) Wer hingegen den­ noch, wie der renommierte Nietzscheforscher Volker Gerhardt aus­ weislich einer noch im Mai 2020 abrufbaren Verlagswerbung, meint behaupten zu dürfen, Jaspers habe 1936 eine »souveräne, auf allen verfügbaren medizinischen Daten beruhende Deutung […] über Nietzsches Krankheit« geboten, die »von unverminderter Aktuali­ tät«47 sei, hat entweder keine Ahnung von Nietzsches Krankheit und/ oder den neueren Arbeiten über sie. Oder aber er hat seine eigene kluge Bemerkung von 1992 vergessen, wonach Jaspers aufgrund sei­ ner »persönliche Bedrohung« seine »Distanz zur herrschenden Ideo­ logie« nur »verschlüsselt« (Gerhardt 1992: 221) kenntlich machen konnte – was selbstredend auch meint, dass er über Nietzsches Krank­ heit 1936 nicht Klartext reden durfte.

Fazit Wer mag, kann natürlich trotz der vielen vorgetragenen Argumente, die dagegen sprechen, sich erneut bemühen, einer Rehabilitierung der Elisabeth Förster-Nietzsche das Wort zu reden. Er oder sie muss aber darauf gefasst sein, sich vergleichbar lächerlich zu machen wie Nietzsches Schwester dies fraglos gelang mit ihrem Anhang zum Buch von Paul Cohn aus dem Jahr 1931. Allen anderen sei versichert: Eli­ sabeth Förster-Nietzsche war ungeachtet ihrer sonstigen Verdienste summarisch betrachtet ein Super-Gau für die Nietzscheforschung. Dies allein kennzeichnet hinreichend das Elend all jener – zumeist Männer, zumeist wohlbestallte Universitätsprofessoren –, die sich für sie stark mach(t)en, sei es in Richtung Nobelpreis, sei es in Sachen Ehrendoktorat, sei es in Sachen des nachträglichen Beistandes für eben jene, wie zuletzt zu beobachten bei Carlos Spoerhase (2022).

47 Verlagsseite de Gruyter zu Karl Jaspers bei Amazon v. 16.12.2010, abgerufen am 16.05.2020.

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9 Nietzsches Dichtung Also sprach Zarathustra (1883–85), gelesen als Subtext eines Syphilitikers

Nietzsches Syphilis gelte es vor dem Hintergrund neu bewerteter Indizien als Thema neu zu bewerten, am Ende möglicherweise gar »als blühende Landschaft künftiger Nietzscheforschung« (Niemeyer 2020) zur Geltung zu bringen, hieß es in Bd. 12 des Jahrbuch Literatur und Medizin. Warum, so die Frage hier, dabei nicht mit Nietzsches Dichtung Also sprach Zarathustra (im Folgenden: Za) beginnen? Gewiss, dieser Text, ein, so der Untertitel, Buch für Alle, fordert uns alle, welcher Disziplinzugehörigkeit auch immer, unter ihnen, vorrangig, die Germanistik – aber nicht, wie Claus Zittel (2008: 381) meinte, exklusiv –, ganz entschieden auch, wie Jörg Salaquarda (2000) dartat, die Theologie, aber auch, tritt doch Zarathustra gleich in der ersten Szene als (Volks-) Erzieher auf, die Pädagogik, auch, wegen des Scheiterns dieses Erziehers, die Psychologie, die auch zu klären hätte, an welchen Stellen Zarathustra für sich spricht oder als Sprecher Nietzsches verstanden werden darf. Und hier, unter diesem letztgenannten Aspekt sowie eingedenk von Nietzsches später, von Salaquarda (1999: 214) nachdrücklich ins Zentrum gerückter Einsicht: Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittne darin, das nur mir verständlich ist (6: 443),

muss auch die Frage erlaubt sein, die im Folgenden im Zentrum stehen wird, im Nachgang zu älteren Versuchen (vgl. Niemeyer 2020: 242 ff.; 2022: 184 ff.): Wo und an welchen Stellen spricht Zarathustra in verklausulierter und also zu entschlüsselnder Weise von Nietzsches Krankheit zum Tode, also von der Syphilis und von den Sorgen, die er sich ihretwegen machte – ein Thema für den Experten, der genau­ estens um Nietzsches Biographie weiß und der, wie mir scheinen will, allein zu verhindern vermag, dass dieses Werk zu dem wird, was gleichfalls der Untertitel als Option andeutet: Ein Buch für […] Keinen.

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Dass diese Gefahr eine sehr reale war, zeigt die Rezeptionsge­ schichte: Als Nietzsches Hauptwerk geplant, das »die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften« (6: 427) spalten sollte, war die Resonanz auf Za für Nietzsche zutiefst verstörend: Nur wenige verstanden irgendetwas von dieser komplexen Dichtung voller Anspielungen und fremdartiger Figuren oder kauften dieses Werk, dessen vierten Teil Nietzsche, schwer verunsichert, nur an ausgewählte Adressaten ver­ schicken ließ – um ihn schließlich doch wieder zurückzufordern. Mit­ verantwortlich für den von Nietzsche heftig beklagten (erneuten) Misserfolg: Nietzsche selbst, der seinen ohnehin spärlich gesäten, seit Menschliches, Allzumenschliches (1878) an Aphorismen gewöhnten Leser*innen mit Za einen weiteren Paradigmenwechsel zugemutet hatte, zumindest im Stilistischen: »Es ist eine ›Dichtung‹« (6: 327), hatte er früh, am 13. Februar 1883, warnend verlauten lassen, lieber für sich behaltend, dass – wie erstmals beim Leser Paul J. Möbius beobachtbar (vgl. Kap. 7) – der Text für sich genommen im allerersten Zugriff kaum höheren Sinn abwarf. Zumal Nietzsche seine Dichtung gehörig verschlüsselt hatte. Ein Beispiel: Was konnte der zeitgenös­ sische Leser schon groß wissen von Nietzsches Lou-Erlebnis des Jah­ res 1882 (vgl. Kap. 1, Tautenburg….), das sich in Za vielfältig nieder­ schlägt, bis in die Zweitverwertung von für Lou gedachte Liebesbriefe hinein? Fremd musste ihm auch Das Nachtlied (Za II) bleiben, das kaum mehr ist als eine Nachdichtung des Nietzsche dereinst berüh­ renden Liebeserlebens in der Absicht, sich »das Ausbleiben von Lou v. Salomés Gegenliebe rational zu erklären.« (Niemeyer 2007: 46) Auch die dunklen Seiten dieser Liebestragödie mit kaum verhüllter Kritik an seinen »Nahen und Nächsten« als »Eiterbeulen« (IV: 143 f.) spiegeln sich literarisch wider, etwa in Das Grablied (Za II), was aller­ dings, um Heinrich Meiers zu gedenken (vgl. Meier 2017: 72 f.), erkannt sein will. Freilich: Hinweise wie diese sind nur sekundär relevant und beleuchten das selbsttherapeutisch Relevante an dieser Dichtung, führen aber noch nicht recht weiter in Sachen der hier beabsichtigten Dekodierung der auf Syphilis und Nietzsches Wissen um sie bzw. Sorge ihretwegen hinweisenden Spuren in der Zarathustra-Dichtung. Anders verhält es sich da schon mit Zarathustras Rede Von alten und jungen Weiblein (aus Za I). Denn Sprüche wie: »Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er das Weib, als das

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gefährlichste Spielzeug« (IV: 85) klingen allzu sehr nach Bordelljar­ gon, als dass man darüber hinwegsehen könnte, ähnlich wie die Frage: Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht! (IV: 86)

Denn sie steht womöglich, allen aufwändigen Deutungsversuchen zum Trotz (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 288), für nicht mehr als für die Warnung vor einem – in Bordellen leicht einhandelbaren – Darmpa­ rasiten. Auch die Rede Vom Gesindel (aus Za II) darf wohl diesem Themenkomplex zugerechnet werden und ist mit Heinrich Meiers Auslegung, Zarathustra spreche hier »zu Vornehmen und zukünftig Erkennenden, die sich von der Vorstellung des Reinen […] leiten lassen […], vom Ekel« (Meier 2017: 60), sicherlich unterkomplex ausgelegt. Schon der erste Satz hat es in sich, wurde womöglich angeregt durch die qua Lou von Salomé freigesetzte Hoffnung Nietz­ sches, körperliche Liebe gehöre doch noch nicht zu den endgültig abzuhakenden Erlebnissen: Das Leben ist ein Born der Lust, aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet.

Der erste Satzteil schließt eigentlich aus, dass es nur ums Trinken zu tun ist und das Gift also auch ein venerisches, im »Brunnen« der Frau, kurz: in deren Vulva verborgenes sein kann, gleichsam als unerwünschtes Andenken des (Vorgänger-) Gesindels, über das es denn auch wenige Zeilen später heißt: Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit; und als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Träume.

So betrachtet verliert die gleich nachfolgende Phantasie Zarathustras, den »Fuss dem Gesindel in den Rachen [zu] setzen und also seinen Schlund [zu] stopfen« (IV: 124), das ihr an sich anhaftende Unange­ messene – gesetzt jedenfalls, Nietzsche als Autor dieser Zeilen habe beim Schreiben derselben sein eigentliches Hemmnis, mit Lou zu verkehren, vor Augen gehabt, also die Syphilis, die dem von ihm 1865 oder 1866 frequentierten »Brunnen« zuvor vergiftet hatte, vergiftet, und wir kommen darauf am Ende zurück, im Sinne der von Paul Deussen berichteten Bordellgeschichte (vgl. Deussen 1901: 24; zum Kontext: Niemeyer 2020: 58 ff.), die von Thomas Mann im Doktor Faustus (1947) literarisch ausgestaltet wurde. (vgl. Niemeyer 2020: 134 ff.)

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Dass es darum geht, zumindest aber doch um Nietzsches Nach­ denken über vergangenes Unheil, schließt der Beginn der kurz darauf dargebotenen Bemerkung »Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner Frage« nicht aus, genauso wenig wie die Frage selbst: Sind vergiftete Brunnen nöthig und stinkende Feuer und beschmutzte Träume und Maden im Lebensbrode?

Diese Frage ist dermaßen abschreckend gebaut, dass sie als rhetori­ sche zu gelten hat und in diesem definierenden Merkmal auch für die unmittelbar zuvor gestellte Hauptfrage gilt: »[H]at das Leben auch das Gesindel nöthig?« (IV: 85) Man muss genau beachten, was hier passiert: Indem Nietzsche resp. Zarathustra diese Frage zu einer rhetorischen erklärt, hat er den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen – ein angebliches Highlight der Lehre Nietzsches – auf beiläufige Weise entsorgt. Vorentsorgt, wie wir im Vorgriff auf das gleich zu Das Zeichen (Za IV) Nachzutragende ergänzen müssen. Insoweit liegt es nahe, auch den drei Jahre später in Ecce homo und von Nietzsches Schwester unterschlagenen Satz in Erinnerung zu bringen: [I]ch bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ›ewige Wiederkunft‹, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind. (IV: 268)

Oder, um den Zusammenhang zwischen diesem und jenem Passus herauszustellen: »Hat das Leben auch das Gesindel in Gestalt meiner Mutter wie Schwester nöthig?« Wohlgemerkt: Auch diese Frage ist, dafür bürgt schon der angeführte Aussagesatz aus Ecce homo, rhetorisch gemeint, und dass sie dies zu Recht ist, zeigt sich in der Line von Nachlassnotat 25[343] von Frühjahr 1884: Wenn ein inferiorer Mensch seine alberne Existenz, sein viehisch-dum­ mes Glück als Ziel fasst, so indignirt er den Betrachter; und wenn er gar andere Menschen zum Zwecke seines Wohlbefindens unterdrückt und aussaugt, so sollte man so eine giftige Fliege todtschlagen. (IX: 101)

Spannend an dieser Stelle: Förster-Nietzsche strich diesen Passus sowie einen abschließenden, kaum weniger aggressiven, als sie daran ging, auf eigene Faust und gegen Nietzsches dem entgegenstehende Willensbekundung (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 427 ff.) § 872 von Der Wille zur Macht zu konstellieren. Warum? Um Nietzsche zu schützen, meinte hierzu Domenico Losurdo (2009: 708), übersah aber leider die Vokabel »giftige Fliege« und mithin den Umstand, dass Nietzsche mit dem hier porträtierten »inferioren Menschen« niemand anderen

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als sie meinte, diesmal in Fortführung einer Überlegung aus dem Abschnitt Von den Fliegen des Marktes (aus Za I): Vom Menschen als »Giftwurm« ist da, des Weiteren und durchgängig pejorativ, die Rede, vom »Schmeichler«, vom »Winsler«, vom »Feigen«, vom »Kleinen«, und dies mit dem Ergebnis des warnenden Hinweises, das sich hinter Lob nichts weiter verberge als »Zudringlichkeit«, und Liebenswür­ digkeit für nicht mehr Zeugnis gäbe als für die »Klugheit der Feigen«, wie ohnehin gälte, dass das Kalkül dieser Art Menschen aufs Scheitern gehe und tugendhaftes Verhalten nicht auf Anerkennung rechnen dürfe nach dem Muster: »Sie bestrafen dich für alle deine Tugenden. Sie verzeihen dir von Grund aus nur – deine Fehlgriffe.« Dieses bittere Bonmot veranlasste Zarathustra zu dem Ratschlag: »Also hüte dich vor den Kleinen!« – denn, so könnte man zur Erläuterung nachtragen, »ihre enge Seele denkt: ›Schuld ist alles grosse Dasein.‹« (IV: 67) An wen bei dieser Ressentimentanalyse in erster Linie zu denken ist, verrät eine der letzten Bemerkungen: Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen Nächsten: denn sie sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und möchten gerne an deinem Blute saugen.« (IV: 68)

Die »Nächsten« Nietzsches waren seine Mutter wie Schwester – und wie er über diese dachte, offenbarte Nietzsche seinem Baseler Freund und Kollegen Franz Overbeck am 6. März 1883: »Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mit Mißvergnügen; ich bin immer krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war.« (VI: 338 f.) Dies ist eine inter­ essante Wendung des Ausgangsproblems: Nicht – erinnert sei an Vom Gesindel – der vergiftete »Brunnen« ist es, von dem die (ansteckende) Krankheit ausgeht. Vielmehr sind es Nietzsches Nächste und deren abweisende Reaktion auf sein Begehren Lous, das ihn krank macht, mit einem wunderbaren, den Anschluss an das Brunnen-Motiv aus Vom Gesindel suchenden Bild aus Von der Fliegen des Marktes gespro­ chen: »Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange müssen sie warten, bis sie wissen, was in ihre Tiefe fiel.« (IV: 66) Sehr viel konkreter wird Nietzsche resp. Zarathustra nicht, auch nicht in Das andere Tanzlied (aus Za III), dessen Botschaft – um hier vorerst von der Weiterung derselben in Das Nachtwandler-Lied (aus Za IV) abzusehen – dahin geht, dass die Tugend des Weibes geschützt wird durch die Konstrukte, die der Mann für es in Vorrat hält. Jeden­ falls solange er dem christlich verstandenen Konzept von Liebe ver­

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pflichtet bleibt, so wie dies für Nietzsche gesagt werden darf. (vgl. Niemeyer 1998: 38 ff.) Fällt dieser Wertkanon aber weg oder tritt er erst gar nicht in Geltung, scheint alles möglich. Nietzsche beispiels­ weise – diese Vermutung über den Hintersinn von Zarathustras Rede darf hier angeschlossen werden, – hätte damals, im Sommer 1882, nur den amoralischen Mut aufbringen müssen, Lous Worte nicht als ›böse‹ zu verdammen und ihr zu glauben, etwa im Sinne der tiefen Wahrheit über sich, um die er doch eigentlich wusste und die sich beispielsweise in den Worten verbirgt: »Vielleicht ist sie böse und falsch und in allem ein Frauenzimmer; aber wenn sie von sich selber schlecht spricht, da gerade verführt sie am meisten.« (IV: 141) Ein typisches Männerding: Dass er der Hure bedarf, um so recht in Schwung zu kommen – und damit gefährlich lebt am Rand des Vesuvs namens Syphilis. Auch deswegen schilt Nietzsche mittels seines Spre­ chers Zarathustra seine »wilde Weisheit« als ›böse‹, zumal sie ihn letztlich auch noch die andere Wahrheit sagt: »›Du willst, du begehrst, du liebst, darum allein lobst du das Leben!‹« Diese Wahrheit kann Nietzsche nicht akzeptieren, weil er dann den Schutz verlöre im Blick auf eine Zeit, zu der nichts mehr lebt – noch nicht einmal mehr Gott –, was er wollen, begehren und lieben kann. Darum entscheidet er sich für die andere, resignative Wahrheit: »Von Grund aus liebe ich nur das Leben – und, wahrlich, am meisten dann, wenn ich es hasse!« (IV: 140) Immerhin: Wenn schon nicht praktisch, so jedenfalls doch theo­ retisch geht es ein wenig weiter bei Nietzsche mit der Rede Von der Keuschheit (aus Za I), dessen wichtigster Part hier in Gänze hingesetzt sei: Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei Einigen eine Tugend, aber bei Vielen beinahe ein Laster. // Diese enthalten sich wohl: aber die Hündin Sinnlichkeit blickt mit Neid aus Allem, was sie thun. // Noch in die Höhen ihrer Tugend und bis in den kalten Geist hinein folgt ihnen diess Gethier und sein Unfrieden. // Und wie artig weiss die Hündin Sinnlichkeit um ein Stück Geist zu betteln, wenn ihr ein Stück Fleisch versagt wird! // Ihr liebt Trauerspiele und Alles, was das Herz zerbricht? Aber ich bin misstrauisch gegen eure Hündin. // Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach Leidenden. Hat sich nicht eure Wollust verkleidet und heisst sich Mitleiden? // Und auch dieses Gleichniss gebe ich euch: nicht Wenige, die ihren Teu­ fel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue. (IV: 69 f.)

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Die Nietzscheforschung geht über Reden wie diese erstaunlich des­ interessiert hinweg unter Beiseitesetzung des theologiekritischen Zugangs. Anders Eugen Drewermann, der sich vor über dreißig Jah­ ren sicher war, dass es nicht länger möglich sei, das von Nietzsche hier beschriebene »katholische Keuschheitsideal«, angefüllt mit »Tabus und Verdrängungen aller Art«, weiterhin »als Ganzhingabe, als freien Selbstverzicht und als christusförmiges Tugendleben zu etikettieren« (Drewermann 1989: 520) – leider, wie wir heute, Tausende von Miss­ brauchsfällen in (nicht nur) katholischen Einrichtungen später, fest­ stellen müssen, eine etwas zu tollkühne Annahme des seinerzeit vom Klerus unbarmherzig verfolgten Kritikers von Nietzsche-II-Format, der auch die diese Überlegungen weiterführende Rede Von den Pries­ tern (aus Za II) (vgl. Niemeyer 2007: 41 ff.) einbezog: Was wir hier vorfinden – und dies hat Drewermann (1989: 91 ff.) erkennbar zu seinem eigenen Ansatz, dem Psychogramm der Kleriker, inspiriert –, ist eine scharfe, offenbar den frischen Eindruck einer Rom-Reise Nietzsches wiedergebende (vgl. 6: 419) Abrechnung mit dem Katho­ lizismus. Von Kirchen als »süssduftenden Höhlen« ist da die Rede, vom »verfälschte[n] Licht« und »verdumpfte[r] Luft«, kurz, im Blick auf Zarathustras (und Nietzsches) Pointe: Es jammert mich dieser Priester. Sie gehen mir auch wider den Geschmack; aber das ist mir das Geringste, seit ich unter Menschen bin. // Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind es mir und Abgezeichnete. Der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden: – in Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste! (IV: 117 f.)

Programmatisch wichtig ist das Fazit in Sachen dieser wie jener Kritik, vorgetragen in der oben bereits als zentral gesetzten Rede Von den Verächtern des Leibes (aus Za I), insonderheit die jedem Sexerfahrenen ohne weiteres verständliche Setzung »Leib bin ich ganz und gar und Nichts ausserdem« betreffend, der die Einsicht nachfolgt: Ich sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. (IV: 38)

So wie jedes Menschen Leib im Bordell nicht ›Ich‹ sagt, wohl aber ›Ich‹ tut, darf man hier wohl, unter Konzentration auf Nietzsches Subtext, ergänzen. Die neue, nicht den Leib verachtende Ethik umreißt die Rede Von den drei Bösen (aus Za III), ausgehend von einer Kritik christlicher

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Tugendimperative. Im Zentrum der »drei bestverfluchten Dinge« aus christlicher Sicht (Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht) die Wollust, die allerdings nur, so Zarathustra, »für die Welken« ein »süsslich Gift« sei. Für die »Löwen-Willigen« hingegen handele es sich hingegen um »die grosse Herzstärkung«, vor allem aber gelte: [F]ür die freien Herzen [ist Wollust; d. Verf.] unschuldig und frei, das Garten-Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt.

Dieses Lob auf die Wollust als ein an ihren Folgen zeitgleich Zugrun­ degehenden einfach so dahinzusetzen, hatte schon etwas, zumindest etwas Mutiges, zumal dem folgte: Vielem nämlich ist Ehe verheissen und mehr als Ehe, – / – Vielem, das fremder ist als Mann und Weib: – und wer begriff es ganz, wie fremd sich Mann und Weib sind!

Denn ›Mann‹ und ›Weib‹ sind sich dort wohl am fremdesten, wo beide oder auch nur einer von beiden sich für gleichgeschlechtliche Liebe entscheiden – eine Überlegung, die fast Anlass geben könnte, Nietzsche nicht nur als Propagandist dieser Liebe, sondern auch als Anhänger eines Trauscheins für gleichgeschlechtliche Paare zu outen. So betrachtet will es einem durchaus einleuchten, dass Zarathustra ausgerechnet an dieser Stelle es für geboten hielt, »Zäune« um seine »Gedanken« und auch um seine »Worte« zu errichten, damit »mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!« (IV: 237) Ob er indes wirklich in allen Hinsichten so fürsorglich war und ob mithin nur vom Missbrauch der Gedanken Zarathustras zu reden ist, darf füglich bezweifelt werden. Gewiss: Es gibt den Slogan »Gelobt sei, was hart macht!«, der sich kaum anders verste­ hen lässt als im Sinne eines Hinweises auf die Notwendigkeit der unbeirrten Erforschung »aller Dinge Grund […] und Hintergrund.« (IV: 194) Aber es gibt eben auch den durchaus nicht sinnidentischen Auftrag »werdet hart!»(IV: 268), und zwar dahingehend, dass die »Tafeln« etwa der »Frommen«, der »Welt-Verleumder« (IV: 257) oder der »Welt-Müden« und »Prediger des Todes« (IV: 258) zerbrochen werden müssen, mehr als dies, was die ohnehin schon vertrackte Sache noch diskussionsbedürftiger macht (vgl. Loeb 2004: 132): Zarathustra fordert auch dazu auf, die Menschen selbst, etwa »die Guten und Gerechten« (IV: 267), zu zerbrechen. Dies klingt nicht gut, zumal wenn man die Rede Von den Predi­ gern des Todes (aus Za I) einbezieht. Zu ihrer Vorgeschichte gehört

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beispielsweise der Umstand, dass Nietzsche 1879 unter dem Einfluss des gesundheitlich bedingten Niedergangs seiner Lebensfreude gegen die ›Überflüssigen‹ zu Felde zog und sich gegen das Fortpflanzungs­ recht von »Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen« (II: 496) verwahrte. Zarathustra nimmt dieses Thema auf, und zwar als Teil einer Art Typenlehre eben jener ›Prediger‹, wobei sein besonderes Augenmerk den »Schwindsüchtigen der Seele« gilt: »[K]aum sind sie geboren, so fangen sie schon an zu sterben und sehnen sich nach Leh­ ren der Müdigkeit und Entsagung.« (IV: 55) Dies scheint mit Seiten­ blick auf Wagner gesprochen zu sein. (vgl. Borchmeyer/Salaquarde 1984: 1355) Die nachfolgende Charakterisierung hingegen gemahnt eher an Nietzsches Mutter eingedenk ihrer vielen Klagebriefe an den Sohn darüber, wie sehr sie sich nach baldiger Wiedervereinigung im Jenseits mit ihrem früh verstorbenen Mann sehnt: »Eingehüllt in dicke Schwermuth und begierig auf die kleinen Zufälle, welche den Tod bringen: so warten sie und beissen die Zähne auf einander.« (IV: 56) Zarathustras Hauptanliegen weist eindeutig in die Richtung praktischer Konsequenzen im Blick auf derlei Varianten des ›letzten Menschen‹ resp. der (vermeintlich) ›Guten‹. Dies zeigt sich schon an dem wahren Paukenschlag, mit dem diese Rede beginnt: Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von solchen, denen Abkehr gepredigt werden muss vom Leben. / Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben ist das Leben durch die Viel-zu-Vielen. Möge man sie mit dem ›ewigen Leben‹ aus diesem Leben weglocken! (IV: 55)

Dies mochte zwar auf den ersten Blick noch als paradoxe Intervention lesbar sein mit Blick auf die Lebensverleugnung, die der Jenseitsorien­ tierung des Christen anhaftet. Aber der weitere Argumentgang macht deutlich, dass es Zarathustra nicht allein um diese geht, setzt er doch ausdrücklich hinzu: Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? / Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde, – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiss ist Flucht und Wille, sich selber zu vergessen. (IV: 56)

Zumindest mit dem Nachsatz erweist sich Zarathustra als großer Psychologe, wobei es nicht unerlaubt scheint, hier Nietzsche beschrie­ ben zu sehen, der mit seiner Arbeit an eben dieser Dichtung das Ver­ gessen sucht angesichts der Lebenskrise, in die ihn zeitgleich die LouAffäre gestürzt hat, über die er Overbeck am 25. Dezember 1882

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Bericht erstattet, folgernd: »Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunst­ stück erfinde, auch aus diesem – Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren.« (6: 312) Man muss genau hinschauen, was hier passiert. (vgl. Volz 1995) ● ●

Im Brief beschreibt Nietzsche, welche Funktion das damals noch in Planung befindliche Werk angesichts der Lou-Affäre erfül­ len soll. Im Werk hingegen kritisiert Nietzsche mithilfe seines ›Spre­ chers‹ Zarathustra eben dieses »Alchemisten-Kunststück« unter den Vorzeichen der (Selbst-) »Flucht« und des »Willens, sich selber zu vergessen«.

Diese Kritik entspricht zwar ganz dem Sinn des ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches. Das Problem ist nur, dass Zara­ thustra bei dieser psychologischen Lektion nicht stehen bleibt, son­ dern, zum Schluss das Leitmotiv von Von den Predigern des Todes aufnehmend, folgert: Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. / Oder das ›ewige Leben‹: das gilt mir gleich, – wofern sie nur schnell dahinfahren! (IV: 57)

Der letzte Satz klingt fast so, als schäme sich Zarathustra für den ersten Satz. Davon bleibt unberührt, dass sich hier ein erneuter Paradigmenwechsel andeutet, diesmal weg von der ab 1878 analytisch dominierenden Psychologe hin zur Biologie – wie auch in der Rede Vom freien Tode (gleichfalls aus Za I) auffällig: Zentral an ihr ist die These: Wahrlich, zu früh starb jener Hebräer, den die Prediger des langsamen Todes ehren: und Vielen ward es seitdem zum Verhängniss, dass er zu früh starb.

Um wen es geht, wird rasch klar – »der Hebräer Jesus« –, und warum es des Tadels bedarf, dass er zu früh starb, auch: »er selbst hätte seine Lehre widerrufen, wäre er bis zu meinem Alter gekommen!« (IV: 95) Das war geradezu tollkühn argumentiert und meinte nichts anderes, als dass Gottes Sohn persönlich den Tod Gottes erklärt und die Lehre vom Übermenschen verkündet hätte – wenn man ihm nur mehr Zeit gelassen hätte, etwa jene zehn Jahre, die Zarathustra, so das Ausgangsszenario dieser Dichtung, für die Restitution seiner Vernunft benötigte. Vergleichbar tollkühn ist es, dass Zarathustra

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in eben dieser Rede zeigen will, was für die Auslegung des Todes folgt, wenn man den Tod Gottes als Herr über Leben und Tod in Rechnung stellt. Zarathustra jedenfalls lässt keck verlauten: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.« (IV: 94) Zunächst nur theoretisch geredet: So muss wohl jemand reden, der den infolge des Todes Gottes zur Disposition stehenden Verantwortungsbereich des Übermenschen als dem neuen Herrn über Leben und Tod durchmessen will. Aber: Redet so möglicherweise auch jemand, der, wie Nietzsche persönlich zu jener Zeit, den ›freien Tod‹ als Option für sich ins Kalkül zieht, der Lou-Affäre wegen, aber womöglich auch seiner Syphilis­ diagnose halber, die durch jene Affäre und die durch sie virulent werdende Panik, im Fall der Fälle gar nicht ehetauglich gesprochen zu werden? Ganz ausschließen können wir jedenfalls nicht, dass dies der geheime Hintersinn für Zarathustras Aufforderung ist: »Stirb zur rechten Zeit« und die ihr nachfolgende Erläuterung: »[W]er nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen.« (IV: 93) Deutlicher und nochmals gefragt: Geht es nur um diese persönliche Tragik Nietzsches? Oder ist eine Deutung am Platz, die Zarathustra und damit Nietzsche schuldig spricht des fatalen Gedankens einer Trennbarkeit der Menschen in notwendige und ›überflüssige‹, den Lebenssinn verfehlende, um nicht zu sagen: ›lebensunwerte‹ Men­ schen? Oder wäre dies zu einseitig aus post-nationalsozialistischer Perspektive gedeutet und zu unbesorgt um Nietzsches Hölderlin-Lek­ türe (vgl. Vivarelli 1989: 530), auch um die Leitbilder der stoischen Philosophie, denen Nietzsche sich verpflichtet fühlte (vgl. Vivarelli 2001: 80)? Einen Weg zur Antwort weist die Rede Der Wahrsager (aus Za II). Der hier favorisierte Interpretationsversuch nimmt seinen Ausgangspunkt von Dieter Thomäs sehr instruktivem Beitrag zur Vergleichbarkeit von Baudelaires Flaneur und Nietzsches Wanderer und der Bedeutung beider Figuren für ein Philosophieverständnis, das sich nicht dem »Kult der geschlossenen Form« beugt, »sondern als Gratwanderung zwischen Form und Leben […], als Experimen­ tieren mit Sichtweisen und Lesarten« (Thomä 2018 155) anzulegen sei. Diese kluge und wichtige Beobachtung wird leider etwas um die ihr eigene Brisanz gebracht im Blick auf die spezifischen ›Expe­ rimente‹ beider in puncto des von Thomä via Nietzsche zitierten »Aufsuchens alles Fremden und Fragwürdigem im Dasein« VI: 155),

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insofern Thomä gleich einleitend bei der Aufzählung der Gemein­ samkeiten zwischen Nietzsche und Baudelaire zwar auch des Umstan­ des gedenkt, dass »[e]ine Krankheit […] schließlich beide um den Verstand [bringt]« (Thomä 2018: 137), leider aber nicht erwähnt, um welche Krankheit es sich genau handelt. Dadurch enträt Thomä beispielsweise zentraler Optionen für eine angemessene Nietzscheresp. Zarathustra-Deutung. Ein Beispiel: Es gibt gute Gründe für die Annahme, das Gedicht Les Métamorphoses du Vampire aus Baudelai­ res 1857er Gedichtsammlung habe Zarathustras Rede Der Wahrsager inspiriert, insofern in Baudelaires Gedicht ein »Kinderlachen« eine zentrale Rolle spielt, als ultimativ verführendes Zeichen einer Dirne, die sich indes nach mit Bissen vollzogenem Liebesakt (vgl. Schonlau 2005: 199) als »Schlauch« erweist, »mit verklebten Flanken, ganz von Eiter angefüllt!« (Baudelaire, SWB, Bd. 4: 31) und das insofern den Alptraum eines Syphilitikers resp. Syphilophoben namens Bau­ delaire repräsentieren könnte. Dies vorausgesetzt, des Weiteren, dass Nietzsche speziell dieses Gedicht kannte (vgl. Krause 2017: 405), scheint mir durchaus auffällig, dass auch in Der Wahrsager gleich­ falls ›Kinderlachen‹, mehr als dies: »tausendfältiges Kindsgelächter« (IV: 175) eine Rolle spielt, als Teil eines fürwahr überaus komplex verschachtelten Traumgeschehens. Wichtig dabei und zentral für eine angemessene Deutung, gleichwohl bei neueren Interpretationsversu­ chen (vgl. Kerkmann 2017) ignoriert: Nietzsche nimmt in dieser Erzählung Motive aus einem Traum auf, den er im Sommer 1877 gehabt haben will und über den er damals seinem Freund Reinhart v. Seydlitz berichtete, der 1900 darüber das Folgende zu Protokoll gab: Nietzsche erzählte lachend, er habe im Traum einen endlosen Bergpfad hinauf steigen müssen; ganz oben, unter der Spitze des Berges, habe er an einer Höhle vorbei gehen wollen, als aus der finstern Tiefe ihm eine Stimme zurief: ›Alpa, Alpa – wer trägt seine Asche zu Berge? (XIV: 306)

In der insoweit als Traumdichtung anzusprechenden Rede Der Wahr­ sager begegnet einem dieser Traumrest in der Szene nach einem tiefen, mehrere Tage und Nächte währenden Schlaf Zarathustras. Als er wach wird, berichtet er seinen Jüngern von einem schrecklichen Traum, den er gehabt habe und den er sie zu deuten bittet. Inhalt des Traums ist, dass Zarathustra allem Leben »abgesagt« habe und »zum Nacht- und Grabwächter […] auf der einsamen Berg-Burg des Todes« (IV: 173) geworden sei, um eines Nachts, geweckt durch ein dreifaches Klopfen,

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zum Tor zu gehen und zu rufen: »Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge!« Neu – im Vergleich zur 1877 er Traumnacherzählung Nietzsches – ist die Pointe, die Zarathustra nachträgt: Ein »brausender Wind« habe ihm einen »schwarzen Sarg« zugeworfen, der zerbarst und »tausendfältiges Gelächter« ausspie, mehr als dies: Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen lachte und höhnte und brauste es wider mich. (IV: 174)

Von Baudelaire ausgehend, will es fast scheinen, als variiere Nietzsche hier als Autor des Zarathustra das Thema Metamorphose, nun über den eigentlichen Liebesakt mit einer Dirne hinausweisend, konzen­ triert auf die neun Monate später zutage tretenden (unerwünschten) Folgen. Damit gewinnt der 1877er Traumrest neue Bedeutung, inso­ fern er auf den Beginn aller Handlungen mit derartigem Ausgang, also den Zeugungsakt, anzuspielen scheint. Denn zentral an diesem Traumrest ist das Bild eines »einen endlosen Bergpfad« hinaufstei­ genden Nietzsche, kurz und psychoanalytisch gesprochen: das Steige­ motiv mit nachfolgender Atemlosigkeit, was, mit dem frühen Freud der Traumdeutung (1900) geredet, als »symbolische Darstellung des Geschlechtsaktes« (GW II/III: 360) resp. als »Koitussymbol« (GW VIII: 106) gelesen werden darf, also auf geschlechtliche Vereini­ gung abstellt und damit auch auf Zeugung. Welche ›Tagesreste‹ aber kommen in Betracht, die im Sommer 1877 Nietzsche zu derartigen Träumen hätten veranlasst haben können? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht schwer, eingedenk der damals in Aussicht stehenden und in der Nietzsche- wie Wagnerfor­ schung von jeher vielbeachteten, im Vorhergehenden bereits ange­ sprochenen Sprechstunde Nietzsche bei Otto Eiser im Oktober 1877. Die Ausgangsfrage war damals durch die im Wagnerkreis vielfach dis­ kutierte Frage gegeben, was es genau mit Nietzsches Ehelosigkeit, der eines doch immerhin ziemlich in die Jahre gekommenen Junggesellen, auf sich habe. Anfragen wie diese unterlagen dem damals gängigen ärztlichen Verständnis zufolge noch dem zumal von Alfred Fournier verfochtenen, schon zu Beginn von Kapitel I angeführten Dogma: Wer syphilitisch gewesen ist, muss Junggeselle bleiben. (Fournier 1881: 11)

Kurz: Nietzsche musste damit rechnen, von Dr. Eiser nach seinem Vorleben gefragt zu werden, deutlicher: nach der möglichen tödlichen

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Fracht, die er in sich barg und die sich als gefährlich erwies im Blick auf die damals in der Regel als keusch gesetzte ins Auge gefasste Braut, aber auch im Blick auf die zu erwartenden und im gegebenen Fall erbsyphilitisch bedrohten Nachkommen sowie ggfs. des Personals, etwa einer Amme. Details bezüglich dieses Sprechstundenbesuchs interessieren an dieser Stelle nicht, wir beschränken uns auf den Zwischenbefund, in Gestalt einer zweigeteilten These: Erstens: Nietz­ sches Traum vom Sommer 1877 könnte sich aus der Sorge vor jenem Sprechstundenverlauf herleiten. Zweitens: Die Wiederaufnahme des Traumrestes und die Nachbearbeitung desselben in Der Wahrsager könnte sich erklären mit dem Tod Wagners im Februar 1883, also kurz bevor Zarathustra II im Juli 1883 zu Papier gebracht wurde, insofern dieser Tod, wie gezeigt, die Rückerinnerung Nietzsches an jene Sprechstunde freigesetzt hat. Was man Eiser im Blick auf diese anlasten muss, ist der Umstand, dass ihm Zweifel in Sachen der Glaubwürdigkeit seines prominenten Patienten offenbar fremd waren, und dies trotz des Umstandes, dass Nietzsche sich zum Heira­ ten »entschieden geneigt« gezeigt habe, was bei einem »›eingefleisch­ ten Onanisten‹«, so Eiser in Rückerinnerung an Wagners These, »befremden müßte« (Volz 1990: 346) – eine Nebenspur, die Eiser jene von Fournier gewiesene Hauptspur vergessen lässt, niemals einem Heiratswilligen einfach so zu trauen. Schauen wir uns, von dieser Erwägung ausgehend, den Schluss von Der Wahrsager etwas genauer an. Die zentrale Botschaft wird hier durch den Jünger transportiert, den Zarathustra »am meisten lieb hatte« und der schlicht für ausgemacht hält, dass dieser Traum Zarathustras Leben deute, denn: Bist du nicht selber der Wind mit schrillem Pfeifen, der den Burgen des Todes die Thore aufreißt? / Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen des Lebens? (IV: 174 f.)

Dies klingt hart – rückt aber die Perspektive wieder zurecht: Zarathus­ tra muss dem Leben die ›Engelsfratze‹ zeigen, er muss als Kritiker seine ›Bosheiten‹ unter das Volk bringen, wenn er die Metamorphose des vermeintlichen, tatsächlich aber untoten Lebens hin zu einem wirklichen, vollen Leben bewirken will. Insoweit liest Zarathustras Lieblingsjünger den Traum als Spiegel für die zwar schreckliche, gleichwohl aber notwendige Aufgabe Zarathustras – und schöpft daraus eine neue, aufmunternde Botschaft:

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Nun wird immer Kindes-Lachen aus Särgen quellen; nun wird immer siegreich ein starker Wind kommen aller Todesmüdigkeit: dessen bist du uns selber Bürge und Wahrsager! (IV: 175)

Dies klingt noch immer unkonkret – dies aber nur, solange man Zarathustras Rede Der Wahrsager nicht im Zusammenhang liest mit den vorgenannten beiden Von den Predigern des Todes sowie Vom freien Tode, in welchen jene Todesmüdigkeit präludiert wird, die auch in der Rede Vom Gesicht und Räthsel (aus Za III) dominiert. Zarathustras hier im Zentrum stehende Rätsel-Erzählung mit dem Titel »das Gesicht des Einsamsten« (IV: 197) hat zum Inhalt, dass er »jüngst durch leichenfarbene Dämmerung« aufwärts ging, »dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrundwärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde«, schlimmer noch: »Auf­ wärts: — obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufelnd.« Gesetzt, was hier gesetzt wird: nämlich dass Nietzsche sich zu jener Zeit seiner Syphilisinfektion und der ihr innewohnenden ›Krankheit zum Tode‹ inne war, darf man das Ganze fast lesen als Krankheitsnebenwirkungsprotokoll – und mutmaßen, dass Nietzsche kein Interesse daran haben konnte, diese Spur aufzudecken und den Hintergrund der Warnung vor Hybris, die Zarathustra, dieser »Stein der Weisheit«, in das Bild kleidet, dass er sich selber zu hoch warf und nun verurteilt sei »zur eigenen Steinigung«, denn: »weit warfst du ja den Stein – aber auf dich wird er zurückfallen!« (IV: 198) Dieser Art Selbsttherapie gehören krankheitsbezogene Mutmacherformeln zu vom Typ »Gelobt sei, was hart macht!« (IV: 197), gerichtet auch gegen den Wiederkunftsgedanken als eines solchen, den ein Kranker im Gegensatz zu einem Gesunden nicht ertragen könne. Als Szenario zum Test dieser These kreiiert Zarathustra einen Torweg, an dem zwei Wege zusammenkommen, die »noch Niemand zu Ende [gieng]«, was im Übrigen jeweils eine »Ewigkeit« (IV: 199) dauern würde, und er versucht hier den ›Zwerg‹ zu zerbrechen, indem er einer Lehre das Wort redet, »stark genug« – so Nietzsche in einem Nachlassvermerk vom Frühjahr 1884 – »um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden.« (XI: 69) ›Weltmüde‹ meint hier beide: Nietzsche, den Syphilitiker, aber auch den ›Zwerg‹, seinen Antipoden und Repräsentanten des ›Geistes der Schwere‹. Dieser ›Zwerg‹ gibt sich indes noch ganz selbstsicher, als sei er der Urheber der auf Kreisförmigkeit abstellenden Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen:

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›Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.‹ (IV: 200)

Plötzlich aber ist er nicht mehr da, ebenso wie der Torweg. Zeit und Raum beginnen sich aufzuheben, und Zarathustra realisiert, wie einsam es plötzlich um ihn ist, auf der Höhe dieses seines Wissens: »Zwischen wilden Klippen stand ich mit Einem Male, allein, öde, im ödesten Mondscheine.« Diese Klage – man muss es an sich nicht gesondert betonen – verrät etwas von der Verzweiflung des zu Tode Erkrankten eingerechnet Nietzsche und klingt zugleich nach jener Larmoyanz, die für Nietzsche typisch ist in Briefen an Freunde während des Schreibens des Zarathustra. Aber: Auf der gleichsam hellen Seite dieser Verzweiflung rührt sich noch ein kaum verhüllter Bindungswunsch, etwa der hoffnungsstarke Folgesatz: »Aber da lag ein Mensch!« Was allerdings liegt dort tatsächlich? Zarathustra wird angelockt durch einen heulenden Hund, der eine Erinnerung an »fernste Kind­ heit« (IV: 202) bei ihm freisetzt, deutlicher und mit Wiebrecht Ries (2012: 96 f.) gefolgert: der an einen Traum Nietzsches (als Vierzehn­ jährigen) über den Tod seines kleinen Brüderchens (vgl. Niemeyer 2020: 197 ff.) erinnert. Damit aber, deutlicher: in der Linie dieser bei­ spielsweise von Elisabeth Flucher (2020: 124 f.) bei ihrer Deutung nicht berücksichtigten Spur, liegt es nahe, in jenem schließlich als Hirten identifizierten dort Liegenden Nietzsche selbst auszumachen, offenbar befangen in einem epileptischen Anfall als Begleitphänomen des der Syphilis des Vaters geschuldeten und auch für Nietzsches Bruders sich als toxisch erweisenden vergifteten Erbes. Denn wir lesen: Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, ver­ zerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng.

Zarathustra vermutet, die Schlange sei dem Hirten im Schlafe in den Schlund gekrochen – »da biss sie sich fest.« (IV: 201) Und er macht daraus sofort ein Gleichnis, indem er seinen Zuhörern zwei Fragen stellt: »Wer ist der Hirte, dem also die Schlange in den Schlund kroch? Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?« (IV: 202) Eine (mögliche) Antwort haben wir schon angedeutet: Der Name des Hirten lautet auf Nietzsche, sein Vorname auf Friedrich oder Joseph.

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Eine andere, weniger konkretistische Antwort rückt die gerollte ›Schlange‹ ins Zentrum, betont, dass sie »traditionell als Symbol der ewigen Wiederkunft« gilt, entrollt aber und gestreckt »beisst sie den Hirten in den Rachen, also in den Teil des Leibes, aus dem das Reden kommt. Der Hirte, der christliche Seelenhüter (pastor), wird von einer entrollten, einer nicht wiederkünftig gedachten Zeit angegriffen, einer Zeit der Geschichte oder des linearen Verlaufs, die wie das Christen­ tum selbst auf das Jenseits und dessen Zeitlosigkeit hin orientiert ist.« (Naumann 2001: 50) Von hier aus betrachtet lässt sich die von Zarathustra gestellte Frage, wer der ›Hirte‹ sei und wer der ›Mensch‹, dahingehend beantworten, dass es sich um uns alle handelt. Jedenfalls sofern wir nicht der christlichen Jenseitsorientierung entsagen und im Nachgang zu Zarathustras Ratschlag »Beiss zu! Beiss zu!« (IV: 201) den Mut aufbringen, den Kopf der ›Schlange‹ abzubeißen, namens – so könnte man nun vielleicht noch hinzusetzen, unter Einbau der erstgenannten Antwort – aller Syphilitiker dieser Welt, die mit ihrer Geschlechtskrankheit den Preis entrichten wider alle Vernunft leibwie liebesfeindliches Christentum. Von hier aus wird der nun auch der Mollton nachvollziehbar, in welchem Das Nachtwandler-Lied (aus Za IV) gehalten ist. Es wird in der Nietzscheforschung verbreitet als »befremdlich« (Stegmaier 2016: 425) wahrgenommen oder gar dem Genre der »Phantastik« (Zittel 2015: 148) zugerechnet, jedenfalls nicht im Lichte des Deu­ tungsversuchs gelesen, den Joachim Köhler (1989: 589 f.) vor nun immerhin schon über dreißig Jahren vorgelegt hat. Und schon gar nicht wird es mit Nietzsches Syphilis in Verbindung gebracht, obgleich das Textangebot dadurch erheblich an ihm üblicherweise attribuierter Schwerverständlichkeit verlöre. Wichtige Verständnishilfen ergibt auch eine kontextuelle Interpretation (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.), etwa ausgehend von Das andere Tanzlied (aus Za III) und der schon in ihm gegebenen düsteren Mahnung: »Oh Mensch! Gieb Acht!« (IV: 285) Wie ernst es Nietzsche mit dieser Warnung war, zeigt die fol­ gende Klage Nietzsches aus seinem Brief an Franz Overbeck vom 14. September 1884. Nietzsche schreibt: Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahre alt werden und alle seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen! (6: 531)

Diese Klage nährt sich aus Nietzsches Ärger über das gänzliche Unverständnis Heinrich von Steins, 1879/80 als Erzieher Siegfried

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Wagners Nietzsches Nachfolger in Wagners Gunst. Stein, so Nietz­ sche im Rückblick auf dessen Besuch in Sils-Maria, sei von Das andere Tanzlied »aufs Tiefste ergriffen« gewesen, habe es auch »aus­ wendig gelernt« (6: 531) – aber ihm mangelte offenkundig jegliches Verständnisses für den Inhalt. Insonderheit das Verständnis für die folgenden Zeilen, auch bekannt (und zweitverwertet) als »Zarathus­ tra’s Rundgesang« IV: 403) und bestehend aus den folgenden Versen, die jeweils durch eine vorangestellte, die Glockenschläge von Eins bis Zwölf symbolisierende Zahl getrennt sind (was hier nur unvollständig nachgebildet werden kann und soll): Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? ›Ich schlief, ich schlief –, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –, Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –. – will tiefe, tiefe Ewigkeit! (IV: 285 f.)

Nietzsche, seinen Tadel an dem von ihm an sich sehr geschätzten Freiherren in jenem Brief an Overbeck weiterführend und den Kern dieses Liedes ansprechend: »Wer nämlich bei den Heiterkeiten des Zarathustra’s nicht Thränen vergießen muß, der gilt mir als noch ganz fern von meiner Welt, von mir.« (6: 531) Warum Stein hätte weinen statt bewundern sollen, stellt die von Resa von Schirnhofer überlie­ ferte Reaktion auf ihre Nietzsche offenbar nicht befriedigende Lesung des nämlichen Liedes angesichts ihres Besuchs in Nizza vom April 1884 klar. Nietzsche, so Schirnhofer in ihren Erinnerungen, habe ihrer Lesung »mit feierlich veränderter Stimme« zugehört, um sich nach der letzten Zeile (»Zwölf!«) zu erheben und zu verabschieden, »und als wir bei der Türe standen, veränderten sich plötzlich seine Züge« und gewann einen »starren Ausdruck.« (zit. n. Lohberger 1969: 484) Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, wenn man bedenkt, dass Das Nachtwandler-Lied die düstere Mahnung »Oh Mensch, gieb Acht!« (IV: 404) aus Das andere Tanzlied wieder aufnimmt – und damit endgültig transparent macht. Das Leitmotiv dabei: »Wer soll der Erde Herr sein?« (IV: 299) – eine Frage, die klar beantwortet wird:

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Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten, Stärks­ ten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag.

Und die anderen, die Nicht-Mitternachts-Seelen? Ihnen droht Unge­ mach, wie die Zeilen offenbaren: Es quillt heimlich ein Geruch herauf, – / – ein Duft und Geruch der Ewigkeit [...] / – von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, welches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht!(IV: 400)

Es wäre wohl noch zurückhaltend geurteilt, wenn man dies einen beklemmenden Denkansatz hieße, einen Denkansatz, der charakte­ risiert ist durch ein Zugleich von nach-christlichem Wiederauferste­ hungsphantasma und Neuschöpfungsmythos in einer Ordnung der Dinge ohne Gott und mithin ohne das fünfte der Zehn Gebote, das ›Tötungsverbot‹. Insofern: Ja, was Zarathustra hier offeriert, kann durchaus als Durchbruch der Thematik einer zukünftig zu sichernden »Erdregierung« (Stegmaier 2016: 442) verbucht werden. Nur muss, wer dies so sieht, wohl erst noch lernen, diesen Durchbruch kausal im Biographischen zu verorten – wie dies Joachim Köhler angedeutet hat: Für ihn klingt die Erinnerung durch an Nietzsches »Vater am Klavier« (Köhler 1989: 601) angesichts von Zeilen wie: Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen Unken-Ton! – wie lange her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen der Liebe! / Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss dir in’s Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväterschmerz, deine Rede wurde reif, – (IV: 399)

Reif wozu? Der Fortgang der Rede duldet keinen Zweifel, wir kennen ihn bereits (»Ihr höheren Menschen, riecht ihr’s nicht? Es quillt heimlich ein Geruch herauf […] – von trunkenem Mitternachts-Ster­ beglücke«) – und können nun folgern, dass sie ganz fern sind, jene »Teiche der Liebe«, die Köhler problemlos als »Fischteiche« (Köhler 1989: 601) rund um das Pfarrhaus in Röcken identifizierte, damit andeutend, dass Nietzsche à la Zarathustra anspielt auf eine Tragödie, die eben hier, im heimeligen Hort des immerhin schon seit Urväter­ zeiten wirksamen lokalen Protestantismus, ihren Ausgang nahm und im Sohn, lebens- wie liebesfeindlich erzogen und jedenfalls ohne jede (sexuelle) Aufklärung, aufbricht: in Gestalt seiner Syphilis. Damit können wir nahtlos übergehen zur Rede Unter Töchtern der Wüste (gleichfalls aus Za IV). An ihr ist vor allem der zweite Teil auffällig, ein vom Wanderer und Schatten »mit einer Art Gebrüll« (IV:

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380) – wie dem eines Löwen, eines »moralischen Brüllaffen« (IV: 381) – gesungenes Lied halb-pornographischen Charakters mit Zeilen wie: Da sitze ich nun, / in dieser kleinen Oasis, Einer Dattel gleich, Braun, durchsüsst, goldschwürig, lüstern / Nach einem runden Mädchen­ munde (IV: 382)

aber auch mit Durchsagen wie: »Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, / So sitze ich hier, ihr / Allerliebsten Freundinnen« (IV: 382) – Sätze, die beunruhigen müssen, nachdem Zarathustra über immerhin drei Teile seines Buches hinweg den Eindruck erweckte, nichts müsse nach dem Tod Gottes jedem einzelnen Menschen dringlicher sein als die Lehre vom Übermenschen in Gestalt des überzeugend begründe­ ten Regimes über sich selbst, also auch über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und nun sitzt ein Häufchen Elend unter Töchtern der Wüste und gibt einen Satz von sich, der, gesprochen auf einer Couch in Wien in der Berggasse 19, fraglos für große Unruhe sorgen würde wg. der sich in ihm, in entstellter Form, bekundenden suizidalen Tendenzen. Um diesen auf die Spur zu kommen, liegt es allererst nahe, das Lied Unter Töchtern der Wüste als Nietzsches »Generalbeichte in eroticis« (Brann 1931: 132) zu lesen, exemplarisch: die Vokabel »Flitter« im Ausdruck »Ihres allerliebsten, allerzierlichsten Flatterund Flitterröckchens« (IV: 383 als Indiz zu nehmen für die Triftigkeit von Paul Deussens Bordellgeschichte. Erwähnt sei auch Joachim Köhler (1989: 589), der die Textzeile »Da fiel ich hinein« (IV: 381) im Sinne von »Da bin ich auf sie hereingefallen« deutete und dabei (ebenfalls) an Nietzsche als syphilisgeschädigten Freier dachte. Nicht ausgeschlossen scheint mir auch (vgl. Niemeyer 2018), einen Bezug zu sehen zu Nietzsches nicht erwidertem Begehren im Fall seiner großen Liebe Lou von Salomé. »Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, so sitze ich hier« würde dann bedeuten: Nun, wo mir, Friedrich Nietzsche, die große Liebe meines Lebens durch Mutter wie Schwester verleidet wurde, bin ich wieder allein und bleibe zukünftig allein. Auslegungstendenzen wie diesen suchte Nietzsches Schwester vorzubeugen, indem sie behauptete (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 538), ihr Bruder habe im Herbst 1884 mit ihr zusammen in Zürich Ferdinand Freiligraths Gedichte erstanden und sei aus Übermut auf die Idee verfallen, den Stil des damaligen Erfolgsdichters zu parodie­ ren – eine, wie andernorts (vgl. Niemeyer 2020: 262) gezeigt, Nebel­ kerze. Die im Übrigen den Schlusssatz »Die Wüste wächst: weh dem,

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der Wüsten birgt!« (IV: 385) ins Dunkle hüllt. Denn er meint durchaus mehr als nur die Wüste »als Zustand im Ich« (Kaiser 1986: 211) – wie die Variante dieser Schlusszeilen zeigt, die Nietzsche einige Monate später in den Dionysos-Dithyramben darbieten wird und die den Rück­ schluss erlaubt, Nietzsche habe jene Wüste im Kopf gehabt, welche sich der unbedachten Wollust verdankt, als Effekt einer Geschlechts­ krankheit, an welcher er litt. (vgl. Niemeyer 2022: 203 ff.) Unheimlich dabei und nicht selten bei der Zarathustra-Interpre­ tation übersehen, naturgemäß natürlich von jenen, die Za IV als Appendix meinten lesen zu dürfen zum Thema, wie konsequent Nietzsche die Lektion aus seinem »beschädigten Leben« in eine Mär für alle transferiert, ist die allerletzte Rede namens Das Zeichen. Sie als ›verkitschtes Ende‹ zu tadeln, bei welchem Zarathustra »auf seine Kinder wartet« (Zittel 2000: 159), steht für eine arge Banalisie­ rung, bei der unbeachtet bleibt, dass Zarathustra sich hier als Kind kommen sieht und insoweit seine gelungene Selbsterziehung zum Übermenschen beglaubigt. (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 438) Aber wich­ tiger im hier interessierenden Zusammenhang ist die andere Seite dieser Medaille: Die über Seiten hinweg mit dem Versprechen her­ beigelockten »höheren Menschen«, ihnen würde jetzt Zarathustras Wohlwollen zuteil und der Titel ›Übermensch‹ verliehen, werden schlicht davongejagt, begleitet vom Bannruf Zarathustras: ›Mitleiden! Das Mitleiden mit dem höheren Menschen! schrie er auf, und sein Antlitz verwandelte sich in Erz. Wohlan! Das – hatte seine Zeit!‹ (IV: 408)

›Das‹ meint eigentlich ›er‹, nämlich: den Wiederkunftsgedanken, dem das Mitleid für alles und jede resp. jeden eingeschrieben ist. Heißt: Die zentrale Begründungsidee des ganzen Za ist mit Das Zeichen nicht mehr. Ihre für einen Kranken wie Nietzsche fraglos schreckliche und schon für einen Gesunden schwer verdauliche Vorstellung, alles kehre wieder und der heutige Tag gleiche dem gestrigen wie ein Ei dem anderen, hat ihr den sukzessiven Garaus eingetragen, nebst des in Vom Gesindel (Za II) vorgetragenen Zweifels ob des Sinns der ewigen Wiederkehr von Nietzsches Schwester wie Mutter und ob des darauf bezüglichen Gejammers: »›Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch‹ – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen.« (IV: 274) Die Vergangenheitsform zeigt es an und der Titel dieser Rede (Der Genesene) gleichfalls: Zarathustra resp. Nietzsche, spätestens in

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Za IV genesen, jagt, wie gesehen, den Wiederkunftsgedanken und die ihm Ausgelieferten oder Verfallenen davon. Und mit ihm Lesarten wie jene, mit Za IV seien die mit Zarathustra »verbundenen Umwertungs­ versuche, Vermittlungsversuche und Lehrerfahrungen […] als endlos ausgewiesen.« (Müller 2020: 77) Das Gegenteil scheint mir triftig und insoweit die Vokabel »endlich« zu rechtfertigen: Zarathustra resp. Nietzsche ersetzt mit Das Zeichen die Vorstellung der Zyklizität der Zeit durch den Gedanken des Fortschritts und der schließlich erreichbaren Vollkommenheit – eigentlich eine attraktive Idee, drohte in ihrer Linie nicht das Ende für alle Nicht-Vollkommenen, mit Das Nachtwandler-Lied gesprochen: für alle »Nicht-MitternachtsSeelen«. Und eben dies erklärt die Euthanasie-Nähe von Nietzsches Zarathustra-Programm. Um dessen Problematik Nietzsche durchaus wusste, wie sein oben schon beigezogener Briefentwurf von Mitte März 1885 an Heinrich von Stein andeutet, insbesondere die Bemer­ kung: Im Übrigen – unter uns gesprochen – habe ich Gründe vorsichtig zu sein und Schritt für Schritt zu thun. Schon diesen 4ten Z habe ich nicht mehr der Öffentlichkeit anvertraut. (7: 127)

Daraus folgt mitnichten eine Rechtfertigung für alle jene, die, wie es die Planungen für Band 11 der von Rüdiger Schmidt-Grépaly verant­ worteten Edition Friedrich Nietzsche – Werke Letzter Hand vorsehen, Za IV aus zukünftigen Editionsprojekten ausschließen wollen, im Gegenteil: Die von Heinrich Meier (2017: 162) zusammengestellten Argumente, Za IV mit Nietzsche für unverzichtbar zu erklären, sind überzeugend – was nicht ausschließt, dass Nietzsche gute Gründe hatte für seine im eben beigezogenen Brief ausgedrückte Vorsicht. Meint zugleich: Sollten wir Heutigen diesen Gründen durch unsere Editionspraxis Absolution erteilen, wäre die Verdunkelungspraxis Nietzsches heiliggesprochen. Welcher er übrigens seinerseits ein Stück weit zuwiderhandelte mit den Dionysos-Dithyramben (1888/89), speziell mit deren Nr. 2: Unter dem Titel Unter Töchtern der Wüste wiederholte Nietzsche hier gut drei Jahre später, unmittelbar an der Schwelle stehend zu seinem den Beginn des tertiären Stadiums seiner Syphiliserkrankung signa­ lisierenden geistigen Zusammenbruchs in Turin im Januar 1889, den gleichnamigen Abschnitt aus Zarathustra IV, mit einer bemerkens­ werten Veränderung: Der Schlusssatz lautet nicht mehr »Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!« (IV: 385), er wird vielmehr

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degradiert mittels Verzicht auf Sperrung sowie Ergänzung um drei weitere Zeilen (»Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. / Der ungeheure Tod blickt glühend braun / und kaut, – sein Leben ist sein Kaun…«), ehe dann als neuer Schlusssatz folgt: »Vergiss nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht: du – bist der Stein, die Wüste, bist der Tod…»(VI: 387) Diese Variante verrät deutlicher als die ZaUrvariante eine Ahnung um den Tod als Strafe für Wollust und, aus ihr folgernd, für ein reumütiges Votum gegen (außerehelichen) Sex oder gegen Prostitution und Sexualdevianz aller Art. Sie steht aller­ dings nicht – was ja in Nietzsches Situation auch denkbar gewesen wäre – für ein Plädoyer für Keuschheit und Enthaltsamkeit, gar für eine gottgefällig geordnete Heterosexualität allein in Zeugungsab­ sicht. Vielmehr geht es Nietzsche – zugegebenermaßen: eine recht steile These, die allerdings nicht als Dogma verkündet, sondern, als falsifizierbare, zur Diskussion gestellt werden soll, – um so etwas wie eine durch das Wissen um die Tücken der ansteckenden Geschlechts­ krankheit Syphilis getragene Forderung, endlich qua Forschung zum Wissen zu kommen in Sache der sexuellen Frage, damit Wege begeh­ bar werden für eine offene und von Ängsten freie Sexualität und auf jene dunklen Alternativen in Sachen Zeugung und Ehetauglichkeit verzichtet werden kann, für die der Zarathustra mancherlei Anregung gab. Wer Nietzsches Satz »Vergiss nicht Mensch…« anders läse, etwa als Plädoyer für christlich-bürgerliche Sexualmoral, hätte, so will mir scheinen, nichts von Nietzsche verstanden, nichts von seinem Leben, nichts von seinem Werk, insbesondere nicht das von ihm zu jener Zeit aufgesetzte Gesetz wider das Christenthum: Radikaler als in ihm ist vor Freud nirgends und von keinem für sexuelle Aufklärung und sexuelle Befreiung gestritten worden, und zwar in einem Akt der grundlegenden Rebellion gegen die dem Christentum eigene Leib­ feindlichkeit (ein Gesichtspunkt, der bei Freud eher eine Nebenrolle spielte), ohne dass ihn dies davor bewahrt hätte, in Also sprach Zara­ thustra eine biopolitische Option zu skizzieren, die schlicht indisku­ tabel ist. Und da man ja am Ende auf den Anfang schauen soll: Die vor­ getragene Deutung ist zu lesen als eine unter Geltung der Syphilis­ diagnose – und sie mag vielleicht gelten als Vorschein jener »blühen­ den Landschaft« der Nietzscheforschung, die in Aussicht steht, wenn man sich Analysen dieser Art als fortgeschrieben denkt bezogen auf andere Werke, aber auch Briefe Nietzsches. Als aussichtsreiche Kan­ didaten gelten hier jene Texte, die Nietzsche als Jugendlicher im Rück­

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blick auf den rätselhaften Tod seines Vaters als auch seines kleinen Brüderchens verfasst hat, aber natürlich auch jene Werke, die Nietz­ sche vom mutmaßlichen Zeitpunkt des Evidentwerdens jener Dia­ gnose an geschrieben hat, also angefangen von Menschliches, Allzu­ menschliches (1878) und endend mit Ecce homo (1888/89). (vgl. Niemeyer 2022: 154 ff.) Für die Belange der New School interessanter schien dem Verfasser aber vor allem die hier neu in Augenschein genommene Dichtung, zu der er sich in monografischer Form und weit entfernt von der Syphilisfrage erstmals 2007 geäußert hatte.

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10 »Ich kenne mein Loos« Warum Nietzsches Schwester nichts wissen wollte vom ersten Ecce homo vom April 1888 sowie vom zweiten, 1908 aber eine Version absegnete, deren euthanasienahen Schluss sie ebenso unangetastet ließ wie dies die Old School bis heute tut

Zur Vorgeschichte dieses recht komplexen Kapitels gehört ein Brief Nietzsches vom 31. März 1888 an seine Schwester in Paraguay von Nizza aus, in welchem er von »düsteren Wochen« berichtet, wo er »wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß«, ehe dann etwas Positives folgt, etwa: Auch erleichtert es mich, meine ›Litteratur‹ abgethan zu haben: ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keine Meisterwerke im Zustand der décadence: das gienge gegen die Naturgeschichte! (8: 282)

Auffällig an diesem Brief (vgl. auch Niemeyer 2019: 138 ff.) ist zunächst einmal seine Editionsgeschichte, deutlicher: seine NichtEdition durch die Briefempfängerin, als diese zwanzig Jahre später als Nachlassverwalterin Nietzsches daran ging, in zwei Bänden Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester (1909) auf den Markt zu werfen. Kaum weniger auffällig: Die Nicht-Beachtung dieser NichtEdition durch den Förster-Nietzsche-Biographen Ulrich Sieg (2019), aber auch, noch gravierender, durch Rüdiger Schmidt-Grépály in des­ sen Teiledition Das Eine bin ich, das Andre sind meine Briefe. Nietzsches Werk im Spiegel seiner Briefe (2018): Nietzsches Schwester sei »die Einzige, die von Nietzsche mitgeteilt bekommt, dass er an seinem ›Hauptwerk‹ arbeitet, dem Willen zur Macht« (Schmidt-Grépály 2018: 234 f.), lesen wir hier, nicht aber, was in der Line jenes Briefes vom 31. März 1888 nahegelegen hätte, nämlich dass sie die Einzige war, die von ihm mitgeteilt bekam, dass er die Arbeit an seinem ›Hauptwerk‹ eingestellt hatte.

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Heißt? Nun in meiner Lesart vom Typ New School heißt dies kaum mehr als dass unser vorgenannter Förster-Nietzsche-Biograph in eklatanter Hinsicht versagt hat (vgl. Niemeyer 2019c); und dass uns in Schmidt-Grépály als der zentralen Figur der von Karl Lagerfeld gesponserten, im eigenen Verlag (L.S.D. = Lagerfeld-Steidl-Druck) in Göttingen seit vielen Jahren in Aussicht gestellten 19-bändigen Edi­ tion Friedrich Nietzsche – Werke letzter Hand (plus drei Bände Sup­ plement) eine Art Wiedergänger der Förster-Nietzsche ins Hans ste­ hen könnte.48 Und wem dies zu streng geurteilt ist, vielleicht, weil er noch der Aufklärung bedarf in Sachen des in Rede stehenden Briefes vom 31. März 1888, deutlicher: Wer noch nicht recht verstanden hat, warum Nietzsches Schwester diesen Brief unterschlug, dem sei meine andernorts (vgl. Niemeyer 2017: 289 ff.) ausführlich begründete Ant­ wort auf diese Frage nicht vorenthalten: Sie wusste natürlich genau, wie die Vokabeln in jenem Brief zu übersetzen waren: »Meine ›Litte­ ratur‹ abgethan« meinte eigentlich: »Mein Plan, liebe Schwester, seit Jahren von mir gesammelte Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht irgendwann als Buch erscheinen zu lassen, ist aufgegeben!« Und der nachfolgende Passus (»ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen«) ist zu übersetzen mit: »Liebe Schwester, in der Summe ihrer relativen Primitivität gehen mir diese im Zeitraum von fünf Jahren sukzessive erstellten Aufzeichnungen inzwischen gegen den Geschmack.« Kurz geredet, und dies erklärt ihre Fälschungspolitik in diesem Punkt: Nietzsches Schwester erkannte das diesem Subtext unterliegende Leitmotiv, welches auf ein Publikationsverbot in Sachen von Nietzsches angeblichem ›Prosa-Hauptwerk‹ hinauslief und dem sie entschlossen – eben durch Briefunterschlagung – zuwi­ derhandelte. Und das Nietzsche genauso entschieden ab Mitte April 1888, mit Brandes’ Unterstützung, zu beglaubigen suchte. Immerhin: Rüdiger Schmidt-Grépály und seinen Helfer*innen ist als Verdienst anzurechnen, in jener Edition einen knapp zwei Wochen später, diesmal aus Turin, abgegangenen sehr wichtigen Brief Nietzsches an Georg Brandes zugänglich gemacht und unter dem Stichwort Friedrich Nietzsche: Vita prominent, nämlich gleich zu Weswegen nur zu hoffen ist, dass der vormalige Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche (1999 bis 2018) als Montinari-Schüler seine kritische Distanz gegen Förs­ ter-Nietzsche zurückgewinnt, wie sie sich etwa in einem Beitrag dokumentiert, in welchem er die Bedeutung von Nietzsches Fritsch-Briefen in marxistischem Umfeld (etwa Domenico Losurdo) zu würdigen sich getraute (vgl. Schmidt 1988). 48

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Dem antisemitischen Geheimcode auf der Spur

Anfang, präsentiert, deutlicher: dem Vergessen entrissen zu haben, in das ihn Nietzsches Schwester getaucht hatte. »Schön, dass Nietzsche noch kurz vor seinem Zusammenbruch erfährt, dass seine Gedanken endlich Wirkung zeigen« (Schmidt-Grépály 2018: 234), erfahren wir zu den Wirkungen dieses Briefes aus dieser Edition – ein wenig mager, mit Verlaub. Denn nichts wird hier berichtet zum Stand der Forschung um diesen Brief, deutlicher: die einschlägige Studie von Curt Paul Janz (1972) ist Schmidt-Grépály nicht eine Zeile wert, obgleich er sich aus ihr darüber hätte belehren lassen können, dass »kurz vor seinem Zusammenbruch« die Freude Nietzsche über Brandes’ Vorträge seine Zeit gehabt49 und längst der Besorgnis Platz gemacht hatte ob des landläufigen Antsemitismus.

Dem antisemitischen Geheimcode auf der Spur Seinem Basler Freund und Ex-Kollegen Franz Overbeck berichtete Nietzsche zu Weihnachten 1888, seine Schwester habe ihm aus Para­ guay zu seinem 44. Geburtstag »mit äußerstem Hohne« geschrieben, er »wolle wohl auch anfangen, ›berühmt‹ zu werden«, was in der Tat eine »süße Sache« sei, zumal angesichts des »Gesindels«, das er sich ausgesucht hätte, nämlich, so Nietzsche, die Worte seiner Schwester paraphrasierend: Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes. (8: 549)

Eine Bemerkung, die noch 1916 in einer wichtigen, von Nietzsches Schwester kontrollierten Briefedition (Oehler/Bernoulli 1916; Oeh­ ler 1911) unterschlagen wurde, wie seit 2011 im Nietzsche-Lexikon nachlesbar (s. NLex2 [Niemeyer]: 59 f.). Und eine Bemerkung, an der man tadeln könnte, dass der Brief der Schwester (vom 6. September 1888), auf den Nietzsche sich bezieht, die Vokabel »Jude« nicht wort­ wörtlich bringt. Nietzsche, von seinem Schwager her erfahren mit Antisemiten, hat sie vielmehr extrapoliert, etwa aus der Bemerkung seiner Schwester, »zwei unserer Freunde Hr. Johannsen und Hr. Haug kennen ihn [Brandes] persönlich und sind nicht gerade begeistert« Maßgeblich sind hier Nietzsches Briefe an die Mutter vom Mai und Juni 1888 aus Turin, die vom Kauf einer neuen, eines Professors würdigen Garderobe künden, »sehr zum Unterschied von der Schwester, die sauer und gehässig reagierte und ihn wegen seines ›berühmt werden wollen‹ höhnte.« (Janz 1972: 95 f.)

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(KGB III/6: 295) – Freunde aus der von Bernhard Förster (und ihr) begründeten deutsch-völkischen Kolonie Nueva Germania in Para­ guay wohlgemerkt. Von wo Förster-Nietzsche schrieb und in welcher kein Kolonist, wie man getrost vermuten darf (vgl. MacIntyre 1994), auf Juden gut zu sprechen war. Aber natürlich ein jeder ganz genau wusste, wann er einen vor sich hatte. Etwa, ganz klar, im Fall dieses, so Nietzsches Schwester, »Apostels«, der »in zu vielerlei Töpfchen geguckt und von zu vielen Tellern gegessen [hat]« und im Blick auf den sie ihrem Bruder rät: »schreibt Euch Eure angenehmen Empfin­ dungen aber sieh ihn Dir nicht in der Nähe an.« (KGB III/6: 295) Ein – um auf den springenden Punkt zu kommen – antisemitischer Geheimcode also im Blick auf jemanden, der im Nietzsche-Lexikon durchaus unzulänglich beschrieben wird, wenn es nur heißt, der »Kri­ tiker« Georg Brandes (1842–1927) habe im April/Mai 1888 als Pri­ vatdozent an der Universität Kopenhagen zur großen Freude Nietz­ sches Vorlesungen über eben diesen gehalten (s. NLex2 [Dahl]: 57); nicht aber hinzugefügt wird, dass Brandes ursprünglich auf den Namen Morris Cohen lautete und sich, wie zahllose Juden, sicher­ heitshalber umbenannt hatte.on antisemitischen Codes, wie sie spe­ ziell Cosima Wagner gegenüber Nietzsche praktizierte (vgl. Kap. 11), durchzogen ist auch jene Passage Förster-Nietzsches vom 6. Septem­ ber 1888, mittels welcher sie ihren Bruder mahnend wissen lässt, dass Brandes »einen ausgezeichneten Spürsinn für die interessantesten Erscheinungen aller Zeiten hat und sich durch sie interessant macht« (KGB III/6: 295), zusammenfassend gesprochen: wo sie, in Nachah­ mung Wagners, ihrem Bruder den von ihm in der Geburt der Tragödie (1872) noch verfochtenen Glauben Wagners erneut nahezubringen sucht, dass ›der‹ Jude falsch ist und sich gerne, wie ein Parasit, vom geistig produktiven Arier ernährt, in diesem Fall: von einem Arier namens Nietzsche. Es ist dieser Punkt, der Nietzsche, inzwischen Anti-Antisemit und seiner selbstgewählten Herkunft nach Pole, aus der Haut fahren ließ, wie seinem Antwortbrief von Mitte November entnehmbar: Ich haben Deinen Brief empfangen und nachdem ich ihn mehrere Male gelesen habe, sehe ich mich in die ernste Nothwendigkeit versetzt, von Dir Abschied zu nehmen. (8: 473)

So heiß, wie hier gekocht, wird die Sache dann allerdings doch nicht gegessen; vielmehr scheint Nietzsche diesen Brief gar nicht

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Dem antisemitischen Geheimcode auf der Spur

abgeschickt zu haben50 – um sich ersatzweise an weiteren Nach­ richten seines dänischen Nietzscheentdeckers zu erfreuen, etwa an jener, August Strindberg habe ihm geschrieben, wortwörtlich: »es ist erstaunlich mit diesem Nietzsche, vieles bei ihm ist, als ob ich es geschrieben hätte.« (KGB III/6: 353) Dass der Fall Brandes gleichwohl weiterköchelte im völkischen Lager, zeigt der Fall des völkischen Schriftstellers Max Bewer (1861– 1921), der in Kopenhagen mit ihm so heftig in Streit geraten war, »dass er für acht Tage ins Gefängnis musste.« (Bergmann 2009: 80 f.) Hin­ zuzurechnen ist diesem Kreis geistig nicht ganz Sattelfester à la Bewer der obskure Nietzscheverehrer und ›Rembrandtdeutsche‹ Julius Langbehn (1851–1907) (s. NLex2 [Niemeyer]: 214 f.), der Nietzsches Mutter nach dem Zusammenbruch ihres Sohnes im Januar 1889 in Turin vorübergehend mit dem Versprechen verwirrte, er wisse einen Weg zur Heilung, so man ihm zwecks Betreuung Nietzsches die Bas­ ler Pension des Professors überlasse und der Patient »seine Kampf­ stellung gegen das Christentum aufgebe« (Janz 1979, Bd. III: 91; Nie­ meyer 2018). Diese abstruse Geschichte wurde 1908 erstmals von Carl Albrecht Bernoulli (1908: 308 ff.) zu Papier gebracht, aber im Ergebnis gerichtlicher Klagen durch Nietzsches Schwester sowie eines Zufallsfundes erst 1977 einem breiteren Publikum bekannt. (vgl. Montinari 1977: 306 ff.) Weiteren Ärger mit Brandes bekam Nietz­ sches Schwester wegen ihrer Unterschlagung der Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch sowie ihrer zwanzig Jahre währenden Unterschla­ gung des Ecce homo sowie der hier in Rede stehenden Vorstufe dieser Autobiographie vom April 1888, der wir uns nun zuwenden wollen.51 Zu einem offenbar diese Thematik berührenden, aber nicht überlieferten Brief Nietzsches an seine Mutter zeigte sich diese in ihrer Antwort vom 30. 12, 1888 taurig, fand »gar nichts von dem was Du ihren Worten unterlegst.« (KGB III/6: 407) 51 Anderes ist längst schon erforscht und nachlesbar, dies etwa im Blick auf den Briefnachlass des völkisch gesonnenen dänischen Nietzscheverehrer Konrad Simon­ sen (vgl. Fambrini 1997: 438 f.), der sich ab 1906 (bis 1935) immer wieder bei FörsterNietzsche (und Richard Oehler) meldete und dabei zunehmend Propaganda machte für seine These, Brandes sei allein schon seiner Eigenschaft als Jude wegen ein gänzlich untauglicher Nietzscheinterpret. Förster-Nietzsche hätte sich auf diese Lesart der Dinge an sich durchaus einlassen können, wie wohl auch Simonsen mutmaßte, inso­ fern er die 1914 erschienene deutsche Ausgabe seiner 1913 in Dänemark veröffent­ lichten Brandes-Philippika ihr dedizierte. Allerdings beging Simonsen, offenbar in Unkenntnis der Zusammenhänge, einen entscheidenden Fehler: Er veröffentlichte sein Buch (auf Empfehlung von Adolf Bartels) ausgerechnet im Leipziger HammerVerlag, dessen Verleger, eben Theodor Fritsch, es sich nicht nehmen ließ, ein Nachwort 50

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Ein Ecce-homo-Entwurf mitsamt der hübschen Idee vom vir obscurissimus Wichtig an diesem von Schmidt-Grépály entdeckten Brief Nietzsches an Georg Brandes vom 10. April 1888: Die offizielle Geschichte der Entstehung von Ecce homo müsste an sich ein Stück weit ungeschrie­ ben werden. Die Standardmär, wonach Nietzsche, so Wiebrecht Ries, »an seinem 44. Geburtstag, dem 15. Oktober 1888 […] in Turin mit der Niederschrift seiner philosophischen Autobiographie Ecce homo begann« (NLex2 [Ries]: 88) und die sich in ähnlicher Form bei den meisten Kommentatoren finden lässt (vgl. Brusotti 2000: 134 ff.; Niemeyer 2011: 51 ff.; Sommer 2013; Niemeyer 2013: 88 ff.; Meier 2019: 15 ff.; Niemeyer 2020: 230 ff.; Müller 2020: 93 ff.; Martin/ Large [Eds.] 2021) (im Folgenden: EH), ist, im Lichte jenes Briefes vom April 1888 gelesen, nicht ganz korrekt und bedarf der Ergänzung, dass Nietzsche schon ein halbes Jahr vorher, aus Frustration über seine Geringschätzung in Deutschland, einem Ausländer, eben dem Dänen Georg Brandes, »eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe« (8: 287), übereignete, zusammen mit einen Überblick über seine Werke und eröffnet mit dem Hinweis seine Vorfahren seien »polni­ sche Edelleute« (8: 288) gewesen. Und endend mit der Versicherung, gesundheitlich sei alles in Ordnung bei ihm, will sagen: Im April 1888 war Nietzsche noch wild entschlossen – wie später nur seine Schwes­ ter (s. Kap. 8) –, kein Wort zu viel über seine Krankheit zu verlieren, erklärte also seine Syphilis, an der zu zweifeln ihm intern nicht mehr sinnvoll schien, kaltlächelnd zu einem Deutsche-Bank-Peanut son­ dergleichen, etwa mittels der Worte: Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleiden stellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langen Jahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahr damals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und gar lokale Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologi­ beizusteuern, in welchem er die von Simonsen am Exempel Brandes vorgetragene antijüdische Argumentation als beispielhaft lobte für einen »Geistes- und Kultur­ kampf vornehmster Art.« (Völkerling 2001: 270) Damit fand sich Förster-Nietzsche unvermutet in einer für sie überaus schwierigen Konstellation wieder – und tat das (ihren Moralbegriffen zufolge) einzig Richtige: Sie ignorierte Simonsen, beginnend schon mit jenem Brief, den er ihr am 19. September 1914 von Jena aus geschickt hatte, von wo aus er »mit germanischer Gesinnung, voller Freude, diese große Zeit in Deutschland zu erleben« (ebd.: 273), grüßte (vgl. Niemeyer 2019: 276 f.).

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sche Grundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst kein Fieber, keine Ohnmacht. (8: 289 f.)

In Übersetzung geredet, und dies heißt: aus Expertensicht wertend, im Vergleich etwa zu einem von Curt Paul Janz (1972: 17) ins Zentrum gerückten, von der Schwester (und dem Briefempfänger Köselitz) unterdrückten Textstück aus einem Brief Nietzsches vom 26. August 1883 mit gegenteiliger Botschaft: Womit wir es hier zu tun haben, ist ein von Verlogenheit triefendes Textstück, das von Nietzsches Schwester groß herausgestellt worden wäre, wenn sich nicht ein tiefes Bedenken bei ihr gemeldet und ihr geraten hätte, diesen Brief als nie geschrieben zu betrachten. Entsprechend blieb er bis hin zur Schlech­ taausgabe (= SA) von 1956 unbekannt, und dies, wo er doch, gelesen etwa in der dereinst väterlichen Dorfkirche zu Röcken b. Leipzig zum 125. Todestag Nietzsches von einem seine Maske tragenden Schau­ spieler, große Betroffenheit auslösen würde. Kurz: Nietzsches Schwester hätte ob des Schweigens ihres Bruders vom April 1888 über seine Syphilis oder den frühen Tod seines Brüderchens sowie seines Vaters eigentlich zufrieden sein können mit dieser »kleinen vita« – wäre da nicht der Adressat gewesen und die auffällige Eröffnung Nietzsches: Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! – Wo haben Sie den Mut hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen!... Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterland bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonder­ liches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen… Offenbar wittern Sie, daß auch ich sie nicht ernstnehme: und wie sollte ich auch, heute, wo ›deutscher Geist‹ ein contradictio in adjecto geworden ist.« (8: 286)

Die erstgenannte Wendung haben wir gleich zu Beginn dieses Buches verwendet; die letztgenannte Wendung erlaubt, Nietzsche gegen die Neue Rechte in Stellung zu bringen (vgl. Niemeyer 2023: 10 ff.), ist sie doch verräterisch aus völkischer, durch Nietzsches Schwager Bern­ hard Förster belehrter Sicht und bezieht sich auf das zeitgleich erar­ beitete Spottwort aus GD: »Deutscher Geist«: seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto. (VI: 62)

Nietzsche redete hier mit sich selbst, als er achtzehn Jahren jünger war und seiner Sorge Ausdruck gab, der deutsch-französische Krieg

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von 1870/71 werde zur »Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ›Deutschen Reiches‹« (I: 145) beitragen – und der nun, 1888, feststellen muss: Ich hatte Recht! Und also 1888 nichts anderes sagte als 1879, als er die Forderung vortrug nach »Wendung zum Undeut­ schen«, adressiert an die »Tüchtigen unseres Volkes« (II: 512) zwecks Geistwerdung derselben. Eine Forderung, die für seine Schwester 1888, im Sog Ihres Gatten fabulierend, inakzeptabel war. Neuen Schwung in die Debatte brachte Nietzsches Brief an Bran­ des vom 20. November 1888, in welchem Nietzsche, als gelte es, sei­ nen dänischen Fürsprecher über den Fortschritt seiner ersten »kleinen vita« von 10. April auf dem Laufenden zu halten, von Ecce homo berichtete und erneut deren anti-deutschen Zugriff betonte mittels seiner Frage: Errathen Sie, wer in ›Ecce homo‹ am schlimmsten wegkommt? Als die zweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen!« (8: 482)

Ganz klar, dass auch dieser Passus in den von Nietzsches Schwester beeinflussbaren Briefeditionen (etwa Oehler 1917: 363) unterdrückt wurde; selbst Karl Schlechta erkannte diese Fälschung 1956 nicht (vgl. SA III: 1334). Aber ganz ließ sich die Sache nicht aus dem Spiel halten, wie Nietzsches Schwester Anfang 1899 durch die Nachfrage des fran­ zösischen Nietzsche-Übersetzers Henri Albert zu spüren begann, der, aufgeschreckt durch 1894 von Brandes in Umlauf gebrachte Fragen nach dem Erscheinen von EH und dem Rang deutschtumskritischer Passagen in diesem Werk, nachfragte – und den Förster-Nietzsche mit der Antwort meinte hinhalten zu können, dass sich Nietzsche gar nicht auf EH bezogen habe, sondern auf AC; ihr Bruder müsse sich »in den Titeln verschrieben haben.« (Krahmer 2009: 289) Dies war natürlich eine glatte Lüge, mit deren Hilfe sie die Neugier Alberts etwas fortlenken wollte von jenem Werk. Im Übrigen, so setzte sie noch hinzu, brächte sie »alles Hauptsächliche« aus EH ohnehin in ihrer Biographie und lasse dort lediglich Stellen fort, die »nur durch die vollkommene Vereinsamung u. einen überreizten Zustand« zu erklären seien. Im Übrigen kenne sie »eine ganze Reihe Aussprüche v. ihm aus früherer Zeit, die sich sehr scharf gegen dergl. Veröffent­ lichungen richteten« (ebd.) – ein allerdings erkennbar billiges Argu­ ment vom Typ Anekdote, das sich der Falsifizierbarkeit entzieht. Die weitere Editionsgeschichte muss ich hier, auch unter Verweise auf andernorts Dargestelltes (etwa Niemeyer 2011: 53 ff.; 2013: 88 ff.),

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schuldig bleiben, zugunsten einer Mahnung zur Vorsicht, zumal im Blick auf die komplexe Textgeschichte. Auffällig ist beispielweise die Vorstufe zu einem schließlich doch nicht verwendeten Zusatz zu EH vom Oktober 1888, in welchem Nietzsche unter der Headline Wir Hyperboreer im ersten Abschnitt, durchaus drohend, wie allmählich klar wird, versichert, unter Anspie­ lung auf Pindar und den griechischen Mythos, es gäbe »jenseits des Nordwindes […] ein sagenhaftes Volk, von welchem man glaubte, dass es ein paradiesisches Land in ewigem Lichte und Frieden, sowie im Genusse steter Jugend und Gesundheit bewohnte.« (Brockhaus 1884, zit. n. Sommer 2000: 84; vgl. auch Meier 2019: 178 f.) Gerne sei es zugestanden, dass einem Kranken, einem derart Kranken wie Nietzsche, der Glaube an ein solches Land hilfreich war. Ähnliches gilt, in Maßen, für den Glauben: Wir sind anders »als man ehemals Philosoph war«, beispielsweise sind wir »durchaus keine Moralisten«; zu beachten ist dabei die Erläuterung: Es bleibt kein andres Mittel, die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: man muß zuerst die Moralisten aufhängen. (XIII: 602)

Dies ist an und für sich, dekontextualisiert gelesen und wie im Prolog des vorliegenden Buches angedeutet, ein wichtiger, zur New School passender Satz, der ganz nebenbei die ironische Frage evoziert, ob er wohl von Lebenskunstapologeten zu Gehör gebracht werden würde. Gleichwohl muss die kritische Frage an Nietzsche erlaubt sein, wie dieser Satz und der Glaube, für den er Zeugnis gibt, sich mit Nietz­ sches Anti-Fanatismus-Bekenntnis aus EH verträgt. Zumal der Tötungsart des Aufhängens halber, die ja nur Sinn macht, wenn eine erzieherische Wirkung intendiert ist namens einer neuen, besseren Ordnung. Dass Nietzsche, als »Dynamit«, gut Freund war einer sol­ chen Vision vom besseren Danach, steht nicht außer Frage und deutet Punkt 3 von Wir Hyperboreer an, im Rahmen einer Kriegserklärung in Richtung der Moral (»in der That, die Moralisten insgesamt werden zuerst von mir abgethan«) namens eines Wortes, welches sich Nietz­ sche »zu diesem Kampf zurecht gemacht habe, das Wort Immoralist.« (XIII: 603) Das Problem ist dabei: Außer Stärkemetaphern dieser Art kommt nicht mehr viel, mit dem Ergebnis, dass diese Vorstufe Teil der dem Verleger bis zuletzt immer wieder neu zugeschickten Änderun­ gen und Einschübe blieb (s. XIV: 454 ff.) – mit gutem Grund, wie mir scheinen will. Denn an sich geht es hier nur um Wiederholung der Charakterisierung »Wir sind Hyperboreer« aus AC, wo Nietzsche

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gleichfalls zu WM passende Stärkemetaphern ins Spiel bringt vom Typ »Lieber im Eise lebend als unter modernen Tugenden und andren Südwinden!« bei gleichzeitiger Verachtung des »modernen Men­ schen«, im Einzelnen: An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. (VI: 169)

Das Problem: Unmittelbar darauf folgt ein anti-christlicher Katechis­ mus der besonderen Art, der die Moral für Ärzte aus GD fortschreibt (vgl. Sommer 2013: 37), schlimmer: Nietzsche ersetzte den in einer Vorstufe zu AC 1 noch vorgesehene Ausdruck »der Gesellschaft« im Satzteil: »Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz der Gesellschaft« (XIII: 192) durch den Terminus »unsrer Menschenliebe« (VI: 170). Nietzsche verschob damit eine ohnehin schon schlimme Aussage ins Zynische – oder, um einen durchaus unpassenden Scherz Nietzsches aus EH (VI: 306) aufzugreifen: ins Medi-Zynische (vgl. Niemeyer 2022: 236), was zugleich meint, dass die Denkungsart vom Typ Wir Hyperboreer durchaus zu jener in EH passt, aber der erwähnte Einschub vom Herbst 1888 nicht wirklich für eine Neuigkeit steht (und deswegen fortgelassen wurde).

Ecce homo: Intention und Wirkung Was die Kompilation von EH angeht, konnte Nietzsches Schwester recht unbesorgt schalten und walten, dies namentlich im Blick auf eine Reihe abfälliger Äußerungen ihres Bruders über sie, den Kaiser oder die Deutschen. Ihr Prinzip stand ohnehin fest und sprach allen editorischen Grundüberlegungen Hohn: Erst kam ihre Darstellung, gestützt auf Quellen, um die nur sie wusste; erst danach wurden die Quellen, passend zu ihrer Darstellung, ediert – es sei denn, es läge, wie im Fall EH, ein Veröffentlichungsverbot Nietzsches vor. Eben dies behauptete sie auf der Basis von Briefen ihres Bruders, die sie allerdings nur in Abschrift vorzulegen vermochte – Kunststück: Den Briefinhalt hatte sie frei erfunden, inklusive der Unterschrift ihres Bruders. Immerhin: 1908 ignorierte sie tapfer und im Interesse einer überneugierigen Nachwelt dieses von ihr erfundene Veto Nietzsches, so dass EH in allerdings ziemlich verstümmelter Form unter der Regie des von ihr als Herausgeber angeheuerten Leipziger Privatdozenten

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Raoul Richter (1871–1912), mutmaßlich seinerseits Opfer der Syphi­ lis (vgl. Springer 1926: 182) und, weit besser belegbar: Opfer seiner Gutgläubigkeit, was das Hehre ihrer Absichten angeht. Heißt: Richter, ob man nun nur dumm oder gerissen, darauf spekulierend, dass ihm noch eine bedeutende Rolle im Nietzsche-Archiv zufallen könne, saß den meisten Legenden der Schwester auf und unterstand sich nicht – wohl in ihrem Auftrag –, die Verantwortung für das verzögerte Erscheinen letztlich Franz Overbeck anzulasten (vgl. Richter 1908: 23), dem schließlich gar, 1923 in den einschlägigen Nachberichten zur Klassiker-Ausgabe, vorgeworfen wurde, Nietzsches Mutter mündlich von dem – brieflich von der Schwester ›beglaubigten‹ – Veröffentli­ chungsveto Nietzsches informiert zu haben. In der Folge war die Rezeption von EH gespalten: Mal wurde dieses Werk als nicht zur »Sache des Denkens« (Heidegger 1961: 9) gehörig ausgeklammert, mal wurde es schlicht Nietzsches »Narren­ tum« (Bröcker 1972) zugeschlagen oder Nietzsche mit ihm auf die Couch gelegt (Kornberger 1998). Andere, Eugen Biser etwa, hielten dafür, »das Defizit, das sich die Rezeptionsgeschichte durch die Umge­ hung des ›Ecce homo‹ zuschulden kommen ließ, durch dessen kon­ sequente Berücksichtigung« (Biser 2002: 38 f.) auszugleichen – ein fataler Rat, weil gerade das rezeptionsgeschichtlich Einschlägige an diesem Werk als besonders toxisch zu gelten hat und den Fachmann fordert. Heißt zugleich: Wer EH als Werkkommentar in Betracht zieht, als Glücksfall zudem, verfasst gleichsam in letzter Minute, drei Monate vor dem geistigen Zusammenbruch des Verfassers: klar und strukturiert in jeder Zeile, dem Auftrag der Aufklärung über Person und Werk verpflichtet, muss auf der Hut sein. Schon die im Vorwort geradezu drängend ausgesprochenen Auf­ forderung hat es in sich: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!(VI: 257)

Gewiss: Dies klingt gut, jedenfalls wenn man es als ernst gemeint liest und im Zusammenhang der drei Jahre zuvor von Nietzsche ausge­ lobten Belohnung für denjenigen seiner Leser, der ihn gegen »Ver­ wechslungen vertheidigte und abgrenzte« (XII: 159). Dagegen freilich steht Werner Stegmaier, der dieses Zitat als einen durch Selbstparodie wieder aufgehobenen Scherz darüber liest, dass man »Nietzsches Phi­ losophie (und jegliche ›Identität‹, auch die des Menschen überhaupt) gerade dann ›verwechselt‹, wenn man sie ›feststellen‹ will.«

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(Stegmaier 2008: 75) Dieses Argument, in dessen Linie gedacht die Rede über irgendetwas jeden Sinn verlöre, ist, so betrachtet, nicht wirklich überzeugend, deutlicher: Unsinn. Es kommt hinzu, dass Nietzsche die Forderung, ihn nicht zu verwechseln, im weiteren Text­ verlauf von EH noch einmal gesondert als wichtig herausstellt. So heißt es beispielsweise, in Anspielung auf AC, für das Jahr 1890 stünde der »zerschmetternde Blitzschlag der Umwerthung« in Aus­ sicht, »der die Erde in Convulsionen versetzen wird« (VI: 363 f.) – und eben deswegen wird im Blick auf EH vieldeutig hinzugesetzt: »[M]an wird errathen, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt…« (VI: 365) Freilich: Wie ›verhütete‹ Nietzsches dies? Und: Ist bzw. war dies ausreichend? Die Rezeptionsgeschichte Nietzsches in Deutschland erlaubt jedenfalls eine eindeutige Antwort: Mit keinem anderen Philosophen ist derart viel ›Unfug‹ getrieben worden. Und schuld daran ist auch Nietzsche bzw. der Umstand, dass er die ihm mit EH gegebene Chance zur Aufklärung über sich und sein Wollen verspielte, mehr als dies: offenbar gar nicht mehr, aus grundlegenden Erwägungen, an Aufklä­ rung dieser Art interessiert war. Denn besinnen wir uns: Dem Genre nach, so sollte man meinen, gehört EH jenen Schriften zu, die Nietz­ sche mittels seiner vage entworfenen »Philosophie für Philosophen« im Blick auf diejenigen für notwendig hielt, die, wie Kant, so taten, »als ob die reine Geistigkeit ihnen die Problem der Erkenntniß und Metaphysik vorlege« (XIII: 285). Impulsgebend für dieses Projekt war Nietzsches große Liebe Lou von Salomé gewesen (s. Kap. 1, Tauten­ burg…). Nietzsche jedenfalls begrüßte in einem Brief an sie vom 16. September 1882 ihren »Gedanke[n] einer Reduktion der philoso­ phischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber« als einen »Gedanke[n] aus dem ›Geschwistergehirn‹.« (6: 259) Die so Ange­ schriebene zitierte denn auch in ihrer erstmals 1894 publizierten Abhandlung Friedrich Nietzsche in seinen Werken das, was sie offenbar für Nietzsches Geschwistergedanken hielt, nämlich den Satz aus JGB: Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires. (V: 19)

Und sie zögerte auch nicht, der Druckfassung ihrer Abhandlung, die sie Nietzsche in Auszügen schon im Oktober 1882 vorgelesen hatte, den Nietzsche-Brief vom September 1882 in faksimilierter Form und gleichsam als Vorwort-Ersatz voranzustellen, damit das Signal dafür

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gebend, dass Nietzsches ›Psychologie der Philosophen‹ auch auf ihn selbst Anwendung erfahren könne, wenn nicht gar: müsse. Dass sie mit dieser Erwartung im Prinzip nicht falsch lag, zeigt Nietzsches Überlegung aus Morgenröthe, wonach Kants und Schopenhauers Denken »nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele [ist], sondern, im Fall Kant’s, eines Kopfes« (III: 285 f.) – ein Defizit, wie der Leser lernen soll. Nimmt man noch Nietzsches Klage hinzu, Zarathustra werde möglicherweise deswegen nicht verstanden, weil man als Leser um den »persönlichen Sinn« (6: 525) nicht wisse und wissen könne, addiert man die im vorhergehenden Kapitel gestellten zahllosen Fragen in Sachen dieser Dichtung sowie der Abgründe, die sich bei Nietzsche aufgetan haben müssen im Zuge seiner vierjährigen Arbeit an den Aufzeichnungen zu WM, ist der biographisch Zugang im Fall Nietzsche nicht nur vom Autor selbst zumindest in seinen klaren Stunden als notwendig behauptet worden; vielmehr ist er sogar zwingend und alternativlos. Der Kontext freilich nötigt zu einer etwas vorsichtigeren Folge­ rung, wie schon die Äußerung andeutet: »Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren« (VI: 298) – oder, in der Umkehrung: Nietzsche ist (noch) tot. Derlei verlangt nach Schweigen und Andacht, kurz: nach dem Ende der Aufklärung über Nietzsche, im Sinne des Satzes aus JGB, »dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ›vor der Maske‹ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.« (V: 226) So gesehen steht das in Rede stehende Wort Nietzsches (»Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften«) für einen Schutzwall, den der Autor ausgerechnet in jenem Werk aufzieht, von dem man sich biografische Aufschlüsse hätte erwarten dürfen. Entsprechend entscheidet sich Nietzsche in EH für die Politik einer zu verbrennenden Biographie, nach dem Muster: »Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt«, mehr als dies: »[E]s wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein.« (VI: 268) Entsprechend des deutlich regressiven Gehalts dieses sprachlichen Ausdrucks öffnet sich vor Nietzsches Augen die ganze Wunderwelt kindlich-spielerischer Identitätskon­ struktion: Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die grossen Individuen sind die ältesten: ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein – oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos... (VI: 268).

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Mit der Benennung dieser scheinbar imposanten Ersatzväter bei gleichzeitiger Entfernung des leiblichen Vaters aus dem Horizont des wieder zum Kind regredierenden Nietzsche hat sich dieser, so will es scheinen, des Alpdrucks entledigt, den ihm die auch in EH noch virulente Sorge um die »schlimme Erbschaft von Seiten meines Vaters« (VI: 326) eingab. Auffällig ist dabei, dass sich Nietzsches ausgerechnet solche Ersatzväter herausgreift, die er in Morgenröthe als »Epileptiker« (III: 320) geoutet hatte. Denn dies könnte ein Indiz für die Neigung Nietzsches sein, sich ersatzweise einer Erbdisposition zuzuwenden, die zu einem Krankheitsbild führt, das verbreitet als Gottesstrafe gedeutet wurde. Zu dieser Politik passt, dass die in EH berichteten biografisch relevanten Daten durchweg unzuverlässig sind und/oder keine wirk­ liche Aufklärung bringen. Denn in der Regel wird mit Anekdoten oder Andeutungen hantiert, denen kein Wahrheitswert zukommt, die aber hilfreich sind zur Popularisierung eines von Nietzsche aktuell favorisierten Mythos, etwa jenen, dass seine Vorfahren »polnische Edelleute« (XIV: 472) seien. In eine etwas andere Richtung weist der Mythos, der sich in den Worten verbirgt: »Ich habe nie die Kunst verstanden, gegen mich einzunehmen« (VI: 269) sowie: »der Begriff ›Vergeltung‹« sei ihm »so unzugänglich wie der Begriff ›gleiche Rechte‹«, ein Urteil, das unter dem resümierenden Oberbegriff läuft: Ich bin »bloss mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach seinem allzufrühen Tode.« (VI: 271) Man muss diesen Satz schon kritisch lesen, um zu erkennen, dass man es nicht mit dem Postulat der (ewigen) Wiederkunft des Vaters im Sohne zu tun hat, sondern mit dem Hinweis auf das Auftauchen des großen Anti-Vaters in der Gestalt des weise gewordenen Sohnes, dessen ›Fortleben‹ seine Rechtfertigung allein daraus empfängt, dass er sich zum schärfsten Ankläger dessen macht, wofür Naturell wie Frömmigkeit des Vaters einstanden. Dafür mag man denn auch einem ›allzufrühen Tod‹ enthoben sein und Ewigkeit, jedenfalls in Nietzsches Version dessen, was dies denn nach dem Tod Gottes noch heißen kann, verdienen. Von anderer Art ist der Mythos, dem Nietzsche mit dem Satz Bahn zu brechen suchte: Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war... Der Rest ist Schweigen... (VI: 268).

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Wagnerianer jedenfalls waren begeistert und lasen das Ganze als kaum verhülltes Geständnis Nietzsches in Sachen des eigentlichen Motivs für seinen Bruch mit Wagner (Eifersucht), übersahen dabei allerdings den schon von Mazzino Montinari (1972: 142) herausge­ stellten Umstand, dass Nietzsche noch in einer Vorstufe den Satz vorgesehen hatte: Frau Cosima Wagner ist bei weitem die vornehmste Natur, die es giebt und, im Verhältniß zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretirt ... der Fall Tristan. (XIV: 473)

Immerhin: Der Rückzug dieser Variante zeugt für das gute Funktio­ nieren von Nietzsches Zensur. Denn was ihr zum Opfer fällt oder unter ihrem Diktat jedenfalls undeutlich wird, ist der Verweis auf Wagners Tristan und Isolde, also auf ein Stück, das als ein ödipal strukturiertes Drama gelesen werden darf. Verunklart wird auf diese Weise der Umstand, dass Nietzsche in der Tribschener Zeit offenbar seinerseits einer ödipalen Verstrickung unterlag, in deren Verlauf er Cosima Wagner der von Marie Baumgartner und Malwida von Meysenbug bis hin zu Louise Ott reichenden Reihenbildung einfügte. Mit wahrer Liebe also hat dies genau so wenig zu tun wie das angeblich »untrügliche« (Brann 1931: 105) Beweisstück in Sachen von Nietzsches Cosima-Liebe, nämlich Nietzsches Schlusswort aus einen Brief an Cosima vom Januar 1889: »Ariadne, ich liebe Dich! Dionysos.« (zit. n. Montinari 1977: 302) Diese Formulierung, erst­ mals Nietzsche Schwester im Frühjahr 1891 durch Cosima zu Gehör gebracht – und fortan von ihr mit allen Mitteln als nicht gesagt aus der Welt geschafft –, steht keineswegs für eine unter dem Ein­ fluss des anhebenden Wahns nun jede Hemmung überspringende Liebeserklärung. Viel eher gibt sie einer Erinnerung Ausdruck an in Tribschen gespielte Spielchen und bestätigt der Sache nach die am Tristan-Motiv gewonnene Deutung: Nietzsche begehrte Cosima nicht als Frau, sondern weil sie die Frau von Nietzsches Ersatzvater Wagner war. Gerade im Kontrast zu derlei – jeden Psychoanalytiker fraglos hellhörig machenden – Spielchen muss auffallen, dass in EH wirklich Wichtiges unausgesprochen bleibt, darunter die größte Katastrophe in Nietzsches Leben, jene vom Sommer 1882. Den Namen Lou von Salomé sucht man zumindest im Kontext der Rückerinnerung an das auf sie Bezug nehmende Nachtlied umsonst (VI: 341; 345). So betrachtet scheint es durchaus folgerichtig, dass Nietzsche selbst den Preis für derlei verschwiegene Wahrheit entrichten musste und, wohl

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als Ergebnis langer schlafloser Nächte, dem Manuskript, das längst schon beim Drucker war, Sätze nachschickte (s. VI: 268), die mit seiner Mutter wie Schwester und insoweit mit jenen abrechneten, die ihm diese seine große Liebe abspenstig zu machen versucht hatten. Daraus folgt nun wiederum nicht, dass in EH gar keine netten Sentenzen unterbreitet würden, auch Anekdoten, die sicherstellen sollen, dass man Nietzsche nicht mit einem »Popanz« und »MoralUngeheuer« (VI: 257) verwechselt; dass er keine »neuen Götzen« (VI: 258) aufrichten wolle und auch nicht »jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt« (VI: 259) zurechenbar sei. Vor allem aber wird versichert: Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ›gepredigt‹, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. (VI: 260)

In einigen Abschnitten ist EH tatsächlich ein durchaus sympathisches, ›zärtlich-langsames‹ Buch im für Nietzsche so kennzeichnenden »Par­ landostil« (Gauger 1984: 339), in welchem mitunter jener nette, antifanatische Kerl aus den 1880er Jahren durchscheint und das, gelesen beispielsweise von Thomas Gottschall, fraglos großes Hörvergnügen bereiten würde. Dies gilt etwa für das folgende Statement: Wir, die wir in der Sumpfluft der Fünfziger Jahre Kinder gewesen sind, sind mit Nothwendigkeit Pessimisten für den Begriff ›deutsch‹: wir können gar nichts Anderes sein als Revolutionäre, – wir werden keinen Zustand der Dinge zugeben, wo der Mucker obenauf ist. (VI: 288)

Ein derartiger Satz – auch dieser Scherz sei hier riskiert – nähme sich in den Memoiren eines Daniel Cohn-Bendit fraglos prächtig aus, ebenso wie die folgende Phantasie Nietzsches: Gesetzt, ich trete aus meinem Haus heraus und fände, statt des stillen und aristokratischen Turin, die deutsche Kleinstadt: mein Instinkt würde sich zu sperren haben, um Alles das zurückzudrängen, was aus dieser plattgedrückten und feigen Welt auf ihn eindringt. Oder ich fände die deutsche Grosstadt, dies gebaute Laster, wo nichts wächst, wo jedwedes Ding, Gutes und Schlimmes, eingeschleppt ist. Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? (VI: 292)

Nett ist schließlich, wenn sich Nietzsche über das für ihn schädliche Biertrinken auslässt und erläuternd hinzusetzt: »[I]n München leben

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meine Antipoden.« Gleich nachfolgend heißt es, nicht sehr beliebt im Höcke-Land: Als Knabe glaubte ich, Weintrinken sei wie Tabakrauchen anfangs nur eine Vanitas junger Männer, später eine schlechte Gewöhnung. Vielleicht, dass an diesem herben Urtheil auch der Naumburger Wein mit schuld ist. (VI: 280)

In diese Rubrik gehört auch das harmlose Witzchen: »In vino veritas: es scheint, dass ich auch hier wieder über den Begriff ›Wahrheit‹ mit aller Welt uneins bin: – bei mir schwebt der Geist über dem Wasser…« (VI: 281) Freilich: Sind Plaudereien wie diese geeignet, Nietzsche hinreichend als Nicht-Fanatiker zu beglaubigen, ihn vor ›Verwechslungen‹ auch nur in dieser Richtung zu schützen? Offenbar nicht, und zwar mit einiger Folgerichtigkeit nicht. Denn mitunter gewinnt man den Eindruck, Nietzsche meine gar nicht ernst, was er da schreibt. Dies gilt etwa für den Satz: »Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus.« (IV: 362) Folgerichtig war Nietzsche in einer mit diesem Passus zusammenhängenden Abschnitt stolz darauf, sich als ›guten Europäer‹ ausweisen zu dürfen, in der Hoffnung, als »der letzte antipolitische Deutsche« (XIV: 472) im Gedächtnis zu bleiben. Dieses Wort ging dann allerdings doch nicht in Druck – wohl, weil es auf eklatante Weise dem Eindruck kontrastiert, den EH mittels der dunklen Ankündigung bereithält: »[E]s wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat: Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik.« (VI: 366) Die Wirkungsgeschichte neigte denn auch dazu, eher diesem als jenem Etikett recht zu geben (vgl. Marti 2000) – offenbar, wie wir nun schließen müssen, weil Nietzsche in EH dem Reiz des Spiels mit dem Dämonischen nicht widerstehen konnte. Ganz abgesehen davon: Um dem von Nietzsche markierten Auf­ trag – des Schützens vor ›Verwechslungen‹ – zu erfüllen, wäre es erforderlich gewesen, dem Leser überhaupt erst einmal einen Begriff zu geben von jenen anderen Nietzsches. Exakt dies aber kann Nietz­ sche schon deswegen nicht oder nur unzureichend leisten, weil er sich entschieden hat, EH in seinem werkinterpretatorischen Mittelteil als Kommentar des bis dato Veröffentlichten anzulegen, beginnend mit GT. Ausgeblendet blieben auf diese Weise die von Nietzsche nicht in Druck gebrachten Werke wie BA oder WL. Diese Position ist ehren­ wert, und sie war der Sache nach gut begründet (vgl. Niemeyer 2011: 90 ff.), so dass das Nichtthematisieren dieses Problems in EH nach­

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vollziehbar scheint – allerdings kurzsichtig war, wenn nicht gar naiv. Denn Nietzsche hatte diese Rechnung ohne seine Schwester gemacht. Sie nämlich schreckte nicht davor zurück, BA nur vier Jahre nach dem geistigen Zusammenbruch ihres Bruders gleichwohl unters Volk zu bringen – um, wie man wohl sagen darf, eben dieses Volk abzulenken von der sich hier darbietenden Spur und hinzuführen zu dem geistig frischen Basler Professor des Jahres 1872. Mehr als dies, womit die ›Verwechslung‹ Nietzsches nun erst recht ihren Lauf nahm: Eine jener Fünf Vorreden mit dem Titel Der griechische Staat, enthaltend, gleich­ sam in Zweitverwertung, den Satz von Anfang 1871, wonach »[d]as Elend der mühsam lebenden Masse noch gesteigert werden [muß], um einer Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunst­ welt zu ermöglichen« (I: 767; s. a. VII: 339), wurde erst durch FörsterNietzsches Editionspolitik populär und darf insoweit als wichtiger Baustein nicht nur von Förster-Nietzsches, sondern eben auch von Hitlers Nietzsche gelten – mit der nachfolgenden, nun aber wieder Nietzsche allein angelasteten Empörung eines Stepan Oduev (1977: 41) oder Domenico Losurdo (2009: 113 f.) über eben dieses Zitat. Insofern wäre ein rückblickender Kommentar Nietzsches gerade zu diesem Text bzw. beiden Varianten und eine entsprechende Erweite­ rung des werkinterpretatorischen Teils von EH durchaus wichtig gewesen. Zu hoch sollte man diesbezügliche Erwartungen allerdings auch wieder nicht hängen, eingedenk des Umstandes, dass EH als Kom­ mentar auch nur der veröffentlichten Werke kaum in Frage kommt für Klarstellungen in der Sache – abgesehen vielleicht von MA: Was Nietzsche hierzu in EH ausführt, hat höchstes Niveau und ist äußerst aufschlussreich. Dies gilt schon für die Skizze der Bedingungen, den dieses Werk seine Entstehung verdankt, unter Einschluss der Rückerinnerung an die verlorenen Jahre als Altphilologe in Basel (ab 1869), die in den Worten anklingt: Zehn Jahre hinter mir, wo ganz eigentlich die Ernährung des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts Brauchbares hinzugelernt hatte, wo ich unsinnig Viel über einem Krimskrams verstaubter Gelehrsam­ keit vergessen hatte. Antike Metriker mit Akribie und schlechten Augen durchkriechen — dahin war es mit mir gekommen! — Ich sah mit Erbarmen mich ganz mager, ganz abgehungert: die Realitäten fehl­ ten geradezu innerhalb meines Wissens und die ›Idealitäten‹ taugten den Teufel was! — Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da

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an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften, angefangen.

In diesem Kontext, gleichfalls stützend für das Anliegen der New School, gibt Nietzsche zu erkennen, dass seine Wagner-Begeisterung letztlich Folge seiner »instinktwidrig gewählten Thätigkeit« gewesen sei und er soweit einem »Bedürfnis nach einer Betäubung des Ödeund Hungergefühls durch eine narkotische Kunst« bedurfte. Sehr anschaulich beschreibt er im Folgenden den nun anhebenden Eman­ zipationsprozess, der einsetzte mit dem Ende aller Bücherwürmerei: Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still gewor­ den unter einem beständigen Hören-Müssen auf andre Selbste […] erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, – aber endlich redete es wieder. (VI: 326)

Dies, so darf man hier wohl zugestehen, ist eine Darstellungsform, die einer Schrift angemessen ist, mit der Nietzsches Nietzsche begann und Wagners Nietzsche endete. Auffällig ist in diesem Kontext der Umstand, dass Nietzsche sich noch 1876/77, auf dem Höhepunkt der Loslösung von Wagner und wohl mit giftigem Seitenblick auf dessen Autobiographie Mein Leben, notiert hatte: Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, wenn er einen hört, der sein Leben gar zu pathetisch nimmt und von ›Golgatha‹ und ›Gethsemane‹ redet! — Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein. (VIII: 441)

Wer EH von Anfang bis Ende gelesen hat, wird kaum glauben wollen, dass der Verfasser der hiermit recht gut beschriebenen Schrift der nämliche ist, der nur elf Jahre zuvor die Kritik zu ihr verfertigte – es sei denn, man lässt sich in der Linie Klaus Wellners (2005) darauf ein, hier nicht einen ›lebenden Menschen‹ beschrieben zu sehen, son­ dern eine Maske mit dem Namen Friedrich Nietzsche, besser vielleicht noch: einen Toten namens Nietzsche. Eben dies ist die hier vertretene These in der Hauptsache: Nietzsche erklärt sich in EH für tot, sichert sich also die schon lange ersehnten Vorteile eines Toten (als Lebender) – und ist fortan vor Kritik an seinem Pathos ebenso gefeit wie an Kritik vor Inszenierung seiner selbst als Kunstwerk. Kurz: EH gerinnt so, in dieser Funktion nicht in Abrede gestellt, zur Bibel der Gegenaufklärer unter den Nietzschelesern. Das andere ist damit auch klar: Wer diese Reflexionsschleife scheut, wie Rüdiger Görner, will es in der Tat schei­

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nen, als könne EH als »Gegen[ent]wurf« zu Wagners Memoiren gele­ sen werden. Das Gegenteil ist richtig, unter Nutzung der Vokabeln Görners geredet: auch Nietzsche gibt sich hier, ähnlich wie der von ihm als ›Schauspieler‹ bezeichnete Wagner, »den Gestus des erhabe­ nen Abenteurers und Kämpfers« in Sachen seines Gesamtkunstwerks und bringt sich nicht nur als »Skandalon« (Görner 2005: 142) zur Anzeige, sondern rechtfertigt sich »als ästhetisches Phänomen, als Kunstwerk.« (Kornberger 1998: 331) Dabei muss der Vorteil beachtet werden, den Nietzsche aus diesem Paradigmenwechsel zog: Er, Nietz­ sche, kann, EH als Kunstwerk genommen, nicht mehr verstanden und/oder belangt, sondern letztlich nur noch bewundert werden – oder eben abgelehnt und/oder gehasst. Wie auch immer: Nietzsche jedenfalls ließ seinen Verleger nach Abschluss der Arbeit an EH unter dem Datum des 6. November 1888 wissen, dass er nun fertig sei, »mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, mein Leben zu erzählen.« (8: 464) Exakt dies wird man nach dem bisher Erzählten bezweifeln dürfen: Nietzsche erzählte in EH sein Leben als Kunstwerk – und berichtete nur das, was dienlich war, diesem Kunstwerk Wirkung zu verschaffen und auf diese Weise einer grundlegenden Missachtung seiner Person und seines Werkes abzuhelfen. Hierzu gehören die zahllosen Übertreibungen, aber auch das folgende, eher harmlose Beispiel: In einem Einschub zu Der Fall Wagner 4 hatte Nietzsche seinen Schwager Bernhard Förster, seinen Intimus und Korrektur Heinrich Köselitz sowie seinen Baseler Freund und Kollegen Franz Overbeck porträtiert, durchaus nicht zu deren Vorteil, wie der Eintrag zum Stichwort »Overbeck« belegen mag: vertrocknet, versauert, seinem Weibe unterthan, reicht mir wie Mime den vergifteten Trunk des Zweifels und des Misstrauens gegen mich selbst – aber er zeigt sich wohlwollend um mich besorgt und nennt mich seinen ›nachsichtigen Freund.‹

Nietzsches Resümee war nicht minder schockierend: »Seht sie euch an, – das sind drei deutsche Typen! Canaillen!« (XIV: 507 f.) Spätes­ tens dieses Resümee dürfte Förster-Nietzsche – die Korrektheit ihrer Abschrift vorausgesetzt – davon abgehalten haben, diese Variante in Druck zu geben, deutlicher: das Negativporträt der ›Canaille‹ Over­ beck dürfte ihr gefallen haben, nicht aber jenes ihres Gatten. Nietzsche hatte über diesen notiert:

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Nietzsches Krankheit, sich immer lauter nach vorne drängend

lange Beine, blond (Strohkopf!) ›Rassendeutscher‹, mit Gift und Galle gegen Alles anrennend, was Geist und Zukunft verbürgt: Judenthum, Vivisection usw. (XIV: 506)

Noch einmal zu diesem irgendwie auch zu Björn Höcke (vgl. Nie­ meyer 2023) passenden Porträt, von einer anderen Seite her: Weder dieses noch jenes Bild war unberechtigt – und doch hätte, so die hier verfochtene Vermutung, auch Nietzsche, unabhängig von seiner Schwester, deren Aufnahme in EH nicht gewünscht, weil es ihm letztlich nicht klug erschienen wäre.

Nietzsches Krankheit, sich immer lauter nach vorne drängend Erinnert sei an den Ausdruck »Deutsche-Bank-Peanut«, der treffend schien im Kontext des EH-Entwurfs vom April 1888 und beziehbar auf Nietzsches Krankheit. Mir nämlich will es nach dem geschilderten Aufwand, den Nietzches Schwester betrieb, um ihrer als Harmlosig­ keit zu gedenken (vgl. Kap. 8), nicht unwahrscheinlich dünken, dass die zwanzig Jahre Verspätung, mit der EH erschien, auch hierin, also mit Förster-Nietzsche Strategien, die Krankheitssymptome plau­ sibel zu machen, ihren Grund hatte. Man weiß inzwischen, dass ihr Widerwille gerade gegenüber diesem Werk auf zwei andere Sätze zurückgeht, die sie 1908 unterschlug und die erst seit 1969 bekannt sind. Mit der einen Bemerkung52 sah sie sich beleidigt, mit der anderen53 Kaiser Wilhelm II., gerade frisch gekrönt, aber für liberale Kräfte in Deutschland, gemessen an seinem Vorgänger, ein Horror (so eben auch für Nietzsche). Tatsächlich aber verband Nietzsche zumal seine Kaiser-Kritik mit einem Lob auf das gleichsam polnische Blut, das er in seinen Adern spüre – nicht aber der Kaiser, wie sich an einem Satz zeigen lässt, der erst 1969 aus der von Colli/Montinari bekannt gemachten authentischen Fassung des Ecce homo publik wurde: Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den »Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein.« (VI: 268) 53 »Ich habe gegen Alles, was heute noblesse heißt, ein souveränes Gefühl von Distinktion, – ich würde dem jungen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.« (VI: 268) 52

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tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter wie Schwester – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben, wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit. (VI: 268)

Was für eine Frechheit Nietzsches, aus Perspektive seiner Schwester betrachtet, dieses schon im Entwurf vom April 1888 beobachtbare Kokettieren mit polnischem Blut, und dies in der Hochphase des völ­ kischen Antislavismus insbesondere der Jugendbewegung, als dessen wüstetes Zeichen Hitlers ›Polenfeldzug‹ von 1939 zu gelten hat. (vgl. Niemeyer 22022: 124 ff.) Und dies von einem, der vermutlich nun schon seit 1865/66 Tag und Nacht darüber nachdachte, wie es sich mit seinem »schlechten Blut« denn verhält. Diesen Zusammenhang übersah Katrina Mitcheson (2021: 148 ff.) bei ihrer auf die Vokabel Polish Nobility (Teilüberschrift) statt »bad blood« (jenes des von Nietzsche als Syphilitiker verdächtigten Vaters) konzentrierten Deu­ tung dieses Textabschnitts. Ein ähnlicher Fehler unterlief John F. Whitmire (2021: 338) bei seinem mutigen Versuch, über »Ecce Homo’s bombastic claims and much of its strange style« (ebd.: 335) ohne zureichende Kenntnis der Krankheit Nietzsches und ohne Erwähnung des Versprechens eines »tragischen Zeitalters« (VI: 313) – als eines »bombastic claim« schlechthin – urteilen zu wollen. Allen beiden entging, welche Sorge Nietzsche umtrieb im Blick auf seinen Vater: Mein Vater starb mit sechsunddreissig Jahren: er war zart, liebenswür­ dig und morbid […] – eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst,

lesen wir hier, sowie: Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreißigsten Lebensjahr kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität

– was nicht wirklich gut klingt und auf briefliche Klagen dieser Art rekurriert, die Thomas Manns Novelle Der Tod (1897) inspiriert haben könnten (vgl. Kap. 6). Mit Nebelkerzen geht es weiter bei Nietzsche, mit einer Ein­ schränkung: Dass er, wie es in Warum ich so weise bin 2 heißt und Scarlett Marton (2020) herausgestellt hat, aus seinem »Willen zur Gesundheit, zum Leben«, seine Philosophie machte (VI: 267), steht für eine wichtige und triftige Selbstbeobachtung, die uns hilft, den

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Nietzsches Krankheit, sich immer lauter nach vorne drängend

antichristlichen und darin lebensphilosophischen Grundzug seiner Theorie in ihren Begründungsmotiven zu erkennen. Anders schon verhält es sich mit der Konkretion: Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, dass man im Grunde gesund ist.(VI: 266)

Sätze wie diese haben etwas Rührendes, vergleichbar dem Pfeifen eines verängstigten Kindes im zunehmend dunkler werdenden Wald, was zugleich heißt: Wir wollen Nietzsche Sätze wie diesen als ihm damals selbsttherapeutisch wichtig durchgehen lassen, ebenso wie die um sie herum gruppierte Theorie – im Wissen um einen Brief von ihm von Mitte März 1885, in welchem es unmissverständlich heißt: Leider bin ich sehr viel krank54, und dann hasse ich die Menschen, welche ich kennengelernt habe, unsäglich, mich eingerechnet. (7: 25)

Diese Bemerkung passt nicht zur Heilungsmär aus dem hier in Rede stehenden Abschnitt von Ecce homo – wohl aber zu dem Umstand, dass Nietzsche zeitgleich im Nachlass, insbesondere in für Der Wille zur Macht geplanten Passagen mit Euthanasie-nahen Überlegungen, lebhaft Kunde für diesen seinen Fremd- wie Selbsthass gibt. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang ein Eintrag vom 27. März 1889 ins Jenaer Krankenjournal des Inhalts: Meine Frau Cosima hat mich hierher gebracht. (zit. n. Volz 1990: 397)

Denn dies kann kaum anderes bedeuten als, erstens: dass Nietzsches seine Syphilis seiner ›Frau Cosima‹ verdankt oder, zweitens: dass er sie sich im Rücken seiner ›Frau Cosima‹ heimlich erworben hat – zwei Varianten, die in ihrer Skurrilität eines verbindet: Beide Varianten sind, posthum, extrem beleidigend für Cosimas Gatten Richard Wag­ ner, mit dem Nietzsche sich in EH im einschlägigen Kontext auseinan­ dersetzte, etwa wenn er der »schlimmen Erbschaft von Seiten meines Vaters« dafür meint danken zu können, keinen wirklichen Bruch mit Wagner inszenieren zu müssen; vielmehr gab ihm seine Krankheit als Förster-Nietzsche brachte 1909 bei der Erstedition an dieser Stelle: »… bin ich oft krank und nehme das alte Mittel« (GBr V/2: 597) – eine Brieffälschung nicht ohne Hintersinn, die ihre auf das ›alte Mittel‹ (Choral) abstellende Erkrankungstheorie absichern soll. Um weitere Eingriffe in speziell diesen Brief (Nr. 400, im Zusammen­ hang der Komplettfälschung Nr. 401) zu erläutern, fehlt hier der Platz. (vgl. zum Thema Brieffälschungen: NLex2 [Niemeyer]: 57 ff.) 54

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Teil dieser Erbschaft »ein Recht zu einer vollkommenen Umkehr aller meine Gewohnheiten« und beschenkte ihn »mit der Nöthigung zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein… Aber das heisst ja denken!« – eine sehr hübsche Überlegung, zumal im Blick auf die Pointe: »[D]iese ›Rückkehr zu mir‹ war eine höchste Form von Genesung selbst! … Die andre folgte bloss daraus.« (VI: 326) Das Problem dieses Arguments offenbart die Vergangenheitsform (»folgte«), die deutlich macht: Nietzsche hängt hier einem schönen Traum nach – und gesteht es letztlich auch zu durch Sperrung von »schlimm« vor »Erbschaft«, also durch das indirekte Zugeständnis, dass es sich mit der väterlichen Erbe, deutlicher: der Vererbung bei ihm doch womöglich weit brisanter verhält als gedacht.

Nietzsche als euthanasienaher Denker in eigener Sache: EH, GT 1–4 Worum es sich dabei handeln könnte, wird im Zuge der Analyse der werkinterpretatorischen Erläuterungen Nietzsches zu seinem Erstling GT (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 148 ff.) deutlicher. Jutta Georg beispiels­ weise mutmaßte (vgl. auch Niemeyer 2019: 434 f.; 2020: 295), hier werde transparent, dass sich der Kreis von der ersten bis zu einer seiner letzten Schriften schließt; seinen Glauben an die Kraft der Tragödie und an ihre Renais­ sance, ausgehend vom antiken Vorbild, hat er sich zeit seines Schaffens erhalten. (Georg 2018: 90)

Zwischenfrage: Hat die Autorin eigentlich verstanden, von welcher Art Tragödie Nietzsche nun, 1888, redet? Hat sie die durchaus ver­ dächtige Ergriffenheit zur Kenntnis genommen, mit welcher Elisabeth Förster-Nietzsche (1897: 105 f.) Passagen wie diese erstmals dem Publikum präsentierte, statt sie klammheimlich und aus Scham zu unterschlagen? Fragen ähnlichen Charakters sind auch zu richten an Birgit Recki, insofern sie, ähnlich wie vor ihr Enrico Müller (2015: 15) und Annamaria Lossi (2015: 104) sowie, nach ihr, Rüdiger Görner (2017: 79), geradezu angestrengt herumliest um den Satzteil »Beja­ hung des Vergehens und Vernichtens« (VI: 313), den sie im Übrigen ohne Hervorhebung zitiert (vgl. Recki 2016: 272). Vermutlich – andere, bessere Erklärungen vorbehalten – möchte Recki eines stren­ geren Urteils über Nietzsche enthoben sein und der von Volker Ger­

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hardt entlehnten These, Nietzsches »grundlegender Gedanke« laute: »Die Kultur, die Kunst hält uns am Leben« (ebd.: 267), keine Probleme bereiten, will sagen: Sie will sie nicht ersetzen müssen durch die Vari­ ante: »…die Gnade des Arztes erhält Erbkranke am Leben!« Analoges scheint mir für Nicola Nicodemo zu gelten. Dessen Versuch zum Thema beginnt exakt mit dem Satz nach jenem von Recki umschifften Abschnitt, nun aber nicht etwa mit der eigentlich anstehenden Frage, was dieser Satz (»Ein Psychologe würde noch hinzufügen, dass…«; VI: 313) eigentlich mit jenem vorangehenden, mit den Worten »… ohne daran zu leiden…« endenden zu tun hat. Dass diese Frage nicht ganz unwichtig gewesen wäre, zeigt die hier gegebene knappe Antwort: »Nichts!« – was notwendig die Vermu­ tung bestärkt hätte, Nietzsche werfe hier lediglich eine Nebelkerze zwecks Verdeckung eines tatsächlichen ungeheuren Satzes. Nicht so bei Nicodemo: Er nimmt Nietzsches nun folgende Anschlussüber­ legung (»Ein Psychologe würde noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner zu thun hat«; VI: 313) zum offenbar hochwillkommen Anlass, den »Prozess der Selbstgestaltung« (Nicodemo 2016: 206) à la Nietzsche zu erläutern – erneut übrigens eine Denkfigur von Volker Gerhardt. Kaum überraschend insofern, dass Nicodemos Pointe jener Reckis sehr nahekommt: »Lediglich durch die Kunst kann der Mensch […] sich im Leben erhalten, die Kräfte steigern und ein gelingendes Leben führen.« (ebd.) Und kaum überraschend auch der mir hier naheliegende Anschlusskommentar: »… sofern er denn überhaupt am Leben bleibt!« Wieder etwas ernster gesprochen: Was ersatzweise Not tut, ist Textexegese, allerdings eine dem Text im Ganzen (und nicht nur je erwünschten Zitatbrocken) zugewandte, nicht von eigenen Erkenntnisinteressen diktierte. Mein Vorschlag in Sachen des damit markierten Desiderats: Noch 1886 hatte Nietzsche GT mit den Wor­ ten kritisiert: Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an diesem Buch, das ich jetzt noch mehr bedauere […]: […] Dass ich […] vom ›deutschen Wesen‹ zu fabeln begann […]«. (I: 20)

Nun jedoch, nur zwei Jahre darauf, hat dieser kritische Zugriff völlig ausgespielt, jedenfalls der Fassung letzter Hand zufolge. So hatte Nietzsche einer Vorstufe zufolge (vgl. Sommer 2013: 481) noch beginnen wollen mit:

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Gegen die ›Geburt der Tragödie‹ gerecht zu sein, wird mir heute nicht leicht. Ihr schädlicher Einfluß ist mir noch zu frisch im Gedächtniß. (XIV: 486 f.)

Im publizierten Text hingegen findet sich dann nur die salomonische Variante: »Um gegen die ›Geburt der Tragödie‹ gerecht zu sein, wird man Einiges vergessen müssen.« (VI: 309) ›Vergessen‹ meint hier: ›Verdrängen‹ – so, wie in Sachen der ›Festspielschrift‹ WB zu beob­ achten. Diese hatte Nietzsche noch in zeitnaher Wertung, durchaus im Gegenzug zu Wagners seinerzeitiger Begeisterung, für undruckbar erklärt, denn: »[I]ch bin weiter hinter dem zurück geblieben, was ich von mir fordere.« (5: 119) Nun jedoch, in GT 4 aus EH, wird die nämliche Schrift mit der erstaunlichen Bemerkung ausgezeichnet, »der ›Gedanke von Bayreuth‹« habe sich »in Etwas verwandelt, das den Kennern meines Zarathustra kein Räthsel-Begriff sein wird: in jenen grossen Mittag, wo sich die Auserwähltesten zur grössten aller Aufgaben weihen.« (VI: 314) Und gleich zu Beginn dieses Abschnitts urteilt Nietzsche über GT: Aus dieser Schrift redet eine ungeheure Hoffnung. Zuletzt fehlt mir jeder Grund, die Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik zurückzunehmen.

Eine für einen Sprachartisten wie Nietzsche ungewöhnlich verquaste Formulierung, zumal der Folgesatz hiermit, also mit (dionysischer) Musik oder gar mit GT, so gut wie nichts zu tun hat, insofern Nietzsche, vergleichbar nebulös, davon redet, »die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden…« (VI: 313) Wovon redet Nietzsche hier, in einer an Himmlers Posener Rede von 1941 gemahnenden Diktion? Und, nicht zu vergessen: Was hat dieser Satz mit dem Folgesatz (»Ein Psychologe dürfte noch hinzufü­ gen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts mit Wagner zu thun hat«) zu tun? Weiter: Hat Nietzsche hier womöglich nur suggerieren wollen, er böte einen (weiteren) Kommentar zu GT, um auf diese Weise zu kaschieren, dass er einen neuen, ganz von diesen seinem Erstling absehenden Gedanken

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bringt?55 Hat er also Werkeinheitlichkeit postuliert, um seinem tat­ sächlich ganz neuen und zugleich ungeheuren Gedanken aus EH, GT 4 mit mehr Autorität ausstatten zu können, ebenso wie sein Gesamt­ werk als eines geschlossenen? Einiges jedenfalls spricht für diese Deutung, namentlich Nietzsches erleichterter Ausruf, dass »Alles Eins ist und Eins will« (8: 545) an Heinrich Köselitz vom 22. Dezem­ ber 1888, ein Ausruf nach (erneuter) Lektüre von GT, will sagen: ein Ausruf, der schon Teil der Inszenierung ist und einen in der Tat neuen Gedanken als alt ausgeben soll. Schauen wir uns, mit dieser Überlegung im Hinterkopf, den Rest von GT 4 an. Wichtig dabei, dass Nietzsches im Vorwort zu EH meinte versichern zu dürfen: Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ›gepredigt‹, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. (VI: 260)

Dem korrespondiert Nietzsches Stolz aus einer Vorstufe zu EH, sich als ›guten Europäer‹ ausweisen zu dürfen, in der Hoffnung, als »der letzte antipolitische Deutsche« (XIV: 472) in Erinnerung zu bleiben. Freilich: Derlei ließ Nietzsche nicht in Druck gehen – wohl, weil damit auf eklatante Weise dem Eindruck widersprochen wäre, den er mithilfe von Statements wie »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit« zu erwecken suchte, ebenso wie durch Sätze wie »[E]s wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat: Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik« (VI: 366), vor allem aber, und ausgehend von der hier wieder in Betracht kommenden Vokabel ›Krieg‹: weil der Aufschrieb vom ›guten Europäer‹ abgelenkt hätte vom angeblich notwendigen Krieg gemäß seiner Überlegung aus EH, GT 4: Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschen­ schändung gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss. 55 Thomas Brobjer kommentiert hierzu nur: »This is an interesting reformulation of his task« (Brobjer 2021: 251) – und übersieht dadurch die hier freigelegte tiefere Bedeutung sowie die Fragwürdigkeit dieses Paradigmenwechsels.

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Und nahtlos folgt der eben bereits kurz angesprochene Satz: Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasa­ gen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden… (VI: 313)

Wem bis zu dieser Stelle unklar war, warum Nietzsche EH mit dem Satz eröffnete: In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, wer ich bin (VI: 257)

– hier, mit dieser Stelle, dürfte es ihm klar sein, und er dürfte nun auch ahnen, wieso Nietzsche, wie Heinrich Detering durch subtile Text­ analyse zeigen konnte, den Einleitungssatz als »triumphale Überbie­ tungsgeste« anlegt, »die sich gegenüber der christlichen Tradition als übermütig blasphemische Verspottung inszeniert.« (Detering 2009: 191) Nicht zu vergessen: Warum sich Nietzsche in den gleich nach­ folgenden Sätzen als »Moral-Ungeheuer« und »Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat«, darlegt, gar als »Jünger des Philosophen Dionysos« (VI: 257 f.). Denn so muss man wohl reden, wenn man sich, wie Nietzsche, spätestens mit EH, GT 4 als Entscheider über Tod und Leben erprobt. Wenn man den erweiterten Kontext betrachtet, wird nun auch klar, warum dieses Textstück an dafür ganz ungeeigneter Stelle, nämlich als Teil eines Kommentars zu GT, platziert wurde. Denn tatsächlich war dies offenbar nur eine Art Notaufnahme für eine Passage, die als Vorstufe zu dem hier in Rede stehenden Passus aus EH gedeutet werden darf. Sie lautet: – jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züch­ tung und andererseits durch Vernichtung Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft, und dessen Gleichen noch nicht da war! (XI: 98)

Nochmal: Seit Frühjahr 1884 stand dieser Passus bereit. Prominent und für Nazis attraktiv wurde er allerdings erst durch Förster-Nietz­ sches Kompilation WM2 als Teil von § 964, mit desaströsen Folgen für Nietzsches Image als eines NS- und Euthanasie-nahen Denkers, wie außer Peter Trawny (2022: 136) schon andere wähnten, Nobel­ preisträger (etwa Russell 1934: 147) beispielsweise oder vormalige

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Nietzscheforscher (etwa Taureck 2019: 87 ff.). Ihnen allen resp. ihren Leser*innen sei es nochmals aufgeschrieben: Es war Nietzsches Schwester, die mit ihrer von ihrem Bruder nicht autorisierten Edition insbesondere dieser kanonischen Fassung von WM dieses Image erzeugte, vermutlich gar gezielt erzeugen wollte. Deswegen ist Nietz­ sche aber noch längst nicht aus dem Schneider. Denn ihm ist anzu­ lasten, besonders problematische Gedanken des von seiner Schwester für WM genutzten Nachlasses in seine zur Veröffentlichung bestimm­ ten Werke eingearbeitet und also mit der Weihe der Endabnahme durch den Autor versehen zu haben – wie den vorgenannten, in zwei Teilen zitierten Passus aus EH, GT 4. Wie, freilich, ist dieser Passus zu deuten? Was – um hiermit zu beginnen – verbirgt sich hinter dem Ausdruck »mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung«? Aus­ gehend von AC kann die Antwort kaum zweifelhaft sein, deutlicher: ausgehend von dessen Anhang, dem Gesetz wider das Christenthum, das eine zweitausendjährige Geschichte christlicher Widernatur und Menschenschändung rückgängig machen will – und an das Nietzsche nicht von ungefähr in EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5 erin­ nert. Nietzsche zitiert hier unter dem erkennbar um Harmlosigkeit bemühten Rubrum »ein Satz aus meinem Moral-Codex gegen das Laster« den vierten Satz jenes Gesetzes, ein Verbot betreffend »gegen die Predigt der Keuschheit« (VI: 307). Daraus folgt: Jene »Menschen­ schändung« aus EH, GT 4, deren Beendigung das »Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen« soll, und jene »Keuschheit« aus dem Gesetz wider das Christenthum, deren Predigt »wider den heiligen Geist des Lebens« geht, steht letztlich für das nämliche Programm. Damit entfällt die Chance, Nietzsche als Bruder im Kampf gegen die zu jener Zeit allfällig registrierte Dekadenz und Entartung – Syphilis ist hier nur ein besonders drastisches Zeichen – gewinnen zu wollen, etwa indem man zusammen mit ihm Sex zu einer ›unreinen‹ Sache erklärt oder, wie Henrik Ibsen, diese »typische alte Jungfrau«, als Ziel hat, »das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu vergiften.« (VI: 307) So, mit dieser Tollkühnheit dessen, der genau weiß, welchen Hintersinn die Vokabel ›Gift‹ in diesem Zusammen­ hang anspricht, redet hier Nietzsche, der zusätzlich noch den Mut – als mutmaßlich Syphiliskranker – findet für den frivolen Witz: Darf ich anbei die Vermuthung wagen, dass ich die Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift. (VI: 305)

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Nein, dieser Nietzsche, womöglich weniger der ›Tatsache‹ zufolge denn speziell dieser ›Interpretation‹ nach, ist kein Fall für die ersatz­ weise in Betracht zu ziehende Syphilis-Prophylaxe, die Keuschheit. Insoweit bleibt im Blick auf das von Nietzsche zum Druck bestimmte Werk festzustellen, dass jene ›Partei des Lebens‹ als Vereinigung sexualbejahender, lebens- wie liebesfroher antichristlicher Freigeister begriffen werden darf. Ihr bleibt, Nietzsches Kalkül (»ein Jahrhundert voraus«) zufolge, bis 1988 nur ein Mittel in Sachen der Bekämp­ fung der Syphilis als Erbkrankheit, gesetzt, Kondome blieben außer Betracht, ebenso wie Penicillin als kausal ansetzendes Therapeuti­ kum: eben jene im Nachlass vom Oktober 1888 genannten »härtes­ ten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen«, und zwar als Teil der in EH, GT 4 angesprochenen »härtesten, aber nothwendigsten Kriege« zwecks »Höherzüchtung« und mit dem Ziel der Vermeidung der »schonungslosen Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« – eine Formulierung, bei der man strikt, um Nietzsches nicht, wie Jutta Georg56, Unrecht zu tun, darauf zu achten hat, dass hier »alles« steht und nicht »aller«, also von Sachen die Rede ist, nicht von Personen. Gleichwohl und trotz dieser Erläuterung: Kaum ein Satz Nietz­ sches aus den von ihm zum Druck bestimmten Werken ließ selbst seine größten Fans so sprachlos zurück wie dieser. Und hier hilft es wenig, derartige Passagen zu verschweigen57 oder sie durch persön­ lich gehaltene Leumundszeugnisse zu relativieren, verbunden mit der Erneuerung des altbewährten Pathologisierungsverdachts für den nicht exkulpationstauglichen Rest des Spätwerks, wie 1941 am Bei­ spiel Lutz Gelpke zu beobachten war. (vgl. Niemeyer 2020: 131 ff.). Genauso wenig führt es weiter, sich, wie bei Rüdiger Safranski beob­ achtbar, damit zu trösten, dass Nietzsche, »solange er noch geistig wach war, immer noch seine Vision des ironisierenden Spiels bei der Hand [hatte].« (Safranski 1997: 44) Wenig Trost bietet schließlich Maria Cristina Fornaris ähnlich angelegtes Argument, »um mit der Idee aufzuräumen, der von Nietzsche erhoffte ›neue Mensch‹ sei das Sie zitiert Nietzsche gleich in zweit Texten (vgl. Georg 2016: 212; 2018: 90) falsch, also nicht »Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen«, sondern »Vernichtung aller Entartenden und Parasitischen« – was, wie ich finde (und Betroffene wohl gleichfalls) durchaus einen Unterschied macht. 57 Wie bei Enrico Müller zu beobachten, dem nichts weiter einfällt als: »Betont wird hier das Unterscheidende und perspektivisch Neue im Ansetzen des Autors.« (Müller 2020: 94) 56

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Ergebnis einer Art Eugenik« (Fornari 2014: 326), reiche die Erinne­ rung an Nietzsches Verwahrung in EH gegen »gelehrtes Hornvieh«, das ihn des Wortes ›Übermensch‹ wegen »des Darwinismus verdäch­ tigt« (VI: 300) habe. Nein, dieses eine Wort oder Versuche, eugeni­ sche Interpretationen unter »bedauerliche Rezeption« abzubuchen, die »unmissverständlich auf einer Verkürzung, Ideologiesierung und Dekontextualisierung der Äußerungen Nietzsches [basiert]« (Auren­ que 2018: 171), reicht leider nicht aus, gehört vielmehr den Bedenken zu, die Andreas Urs Sommer auf dem Schirm hatte bei seinem auf den Satzteil »schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasiti­ schen« (VI: 313) konzentrierten Nachsatz, es könne nicht angehen, derlei »Verlautbarungen als bloß metaphorische Herzensergießungen eines Geisteskriegers ruhigzustellen.« (Sommer 2013: 490) Was ersatzweise Not tut, ist Textexegese der vorgenannten Art. Dann nämlich wird klar, dass Nietzsche sich in EH dafür entschied, die Bedeutung seiner früheren Schriften und den roten Faden zwischen ihnen gleichsam für jeden Preis herauszustellen – auch für den Preis, als Apologet des Irrationalen im Zeichen des Dionysischen dazuste­ hen, wie anhand von EH, GT 4 mit recht schockierendem Ertrag zu studieren. Einen Ertrag, dessen Hintersinn man erst dann innewird, wenn man von dem redet, wovon in der Regel geschwiegen wird: von Nietzsches Syphilis. Eine perfekte Überleitung zu Werner Stegmaier, dessen Inter­ pretation zum Eröffnungsabschnitt Warum ich ein Schicksal bin 1, 2008 erstmals erschienen, im Mainstream der Nietzscheforschung inzwischen als »masterclass in the exegesis of Nietzsche’s philoso­ phical writing« (Large/Martin 2021: 7) gilt und sich derart hoher Wertschätzung erfreut, dass man diesen Text 2021 erneut präsentiert bekam, in englischer Übersetzung und in einer »shortened and revised version.« (Stegmaier 2008/21: 385)58 Was unverändert blieb, ist Stegmaiers Auslegung des allerersten Satzes: »Ich kenne mein Loos« (VI: 365) – ein Satz, der, für mich jedenfalls, ohne weiteres die Fort­ schreibung erlaubt: »… als eines Syphilitikers«; eine Fortschreibung wiederum, die den letzten Satz dieses Abschnitts (»Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik«) insofern sinnvoll machte, als jene ›große Politik‹ ja durchaus auch als eine gegen die Fortdauer der Menschheits-Geißel ›Syphilis‹ gelesen werden darf und insofern Teil 58 Wer sich des Prologs erinnert, wird ahnen, dass es diese Passagen waren, die unseren Anonymus derart erzürnten, das er vergaß, was seines Amtes ist.

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von Nietzsches In-Aussicht-Stellen eines »tragischen Zeitalters« (VI: 313) sein dürfte. Einverstanden: Es kann so sein. Diese Option als dann durch Falsifikation auszuschaltende »unwahrscheinliche Lesart« (Oever­ mann) aber gar nicht in Betracht zu ziehen, und dies in einer ursprüng­ lich 52 Druckseiten umfassenden Erläuterung zu einem eineinhalb Druckseiten umfassenden Textstück Nietzsches, ist, für mich jeden­ falls, nicht das, was von einer Interpretation erwartet werden darf, die allenthalben als Beispiel für »patient reading« gelobt wird, welches »gives access to the whole of Nietzsche’s later philosophy.« (Large/ Martin 2021: 7) Zumal Nietzsche im achten und vorletzten, von Stegmaier nicht mehr in Betracht gezogenen Abschnitt von Warum ich ein Schicksal bin andeutet, das Christentum habe durch seine Par­ teinahme für den »guten Menschen« »das Gesetz der Selektion gekreuzt« (VI: 374) – ein furchtbares Wort zumal für einen wie Nietz­ sche, dem wenig später jener »gute Mensch«, etwa in der Jenaer Irren­ anstalt, die einzige Hoffnung war, ihn vor dem Vollzug des Gesetzes der Selektion, wie 1895 etwa von Alfred Ploetz als sozialpolitisches Programm unter Berufung auf einen Zarathustra-Passus gefordert (vgl. Niemeyer 2022: 237), zu schützen. Ein furchtbares Wort aber auch, weil es Nietzsche im Nachlass vom Frühjahr 1888 unter dem Titel Anti-Darwin listete und mit der Drohung in Verbindung brachte, der »Wille zur Macht« gäbe »uns« die Mittel in die Hand, die »Gesun­ den« zu bewaffnen »gegen die Verkommenden und Erblich-Belaste­ ten« – »Typen der décadence«, wie es zusammenfassend heißt, ein Ausdruck, dem nahtlos folgt: »vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt als dies unerwünschte Schauspiel…« (XIII: 304 f.) Das Ganze ist bewusst diffus gehalten und erreicht, auch dadurch, die höchste NS-Affinität alles jemals von Nietzsche Geschrieben (wenn­ gleich nicht von ihm, sondern von seiner Schwester Veröffentlichten). Darüber, also über beide Aspekte hinwegzusehen, ist, wie mir scheinen will, im Fall von Nietzsches Schwester mit Sympathie zu erklären für die hier aufbrechende Position ihres Bruders, wie sie sich auch ausspricht in ihrer Kompilation Der Wille zur Macht (1906) sowie dem letzten ihrer Bücher (von 1935; vgl. Kap. 8). Anders stehen die Dinge im Blick auf die im Vorhergehenden kritisierten Nietzscheforscher, die Auslegung von EH, GT 1–4 betreffend. Ihnen ermangelt offenbar, ganz in der Logik der Old School und als Folge des sie (mit-)definierenden Merkmals der nur unzulänglichen Beachtung der Feinheiten von Nietzsches Biographie, zureichendes Verständnis

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für die Verzweiflung, in die sich Nietzsche in den Wochen vor seinem paralytischen Zusammenbruch, wissend um die Details seiner Krank­ heit wie kein zweiter, gestürzt sah. Dies könnte die ersatzweise aufge­ botenen Deutungsoptionen im Blick auf EH, GT 1–4 erklären, etwa die Rede von »Nietzsches Gedanken vom Ursprung der Kultur in der Bewältigung des Todes« (Recki). So betrachtet müsste das in diesem Buch dargebotene Projekt einer New School der Nietzscheforschung eigentlich auf Applaus treffen, hilft es doch heraus aus Verlegenheiten dieser Art. Nicht geholfen ist damit allerdings Enrico Müller, der in einem Buch mit dem merkwürdigen Titel Nietzsche-Lexikon tatsächlich doch zu EH meinte bilanzieren zu müssen, in dieser Schrift, »deren souve­ räner Humor lange mit Größenwahn verwechselt wurde, wird der Zusammenhang von Lebendigkeit, Literarität und Autorschaft von Texten als solcher narrativ verhandelt«, mehr als dies: Was die biographische oder psychiatrische Deutung der Vergangenheit als Lebensverfälschung […] zu denunzieren pflegte, haben textologi­ sche, formtheoretische und medienästhetische Lektüren mittlerweile als Werkpolitik lesbar gemacht. (Müller 2020: 93)

Was das genau heißen soll und ob die Vokabel »Werkpolitik« positiv gemeint ist oder pejorativ, weiß ich zwar nicht – eigentlich ein betrüblicher Befund im Blick auf die hier in Rede stehende Litera­ turgattung, die ja an sich weniger dem Experten denn dem Laien zugedacht ist. Auch deswegen hier mein eher schlichter Gegenbefund in Gestalt eines Ratschlags à la New School: »Bitte um Nietzsches Autobiographie Ecce homo einen weiten Bogen schlagen und erst lesen, wenn man, anders als Enrico Müller von der Old School der Nietzscheforschung, in der Lage ist, einen Text ähnlich dem mit diesem Imperativ beendeten zu schreiben!«

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11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…« Über die Hintergründe für Nietzsches spätes Bekenntnis zum exterminatorischen Anti-Antisemitismus

Jedem einigermaßen humanen Nietzscheleser, er mag zu den Antise­ miten stehen wie er will, dürfte wohl das Blut in den Adern gefrieren, wenn er ganz am Ende seiner Lesetätigkeit in Sachen Nietzsche auf Mitteilungen stößt wie: »Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft« (8: 579), oder: Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen (8: 572),

bis hin zum Klassiker: Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen… (8: 575)

Gewiss, dies sind alles Zeugnisse für Nietzsches im Januar 1889 anhe­ benden Wahnsinn, die man deswegen Schulter zuckend beiseitelegen mag. Und doch: Müssen Textsorten wie die genannten nicht gleich­ wohl, und sei es aus Gründen der gerade von Nietzsche geforderten radikalen Aufklärung, einem hermeneutischen Procedere unterzogen werden? Und liegt dabei nicht allererst die schon von Weaver Santa­ niello (1998: 218 f.) vehement verfochtene Annahme nahe, dass schon Nietzsche den Antisemitismus in seiner Zeit, also Jahrzehnte vor Auschwitz, als so schrecklich und bedrohlich erlebte, dass ihm ein gleichsam präventiver eliminatorischer Anti-Antisemitismus ange­ zeigt schien – und sich als Vorschlag Bahn brach in dem Moment, als ihm die Kontrolle über sein Denken und Schreiben abhanden kam? Wenn dem so gewesen sein sollte – was hat dann jene Kontrolle bedingt? Deutlicher: Wer und was hat Nietzsche gehindert, sich schon früher, zu Zeiten seiner geistigen Gesundheit, in dieser Radikalität als Anti-Antisemit zu bekennen – und jene namhaft zu machen, die er eines potentiell eliminatorischen Antisemitismus verdächtigte? Und,

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11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…«

weil diese Frage nun nahe liegt angesichts des Fehlens des Namens Richard Wagner in der obigen Auflistung: Ist jene Kontrolle im Januar 1889 wirklich vollständig zusammengebrochen – oder wird nicht doch auch diesmal einer noch geschützt: eben Wagner? Und wenn ja: Warum? Sowie schließlich: Wie viel Selbstverachtung verbirgt sich in jenen Zeilen, wenn man bedenkt, dass der späte Nietzsche durchaus Gründe hätte haben können, den frühen Nietzsche jenen zu Erschießenden zuzurechnen? Dies sind in etwa die Fragen, auf die im Folgenden eine Antwort versucht werden soll. Dabei ist allererst darauf hinzuweisen, dass wir bei diesen Thema ein extrem vermintes Gelände betreten. Dies hat auch mit der überaus verwirrenden Datenlage zu tun. So hat beispielsweise Nietzsches Schwester – die selbsternannte Nietzscheexperten wie Domenico Losurdo (2009) und Robert C. Holub (2002) absurder Weise zu rehabilitieren trachteten – die wichtigsten Dokumente für Nietzsches (späten) Anti-Antisemitismus, nämlich seine Briefe an Theodor Fritsch vom März 1887, systematisch in Vergessenheit gebracht. (vgl. Niemeyer 2003) Andere Zeugnisse dieser Art wurden von ihr unter­ schlagen, etwa auch jener Brief Nietzsches an Franz Overbeck von Anfang Dezember 1885, in dem er darüber geklagt hatte, seine Bücher würden seines antisemitischen Verlegers wegen »überall unter die ›antisemitische Litteratur‹ gerechnet«, außerdem mache ihm seines Verlegers (gleichfalls antisemitischer) Redakteur den Streich, ihn »in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen zu loben.« (7: 117 f.) Förster-Nietzsche unter­ schlug auch andere wichtige Hinweise auf Nietzsches Stellung zum Anti-Antisemitismus. Hierzu gehören die seit 1988 (vgl. Krummel 1988) bekannten, gleichwohl in der Nietzscheforschung zumeist ignorierten systematischen Eingriffe in die von ihr 1904 präsentierten seitenlangen Auszüge aus Briefen Josef Paneths an seine Braut (vom Winter 1883/84) über seine Begegnung mit Nietzsche. Domenico Losurdo (2009: 564) erwähnt zwar diese Briefe, vergas aber die für seine Verteidigung Förster-Nietzsches offenbar hinderliche Auflis­ tung der von der Schwester zu verantwortenden Manipulationen. Der Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang noch der Umstand, dass Förster-Nietzsches Briefedition Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester (1909) von Fälschungen durchsetzt ist (vgl. Janz 1972: 63 ff.) – mit Folgen bis in die Gegenwart hinein. Selbst Robert C. Holub (2002: 224) fiel in einem Fall auf diese Fälschung herein – besonders peinlich, weil er, ähnlich wie Losurdo, Förster-

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11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…«

Nietzsche vom Fälschungsverdacht zu entlasten suchte. Nicht abse­ hen kann man in diesem Zusammenhang auch vom umgekehrten Fall: Weaver Santaniello (1998: 215), Förster-Nietzsche vehement ankla­ gend, fiel gleichwohl im Blick auf Brief Nr. 377 (GBr V/2: 557 f.) auf eine ihrer Fälschungen herein. Die Konsequenz aus den vorgenannten Beispielen kann insoweit kaum fraglich sein: Es muss darum gehen, die gegen Förster-Nietzsche zu erhebenden Vorwürfe auf dem Stand des heutigen Wissens sich immer wieder vor Augen zu führen (vgl. Niemeyer 2009). In der hier interessierenden Sache führt uns dabei vor allem der Umstand weiter, dass Förster-Nietzsche ihren Bruder in ihrer Brief­ edition von 1909 zwar über seinen Schwager als »Agitator in einer zu drei Viertel schlimmen Bewegung« (GBr V/2: 662) klagen ließ, aber das Attribut »und schmutzigen [Bewegung]« einfach unterschlug – und dies in einem Brief (vom 7. Februar 1886), in welchem Nietzsche seinen Vorwurf, sie sei »herausgesprungen […] aus der Tradition des Bruders« (7: 148), am Exempel ihrer (und ihres Gatten) Agitation für den Antisemitismus erläutert. Denn so viel hatte es nicht mit jener ›Tradition‹ auf sich, an einem Beispiel gesprochen: Selbst wenn man sich mit Weaver Santaniello darauf einigen könnte, dass Nietzsches späte – und teils, etwa im Antichrist am Exempel Paulus, tempera­ mentvoll propagierte – These, »dass mit den Juden der Sklavenauf­ stand in der Moral beginnt« (V: 268), nichts mit Antisemitismus zu tun hat, insofern Nietzsche hier nicht »das zeitgenössische Judentum angreift, sondern das priesterliche Judäa, dem nach seiner Auffassung das (antisemitische) Christentum entstammt« (Santaniello 1998: 220), bleibt zu beachten, dass zumal Briefe des frühen Nietzsche kei­ neswegs frei sind von antisemitischen Klischees. (vgl. Ahlsdorf 1997: 9; Mittmann 2001: 16 ff.) Ähnliches gilt für Briefe seiner damaligen Freunde, unter ihnen Carl v. Gersdorff, die in der Summe durchaus als Beleg gelesen werden dürfen für Nietzsches spätere bittere Klage aus JGB: Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre. (V: 193)

In der Summe gilt, dass Nietzsche ganz offenkundig über den Anti­ semitismus in grundlegender Weise umlernte, ähnlich übrigens wie v. Gersdorff, der sich im Sog seiner begeisterten Lektüre von Nietz­ sches Morgenröthe der Gefahr bewusst wurde, Wagner »auch durch das Gestrüpp des Kreuzdornes zu folgen«, sprich: »Antisemit zu wer­

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11 »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…«

den.« (zit. n. Thierbach 1937: 36 f.) Noch weiter ging Nietzsche, der 1886 forderte, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen (V: 194)

– mit dem dramatischen Nachschlag jener bereits erwähnten und für den Titel dieses Aufsatzes gewählten Mitteilung: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…« (8: 575) Dies vorausgesetzt, schien es im Zuge der Nietzscherezeption vielen durchaus verlockend, je nach Gusto entweder nur diese oder nur jene Zeugnisse zur Geltung zu bringen. Besonders engagierte sich dabei der spätere (1956) Wagner-Biograph Curt v. Westernhagen, der im Gegenzug zu Alfred Baeumlers Fazit, Nietzsche sei »den Juden […] im Innersten abgeneigt« gewesen (Baeumler 1931: 158), betonte, dass Nietzsche sehr wohl »in den Reihen des Judentums« (Ferrari-Zumbini 1990: 280) gestanden habe. Mit anderen Worten: Baeumler gab als nationalsozialistischer Verehrer vor, nur etwas vom Antisemiten Nietzsche zu wissen – und kopierte damit die Einseitigkeit v. Westernhagens, der, im Interesse Wagners und der Ausschaltung eines Konkurrenten um Hitlers Gunst, einseitig den Anti-Antisemitismus Nietzsches betonte. Nach 1945 dominierte zunächst die letztgenannte Lesart Nietz­ sches, dies nicht zuletzt in der Linie der Studie Friedrich Nietzsche und die Juden des 1937 aus Deutschland emigrierten jüdischen Schrift­ stellers und Juristen Richard Cahen. (vgl. Lonsbach 1939) Selbst ein so entschlossen Nietzsche als Protofaschisten aufarbeitender Autor wie Bernhard Taureck konnte denn auch nicht umhin, lakonisch zuzugestehen: »Nietzsche ist Feind des Antisemitismus.« (Taureck 1989: 23) Ob diese Aussage indes auch auf den ganzen Nietzsche ausgedehnt werden kann, wurde zunehmend in Frage gestellt. So meinte zwar Henning Ottmann noch sagen zu dürfen: »Wagners Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus hat Nietzsche auch in seinen jungen Jahren nicht geteilt.« (Ottmann 1991/92: 23) Zur gleichen Zeit betonte allerdings Barbara v. Reibnitz, dass Nietzsche »den antijüdischen Allianzen, die man in Tribschen bildete, durch­ aus entgegenzukommen bereit war.« (Reibnitz 1992: 40) Besonders nachdrücklich hat sich vor allem Joachim Köhler (1996) dieser These bemächtigt. In dieser Linie argumentiert letztlich auch Thomas Mittmann mit seiner spöttisch vorgetragenen These, »dem selbst ernannten ›Anti-Antisemiten‹« Nietzsche gebühre ein besonderes und fraglos nicht ruhmreiches »Kapitel in der Geschichte des ›moder­

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Unter Wagnereinfluss: Nietzsche als Antisemit

nen Antisemitismus‹«, Nietzsches Philosophie sei »zumindest« in der durch nationalsozialistische »Unterstützer« »vermittelten Form« »zerstörerisch für die Juden Europas geworden.« (Mittmann 2001: 111; 2006) Zieht man von hier aus eine Zwischenbilanz, wird man nicht genug staunen können über den erneut angestimmten radikalen Ton in der Debatte bei gleichzeitiger Beiseitesetzung konkurrierender Erklärungsversuche mittels des Totschlagsarguments »Bagatellisie­ rungsversuch« (Mittmann 2001: 125). Heilsam scheint angesichts dessen allein ein auf beide Seiten des Problems eingehender, mög­ lichst alle relevanten Textzeugnisse einbeziehender Erklärungsver­ such, und zwar getrennt für die Zeit des Wagnereinflusses und die Zeit danach.

Unter Wagnereinfluss: Nietzsche als Antisemit Gut drei Jahre nach Wagners Tod rang sich Nietzsche zu einem merk­ würdigen, halbherzigen, auch etwas verquast formulierten Geständ­ nis durch. So lesen wir im später berühmt gewordenen Aph. 251 aus JGB: Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politi­ schen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. (V: 192 f.)

Nietzsche redet hier von Tribschen, genauer: von seinen insgesamt 23 Besuchen dort zwischen Pfingsten 1869 und Mai 1872 in Wagners Residenz am Vierwaldstätter See, wo Wagner, subventioniert von Ludwig II., Nietzsche einige Lektionen erteilte auch über den Antise­ mitismus – und Nietzsche, wie er in jenem Aph. 251 Jahre später (1886) zugesteht, allzu bereit gewesen war, diesen Folge zu leisten. Wie ›infiziert‹ – um diese Vokabel Nietzsches aufzunehmen – Tribschen damals gewesen sein dürfte, zeigt ein Blick in den 1850 erstmals vorgelegten und 1869 in zweiter Auflage erschienenen Wagner-Aufsatz Das Judentum in der Musik, einem nicht zuletzt durch Ressentiments gegenüber den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer geprägten unsäglichen Pamphlet, in dem es an entscheidender Stelle heißt:

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Der Jude fällt uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung auf, die […] etwas […] Fremdartiges hat: wir wünschen unwillkürlich mit einem so aussehenden Menschen Nichts gemein zu haben. (GSD 5: 69)

In diesem Stil geht es seitenlang weiter, kulminierend in dem Befund, dass »[d]er Jude, der an sich unfähig ist […], sich uns künstlerisch kundzugeben, […], nichtsdestoweniger es vermocht [hat], in der […] Musik zur Beherrschung der öffentlichen Meinung zu gelangen.« (GSD 5: 73) Das Ganze endet mit der – nun direkt an ›die‹ Juden gerichteten – Mahnung: [B]edenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang! (GSD 5: 85)

Auch wenn nach Hubert Cancik (1998: 77) sowie Saul Friedländer (2000: 168) die letztgenannte Vokabel nicht im Sinne der Forderung nach physischer Vernichtung zu deuten ist, sondern auf das Projekt der Assimilierung des Juden durch Übertritt zum Christentum ver­ weist, besteht zumal in Anbetracht der hiergegen gerichteten Ein­ wände von Paul Lawrence Rose (2000: 289 ff.) sowie der weiter gehenden Erwägungen von Hartmut Zelinsky (2000; 1976) und Joa­ chim Köhler (1997: 415 ff.) kein Anlass zur Bagatellisierung nach dem nachdrücklich von Marc A. Weiner (2000: 39 ff.) zumal am Main­ stream der deutschsprachigen Wagnerforschung kritisierten und gleichwohl noch 2008 zu Gehör gebrachten Muster, wonach die Judenfrage in Wagners Schriften nach 1850 »nur noch eine periphere Rolle [spielt] – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk.« (Borchmeyer / Figl 2008: 173) Vielmehr ist das Gegenteil richtig: Der 1869 wieder veröffentlichte Aufsatz von 1850 steht für den »Beginn von Wagners Antisemitismus im Sinne eines kulturpo­ litischen Konzepts.« (Wagner 1997: 92; vgl. Chamberlain 1933: 224 f.; Zelinsky 2000: 312 f.) Wagner selbst sprach denn auch zehn Jahre nach der Neuausgabe seines Musikjudentum-Aufsatzes, also im Oktober 1879, nun längst in Bayreuth residierend, voller Stolz und im Blick auf eine gerade gehaltene Rede des antisemitischen Hofpredi­ gers Adolf Stoecker davon, dass dieser Aufsatz »den Anfang dieses Kampfes gemacht« (CWT 3: 424) habe – eine Einschätzung, die der Hitlervorläufer Theodor Fritsch noch 1931 im von ihm herausgege­ benen antisemitischen Handbuch der Judenfrage teilte. (vgl. Fritsch 1931: 8)

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Unter Wagnereinfluss: Nietzsche als Antisemit

Zusätzlich muss man in diesem Zusammenhang Wagners Tage­ buchaufzeichnungen (1865) in Betracht ziehen, die gedacht waren zur politischer Belehrung Ludwigs II. Zu beachten ist dabei, dass Wagner im Interesse einer gedeihlichen Sicherstellung wahrhaften Deutschtums seinerzeit für sich am bayerischen Hof unter dem Schutz seines Mäzen, des jungen bayerischen Monarchen, jenen Platz beanspruchte, den Voltaire, Wagner zufolge mit hemmenden Folgen für die Regeneration des deutschen Geistes, in Sanssouci innegehabt hatte. Dabei kann hier nur am Rande notiert werden, dass Wagner die Deutschtumsproblematik in antisemitischer Denktradition unter dem Stichwort »sonderbare Erscheinung des Eindringens eines aller­ fremdartigsten Elementes in das deutsche Wesen« abhandelte und weiter ausführte: In der Natur ist es so beschaffen, dass überall wo es etwas zu schmarot­ zen giebt, der Parasit sich einstellt: ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimilie­ ren. Nichts anderes bedeutet im heutigen europäischen Culturleben das Aufkommen der Juden.

Dass die Herausgeber dieses erstmals 1936 veröffentlichten Textab­ schnitts derlei Formulierungen als »auffallend ›zeitgemäß‹« (LWB IV: 19) lobten, will man gern glauben: Schließlich ging man in jenen Jahren daran, das ›deutsche Wesen‹ endgültig von jenem ›allerfremd­ artigsten Element‹ zu befreien. Der Tendenz nach scheute Wagner vor einem in dieser Richtung weisenden Ratschlag an Ludwig II. nicht zurück. »Die deutschen Fürsten lieferten den Misverstand, die Juden beuteten ihn aus« (LWB IV: 20), heißt es da beispielsweise im weiteren Argumentationsverlauf von einem, der nun alles daran setzt, diesen Fürsten zur Vernunft zu führen und als »Erlöser« (LWB IV: 33) der Deutschen zu präsentieren. Dass sich Ludwig II. zwar gerne in dieser Rolle gesehen hätte, aber der antisemitischen Einbettung der damit verknüpften Programmatik widerstand, gehörte dabei gewiss zu einem der tiefsten Stachel Wagners. Damit mag in etwa die ›geistige‹ Lage in Sachen Antisemitismus skizziert sein, die Nietzsche in Tribschen zwischen 1869 und 1872 vorfand. Substantiell hat sich an dieser Konstellation mit Wagners Weggang nach Bayreuth wenig geändert, abgesehen von neuen Ein­ flüssen, wie exemplarisch die Gobineau-Affäre lehrt, also Wagners fragwürdige Begeisterung für den französischen Rassetheoretiker Graf Gobineau. Wagners diesbezügliche Mesalliance hatte, nach

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flüchtigem Kennenlernen 1876 in Bayreuth und kurzem Wiedersehen 1880 in Venedig, ihren eigentlichen Höhepunkt im Mai 1881 in Bay­ reuth erreicht. (vgl. Schüler 1971: 235 ff.) Zu dieser Zeit war Wagner wohl noch der (wiederum irrigen) Meinung, er könne Ludwig II. für die Sache Gobineaus gewinnen. Gobineau sei bei ihm zu Gast und sie hätten sich gegenseitig so lieb gewonnen, »dass vorläufig an ein Aus­ einandergehen nicht gedacht wird« (LWB III: 211), hatte er Ludwig II. wissen lassen, zugleich auf des Grafen Hauptwerk Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen hinweisend, das zwischen 1853 und 1856 in vier Bänden erschienen war und, nicht von ungefähr, erst im ›Dritten Reich‹ in deutscher Übersetzung vorliegen sollte. Auffäl­ lig ist dabei, dass sich Wagner ausgerechnet um die Zeit seiner höchs­ ten Gobineau-Verehrung dahingehend vernehmen ließ, dass »alle Juden in einer Aufführung des ›Nathan‹ verbrennen« sollten. In die­ sem, wie Cosima meinte, »heftigen Scherz« (CTW 4: 852) kombi­ nierte er zwei Ereignisse: den Tod von über vierhundert jüdischen Zuschauern beim Brand des Wiener Ringtheater im Dezember 1881 sowie den Umstand, dass ein jüdischer Zuschauer bei einer anderen Aufführung jene Stelle in Lessings Nathan der Weise, in der davon die Rede ist, auch Christus sei ein Jude gewesen, mit einem lauten Bravo! kommentiert hatte. Indessen bedurfte es nicht erst Gobineaus, um derlei ›Scherze‹ freizusetzen. So hatte der seinerseits antisemitische (zeitweilige) Nietzsche-Verleger Ernst Schmeitzner bereits im Mai 1878 gegenüber Heinrich Köselitz den in Bayreuth gefallenen Wag­ ner-Satz kolportiert: Es giebt Wanzen, es giebt Läuse. Gut, sie sind da! Aber die brennt man aus! Leute, die das nicht thun sind Schweine! (XV: 85)

Beim Thema Juden dachte Wagner auch immer, und zwar bevorzugt ab 1879, dem Jahr des Berliner Antisemitismusstreits, an »Ratten und Mäuse« (CWT 3: 293), »Warzen« (CWT 3: 460) oder »Flie­ gen« (CWT 3: 599). Er wollte damit die in seiner Optik verach­ tenswertesten Eigenschaften dieser ›Rasse‹ kennzeichnen: nämlich ihre Fähigkeit, alle Widrigkeiten zu überleben; ihre Widerständig­ keit gegenüber herkömmlichen Strategien der Ausrottung; und ihr massenhaftes Auftreten in durchgängig lästiger Gestalt. Dass die Juden, wie Wagner im Dezember 1879 meinte, »trichinenartig im Körper der anderen« (CWT 3: 454) schmarotzten, war allerdings ein Bedrohungsszenario, das er bereits, wie gesehen, in seinen Tagebuch­ aufzeichnungen von 1865 vorgeprägt hatte. Insoweit hat Gobineau

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derlei Radau-Antisemitismen möglicherweise befördert, aber gewiss nicht vorgeprägt. Was nun Nietzsche angeht, so wird man zunächst nur einzuräu­ men haben, dass er sich tatsächlich von derlei seinerzeit in Tribschen anstecken ließ. Exemplarisch zeigt dies sein Brief (vom 22. Mai 1869) an Wagner zu dessen 56. Geburtstag: Nietzsche, der, wie er Erwin Rohde eingestand, aus Gründen der »Tugend« (3: 13) absagen musste – immerhin lebte Wagner damals mit einer noch verheirateten Baro­ nin und zweifachen Mutter (Cosima v. Bülow) zusammen, die von ihm ein Kind (Siegfried) erwartete –, machte in diesem Brief die »lei­ dige Kette« seiner Berufspflichten als Absagegrund geltend, um Wag­ ner, gleichsam zum Trost, zu versichern, dass »vordringliches Juden­ thum« dafür mitverantwortlich sei, wenn sich »fast alle Welt« unfähig zeige, dessen Weltanschauung zu würdigen und seine »Persönlichkeit als Ganzheit zu fassen.« (3: 9) Ganz ähnlich äußerte sich Nietzsche fast ein Jahr später (im März 1870) gegenüber Carl v. Gersdorff, nachdem ihm dieser, der bis dato »nur die verjüdelte Presse über Dei­ nen Freund [Wagner; d. Verf.] hatte faseln und schimpfen hören« (KGB II/2: 164), mitgeteilt hatte, wie sehr ihm dieser Aufsatz die Augen geöffnet habe: Unsern ›Juden‹ – und Du weißt, wie weit der Begriff reicht – ist vornehmlich verhaßt die idealistische Art Wagners. (3: 105)

Dies klingt ganz so, als sei Nietzsche gerade von Wagner eingeführt worden in die Gründe, die für eine Neuauflage von Das Judentum in der Musik sprächen. Dass und wie intensiv man in jener Zeit in Tribschen über Fragen wie diese parlierte, zeigt der Streit um Nietzsches am 1. Februar 1870 in Basel gehaltenen Vortrag Socrates und die Tragödie. Nietzsche hatte ihn mit einer Invektive gegen die »jüdische Presse« (XIV: 101) aus­ klingen lassen, was in Tribschen taktische Bedenken auslöste. Cosima, die Übermittlerin dieser Bedenken, hatte Nietzsche deswegen brief­ lich unter dem Datum des 5. Februar wissen lassen: Sie misverstehen mich hoffentlich nicht; dass im Grunde der Seele ich Ihrem Ausspruch beistimme, werden sie wissen; allein jetzt noch nicht und nicht so; ich sehe förmlich das Heer von Mißverständnissen dass sich um sie aufwirbelt. (KGB II/2: 140)

Die Bereitwilligkeit, mit der Nietzsche die von Cosima inkriminierte Passage unterdrückte und fortan einen Geheimcode bevorzugte, in dem Ausdrücke wie ›sokratisch-optimistische Kultur‹ für das einstan­

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den, was er zuvor noch als ›jüdische Welt‹ bezeichnet hatte (Köhler 1996: 91), entsprach der Bereitwilligkeit, mit der er damals dem Antisemitismus Wagners meinte Rechnung tragen zu müssen. Beides könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Antisemitismus des frühen Nietzsche im Wesentlichen für Rhetorik stand und dem Zweck diente, Wagner unbedingte Ergebenheit zu signalisieren. In diese Richtung weist auch die Bemerkung Richard Lonsbachs, wonach der, der sich Wagner hingab, »auch seine Judenfeindschaft, die einen Teil seines Wesens bestimmte, teilen [mußte].« (Lonsbach 1939: 43) Dieser Hintergrund mag dann auch erklären, dass Nietzsche im Juni 1871 seinen bis dato im deutsch-französischen Krieg aktiv gewesenen, nun aber demobilisierten Freund v. Gersdorff mit den Worten tröstete: Unsre deutsche Mission ist noch nicht vorbei! Ich bin muthiger als je: denn noch nicht Alles ist unter französisch-jüdischer Verflachung und ›Eleganz‹ und unter dem gierigen Treiben der ›Jetztzeit‹ zu Grunde gegangen. Es giebt doch noch Tapferkeit und zwar deutsche Tapferkeit, die etwas innerlich Anderes ist als der élan unserer bedauernswerthen Nachbarn. (3: 203)

Marco Brusotti scheint hier fehlzugreifen, insoweit in der Logik seines Ansatzes die These nahe liegt, dass Nietzsche derartiges damals gar nicht mehr hätte sagen dürfen, weil er, anders als Wagner, die Gräuel des Kriegen »hautnah miterlebt« (Brusotti 2008: 278) habe. Mazzino Montinari traf da schon eher den Punkt, als er lakonisch kommen­ tierte: »Wagner hätte es nicht anders sagen können.« (Montinari 1991: 55) Und vielleicht muss man noch ergänzen: Nietzsche hatte dies schon einmal ähnlich gesagt, nämlich im Fragment einer erweiterten Form der »Geburt der Tragödie«, das er »in den ersten Wochen des Jahres 1871« (VII: 333) schrieb. Nietzsche polemisierte hier nicht nur gegen die Verbreitung der liberal-optimistischen Weltanschauung, welche ihre Wurzel in den Lehren der französischen Aufklärung und Revolution d. h. in einer gänzlich ungermanischen, ächt romanisch flachen Philo­ sophie hat«; er zog auch zu Felde gegen die seitens der »internationalen heimatlosen Geldeinsiedler« und »die von dieser Seite zu befürchtende Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz«, um Zustimmung zu erlangen für einen »gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg«, der dann deutlich zu machen habe, »daß der Staat nicht auf der Furcht vor dem Kriegsdämon, als Schutzanstalt egoistischer Einzelner, gegründet ist, sondern in Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen

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Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist.« (VII: 346)

Hinsichtlich der Gründe dafür, dass Nietzsche diese Kriegsmetaphy­ sik und die ihr innewohnende »kaum verschlüsselte Kriegserklärung an das ›internationale‹ Judentum« (Köhler 1996: 91) nicht in die Geburt der Tragödie übernahm, sondern lediglich in die knapp zwei Jahre später erstellten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern einfließen ließ, lassen sich nur Vermutungen anstellen. Offenbar aber wollte Nietzsche seinem Erstling nicht unnötige Brisanz verleihen, zugleich aber doch sichergestellt wissen, dass ›der Meister‹ wenig­ stens erfuhr, wie sehr Nietzsche noch Ende 1872 wie Wagner zu reden bereit war. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass einem auch in Nietzsches in eben jenen Jahren verfassten ›Erstling‹ Antisemitisches begegnet, etwa zum Ende dieser Schrift hin. Thema ist hier der »deut­ sche Geist«, der trotz des »abstracten Charakters unseres mythenlo­ sen Daseins« (I: 153 f.) unzerstört ruhe. Dies klingt verdächtig nach jener Mission, die Wagner einige Jahre zuvor seinem Mäzen Ludwig II. nahe zu bringen versucht hatte, ebenso übrigens wie der Zusatz: Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren hat, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. (I: 154)

Die Vogelstimme, die Nietzsche hier meint, ist jene Wagners, der sich seinerseits gelegentlich ja auch Ludwig II. gegenüber in der Gestalt eines »gutgelaunten Waldvögleins« (LWB I: 224) zu Gehör bringen wollte. Wagner verpflichtet ist auch Nietzsches Reden von der langen Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienste tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort – wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet. (I: 154)

Gerade weil diese Formulierung die Gestalt einer Art Geheimbot­ schaft für Eingeweihte annimmt, ist nun kaum noch Zweifel möglich: Nietzsche schließt sich hier in verschlüsselter Form dem Antisemi­ tismus Wagners und dessen Strategie an, den Ring des Nibelungen auch als Moritat auf die Unterdrückung des deutschen Genius (Sieg­ fried) durch die ›tückischen Zwerge‹ Mime und Alberich auszudeuten. Dass Nietzsche Jahre später die Auffassung vertrat, sein Wort von den tückischen Zwergen habe sich auf »die christlichen Priester« (VI: 310)

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bezogen, will man gern glauben: So muss man offenbar reden, wenn man sich des eigenen Kommentars zu den eindeutig als »Judenkari­ katuren« (Adorno 1952: GS 13; vgl. auch Weiner 2000: 30 ff.; 219 ff.; Levin 2000) auszumachenden Wagner-Figuren schämt und die inzwischen eingenommene Position des Anti-Antisemitismus beglaubigen will. Brisant ist auch Nietzsches in der Geburt der Tragödie vorgelegte Ausdeutung der Prometheussage. Denn an sich verkörpert Prome­ theus, wie Hermann Josef Schmidt am gleichnamigen Einakter des Vierzehnjährigen (BAW 1: 62 ff.) zeigen konnte, »am reinsten den ›muthaften‹ Teil der Persönlichkeit und des Denkens Nietzsches, der sich philosophisch u.a. in der Freigeistepoche, der Phase der kritischen Selbstaufklärung Nietzsches, ausspricht.« (Schmidt 1983: 217) Was Nietzsche jedoch in der Geburt der Tragödie vorlegte, war der riskante Versuch, diese Aspekte der Prometheussage mit arischen Vorzeichen zu belegen und abzugrenzen vom Sündenfallmythos und dem sich darin angeblich bezeugenden semitischen Wesen. (vgl. Cancik 1998: 71) Diese Konstruktion, von der nicht eben selten belegfrei behauptet wird, Nietzsche nähme hier auf Gobineau »Bezug« (Hartwich 1996: 186), legt die Vorstellung nahe, dass die Erlangung des »Besten und Höchsten, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann« (I: 69), einen sich gleichsam in die Würde eines männlich-arischen Charak­ terzugs erhebenden Frevel gegen den Götterwillen erfordert, wie er sich beispielsweise in dem von Prometheus riskierten Griff zum Feuer dokumentiert. Den weiblich-semitischen Charakter des Sündenfall­ mythos hingegen suchte Nietzsche mit Attributen wie »Neugierde«, »lügnerische Vorspiegelung«, »Verführbarkeit« oder »Lüsternheit« (I: 69) zu dokumentieren. Noch sechs Jahre später wird er in einem unveröffentlichten Fragment Attribute wie »[f]urchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit« als »Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen«, auflisten und als Erklärung dafür anbieten, »semitische Rassen« kämen »der Wagne­ rischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische.« (VIII: 549) Dies war zwar an sich nur ein kleiner Sarkasmus mehr in Richtung des von ihm inzwischen als Antisemiten geouteten Bayreuthers; es war aber auch nicht ganz im Unernst gesprochen, wie die vorgenannte Passage aus der Geburt der Tragödie ebenso zeigt wie ein Aphorismus aus Die fröhliche Wissenschaft, in dem davon die Rede ist, dass die Sünde für ein »jüdisches Gefühl« zeuge und das Christentum insoweit tatsächlich darauf aus sei, »die ganze Welt zu ›verjüdeln‹.« (III: 486)

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Insbesondere dieser Passus macht deutlich, dass Nietzsche in der Geburt der Tragödie nicht eigentlich »rassenideologisch-antisemitisch [argumentiert], wohl aber in antijudaistischem, und das heißt vor allem antichristlichem Interesse.« (Reibnitz 1992: 249) Die politi­ sche Problematik dieser Konstruktion wird dadurch kaum gemildert: Nietzsche öffnete auf diese Weise das Semitische für antisemitische Propaganda. Insoweit ist es beruhigend, dass er im März 1887 brieflich gegenüber Theodor Fritsch sein Unbehagen eingestand hin­ sichtlich der von Antisemiten betriebenen »beständigen absurden Fäl­ schungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe ›germanisch‹, ›semitisch‹, ›arisch‹, ›christlich‹, ›deutsch‹.« (8: 51) Statt ›arisch‹ ist in Nietzsches Spätwerk denn auch zunehmend von ›aristokratisch‹ die Rede; und dafür, dass zumindest der späte Nietzsche seine antichrist­ lich orientierte Judenkritik von rassenideologischen Antisemitismen freihalten wollte, zeugt sein in Jenseits von Gut und Böse dargebotenes Wort, wonach die Juden »ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse [sind], die jetzt in Europa lebt«, und zwar dies »vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte.« (V: 193) Spätestens dieses Wort, entnommen jenem bereits einleitend erwähnten berühmt-berüchtigten Aph. 251, führt uns zu der Frage, ob, ab wann und in welcher Hinsicht und mit welchen Folgen Nietzsche als Anti-Antisemit zu betrachten ist.

Nietzsche als Anti-Antisemit Nietzsches (spätes) Selbstverständnis als »Anti-Antisemit« (7: 147) kulminiert in der Festlegung von Oktober-November 1888, er müsse »dem Antisemitismus einen schonungslosen Krieg mache[n], – er ist einer der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtig­ ten reichsdeutschen Selbst-Anglotzung…« (XIII: 623). Deutlich wirkt hier Nietzsches Auseinandersetzung mit Theodor Fritsch vom März 1887 (vgl. Niemeyer 2003) nach; auf sie ist sein Urteil bezogen, es gäbe »keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten« (XII: 321), mehr als dies, und nun, im Oktober 1888, in kühner Umkehr antisemitischer Klischees und offenkundig mit Seitenblick auf seinen Schwager Bernhard Förster (vgl. XIV: 773): [D]ie Kunst zu lügen, das ›unbewußte‹ Ausstrecken lange, allzu langer Finger, das Verschlucken fremden Eigenthums [ist] mir an jedem

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Antisemiten bisher handgreiflicher erschienen als an irgend welchem Juden. (XIII: 611)

Der Sache nach wird man Thesen wie diese – von Nietzsches Schwes­ ter selbstredend nicht publiziert – fraglos als Emanzipationseffekt zu deuten haben. Denn wie im Vorhergehenden anhand des Stichworts ›Tribschen‹ gezeigt werden sollte, wurde Nietzsche zunächst durch ein alles andere als judenfreundliches Umfeld geprägt, kam also erst im etwas reiferen Alter zunehmend dazu, im näheren Kontakt mit Juden seine diesbezüglichen, nicht nur durch Wagner genährten Ressentiments auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Dabei ist vor allem an Paul Rée zu denken, auf den auch ein Brief Nietzsches an den jüdischen Schriftsteller Siegfried Lipiner (1856–1911) – der sich später taufen ließ und antisemitisch wurde (6: 494) – vom August 1877 Bezug nimmt. Hingewiesen wurde Nietzsche auf Lipiner von Erwin Rohde in einem Brief voller antisemitischer Klischees wie bei­ spielsweise: »der schiefbeinigste aller Juden[,] aber mit einem nicht unsympathischen, schüchtern sensiblen Zuge in seinem gräulichen Semitengesicht.« (KGB II 6/2: 595) Im Vergleich dazu blieb Nietzsche gegenüber Lipiner geradezu demonstrativ vornehm: [S]agen Sie mir sodann ganz unbefangen, ob Sie in Hinsicht auf Herkunft in irgend einer Beziehung zu den Juden stehen. Ich habe nämlich neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat (5: 274) – ›Jünglinge‹ wie Paul Rée.

Nietzsches Freundschaft mit Rée, der der von Wagner verachteten französischen Aufklärung nahe stand und 1875 mit einer moralkri­ tischen Schrift hervorgetreten war, begann im März 1876, fiel also in eine Phase der ohnehin schon absehbaren Ablösung Nietzsches von Wagner. Auch die Bayreuther übersahen nicht die Bedeutung der Sympathie Nietzsches für Rée. Der Anlass, in dieser Hinsicht auf­ merksam zu werden, schien eher banal: Als Wagner mittels seiner ers­ ten Nachricht an Nietzsche nach den Bayreuther Festspielen, einem ohne Anrede und Grußwort abgefassten Telegramm aus Bologna, die Bitte vortrug, ihm Basler Seidenunterwäsche zu besorgen, sprich: als Wagner den Versuch unternahm, den »flüchtigen Jünger [...] noch einmal durch die Reifen springen« (Köhler 1996: 133) zu lassen, blieb Nietzsche auffällig reserviert: Wagner habe ihm zwar, so eröffnete er seinen Antwortbrief von Ende September 1876, mit diesem »kleinen Auftrag« eine Freude gemacht und »an die Tribschener Zeiten« (5:

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190) erinnert. Dem folgte aber sofort der mit Blick auf Nietzsches Festspielenttäuschung unmissverständliche Satz: Der Herbst, nach diesem Sommer, ist für mich, und wohl nicht nur für mich allein, mehr Herbst als ein früherer. (5: 190)

Die eigentliche Provokation aber enthielt die Schlussformel dieses Schreibens. Nietzsche nämlich gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die »herzlichsten Wünsche [...] Ihnen als gute Begleiter folgen mögen: Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin, meiner ›edelsten Freundin‹ um den Juden Bernays einen seiner unerlaubtesten Germanismen zu entwenden.« (5: 192) Schon diese ironische Anspielung auf Cosimas Antisemitismus dürfte durch Rée befördert worden sein. Mit ihm traf Nietzsche nur vier Tage später zusammen, um mit diesem, einem ein Jahr später ausgestellten Zeugnis Rées zufolge, die »Flitterwochen« (KGB II 6/2: 717) ihrer Freundschaft zu zelebrieren. Von diesen Zusammenhängen konnten die Wagners allenfalls etwas ahnen, als sie Nietzsches Antwort mit jener auffälligen Schluss­ formel erhielten. Immerhin waren sie nun gewarnt und bekamen nur vier Wochen später Gelegenheit, ihre Vermutung zu überprüfen. Dabei half ein Zufall nach: Denn nicht nur die Wagners waren inzwischen nach Sorrent weitergereist, sondern auch Nietzsche und Rée hatte der Weg über Genua nach Sorrent geführt. Nietzsche wollte dort den Winter zubringen, in der Absicht, seine während der Bayreuth-Flucht begonnenen Aufzeichnungen zu Menschliches, All­ zumenschliches I weiterzuführen. Schon die räumliche Nähe machte es dabei zwingend erforderlich, den Wagners einen Besuch abzustatten, was dann auch Ende Oktober seitens der drei Genannten geschah. Brisanter aber als dieser Besuch verlief offenbar jener Rées, der wenige Tage später allein bei den Wagners erschien und diesmal keinen günstigen Eindruck hinterließ. Rée spreche durch sein »kaltes, pointiertes Wesen« nicht an, notierte Cosima in ihr Tagebuch, um hin­ zuzufügen: [B]ei näherer Betrachtung finden wir heraus, daß er Israelit sein muß. (CWT 2: 1012)

Den Sprengstoff aber, den dies tatsächlich in sich barg, wurde erst nach Erscheinen von Menschliches, Allzumenschliches I im Mai 1878 offen­ kundig. Nietzsche, nun plötzlich zum Entsetzen Wagners Voltaire als »Befreier des Geistes« (II: 10) huldigend, schreckte in Aph. 475 nicht davor zurück, es im Interesse der »Vernichtung von Nationen«

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(neudeutsch gesprochen: der europäischen Einigung) für geboten zu erkären, »dass jeder Deutsche lernt, sich als »guten Europäer aus[zu]geben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen [zu] arbeiten.« (II: 309) Im Übrigen, so Nietzsche weiter, diesmal mit erkennbarem Seitenblick nicht auf Wagners Deutschtumsvision, sondern auf Wagners Aufsatz Das Judenthum in der Musik, müsse es als »litterarische Unart« gelten, »die Juden als Sünden­ böcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen«; »der Jude« sei im Interesse der »Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse [...] als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. (II: 310)

Im Nachlass aus jener Zeit wird der 1850er Aufsatz, den Nietzsche, wie gesehen, noch in Tribschener Zeiten empfohlen hatte, unter der Rubrik einer – für Wagner aus Gründen der »Parteizucht« notwendi­ gen – »Hetzpeitsche« (VIII: 557) gelistet. Für die Bayreuther war die Sache auch so klar: Aph. 475 war ihnen »ein Beispiel mehr für die verhängnisvolle Wirkung des Judentums, das nun auch Nietzsche in seinen Bann gezogen habe.« (Borchmeyer / Salaquarda 1994: 1329) So fiel es denn auch Cosima leicht, einer Freundin den ihrer Meinung nach letzten Grund für den Wandel in Nietzsches Anschauungen zu enthüllen: Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania. Nietzsche wußte nichts von Voltaire noch von französischer Literatur. Ich würde eine Wette eingehen, daß er jetzt noch gar nichts davon weiß. (zit. n. Du Moulin-Eckart 1929: 842)

Für Cosima war Nietzsche also vom viel versprechenden Anhänger ihres Mannes zum billigen Epigonen eines zweitrangigen jüdischen Literaten verkommen. Der dabei wirksam gewordene Mechanismus erlaubte fast den Schluss, dass sich zwischen Rée und Nietzsche ›im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania‹ wiederholt habe, und zwar ganz nach dem Schema, das Wilhelm Marr in seinem anti­ semitischen Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) beschreibt. Kaum verwunderlich also, dass Wagner Nietzsche im August 1878 in den Bayreuther Blättern wegen Menschliches, Allzumenschliches in verklausulierter Form mit dem Wort abfertigt, er stünde nun »mitten unter dem Judenthum.« (GSD 10: 87)

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Dass Förster-Nietzsche diese Zusammenhänge später zu baga­ tellisieren suchte und lediglich davon sprach, »Antisemiten« hätten sich der – auf schlichter Antipathie beruhenden – Skepsis Wagners gegenüber Rée »bemächtigt« (Förster-Nietzsche 1897: 307), will man gerne glauben angesichts ihrer auf strategische Friedfertigkeit nach allen Seiten hin (auch via Bayreuth) ausgerichteten Politik. Nietzsche sah da klarer: Ihm blieb Wagners 1878er Polemik sowie die ihr zugrunde liegende antisemitische Lesart seiner Freundschaft zu Rée nicht verborgen, wie auch die Erinnerung Overbecks (aus dem Jahr 1893) zeigt, wonach er seinerzeit von Nietzsche viel gehört habe »vom Anstoss, den ihnen [Cosima und Richard Wagner; d. Verf.] dabei Rées Gegenwart gewährte, und vom Interesse[,] den jene Tage für einen Geschichtsschreiber des Antisemitismus in seiner Kindheit nun haben könnten.« (zit. n. Hoffmann et al. 1998: 376) Aufschlussreich ist auch eine Nachlassnotiz vom Sommer 1878, in welcher Nietzsche Wagners blinde Verleugnung des Guten jener sehenden Verleugnung Cosimas kontrastiert und als Exempel die Namen Lipiner und Rée auflistet (VIII: 548). In der Summe machen die unveröffentlichten Aufzeichnungen aus dieser Zeit deutlich, dass Nietzsche Wagners Antisemitismus zunehmend beschäftigt. Wie sich nur ein solcher Mann so tyrannisieren lassen kann! Z. B. durch seinen Judenhass (VIII: 502),

heißt es da beispielsweise von einem, der plötzlich merkt, dass Wagner noch viele Rätsel in sich birgt, zumal wenn gilt, was Nietzsche erstmals im Herbst 1880 als These formuliert: [D]er Kampf gegen die Juden [ist] immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Naturen gewesen: und wer jetzt daran Theil nimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen. (IX: 254)

Ein Jahr später, in Aph. 205 der Morgenröthe, nimmt sich Nietzsche die gängigen antisemitischen Klischees der Reihe nach vor, um sie einer weiträumigen Umwertung zu unterziehen, unter Einschluss des ›dem‹ Juden häufig nachgesagten Hangs zum Wucher, der Nietzsche durchaus verständlich scheint als »Folterung ihrer Verächter«, ohne welche die Juden »es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten«, denn, und dies ist die Prämisse dieses neuen, ideologiekritischen Blicks auf die Geschichte des Antisemitismus:

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Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lange verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte (III: 181)

– aber damit, so darf man Nietzsche verstehen, muss nun Schluss sein. Nur konsequent scheint es denn auch, dass Nietzsche in jenem bereits erwähnten Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse, den His­ toriker Heinrich v. Treitschke als ›antisemitischen Schreihals‹ outet und als solchen »des Landes zu verweisen« (V: 194) erwägt. Und doch bleibt als Frage, warum Nietzsche erst jetzt, 1886, reagiert. Denn immerhin liegt der Vorgang, über den er sich so erregt, schon einige Jahre zurück: 1879 hatte Treitschke, der als Jugendfreund von Nietz­ sches Basler Kollegen Franz Overbeck gilt und sich mit diesem nicht zuletzt Nietzsches wegen überwarf (vgl. Ferrari-Zumbini 1993: 130; 2003: 131; Sommer 1997: 84 f.), im von ihm redigierten Preußischen Jahrbuch den »Berliner Antisemitismusstreit« ausgelöst, und zwar indem er die durch Judenpogrome in Osteuropa ausgelöste verstärkte Zuwanderung von Juden zum Anlass nahm, der Stimme des Volkes Ausdruck zu geben, etwa in Gestalt der dann von den Nationalsozia­ listen adaptierten Losung: Die Juden sind unser Unglück!

Treitschke ging dabei aus von dem zumal an Stammtischen geäußer­ ten Einwand, wonach über »unsere Ostgrenze [...] Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen pol­ nischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein[dringt], deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen. (zit. n. Bruch / Hofmeister 2000: 191)

Insoweit scheint es nachvollziehbar, dass Nietzsche hierauf 1886 jene Antwort fand – und eben letztlich Treitschke des Landes zu verwei­ sen in Vorschlag brachte. Warum aber, so sei noch einmal gefragt, reagierte Nietzsche erst jetzt auf Treitschke sowie, und diese Frage wird im Folgenden im Zentrum stehen: Warum ist Nietzsches Kritik an Wagner 1886, in jenem Aph. 251, noch so vergleichsweise maßvoll? Bei einer Antwort auf diese Frage ist es sicherlich hilfreich, sich zunächst noch einige andere in diese Richtung weisende Auffälligkei­ ten im Umgang des Anti-Antisemiten Nietzsche mit Wagner vor Augen zu führen, die in der Summe auf Nietzsches Absicht hindeuten, den Antisemitismus Wagners, nachdem er auch für ihn zum Problem

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Nietzsche als Anti-Antisemit

geworden war, möglichst harmlos zu erklären. So schrieb er in einer fragmentarischen Notiz vom Frühling/Sommer 1878: [S]ollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden. (VIII: 500)

Dies klingt fast erleichtert und sollte Nietzsche noch lange Jahre beschäftigen. So berichtete Resa v. Schirnhofer, Nietzsche habe gesprächsweise in für ihn ganz ungewöhnlicher Weise darüber trium­ phiert, dass in Wagner das Blut derer fließe, die er immer verachtet habe. (vgl. Lohberger 1969: 256) Und noch in einer von Nietzsche nur mit schlechtem Gewissen (s. 8: 388) zum Druck freigegebenen Fußnote zu Der Fall Wagner heißt es: Wagners Vater »war ein Schauspieler Namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe schon ein Adler...« (VI: 41)

– Anspielungen nicht ohne Hintersinn. Denn der Name Adler ist, im Gegensatz zu dem Namen Geyer, ein verbreiteter jüdischer Fami­ lienname (vgl. Eger 1988: 158); und im Beruf des Schauspielers versinnbildlichte sich für Nietzsche der Inbegriff der gerade dem Juden abgenötigten »Anpassungskunst« (III: 609). Worauf Nietzsche mit derlei Andeutungen also hinauswollte, war, ähnlich wie schon zehn Jahre zuvor, sein Bemühen, den von ihm häufig genug als »Schau­ spieler« (VI: 41) empfundenen Wagner in Sachen Antisemitismus weniger anzuschuldigen denn zu exkulpieren: indem er ihn als Fall jüdischen Selbsthasses aufbereitete. Zwei Dinge setzte Nietzsche dabei aber zu Unrecht voraus: Die Vaterschaft des Wagner-Stiefvaters Ludwig Geyer sowie dessen Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben. Insbesondere dieser Hinter­ grund gab, zumal in der Wagnerforschung, hinlänglich Anlass, diese Einlassungen Nietzsches mit gebührender Verachtung zu strafen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder verwiesen auf die von Cosima überlieferte Antwort Wagners (»Das glaube ich nicht«) auf ihre diesbezügliche Frage vom Dezember 1878: »Vater Geyer ist gewiß dein Vater gewesen.« (CWT 3: 272) Immerhin aber macht dieser von Dieter David Scholz als »unmissverständlich« (Scholz 1993: 62) verrechnete Beleg auch deutlich, dass selbst Cosima noch 1878 mit großer Selbstverständlichkeit von der Triftigkeit dieses damals weit verbreiteten (vgl. Borchmeyer / Salaquarda 1994: 1332) Gerüchts ausging und im Hause Wahnfried Wagners Stiefvater unter dem Titel ›Vater Geyer‹ Thema war. Im Übrigen hatte dieser seinerseits Miss­

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verständnisse ausgelöst, weil er darauf bestand, Wagner habe sich in der Schule als ›Richard Geyer‹ auszugeben. Auch wurde Wagner noch sechs Jahre nach dem Tod des Stiefvaters, also 1827, auf den Namen Wilhelm Richard Geyer konfirmiert. (vgl. Scholz 1993: 61) Und schließlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Wagner selbst es war, der seinen Stiefvater mitunter für einen Juden hielt. Jedenfalls lässt sich die auch als Judenkarikatur zu lesende Figur des angeblichen Siegfried-Vaters Mime auch so interpretieren, als habe Wagner hiermit seinem Stiefvater ein (fragwürdiges) Denkmal setzen wollen, zumal dieser von Beruf Schauspieler (= Mime) gewesen war. (vgl. Diekmann 1983: 196) Diese ZusamBmenhänge haben selbst Wagnerianer dazu gebracht, mit der These Politik zu machen, Wagners Antisemitismus rühre aus Unklarheiten über seine Herkunft her und stünde insoweit für einen Fall von jüdischen Selbsthass. (vgl. Scholz 1993: 33 ff.) Der Unterschied zwischen derlei Strategien und jener Nietzsches lässt sich im Reich der Psychologie sichern: Nietzsche benötigte die über das Selbsthass-Argument zu lancierende Bagatellisierungsstrategie des Wagnerschen Antisemitismus nicht nur, um sein Wagnerbild in Ord­ nung zu halten. Er benötigte sie auch wegen der ansonsten unabweis­ baren Gefahren für sein Selbstbild. Denn er war für kurze Zeit in Sachen des Antisemitismus Mitwirkender gewesen und konnte seine allmählich anhebende Einsicht in die Verwerflichkeit dessen offenbar nur bewältigen, wenn er dem Idol, dem er darin Folge leistete, eine Exkulpation angedeihen ließ, derer er selbst in anderer Form auch bedurfte. Nur so auch ließ sich seine Vaterverehrung zumindest in Rudimenten über diese Krise hinwegretten. Von hier aus liegt es nahe, sich noch einmal Nietzsches 1886er Rede von »einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete« (V: 192) zuzuwenden. Wir haben sie im Vorhergehenden auf Tribschen bezogen. Auffällig ist aber, dass an dieser Stelle jener Name ebenso wenig fällt wie der Name Wagner, und zwar dies offenbar nicht von ungefähr: Nietzsche, so die hier verfochtene These, weigerte sich, jener Irrationalität ins Auge zu schauen, die sich in seiner Tribschener Wagnerverehrung bekundete. Entsprechend verharmlosend ist die Sprache: Antisemitismus wird unter der Rubrik »kleine Anfälle von Verdummung« (V: 192) verrechnet – und als solcher nicht eigentlich Wagner zugerechnet, sondern den Wagnerianern. Dies, so muss man hier erkennen, hat Methode. So spricht Nietzsche auch im Nachlass aus dieser Zeit davon, dass es einen »’eigentlich deutschen’ Wagner«

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nicht gäbe und die in diese Richtung weisende Vorstellung nur »die Ausgeburt sehr dunkler deutscher Jünglinge und Jungfrauen« (XI: 591) sei. Verallgemeinert gesprochen: Nietzsche will Wagner offenbar als Opfer der Wagnerianer oder jedenfalls doch als einen eigentlich unpolitischen Musiker aufbereiten. Dies gilt der Tendenz nach auch noch für seine Darstellung in Der Fall Wagner. Denn wieder fällt hier, wie schon in Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse, der Ausdruck »Infektion«, und zwar dies im Zusammenhang mit der nun auf die Wagnerianer ausgedehnten Bemerkung: »Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer.« (VI: 44) Dass aber diese Infektion eine war, die sich Nietzsche selbst zwischen 1869 und 1872 zugezogen hatte, bleibt unklar, ebenso wie der Umstand, dass es sich vor allem um eine politische Infektion handelte. Nur beiläufig wird hingewiesen auf die Bayreuther Blätter, aber mit dem gleich wieder abschwächenden Nachsatz: Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven. Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden – ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? – Die Jünglinge beten Wagner an. (VI: 44)

Dies liest sich zwar amüsant, kann aber nicht als Antwort gelten auf die Frage, die man von Nietzsche nun doch allmählich hätte erwarten dürfen – und die auch in Ecce homo nicht gegeben wird. Denn wieder einmal trennt Nietzsche hier den ›guten‹ Wagner von den ›bösen‹ Wagnerianern, »welche Wagner damit zu ehren glauben, dass sie ihn sich ähnlich finden.« (VI: 288) Wie vergiftet diese Bemerkung ist, wird viele Seiten später klar: Nietzsche versieht die Wagnerianer mit dem Kommentar: Keine Missgeburt fehlt darunter, nicht einmal der Antisemit« – und besiegelt das Ganze mit dem Ausruf: »Der arme Wagner! Wohin war er gerathen!« (VI: 324)

Die Folgerung, die der Leser ziehen soll, ist eindeutig und läuft erneut auf Exkulpation Wagners hinaus, die ihrerseits dann wiederum der Exkulpation Nietzsches zu dienen vermag, insoweit dieser damit von dem Vorwurf entlastet ist, er habe schon in Tribschen wissen können, auf wen er sich einließ. Dies aber ist die Vorbedingung, die Nietzsche benötigt, um sich nicht Aufschluss erteilen zu müssen über seine Vaterübertragung auf Wagner, deren dunkelste Seite eben

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darin gründet, Wagners Antisemitismus nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern auch kopiert zu haben. Dass tatsächlich aber auch noch der Nietzsche dieser späten Epoche sehr genau um Wagners Antisemitismus wusste, belegt die von Nietzsche im Zuge der letzten Umarbeitung des Ecce homo im Dezember 1888 gestrichene Textvariante, die noch den Wortlaut trug: [...] die eigentlichen Wagnerianer von Rasse, eine gott- und geist­ verlassene Bande, die Alles gläubig hinunterfraß, was der Meister ›abfallen‹ ließ. [...] Und wie viel lässt Wagner ›abfallen‹!... (XIV: 493)

Der Ausdruck ›abfallen‹ weist eine eindeutig antisemitische Konno­ tation auf, etwa in der Logik der Tagebucheintragung Cosimas vom Dezember 1879, wonach Wagner »alle Juden von sich abfallen lassen [will] ›wie die Warzen‹, gegen welche kein Mittel hilft.« (CWT 3: 460) Die Frage, warum Nietzsche diese Konnotation unterdrückte, lässt sich mit der vorgenannten Annahme befriedigend aufklären: Nietzsche unterzog sein Wissen um Wagner sowie sein Wissen um sich selbst der Zensur, um nicht mit der Fragwürdigkeit seiner Wagnerverehrung sowie seines frühen Antisemitismus zum Thema zu werden. Eines indes ist wohl richtig: Nietzsche dürfte Wagners Antisemi­ tismus erst in Bayreuth als problematisch wahrgenommen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die in der Tribschener Zeit rele­ vanten Freunde Nietzsches antisemitisch dachten, und zwar dies der Tendenz nach nicht nur im Einklang mit Wagner, sondern im Einklang mit breiten Schichten des Bürgertums, wie exemplarisch der Fall Max Weber belegt, insofern er in einem seiner Jugendbriefe (vom Juli 1885) darüber klagte, dass manche seiner »wunderlichen Altersgenossen«, gleichsam aus Mode, »etwas in Sachen Antisemitis­ mus mitmachen« (zit. n. Pross 1964: 43) würden. Möglicherweise war auch dies ein Grund dafür, warum der späte Nietzsche deutlich Hemmungen erkennen ließ, sich klar als Anti-Antisemit oder wenig­ stens doch als Philosemit zu outen. In Ecce homo jedenfalls änderte er die Formulierung: »Meine natürlichen Leser sind jetzt schon Sclaven und Juden...« in gleichsam letzter Minute ab in: »...Russen, Skandinavier und Deutsche.« (VI: 360) Und auch der wenig später vorgesehene Satz: Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, der allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus – oder ein Antise­ mit...,

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überlebte nicht die Überarbeitung, sondern wurde von Nietzsche im Hinblick auf die Druckfassung um die letzten drei Wörter gekürzt (VI: 362). Folgerichtig scheint denn auch, dass sich im Moment des Fortfalls jener Zensur, im Moment des anhebenden Wahnsinns, die bisher verdrängte Wahrheit Bahn bricht, eben in Gestalt jener hier für die Überschrift verwendeten Meldung an Overbeck: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…« (8: 575) Fast scheint es mithin, als habe sich Nietzsche persönlich im Januar 1889 um Illustration von Zarathustras – diesem Aufsatz als Motto vorangestellten – Wahlspruch bemüht: »[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« (IV: 149) Jenseits dessen bleibt als Ertrag festzuhalten, dass die Posi­ tion des konsequenten Anti-Antisemiten die zumindest dem spä­ ten Nietzsche angemessene ist und der Antisemitismus des frühen Nietzsche als ein weitgehend rhetorischer begriffen werden darf. Ob Nietzsche, wie einleitend via Santaniello angedeutet, durch Insi­ derwissen aus dem Wagnerumfeld Gründe hatte, einen eliminatori­ schen Antisemitismus zu befürchten, dem er dann, im anhebenden Wahn, einen präventiv angelegten eliminatorischen Anti-Antisemi­ tismus entgegenstellte, ist nicht unwahrscheinlich, wenn man nur Aph. 204 der Morgenröthe bedenkt. Nietzsche untersucht hier – überraschend aktuell, möchte man meinen – die Frage, warum »drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betrug nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Speculation zu tragen hat.« Nietzsches Antwort lautet, beides sei wirksam, »eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde«, in summa: ein »Fanatismus des Machtgelüstes«, in dessen Logik man es im Verlauf der Geschichte schon einmal gewagt habe, »mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein«, beispielsweise »Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen.« Und dann folgt: Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer. (III: 180)

Dies klingt wie eine letzte Warnung am Vorabend des Holocaust – und könnte in letzter Konsequenz jenen Wahnsinnsbrief vom 4. Januar 1889 erklären.

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12 Sartres Flaubert im Vergleich zu jenem Nietzsches Oder: Über einen Existenzialisten avant la lettre unter Bezug auf Nietzsches Madame Bovary und seinem auf sie bezüglichen »Experimentalismus«

Vorab: Mein Zugang ist der eines Nicht-Literaturwissenschaftlers und, wie das Thema Nietzsche, so wie ich es bisher traktiert habe, ausweist, Nicht-Philosophen. Positiv geredet: Mein Zugang ist der eines Psychologen mit stark biographischem Zugang. Aus Zeitgrün­ den möchte ich auf weitere Sie womöglich schockierende Vorbemer­ kungen verzichten, außer vielleicht: Sartres Kurzdefinition des Exis­ tentialismus – dass »der Mensch nicht ist, sondern sich schafft«, ergänzt um die Setzung, dass es »weder einen Wert noch eine Moral gibt, die a priori gegeben sind« (Sartre 2000a: 117) – könnte von Nietzsche stammen. Punkt. Das Komma dazu folgt. Sowie, als dritte Vorbemerkung: Ich hoffe, Sie gestatten mir, nicht nur aus Unterhaltungsgründen, sondern auch getreu der Variante, dass »der Referent nicht ist, sondern sich schafft«, hin und wieder ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, etwa, im II. Teil und mit dem Untertitel bereits angedeutet, ein solches namens Lou. Damit ungesäumt zur Sache. Ich beginne mit »Nietzsches Flaubert im Vergleich zu jenem Sartres« (I.), setze fort mit »Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches« (II.) und bereite damit ein Fazit vor, in welchem ich meine Lesart von Nietzsches Existentialismus als »Experimentalismus« zu begründen suche.

Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres Über Nietzsches Flaubert zu handeln ist keine große Sache – wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Nietzsche gerade einmal zwölf Lenze zählte, als Flauberts Hauptwerk Madame Bovary erschien. Und

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12 Sartres Flaubert im Vergleich zu jenem Nietzsches

dass dasjenige, was Nietzsche via Guy de Maupassant (1884) über ihn erfuhr (vgl. Niemeyer 2020: 400), normalerweise kaum ausgereicht hätte für ein ernstzunehmendes Urteil, selbst unter Hinzunahme dessen, was Nietzsche dem Journal des Goncourt entnahm. Es kommt hinzu, dass Flaubert damals in Deutschland kaum bekannt war, abgesehen von seinem 1882 auf Deutsch erschienenen Roman Sal­ ammbô (1862). Kurz: Nietzsche war im Fall Flaubert auf Wissen vom Hörensagen angewiesen, nebst der Brille Dritter, etwa, neben jener Maupassants, auch derjenigen Paul Bourgets oder Ferdinand Brune­ tières. Von Bourget entlehnt ist beispielsweise Nietzsches flammende Rede aus NW gegen Flauberts »impersonnalité« (»L’homme n’est rien, l’oeuvre est tout«; VI: 426), deren strategische Bedeutung auch darin liegen könnte, dass er von seinem gleichgerichteten Grundsatz aus EH und den Vorteilen, die er aus ihm zog, ablenken wollte. Wei­ terführender ist da schon Nietzsches Urteil aus JGB, Flaubert habe, wie andere »Psychologen Frankreichs«, sein »bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise« kultviert, als »braver Bürger von Rouen«, der »zuletzt nichts Anderes mehr [hörte und schmeckte]: es war seine Art von Selbstquälerei und feiner Grausamkeit.« (V: 153) Denn die kunstvoll eingebaute, auf ein dann doch nicht offenbar­ tes Geheimwissen abstellende Verzögerung (»gleichsam als wenn«), schreit vielleicht nicht, ruft aber doch immerhin nach der Frage, was Nietzsche über das dunkle Geheimnis dieses »braven Bürgers« wusste – oder soll man besser variieren: was er wissen wollte? Eine Frage vom Typ Kaninchen, auf die resp. auf das ich gleich zurückkommen werde. Vorerst aber zu unserer zweiten Auskunftsquelle, Sartre resp. dessen sich auf ca. 3000 Druckseiten erstreckendes Spät- und Monumentalwerk Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857 (1971/72), welches ihn, Sartre, was Flaubert-Wissen angeht, im Vergleich zum David namens Nietzsche als Goliath kenntlich macht. Gewiss: Sartres Idiot gilt Sarah Bakewell als »eines der unlesbarsten Bücher überhaupt« (Bakewell 2016: 251), ist jedenfalls aktuell ein wenig aus der Mode geraten, im Vergleich zu der Zeit vor gut vierzig Jahren, als es verbreitet als »Meisterwerk« (Frank 1980: 84; Oehler 1980: 149) rubriziert wurde und man sich Sartres Impulssetzung im Bereich der literaturwissenschaftlichen Methodologie ungeachtet des auch gegen ihn gerichteten Verdachts des »Biographismus« (Grimm 1980: 109), des »exzessiven« sogar, noch mit Verve annahm, neugie­ rig geworden allein schon wegen der zehn, wenn nicht gar fünfzehn Lebensjahre, die Sartre in dieses Projekt über einen aus marxistischer

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Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres

Sicht – etwa jener von Georg Lukács (vgl. Oehler 1980: 151) – längst schon, allein durch seine Klassenzugehörigkeit, hinreichend Gerichteten wie Flaubert investiert hatte. Aber: Dass Sartre derlei (leicht antizipierbare) Einwände unbeachtet ließ oder durch den Hin­ weis meinte erledigen zu können, es habe halt seine Zeit gebraucht, ehe sich seine »ursprüngliche Antipathie [gegenüber Flaubert] in Empathie verwandelt« habe (Sartre 1977, Bd. I: 8), musste, wie es seinen Verteidigern schien, akzeptiert werden – womit die Sache vorerst erledigt war. Temps perdu: In neuerer Zeit wird Sartres Idioten zumal in der (deutschsprachigen) Flaubertforschung bevorzugt mittels Nekrolo­ gen gedacht. Führend auf diesem Feld seit 2009: Barbara Vinken mit ihrem die Intention von Sartres Flaubert-Studie als auch deren Ver­ hängnis auf den giftigen Punkt bringenden Satz: »Sartre verbrachte zehn Jahre damit, Flaubert als typischen Irrweg, als eine neurotische Fehlentwicklung der Moderne aus dem Weg zu räumen.« (Vinken 2009: 13) Knapp dahinter ist knapp davor, genauer: ist zwei Jahre früher, also 2007, als Wolfgang Matz in Sachen von Sartres Idioten zwar die späte Würdigung nicht vergaß (vgl. Matz 2007: 393–394), ansonsten aber mit ihm nichts Rechtes anzufangen wusste – ebenso wie Vinken, die übrigens analog mit Matz verfuhr (dem sie noch nicht einmal in ihrem Literaturverzeichnis Unterkunft gewährte). Irgend­ wie nicht ganz fein, könnte man hier einwenden – aber irgendwie auch nicht ganz ohne Recht. Denn was Matz geboten hatte, war kaum mehr als Sartre II: Flaubert, dieser durch schwere Kindheit und Zurückset­ zung gehandicapte ›Idiot‹, habe womöglich eine Epilepsie simuliert, um gegen den Willen des Vaters sich schreibend eine imaginäre Welt erfinden zu dürfen. Sowie, und das macht die Sache nicht besser: Matz’ Flaubert war in manchen Passagen kaum mehr als einer minus Sar­ tres, so dass man via Matz am Ende als Leser nicht wirklich weiß, was Flaubert zwischen September 1849 und Mai 1851 in Nordafrika »unter« (mit Zarathustra resp. Nietzsche gesprochen) »Töchtern der Wüste« trieb. Erstaunliches, wie wir noch von Julian Barnes erfahren werden. Immerhin, in einem Punkt war Matz genauer als Sartre: Die wildeste Sexszene der unglücklich verheirateten und sich am Ende mit Gift richtenden Arztfrau Emma Bovary mit ihrem Lover Léon wäh­ rend einer stundenlangen Kutschfahrt durch Paris fehlte zu Flauberts Empörung beim Vorabdruck in der Revue de Paris (vgl. Matz 2007: 122 f.) – was die Zensur gleichwohl nicht hinderte, den Roman

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gerichtlich anzufechten, erfolglos, wie man von Matz ausführlichs berichtet bekommt. Nur: Ist dies wirklich wichtig? Oder, um nun noch einmal einen Blick auf Barbara Vinken zu werfen: Ist es wichtiger als die zahlreichen subtilen (sprachanalytischen) Beobachtungen dieser Matz-Ignoran­ tin wie Sartre-Kritikerin? Deren lustigste (von den Folgen her, aller­ dings wohl nicht für Sarah Bakewell) Beobachtung den Umstand betrifft, dass die Aprikose im Französischen eine Metapher ist für das »weibliche Geschlecht« (wie im Deutschen die Pflaume) und der Womanizer Rodolphe aus Flauberts Madame Bovary, bezeich­ nenderweise unter einem Hirschgeweih sitzend, ›seiner‹ Madame Bovary einen Abschiedsbrief schickt, den er unter Weinblättern und Aprikosen versteckt. Heißt: Dem Aprikosencocktail, von Bakewell in ihrem wunderbar zu lesenden Cocktail Das Café der Existenzialisten (2016) als Existentialistenabzeichen der 1950er Jahre ausgewiesen, kommt womöglich doch eine tiefere Bedeutung zu als gedacht. Oder, so könnten Sie sich und mich nun fragen, steht diese Überlegung nur für eines jener einleitend beschworenen Kaninchen? Ich weiß es, ehrlich gesagt, selber nicht – und fahre lieber fort: Was man – um nach diesem kurzen Bericht zum Stand der Forschung zum Wichtigsten zu kommen und wieder etwas ernster zu werden – bei Wolfgang Matz gleichfalls nicht findet, auch nicht bei Barbara Vinken oder Wolf Lepenies, Dieter Thomä et tutti quanti bis zurück zu Viktor Klemperer, ist Sartre à la Sade, soll heißen: was ihnen mangelt, den Vorgenannten, ist die Abgebrühtheit des an Stoffen wie diesem Gestählten. Denn man muss hier bedenken: Gut zwanzig Jahre, nachdem Sartre mit dem Zeitaufwand von immerhin zwei Lebensjahren als eine Art Vorstudie zu seinem Idioten in Gestalt von Jean Genet einen Schriftsteller umfänglich rehabilitiert hatte, der »die für die Literatur bisher tabuisierte Welt der Homosexuellen, Strichjungen und Zuchthäusler besang« (Sartre 1982: U2), damit erneut dem Vorwurf Auftrieb gebend, Existentialisten würden immer nur »überall das Schäbige, Trübe und Klebrige« (Sartre 2000: 145) sehen – ein Vorwurf, dem übrigens schon Nietzsche an den Beispie­ len Maupassant und Émile Zola die Spitze gebrochen hatte (vgl. Niemeyer 2020: 425–426), ohne dass Sartre dies sonderlich zur Kenntnis genommen hätte –, offenbarte Sartre den Mut, erneut jenem ›Schäbigen‹ auf die Spur zu kommen, und zwar bei Flaubert, aber auch im Herzen des Bildungsbürgertums allgemein, nämlich im Kreis um das legendäre Journal des Goncourt.

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Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres

Um die Diskrepanz ermessen zu können, die sich von Sartre ausgehend in der Bewertung desselben auftut: Wolf Lepenies las Nietzsches Freude vom November 1887 über das Journal des Goncourt – »Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Aus­ gelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selber gehörte gar nicht übel hinein« (8: 192), – als Indiz für seinen »Neid auf diese Abendgesellschaften« (Lepenies 1997: 98), ohne deren dunkle Seite in Betracht zu ziehen. Ganz ähnlich Wolfgang Matz: Der »alte Frei­ geist« (= Nietzsche) blickte »neidvoll […] auf den ausgelassenen Zynismus am Pariser Restauranttisch« (Matz 2007: 378), lesen wir hier zehn Jahre nach Lepenies zum nämlichen Sachverhalt. Neid? Oh heilige Unschuld! Hat denn niemand außer Ralph Häfner (2019: 287 ff.) – unter Konzentration auf Heinrich Heine – bisher Zeit gehabt, sich ein wenig zu vertiefen in Nietzsches (Lese-)Not, der zuzuschreiben ist, dass er womöglich im November 1887 in Nizza, als er das soeben erschienene Journal des Goncourt (der Jahre 1862–65) als »interessanteste Novität« (8: 191) feierte, nur das ihm Genehme gelesen hat und, wie die genannten Sekundärliteraten, über das andere, Schmutzige, vornehm schwieg? Übrigens anders als Sartre. Der in seinem Idioten ausführlich aus den Gesprächen dieser trefflichen ›Abendgesellschaft‹ referiert, ausgehend von dem – und dies kann man ihm gerne anhängen: moralisierenden, also unnietzscheanischen – Ausruf: »Falsch, völlig falsch die Beziehungen dieser Intellektuellen zur ›Halbwelt‹« (Sartre 1977: 536). Letzterer zugehörig, nach Sartre: Die Schauspielerin Suzanne Lagier (1833–1893), die, so Sartre, »bei Flaubert und vor den Goncourts [erklärt], das Theater sei ›der Absinth des Bordells‹« und die Flaubert »nicht so sehr durch die Sinne [gefiel], (sie gehörte ihm wie jedermann und wahrscheinlich für nichts) als durch die Vulgarität ihrer Konversion.« (ebd.) Mehr als dies, und hier beendet Sartre leider seinen Bericht. Hätte er dies nicht getan, wäre ihm womöglich Mario Praz in den Sinn gekommen. Dieser hatte unter der Headline Die schwarze Romantik (1930) Flauberts Vorlieben für das Sado-Masochistische skandalisiert. Und er hatte auch einen skeptischen Blick geworfen auf Flauberts Günstling Maupassant, im Einzelnen: auf dessen im Journal de Goncourt breit ausgemalte Potenz-Protz-Geschichten inklusive von Andeutungen auf Marquisde-Sade ähnliche Rituale mit aus England importierten minderjäh­ rigen Sexsklaven männlichen Geschlechts in einem Kreis um den

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englischen Lyriker Algernon Swinburne (vgl. Paz 1960)59, kurz: auf Fälle von Päderastie, Sodomie, Flagellantentum und sexuellem Missbrauch, um die herum Richard von Krafft-Ebing locker seinen Skandalbericht Psychopathien sexualis hätte füllen können (und es teilweise ja auch tat; vgl. Krafft-Ebing 1997: 111). Kurz: Der 1870 in allen Details im Journal von seinem Bruder geschilderte Syphilistod des Jules de Goncourt wird in der Linie von Treiben dieser Art fast zu einer folgerichtigen Angelegenheit. Eingerechnet den Verfall Edmond de Goncourts als Literat. Denn es lässt sich kaum in Abrede stellen, dass Edmond in der Folge kaum noch ein anderes Thema kannte als dieses, bis hin zum Roman Juliette Faustin (1881/82). Der kaum für mehr steht als für den bis an die Grenze des Lächerlichen gehenden Versuch, Jules’ Tod als durch alles Mögliche bedingt zu erklären – nur nicht durch Syphilis. Und ohne dass Nietzsche, wie andernorts gezeigt (vgl. Niemeyer 2019a), seinen sonstigen Scharfsinn eingesetzt hätte, um diesem (Selbst-) Betrug auf die Spur zu kommen.60 Was zugleich meint: Zum Lachen ist die Sache sicherlich nicht – was für einen Engländer indes nichts heißen muss. Auftritt Julian Bar­ nes, der ein paar Jahre nach dem Höhepunkt der deutschsprachigen Debatte um Sartres Idioten in seinem Roman Flauberts Papagei (1984) zum Stichwort ›Prostituierte‹ notiert: Im neunzehnten Jahrhundert notwendig zur Erwerbung von Syphilis, ohne die kein Anspruch auf Genialität erhoben werden konnte. Träger der Roten Tapferkeitsmedaille waren u. a. Flaubert, Daudet, Maupas­ sant, Jules de Goncourt, Baudelaire. Gab es irgendwelche Schriftsteller,

59 Zuletzt in Erinnerung gerufen durch die 2023 unverändert edierten Auszüge aus den JGG, die Anita Albus 1989 erstmals, nach eigener Übersetzung, auf Deutsch prä­ sentiert hatte. (vgl. Albus 1989/2023: 262 ff.) 60 Als wolle er diesem negativen Vorbild nacheifern, ignoriert auch Alain Claude Sulzer in seinem wieder einmal der Sachkunde entbehrenden Feuilleton (etwa die NZZ v. 06.09.2022 [Mäder] oder Die Zeit v. 08.09.2022 [Schmitter])gefeierten GebrüderGoncourt-Roman Doppelleben (2022) vollständig diesen Roman Edmond de Gon­ courts, obgleich die hier kunstvoll ins Abseits gerückte Syphilis Jules de Goncourts ein zentrales Thema von Doppelleben ist. Auffällig des Weiteren, dass Sulzers Nach­ wort zur ersten deutschen Übersetzung von Alphonse Daudets Roman Jack (1875) (vgl. Sulzer 2022a) frei ist von jeglichem Verdacht, es handele sich hier, wenn auch nicht ganz so eindeutig wie im Fall von Daudets Romanen Fromont jeune et Risler âiné (1874) sowie Sapho (1884) (vgl. Niemeyer 2022: 166ff.; 188 ff.), um einen Schlüssel­ roman in Sachen von Daudets Syphilis. (vgl. auch vom Verf.: Wer war Marie?, in: hagalil.com/2023/05/spottlight/)

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Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres

die nicht damit behaftet waren? Wenn ja, waren diese vermutlich homosexuell. (Barnes 1984: 221)

Noch einmal, verlangsamt: Flaubert, Daudet, Maupassant, Jules de Goncourt, Baudelaire waren Syphilitiker, des Gleichen, wie ich mir hier erlaube zu ergänzen: Nietzsche – gesetzt jedenfalls, was hier gesetzt resp. ad Barnes extrapoliert werden kann: dass er entgegen der hiergegen sprechenden, aber nicht wirklich überzeugenden Argu­ mente etwa von Günther Schulte oder von Joachim Köhler (zur Kritik: Niemeyer 2020; 146; 148 f.) nicht homosexuell war und also – dies geht gegen Richard Wagner, der nur auf Haltlosigkeit hin kalkuliert und Syphilis, wohl aus Tugendhaftigkeit, gar nicht auf dem Schirm hat – aus anderen Gründen onanierte, etwa denen des, etwas lax geredet, »Objektschutzes« (was sich bei venerischen Erkrankungen aller Art anempfiehlt, dies zumal in Zeiten unsicherer Kondome). Und nochmals, zum Mitschreiben und mit der Frage an Sie im Publikum: »Sehen Sie es auch, das Kaninchen, das soeben durchs Bild läuft und auf dem geschrieben steht: ›Nietzsche hatte Syphilis‹, meint Herr Niemeyer in seinem neuen Buch gegen Richard Scharn & Co. Bloß nicht nachfragen, sonst hört er nie auf!’« So weit, so klar, nur: Ist dieser Nachweis, gesetzt, er wäre gelun­ gen, wirklich wichtig? Offenbar schon, wenn man Nietzsche auch sei­ ner dunklen Seite nach verstehen will, in dem etwa, was ihn letztlich, in seinem ›Spätwerk‹, insbesondere in seinen Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht, aber auch in mancherlei Passagen aus Der Antichrist, Götzen-Dämmerung sowie Ecce homo, in einen Euthanasie-nahen Denker verwandelte. Der Nietzsche also, den, beispielsweise, Barbara Vinken ausschließlich zu kennen scheint und ablegt unter »verhäng­ nisvolles Gerede« (Vinken 2009: 21), das Flaubert peinlich gewesen wäre. Einverstanden, was Flaubert angeht. Aber kann dies ein Grund sein, »peinliches Gerede« Flauberts, wie es Sartres Idiot in Erinnerung brachte, sowie darauf bezügliche Einlassungen, etwa jene von Julian Barnes, unter den Tisch fallen zu lassen, wie bei Vinken und in der Flaubertforschung des neueren deutschsprachigen Mainstreams beobachtbar und nun offenbar auch in der Daudetforschung? Im Übrigen: Nicht jeder Syphilitiker tickt wie der andere. Und: Nicht jeder erkrankt gleich schwer wie der Andere – und mischt sein Leid beharrlich in fast jedes seiner Themen hinein. Schließlich: Um dies gleichwohl zu tun, muss man nicht notwendig Syphilitiker sein. Mitunter reicht dafür auch, wie Michel Onfray (2013: 92) für Albert Camus im Vergleich zu Nietzsche als wahrscheinlich erklärte, eine

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einfache Tuberkulose. Eines aber dürfte klar sein: Gar nicht darüber reden geht heutzutage, 150 Jahre nach Erfindung der Moderne in der Linie von Zarathustras Warnung: »Alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig!«, nicht – was, um nochmals auf Vinken zu kommen, des Weiteren tadelnswert macht, dass im von ihr und Cornelia Wild edierten Flaubert-Wörterbuch (Vinken/Wild 2010) nicht nur Barnes ›Prostituierten‹-Lemma fehlt, sondern auch das auf Flauberts Reisetagebücher vom Oktober 1849 bis Juni 1851 sowie den dazuge­ hörenden Briefwechsel bezügliche Stichwort ›Kuchuk-Hanem‹ aus Barnes’ Flauberts Papagei. Ich zitiere und bitte Sie, sich zur Not die Ohren zuzuhalten: Ein Lakmustest. Gustave musste sich entscheiden zwischen der ägyp­ tischen Kurtisane und der Pariser Poetin – Wanzen, Sandelöl, rasierte Pudenda, Klitoridektomie und Syphilis gegen Reinlichkeit, lyrische Poesie, relative sexuelle Treue und Frauenrechte. Ihm schienen Pro und Contra bestens austariert. (Barnes 1984: 221)

Ja, Sie, die Ungehorsamen und Überneugierigen, haben richtig gehört und gefolgert: Barnes, der Mann, will damit sagen, fast im Stil der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckart, Flaubert hätte, jedenfalls als Endzwanziger, die Syphilisation ausgespielt gegen die Zivilisation, insonderheit gegen die »Frauenrechte«. Dies war damals, nach 1984, offenkundig zu frech, wahlweise: zu misogyn für das Flaubert-Wörter­ buch. Ob man derlei Romanistik, gleichsam eine jenseits von Sartre und Barnes, indes unter Fortschritt abbuchen sollte, scheint mir doch sehr fraglich. Kommen wir auf den werkanalytisch entscheidenden Punkt: Flaubert war in seiner Jugend seinerseits ein mit Maupassant in Ver­ gleich zu setzender, aber, was die Schwere seiner venerischen Erkran­ kung angeht, von Maupassant deutlich unterschiedener bedenkenlo­ ser Womanizer von Rodolphe-Aprikosen-Format gewesen, und er richtete in Madame Bovary in den auf diesen bezüglichen kritischen Passagen also auch über sich und jene. Sartre, dem Syphilisthema gegenüber blind sich stellend, erkannte zahlreiche der hier sich stel­ lenden Zusammenhänge, dies vor allem durch subtile Rekonstruktion von Flauberts posthum (1910) erschienener Erzählung November (1840–42) (vgl. Sartre 1977, Bd. II: 1104–1149). Flaubert schilderte hier, in Vorwegnahme einiger Handlungsmotive aus der Geschichte eines jungen Mannes (dt. Untertitel) namens L’éduation sentimentale (1869/70), auf vergleichsweise zarte Weise sein sexuelles Erwachen,

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Nietzsches Flaubert im Vergleich zu Sartres

mitsamt der Beschreibung von psychoanalytisch aufschlussreichen, an Rousseaus Confessions erinnernde (vgl. Niemeyer 1992: 2022: 161-162) Pleiten beim Versuch des Austausches von Körperflüssig­ keiten, die das Stichwort „Angst vor dem Inzest“ (Angeloch 2014: 372 ff.) rechtfertigen. Kaum weniger aufschlussreich: Flaubert erreicht den Höhepunkt seiner Erzählung November mit der Schilderung einer als Traum erlebten Begegnung mit einer etwas in die Jahre gekom­ menen, allein von Wollust dominierten Schönheit namens Marie mit recht dunklem Geheimnis. Es enthüllt sich im weiteren Textverlauf als weitgehend missglückte Suche nach sexueller Erfüllung – ein Madame-Bovary-Motiv, nur dass es hier noch deftigere Farben gewinnt. Marie nämlich trieb es, so der blutjunge Flaubert, mit so gut wie allen, auch mit »vom Weib erschöpften Paralytikern, die auf dem Bettlaken zu sterben fürchteten« (Flaubert 1996a: 87) – vor Überan­ strengung, wohlgemerkt. Syphilis, zumal in der später – etwa von Arthur Canon Doyle (1894) – vielbeschworenen ›dritten Generation‹, sei kein Problem mehr, sollte dies wohl heißen in der Fantasie eines Zwanzigjährigen, der dieses Trostes bedurfte, um wenigstens nicht sehenden Auges in sein Triebschicksal namens Syphilis zu laufen, wie so viele andere seines Ranges und seiner Zeit (vgl. Niemeyer 2020: 410). Nichts davon gelangt allerdings bei Sartre zu wirklicher Klarheit, auch nicht, dass Flaubert sich in seinem Roman Madame Bovary in Gestalt des skrupellosen Verführers Rodolphe als einen über den gehörnten Gatten Charles – für Flauberts Vater stehend – triumphie­ renden Liebhaber feiert, unter dessen glutvollen Küssen der Groll Emmas auf Charles »wie Schnee dahin[schmolz]« (Flaubert 1996a: 223). Auffällig dabei und resümierend gesprochen: Es scheint fast so, als habe Flaubert zwar die neue (Liebes-)Praxis bedacht, aber er und die Flaubertforschung insgesamt die Theorie derselben vergessen, die, wenn sie im Rahmen dieser Tagung von Interesse sein soll, nur eine existentialistische sein kann. Versuchen wir, einer solchen Theorie näherzukommen, unter Beiziehung von Nietzsches Lou von Salomé – ein Kaninchen, wie einleitend bemerkt, und sei es nur, weil die Nietzscheforschung die Bedeutung dieser als Lou Andreas-Salomé bekannt gewordenen Literatin, insonderheit jene für Nietzsche, so gut wie komplett ignorierte, selbstredend auch Sartre.

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Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches Vorab und nur der Deutlichkeit halber: Meine These lautet nicht, Nietzsche habe einen bisher noch unbekannten Roman dieses Titels geschrieben. Sie lautet vielmehr, er habe einen Roman dieser Art erlebt. Der ihn, des tragischen Ausgangs wegen – Lou von Salomé erwiderte seine Gefühle nicht, seine Mutter wie Schwester taten alles dafür, diese Beziehung zu blockieren – existentiell erschütterte und sein ferneres Werk, zumeist negativ, beeinflusste (vgl. Niemeyer 2017: 331–340). So sehr übrigens, dass man beinahe sagen könnte: »Friedrich Nietzsche, das ist der unglücklich in Lou von Salomé verliebt gewesene und wegen der dabei von seinen Nächsten ins Spiel gebrachten Intrigen zum Menschenfeind mutierende vormalige Basler Professor und Wagnerianer«, korrespondierend zu dem Satz Sartres: »Gustave Flaubert, das ist der Autor von Madame Bovary« (Sartre 1977, Bd. I: 7). So zitierte Sartre gleich zu Beginn von Der Idiot der Familie den damaligen Mainstream – um sich auf den nächsten gut dreitausend Seiten in derart vielen Details der Vorgeschichte dieses 1857 erschienen Meisterwerks zu verlieren, dass am Ende die Zeit knapp wurde und die Biologie mitredete: Sartre erblindete allmählich und konnte den versprochenen 5. Band, der diesem Roman zugedacht war, nicht mehr schreiben. (vgl. Sartre 1977, Bd. IV: 683) Der Vorteil, wenn man so will: Ich kann vergleichsweise unge­ stört zu meiner These kommen, ausgehend vom Textbuch Flauberts. In dessen Zentrum: Die junge, betörende Arztfrau Emma Bovary, die ihrem ihr anvertrauten Gemahl Charles in der Hochzeitsnacht den Himmel auf Erden zu bereiten vermag – ihn damit allerdings in ein Schoßhündchen verwandelnd mitsamt weiterer unvermeidlicher Domestizierungseffekte: Charles wird kugelrund vor Glück, ihm wachsen unvermeidlich Scheuklappen, die ihm helfen, seine Ehe, die sich mehr und mehr als Glück über ein gemeinsames Nachtmahl als Abschluss eines anstrengenden Berufsalltags des Arztes mit Vor­ lieben für Hausbesuche erweist, bei entsprechend zurückgehender Kopulationsbereitschaft, als ungetrübt zu fingieren. Kurz: Im Schat­ ten dieses so motivierten Nicht-wissen-wollens gedeiht das umso wachere Schwiegermuttermonster sowie die allzu bekannte Figur des Hausfreundes, zunächst in Gestalt eines klassischen Womanizers resp. latin lovers namens Rodolphe, später, nach der Weigerung desselben, sich mit Emma nach Art eines Pärchens vom Typ »Bonny & Clyde und ihre immerwährenden Hippie-Liebe« auf Weltreise

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Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches

zu begeben, mit Léon ihr Glück versucht, also mit dem uns bereits bekannten Lover aus der Kutsche. Tatsächlich aber ist Léon kaum mehr als dies, also ein jugendlich-schwärmerischer, gutaussehender Notariatsgehilfe, dem im entscheidenden Moment der Mut zum letzten Schritt fehlt und der, wie je auf ihre Art auch Rodolphe und Charles, sich am Ende die Mit-Verantwortung für Emmas schreck­ lichen Suizid aus Verzweiflung und Verbitterung zurechnen lassen muss. Kurz und unter Einbezug der am Bankerott Emmas beteiligten geldgierigen Männer, darunter des unvermeidbaren Typs des ältlichen Lüstlings: Neue Männer braucht das Land, wenn es sich als tauglich erweisen will für die neue Frau und das von ihr reklamierte und bisher allein Männern vorbehaltene Recht auf, so Barbara Vinken, ein »ausgeprägtes Sexualleben« als (bisher) »Ausweis von Männlichkeit« (Vinken 2009: 139) – so könnte man das Credo dieses Romans auf den Punkt bringen. Dass dies mit dem alten Bürgertum nicht gut gehen wird, genauso wenig wie mit dem Klerus (Stichwort: Augustinus), ist dabei klar und erklärt das weitergehende Credo: Den ›neuen Menschen‹ braucht das Land, jenseits der herkömmlichen Setzungen von Gut und Böse und damit jenseits von Christen- wie Bürgertum – ein Programmpunkt Nietzsches, wie leicht erkennbar, jedenfalls wenn man, wie Sartre, dessen Übermenschenkonstrukt nicht missversteht. Wichtig im Blick auf die angedeutete, nun via Nietzsche nachzu­ liefernde Theorie zu dieser Praxis und dabei spaßeshalber gesetzt, Flauberts Madame Bovary entstamme dem Land seines Freundes Turgenjew. Dann nämlich passt zumindest der Auftakt von Nietzsches oben unter dem Stichwort Tautenburg (vgl. Kap. 1) abgehandelten Lou-Affäre: »Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus« (6: 185), schreibt Nietzsche gleich zu Beginn dieser Affäre seinem damals besten Freund, der ihm von der einundzwanzigjährigen Petersburger Generalstochter Lou von Salomé vorgeschwärmt hatte, die er soeben in Rom kennen­ gelernt habe und die ganz begierig sei, ihn kennenzulernen. Dieses Porträt klingt ein wenig nach Emma Bovary und Nietzsche in seinen Briefen an Rée wie Rodolphe, dem man problemlos auch Sätze zutraut wie: »Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniß! Ich schätze nichts als Antriebe – und ich möchte darauf schwören, daß wir darin etwas Gemeinsames haben« (6: 282) – so, man mag es glauben oder nicht, unser von seiner Schwester in ein Asketen-Monster verwandel­

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ter Pastorensohn aus Röcken b. Leipzig, in einem seiner kühnsten Briefe an eine junge Studierende der Universität Zürich, die zu jener Zeit dem Grundsatz huldigt: Ich kann weder Vorbildern nachleben, noch werde ich jemals ein Vor­ bild darstellen können für wen es auch sei, hingegen mein eignes Leben nach mir selber bilden, das werde ich ganz gewiß [...]. Damit habe ich ja kein Prinzip zu vertreten, sondern etwas viel Wundervolleres, – etwas, das in Einem selber steckt und ganz heiß von lauter Leben ist und jauchzt und heraus will. (Andreas-Salomé 1984: 78)

Besser, so will mir scheinen, ist über Existentialismus nie gesprochen worden, auch nicht von Emma Bovary. Wie das Ganze weiterging, weiß man: Nietzsche, gehemmt durch sein dunkles Geheimnis, spielte nur Rodolphe, war es aber nicht, in ihm steckte noch viel zu viel Charles und insoweit die Hoffnung auf Spießerglück, also auf ein »Weib«, das, wie es Zarathustra kurze Zeit später, Nietzsches Resignation aufnehmend, nennen wird, schließlich gedacht sei »zur Erholung des Kriegers« (IV: 85). In der Umkehrung gesprochen: Lou war viel zu wenig Emma, um eines Spießers wie jenem Charles zu verfallen oder auch nur dem Versprechen eines frühpensionierten und kränkelnden Baslers Professors, sie müsse ihn, diesen Frosch, nur küssen, schon werde eine Art Rodolphe daraus. Mehr als dies: Lou sich aus Liebes- wie Lebensenttäuschung mit Arsen in einem gar schrecklichen Todeskampf den irdischen Abläufen entziehen zu sehen, ist eine geradezu absurde Vorstellung bei einer, so Viktor Tausk, femme fatale wie ihr, die eher schon daran gewohnt war, dass um sie herum alles, etwa ihr pro forma geheirateter impotenter Mann, erstarb oder gar, aus ungestillter Liebessehnsucht, sich, wie Rainer Maria Rilke, zu mancherlei erniedrigen ließ, wenn der nicht erhörte Lover nicht gar still und leise aus dem Leben schied, was für Paul Rée, Nietzsches Wegbahner bei Lou und späterer Rivale auf Leben und Tod, wohl als gewiss gelten darf (vgl. Niemeyer 2017: 122–123). Insoweit: Nein, Lou war nicht Emma, Nietzsche seinerseits viel zu sehr Charles und viel zu wenig Léon oder gar Rodolphe, als dass wir mehr Funken als die genannten aus diesem Vergleich schlagen können – abgesehen von dem nun ein wenig genauer in Betracht zu ziehenden Aspekt: Nietzsche wie Flaubert, Letzterer als Zwanzigjähriger, Ersterer als ›Spätling‹ mit 37 Jahren, sich endlich – was für ein Selbstbetrug für einen Syphilitiker wie ihn! – als genesen wähnend, waren unisono der Meinung, dass Neues und

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Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches

zumal perfektes Lebens- wie Liebesglück nur aus überschießender Kraft und Lebens- wie Liebesfreude entspringen könne, dem also, was den zwanzigjährigen Flaubert davon träumen ließ, er werde dereinst »alle Horizonte durchspähen«, »o daß ich unterginge beim Umsegeln des Kaps, in Kalkutta an der Cholera stürbe oder in Konstantinopel an der Pest!« (Flaubert 1996b: 110) Sicherlich: Dies war allererst eine Vorstellung, aus der Flaubert Honig zu saugen wusste angesichts der damals zumal dem Freier allüberall drohenden Gefahr, sei es in Paris, sei es in Nordafrika resp. Südeuropa. Aber es war auch eine Vorstellung, die man als Vorwegnahme von Nietzsches Imperativ »gefährlich leben!« würdigen sollte, was gegen Wolfgang Matz geht, der jene Passagen extensiv zitiert (vgl. Matz 2007: 41–42), aber ihrer Parallelen zu Nietzsche nicht inne wird. Dies sei abschließend noch mit wenigen Strichen erläutert. Anknüpfen könnte man dabei an Überlegungen Nietzsches im unmittelbaren Vorfeld der Lou-Affäre, darunter den Plan: »Ich wuerde gern eine Colonie nach den Hochlanden Mexikos fuehren: oder mit Rée in die Palmen-Oase Biskra reisen – noch lieber kaeme mir ein Krieg«, ragt ein resignativer Befund heraus: »Die Gesundheit sagt zu allem Nein« (6: 174) – aber, so ließe sich ergänzen: die Theorie, sie sagt eigentlich Ja. Denn Nietzsche steckte zu dieser Zeit mitten in der Arbeit an Die fröhliche Wissenschaft und huldigte insoweit bereits der hier begründeten Losung: »gefährlich leben!« (III: 526) In der Linie dieser Selbstüberwindungsrhetorik bewegt sich auch Nietzsches Wort von der »grossen Gesundheit«, die der »Besieger Gottes und des Nichts« aufzuweisen hätte: »Geister, durch Kriege und Siege gekräf­ tigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist« (V: 336). Gewiss: Dies war über weite Teile Mutmacher-Rhetorik am Rande der absehbaren – um an den Syphilitiker Heinrich Heine zu erinnern – ›Matratzengruft‹. Aber es ist gleichwohl dem Theoriekern nach ernst zu nehmen als Indiz für den Nietzsche der Post-Wagner-Ära, also für den, mit Karl Schlechta, aber auch mit Mazzino Montinari geredet, zu sich selbst gekommenen Nietzsche. Er weiß um sich als »Erstling und Frühgeburt des kommenden Jahrhunderts« (III: 574), »welches wir« – so ein berühmter Passus aus Nietzsches unter dem Titel L’Ombra di Venezia überlieferten Nachlassaufzeichnungen vom Frühjahr 1880 – »das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll« (IX: 48).

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Zwei Jahre später, in Die fröhliche Wissenschaft, erklärt Nietz­ sche, dass es »vieler vorbereitender tapferer Menschen [bedarf], welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können – und eben­ sowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grosstadt-Bildung: [...] gefährdetere Menschen, fruchtbarere Men­ schen, glücklichere Menschen!« (III: 526) Man ist hier versucht zu ergänzen: wie schließlich auch Emma Bovary als ›vorbereitender tapferer Mensch‹ nicht aus dem Nichts entstehen konnte und also, wie ihr Selbstmord drastisch anzeigt, scheitern musste. Von weiteren, in diese Richtung weisenden Textstücken sei hier abgesehen – nicht aber von jenen Programmsätzen, die Nietzsche im Frühjahr 1880 zu Papier brachte: [E]rstens die Enthaltung in Bezug auf die letzten Entscheidungen […]; zweitens die Voreingenommenheit gegen alle Sitten und alles nach Art der Sitte Bindende; drittens eine größere Ehrlichkeit im Sichtbar-wer­ den-lassen sogenannter böser Eigenschaften. (IX: 48–49)

Nochmals und mit mehr Betonung geredet: Diese drei Programm­ punkte, nicht wortwörtlich, aber dem Sinn nach, hätten auch auf der Agenda Flauberts stehen können, als er in den 1850er Jahren in der Gestalt der Emma Bovary einen neuen Frauentyp schuf, für den eben diese Punkte kennzeichnend sind nebst des vierten, von Nietzsche zwei Seiten später nachgereichten, der wie folgt lautet: In den Leidenschaften des Menschen erwacht das Thier wieder; die Menschen kennen nichts Interessanteres, als diesen Rückgang ins Reich des Unberechenbaren. Es ist, als ob sie sich an der Vernunft allzusehr lanweilten. (IX: 50)

So – um nun die Wende hin zu Flauberts Roman Madame Bovary (1857) vollständig zu vollziehen –, wie sich Emma ob der Vernunft ihres Gatten Charles allzu sehr langweilte im Kostüm ihrer Ehe. Wie das Ganze endete, wissen wir, zunächst, was Nietzsche angeht, von seinem schrecklichen Scherz über seine Madame Bovary, ein Scherzwort des Liebesenttäuschten (vgl. Niemeyer 2017: 132– 133) aus dem Jahr 1883: »Diese dürre schmutzige übelriechende Äffin mit ihren hängenden Brüsten – ein Verhängniß!« (6: 402) Bitte die Reihenfolge beachten bei meiner Antwort auf diesen im Film Lou Salomé (2016) von Cordula Kablitz-Post in Erinnerung gebrachten und aus frauenbewegter Sicht vielgetadelten Satz: Nein, war sie nicht, nämlich eine ›dürre schmutzige übelriechende Äffin‹; nein, hatte sie nicht, nämlich ›hängende Brüste‹; sowie: Ja, war sie sehr

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Flauberts Madame Bovary im Vergleich zu Nietzsches

wohl, nämlich Nietzsches Verhängnis. Der Rest ist Psychologie, als Abwertung des ohnehin nicht erreichbaren Liebesobjekts; oder, auch dies zu beobachten: als Teil der Freude darüber, dass es auch mit der Madame Bovary aus der Fiktion, mit Flauberts Traumfrau also, sich kaum besser verhielt, jedenfalls dem allerletzten Scherz Nietzsche in dieser Angelegenheit zufolge, vorgetragen in Der Fall Wagner: Flaubert hätte es freigestanden, Madame Bovary »mythologisiert, Wagnern als Textbuch anzubieten« (VI: 34), lesen wir hier aus der Feder eines Spötters, der längst der Hoffnung auf irdisches Glück von Lou-von-Salomé-Format entsagt hat und dem es offenbar ein Trost besonderer Art ist, dass auch Flauberts Vision, sichtbar zu machen, sobald man sie in die Wagnersche Welt übersetzt, eine zum Scheitern verurteilte wäre. Nietzsche, weniger analytisch korrekt denn von der Hoffnung umgetrieben: Würden Sie es glauben, dass die Wagnerschen Heroinen sammt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgestreift hat, zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehn! […] Immer fünf Schritte weit vom Hospital! Lauter ganz moderne, lauter ganz grossstädtische Probleme! […] Haben Sie bemerkt […], dass die Wagnerischen Hel­ dinnen keine Kinder bekommen? – Sie können’s nicht… (VI: 34)

Muss man hier wirklich noch ergänzen: So wie es auch mir, Nietzsche, mit meiner Madame Bovary gegangen wäre, mir, der doch nur so wenig von Rodolphe hat und der so sehr des Stubenglücks eines Frühpensionärs bedarf? Zusammenfassend geredet: Es gibt gute Gründe, Lou von Salomé in Analogie zu Flauberts Madame Bovary allererst als von Nietzsche gefeiertes, Fleisch gewordenes Symbol der Aufklärung à la Voltaire zu lesen, gerichtet gegen den Klerus und die »Sittlichkeit der Sitte« (Nietzsche), insonderheit gegen das von Barbara Vinken (2009: 135–140) ins Zentrum gerückte Ehebruchverbots à la Augus­ tinus. (dem sie, die Salomé, im Verlauf ihrer Pseudoehe systematisch zuwiderhandelte.) Insoweit und zunächst unbedacht um die Frage, ob damit den 1857er Anklägern Auftrieb gegeben wird oder nicht: Ja, Flauberts Roman – erinnert sei an die freizügige Kutschfahrtszene – feiert die sexuelle Libertinage und huldigt dem Frauentyp, der ihrer bedarf, sei es in, sei es außerhalb der Ehe. Zarathustras Wort: Und besser noch Ehebrechen als Ehe-biegen, Ehelügen! — So sprach mir ein Weib: ›wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe — mich!‹ (IV: 246)

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könnte insoweit auch Flauberts sein, der angeführte Nachsatz des ›Weibes‹ wirkt wie abgeschrieben aus Emma Bovarys Textbuch, das auch vorsieht, einem vom Ballast der Mütterlichkeit befreiten Frau­ enbild Raum zu schaffen. So entledigt sich Madame Bovary ihres Töchterchens mit einer Beharrlichkeit, die einem konventionellen Sozialpädagogen schockieren muss. In der Umkehrung gesprochen: Flaubert verficht eine fast vollständig auf die Erotik konzentrierte Männerfantasie, wie es so einige gab in der Folge, etwa von Ola Hansson in Sensitiva amorosa (1889) oder von Arthur Schnitzler in Gestalt der sich ans Fensterkreuz nagelnden liebestollen Friederike aus Doktor Gräsler, Badearzt (1913) – übrigens im letztgenannten Fall gezielt gerichtet gegen die Empörung des Bürgertums, die Schnitzler, der »österreichische Maupassant« (Torberg), gezielt wachrief, im Gegenzug zum 1933 als NS-Sexualaufklärer reüssierenden schwedi­ schen Arzt und Sexualaufklärer Seved Ribbing (1845–1921), der noch 1890 Leute wie Hansson oder August Strindberg ins Gefängnis zu werfen oder in die Irrenanstalt zu überstellen für angezeigt hielt. (vgl. Niemeyer 2020a) So gesehen steht der 1857er Prozess gegen Flaubert fast für eine Harmlosigkeit, anders als der 1888er Prozess Nietzsches gegen diesen. Er nämlich spricht eher dafür, dass da endlich jemand seine Ruhe haben will und sich zurücksehnt nach dem Hausfrauenideal.

Fazit Nietzsche hat zwischen 1880 und 1882 in offenkundiger Unkenntnis von Flauberts Madame Bovary die Metatheorie der hier im Zentrum stehenden Ehebruchsgeschichte skizziert, mittels, wie gesehen, von vier Programmsätzen, die einem ein kommendes Zeitalter begrün­ denden Experimentalismus zugerechnet werden können, wobei gerne eingeräumt sei, zumal angesichts der Zurechnung dieses Textes zum existentialistischen Kanon durch Walter Kaufmann (1957: 127): Exis­ tenzialismus und Experimentalismus gehen vermutlich weitgehend überein. Gründe indes, Nietzsche aus diesem Kanon auszuschließen, sehe ich nicht, auch nicht via Sartre, dessen Vertrauen auf Descartes cogito (Sartre 2000 165) – um nur dies noch zu nennen – nach Nietzsches vivo, ergo cogito sowie seinem später nachgereichten: »Es denkt!« (vgl. Niemeyer 2019: 400–401) altertümlich wirkt, sprich: anti-nietzscheanisch als auch anti-existentialistisch.

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Fazit

Insoweit können wir nun, den einleitend erwähnten Einwand Barbara Vinkens gegen Sartre aufnehmend, folgern: derlei Einsicht in die diesbezügliche Vorläuferschaft Nietzsches gibt es womöglich allein deswegen nicht in Sartres Idioten, weil, seiner Setzung zufolge, Flaubert nicht am Beginn der Moderne stehen durfte und ihn deswegen auch Nietzsches Flaubert nicht interessierte. Derlei indes, also persön­ liche Ranküne, taugt nicht als Argument, besser vielleicht: taugt nicht im Vergleich zu den im Vorhergehenden vorgetragenen Argumenten. Vor allem jenen, die auf den von Sartre systematisch Ignorierten zurückgehen: eben Nietzsche. Der allerdings seinem selbstgesetzten Ideal 1883 der Praxis nach und 1888 auch der Theorie zufolge ent­ sagte, Ersteres aus Resignation ob des Abgelehntwordenseins, Letz­ teres aus Resignation eines unheilbar Erkrankten sowie Liebesent­ täuschten.

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13 Sexualpädagogik der Einfalt? Über die Hintergründe und die Aktualität von Nietzsches Kritik am »Bauernaufstand des Geistes« – ein Interpretationsversuch zu Wir Furchtlosen (= FW V) 358 im erweiterten Kontext

»Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüs­ tung der Einfalt61 gegen etwas ›Vielfältiges‹«, meinte Nietzsche 1887 im für das Tagungsthema zentralen Aphorismus Der Bauernaufstand des Geistes (= FW V 358). Bis ins Terminologische hinein scheint Nietzsche hiermit die aktuell im deutschsprachigen Raum überbor­ dende, mit dem Stichwort Sexualpädagogik der Einfalt (Niemeyer 2016) belegbare christlich-fundamentalistische Kritik an einer ›Sexu­ alpädagogik der Vielfalt‹ vorweggenommen zu haben, deutlicher: die »Entrüstung der Einfalt« (Nietzsche) gegenüber der angeblich ins Haus stehenden Renaissance der sexuellen Revolution der 68er Studentenbewegung im neuen Gewande vermeintlicher »Frühsexua­ lisierung« sowie eines inakzeptablen »Gender-Mainstreaming«. Im Folgenden werde ich über die Aktualität (II.) dieser Denkfigur reden, aber auch und zunächst über das Berechtigte derselben, also: über deren Hintergründe (I.).

Hintergründe Wir schreiben Juni 1520, Luthers Entrüstung der Einfalt gegen etwas ›Vielfältiges‹ beginnt – eine Entrüstung, die 1528 in dem später kaum anders als anti-aufklärerisch62 als auch, noch später, anti-nietzschea­ nisch zu deutenden Bannruf auslaufen wird: 61 Eines »ungeistigen Menschen« namens Luther, könnte man auch mit einer Nach­ lassvariante (XI: 679) sagen. 62 Für eine Ausnahme steht Richard J. Evans, der daran festhält, »daß Luther für das Recht des einzelnen eintrat, sich nach seinem eigenen Gewissen gegen geistliche

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13 Sexualpädagogik der Einfalt?

Hiermit verwerfe ich als lauter Irrtum alle Lehren, die unsern freien Willen preisen. (Luther 1528: 255)

Für Nietzsche war dies unannehmbar – für ihn, der seit seinem Ger­ mania-Vortrag Fatum und Geschichte (1862) über kaum etwas inten­ siver nachdachte über die Frage, wie er sich und mithin seinen freien Willen, seine ›erste Natur‹, wiedergewinnen könne (vgl. Niemeyer 2016: 26 ff.), gegen selbstverschuldete Fremdbestimmung und Über­ formung, sei es à la Wagner, sei es à la Luther. Bis zuletzt hielt er, deutlich gegen Luther, fest: »Die Theorie vom ›freien Willen‹ ist anti­ religiös« (XIII: 308) und skandierte geradezu trotzig in Götzen-Däm­ merung (1888), die im Monat seines geistigen Zusammenbruchs in die Läden kam: Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlich­ keit hat. (VI: 139)

So gesehen steht es wohl außer Fragen: der Pastorensohn aus Röcken b. Leipzig und der Mönch aus Eilsleben waren Antipoden, ganz klar. Aber was war dieses ›Vielfältige‹ eigentlich, gegen das Luther, Nietzsches Lesart zufolge, aufbegehrte? Luthers Bezug auf 1. Mose 1,28: »Wachset und mehret euch!« mit dem Zusatz: »mehr als ein Gebot, nämlich ein göttliches Werk, das zu verhindern oder zuzulassen nicht bei uns steht« (Luther 1522: 167) ist eindeutig: Unfruchtbare, Lesben, Schwule, Impotente, Kastrierte, Unfruchtbare und andere, die sich nicht ›mehren‹ können oder wollen, sind nicht mehr dabei, sind letztlich nicht »Kinder Gottes« im Sinne von Joh. 1,12 (Luther 1520: 244) – alle jene also, denen eine moderne ›Sexualpäd­ agogik der Vielfalt‹ bedarf, um sich als Schutzmacht des Vielfältigen gerieren zu können. Auch Luthers Vokabeln zwecks Kennzeichnung der Dekadenz des zeitgenössischen Papsttums, etwa in seiner furio­ sen Streitschrift An den christlichen Adel deutscher Nationen (1520), sind eindeutig:

und geistige Obrigkeit aufzulehnen« – eine sehr einseitige Lesart, die Evans dabei hilft, Luther nicht »als Schrittstein auf dem Weg zu Aufstieg und Siegeszug des Nationalsozialismus zu interpretieren.« (Evans 2005: 24) Sehr viel treffender ist das zu dieser Zeit über vierzig Jahre alte Urteil William L. Shirers (1961: 89), dass Luther, »dieser wilde Antisemit und Rom-Hasser«, einen »Hang nach politischer Autokratie« aufwies und ergo einem »bedenkenlosen, provinziellen politischen Absolutismus« die Bahn brach.

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Hurerei, Gaunerei, auf allerlei Weise Gottesverachtung, daß es dem Antichrist nicht möglich ist, lasterhafter zu regieren (Luther 1520: 180),

sowie schließlich, 1530, wortwörtlich und erkennbar zum in jenem Jahr sich klärenden Begriffsgebrauch63, »Syphilis«, an eher unvermu­ teter Stelle, nämlich in Eine Predigt Martin Luthers, daß man Kinder zur Schule halten sollte (1530), und gleichrangig gestellt neben Plagen wie »Pest« und »Influenza«, allesamt als Gottesstrafe gelesen, die »uns allesamt in den Abgrund der Hölle versenkte wie Sodom und Gomorrha« (Luther 1530: 135)64 – dies ist Dekadenz, im durchaus auch für Nietzsche schon gängigen Begriffsgebrauch des fin de siècle gesprochen. Und die Gegenwehr gegen diese Dekadenz, selbstredend nicht nur gerichtet gegen jene im Renaissance-Papsttum, war von ihren Folgen her teils eindeutig und lässt sich mit Worten beschreiben wie Sexualitätsverfolgung, Todesstrafe für Ehebrecher (noch 1584 und 1592), Beschränkung von Befriedigungsmöglichkeiten für mit dem »Laster« der Ehelosigkeit Behafteten und Propaganda für eine »reine, züchtige Ehe und die Erziehung einer möglichst großen Anzahl einer möglichst großen Zahl makelloser Nachkommen« (Beh­ rend 1850: 8 ff.) – ein Ideal, das Luther auch in seiner eigenen, wohl eher nicht für wahre Liebe und schon gar nicht für Gleichberechtigung zeugenden (vgl. Köhler 2016: 320 ff.), von Nietzsche mit zwiespälti­ gem Lob65 bedachten Ehe praktizierte und das, beispielsweise, jenem der AfD von heute nahekommt. Möglicherweise ebenso nahe kommt wie die in den Tischreden Nr. 3838 (Luther 31962: 182), 451366 63 1530 führte der italienische Arzt Girolamo Fracastoro den Namen Syphilis ein in einem Lehrgedicht, das von dem Hirten Syphilus handelt und die Krankheit erstmals als Gottesstrafe für menschliche Hybris deutbar macht. (vgl. Vorberg 1965: 639) 64 Eine zu dieser Zeit schon zehn Jahre alte Prognose (vgl. Luther 1520: 175). Sodom und Gomorrha meint dabei, nach dem Alten Testament (Genesis 19), ein göttliches Strafgericht in Sachen Homosexualität, anders als in der Variante auf diese Mär im Buch der Richter 19, das in Gibea spielt und in deren Mittelpunkt die Schändung einer Konkubine steht (vgl. Cole 1959: 287 ff.). 65 Es sei denn, man überhöre – wie etwa Babette E. Babich (2008: 324) – den Spott in Nietzsches Satz: »Luther’s Verdienst ist vielleicht in Nichts grösser als gerade darin, den Muth zu seiner Sinnlichkeit gehabt zu haben.« (V: 340) 66 »Wechselkinder und Kilekröpfe legt der Satan an der rechten Kinder statt, damit die Leute geplaget werden.« (Luther, zit. n. Morgenstern 2016: 303 f.) Diese Vorstel­ lung, so der Luther-Kommentator Matthias Morgenstern weiter, »verbindet sich in [Luthers antisemitischer Schrift] Von den Juden und ihren Lügen mit vorneuzeitlichen Erklärungen von Missgeburten, die das Resultat eines Fehlverhaltens von Vater und

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und 520767 hervortretende Nähe Luthers zur späteren NS-Euthana­ siepraxis. Gewiss: Luthers auf seine Eltern bezüglicher Hinweis, es »sei ein bös Ding, wenn Kinder um harter Bestrafung willen den Eltern gram« (zit. n. Köhler 2016: 24) würden; seine Kritik an der ›schwarzen Pädagogik‹ in Klöstern und Stiften (»Es sind nur Kinder­ fresser und -verderber«; Luther1524: 44); schließlich seine gleichfalls biographisch herleitbare (vgl. Köhler 2016: 26) Kritik am »Fegefeuer unserer Schulen« und der Skepsis gegenüber »Prügel, Zittern, Angst und Jammer« (Luther 1524: 63 f.) darf nicht übersehen werden, ebenso wie seine Beiträge zum Ausbau öffentlicher Erziehung (vgl. Nipkow 2004: 812 f.; Heine 2009). Und doch darf dabei nicht über­ sehen werden, dass Luther keineswegs frei war von eigenen, schon in seinem biblischen Zugriff begründeten Zuarbeiten zu einer ›schwar­ zen‹ Pädagogik resp. Sozialpädagogik68: Erstere anhebend mit der Festlegung, »Ungehorsam« sei, aufgrund der Vorrangerteilung für das vierte gegenüber dem fünften, sechsten und siebten Gebot, eine »größere Sünde als Totschlag, Unkeuschheit, Stehlen« (Luther 1520a: 111); Letztere zum Ausdruck gelangend in Luthers Bannruf unter Berufung auf Röm. 13,3 f.: »[B]öse Menschen« muss man »zwingen wie die wilden Pferde und Hunde, und wenn das nichts helfen will, sie vom Leben tun durchs wilde Schwert. (ebd.: 56)

Mutter beim Sexualakt waren.« (ebd.: 304) ›Fehlverhalten‹ – Morgenstern bleibt hier undeutlich – meint hier auch: Geschlechtsverkehr mit von der Syphilis infizierten Prostituierten als der nicht eben seltenen Ursache für ›Missgeburten‹, wie an der Nachkommenschaft Karls VIII. exemplarisch studierbar. Ihr (sexual-)antisemitisches Element gewinnt Luthers Überlegung vor allem durch das Kalkül, Jüdinnen seien ihrer erhöhten Sinnlichkeit wegen unter den Prostitierten überrepräsentiert, wie in den 1920er Jahren bei Arthur Dinter studierbar (vgl. hierzu Henschel 2008; Niemeyer 2 2022: 156 ff.). 67 Zum »wexell-balck«-Thema, will sagen: zur Lösung der Behindertenfrage unter dem Motto: »Quia ego simpliciter puto esse massam carnis sine anima.« (Luther 3 1962: 276) 68 Auch diese Zurechnung unter Beiseitesetzung des ihr Widersprechenden, etwa sein Hinweis auf die – am Sodom-und-Gomorrha-Exempel zutage tretenden – Gefah­ ren der Kindesvernachlässigung (vgl. Luther 1524: 48 f.).

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Wie wohltuend modern, ja hypermodern nimmt sich, von hier aus betrachtet, Nietzsches Forderung aus: Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529)

Von diesem Satz aus sind es nur noch wenige Schritte bis hin zu einer modernen, ›weißen‹ Sozialpädagogik! Von Luthers Wort hingegen sind es knapp zwei Schritte zurück ins Mittelalter finsterster Prägung! Dieser Zwischenbefund ist durchaus erhellend im Blick auf einen ursprünglich ja nur anti-päpstlichen ›Wutbürger‹, dessen anti-päpst­ liches Vaterunser69 legendär ist und dem außer Frage stand: »Gibt es eine Hölle, so steht Rom darauf.« (zit. n. Kluge 2016: 28) ›Ursprüng­ lich‹, denn bedenken Sie: Alle Wege führen nach Rom! Konkret: Sie führten Luther nach seiner Romreise in seiner 1520er Streitschrift hin zu Papst Leo X., dem eigentlichen Urheber der Ablassbriefe, der Luthers Einsprüche folgerichtig als »Mönchsgezänk« (Springer 1926: 70) abwertete. Anders die Attributionsrichtung Hitlers gut vierhun­ dert Jahre später: für ihn verkörperte der Ablasshandel den »jüdischen Geist, wie er leibt und lebt« (zit. n. Ryback 2010: 65) – womit sich Luther trefflich dem NS-Antisemitismus einfügen ließ70, insofern dieser begreifbar ist als Fortführung jenes mittelalterlichen christli­ chen Antijudaismus (vgl. hierzu Wistrich 2003: 15 f.). Auch Alfred Rosenberg (79–821935: 170 f.) sah dies ähnlich.71 Ans Licht der Öffentlichkeit traten dunkle Seiten wie diese vor allem durch eine im April 2014 erschienene Titelgeschichte im Cicero aus der Feder eines bekannten Kriminologen (Pfeiffer 2014). Der in

69 »Papst, Vater aller verleugneter Christen, geschändet werde dein verfluchter Name, dein Reich komme in die Hölle, dein teuflischer Wille muß bald vergehen« – und endend mit: »[E]rlöse uns Gott von Deinem Übel. Amen.« (zit. n. Kluge 2016: 26) 70 Und, beispielsweise, problemlos Eingang fand in die Bausteine zum Dritten Reich, einem Lehr- und Lesebuch des Reichsarbeitsdienstes (vgl. Kretzschmann 1934: 438 f.). 71 Zusätzlich brachte er vor, dass dem Bauernaufstand an sich, gelesen als berechtigter Protest gegen »die Verfälschung des altgermanischen Rechts zugunsten der ›rechtmä­ ßigen‹ kirchlichen und weltlichen Tyrannen«, auch ein antisemitisches Motiv eigne, insofern »schon seit dem Jahre 1432 die Bauernaufstände gegen Junker und Bischöfe« gingen, »aber auch gegen die wuchernden Geld-Leihe-Juden, die in die Städte unter den Schutz des Krummstabes flüchteten.« (vgl. Rosenberg 79–821935: 568)

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der NS-Zeit stark betonte Hitler-Luther-Zusammenhang72, der zur sukzessiven Abwendung beispielsweise Thomas Manns von Luther führte (vgl. Scheunemann 2016: 454), erklärt auch Luther – als Anti­ semiten – feiernde Passagen in Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhun­ derts (Rosenberg 79–821935: 129 ff.), hier unter Bezug auf Luthers »wüst antisemitischem Traktat« (Goldhagen 2002: 53) Von den Jüden und ihre Lügen (1543). Analoges gilt für Hitlers Bibel, Theodor Fritsch’ Handbuch der Judenfrage, dortselbst zusätzlich noch unter Verweis auf Luthers Vom Schem Amporas (1543) sowie unter Einbezug ausge­ wählter Tischreden (vgl. Fritsch 301931: 391–396).73 Summarisch geredet: Es sprach an sich wenig gegen die Entschließung der »Glau­ bensbewegung Deutscher Christen« vom 13. November 1933, »mit­ zubauen an einer wehrhaften und wahrhaften völkischen Kirche, in der wie die Vollendung der deutschen Reformation Martin Luthers erblicken und die allein dem Totalitätsanspruch des nationalsozialis­ tischen Staates gerecht wird.« (zit. n. Hofer 1957: 132)74 Spannend dabei: Recherchen Thomas Kaufmanns zufolge begann die »rassenantisemitische Inanspruchnahme Luthers« (Kauf­ mann 2014: 157) knapp fünfzig Jahre zuvor, im Kreis der von 265.000 Bürgern unterzeichneten Anti-Antisemiten Petition von Nietzsches Schwager – ein Name, den Kaufmann leider nicht erwähnt, sich damit um die entscheidende Pointe bringend: Es waren Nietzsches Antipoden, also sein antisemitischer Schwager, aber natürlich vor allem dessen Frau, also – von Kerstin Decker (2016) unlängst auf so skandalöse Weise rehabilitiert – Elisabeth Förster-Nietzsche, die Luther zu eben jener Zeit als Antisemitenchef auszubauen suchten, zu der Nietzsche sich als dessen Antipode in Stellung brachte. Übri­ gens ohne dass er offenbar um Luthers Antisemitismus wusste, wie auch Kaufmann insinuiert, insofern er zu recht betont – allerdings erkennbar unkundig in Sachen von Nietzsches Problem mit Theodor Fritsch (vgl. Niemeyer 2003) –, erst ab 1887, mit Fritsch’ AntisemitenEtwa auch durch entsprechende Postkarten-Motive zum 450. Geburtstag Luthers (vgl. Scheunemann 2016: 452) 73 Lt. Register des von Otto Clemen besorgten Bandes 8 der Werkauswahl (vgl. Luther 31962: 368) werden als judenkritisch ausgewiesen die Tischreden Nr. 24, 3512, 3539a, 3834, 5396, 5415. 74 Dies nur als Ausschnitt einer vielfältigen Debatte um Zuschneidung Luthers in Richtung des Projekts einer völkischen Religion resp. seiner über Jahrhunderte hinweg sich hinziehenden und in der NS-Zeit kulminierenden Rezeption als beispielgebenden Antisemiten (vgl. Kaufmann 2014: 141 ff.). 72

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Katechismus, sei Luthers Antisemitismus »einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bekannt« (Kaufmann 2014: 159) geworden. So weit, so hässlich (wobei ich Ihnen gerne die Freiheit lasse in der Frage, wen oder was ich mit der Vokabel ›hässlich‹ meine). Teils geradezu abenteuerliche Konstruktionen im Zuge der Indienststel­ lung eines massentauglichen Idols wie Luther für die eigene Sache sind dabei wohl in Abzug zu bringen75 – nicht aber Luthers Aufruf zur Synagogenbrandstiftung (aus Von den Juden und ihren Lügen, vgl. Morgenstern 2016: 195 f.), den man, zynisch und mit Thomas Kauf­ mann geredet, 1938, anders als »unter den sicherheitstechnischen Bedingungen des 16. Jahrhunderts«, offenbar für realisierbar hielt, »da man durch moderne Löschtechnik die Gefahr von Flächenbränden minimieren konnte.« (Kaufmann 2014: 165) Seriöser sind andere Aspekte in diesem aktuell viel diskutierten Zusammenhang (vgl. etwa Bell 2016; Osten-Sacken 2016)76, und wichtiger, jedenfalls im Rah­ men dieses Vortrags: Es muss durchaus auffallen, dass hier wie da und zumal bei Hitler, diesem mutmaßlichen Syphilitiker77, die Zurechen­ barkeit der Borgia-Päpste zu einem Krankheitsbild in Wegfall geriet, dessen der linke Rechtsanwalt Brunold Springer 1926 mit den tro­ ckenen Worten gedacht hatte: Die Geschichte der Syphilis beginnt mit drei Päpsten. (Springer 1926: 66)

Sicherlich, diese Erzählung Springers, Lebensgefährte der für die Geschichte der Gesundheitsfürsorge in Deutschland geradezu unver­

75 Die gilt noch nicht unbedingt für die Instrumentalisierung des »Wach-auf«-Motivs aus Wagners Meistersingern – hier gedacht als Gruß an Luthers Reformation – in Gestalt einer Art »Erkennungsmelodie des Dritten Reiches« (Köhler 1997: 359). Dies gilt aber wohl für den Versuch, den 24. Februar 1920, also das Datum einer für die Geschichte der NSDAP wichtigen Hofbräuhausrede Hitlers, nachträglich mit Luthers Thesenanschlag von 1517 zu vergleichen. (vgl. Fest 1973: 24) Zum Stichwort ›abstrus‹ gehört auch – gleichsam mit umgekehrten Vektor – die Ausrede des Stürmer-Her­ ausgebers (Dauerheadline: »Die Juden sind unser Unglück!«) Julius Streicher im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, von Rechts wegen gehöre auch der Reformator Martin Luther auf die Anklagebank. (vgl. Goldhagen 2002: 215 f.) 76 Etwa der unmittelbar zuvor auch von Thomas Kaufmann (2014: 165 f.) erwähnte, schon von Daniel Goldhagen (1996: 142) thematisierte Umstand, dass Bischof Martin Sasse (Thüringen) die ›Reichskristallnacht‹ 1938 als Geburtstagsgeschenk via Luther – der am 10. November 1543 geboren worden war – zu deuten sich anheischig machte. 77 In dem Sinne, dass eine Syphilis auf dem Stande des heutigen Wissens jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann. (vgl. Neumann / Eberle 2009: 50 ff.)

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zichtbaren Nietzscheanhängerin Helene Stöcker – berühmt geworden durch die von ihr begründete und zu diesem Zeitpunkt im 23. Jahr­ gang stehende sexualreformerische Zeitschrift Die Neue Generation …, ist deutlich verkürzt. Sie unterschlägt, beispielsweise78, dass die Geschichte der Syphilis – die, wie sich bald zeigen sollte, erste Welle dieser bald als ›Lustseuche‹ gedeuteten Geschlechtskrankheit – ihren Ausgang, dem damaligen Wissensstand zufolge, wohl von der »Mannschaft des Columbus« auf Haiti nahm, von wo sie »in den Jah­ ren 1493 und 1494 in Spanien eingeschleppt wurde«, um sich epide­ miemäßig auszubreiten »gelegentlich des italienischen Feldzuges Karls VIII. von Frankreich in den Jahren 1494–95.« (Bloch 1907: 397) Jenes Karls VIII. (1460–1498) wohlgemerkt, der nach seinem Tod mit nur achtundzwanzig Jahren in die Geschichtsschreibung einging mit dem Titel (so Der Spiegel Nr. 40 / 1985: 106): der »geile Trottel auf dem Thron«, dessen Lebensleistung darin bestand, viele tausend Frauen, Mägdelein wie Metzen, beglückt zu haben« – nicht zu ver­ gessen: dessen Mätressen und Söldnern die Ausbreitung der Syphilis in Italien zu danken ist, bis hin nach Neapel79, aber vor allem bis hin nach Rom, kein einschlägig sicherer Ort mehr, nachdem Karl VIII. und seine Soldateska in jene Stadt eingezogen war, in welcher – ich zitiere erneut jene etwas blumige Quelle – »der lasterhafte Papst Alexander VI. und seine ebenso schöne wie liederliche Tochter Lucrezia Borgia eine keineswegs gottesfürchtige Herrschaft ausübten. 30 000 Lie­ besdienerinnen, darunter 14 000 wegen ihrer Schönheit hochge­ schätzte Freudenmädchen gingen damals in der Heiligen Stadt ihren Gewerbe nach.« (Der Spiegel Nr. 40 / 1985: 110) Ob nun ganz genauso oder jedenfalls doch ähnlich (vgl. als mutmaßliche Quelle für diesen 1985er Artikel: Bloch 1904: 9 f.; als neuere Darstellung: Köhler 2016: 243 f.): Nichts davon findet in der Darstellung des Basler Nietz­ sche-Kollegen Jacob Burkhardt (1860) in seinem Standardwerk Die Kultur der Renaissance in Italien (….). Zwar gibt es hier einen fulmi­ nanten Abschnitt über Das Papsttum und seine Gefahren, aber von der eigentlichen Gefahr, der Syphilis, wird vornehm geschwiegen, in die­ sem Buch, in Basel, aber auch in jenen Kreisen, in denen man sich 78 Weitere Aspekte auf dem heutigen Stand des Wissens bei Anja Schonlau (2005: 45 ff.). 79 Worauf Goethe im Faust anspielt mittels der Zeiten; »Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an, / Als er in Neapel fremd unherspazierte; / Sie hat an ihm viel Lieb’s und Treu’s getan, / daß er’s bis an sein selig Ende spürte.«

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weniger später gefällt in der Diskussion der Ursachen für Nietzsches geistigen Zusammenbruch im Januar 1889. Geschwiegen wird des Weiteren über die Folgen der »spanischen« oder, je nach Bedarf, »französischen« Krankheit, die speziell in Italien um 1500 spektaku­ lär sind und auch den Klerus nicht unbetroffen, insonderheit nicht den bereits erwähnten, vom Feldzug Karls VIII. betroffenen Papst Alexander VI. (1431–1503) aus dem Geschlecht der Borgia – ein Syphilitiker80, wie sein unehelicher Sohn Cesare Borgia (1475– 1507)81, aber auch seine Nachfolger Papst Julius II. (1443–1513)82 sowie Papst Leo X. (1475–1521)83. Damit ist nun in etwas das Personal bezeichnet, das Luther bei seinem 1520er Wüten gegen das Papsttum auf dem Schirm hat – woraus sich eine wichtige Frage ergibt: Ist etwa diese Dekadenz, aus­ gerechnet vom Syphilitiker Nietzsche als das Renaissancehafte am damaligen Papsttum geadelt, dasjenige, was Nietzsche, unter dem Stichwort ›Vielfalt‹, gegen Luthers ›einfältigen‹ Einspruch verteidigen will? Als – so die berühmte Stelle in AC 6184, bezogen auf die Vision, auch der Schlimmste aus dieser Sippe, der »Raubmensch« (V: 117)85 – Cesare Borgia86 habe es zum Papst gebracht – »das Leben!«, gar als »Triumph des Lebens!«, als »das grosse Ja zu allen schönen, verwe­ genen Dingen!« (VI: 251)? Oder müssen wir Bedeutung und Funktion von AC 61 etwas zurückstufen, etwa dahingehend, dass Nietzsche hier sagen will, auch seine spezifische Art des »freiwilligen Aufsuchens auch der verwünschten und verruchten Seiten des Daseins« (XIII: 492), in Klartext übersetzt: sein fataler Weg ins Bordell in Bonn mit dem Effekt des seit Michael Landmann (1951) als Nietzsches Scho­ Entgegen des diesbezüglichen Schweigens auf Wikipedia, aber auch andernorts. Er zog sich 1497 die Syphilis zu, ohne dass diese offenbar kausal war für seinen frühen Tod zehn Jahre später. (vgl. Bradford 1976: 361). 82 Von Luther (1520: 153) »Blutsäufer« geheißen, damit möglicherweise Papst Urbans VIII. (1568–1644) Replik »verabscheuungswertes Ungeheuer« (Rosenberg 79– 82 1935: 626) stimulierend. Aktuell wird er nicht als Syphilitiker in Betracht gezogen, ersatzweise finden sich Attribute wie: »trug in Rom den Beinamen ›der Schreckliche‹.« (Köhler 2016: 97) 83 Als Todesursache nennt Wikipedia eine »Wintergrippe«; wg. der Symptome wurde auch eine Vergiftung in Betracht gezogen, aber durch die Obduktion nicht bestätigt. 84 Zur Interpretation noch immer unverzichtbar, selbst wenn das Syphilis-Thema auch hier nicht gesehen wird: Andreas Urs Sommer (2000: 626 ff.; 2013: 299 ff.) 85 Wohlgemerkt: ›Raubmensch‹, nicht ›Übermensch‹! 86 Legendär nicht zuletzt durch das Porträt, das der Syphilitiker Oscar Wilde ihm in Das Bildnis des Dorian Gray (1890/91) setzte. 80 81

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penhauer-Erlebnis rubrizierten Geschehens vom Herbst 1865 in Leip­ zig (vgl. hierzu Niemeyer 1998: 113 ff.) möge doch bitte des höheren Sinnes nach nicht in Vergessenheit geraten!? Beinahe sieht es so aus, jedenfalls spricht einiges dafür, Nietz­ sches Lutherkritik über eben diesen einen Leisten zu schlagen (vgl. auch Riedl 2019: 324 ff.): Die Reformation hat uns die Renaissance kaputt gemacht, sie hat den ›Bauern‹, den Spießer also, der sich an die Zehn Gebote hält und dabei insbesondere dem Ehebruch entsagt, in Stellung gebracht gegen denjenigen, der ›gefährlich‹ zu leben versteht – so wie auch Nietzsche gefährlich zu leben verstand und sich so, wie viele der Borgias, die Syphilis einhandelte. Freilich: Wäre dem so, dann wäre Nietzsches Aufstand gegen den ›Bauern‹ Luther ein Auf­ stand im Namen seines höchst eigenen Interesses, den eigenen, selbstverschuldeten Untergang, der im Januar 1889 in Turin als ein irreversibler für alle sichtbar wurde, im Vorhinein zu adeln: als Preis, den der zu zahlen hat, der sein Leben jenseits der Zehn Gebote ein­ zurichten sucht und nicht länger als »Kind Gottes« fungieren will, sondern sich als »Kind der Zukunft« versteht und insofern eines »Phi­ losophen der Zukunft« bedarf, sind ihm doch alle Vater- und Urvä­ terländer abgebrannt, sei es wg. der vom Vater ererbten Syphilis – so ein Gedanke Nietzsches, wie ich andernorts (vgl. Niemeyer 2011: 88 ff.) vermutet habe –, sei es nur wg. des Vaters oder jedenfalls doch vieler Väter Doppelmoral nach dem Motto von Nietzsche Spott aufs zehnte Gebot von 1867, als er 23 Jahre alt war und also noch wusste, wovon er redete: In der Bibel steht geschrieben, ihr sollt euren Nächsten lieben, doch Ihr Gotteswortverächter, liebt nur eurer Nächsten Töchter. (BAW 3: 268)

So, tatsächlich, könnte man Nietzsche verstehen, eingeschränkter: ihn in seiner Kritik an Luther verstehen – wäre da nicht die andere Bedeutung der Vokabel ›Vielfältiges‹ bei Nietzsche, das Lob auf die Vielfalt der Kulturen beispielsweise, auf etwas, »welches wir das bunte nennen und welches viele Experimente des Lebens machen soll.« Sicherlich: Auch dies klingt ein wenig nach Renaissance à la Borgia. Es klingt aber sehr viel eher nach Vorwegnahme von San Francisco, Flower Power und Kreuzberger Multikulti – und darin wie ein Gegen­ entwurf zu der ›Einfalt‹, mittels derer Luther das Deutsche pries, zugegebenermaßen: anfangs, in GT 23, also unter Wagnereinfluss, noch zur Begeisterung Nietzsches über diese »deutsche Reformation« (I: 147). Damit – auch mit Nietzsches Lob auf die »Einheit des Stils

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in allen Lebensäußerungen eines (lies: des deutschen) Volkes« (I: 163) – aber hatte es sich spätestens mit dem Text von 1880, aus dem eben zitiert wurde (L’ Ombra di Venezia) und der zugleich für den ganz neuen, erstmals mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) herausbrechenden ›Freigeist‹-Nietzsche steht: demjenigen also, der um die Verbrechen und Unzulänglichkeiten der ›alten‹ Renaissance weiß und seine eigene, ›neue‹ Renaissance auf dem Wissen darum aufbauen will, garniert um den Programmsatz, dass nach dem Tod Gottes jeder seine eigene Tugend finden und begründen lernen muss. Dazu gehört – um mindestens dies noch zu erwähnen – eine großflächige Umstellung des Theorie- und Forschungsprogramms, gruppiert um das zentrale Stichwort aus Der Antichrist: Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner gewor­ den. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt (VI: 180)

– auch den ›Menschen‹ Nietzsche selbstredend, den es weiland zwar nicht nach Rom, wohl aber nach Bonn ins Bordell trieb und der sich dort die Syphilis einfing. So betrachtet ist die ›neue‹ Renaissance Nietzsches eine selbstkritische, getragen von einem selbstreflexiv gewordenen, subtilen Wissen um den Menschen und dessen Unbe­ wusstes (fast à la Freud).87 Sie ist ein dadurch freigesetzter Lobgesang auf das Leben und dessen ›Vielfalt‹ in einer Ordnung der Dinge ohne Gott; jenseits auch der ›Einfalt‹ der Bauern und Spießer und Protestanten sowie derselben zuarbeitenden anderen Philosophen, wie namentlich Kant. Jenseits auch derer, die eines nicht verstan­ den haben: Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.

So Nietzsche am 30. September 1888, dem »ersten Tage des Jahres Eins« (VI: 254), als vierter Satz seines insgesamt sieben Punkte umgreifenden Gesetzes wider das Christenthum (1888) – Zahlen, die zu memorieren sind, weil sie fast als Zeichen gelesen können für eine gottgefällige Bescheidenheit Nietzsches im Vergleich zu seinem Anti­ Edith Düsings Lesart des in Rede stehenden Satzes – Nietzsche erkläre sich mit ihm als »im Theoriemodell mit den Darwinisten einig« (Düsing 2016: 27) – ist abwegig und ignoriert den Umstand, dass Nietzsches Theoriemodell jener Jahre als eine Art Psychoanalyse avant la lettre gelesen werden kann (vgl. Niemeyer 2017a).

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poden mit seinen 95 Thesen, die sich vor allem durch eines auszeich­ nen: durch Redundanz, vulgo: Geschwätzigkeit.88 Dies, so sei hier zugestanden, lässt sich nicht sagen für die drei Jahre später (1520) nachgereichte, bereits eingangs erwähnte Streitschrift, die vielleicht besser, so mag Nietzsche gedacht haben, mit dem Titel Gesetz wider das Papsttum überschrieben worden wäre eingedenk des Umstandes, dass Luther beispielsweise, als Effekt seiner Kritik am Papsttum, unter dem Punkt »Zum Zwanzigsten«, anregt hatte, »die Kapellen im Freien und die Feldkirchen [sollten] bis auf den Grund zerstört werden« (Luther 1520: 210) – eine Redeweise, die Nietzsche vielleicht ange­ regt haben könnte zu seiner Variante »am ersten Tage des Jahres Eins«, dritter Satz: Die fluchwürdige Stätte, auf der das Christenthum seine Basiliken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden gleich gemacht werden. (VI: 254)

Die Pointe? Nun, mir will scheinen, Nietzsche mache Luther zu seinem allerletzten Vorwurf, es nur zu einem, wie man vielleicht sagen darf, ›Gesetz wider das Papsttum‹ gebracht zu haben und nicht, wie Nietzsche, zu einem Gesetz wider das Christentum89 – und eben deswegen nicht, wie Nietzsche, als Präses einer neuen Zeit, einer Zeit nach Nietzsche, gelten könne. Ursächlich hierfür? Nun, ich vermute, in der Sprache des vierten Satzes jenes Gesetzes geredet, Nietzsche habe Luther vor allem als ›Prediger der Keuschheit‹ verachtet und ihn als solchen »eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur« (VI: 254) angelastet – eine Art Dankspruch übrigens des Inhalts, ohne Luther wäre Nietzsche nicht möglich gewesen. Und ohne Nietzsche wäre Luthers moral- und sexualpanische Papsttum-Kritik nicht in ihrer Einseitigkeit erkannt worden, anders gesagt: Was Luther nicht auf dem Schirm hatte oder, in theoriepolitischer Absicht, nicht zureichend thematisiert haben wollte: Alle Wege führen nach Rom, alle aber führen auch von Rom weg, in die Provinz, auch in die protestantische Provinz. Denn im Rücken dieser ganzen, vom Luthertum forcierten Sexualfeindlichkeit finden wir eben auch die berühmte Doppelmoral und insoweit auch den Aufstieg des vielfach Bekämpften, aber min­ Peter Sloterdijk sprach jüngst von »haarspalterischen Einlassungen zu Fragen der äußerlichen und innerlichen Buß-Verwaltung.« (Sloterdijk 2017: 57) 89 Wichtige Hinweise zur Textgeschichte und zur Deutung dieses Gesetzes finden sich bei Andreas Urs Sommer (2013: 315 ff.). Die Parallele zu Luthers 95 Thesen (vgl. Luther 1517) wird hier allerdings nicht gesehen und m.E. bis dato auch nirgendwo in der Nietzscheforschung behauptet. 88

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Hintergründe

destens auch häufig Beschwiegenen, in Zahlen geredet zu Zeiten von Nietzsches Geburt und erneut unter Berufung auf Behrend (1850: 119): »[D]ie die Zahl der Syphilitischen zu der Gesammtbe­ völkerung« Berlins (ca. 350.000) lässt sich nach dem Faktor 1: 450 errechnen (Wien zu dieser Zeit im Vergleich: 1: 250). Es könnte dieser Hintergrund gewesen sein, der Nietzsche 1885 veranlasste, daran zu erinnern, dass für den Niedergang der Deutschen als »Rasse« sich im 16. Jahrhundert, nicht zuletzt infolge des Dreißigjährigen Krieges, wohl eine »furchtbare Blutverderbniß« in Frage käme, und nun wortwörtlich: Am schlimmsten stand es wohl mit dem deutschen Adel: der war wohl am tiefsten geschädigt war. Was davon zu Hause blieb, litt am Alcoholismus; was hinaus gieng und zurückkam, an der Syphilis. (XI: 455)

Die Vokabel ›deutscher Adel‹ ist hier nicht unbedacht gesagt; sie spielt, wie man wohl vermuten darf, auf Luthers anti-renaissancepäpstliches Fanal An den christlichen Adel deutscher Nationen von 1520 an – nur dass Nietzsches nun, 1885, wohl Luthers Untertitel Von des christlichen Standes Besserung am liebsten ersetzen würde durch die Variante: Von des christlichen Standes Verschlechterung. Wie mit einem Hieb ist damit zugleich auch die groteske Überhöhung beseitigt, die Wagners Schwiegersohn und Hitlers Idol, der völkische Nietzscheverächter Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) ein Vierteljahrhundert später Luther angedeihen, als er schrieb: An den ›Adel deutscher Nation‹ wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen, sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit. (Chamberlain 1899: 935)

Wie hätte Nietzsche wohl diesem ebenso haltlosen wie schreibbe­ gabten elf Jahre jüngeren NS- wie – ja, auch dies – AfD-Vorläufer geantwortet, der 1924 nach einer persönlichen Begegnung Hitler von einer »Zivilcourage« geprägt wähnte, die an Luther gemahne? (vgl. Köhler 1997: 248) Gesetzt natürlich, Nietzsche hätte noch gerade so die Kurve gekriegt heraus aus seinem geistigen Zusammenbruch von 1889! Soll ich eine Antwort wagen? Okay, gesetzt dabei, wir schrieben so in etwa das Jahr 1902 und Nietzsche wüsste um Freud und hätte vor sich liegen, was ich eben aus seinem Nachgelassenen Fragmenten des Jahres 1885 vorgelesen habe:

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13 Sexualpädagogik der Einfalt?

Die Kritik an Luther, mein lieber Chamberlain, hat mich, einen deut­ schen Pastorensohn, im Blick auf die dunklen, von mir erst ins Licht gestellten dunklen Seiten seiner Papstkritik auf die Idee gebracht, allererst nicht gegen die Fremden um mich, sondern gegen das Fremde in mir aufzubegehren. Auf dass es – ich meinte natürlich das ›Es‹ – mich nicht länger zwingt, aus sexueller Not mein Glück bei ansteckenden Prostituierten zu suchen. Dazu ist selbstaufklärende Zucht à la Freud erfordert, damit das ›Es‹ mich nicht länger als unbegriffene Macht zu Unsinn anstiftet!«

Eine Lesart wie diese ist in der Nietzscheszene eher ungewöhnlich beziehungsweise eher am Rande derselben zumindest in ersten Andeutungen zu notieren90, ebenso wie der hier verfochtene Zusatz, dass Nietzsche dass dahinter verborgene Theorieproblem grundle­ gend anzugehen kurz davorstand: eben in Gestalt eines Gesetzes wider das Christentum in sieben Thesen, die Nietzsche, als ›Der Antichrist‹ (VI: 254) zeichnend, fraglos gerne an die Dorfkirche seines Vaters in Röcken b. Leipzig genagelt hätte. Um eventuell 1902, unter den oben genannten Bedingungen, noch nachzutragen: Nein, lieber Luther, der Mensch wird nicht ›durch Glauben gerechtfer­ tigt‹ (Luther 1536: 296), sondern nur durch den qua Selbsterkenntnis zurückgewonnen Glauben an sich selbst.

Aktualität Damit sind wir bereit für die Gegenwart. Denn Nietzsches eingangs zitierten Satz über »die Entrüstung der Einfalt gegen etwas ›Vielfälti­ ges‹« würde man heutzutage wohl kaum, dekontextualisiert gelesen und also auch in Unkenntnis des Verfassers, auf die ›Lutherische Reformation‹ beziehen. Wahrscheinlicher wäre, ihn, wie ich einlei­ tend angedeutet, als Kommentar zu deuten bezogen auf die aktu­ ell im deutschsprachigen Raum überbordende, mit dem Stichwort 90 Etwa bei Joachim Köhler, der vor gut dreißig Jahren dem biographischen Zugang in der Nietzscheforschung einen wichtigen Impuls gab (vgl. Köhler 1989), inzwischen aber sich dessen offenbar nicht mehr erinnert. Dies zeigen die nichtssagenden Äuße­ rungen zu Nietzsche in seiner jüngst erschienen Luther-Biographie, wo er den Satz anbietet: »Wenn im 20. Jahrhundert der Tiefenpsychologe Sigmund Freud empfahl, ›Wo Es war, soll Ich werden‹, forderte Luther mit Paulus, ›Wo Ich war, soll Christus werden‹.« (Köhler 2016: 123) Schade nur, dass Köhler hier nicht erkennt, dass er an dieser Stelle problemlos statt ›Freud‹ ›Nietzsche‹ hätte sagen können…

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Aktualität

Sexualpädagogik der Einfalt (Niemeyer 2016) belegbare, vor allem katholische Kritik an einer ›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ (Timmer­ manns/Tuider 2012) unter den Vorzeichen einer angeblichen Frühse­ xualisierung des Nachwuchses im Interesse von dessen Offenhalten für bunte Vielfalt à la ›Ehe für alle‹. Wie also – so könnte man fort­ fahren, dieses Gedankenspiel allmählich verlassend – konnte es dazu kommen, dass der Katholizismus heutzutage derart sexualverneinend ausschlägt und fast im Stile eines Luther à la 1520 klagt, wohingegen der Katholizismus zu Zeiten Luthers seinerzeit auf der Anklagebank saß, eben wegen dekadenter ›Vielfalt‹? Eine Antwort ist vielleicht möglich, wenn man für den Katholi­ zismus der Renaissance-Päpste eine Sonderform reklamiert, die, sub­ stantiell und zeitübergreifend betrachtet, an der grundsätzlichen Leib­ feindlichkeit beider Konfessionen als Grundzug nichts ändert. Dieser gemeinsame Grundzug könnte dann auch die aktuelle Allianz zwi­ schen Benedikt-Katholiken und Evangelikalen im Einvernehmen mit völkischen Fanatikern der AfD gegen die ›Sexualpädagogik der Viel­ falt‹ erklären oder die untergründige Gemeinsamkeit zwischen diesen – genannt seien hier nur konservative (zumeist katholische) Theolo­ gen wie Andreas Laun sowie Sozial- und Sexualwissenschaftler wie Manfred Spieker, Christian Spaemann, Karla Etschenberg, Jakob Pas­ tötter, Christian Hillgruber, Menno Aden, Birgit Kelle, Gabriele Kuby und Werner Patzelt, deren Problematik ich andernorts näher charak­ terisiert habe (vgl. Niemeyer 2016), unter Zuhilfenahme von Denk­ mitteln Nietzsches. Für eine Analyse à la Nietzsche zurechtmachen (Ansätze dazu in Niemeyer 2011a) müsste man in diesem Zusam­ menhang aber wohl auch an den evangelikalen Arche-Gründer Bernd Siggelkow, der in seinem Bestseller Deutschlands sexuelle Tragödie (2008) eine angeblich nachweisbare weiträumige sexuelle Verwahr­ losung insbesondere von Kindern und Jugendlichen beklagte – bei­ nahe wie der Luther-Fan wie Behrend-Gegner Johann Hinrich Wichern (1808–1881), also der Begründer der Inneren Mission in Deutschland, der 1851 ein Strafgericht Gottes à la Sodom und Gomor­ rha herbeisehnte und dabei vor allem an die Syphilis und die Prosti­ tution insbesondere in Berlin dachte. Okay, Wichern hatte 270 Jahre nach Luther bei seinem Kalkül auf ein neues Sodom und Gomorrha nicht allein Rom im Blick, sondern u.a. Berlin, hier auch nicht etwa den Klerus, sondern das Volk (vgl. Niemeyer 32010: 52 ff.) – aber die Denkfigur bleibt die nämliche:

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Der Mensch wird hier (1530 bei Luther) wie dort (1851 bei Wichern) wie aktuell (2008 beim Arche-Gründer Bernd Siggelkow) unter das Tier zurückgestellt – aber nicht, so wie zwischenzeitlich bei Nietzsche, um ihn in seinem Tierhaften in den Fokus einer zu entwickelnden Menschenkunde zu rücken, sondern um ihn bußfertig zu stimmen und für so etwas wie ›Ablass‹ einzurichten, nenne sich dieser nun Beichte oder Seelsorge oder moraltheologische Nachschulung im Geist der Zehn Gebote (auf die letztlich alles zurückläuft).

Meine Pointe kann kaum fraglich sein, dies zumal im Blick auf die Himmel schreiende Zusammenhangsblindheit von SiggelkowUnterstützern wie Angela Merkel (CDU), Caren Miosga (ZDF) oder Mario Barth (Olympiastadion), die uns durch die Bank die Moralpanik eines zweitklassigen vormaligen St. Pauli-Evangelikalen, eine Art Wichern- resp. Luther-light, als geistige Grundlage zwecks Beherrschung der Herausforderungen des XXI. Jahrhunderts präsen­ tieren. Nein, liebe Lemminge: Wessen es aktuell bedarf, ist eine auch mit Denkmitteln Nietzsches gearbeitete sexualpädagogische Grund­ konzeption, die der ewigen Wiederkehr von ›Bauernaufständen des Geistes‹ – aktuell vor allem solche der Rechtspopulisten – zu trotzen vermag und »etwas ›Vielfältiges‹« auf allen Ebenen menschlicher Kultur als notwendig begründen kann, gegen Einfältigkeiten wie die einer ›deutschen Leitkultur‹ und getreu zuarbeitend Nietzsches Ideal, will sagen: Nietzsches »kommende[m] Zeitalter, welches wir das bunte nennen und das viele Experiment des Lebens machen soll.« (XI: 48 f.)

Sätze wie diese gehören zu einem Forschungsprogramm in theorie­ politischer Absicht, das nicht etwa – wie ein zeitgenössischer Nietz­ sche-Kritiker meinte – auf »Abschaffung aller anständigen Gefühle« (VI: 136) geht, sondern das für eine historische gerichtete (neue) Auf­ klärung zeugt, die die Zeit der Renaissance als »die letzte grosse Zeit« sehen lehrt, insofern die Tugenden damals jedenfalls nicht, wie Nietz­ sche seinen Zeitgenossen zu bedenken gab, »bedingt« gewesen seien, »herausgefordert durch unsre Schwäche« (VI: 138). Insoweit ging es Nietzsche auch nicht um die Wiederbegründung der Renaissance, sondern um die Reflexion auf eine Tugendlehre, die sich den Geboten der Zeit zu entziehen weiß. Diesem, wie hier zugestehen ist, fast zwanzig Jahre alten Satz (vgl. Niemeyer 1998: 303 f.) ergänze ich hier und heute um noch eine einzige (für mich!) neue Erkenntnis: Luther

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Aktualität

war Nietzsche für dieses Projekt ganz und gar entbehrlich, aus im Vorhergehenden dargelegten Gründen. Ganz am Ende freilich sollte man ja auf den Anfang sehen, und so auch hier: Werner Stegmaier kam im Ergebnis seiner 2012 vorgelegten kontextuellen Interpretation des eingangs erwähnten und hier letztlich die ganze Zeit über thematischen Aphorismus FW V 358 zu dem Befund, Nietzsche typisiere hier Luther »bis zur Karikatur psychologisch«, nämlich als »trotzigen religiösen Fana­ tiker.« (Stegmaier 2012: 247) Der Stegmaier-Schüler Andreas Rup­ schus goss diesen Befund in die Pointe, Stegmaier habe damit die »Problematik des Luther-Bildes […] Nietzsches insgesamt [deutlich gemacht]: Es ist hoffnungslos inadäquat.« (Rupschus 2013: 139) Deutlicher und mit einer drei Jahre später angebrachten Ergänzung dieses Arguments geredet: Über Luther lässt sich bei Nietzsche also letztlich wohl nur begrenzt etwas lernen. (Rupschus 2016: 65)

Mein Widerspruch an dieser Stelle: Vielleicht lässt sich doch etwas lernen – wenn man die ›kontextuelle Interpretation‹ Stegmaiers bedeutend erweitert, etwa gruppiert um, wie hier versucht, Stichworte wie ›Borgia‹, ›Syphilis‹, ›Wichern‹, ›Siggelkow‹ sowie ›Rechtspopu­ lismus‹. Stichworte also, die man bei Stegmaier durch die Bank vergebens sucht, und, wie gesehen: desgleichen, in dessen Sog, bei Stegmaiers Schüler Rupschus.

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14 Nietzsche vs. Nussbaum Oder: Warum die Rede vom ›guten Leben‹ nicht reicht und kritische Theorie sich besser – via Nietzsche – als Wissenschaft vom ›richtigen Leben‹ neu aufstellte

Anlässlich der in letzter Zeit zu registrierenden Euphorie um den ›Capability Approach‹ resp. um deren zentrale Protagonistin Martha Nussbaum, die »Meisterin des guten Lebens« (Hohe Luft 2013: 29), scheint es mir angezeigt, diese Begeisterung »hier einmal« (mit Nietzsche geredet) »als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen.« (I: 246), deutlicher: als Indiz zu lesen für den Niedergang kritischen Denkens, wenn nicht gar kritischer und damit immer auch utopischer Theorie allgemein. Ein Beispiel, entnommen der Zunft, der ich zugehöre: Für einen sich kritisch gerierenden Ansatz wie den von Nussbaum maßgeblich inaugurierten ›Capability Approach‹ ist es für mein Gefühl etwas arg bescheiden, sich nur auf die Ein­ sicht beschränken zu wollen, der ›neue Name‹ für die um 1900 erstmals aufbrechende ›soziale Frage‹ laute auf »soziale Exklusion« (Otto/Ziegler 2005: 115) und erfordere gleichsam gegenwirkend als nun zeitgemäße ›sozialpädagogische Antwort‹ inkludierende soziale Gerechtigkeit mit dem Ziel, den »AdressatInnen Zugänge zu Gütern und Ressourcen zu schaffen.« (ebd.: 135) War da – das Stichwort »1968« muss hier vorerst genügen – nicht noch etwas anderes? Stand nicht schon um 1900 – die Stichworte »Freud« und »Nietzsche« könn­ ten hier weiterhelfen – neben der ›sozialen‹ auch die ›sexuelle Frage‹ auf der Agenda, gleichsam als Teil einer auf Neurosefreiheit und auf grundlegende Transformation abstellenden Kultur- und Gesell­ schaftskritik? (vgl. Niemeyer 2006) Der Niedergang kritischen Denkens, in rhetorischen Fragen wie diesen fürs erste auf den Punkt gebracht, wird auch augenfällig, wenn man die heutige Wissenschaftsszene allgemein und als Teil von ihr die Nietzscheforschung in Betracht zieht (vgl. Niemeyer 2014). Was hier wie da ins Auge sticht, im vorliegenden Buch unter dem Rubrum Old School, ist nicht eben selten die ewige Wiederkehr des Gleichen

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unter dem Regiment von Promis, neudeutsch: gate keepern, nebst ihrer schon von Nietzsche skandalisierten »entschlossenen Partei­ gänger«, die, so Nietzsche weiter, sein frühes Wissenschaftsideal markierend, das Ende jedes »bewussten Stolzes« signalisieren, »jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können.« (III: 311 f.) Sicherlich: Derlei Verfall reizt dazu, via Nietzsche einer New School das Wort zu reden und, wie im Prolog versucht, die skandalösen Umstände der Ablehnung seines 1886er Begehrs um einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig in Erinne­ rung zu bringen und einer verfallskritischen Problemanalyse zuzu­ führen – wie dies Adorno in seiner 2006 nachgelassenen Vorlesung von 1964/65 andeutete, als er diesen Skandal seiner dort vorgetra­ genen Lehre von der Freiheit einfügte (vgl. Adorno 1964/65: 230 ff.). Dies wäre immerhin hilfreich, einen ersten Verdacht zu formulieren in Sachen der zumeist noch immer weit unterschätzten geistigen Nähe dieser beiden kritischen Theoretiker. Apropos und um nun dem eben angeführten Stichwort »1968« etwas genauer nachzugehen: Was waren das damals doch noch für glückliche Zeiten, jedenfalls für einen Nietzscheaner und Soziologen – eine Kombination, die für den hiermit thematischen Zeitraum aller­ dings höchst selten anzutreffen gewesen sein dürfte und auch heute eher unwahrscheinlich ist –, der 1968 Adornos Eröffnungsvortrag auf dem 16. Deutschen Soziologentag beiwohnte und registrieren durfte, dass der damalige deutsche Chefsoziologe bei seiner Antwort auf die Frage Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? – zugleich eine Antwort in Sachen der Aktualität von Marx –, nicht davor zurückschreckte, ausgerechnet den verpönten ›Antisozialisten‹ Nietz­ sche für seinen Ausblick auf eine vom Typus des ›letzten Menschen‹ bestimmte Epoche zu loben und Zarathustras Wort in Erinnerung zu bringen: Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. […]. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus (IV: 19 f.)

Adorno jedenfalls sprach diesem Zitat seinerzeit das Verdienst der Einsicht zu, »daß Unfreiheit […] universal über die Menschen sich ausbreitet.« (GS 8: 360) Mehr als dies: Schon fünf Jahre zuvor hatte Adorno (1963: 9) seine Frankfurter Studenten gleich zu Beginn seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie mit der Mitteilung über­

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rascht, sein Satz, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe, fände in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches eine Entsprechung: Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt. (II: 54)

Und, um diese kleine Skizze nun abzurunden: 1969, in jenem ver­ hängnisvollen Sommer, an dessen Ende Adorno den Folgen eines Herzinfarkts erlag, hatte der Frankfurter Meisterdenker eigentlich vorgehabt, seinen Studenten – hätten sie ihn nur reden lassen – ausgerechnet Nietzsches Zarathustra als jemandem vor Augen zu führen, der einen Weg zu weisen wisse »aus der blinden Vorherr­ schaft materieller Praxis« hinaus, »potentiell hin auf Freiheit.« (GS 10.2: 768) Freilich: Für derlei Subtilitäten, nicht erkannt in der im Bereich der Primär- wie Sekundärliteratur unzulänglichen Darstellung von Jutta Georg unter dem fragwürdigen, zu Lasten Nietzsches gehenden Titel Kritische Theorie und Nietzsches bürgerliches Denken (2019), war die Zeit damals eigentlich abgelaufen, und ein Teil Schuld an dieser Variante des Niedergangs trug Jürgen Habermas: Ausgerechnet 1968, humorlos gegen seinen alten Chef und wohl nicht zufällig als böse, auch verlagspolitisch durchkalkulierte Begleitmusik zu der in jenen Tagen mit einer Erstauflage von über 20.000 Stück erschienenen veritablen vierbändigen Nietzsche-Studienausgabe des ›ewigen‹ Naziverfolgten und Bloch-Doktoranden – sowie Schlechta-Schülers und Nietzscheexperten sowie Marxisten Hans Heinz Holz in der Reihe ›Bücher des Wissens‹ des Fischer Taschenbuch Verlages, dekre­ tierte der ›Suhrkampianer‹ Habermas (1968: 505 f.), Nietzsche habe nichts »Ansteckendes« mehr, zugleich Georg Lukács (1954) gegen Walter Kaufmann (1950) rehabilitierend. Gelobt sei, im Vergleich dazu, Hans Heinz Holz, der Nietzsche zeitgleich gegen Lukács ›Ver­ teufelung‹ in Schutz nahm (Holz 1968: 11), gleichsam in Vorbereitung seiner später (Holz 1976: 36 ff.) ausführlicher vorgetragenen Abrech­ nung mit diesem. Nimmt man noch Habermas’ spätere Kritik hinzu, Nietzsche habe das Ästhetische »zum Anderen der Vernunft hypost­ asiert« (Habermas 1985: 118, 120), wird man sich nicht darüber wun­ dern dürfen, dass die Sache Nietzsches weitgehend erledigt war, jedenfalls im Gehörgang der Habermas-Jünger: Ihr Idol hatte Nietz­ sches Geeignetheit als ›Drehscheibe der Postmoderne‹ verständlich zu machen vermocht – und ihn damit zugleich aus dem Kreis der mit

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Ernst zu bedenkenden und die Gesellschaft und deren Probleme mit Ernst bedenkenden Autoren hinaus komplimentiert. Kein Wunder eigentlich bei derlei Vorläuferschaft – um nun zum Kern des hier thematischen Problems zu kommen –, dass Martha Nussbaum Nietzsche 1988 als einen das Ästhetische zentral setzen­ den Lebenskunstapologeten las nach dem Muster, »that art, including music and dance and including as well the art of the philosopher-poet, had a central positive role to play in restoring man to himself and to the earth.« (Nussbaum 1988: 307) Kaum erstaunlich auch, so betrachtet, Nussbaums 1993er Aufsatz zu Nietzsche in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie: Fast so, als gelte es, das Habermas-Verdikt von 1968 noch einmal zu erhärten, will sagen: wiederum zwischen Walter Kaufmanns Rehabilitierung Nietzsches und dem Schreckens­ bild à la Georg Lukács schwankend, kommt nun auch Nussbaum zu dem Ergebnis, Nietzsche habe nichts Ansteckendes mehr, sondern stünde wegen seiner Mitleidsskepsis, für einen »bewußten Angriff auf die Grundlagen des politischen Sozialismus« (Nussbaum 1993: 832), will sagen (und Nussbaum sagt es denn auch): Nietzsche sei nicht Rousseau, also ihr, Nussbaums, Idol, insofern ihm, Rousseau, das Verdienst zukomme, das Mitleid (im V. Buch des Émile) zum »bindenden Element der egalitären Gesellschaft« (ebd.: 836) gemacht und damit letztlich die Grundlagen des CA gelegt zu haben. Spannend an dieser Kritik ist das, was Nussbaum verschweigt: nämlich die Gründe für Nietzsches Rousseau-Kritik sowie die Hin­ tergründe für Nietzsches Hochschätzung von dessen Antipoden Vol­ taire. Nur die in diesen Kontext gehörende Pointe des hierauf gerich­ teten Nachdenkens (vgl. Niemeyer 2019: 174 ff.) sei hier genannt: Nietzsche las Rousseau als Teil jenes Europa im 18. Jahrhundert durchziehenden »Strom[s] moralischer Erweckung« (IX: 651) samt exzentrischer Nebenfolgen, um mahnend anzufügen: Ihre [der Aufklärung; d. Verf.] Gefährlichkeit ist dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit […]. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen. (IX: 654)

Diese Mahnung darf man wohl so übersetzen, dass eine politische Umwälzung dann entbehrlich sei, wenn man sich nicht selbst in die Zucht der Selbstaufklärung nimmt und den – angeblich von Rousseau

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verscheuchten – Geist der Aufklärung »bei sich selber« (II: 299) zurückruft, um so jeder von außen kommenden Tugendlehre für alle Zeiten enthoben zu sein: eben als Freigeist. Dem kritischen Leser hätte eigentlich kaum verborgen bleiben dürfen, dass Nietzsche, der »bürgerliche Denker« (Georg), hier einen wichtigen Punkt angespro­ chen hatte: Egokratie geht vor Demokratie, Selbsttransparenz und -herrschaft vor Volksherrschaft, nur in dieser Reihenfolge steht das »souveraine Individuum« ins Haus, »das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum.« (V: 293) Etwas anders geredet: Es ist dieses, so betrachtet, ›demokratische‹ Individuum, auch (missver­ ständlich) Übermensch geheißen, dem Nietzsche ganzes Sinnen und Trachten galt – und das ihn als einen längst noch nicht ausgeschöpften Demokratietheoretiker ausweist. In diesem Kontext bedarf auch Nietzsches Gedanke von der ›ewi­ gen Wiederkunft‹ der Rehabilitierung, insofern er keineswegs der von Nussbaum verfochtenen, im weiteren Sinne auf menschliches Glück (vgl. Otto/Ziegler 2007: 230) abstellenden Fortschrittsidee wider­ spricht. Das von Nussbaum (1988: 308) zwecks Stützung ihrer Lesart zitierte Wort Zarathustras aus Za IV, er trachte nicht nach seinem Glück, sondern nach seinem Werk (IV: 295; hierzu Niemeyer 2007: 89), hilft hier nicht weiter, zumal Nussbaum den Kontext nicht beach­ tete: Es handelt sich bei dem von ihr einseitig herausgestellten Wort um nichts weiter als um eine Rekapitulation von Zarathustra’s Vorrede aus Za I und insoweit um eine Beglaubigung des dort (IV: 18 ff.; hierzu: Niemeyer 2007: 12 f.) vorgetragenen Ekels vor den – nur auf ihr »Fliegen-Glück« (IV: 214) stolzen – ›letzten Menschen‹. Es geht aber keineswegs, wie Nussbaum ungeachtet der diesen Aspekt ausdrück­ lich betonenden, von ihr als »fine discussion« (Nussbaum 1988: 307) gelobten Interpretation Henri Biraults (1966: 220) annahm, um eine Absage an die Idee des Glücks an sich, deutlicher und mit Zarathustra geredet: an die Idee, dass das Glück des Menschen »das Dasein selbst rechtfertigen [sollte].« (IV: 15) Wichtig dabei: Das Glück ist bei Nietz­ sche entbunden von seiner materiellen Seite und insoweit auch nicht durch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit herzustellen. Sowie: Nietzsches Paradigmenwechsel weg von Rechtfertigung des Daseins durch Kunst hin zur Hochhaltung selbstbestimmten Lebensführung als Glücksversprechen in einer Epoche, in welcher mit dem Tod Gottes die Schöpfungsvollmacht für den Menschen wieder verfügbar schien – Zusammenhänge, die Nussbaum ignoriert.

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Bedenken dieser Art lassen sich auch gegen Hans Thiersch erheben, der zwar nicht als Propagandist des CA gelten kann, wohl aber seit langem schon der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet ist und deswegen auf Nietzsche wenig gut zu sprechen sein dürfte, insonderheit nicht auf Bedenken derart, dass ein »Reich der Gerech­ tigkeit und Eintracht auf Erden […] unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei sein würde.« (III: 628) Deutlicher und mehr auf die verallgemeinerungsfähige Pointe hin geredet: Dass Nietzsches Gerechtigkeitskritik schon einem Sozialpädagogen wie Paul Natorp nicht gefiel – um Natorp hier nur pars pro toto zu nennen (vgl. Niemeyer 2003a) –, kann kein Grund sein, sie nicht zu Gehör zu bringen und/oder (neu) zu durchdenken und/oder, wie Thiersch, Sätze darzubieten wie: »Menschen – so seine [Nietzsches; d. Verf.] Argumentation – leben im schwierigen Leben und sollen in diesem schwierigen Leben sich beweisen. Sie sollen zeigen, dass sie stark und kräftig sind. Überstehen ist das, was zählt. Wer das nicht kann, zählt nicht.« (Thiersch 2003: 83) Dies ist, mit Verlaub, nicht Nietzsches Argumentation, sondern die seiner Kritiker, zumal jener, die, wie der Name Thiersch anzeigt, soziale Gerechtigkeit fordern und/oder (auch heute noch) unter dem Einfluss der vorerwähnten 1985er Deutung von Jürgen Habermas zu stehen scheinen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an den Paternalismus- und Nussbaum-Experten Johannes Drerup, insofern er Nietzsche unter der Rubrik »elitäre ästhetische Lebensideale« (Dre­ rup 2013: 373) listet. Schauen wir also, nach diesen Vorerfahrungen, etwas genauer hin. Dabei ist allererst das Einvernehmen darüber wichtig, dass Nietzsche allen Menschen, nicht nur den von Thiersch angesproche­ nen Starken, mancherorts in der Nietzscherezeption missverständlich ›Übermensch‹ geheißen, die Idee nahebringen wollte91, dass eine nachchristliche Weltordnung verlange, die Regie über das Moralische 91 Ins Herz speziell dieses Problems zielt Mark Olssens gegen John Rawls – der einem negativen Bild Nietzsches (»promotes elitism«) anhängt – geltend gemachte Frage: »But if Nietzsche is seen as advocating not ›excellence for a few‹, but ›life for all‹, what then?« (Olssen 2010: 28) Aus Sicht des Nietzscheexperten ist dies eine sehr kluge, im Wesentlichen als rhetorische zu betrachtende Frage. Denn Nietzsche war, vom frühen Bildungselitismus abgesehen (vgl. Niemeyer 2011: 90 ff.), tatsächlich primär an der letztgenannten Frage (›life for all‹) interessiert, wie wiederum Olssen mittels seiner (teils erneut rhetorischen) Folgefrage herausstellte: »If Zarathustra’s crossing the bridge is not to advanve the elite of superman, but as an Overman in order to construct

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in eigene Vollmacht zu übernehmen. Deutlicher: Nietzsche wollte Platz für die Einsicht schaffen, dass jeder Mensch bei seinem tagtäg­ lichen Agieren gehalten ist, das »Abbild der Ewigkeit« (IX: 503) auf sein Leben zu drücken, sein Dasein »ewig wiederholungsfähig« (IX: 573) zu gestalten. Nietzsches Auftrag an seine Zeitgenossen lautete denn auch: Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begna­ digungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen!« (IX: 503)

Wie man sieht, ist diese Lehre Nietzsches vom ›richtigen Leben‹ – um den desorientierenden, von Nietzsche unklugerweise verwendeten Ausdruck ›ewige Wiederkunft‹ besser zu vermeiden – allererst als anti-christliche zu lesen. Als solche sucht sie Bedingungen der Mög­ lichkeit des Moralischen in einer ›Ordnung der Dinge‹ ohne Gott zu umreißen. So betrachtet gibt sie auch die Skizze ab auf eine neue oder andere Welt des Wissens und des Miteinanders, in welcher der Glaube an die Zehn Gebote nicht wirklich weiterhilft und ›neue Aufklärung‹, vor allem psychologische, Not tut (vgl. Niemeyer 1998: 276 ff.) Analysen wie diese scheinen indes außer Mode zu kommen – was man vielleicht als Indiz dafür lesen kann, dass der einleitend skizzierte Niedergang gesellschaftskritischen Denkens komplettiert wird durch einen Niedergang des Nachdenkens über Nietzsche. Ein Beispiel: Jene sich auf Nietzsche berufenden amerikanischen jugend­ lichen Mörder, die Arthur Danto im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines seinerzeit von Jürgen Habermas als »bemerkenswert« (Haber­ mas 1968: 510) gelobten Buches Nietzsche as Philosopher (1965) auf­ bot, um Versuchen, eines domestizierten Nietzsche habhaft zu werden eine Absage zu erteilen (Danto 1998: 9), werden nun, 2013, genauer: von Gocha Mchledizde in seiner Erfurter Dissertation, die via Nietz­ sche eine »Ethik des ›guten Lebens‹« zu entwickeln sucht, ins Feld geführt, um eben diese Ethik als notwendig zu erklären (Mchledizde 2013: 9), also, mit Danto geredet: die Domestizierung Nietzsches zu vollenden. Nicht, dass Danto mit seiner Unterstellung einer Domes­ tizierungsnotwendigkeit im Recht wäre, ist der mich hier interessie­ rende Punkt – dies habe ich andernorts zu bestreiten versucht (vgl. Niemeyer 1999: 288 f.) –, sondern dass Mchledizde mit seiner Lesart new norms for the survival and well being for all of humanity, how should this be represented?« (Olssen 2010: 28)

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Nietzsches im Unrecht ist. Die von ihm ausführlich kondensierten Passagen aus Ecce home machen beispielsweise allenfalls deutlich, dass Nietzsche sehr viele Ideen darauf verwendete, wie er selbst, für sich ein gutes Leben sichern könne, seien es nun – jeweils auf seine Krankheitssymptome reflektierende – Besorgnisse über das Klima, auch die Ernährung oder die Bewegung. Solche Überlegungen Nietz­ sches haben indes systematisch überhaupt keine Bedeutung und illus­ trieren lediglich, was für ihn seit MA ohnehin feststand: nämlich dass er, nun eben auch in dieser seiner Autobiographie, allererst als antiresp. nachmetaphysischer Denker agiert, dem an programmatischer Umsetzung der diesbezüglichen ideologiekritischen Vorgabe gelegen ist, die sich in der Rede Von den Verächtern des Leibes aus Za I findet (vgl. Niemeyer 2007: 18). Auch der von Mchedlidze (2013: 75) im Einvernehmen mit fast allen Lebenskunstapologeten seit Wilhelm Schmid (1992: 61) beigezogene Aph. 290 von FW ist im Blick auf Nietzsche Hauptbotschaft eigentlich ohne jede Relevanz und allererst, wie schon der Titel »Eins ist Noth« (V: 530) deutlich macht, nichts weiter als eine gleichsam nachchristliche Beglaubigung des im LukasEvangelium (Luk 10,42) ausgesprochenen – mit Ernst Bloch geredet – »Vorrang[s] des kontemplativen Menschen gegenüber den akti­ ven.« (Bloch 1959: 1119) Nicht ignorieren sollte man auch Querbezug zu Aph. 107 von FW, insbesondere zu der Formulierung: Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich (V: 464),

insofern Nietzsche mit ihr deutlich macht, dass es ihm nun nur noch, jenseits kunstmetaphysischer Optionen aus der Zeit seiner Wagnerverehrung, um Kunstindienstnahme für die Kultivierung der Lebensführung geht, gleichsam in psychologischer Absicht, wiede­ rum also, um an das eben Gesagte anzuknüpfen, um der Egokratie nützlich zu sein. Positiv gewendet und um Nietzsches im Vorhergehenden immer wieder beiläufig aufgerufene Hauptbotschaft zumindest in groben Strichen zu skizzieren: Nietzsche vertrat eigentlich von Beginn seiner Entwicklung an, die Störung derselben durch die zwischenzeitliche Wagner-Idolatrie (vgl. Niemeyer 1998: 124 ff.; 2011: 75 ff.) hier in Abzug gebracht, ein anti- resp. nachchristliches Selbstbefreiungs- und Subjektivierungsprojekt, aufgenötigt durch den sich im alltäglichen Tun offenbarenden Tod Gottes, an dessen Ende der Mensch wieder »Macht über sich und das Geschick hat« (V: 294). Das Kalkül auf das

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Neue, ganz andere, Bessere, Utopische war dem schon immer einge­ legt, etwa in Gestalt einer Art Arche-Noah-Prinzip, das auf Rettung der »Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts« (V: 574) sowie des Bildungsguts der neuen Zeit zuläuft (vgl. Niemeyer 1998: 54 ff.). Nietzsches von Nussbaum skandalisierte Mitleids- resp. Gerechtigkeits- resp. Gleichheitskritik gehorchte diesem auch durch Kulturkritik forcierten Interesse an einer »Welt, wie sie sein sollte« (V: 365), sollte also dabei helfen, so etwas wie ›richtiges Leben‹ zumindest auf die Zukunft hin sicherzustellen. Dies erklärt dann letztlich auch Zarathustras – wir erinnern uns: 1968 von Adorno in zeitdiagnostischer Absicht in Erinnerung gerufenen – Klage über den auf Gleichheit aller insistierenden ›letzten Menschen‹. Dass Nietzsche bei all dem auch das Dilemma einer allein auf das ›gute Leben‹ abstellenden Redeweise mitverhandelte, zeigt die genaue Betrachtung des von Zarathustra in seiner Rede Das Abend­ mahl verkündeten Gesetzes: Das Beste gehört den Meinen und mir; und giebt man's uns nicht, so nehmen wir's: – die beste Nahrung, den reinsten Himmel, die stärksten Gedanken, die schönsten Fraun! (IV: 355)

Der Kontext klärt hinreichend darüber auf, dass hier nicht etwa ein »happy playboy« (Higgins 1988: 45) »kumpelhafte Sprücheklopferei« (Zittel 2000: 209) betreibt, sondern Nietzsche via Zarathustra gegen eine gleichsam saturierte, christlich sich dünkende Bürgerlichkeit protestiert, in deren Horizont es durchaus ›klug‹ scheint und vielleicht sogar tagtägliche Praxis ist, sich die ›beste Nahrung‹ und die ›schöns­ ten Frauen‹ zu ›nehmen‹. In dieser Variante wäre das Leben und zumal das ›gute Leben‹ nichts weiter als die radikal säkularisierte Variante eines nicht enden wollenden und insoweit ewig wiederkehrenden ›Letzten Abendmahls‹ – eine Vorstellung, die Nietzsche nicht etwa guthieß, sondern geißelte und durch die Vorstellung eines ewig wiederkehrenden Nötigung an den Einzelnen ersetzte, sich in der Vertikalen seiner Lebensgeschichte immer wieder neu als Handlungsund Verantwortungsträger zu restituieren (vgl. Niemeyer 2007: 109). Als Gegenprobe im Blick auf speziell diese Deutung kommt der Umstand in Betracht, dass das eben angeführte Gesetz Zarathustras eine Art Vorstufe kennt, nämlich den Satz aus MA: Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden [...]« (II: 313).

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Wie leicht erkennbar, haben wir es hier mit einem deskriptiv gerich­ teten, quasi-soziologischen, ideologiekritischen Argument zu tun, das getragen wird vom Kalkül auf eine künftige Generation, die, durch solche Reichtumsbedingungen befördert, sich durch »grössere Freiheit des Gemüthes« und »Abwesenheit des Erbämlich-Kleinen« auszeichne, Möglichkeiten, die dem ums Überleben kämpfenden und insoweit zur Verstellung genötigten Armen nicht gegeben seien. Er nämlich lerne, so Nietzsche, im Kampf ums Dasein vor allem, »gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen« (II: 313), mit Ernst Bloch (1959: 274) geredet: Er lernt das Gegenteil des aufrechten Gangs. Dieser Nachtrag macht klar, dass auch zur Seite der (aufstiegs­ orientierten) Armen Wahrheit, vor allem aber Redlichkeit, in aller Regel Fiktion bleiben. Und exakt hieran scheint Zarathustra mit sei­ nem hier in Rede stehenden Satz anzuknüpfen, indem er nicht ledig­ lich an materielle Reichtumsindikatoren (›beste Nahrung‹, ›schönste Frauen‹) denkt, sondern zugleich an Äquivalente für das, was Nietz­ sche noch 1878 mit der Formel ›Freiheit des Gemüts‹ belegte und als Desiderat vermeldete. Das Zarathustra-Gesetz: ›Das Beste gehört den Meinen und mir‹ könnte insoweit nichts anderes sein als die probeweise Auszeichnung eines sozialen Zustandes, bei dem zwar ein jeder an sich alles haben kann, aber zugleich doch auch nichts mehr so eigentlich begehrt, weil alle, im Sinne eines Vorgriffs auf so etwas wie ›richtiges Leben‹, zu sich und folglich zu dem gefunden haben, was der Reiche im Prozess seines Reichwerdens destruiert: Wahrheit (›stärkste Gedanken‹) und Redlichkeit (›reinster Himmel‹), wie man nun probeweise den Bedeutungshorizont der zwei strittigen Metaphern griffig bündeln könnte. Insoweit könnte man folgern, dass es Zarathustra auch in Das Abendmahl eben hierum zu tun war und nicht lediglich um die Heiligsprechung und Nachahmung der (dekadenten) Lebensform der Reichen. Zusammenfassend gesprochen: Es gibt m.E. einige gute Gründe, Nietzsches Ansatz insgesamt als – Nussbaums Rede vom ›guten Leben‹ überbietende – Lehre vom ›richtigen Leben‹ neu zur Geltung zu bringen und diese wiederum in die Programmatik Adornos neu einzufügen. Dies gilt umso mehr, als die via Habermas nur unzurei­ chend auf Finessen à la Nietzsche vorbereitete studentenbewegte BRD-Generation offenbar nur unvollständig verstanden hat, was die durch Adornos Aphorismensammlung Minima Moralia (1951 = GS 4) populär gewordene Vokabel ›richtiges Leben‹ (vgl. neuerdings auch

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Heit 2022: 183 f.) meint resp. erlaubt: nämlich nicht etwa den Rück­ schluss, ›richtiges Leben‹ sei bereits ›gutes Leben‹ im Sinne vorgeb­ licher sexueller Befreiung à la Jerry Rubin (1971; zur Kritik: Niemeyer 2010: 138 ff.) oder in der Linie paternalistisch herzustellender sexu­ eller Freizügigkeit in Kinderläden und Heimen. Sondern, und dies als Auftrag an jeden einzelnen: ›Richtiges Leben‹ anstreben meint, sich um ein Leben in Selbstaufgeklärtheit im »Denken und Handeln« zu bemühen mit dem Ziel, zumindest seinen Part dazu beigetragen zu haben, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe« (GS 6: 358) und ersatzweise, auch psychologisch tragfähig, ein Leben in Offenheit für das Andere und den Anderen möglich wird, bei dem, mit Rudi Dutschke aus seinem Tagebuch (vom April 1963) geredet (Dutschke 2003: 17), die Entfremdung ein Ende hat, die sich in »Starrheit« und »Geschlossenheit« des Denkens dokumentiert. Deswegen auch bleibt Adorno nicht bei dem allenfalls als Totschlags­ argument der Springerpresse tauglichen »Linksfaschismus«-Label des Antipsychologen Habermas an die Adresse der Studentenführer stehen, sondern sichtet in jenem, der einem nicht demonstrations-, sondern studierwilligen Kommilitonen das Zimmer zerschlägt, nicht den, mit Nietzsche geredet, ›freien Geist‹, sondern den ›gebundenen‹, nach wie vor hängend an der »moralischen Prämie von den Gleich­ gesinnten.« (GS 10.2: 764) Der ›neue Mensch‹ also bleibt für Adorno conditio sine qua non jeder Art ›richtigen Lebens‹. Ähnlich Ernst Bloch: Nietzsche – was nur wenige Blochfans, sich einseitig an der Zuordnung Nietzsches zur »Unheilslinie« (Bloch 1985: 355) in Blochs Leipziger Vorlesungen orientierend, wissen oder wissen wollen und was dem Nietzscheverächter und Stalinisten Domenico Losurdo vermutlich die Zornesröte ins Gesicht triebe – gehört zu einer seiner frühesten Entdeckungen und erklärt Gerhard Zwerenz’ Urteil, Bloch bedeute letztlich »eine Weiterführung der Subversion Nietzsches.« (Zwerenz 1987: 597) Tatsächlich stellte Bloch schon als Zwanzigjähriger (1906) heraus, dass von Nietz­ sche, der »Weg zu einer neuen Philosophie der Kultur« ausgehen müsse, hin »zu einem durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie.« (Bloch 1906: 593) Diesen Impuls Nietzsches in der gleichnamigen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen, von Jost Hermand (1978: 138) nur sehr nachlässig und mit erkennbarem Abscheu vor dem Gegenstand (Nietzsche) porträtierten Schrift (Bloch 1913) treulich bewahrend, war für Bloch klar, dass die Transforma­

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tion des düsteren »Incipit tragoedia« (V: 571), mit der Die fröhliche Wissenschaft endet und Zarathustra als Figur angekündigt wird, nur dann durch das Blochsche »incipit vita nova« (Bloch 1923: 309) ersetzt werden kann, wenn der befreiende Slogan »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (V: 530), der jenes Werk prägt, erhalten bleibt. Dass es daran ernsthafte Zweifel gibt, die auch mit der nie recht überwundenen resp. durchschauten Wagner-Idolatrie Nietzsches zusammenhängen und sich insbesondere in Nietzsches Ecce homo beobachten lassen (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.), sei nicht bestritten, beeinträchtigt aber nicht das Recht, mit welchem Bloch noch 1968 – wohlgemerkt: in jenem Jahr, in dem Habermas Nietzsche, wie gese­ hen, ›nichts Ansteckendes mehr‹ zu bescheinigen sich getraute – Nietzsche einen »Atheismus voll utopischer Kühnheit« (Bloch 1968: 323) zusprach. Was derlei Kühnheit meint und erfordert, hat Bloch eigentlich sein ganzes langes Leben über in immer neuen Varianten verdeutlicht: Es gilt, das ›Noch-Nicht‹ freizulegen, dass sich in jedes nachwachsenden Menschen fast schon naturwüchsig artikulieren­ demn Widerwillens gegen den von Nietzsche skizzierten Typus des ›letzten Menschen‹ artikuliert, wenn denn nicht – so Blochs Schre­ ckensbild schon aus früher Zeit, im Abschnitt Störende Grille aus den Spuren (1930) – am endlich zur nicht-entfremdeten Geltung gebrach­ ten Proletarier sich jenes Drama wiederholen soll, das am Bürger, anhand von dessen Transformation vom ›citoyen‹ zum ›bourgeois‹ (Bloch 1930: 30), studierbar ist. So gesehen sind beide Utopien, jene vom ›richtigen‹ als auch jene vom ›besseren‹ Leben, auf psychologische Konzepte der Trans­ formation in Richtung des ›neuen Menschen‹ angewiesen. Auch Nussbaums Rede vom ›guten Leben‹, die ja keine Utopie sein will, sondern Teil von realsozialistischer Politik auf UNO-Niveau, wird diesen Aspekt nicht ausklammern dürfen, wenn denn nicht jener in Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1928/29) zu besichtigende Casus in Geltung treten soll: Dem hier in je drei Versen gefeierten guten Leben (»Wunderbar ist der Herauf­ kommen des Abends / Und schön sind die Gespräche der Männer unter sich!« »Schön ist die Ruhe und der Frieden / Und beglückend ist die Eintracht.« Sowie: »Herrlich ist das einfache Leben / Und ohnegleichen ist die Größe der Natur.«) folgt jeweils der gleichsam unbarmherzige Kanon: »Aber etwas fehlt« (Brecht 1928/29: 27) – übrigens sehr zur Freude von Bloch (1959: 1073), der er noch 1964 in

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einem Rundfunkgespräch mit Adorno Ausdruck gab (Bloch/Adorno 1964: 701) und die nachwirkt in seiner Einsicht: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; das ist nicht nur ein biblisches Wort. (Bloch 1968b: 397)

Nimmt man noch den durchaus auffälligen Umstand hinzu, dass Bloch seine im Exil in den USA entstandenen Aufzeichnungen zu seinem eben in Erinnerung gebrachten Hauptwerk Das Prinzip Hoff­ nung via des Traums vom »besseren Leben […], das möglich wäre« (Bloch 1959: 9), zu bündeln suchte, bietet sich folgendes Schlusswort an: Hätte Bloch Erfolg mit seinem ursprünglichen Ansinnen gehabt, sein Hauptwerk unter dem Titel Dreams of a Better Life zuerst im anglo-amerikanischen Sprachraum erscheinen zu lassen (Münster 2001: 236), wäre es Nussbaum fraglos nicht so leicht gefallen, neben dem Ansatz Nietzsches auch jenen Blochs für ihren eigenen zu ignorieren und zu suggerieren, die Speerspitze utopischen Denkens sei bei ihr erreicht.

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15 Vom Transhumanismus zurück zur Transformation, altdeutsch: »Verwandlung« Oder: Warum man um unser aller Zukunft und um Nietzsches wegen fortan besser vom »guten Europäer« denn vom »Übermenschen« reden sollte

These, vom aktuell im Raum stehenden ÜbermenschenVerbot ausgehend Werner Stegmaier versuchte vor einigen Jahren, wie einleitend von Kap. 4 bereits gezeigt, einem Nietzsche ohne Übermensch die Bahn zu bereiten und begründete dies mit seinem Wort, Zarathustra habe mit seiner Lehre vom Übermenschen »verständlicherweise« Gelächter geerntet (Stegmaier 2009: 20) Die Tinte unter diesem Text war kaum trocken, als mit der Transhumanismus-Debatte eine Renais­ sance des Übermenschen ins Haus stand, diesmal unter der head line »Overhuman« (statt »Overman« oder »Superman«). Inzwischen freilich beginnen sich die ersten Zeugen dieser Debatte zu fragen, ob man nicht besser dann doch Stegmaier folgen und sein Übermen­ schen-Verbot für aktuell halten soll – wäre da nicht der Einwand, dass der Missbrauch ja nicht zwingend das Verbot des zum Gebrauch prinzipiell Geeigneten erfordert. Eben damit ist die hier verfochtene Position in einem ersten Umriss markiert: Man muss den Übermenschen nicht verwerfen, es genügt, ihn richtig zu interpretieren. Falsch scheint mir beispielsweise der Versuch, den Übermenschen im Sinne der Transhumanisten als für technisch bestimmbare Optionen der Steigerung menschlicher Potentiale einsetzbares Modell auslegen zu wollen. Dies muss hier, nach den glänzenden diesbezüglichen Aufklärungsleistungen von Michael Skowron (2013; 2015), nicht in allen Einzelheiten dargetan werden. Wohl aber möchte ich gerne einige zusätzliche Aspekte geltend machen. Dazu gehört der Hinweis, dass das definierende Merkmal in der Präposition ›Über‹ weniger auf Transhumanismus

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verweist denn auf Transformation, altdeutsch: ›Verwandlung‹ (wie etwa in Zarathustras Lehre von den drei Verwandlungen angedeutet). Dies soll nun, in einem ersten Schritt, von Nietzsches Systematik ausgehend gezeigt werden, ehe, in einem zweiten Schritt, das nämli­ che Ergebnis mittels eines kurzen Blicks auf die Rezeptionsgeschichte gesichert werden soll.

Diskussion, von Nietzsches Systematik her Selbst in jener berühmten Eröffnungsszene aus Zarathustra’s Vorrede von 1883, in welcher dem Leser erstmals der Terminus ›Übermensch‹ begegnet, verbunden mit dem Tadel an das unwillig reagierende »Volk«, es wolle wohl »lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden« (IV: 14), wird nicht etwa, wie Transhumanis­ ten meinen, die Menschenwürde neu definiert und an das Wagnis geknüpft, des Menschen »bisheriges Menschsein in eine höhere Daseinsform hinein zu überwinden« (Vogel 2014: Rückumschlag). Wer so redet, übersieht, dass der Übermensch keineswegs eine neue ›Daseinsform‹ resp. »neue Gattung« (Sorgner 2010: 226, 229) begründet, die man neben die alte stellen kann und der eine »höhere Würde« (Sorgner 2014: 188) zukomme. Sondern der Übermensch – dies ist wahrlich kein neuer Interpretationsansatz (vgl. etwa Niemeyer 1995) – steht allererst für ein bildungsphilosophisches Konstrukt, das darauf abstellt, den Menschen »in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin festzustellen« (Heidegger 1954: 76), weniger philosophisch denn pädagogisch geredet: Der Übermensch ist der Mensch seiner Bildsamkeit nach gefasst und also im Idealfall ein sich selbst bestimmendes resp. sich selbst wieder in Besitz nehmendes Subjekt, das gelernt hat, sich von im Sozialisationsverlauf irgendwann bestimmend gewordenen dritten Mächten zu dispensieren. Deswegen auch klagt Zarathustra darüber, dass ausgerechnet der so fragwürdige und philisterhafte Jetztzeit-Mensch meint, der Forderung nach Selbst­ konstitution enthoben zu sein, in der Umkehr und aus der Perspektive Zarathustras geredet: »[D]er Mensch ist ihm eine Unform, ein Stoff, ein hässlicher Stein, der des Bildners bedarf.« (VI: 348) Dem korre­ spondiert Zarathustras Lob der »Stunde der grossen Verachtung«, der Stunde also, »in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Tugend und eure Vernunft« – und in welcher der Mensch gelernt haben wird, voller Stolz auszurufen: »’Was liegt an meinem

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Diskussion, von Nietzsches Systematik her

Glücke! Es ist Armut und Schmutz, und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selbst rechtfertigen!’« (IV: 15) Deutlich ist hier der Paradigmenwechsel weg vom auf die Ästhetik Richard Wagners zentrierten Ideal des frühen Nietzsche aus der ›Tragödienschrift‹ (1872) – »nur als ästhetisches Phänomen [sei] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (I: 47) – hin zum Anspruch auf Daseinsrechtfertigung mittels selbst bestimmter Lebensführung, die, so Nietzsches neues Theorieelement in der Post-Wagner-Ära, mit dem Tod Gottes möglich werde, weil nun die Schöpfungsvollmacht für den Menschen wieder verfügbar scheint. Nietzsche so zu lesen, also immer auch biographisch interessiert und im Rückblick auf sein bisheriges Schaffen, erlaubt eine erste Kon­ sequenz: Zu verlangen ist, dass Nietzscheforscher und -interpreten wenigstens doch für die Zukunft als ein zentrales Verstehensapriori die Besonderheit des Frühwerks (vgl. Niemeyer 2011: 75 ff.) und mit­ hin die Bedeutung beachten, die Richard Wagner ab 1868 (bis 1874/5) für Nietzsche hatte – und die dieser im Frühjahr 1880, nach Über­ windung dieser Phase, auf den drastischen Punkt brachte: »Die Genie­ verehrung ist oft eine unbewußte Teufelanbetung gewesen.« (IX: 58) Dabei mag hier (vgl. allerdings Niemeyer 1998: 124 ff.) dahingestellt bleiben, was immer, psychologisch betrachtet, Nietzsche 1868 auf Wagner hereinfallen ließ bzw. ihn später instand setzte, Wagner (und Wagner in sich) ab 1874 sukzessive zu überwinden, nachdem er dem ›Teufel‹ Wagner zuvor über Jahre hinweg (ab seinem 24. Lebensjahr [1868]) gehuldigt hatte. Nur der theoretische Ertrag muss uns inter­ essieren, und zwar weil man ansonsten offenbar nicht zu erkennen vermag, dass des ›frühen‹ Nietzsche Lob auf das Sklaventum sowie auf den Menschen, der seine Würde aus seiner Rolle als »Werkzeug des Genius« (I: 776) empfängt, keineswegs für »Nietzsches Sicht« (Sorgner 2010: 228) steht, sondern für die vorübergehende Position eines gläubigen Wagnerianers namens Nietzsche. Nur auf den ersten Blick grob geredet: Nietzsche begegnet uns in eben dieser Rolle als ›Kamel‹ in der Logik von Zarathustras Lehre Von den drei Verwandlungen. Sie kann, zusammenfassend gesprochen (vgl. zum Folgenden auch Niemeyer 2007: 14 ff.), als befreiungsori­ entierte Theorie des Bildungsgangs gelesen werden und wird in der neueren Nietzscheforschung gelegentlich denn auch, etwa von Anne­ marie Pieper (2014: 229 ff.), Transhumanisten unter der damit im Zentrum stehenden Vokabel ›Verwandlung‹ zu denken gegeben. Ihr Zentrum findet diese Lehre auf der zweiten Stufe der Verwandlung

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nach dem ›Kamel‹: auf der des ›Löwen‹ also, der an Nietzsche in seiner nach-philologischen und post-wagnerianischen Ära erinnert und des­ sen Auftrag auf Destruktion der das ›Kamel‹ (den Philologen Nietz­ sche) regierenden Klugheit geht. Nicht zu vergessen: Gleichsam nach vorn hin muss dieser ›Löwe‹ die Schaffung neuer Werte und mithin eine Lebensform vorbereiten, in der dann, in Gestalt des hier als Übermenschen gelesenen ›Kindes‹, die Weisheit und das Motiv der Selbstbestimmung das Regiment übernehmen können – eine offen­ bar ›übermenschliche‹ Aufgabe, wie der im Zarathustra gründlich vorgeführte Gegentypus zum Übermenschen, der ›letzte Mensch‹, lehrt. Dies vorausgesetzt, scheint mir eine zweite Konsequenz geboten, die schon von Karl Schlechta (1957: 90) in Vorschlag gebracht wurde und sich ähnlich auch bei Mazzino Montinari (1982: 56) findet: näm­ lich das eigentliche Werk Nietzsche mit der Post-Wagner-Ära, also mit Menschliches, Allzumenschliches (1878), beginnen zu lassen, und zwar versehen mit der Überschrift: Nietzsches Nietzsche (vgl. Nie­ meyer 2013: 18 ff.). Dabei wäre die Annahme wohl nur folgerichtig, schon in dieser 1878er Aphorismensammlung Zarathustras Lehre Von den drei Verwandlungen vorgeprägt zu finden und also auch schon Nietzsche erstmals als ›Löwen‹ im Kampf gegen das ›Kamel‹ und auf dem Weg zum ›Kind‹ resp. ›Übermenschen‹ zu begegnen, und zwar dies in Gestalt eines Lernprozesses, der sich, den bisherigen Annah­ men zufolge, zwischen Nietzsches 24. (1868) und (spätestens) 32. (1876) Lebensjahr ereignet haben muss. Und tatsächlich: Wenn man, exemplarisch, Nietzsches von Wagners Geist noch geprägte Geburt der Tragödie (1872) und die hierin vorgetragene Anrufung jugendlicher (völkisch-antisemiti­ scher) »Drachentödter« (I: 119) zwecks »Wiedergeburt des deutschen Mythus« (I: 147) mit der nüchternen Versicherung Nietzsches von 1879 vergleicht, Wagners Art der »Aneignung der altheimischen Sagen« stünde für »den allerletzten Kriegs- und Reactionszug [...] gegen den Geist der Aufklärung« (II: 451), kann man kaum daran zweifeln, dass in jenem Zeitraum ein Wandel Nietzsches weg vom völkisch-antisemitischen Denken à la Richard Wagner hin zum kos­ mopolitischen à la Nietzsches Nietzsche stattgefunden hat, die man durchaus in Zarathustras spätere Lehre Von den drei Verwandlungen zurückübersetzen kann. Welches aber wäre dann das 1878/79er Äquivalent für das ›Kind‹ resp. den ›Übermenschen‹ von 1883?

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Diskussion, von Nietzsches Systematik her

Meine Antwort kann kaum fraglich sein: Das Äquivalent für den (späteren) ›Übermenschen‹ ist zu sehen in Nietzsches gegen Wagner und insonderheit gegen dessen Schrift Was ist deutsch? (1878) gerich­ teter Denkfigur vom »guten Europäer« (II: 309) aus Aph. 475 von Menschliches, Allzumenschliches (1878), die ihre Fortführung findet in der Losung, mit der Aph. 323 von Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) eröffnet wird: »Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen.« (II: 511) In der Umkehrung geredet und Zarathustras Lehre Von den drei Verwandlungen einbeziehend: Der mit dieser Losung zum vorläufigen Abschluss gebrachte Lernprozess Nietzsches (von 1879) findet in Zarathustras Rede von 1883 seine Fortführung in Gestalt der Forderung nach Verwandlung des ›Kamels‹ über den ›Löwen‹ hin zum ›Kind‹ resp. ›Übermenschen>. Letzterer wäre mithin falsch begriffen, wenn man nicht auch in ihm das zu identifizieren wüsste, was schon für den ›guten Europäer‹ konstitutiv war: nämlich dass nicht nur dieser, sondern jeder Mensch (und mithin auch der Nicht-Europäer) lernen müsse, »das Banner der Aufklärung und der geistigen Unab­ hängigkeit« aufzurichten, damit Letztere sowie »eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmytische Erklärung der Welt« (II: 310) zum Siege kommen kann. Man kann aber noch einen Schritt weitergehen. Nietzsche näm­ lich ging diesem Programm offenbar auch noch in seiner Post-Zara­ thustra-Ära nach, nur dass er nun das mit dem Wort ›Übermensch‹ (und eben auch ›guter Europäer‹) Bezeichnete unter anderen Voka­ beln, etwa der des – den ›Menschen des Ressentiments‹ überwinden­ den – ›vornehmen Menschen‹ verhandelte, dabei zugleich eine Probe auf seine inzwischen weit ausdifferenzierte Psychologie gebend (vgl. zuletzt Niemeyer 2011: 176 ff.). Ein starkes Zeichen hierfür ist JGB 244, wo Nietzsche den Deutschen anlastet, »im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik« daran arbeitet, »ganz Europa zu verdeut­ schen.« (V: 185) Spätestens hier nun könnten Sie kritisch dazwischenfragen, etwa unter Verweis auf das 2014 in den Nietzsche-Studien veröffentlichte Protokoll der sog. ›Hiddensee-Konferenz‹. Niemand nämlich der dort, im einschlägigen Block Was ist aus Nietzsches Ideal des ›guten Euro­ päers‹ geworden? versammelten zwölf namhaften Nietzscheforscher92 aus dem inner circle dieses seit 1999 von Werner Stegmaier geleiteten 92 Im Anschluss an ein Impulsreferat Carlo Gentilis diskutierten (in der Reihenfolge ihres Auftretens) Enrico Müller, Werner Stegmaier, Johann Figl, Andreas Rupschus,

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15 Vom Transhumanismus zurück zur Transformation, altdeutsch: »Verwandlung«

Periodikums kam auf eine Idee wie die hier verhandelte. So wurde zwar diskutiert, dass Nietzsche in MA 475 den ›heimatlosen‹ Juden als Parabel auf die ›Entdeutschung‹ des Deutschen aufbereitet habe oder dies, aktuell, nach Fortschreibung im Sinne der ›Enteuropäisierung‹ des Europäers verlange. Aber nicht ein einziges Mal begegnete einem im Protokoll dieser Konferenz der Name Wagner oder auch nur der Begriff Übermensch. Indes: Kann dies wirklich ein Argument sein? Kann man diesen Umstand nicht auch lesen als Zeichen für eine Art Zusammenhangs­ blindheit, für die auch die Nietzscherezeption der letzten einhundert­ fünfundzwanzig Jahre mancherlei Zeugnis gab – und der auch die einleitend am Beispiel Stegmaier gerügte Bereitschaft zur Preisgabe des Übermenschen zugehört, ebenso wie Stegmaiers auf den angebli­ chen Gegensatz zwischen Also sprach Zarathustra (1883–85) und Die fröhliche Wissenschaft (1882/87) anspielende Versicherung: »Wirken Zarathustras Lehren düster und belastend, so wollte er, Nietzsche, doch eine Wissenschaft schaffen, durch die die Europäer ihres Lebens wieder froh werden sollten, eine fröhliche Wissenschaft.« (Stegmaier 2009: 21) In der Linie dieser Nietzsche auf beispiellose Art baga­ tellisierenden und um die Systematik seines Denkens bringenden Lesart kann jedenfalls mich nicht überraschen, was sich auch an der Rezeptionsgeschichte insgesamt notieren lässt: nämlich dass bis 1945 die Denkfigur des ›guten Europäers‹ weit weniger beachtet wurde als die ihr an sich korrespondierende, aber vom Ausdruck her miss­ verständliche des ›Übermenschen‹, mit verheerenden Folgen für das Nietzschebild in der NS-Zeit (III.), aber auch für die Zeit nach 1945 bis heute (IV.). Dies möchte ich im Folgenden kurz zeigen, vorbereitend für meinen Schluss, die einleitend als dem Denksystem Nietzsches widersprechend gerügte Vorherrschaft der Vokabel ›Transhumanis­ mus‹ gegenüber der Vokabel ›Transformation‹ zeuge für einen gewis­ sen Substanzverlust in der aktuellen Diskussion um Nietzsche (V.). Wie man hier schon sehen kann, liegt damit ein recht umfassendes Programm vor, so dass vielleicht verständlich ist, dass und warum ich (auch) im Folgenden hier und da die Siebenmeilenstiefel benutzen werde, also zumeist exemplarisch argumentieren muss.

Richard Schacht, Oswald Giacóia, Sigridur Thorgeirsdottir, Helmut Heit, Glenn Most, Hans Ruin und John Richardson (vgl. Nietzsche-Studien 43 [2014], 106–117).

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Vom Übermenschen zum Untermenschen

Vom Übermenschen zum Untermenschen: Ein Schnellkurs zur (deutschsprachigen) Nietzscherezeption zwischen 1890 und 1945 Vorab ist es zwingend, die Suchaufgabe genau zu fixieren: Gesucht wird nach einer Rezeption Nietzsches, die dessen Intention in Sachen Übermensch möglichst nahe kommt und die bisher vorgetragene Lesart des ›guten Europäers‹ als eine Unterform des Übermenschen – über das gemeinsame Merkmal, das es in beiden Fällen um gelungene Überwindung entfremdenden Wissens (à la Wagner) geht, – stützt. Auch Belege ex negativo sind dabei von Interesse, vom folgenden Beispiel ausgehend geredet: Dass Nietzsche im Sinne unserer Aus­ gangsthese jener 1878 gegen Wagner gewonnenen Denkfigur vom ›guten Europäer‹ bis zum Ende treu blieb und der Übermensch, so betrachtet, nur in der Logik dieser Überwindung als Ideal gedacht werden kann, also beispielsweise Deutschtumsvisionen für diesen nicht in Betracht kommen, zeigt schon der Umstand, dass Nietzsches Deutschtumskritik und die Kritik des durch derlei umgetriebenen Menschenschlags im Spätwerk deutlich dominiert, wobei ein Beispiel besonders aufschlussreich ist: Im Verlauf des Jahres 1888 tadelte Nietzsche Ferdinand Avenarius wegen seiner Heine-Kritik und den 1887 von Avenarius auf den Markt gebrachten und nach der Jahr­ hundertwende auch für die Jugendbewegung wichtig gewordenen Kunstwart brieflich gegenüber Franz Overbeck als »Schund-und Schandblatt« (8: 297) und als »deutschthümelnd« (8: 362). Avenarius hingegen blieb unbeirrt und verpasste seinem Periodikum 1896 das von seinem Onkel Richard Wagner entlehnte Motto »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun!« – kein, wie Rüdiger vom Bruch (1998: 431) hinzusetzte, für sich gelesen notwendig ›deutsch­ tümelndes‹ Motto, aber zumindest doch ein Statement in Sachen der hier thematischen Angelegenheit, will sagen: Der von Nietzsche 1878 mit seiner Denkfigur vom ›guten Europäer‹ abgelehnte Wagner kam nun zumindest in Gestalt einer ihrer Leitsätze doch wieder zu neuen Ehren und, über die – auch jugendbewegten – Leser des Kunstwart, bald auch zur Wirkung, in Gestalt etwa des Bemühens, den spezifisch deutschen Übermenschen anzubieten (keine Wirkung also, die Nietzsche intendierte, die sich ihm aber zurechnen ließ, sofern man, wie Avenarius, seine frühe Wagnernähe für das Ganze nahm). Wichtig dabei, um diese auf den ersten Blick recht kompliziert sich darstellende ›Wirkung‹ Nietzsches richtig einordnen zu können:

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Dass man Avenarius nicht isoliert lesen kann, sondern als Teil eines Netzwerks (völkischer) Kulturkritik à la Julius Langbehn sowie Paul de Lagarde betrachten muss (vgl. Niemeyer 2013: 87 ff.), was zumal nach 1914 deutlich wurde, exemplarisch in der Wandervogelführer­ zeitung. Hier nämlich bemühte ein gewisser Paul Gützlaff Nietzsche, ganz gegen die Gewohnheit dieses völkischen Organs, dies aber nur, um mit einem von ihm entlehnten und als Motto genutzten Zitat aus der Zeit von Nietzsches Wagnerverehrung (»Für uns bedeutet Bay­ reuth die Morgenweihe am Tage des Kampfes!«; zit n. Niemeyer 2013a: 148) dem von ihm erörterten Thema Richard Wagner und wir schon gleich von Beginn an die entscheidenden Akzente zu verleihen. Hierzu gehört, die spätere Absetzung Nietzsches von Wagner zu ignorieren und im Ergebnis beide dafür zu loben, einen Kampf frei­ gesetzt zu haben, den die Jugendbewegung im Interesse der »Erneue­ rung Deutschlands« (ebd.: 47) fortzusetzen habe, und zwar auch nach dem Krieg, wo, angetrieben vom »heldisch-machtvollen Pathos Wag­ nerscher Musik und Dichtung«, der »Krieg gegen die äußeren Feinde der Krieg gegen die inneren folgen möge«, der Krieg etwa gegen die »Söldner-Knechte Alberichs« (ebd.: 48) – eine Anspielung also auf die als ›Judenkarikaturen‹ angelegten Zwerge in Wagners OpernTetralogie Der Ring des Nibelungen, dem die Vision Siegfrieds als ari­ scher Übermensch innewohnt. Sicherlich: Die Nietzscherezeption jenes Zeitraums in der ganzen Breite ist mit diesem – zugegebenermaßen extremen – Beispiel nicht getroffen. Eingeräumt sei also, dass einem der Übermensch damals auch in Gestalt einer den Intentionen Nietzsches eher entsprechenden Weise zumal bei jugendlichen Leser begegnet, etwa bei Ernst Bloch, der als Zwanzigjähriger hervorhob, dass von Nietzsche der »Weg zu einer neuen Philosophie der Kultur« ausgehen müsse, hin »zu einem durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie.« (Bloch 1906: 593) Vielleicht erklärt dieser frühe, kluge Zugriff, dass Bloch noch über sechzig Jahre später – genauer geredet: in jenem Jahr 1968, in welchem Jürgen Habermas Nietzsche, wie wir gleich diskutieren werden, ›nichts Ansteckendes mehr‹ zu bescheinigen sich getraute – Nietzsche einen »Atheismus voll utopischer Kühnheit« (1968: 323) attestierte. Denken könnte man in diesem Zusammenhang auch, gleichfalls unter der Überschrift einer durchaus positiven Nietzsche­ wirkung fin de siècle, an die Meißnerformel der Freideutschen Jugend vom Oktober 1913, deutlicher: Das hier gefasste, nachträglich viel­

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Vom Übermenschen zum Untermenschen

fältig mythisch überhöhte (vgl. hierzu Niemeyer 2013a: 175 ff.) Gelöbnis, fernerhin nach eigener Bestimmung in innerer Wahrhaf­ tigkeit und Freiheit sein Leben gestalten zu wollen, erinnert von ferne her durchaus an den ›guten Europäer‹ resp. den – recht verstandenen – Übermenschen resp. den von Wagner entlehnten, aber seiner völ­ kisch-antisemitischen Konnotation nach entkernten Siegfriedmythos Nietzsches auf dem Stand des Jahres 1876, der sich in Nietzsches – den Bruch mit Wagner auf den Punkt bringenden (vgl. hierzu Nie­ meyer 2015) – Frage an die Bayreuther Festspielbesucher Ausdruck verschafft: Wo sind […] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch? (I: 509)

Indes stehen derlei positive Beispiele konträr zu negativ-abfälligen Urteilen auf Seiten der Erwachsenen. Ein Beispiel gibt Theobald Zieg­ ler in seiner erstmals 1899 erschienenen Epochenbilanz, in welcher wir lesen, »daß das klingende Wort vom Übermenschen die Jugend, die ja nie an einem Übermaß an Bescheidenheit leidet, wie ein Taumel und Rausch erfaßte, daß jeder Jüngling sich für ein Genie und damit für berechtigt hielt, den Herrn zu spielen und nach den Prinzipien der Herrenmoral zu leben.« (Ziegler 1911: 603) Ohne nun die ganzen Belege, die Ziegler diesem seinem Urteil zugrunde legte, referieren zu wollen, auch nicht die darauf bezügliche Debatte des Zeitraums 1890–1914, wird man eines herauszustellen haben: nämlich dass der Kriegsbeginn eben dieser Debatte einen ganz neuen Zug gab (vgl. Niemeyer 2002: 79 ff.; 2013: 79 ff.). Deutlich wird dies vor allem bei August Messer, der, unter gütiger Mithilfe von Nietzsches Schwester – die Nietzsche systematisch und schon im Vorfeld des Krieges als ›Kriegsphilosophen‹ ins Geschäft zu bringen versucht hatte (vgl. Nie­ meyer 2011: 137 ff.) – deklarierte, dass »Nietzsches Philosophie nach ihrem tiefsten Gehalt für die Deutschen unserer Tage geschaffen scheint« und »der viel verkannte und verlästerte ›Uebermensch‹ [...] durchaus deutsche Züge [trägt].« (Messer 1914: 1 f.) Mit diesem Bei­ trag zur allfälligen und nur gelegentlich von links kritisierten »Deutschsprechung« (Pfemfert 1915) Nietzsches, die jene von Ziegler angesprochene Nietzschelektüre jugendlicher Anarchisten an den Rand drängen sollte, hatte die politisch Rechte ihr erstes großes Los auf Nietzsche gezogen, deren allerletztes einem in Alfred Baeumlers (durch vorbeimarschierende Hitler-Jugend motiviertes) Wort begeg­ net: »Und wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen

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wir mit diesem Wort zugleich Friedrich Nietzsche.« (Baeumler 1934: 292) Die Brücke vom einen zum anderen fand Baeumler an dieser Stelle, weil er die Denkfigur des ›guten Europäers‹ und insgesamt diesen (›mittleren‹) Nietzsche zielgerichtet ins Abseits rückte und sich ersatzweise Nietzsches 1874er Anrufung der Jugend als »Kämpfern und Schlangentötern« (I: 331) erinnerte, um von hier aus hochzu­ rechnen auf den Übermenschen resp. die blonde Bestie. Diese Brücke wiederum war für den NS-Pädagogen Ernst Krieck – der Nietzsche, ganz im Gegensatz zu Baeumler, für nicht NS-affin hielt – unpas­ sierbar, weil ihm unter anderem Nietzsches ›gutes Europäertum‹ (Krieck 1938: 24) Bauchschmerzen bereitete (durchaus verständliche, wie wir nun sagen können). Wie die Sache weiterging, kann hier unmöglich nacherzählt wer­ den (vgl. etwa Piecha 1998; Niemeyer 2002: 174 ff.; 2013: 129 ff.). Es muss genügen, den schrecklichen Höhepunkt der systematischen Nazifizierung Nietzsches im Auge zu behalten, nämlich die für die Bestialisierung des Ostfeldzuges wichtige, millionenfach an Soldaten verteilte illustrierte Himmler-Broschüre Der Untermensch (1942), in welcher ganz in Zarathustra-Diktion verkündet wird: Der Untermensch […] ist […] nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier […]. Untermensch – sonst nichts!/Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt. – Wehe dem, der das vergißt! (zit. n. Hofer 1957: 280)

Es waren Abartigkeiten wie diese, die den gänzlichen Niedergang Nietzsches im Bewusstsein des Bürgertums unmittelbar nach 1945 erklären könnten. Hätten nicht aber wenigstens Wissenschaftler und Philosophen zumal hier klarer sehen müssen? Offenbar nicht notwen­ dig, wie im Folgenden in gleichfalls wenigen Zügen nachgezeichnet werden soll.

Vom ›No Nietzsche‹ über den ›nicht ansteckenden‹ hin zum nur noch ›anregenden‹ Nietzsche: Ein Schnellkurs zur Nietzscherezeption nach 1945 bis heute, mit einem kurzen Schluss Dass und warum es nach 1945 ungemütlich für Nietzsche wurde, ist kein wirklich neues Thema (vgl. Niemeyer 2002: 245 ff.; 2013:

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Vom ›No Nietzsche‹ hin zum nur noch ›anregenden‹ Nietzsche

151 ff.). Neu – für mich jedenfalls – ist allerdings, dass auch Bertrand Russell daran seine Aktien hatte. So erklärte er – und auch dies soll uns für das Folgende nur als pars pro toto gelten – beispielsweise in seiner im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verfassten, überaus wirk­ mächtigen Philosophie des Abendlandes (1945), basierend auf für Nietzsche abträglichen eigenen Einzelstudien aus den 1930er Jahren (etwa Russell 1934: 145 ff.), Nietzsche, Wagners berühmtester Jünger, müsse als Persona non grata gelten, Nietzsches Übermensch sei ein »zweiter Siegfried« (Russell 1992: 767), eine ›blonde Bestie‹ gleich­ sam, die soeben erst, unter der Maske der Nazis, die halbe Welt ver­ wüstet habe. Russells bitteres Fazit, 1943 zu Papier gebracht und noch fünfzig Jahre später unverändert nachlesbar: »Nietzsches Jünger habe ihre Chance gehabt, doch dürfen wir hoffen, daß es damit bald zu Ende sein wird.« (ebd.: 779) Dies ist, mit Verlaub, ›Himmler, die zweite‹, nur mit umgekehrten Vektor, wieder einmal unter Ausblendung des ganzen Nietzsche resp. des authentischen, wie er sich in der Denkfigur vom ›guten Europäer‹ dokumentiert; sowie unter Beiseitesetzung der spezifischen, hier aber nicht im Detail (vgl. allerdings Niemeyer 2019: 187 ff.) darzustellenden Absetzung Nietzsches speziell von Wagners Siegfried-Figur. Erstaunlich dabei – oder vielleicht auch nicht, insofern derlei Nietzsche-Bashing nach 1945 etwas Entlastendes hatte, also auf Belohnung rechnen durfte –, dass es Russell trotz derlei argumenta­ tiver Schwächen zum Nobelpreisträger brachte. Nicht minder erstaunlich (oder eben nicht, s.o.), dass sich Links wie Rechts im so zu verstehenden, vor dem NS‑Hintergrund zu lesenden NietzscheBashing einig sind, eigentlich bis heute, will sagen: Russell kann les­ bar gemacht werden als Teil eines nach 1945 via George Lukács (1954) breit anhebenden und auch noch bei Heinz Schlaffer (2007), Dome­ nico Losurdo (2009) und zuletzt bei Jochen Schmidt (2016) wie Robert C. Holub (2016) zu beobachtenden Strebens, Nietzsche mittels dekontextualisiert gelesener skandalöser Zitate jene Entnazifizierung zu verweigern, die in Korrektur der von Nietzsches Schwester Elisa­ beth Förster-Nietzsche vorbereiteten und nach 1933 in Deutschland unheilvoll voranschreitenden Nazifizierung Nietzsches (vgl. Nie­ meyer 2013: 129 ff.) an sich nach 1945 das Gebot der Stunde hätte sein müssen, etwa in der Linie der in diese Richtung weisenden For­ derung Albert Camus’ (1953). Die Pointe: Die reißerische Headline »Nietzsches Gefolgschaft in den Fängen genfaschistischer Verblen­

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dung« (Weiß 2014) wird mancherorts nicht mehr mit Fragezeichen versehen, sondern als Beschreibung eines folgerichtigen Vorgangs. Dass Camus’ Forderung nach Wiedergutmachung für Nietzsche in der Regel unbeachtet blieb und die dekontextualisierte Nietzsch­ elektüre vom Typus »Zitatenklitterung« (Pieper 2014: 225) und ohne Kenntnis der Sekundärliteratur – teilweise zu beobachten auch in der neueren Nietzscheszene (vgl. Niemeyer 2014: 13 ff.) – weite Kreise zog, zeigt (auch) das Beispiel Jürgen Habermas. In seiner Jugend, anders etwa als Adorno in der seinen, Nietzsche fast nur durch die Brille der Nazis lesend (vgl. Müller-Doohm 2014: 47) und über ein entsprechend negatives Nietzschebild verfügend, dekretierte Haber­ mas auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, übrigens zeitgleich zur gegenläufigen Botschaft Ernst Blochs, Nietzsche habe nichts »Ansteckendes« mehr, deutlicher: dem – aus Nazi-Deutschland emi­ grierten – US-Nietzscheforscher Walter Kaufmann (1950) als, so betrachtet, Ansteckungsprotagonisten sei vorzuwerfen, mit seiner »Abmilderung« des »Konzepts vom ›Übermenschen‹« nur von jenen »Implikationen« abgelenkt zu haben, die »für Nietzsches politische Wirkungsgeschichte« entscheidend gewesen seien, auf die sich der marxistische Nietzscheverächter Georg Lukács (1954) – man soll wohl lesen: verdienstvollerweise – »konzentriert« habe (Habermas 1968: 505 f.). Den Rest entsorgte Habermas zur Jahrtausendwende, indem er Adornos Rede vom ›richtigen Leben‹ dem Themenkomplex der damals neu aufbrechenden Debatte um Zeugung und Züchtung subsumierte (Habermas 2000: 11 f.; Niemeyer 2013a: 159 ff.) – und sie dadurch, trivialisierte, um schließlich Nietzsches Indienststellung für die von Peter Sloterdijk ausgelöste und von Habermas äußerst kritisch gesehene Posthumanismus-Debatte (Habermas 2001: 43) zumindest doch nicht entgegenzutreten. Die Folgen sind beachtlich und von mir andernorts (Niemeyer 2013: 159 ff.) exemplarisch diskutiert worden, im Blick auf eine Züch­ tungsfirma – natürlich ein etwas ironisch gemeintes Wort – mit vielen Lizenznehmern. Einer von ihnen ist Stefan Breuer, der von Nietzsches Absicht der »Züchtung von Tyrannen und Herrenmenschen« (Breuer 2001: 177) redet, ein anderer Heinz Schlaffer, wie sein als Paraphrase Nietzsches zu verstehender Satz belegt: »[D]ie Züchtung einer ver­ besserten Rasse erlaube es, einen Großteil der entarteten Massen zu vernichten.« (Schlaffer 2007: 12) Freilich: Entgegen dem Anschein, den diese Verfasser – jeweils ausgewiesene Experten auf je ihren For­ schungsgebieten – zu erwecken suchen, haben diese Aussagen mit

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Vom ›No Nietzsche‹ hin zum nur noch ›anregenden‹ Nietzsche

Nietzsches Intentionen so gut wie nichts zu tun. Allein die Vokabel ›Züchtung‹ ist bei Nietzsche mehrdimensional angelegt und nicht einseitig biologistisch verengt lesbar (s. NLex2 [Groff]: 440 f.). Gleichwohl ist die Annahme nicht auszurotten, und dies zumal bei marxistischen Nietzscheverächtern (etwa Weiß 2014: 57 f.), dass zumal der späte Nietzsche, also der ›Gott-ist-tot‹-Diagnostiker sowie der Protagonist des Übermenschen, in erster Linie als Züchtungs­ theoretiker, wenn nicht gar als Euthanasiebefürworter zu verstehen sei. Von hier aus scheint mitunter der einleitend angesprochene Schritt nachvollziehbar: der Weg weg vom nicht mehr ›ansteckenden‹ hin zum um seinen Übermenschen gebrachten, aber wenigstens doch noch ›anregenden‹ Nietzsche à la Werner Stegmaier. Freilich, und damit komme ich zum Schluss: in der Linie Stegmai­ ers gedacht wird in Zukunft am Geistesheroen Nietzsche kein anderer Gesichtspunkt mehr interessieren als der, als »Anregungspotential für die verschiedensten Bereiche der Philosophie« (Stegmaier 2009: 19) in Betracht zu kommen. Dabei sei nur am Rande notiert, dass in der letzten Vokabel dieses Zitats noch ein Reduktionismus der besonderen Art verborgen ist, insofern das faktisch sehr viel gewich­ tigere Anregungspotential Nietzsches für die verschiedensten Bereich der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften schlicht unterschlagen wird, in der erkennbaren Absicht, Nietzsche einseitig als Philosophen zur Geltung zu bringen. Nicht an den Rand gehört, was uns, in der Logik Stegmaiers gedacht, in Zukunft ins Haus stehen dürfte: nämlich immer mehr Studien, bei denen aus dem Blick gerät, was, hier exemplarisch am Beispiel der Transhumanismus-Debatte diskutiert, Nietzsches eigentliches Anliegen war: nämlich die Transformation, altdeutsch: ›Verwandlung‹ des Menschen zurück gegen die ihm auf­ erlegte Entfremdung hin zur Neubegründung seiner Herrschaft über sich selbst, auf dass dem Menschen wieder das Anrecht zukommt, »sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen« (XI: 308), will sagen: Übermensch zu sein. Dass das zugleich meint, ›guter Europäer‹ zu sein, meine ich im Vorhergehen­ den gezeigt zu haben.

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16 Sozialpädagogisches Verstehen verstehen Ein Versuch gegen den Trend, mit Nietzsche und Freud

Wer Sozialpädagogik studiert, möchte später anderen helfen, sie ver­ stehen – mir jedenfalls ging es so 1972. Inzwischen freilich geht es etwas härter zu in unserer so viel voller gewordenen Welt. Zunächst wegen nine/eleven, zuletzt seit dem »24. Februar 2022«, ist nicht eben wenigen das Lachen vergangen. Was das Verstehen als Methode, landläufig auch »sozialpädagogischer Blick« geheißen, angeht, schlug diesem seit Herman Nohls Rede eigentlichen unanfechtbaren Axiom, es müsse um die Schwierigkeiten gehen, die Kinder haben, nicht um jene, die sie machen, spätestens am 3. Juli 2002 im Deutschen Bun­ destag das Todesglöcklein. An diesem Tag nämlich gab Merkel, damals noch als Ministerin, in Sachen des Erfurter Amoklaufs des 16fachen Lehrermörders Robert Steinhäuser zu Protokoll: Bei einer solchen Tat, die jenseits unserer Vorstellungskraft und außer­ halb jedes nachvollziehbaren Denkens und Handelns liegt, ist es nicht richtig, Kausalketten herzuleiten […]. Wer das Unverständliche verstehbar und das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss aufpassen, dass er sich nicht – zumindest unterschwellig – auf die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuldbare mit irgendwelchen Umständen zu erklären.« (zit. n. Böckler/Seeger 2010: 11)

Sicherlich Zufall, aber gleichwohl passend zu jenen damals anheben­ den bleiernen Zeiten im Fachlichen: Parallel zu diesem Ereignis fraß sich der Odenwaldschock in die Hirne der Fachleute ein, darunter Jürgen Oelkers (& Co.), die fortan sexualisierte Gewalt als angeblich durch reformpädagogisch unterlegte Nähe-Ideale verursacht sahen. Folglich wurden jene Klassiker aus dem Kanon genommen, die in früheren Auflagen (seit 1979) des Longsellers Klassiker der Pädagogik bequem Unterkunft gefunden hatten, jetzt aber, unter dem Regiment Heinz-Elmar Tenorths (2003), nicht mehr – und dies mit dem erstaunlichen ›Argument‹, beide hätten »radikalen Zerfallsvisionen« Vorschub geleistet, Nietzsche mit seiner »Vision des von aller mora­ lischen Last befreiten dionysischen Menschen«, Freud hingegen mit

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16 Sozialpädagogisches Verstehen verstehen

seiner These vom »Triebverzicht als Basis der modernen Kulturent­ wicklung, deren Preis Psychoneurosen sind.« (Oelkers 2003: 12) Nochmals: Dies geschah zu einer Zeit, als beider Sexualitäts- sowie Subjektkonstruktionen hätten helfen können zwecks Verstehen des tatsächlich in der Odenwaldschule sowie in den Kirchen Geschehenen sowie zwecks Aufbau eines der Leiblichkeit des Menschen Rechnung tragenden Professionalitätskonzeptes, etwa in der Linie des genialen Programmsatzes aus Nietzsches Antichrist: »Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.« (VI: 180) Beginnen wir also unverdrossen mit einem für die Belange Sozialer Arbeit gedachten kurzen Rückblick auf Nietzsche (und Taine) (1.), um schließlich Nietzsche als ›Vordenker‹ Freuds (2.) sowie Freud als ›Nachdenker‹ Nietzsches vorzustellen (3.) und ein Fazit anzufügen in der Hoffnung, dies nutze irgendwem irgendwo und irgendwann.

Nietzsche verstehen – und Taine (der schon Balzac nicht verstanden hatte) Vorab, weil es vermutlich den meisten Leser*innen auf der Zunge brennt: »Sozialpädagogisches Verstehen« und »Nietzsche« – wie soll das denn zusammengehen? War Nietzsche nicht dieser Typ mit dem »Werdet hart!«, dem »Willen zur Macht«, der Peitsche, nicht zu vergessen: der mit dem schrecklichen Walrossbart? Soll ich mal, in gleicher Münze, zurückzahlen? Also gut: Waren Sozialpädagogen nicht dereinst Verfechter der Lehre, dass man Dritte nicht einfach so, dem Gerede des Tages folgend, stigmatisieren darf? Sondern diese dort abzuholen hat, wo sie stehen? Also etwa bei der folgenden, von Helmut Heit (2022: 192) in Erinnerung gebrachte Forderung Nietzsches aus Morgenröthe (1881): Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtba­ ren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedan­ ken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemein­ schaft gemacht werden; es soll eine ungeheure Last von schlechten Gewissen aus der Welt geschaffen werden – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitssuchenden anerkannt und gefördert werden! (III: 147)

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Nietzsche verstehen – und Taine (der schon Balzac nicht verstanden hatte)

Begnügen wir uns auch hier mit dem eher schlichten Befund: Nietz­ sche trat dezidiert für die Notwendigkeit des Verstehens auch der schwersten Fälle ein, dafür also, dass ihnen mehr als »Sonnenschein« zu gewähren sei, nämlich so etwas ihr »gutes Recht«, was ich mir vorerst übersetzen will mit: Was Abweichende resp. Ausgegrenzte benötigen, ist eine Erklärung, die das Geschehene irgendwie als folgerichtig ausweist, jedenfalls in Grenzen. Ich weiß: Wer so redet, bekommt irgendwann ein (übrigens auch von Nietzsche zitiertes) »Tout comprendre – c’est tout pardonner!« zu hören. Und wenn wir noch ein wenig weiter zurückgehen, bis ins Jahr 1859 beispiels­ weise, als Nietzsche vierzehn Jahre alt war, hätte dieser damals recht aufmüpfige Pastorensohn aus Röcken b. Leipzig vielleicht, bildungs­ bürgerliches Elternhaus kosmopolitischen Zuschnitts vorausgesetzt, etwas mitbekommen vom damals (wie heute) bedeutendsten franzö­ sischen Romancier Honoré de Balzac (1799–1851) und vom spekta­ kulären Balzac-Verriss im Journal des Débats. Nichts nämlich ließ der schrecklich konservative (Literatur-) Historiker Hippolyte Taine (1828–1893) hier aus. Angefangen vom Outing Balzacs als, seines Frauenbildes wegen, Anhänger der feministischen »Blaustrümpfe« (Taine 1859: 195). Und schon gar nicht das pejorativ gemeinte Attribut »Naturforscher«, als welchem Balzac per definitionem das »Ideal« (ebd.: 189) fehle. Ähnlich wie den von Balzac gezeichneten Figuren, namentlich den Ärzten, die kaum ein größeres Vergnügen kennen würden, »als eine seltene oder schon verlorene Krankheit wiederzu­ entdecken« – eine Anspielung auf die Syphilis unter Einhaltung der damaligen Spielregeln im Blick auf dieses Tabuwort. Und eine Anspielung auf die Leidenschaft auch Balzacs, der unermüdlich darin sei, das »abscheuliche Ungeziefer« zu malen, »das sich im Pariser Kot vermehrt und abzappelt« (ebd.: 200), schlimmer: der dem Han­ deln dieses ›Ungeziefers‹ eine derartige »Folgerichtigkeit« unterläge, dass sich die Phantasie »von ihnen kaum mehr losreißen [kann].« (ebd.: 201) In Übersetzung geredet: Taine war, anders als Balzac und später auch Nietzsche, keiner von denen, die eine Art Sozialpädagogik avant la lettre begrüßten und also für notwendig erklärten hätten. Taine stand viel eher auf der Seite der Nicht-Aufklärer, die, unverdrossen auf das bürgerliche als auch christliche Ideal vertrauend, die Abgründe des Menschlich-Allzumenschlichen am liebsten auf sich hätten beruhen lassen, ihres Seelenheils wegen. Aber auch der Ansteckungswirkung haben, die dem Bösen zumal dann anhaftet, wenn man es mit Ver­

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16 Sozialpädagogisches Verstehen verstehen

ständnis zeichnet – die zentrale Sorge Taines, die ihm rät – (und auch Balzac hätte raten müssen) –, diese Box der Pandora erst besser gar nicht zu öffnen. Was lehrt uns dies? Nun, zumindest doch, dass der Volksmund recht hat: Der Geist steht links, erweist sich als neugierig auf das Andere und Neue, tritt beidem nicht ausgrenzend entgegen, sondern mit dem Interesse am Verstehen – so wie Balzac in seinen Romanen und Nietzsche in seinen Schriften, zumindest doch in jenen seiner ›mittleren‹ Phase, etwa Morgenröthe (1881) sowie Die fröhlichen Wissenschaft (1882), die ihn, unter dem Strich, als Freud-Vorgänger ausweisen. Und die er kurz vor Toresschluss, auf gut Deutsch: seinem syphilisbedingten paralytischen Zusammenbruch in Turin, Taine schickte, als helfe ihm dies auf die Sprünge. Ohne Erfolg. Aber vielleicht helfen uns diese Schriften weiter bei unserem nächsten Punkt:

Nietzsche als Freuds ›Vordenker‹ In Morgenröthe wartete Nietzsche mit der Vermutung auf, »dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantasti­ scher Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber fühlbaren Text ist.« (III: 113) Noch weiter in Richtung der später von Freud propagierten Notwendigkeit der Bewusstmachung des Unbewussten weist Nietzsches im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft nachgereichte Beobachtung, wonach »das bewusst wer­ dende Denken« nur der kleinste, oberflächlichste und schlechteste Teil des Denkens sei, der Teil also, der in »Mittheilungszeichen« (III: 592) geschähe. Denn hieran ließ sich mühelos die Folgerung anschließen, den insoweit wichtigeren Teil des Denkens, der sich unbewusst vollzog, im Nachgang und möglicherweise eben auch unter Zuhilfenahme Dritter mit jenen ›Mitteilungszeichen‹ zu verse­ hen, die ihn kommunikabel machten. Insoweit scheint die Folgerung nicht abwegig, dass schon Nietzsche das Problem, das hinter dem Begriff des Es und selbstredend auch hinter dem des Unbewussten verborgen ist, erkannte und zu handhaben sich bemühte, und zwar mit einiger Affinität zu späteren Positionen Freuds und mithin auch mit dem Interesse am korrigierenden Eingriff in Bildungsschicksale. Mehr als dies: Bei aller im Dienste seiner Selbstüberwindung stehenden Inkaufnahme der ihm mit seiner eigenen Krankheit (Syphilis) auferlegten Selbstzucht hoffte Nietzsche doch bis zuletzt

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Nietzsche als Freuds ›Vordenker‹

auf diejenigen, die ihn in seiner Not verstanden. »Wenn ich R. Wagner ausnehme«, so bilanzierte er beispielsweise ein gutes Jahr vor seinem geistigen Zusammenbruch in einem Brief an Overbeck, »so ist mir Niemand bisher mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen, um mich mit ihm ›zu verstehn.‹« (8: 196) Dem Zugleich von ›Leidenschaft‹ und ›Leiden‹ begegnet man auch zur nämlichen Zeit in einem Fragment. »Wie man zum Wissen in solchen fremden und entscheidenden Dingen kommt«, dies zu klären sei, so Nietzsche, dem »mesquinen Zeitalter«, dem er nun einmal zugehöre, offenkundig nicht abzuverlangen, eben weil auch in dieser Hinsicht jenes »Tausendstel von Leidenschaft und Leiden« (XII: 219) fehle. Auffällig: Nietzsche rechnet beide Vorgänge, den des Nichtverstehens seiner selbst und den des Nichtverstehens seiner Verstehenstheorien, letztlich demselben Umstand zu, nämlich, modern gesprochen, dem fehlenden Engagement (›Leidenschaft‹) und der fehlenden Selbstbe­ troffenheit (›Leiden‹). Damit lag dem Ansatz nach ein erster, ent­ wicklungsfähiger Kompetenzkatalog für helfendes Handeln vor, den Nietzsche dort ausdifferenzierte, wo er Fertigkeiten aufrief wie »Beredsamkeit«, »Männlichkeit«, »Diplomaten-Geschmeidigkeit« sowie: »Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheim­ nisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen.« (II: 203) Deut­ lich wird hier Nietzsches Interesse an Verfachlichung wie an Profes­ sionalisierung des Arztberufs gleichermaßen. Auch weist sein Lob der »grossen Leidenschaft«, die als »eine stille düstere Gluth im Innern wohnend und dort alles Heisse und Hitzige sammelnd, den Mensch nach Aussen hin kalt und gleichgültig blicken [lässt] und den Zügen eine gewisse Impassibilität auf[drückt]« (III: 282), deutliche Vorgriffe auf im Blick auf Semantiken moderner ›Burnout‹-Prophylaxen. Und tatsächlich wusste auch schon Nietzsche zu berichten von jenen Psy­ chologen, die sich den »ausgesuchteren Fällen und Menschen« zuwandten und die folglich der Gefahr unterlagen, »am Mitleiden zu ersticken« resp., zwecks Gegenwirkung, »Härte und Heiterkeit nöthig« hätten, im Zuge dessen »eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und wohlgeordneten Menschen« (V: 222 f.) demonstrierend. Nietzsche war also ein durchaus gewiefter Professionalisierungstheoretiker, getragen vom Credo, dass der Mensch Vorkehrungen treffen müsse, um als Helfender handlungs­ fähig zu bleiben, und dies zumal da, wo die Affekte in besonderer Weise freigesetzt zu werden drohen: auf dem Felde der Sexualität.

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Und doch, bei aller Liebe (für Nietzsche): Von Freuds Differen­ ziertheit war Nietzsche weit entfernt, und zwar vor allem im Blick auf Besonderheiten von Professionalitätsvorstellungen unter den Bedin­ gungen der Sexualitätsthematik. Hier war Freud als Kliniker klar im Vorteil, wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, und zwar ausge­ hend von der ›Ursituation‹ aller Erkundungen in Sachen mutmaßli­ cher sexualisierter Gewalt, der ›Verführungsannahme‹ von 1896.

Freud als Nietzsches ›Nachdenker‹ Freud, 1896 noch ein Noname, behauptete damals, sexueller Miss­ brauch »bis ins zarte Alter von eineinhalb oder zwei Jahren« (Freud 1896: 383) sei ursächlich für eine spätere Neurose. (vgl. zum Folgen­ den auch Niemeyer 1987: 199 ff.) Ein Jahr später ist schon wieder alles vorbei: Freud lässt seinen damals besten Freund Wilhelm Fließ am 21. September 1897 als Ergebnis seiner Selbstanalyse wissen, es sei »wieder diskutierbar«, dass »erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kindheit zurückgreifen.« (Freud 1950: 284) Freud sei »nicht mutig genug« gewesen, um »bei der Wahrheit zu bleiben« (Masson 1984: 215), wollte »seine Reputation retten« (Gebrande 2017: 301), rügt seitdem die wohlfeil zu habende FreudKritik, im Vertrauen darauf, eben sie zu haben: die ›Wahrheit‹ (in diesem Fall jene, Freud habe im Zuge jener Selbstanalyse den eigenen Vater als »pervers« [GW I: 383], also als Missbrauchstäter, dechif­ frieren müssen und deswegen kapituliert). Bleiben wir etwas beschei­ dener: Eben sie, die ›Wahrheit‹, ist seitdem ja gerade das Strittige – und ergo der Auftrag klar, Wege der Wahrheitssicherung in Anbe­ tracht systematischer Täuschungsversuche des befragten Analysan­ den zu sichern, dies auch in Richtung des fragenden Analytikers ange­ sichts zu gegenwärtigender Selbsttäuschungen aufgrund des szenisch aktualisierten unkalkulierbaren Eigenerlebens. Kurz: Nicht Wissen, sondern Wissen, wie man wissen kann, stand seit 1897 auf der Agenda Freuds, und der erste Hinweis in dieser Frage ist aufschlussreich: das »theoretische Verständnis der Verdrängung und ihres Kräftespiels ist mir nicht gelungen« (Freud 1950: 284), erfährt Freund Fließ des Wei­ teren von Freud. Dieses Verständnis erwerben und es in ein tragfähi­ ges Verstehenskonzept verwandeln, ist die einzige Perspektive, in deren Linie Freud allein um Vertrauen für die von ihm 1896 schon

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einmal so selbstsicher reklamierte, aber noch unzureichende psycho­ analytische Methode werben kann. 1914 ist es soweit: »Die Verdrängung […] geht […] von der Selbstachtung des Ichs aus« (GW X: 160); und sich seines sowie des Analysanden Interesses an ›Selbstachtung‹ noch nicht hinreichend vergewissert zu haben, war ein Implikat der Krise von 1897. Mehr als dies: Jede »Forschungsrichtung« dürfe sich Psychoanalyse heißen, auch wenn sie zu anderen Ergebnisse als den meinigen gelangt« – sofern »die Tatsache der Übertragung und die des Widerstandes« anerkannt und zum Ausgangspunkt« (ebd.: 54) der Arbeit gemacht werden. ›Jede‹ Forschungsrichtung ist ernst zu nehmen, auch von dem Hintergrund aus, dass ›Übertragung‹ keine Erfindung der Psychoana­ lyse ist, sondern nur ein Wort für so etwas wie eine ›Universalie der Praxisstruktur‹: Man kann nicht interagieren, ohne dass es zu unbewussten Analogsetzungen der eigenen Person mit anderen, biographisch relevanten Figuren des Gegenüber kommt (und, einge­ denk von ›Gegenübertragungen‹, vice versa). Sowie, eingedenk des Umstandes, dass der ›Widerstand‹ eine Universalie der Erkenntnis­ struktur bezeichnen dürfte: Man kann nicht kommunizieren in der Erwartung, der je andere sei an nichts anderem orientiert als nur an Rationalität und ›herrschaftsfreiem Dialog‹. Daraus folgt: Wo Irra­ tionales in Interaktion und Kommunikation eher die zu erwartende Regel denn die Ausnahme ist, wird eine gewisse vorbereitende Stra­ tegie, die (Rest-) Rationalität auf Dauer zu stellen verspricht, nicht zu entbehren sein – womit wir bei dem in der Zwischenüberschrift ange­ sprochenen Punkt sind, den wir nun wie folgt reformulieren wollen: »Pädagogik und Psychoanalyse« können ein Dreamteam für morgen und übermorgen sein, sofern sie sich als ›Forschungsrichtung‹ im Freudschen Sinne auszulegen verstehen. Was heißt das? Nun, mir scheint, auch die Pädagogik müsse, wenn der ihrer Obhut unterliegende Praktiker ›Forschung‹ zu generieren versuchen soll und nicht nur Abwehr bezogen auf ihn störende oder empörende Schüler, beachten, gehörig umzulernen hat. Er muss zum Beispiel wis­ sen und begreifen, dass der ›pädagogische Bezug‹ von Herman Nohl nur mittels vager Analogien auf Übertragungseffekte hin bedacht worden ist, nicht aber im Sinne jener »scharfen methodischen Kon­ trolle« (Müller 1995: 99), wie sie mit der psychoanalytischen Thema­ tisierung von Übertragung postuliert ist. Kurz: Infrage steht, »warum sich das Subjekt z. B. in pädagogischen Situationen als gefährdet erlebt, so daß es sich in Übertragungen flüchtet […], eine kritische

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Frage an die Pädagogik.« (Körner 1980: 782) In der Tat – wobei nun, via Freud, die folgende Antwort naheliegt: Pädagogik und Psychoana­ lyse divergieren ganz sicherlich in ihrem Setting (Couch gegen Klas­ senraum), konvergieren aber in dem Umstand, dass beide Disziplinen auf ihre Art Theorien erkennender Subjekte sein und – als Profession – liefern wollen. Dies meint: Sie konvergieren in erkenntnistheoreti­ scher Hinsicht, müssen im Alltagsgeschäft in Betrieb gehalten werden durch Professionelle, die im Zuge ihres praxisunmittelbaren Erkennen – im Gegensatz stehend zum praxismittelbaren, dem Lesen dieser Zeilen beispielsweise, – dringend angewiesen sind auf die methodi­ sche Kontrolle dessen, was man vielleicht ›Praxisstruktur‹ heißen kann (im Gegensatz zur ›Erkenntnisstruktur‹ beim Bücherlesen). Und diese Kontrolle ist da besonders dringlich, wo, siehe unseren Ausgangspunkt, also Freud 1896, sexuelle Fragen zur Debatte stehen. Aus all dem folgt zunächst einmal nur die Einsicht, dass die Psychoanalyse nicht nur eine Theorie über das ›psychisches System‹ des Einzelnen, zunächst, von Freud, ›psychischer Apparat‹ genannt, anbietet. Sondern die Psychoanalyse nach Preisgabe der ›Verfüh­ rungsannahme‹ von 1896 bietet auch eine als Professionalisierungs­ theorie weiterzuentwickelnde Annahme darüber an, wie man als Ver­ antwortungsträger praxisunmittelbar in einem sozialen System, etwa einem Setting der Kinder- und Jugendhilfe, Erkenntnisse über das psychische System des anderen, eines Heimjugendlichen beispiels­ weise, entwickeln und sichern kann, mehr als dies: wie bestimmte Apriori, fallübergreifende Grundannahmen etwa über Widerstand und Verdrängung, die als unbelegte Variablen für das ›am‹ zu Erken­ nenden Verlorengegangene oder Latente zu gelten haben, verwaltet werden können (als Forschungsmethodologie) und gerechtfertigt werden sollten (im Sinne der psychoanalytischen Metapsychologie unter Einschluss der Lehre vom Unbewussten). Einzelheiten dazu lernt man nur im Rahmen psychoanalytisch supervidierter Prakti­ kumsbetreuung. Und auch dies nur, wenn Nietzsche und Freud wieder selbstverständliche Bestandteile des Klassikerkanons sowie der Curricula werden, auch jenen der New School der Nietzschefor­ schung, selbstredend.

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Drucknachweise

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Originalbeitrag. Originalbeitrag. Zuerst erschienen in: Sommer, A. U. (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Berlin, New York 2008, S. 149–160. Zuerst erschienen in: Rassegna di Pedagogia LXXII (2014), 1–2, 55–72. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 5 (2007), 2–14. Originalbeitrag. Deutsche Fassung eines Textes, der zuerst erschien unter dem Titel Nietzsche e a syphilis: o polêmicó didagnostica do Dr. Möbius in: Cadernos Nietzsche 41 (2020), n. 1, p. 25–61. Zuerst erschienen in: Nietzscheforschung 28 (2021), S. 311–338. Zuerst erschienen in: Jahrbuch Literatur und Medizin XIII (2022), 33–58. Originalbeitrag. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Religions- und Geistes­ geschichte 63 (2011), S. 250–272. Zuerst erschienen in: Betschart, A./Sommer, A.U./Stephan, P. (Hg.): Nietzsche und der französische Existenzialismus. De Gruyter: Berlin/New York 2022, 293–298. Zuerst erschienen in: Heit, H. / Sommer, A. U. (Hg.): Nietzsche und die Reformation. De Gruyter: Berlin/Boston 2020, S. 225– 246. Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 18. Oktober 2014 auf dem Internationalen Kongress der Nietzsche-Gesellschaft Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation in Naum­ burg gehalten wurde. Zuerst erschienen in meinem Buch Niet­ zsche als Erzieher. Pädagogische Lektüren und Relektüren. Beltz Juventa: Weinheim Basel 2016, S. 232–240.

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Drucknachweise

15. Zuerst erschienen im von Stefan Lorenz Sorgner besorgten Schwerpunkt Transhumanismus in: Auflärung und Kritik 22 (2015), H. 3, 98–110. 16. Zuerst erschienen in: Sozialmagazin 47 (2022), H. 7–8, S. 84– 90. Den Verlagen de Gruyter, Lambert Schneider/WBG, Gesellschaft für kritische Philosophie (GKP), Rodopi, Fabrizio Serra Editore, Mohr Siebeck, Universitätsverlag Winter, Brill sowie Beltz Juventanz sei gedankt für die Genehmigung zum Wiederabdruck; zum Zwecke desselben in diesem Buch wurden die betreffenden Beiträge durchge­ sehen.

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Literaturnachweise

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Literaturnachweise

EH Ecce homo NW Nietzsche contra Wagner DD Dionysos-Dithyramben Nachlassschriften und -fragmente: Der Wille zur Macht (1901) 2WM Der Wille zur Macht (1906) BA Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern WL Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

1WM

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